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German Pages 316 Year 2009
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 186
Christiane D'tsch
Existenzproblematik und Erz'hlstrategie Studien zum parabolischen Erz'hlen in der Kurzprosa von Ernst Weiß
n Max Niemeyer Verlag T2bingen 2009
Die vorliegende Arbeit wurde gefçrdert durch ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung f2r Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 2ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-18186-1
ISSN 0081-7236
> Max Niemeyer Verlag, T2bingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch2tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul'ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f2r Vervielf'ltigungen, Abersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest'ndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I.
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
1.
Die bisherige Weiß-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Quellen und monografische Studien: Die Anfänge der Weiß-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Erforschung des Romanwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Ausgaben der Kurzprosa: Zur Primärliteratur . . . . . . . . . . . 1.4. Die Erforschung der Kurzprosa: Zur Sekundärliteratur . . . . . . . . Zum Begriff der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Historisierung der Fragestellung: Bewusstseinsgeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Existenzproblematik der Weiß’schen Helden: Symptome der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff der parabolischen Erzählkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Vorüberlegungen: Intention als Kategorie des Sprechaktes . . . . . 3.2. Zur parabolischen Erzählkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Rhetorische ›obscuritas‹ als Voraussetzung parabolischen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Uneigentlichkeit: Zur Explikation des Begriffs Parabel . . 3.2.3. Parabel und Allegorie: Zur Differenzierung zweier Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Gattung oder Schreibweise? Zum Begriff der Schreibweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Anmerkungen zu Heuristik und Methode der Analysen . . . . . . . Zum Begriff und zum Korpus der Kurzprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Definition der Kurzprosa: Das Kriterium der Kürze . . . . . . . . . 4.2. Die Kurzprosa im engeren Sinn: Novellen, Anekdoten, Kurzgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Die Novellen ›Franta Zlin‹, ›Die Verdorrten‹ und ›Jarmila‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Die Erzählungen in Anekdoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Die Kurzromane ›Stern der Dämonen‹ und ›Die Feuerprobe‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
2.
3.
4.
7 10 14 15 18 20 22 25 25 27 28 31 34 36 38 39 39 40 41 42 43 V
4.3.
4.4.
4.5. 4.6.
4.2.4. Die Kurzgeschichten ›Der Arzt‹, ›Die Herznaht‹ und ›Die Hilfsschwester‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Fragmente: Konzeptionelle Aporien . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die sechs Romanfragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Die Kürzestfragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publizistische Fragmente: Die Zeitungsprosa . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1. Vorarbeiten zu Romanen und Erzählungen . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Ausgesonderte Romankapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3. Ausschnitte aus Romanen und Erzählungen . . . . . . . . . . . Eingrenzung der Kurzprosa für die Interpretation: Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung zur Verwendung von Ausgaben bei den Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 47 47 50 50 51 52 52 53 54
II. Existenzproblematik und Erzählstrategie (1): Die Denkstrukturen in den Essays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.
2.
3.
4.
VI
Zur Kritik der Moderne: Gesellschaft, Wissenschaft und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der soziale Mensch: Kritik an Gesellschaft, Justiz und Nationaldenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Naturwissenschaften: Kritik am rationalistischen Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Das Christentum: Kritik an der Opfer- und Erlösungslehre . . . . Mensch und Kosmos: Die Denkfiguren der Ganzheit und der Polarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Denkfigur der kosmischen Polarität: Endlichkeit und Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Denkfigur der Seele: Wissen, Wollen, Müssen . . . . . . . . . . . 2.3. Die Denkfigur der ethischen Polarität: Gut und Böse . . . . . . . . Existenz und Erkenntnis: Die Unhintergehbarkeit von Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Existenzproblem des Menschen: Der Tod als Grenze . . . . . 3.2. Das Erkenntnisproblem des Menschen (1): Augenblick und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Das Erkenntnisproblem des Menschen (2): Wirklichkeit, Sprache und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immanente Transzendenz und Ethik: Kunst, Glaube, Geschichte, Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Denkfigur der Ganzheit (1): Innere Erleuchtung durch die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Denkfigur der Ganzheit (2): Äußere Erleuchtung. Ethik der Heroen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 58 60 61 63 64 65 66 68 69 70 71 73 74 76
5.
6.
4.3. Die Denkfigur der Ganzheit (3): Glaube als innere Haltung zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.4. Die Denkfigur der Ganzheit (4): Andenken, Geschichte und Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Skizze einer Poetik von Weiß: Die Semantik der Form . . . . . . . . . . . . 81 5.1. »Das Ende der Novelle«: Zur Poetik der Novelle . . . . . . . . . . . . 82 5.2. »Novellen, geschnitten mit kurzen Anekdoten«: Zur Poetik der Anekdote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.3. »Gebrauchsgraphik«: Zur Bedeutung der Kurzgeschichte . . . . . . 86 5.4. »Zufällige Kontraste, ins Gigantische gesteigert«: Zur Poetik des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
III. Existenzproblematik und Erzählstrategie (2): Die Kurzprosa . . . . . . . 90 1.
2.
»... ich bin es nicht, es ist meine Natur!« – ›Die Verdorrten‹. . . . . . . . 91 1.1. Thematische Zusammenhänge: ›Die Galeere‹ und ›Die Verdorrten‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1.2. Zur Genese der Langfassung der ›Verdorrten‹ . . . . . . . . . . . . . . . 94 1.3. Zu den verschiedenen Textausgaben der ›Verdorrten‹ . . . . . . . . . 96 1.4. Zur zeitgenössischen Rezeption und zur Forschung . . . . . . . . . . 98 1.5. »… ich bin es nicht, es ist meine Natur!« – Interpretationsskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1.5.1. Die Geschichte: Die Krise des Helden und das Muster des Kampfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1.5.2. Reduzierte Welt – parabolische Welt? Zu den Impliziten Transfersignalen . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1.5.3. Zur Darstellung der erzählten Zeit: Vergangenheit oder Gegenwart? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1.5.4. Modus: Doppelte Fokalisierung und ›psycho narration‹ . . 116 1.5.5. Stimme: Die Kommentare des Erzählers und die Titelmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1.6. Zusammenfassung: ›Die Verdorrten‹ – eine parabolische Novelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 »Alles hat es herausgehaut aus mir!« – ›Franta Zlin‹ . . . . . . . . . . . . . . 123 2.1. Zu den verschiedenen Textausgaben der Novelle . . . . . . . . . . . . 125 2.2. Zur Rezeptions- und zur Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 128 2.3. »… alles hat es herausgehaut aus mir!« – Interpretationsskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.3.1. Die Geschichte: Die Existenzkrise des Helden. Das Muster der Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.3.2. Realistisches Protokoll einer Psyche? Zur Konnotation von Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 141 VII
3.
4.
VIII
2.3.3. Mythische versus realistische Welt? Implizite Transfersignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.3.4. Fokalisierung und Distanz: Perspektive und Mittelbarkeit der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2.3.5. Stimme: Die Haltung des Erzählers zum Geschehen. . . . . 152 2.4. Schlussbetrachtung: ›Doppelte Welt‹ und parabolisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 »Der Heilige ist Gott nahe über Worte hinaus.« – ›Daniel‹ . . . . . . . . . 155 3.1. Zur Publikationsgeschichte von ›Daniel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.2. Zur zeitgenössischen Rezeption und zur Forschung . . . . . . . . . . 159 3.3. »Der Heilige ist Gott nahe über Worte hinaus.« – Interpretationsskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.3.1. Semantik und Form: ›Daniel‹ – eine Legende? . . . . . . . . . 162 3.3.2. Die Prätexte: Das Buch der Könige und das Buch Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.3.3. Die Geschichte: Figurenpaare als narrative Ordnung . . . . 165 3.3.4. Implizite Transfersignale: Allegorische Figuren und Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.3.5. Zur Darstellung der erzählten Zeit: Die Erzählgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3.3.6. Fokalisierung und Distanz: Zur Darstellung des Figurenbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3.3.7. Stimme und Erzählsituation: Beobachter oder Prophet?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.4. Apokalypse, Allegorie, Legende: ›Der Neue Mensch‹ in ›Daniel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Eine »überkommene Form des Daseins«. – ›Marengo‹. . . . . . . . . . . . . 188 4.1. Zur Publikationsgeschichte von ›Marengo‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4.2. Zur Rezeptions- und zur Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 190 4.3. Eine »überkommene Form des Daseins«. – Interpretationsskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.3.1. Die Geschichte: Das Muster der »Weg-Ziel-Struktur« . . . 192 4.3.2. Reale Welt – finale Wirklichkeit? Implizite Transfersignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4.3.3. Die Organisation der Zeit: Erzählte Zeit und Erzählgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4.3.4. Fokalisierung und Distanz: Standpunkt und Figurenbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4.3.5. Erzähler und Erzählsituation: Die Anwesenheit des Erzählers im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4.4. »Letztes oder erstes Kapitel?« – Finalität als parabolisches Merkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
5.
6.
7.
»Man darf vom Menschen nichts verlangen.« – ›Wer hat, dem wird gegeben‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.1. Zur Publikations- und Forschungsgeschichte der Erzählungen in Anekdoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5.2. Exkurs: Zur Erzählung in Anekdoten ›Die Messe von Roudnice‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.3. »Man darf vom Menschen nichts verlangen.« – Interpretationsskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5.3.1. Der Prätext: ›Das Gleichnis vom anvertrauten Gelde‹ (Mt 25, 14–30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5.3.2. Die Geschichte: Die semantische Opposition von Arm und Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5.3.3. Zum Realitätsstatus der erzählten Welt: Kausale Motivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.3.4. Der Erzähler: Ironie als Stilmittel einer dissimulativen Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5.4. Schlussbetrachtung: Dissimulation und Parabolik? . . . . . . . . . . . 240 »Eine Liebesgeschichte aus Böhmen«. – ›Jarmila‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.1. Zu den Textausgaben und zur Forschung von ›Jarmila‹ . . . . . . . 243 6.2. »Eine Liebesgeschichte aus Böhmen«. – Interpretationsskizze . . 244 6.2.1. Aufbau und Struktur der Erzählung: Zwei homodiegetische Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.2.2. Geschichte und Implizite Transfersignale: Eine ›Liebe in Böhmen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6.2.3. Diskurs und Implizite Transfersignale: Zwei unzuverlässige Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 6.2.4. Die Hierarchie der Erzähler: Ein Resümee . . . . . . . . . . . . 262 6.3. Spiegel- oder Gegenbilder? ›Jarmila‹ als Parabel der Erkenntnis . 262 Zusammenfassung der Analysen und Interpretationsskizzen . . . . . . . . 264
IV. Parabolisches Erzählen, literarische Moderne und Ernst Weiß. . . . . . . 268 1. 2. 3.
Historische Verortung: Transzendenz und ›indirekte Mitteilung‹ . . . . 268 Systematische Verortung: Parabolik und literarische Moderne. . . . . . . 270 Einordnung der parabolischen Erzählkonzeption in Weiß’ Werk . . . . 272
V. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 VI. Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1.
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1.1. Quellen und Korrespondenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1.2. Werke in alphabetischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1.3. Werke in typologischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 IX
2.
Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2.1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2.2. Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
VII. Index der Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
X
Einleitung
»Ich bin den meisten Lesern, auch solchen, die sich für die neuere deutsche Literatur interessieren, völlig unbekannt und werde oft gefragt: ›Unter welchem Namen schreiben Sie?‹«1 – Diese Situation einer ausbleibenden Aufmerksamkeit für seine Werke in der breiten Öffentlichkeit, die der jüdische Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß (1882–1940) in einer Umfrage aus dem Jahr 1929 bedauerte, hat sich bis heute kaum verändert. Weiß gehört jener Generation deutschsprachiger Dichter des 20. Jahrhunderts an, die vor den Nationalsozialisten ins Ausland fliehen mussten und dadurch lange Zeit in Vergessenheit gerieten. Er war ein »habituelle[r] Spurenverwischer«2 ohne Nachlass und Erben, lebte zunächst als Chirurg und später als freier Schriftsteller in Wien, Prag und Berlin, floh 1933 nach Prag und 1934 nach Paris, wo er sich beim Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1940 das Leben nahm. Er hinterließ 15 Romane, zahlreiche Erzählungen, einen Gedichtband, zwei gedruckte Dramen, einige Prosafragmente und ebenso viele Feuilletons. In der Germanistik setzte die Rehabilitation von Ernst Weiß – wie jene vieler Schriftsteller im Exil – erst mehr als 20 Jahre nach seinem Tod ein. Mittlerweile erfreut sich sein Werk eines kontinuierlichen Interesses in der Literaturwissenschaft, was nicht zuletzt an der Thematik seiner Bücher liegt. Früh bewies Weiß eine Sensibilität für Fragestellungen, die auch im Zeitalter der so genannten Postmoderne nichts an Aktualität eingebüßt haben. In allen Phasen seines Schreibens hat er sich mit der Existenz- und Erkenntnisproblematik des modernen Menschen auseinandergesetzt, der sich nach dem Verlust transzendenter Gewissheiten und angesichts seines sicheren Todes seiner Bedeutung neu vergewissern muss. Die Existenz- und Erkenntnisproblematik steht auch
1
2
Ernst Weiß: Bücher, die ungerecht behandelt wurden [Antwort auf eine Rundfrage]. In: Das Tage-Buch 10 (1929), S. 469f. – Wiederabgedruckt in: Ernst Weiß, Gesammelte Werke. Hg. von Peter Engel und Volker Michels, Frankfurt/M. 1982, Bd. 16: Die Kunst des Erzählens. Essays, Aufsätze, Schriften zur Literatur, S. 118f., hier S. 118 [fortan: KdE]. Kurt Krolop, Ernst Weiß und das ›expressionistische Jahrzehnt‹ in Prag. In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker und Erzähler von europäischem Rang. Beiträge zum Ersten Internationalen Ernst-Weiß-Symposium aus Anlaß des 50. Todestages. Hamburg 1990, hg. von Peter Engel und Hans-Harald Müller, Bern u.a. 1992, S. 52–66, hier S. 52.
1
im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, die einen Beitrag zum Verständnis der Kurzprosa von Ernst Weiß leisten möchte. Die Studie nähert sich dem Werkausschnitt an, indem sie zeigt, welcher Art die Konflikte sind, die Weiß’ Protagonisten auszufechten haben, und welche Strategien die Helden wählen, um ihre Probleme zu überwinden. In den Analysen der Geschichten wird zunächst die Qualität der Existenzprobleme der Helden herausgearbeitet: Der Fortgang der äußeren Handlung wird ebenso beschrieben wie der innere Zustand der Helden, der sich als gelingender oder scheiternder (Selbst-)Erkenntnisprozess spezifizieren lässt. Die Analysen der Erzählungen sollen sodann verdeutlichen, dass das beschriebene Existenz- und Erkenntnisproblem der Figuren ästhetisch auch auf den Erzähler-Leser-Diskurs übertragen wird. Weiß wählt dafür einen narrativen Typus, den ich als parabolische Erzählkonzeption bezeichne. In ihrer Fragestellung deutet die Studie an, dass sie Weiß’ Prosa als anthropologische, letztlich philosophische Literatur versteht. Der Autor gelangt, nicht zuletzt unter dem Einfluss Kierkegaards und Nietzsches, zu einer Revision des abendländischen Metaphysikbegriffs. Der Verlust transzendenter Gewissheiten ist für ihn eine unhintergehbare Tatsache – und doch ist er zugleich das größte Problem des Menschen. Weiß’ Helden verspüren eine existenzielle Angst angesichts ihrer gewussten Endlichkeit und suchen umso verzweifelter nach dem Sinn ihres Lebens. Ihre Suche führt in Familien- und Liebesbeziehungen, in die Wissenschaft oder in prometheische Selbstbehauptungen, doch ihre Kämpfe enden selten glücklich. Denn die Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit birgt auch eine narzisstische Kränkung, der sich die Helden nicht entziehen können. Versuche, die menschliche Imperfektion zu negieren oder gar zu überwinden – durch Rationalität, Vernunft, Forschung oder eine (natur-)wissenschaftliche Vermessung der Welt – gelingen ihnen kaum, denn immer wieder bricht das unbekannte ›Andere der Vernunft‹3 in diese Welt ein. Emotionen, Leidenschaften, Krankheit und Wahnsinn machen den Menschen intellektuell wehrlos, zugleich aber auch zugänglich für ganzheitlichere Zusammenhänge. In seinen verschiedenen Schaffensphasen, das sei vorweggenommen, ist Weiß’ Optimismus, dass der Mensch seine Existenzbedingungen erkennt und akzeptiert, unterschiedlich groß: Während die Helden der frühen Phase nicht in der Lage sind, ihre Probleme zu meistern, können die Figuren der mittleren Schaffensphase zumindest erahnen, was sie als Seelenmenschen charakterisiert. Diese Erkenntnis macht es ihnen möglich, ihr Leben mit existenziell gestimmter Gelassenheit anzunehmen. Die Existenz- und Erkenntnisproblematik der Helden in den verschiedenen Phasen des Werks exemplarisch darzustellen ist das erste Ziel dieser Untersuchung.
3
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Vgl. Gernot und Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983.
In Weiß’ Kurzepik wird das Thema der Existenz- und Erkenntnisproblematik durch ein narratives Konzept ästhetisiert, das ich mit dem Begriff der parabolischen Erzählkonzeption umschreibe.4 Es sagt aus, dass die Erzähler nicht nur die Darstellung der existenziellen Krise eines Individuums intendieren, sondern auch eine spezifische Kommunikation mit dem Leser anstreben. Mit Hilfe der parabolischen Erzählkonzeption soll der Leser in einen Zustand versetzt werden, der einer eigenen (ästhetisch motivierten) Erkenntniskrise gleich kommt. Denn nichts scheint in diesen Geschichten wirklich klar zu sein und auf der Hand zu liegen, am allerwenigsten die Botschaft der Erzähler an den Leser. Um diese rätselhafte Wirkung zu erzeugen, nutzen die Erzähler verschiedene narrative Techniken: Auf der Ebene der Geschichte erzeugen sie semantische Mehrdeutigkeiten und ambiguisieren den Status der erzählten Welt. Auf der Ebene des Diskurses verdunkeln sie ihre Position als Sprecher und als Vermittler der Geschichte. Die parabolische Erzählkonzeption weist damit eine große Nähe zur ästhetischen ›obscuritas‹ auf, sie besitzt jedoch auch einen didaktischen Impuls. Allerdings handelt es sich bei Weiß’ Prosa nicht um Lehrparabeln im herkömmlichen Sinn, sondern um Texte, die existenzielle Fragestellungen ästhetisieren und dafür moderne narrative Techniken einsetzen. Die Merkmale und die Funktion der parabolischen Erzählkonzeption an sechs Texten herauszuarbeiten ist das zweite Ziel dieser Studie. Die Explikation des Begriffs der parabolischen Erzählkonzeption wird im Grundlagenkapitel geleistet. Die Entscheidung, den narrativen Typus der parabolischen Erzählkonzeption am Textkorpus der Kurzprosa aufzuzeigen, begründet sich wie folgt: Zum einen hat die Weiß-Forschung diesen Werkausschnitt bislang kaum bearbeitet. Daher kann eine Analyse von sechs kurzen Prosatexten einen genuinen Beitrag zur Erforschung der Weiß’schen Kurzepik leisten. Zum anderen werden die Kurzprosatexte des Autors erstmals systematisch benannt und erfasst. Es zeigt sich, dass die zum Korpus gehörenden Texte nicht durchweg einer bestimmten Gattung der Kurzepik zuzuordnen sind, sondern verschiedenen Genres angehören, etwa der Novelle, der Kurzgeschichte, der Erzählung in Anekdoten oder des Kurzromans. Hinzu kommen zahlreiche Fragmente – Texte, die Weiß unvollendet ließ und die er später mit dem unspezifischen Begriff der »Erzählung« versah. Auch widmete sich Weiß der Kurzprosa in verschiedenen Phasen seines Schreibens mit unterschiedlicher Intensität. So bestimmte die Novelle – neben dem Roman – bis 1919 sein Werk, während in Weiß’ expressionistischer Phase (zwischen 1916 und 1924) Kurzromane und Romanfragmente dominierten. In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre entwickelte Weiß den Roman, die ›große‹ Form, 4
Mit Erzählkonzeption meine ich keine durchgehende narrative Gestaltung in ihrer jeweiligen Totalität, sondern das Vorhandensein spezifischer narrativer und rhetorischer Merkmale, die sich in Weiß’ Texten wiederholen und insofern als typisch bezeichnet werden können.
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weiter und verfasste bis Mitte der 1930er-Jahre keine Kurzprosatexte mehr. Erst 1937 besann er sich erneut auf die Kunstform der Novelle und begleitete seine Textproduktion sogar mit einem poetologischen Essay über dieses Genre. In der Tat verrät die späte Kurzprosa des Autors ein größeres Formbewusstsein als seine frühen Texte. Eine Betrachtung der Kurzepik verspricht also nicht nur hinsichtlich der Erkenntnis- und Existenzproblematik der Helden und der parabolischen Erzählkonzeption fruchtbare Ergebnisse, sondern auch in Bezug auf den Einsatz von Gattungen in verschiedenen Werkperioden. Zudem erlaubt sie einen Rückschluss auf die Entwicklung des Autors und seines Gesamtwerks. Für die Kontextualisierung der Analysen wird der Studie eine intentionalistische Bedeutungs- und Interpretationskonzeption zugrunde gelegt. Ich gehe davon aus, dass ein Erzähltext eine (rhetorische und narrative) Strategie besitzt, vermöge derer sein Urheber nicht nur eine bestimmte Botschaft mitteilen, sondern auch eine bestimmte Wirkung auf seinen Hörer oder Leser ausüben will. Meine Untersuchung folgt damit einem Intentionalismusbegriff, der die These formuliert, es sei möglich und sinnvoll, die Absicht von Autoren zu ermitteln, der es sich aber nicht zur Aufgabe macht, hinreichende und notwendige Kriterien zu erstellen, deren Beweis sie unumstößlich führt.5 Was unter dieser Spielart des Intentionalismus zu verstehen ist, wird im Grundlagenkapitel (I.3.1.) skizziert. Gemäß dieser Entscheidung für die Intention des Autors als Bezugsrahmen der Interpretation sind die Genese und die Überarbeitung der Texte ebenso von Interesse wie ihre Beurteilung durch Weiß’ Zeitgenossen. Hermeneutisch ist die Studie dort, wo sie Weiß’ philosophische Positionen anhand seiner Essays zu ermitteln sucht (vgl. Kap. II). Die Essays weisen zum Teil eine wörtliche Übereinstimmung mit der literarischen Prosa auf, so dass ein Analogieschluss zwischen den Aussagen in beiden Prosaformen nicht abwegig erscheint. In seinen zwischen 1918 und 1940 entstandenen Essays zeigt sich Weiß als ein interessierter, die Zeitläufte und Weltanschauungen reflektierender Beobachter, der seinen Standpunkt, seine Anthropologie und seinen Kunstbegriff kontinuierlich erläutert. Eine Untersuchung dieser nicht-fiktionalen Texte führt vor Augen, welcher Art die Existenzproblematik ist, die Weiß für den modernen Menschen diagnostiziert, und sie verhilft dem Exegeten zur Formulierung von Fragestellungen. Zugleich macht die Benennung dieser Fragestellungen die historische Dimension des Weiß’schen Denkens deutlich. Ausgehend von diesen Prämissen und Zielen gliedert sich die vorliegende Studie in einen Grundlagenteil (Kap. I.), in ein Kapitel zu den Weiß’schen Essays (Kap. II.) und in ein Kapitel, das die exemplarische Untersuchung der Kurzprosatexte ›Die Verdorrten‹, ›Franta Zlin‹, ›Daniel‹, ›Marengo‹, ›Wer hat, dem wird 5
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Vgl. zu diesem Komplex die instruktiven Ausführungen von Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991, S. 147–160.
gegeben‹ und ›Jarmila‹ umfasst (Kap. III.). Im Grundlagenteil wird ein Abriss der Forschungsliteratur gegeben (Kap. I.1.); es folgen eine kurze Erläuterung des Begriffs der Existenz sowie des Problemhorizonts, vor dem die Existenzund Erkenntnisproblematik als philosophisch-literarischer Topos zu verstehen ist (Kap. I.2.), die Explikation des Begriffs der parabolischen Erzählkonzeption (Kap. I.3.) und eine Typologisierung der Kurzprosatexte (Kap. I.4.). Die Darstellung der Essays führt in die Anthropologie und Poetologie des Autors ein (Kap. II.). Die sechs Kurzprosatexte werden in der Reihenfolge ihrer Entstehung analysiert, ihre Thematik sowie die narrativen Techniken auf der Makround der Mikroebene skizziert. Ihre Einordnung in das Weiß’sche Werk erfolgt im Rahmen der Interpretation, aber auch in einem zusammenfassenden Kapitel (Kap. III.7.). Der Ausblick der Studie ordnet die parabolische Erzählkonzeption vor dem Hintergrund realistischen Erzählens und der Kierkegaard’schen Theorie der ›indirekten Mitteilung‹ in die literarische Moderne ein. Er legt dar, welchen Beitrag Weiß mit seiner parabolischen Konzeption zum Erzählen in der literarischen Moderne leistet.
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I.
Grundlagen
Ein Mensch ganz aus der Nähe ist immer interessant. Ernst Weiß
Ernst Weiß wurde am 28. August 1882 in Brünn als zweites Kind des jüdischen Tuchhändlers Gustav Weiß und seiner Frau Bertha geboren.1 Als österreichischer Staatsbürger jüdischer Herkunft und deutscher Muttersprache wuchs er in einem assimilierten bürgerlichen Milieu auf. Nach der Matura 1902 studierte Weiß in Wien und Prag Medizin, promovierte in Chirurgie und verbrachte seine Assistenzjahre 1910/11 in Bern und Berlin. 1912 trat er im Wiedener Spital in Wien unter Julius Schnitzler, einem Bruder des Schriftstellers Arthur Schnitzler, seine erste Stelle an. Um eine Lungentuberkulose zu kurieren, die er sich vermutlich im Spital zugezogen hatte, unternahm Weiß 1913 eine Reise als Schiffsarzt nach Polynesien. Nach seiner Rückkehr entschloss er sich, als freier Schriftsteller zu leben und zog nach Berlin. Den Ersten Weltkrieg erlebte Weiß fast vollständig als Arzt und Soldat: Er war in Oberösterreich, in der Ukraine, in Polen und in den Karpaten stationiert, bevor er 1919 aus der Armee entlassen wurde – nunmehr als tschechischer Staatsbürger deutscher Sprache. Etwa ein halbes Jahr lang lebte er in München, bis er im Zuge der dortigen Revolution 1919 ausgewiesen wurde. Er kehrte nach Prag zurück, arbeitete als Krankenhausarzt und feierte Erfolge als Dramatiker »im Prag des Expressionismus«2. 1921 zog Weiß ein zweites Mal nach Berlin, um Literaturkritiker und freier Schriftsteller zu werden. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten floh der Autor 1933 zunächst nach Prag und 1934 schließlich nach Paris. Abgeschnitten vom deutschen Buchmarkt war es ihm jedoch kaum möglich, seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder einen Verleger für seine Bücher zu finden. Beim Einmarsch der deutschen Truppen am 14. Juni 1940 nahm sich Weiß in einem Hotel das Leben und starb in der Nacht darauf im Hôpital Lariboisière. Er wurde in einem Massengrab beigesetzt,
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Vgl. Peter Engel, Ernst Weiß – eine Skizze von Leben und Werk. In: text + kritik. Zeitschrift für Literatur, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Heft 76: Ernst Weiß, München 1982, S. 13–19. Johannes Urzidil, Im Prag des Expressionismus. In: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde 3 (1961/62), S. 202–204.
das heute nicht mehr existiert.3 Im Berliner Stadtteil Schöneberg erinnert eine Gedenktafel an den Schriftsteller.4
1.
Die bisherige Weiß-Forschung
In der Germanistik gilt Weiß heute unbestritten als ein großer Erzähler der literarischen Moderne. Dies spiegelt auch der Forschungsstand wider, über den im Folgenden ein chronologischer Überblick gegeben wird. Weiß’ Rezeption setzte in den 1960er-Jahren im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung des (Prager) Expressionismus ein und erhielt nach dem Erscheinen der ersten Leseausgabe der Werke des Autors 1982 im Suhrkamp Verlag neue Impulse. Der folgende Überblick soll deutlich machen, welche Themen im Werk des Schriftstellers bislang das Interesse der Forschung auf sich zogen. Er zeigt zugleich, dass die Weiß’sche Kurzprosa kaum im Mittelpunkt der Untersuchungen stand. Sie gehört auch zu jenem Teil seines Œuvres, der bislang weder vollständig ediert noch typologisiert worden ist.5
1.1.
Quellen und monografische Studien: Die Anfänge der Weiß-Forschung
Anlass für eine erste Rezeption des Weiß’schen Werks nach dem Zweiten Weltkrieg gab 1963 das Erscheinen des letzten und längst verschollen geglaubten Romans ›Der Augenzeuge‹ in dem kleinen Münchner Verlag Kreißelmeier.6 Die Publikation begleiteten zahlreiche Zeitungsartikel, und fünf Jahre später erschien ein schmales Bändchen des tschechischen Arztes Eduard Wondrák mit dem Titel ›Einiges über den Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß‹, das auch eine erste Bibliografie der Werke des Autors enthielt.7 Etwa zur gleichen Zeit begannen sich Zeitzeugen an ihre Begegnungen mit Weiß zu erinnern: Sechs Jahre nach Wondrák machte Mona Wollheim ihre Bekanntschaft mit Weiß im Krei-
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Vgl. Edita Koch, Das Grab von Ernst Weiß. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Januar 1980 (Leserbrief); dies., Ernst Weiß’ Tod in Paris. In: Exil 2 (1982), S. 26–32. Vgl. Gerhard Bauer, Gedenktafel für Ernst Weiß. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 4. Oktober 1990, S. 10. Zur Typologie der Kurzprosa vgl. Kapitel I.4., S. 39ff. Vgl. Ernst Weiß, Der Augenzeuge. Vorwort von Hermann Kesten, Icking und München 1963. Vgl. Eduard Wondrák, Einiges über den Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß. Mit einer autobiographischen Skizze, München 1968.
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ßelmeier Verlag publik,8 und die Schriftsteller Ludwig Marcuse, Hertha Pauli, Hermann Kesten, Walther Mehring und Axel Eggebrecht erwähnten Weiß als Begleiter im Exil.9 In den 1970er-Jahren befragte der Hamburger Germanist Peter Engel weitere Bekannte und Schriftstellerkollegen des Autors und veröffentlichte deren Aussagen in der ersten Folge der von ihm gegründeten ›WeißBlätter‹.10 Diese Blätter stellen bis heute eine wichtige Quelle für biografische und literarhistorische Zusammenhänge dar, da Weiß keinen Nachlass und nur eine bruchstückhaft erhaltene Korrespondenz hinterließ.11 Auch Weiß’ verlegerische Wiederentdeckung setzte sich nach dem Erscheinen des ›Augenzeugen‹ fort. Der Hamburger Claassen Verlag und der Berliner Aufbau-Verlag veröffentlichten weitere Romane des Autors, darunter die Exilromane ›Der arme Verschwender‹ und ›Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen‹. Etwa zur selben Zeit entstanden auch die ersten Werkuntersuchungen: Aufsätze über Weiß wurden anlässlich der ›Weltfreunde‹-Konferenz über die Prager deutsche Literatur (1967) sowie im Rahmen der Erforschung des literarischen
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Vgl. Mona Wollheim, Begegnung mit Ernst Weiß. Paris 1936–40, München 1970. – Eine zeitgenössische Reaktion auf Wollheims Buch stellt diese Replik dar: Gertrud Isolani, Ein toter Dichter kann sich nicht mehr wehren. In: Jüdische Rundschau Maccabi (Basel), 24. Mai 1973. Vgl. F.C. Weiskopf, Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933–1945. Mit einem Anhang von Textproben aus Werken exilierter Schriftsteller. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Berlin 1948, S. 120; Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur [1951/52], Frankfurt/M. u.a. 1980, S. 266–171; Alfred Kantorowicz, Exil in Frankreich [1960], Hamburg 1983; Ludwig Marcuse, Mein 20. Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie [1960], Zürich 1975, S. 157; Hertha Pauli, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz [1970], Frankfurt/M. u.a. 1990, S. 168–171; Hans Sahl, Memoiren eines Moralisten [1985], Frankfurt/M. u.a. 1991, Bd. 2: Das Exil im Exil, S. 131 und 141. Vgl. Weiß-Blätter. Diskussionsforum und Mitteilungsorgan für die am Werk von Ernst Weiß Interessierten. 1. Folge, hg. von Peter Engel, Hamburg 1973–78. – In den ersten Heften finden sich u.a. Erinnerungen an Ernst Weiß von Anna Seghers, Ingeborg Wellenstein, Gertrud Isolani, Hans Sahl, Hugo Hecht, Friedrich Walter, Soma Morgenstern, Eduard Wondrák, Mona Wollheim und Axel Eggebrecht [fortan: WBl, 1. F.]. Vgl. die folgenden Briefnachlässe: Ernst Weiß an Rahel Sanzara, 143 Briefe (vier davon unvollständig), 94 Postkarten, acht Beilagen aus dem Felde von 1916 bis 1918, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Marbach a. N. (Deutschland); Ernst Weiß an Stefan Zweig, 186 Bögen, darunter 30 undatierte Briefe und zwölf undatierte Postkarten aus den Jahren 1913–1940, aufbewahrt in der Stefan Zweig Collection, Reed Library, State University of New York at Fredonia, New York (USA); Ernst Weiß an Martin Buber, 14 Briefe und Postkarten von 1912 bis 1924, aufbewahrt im Martin Buber Archive, ARC. Ms. Var. 350, Department of Archives, National Library of Israel, Jerusalem (Israel); »... ein guter Freund und Kamerad täte mir hier oft sehr wohl«. Weiß’ Briefe an Leo Perutz, hg. und kommentiert von Peter Engel und Hans-Harald Müller. In: Modern Austrian Literature 21 (1988), No. 1, S. 29–57 [fortan: MAL].
Expressionismus (1969) publiziert.12 Den Grundstein für eine erste Gesamtbibliografie legte 1977 der deutsch-amerikanische Germanist Klaus-Peter Hinze.13 Bis heute stellt seine Zusammenstellung das einzige Nachschlagewerk seiner Art in der Weiß-Forschung dar. In den 1980er- und 1990er-Jahren trugen weitere Bibliografen bis dahin unbekannte Abdrucke von Primär- und Sekundärtiteln zusammen, eine Erneuerung der Hinze’schen Bibliografie wurde jedoch nicht in Angriff genommen.14 Die erste literarhistorische Untersuchung von Leben und Werk des Autors lieferte 1978 die israelische Germanistin Margarita Pazi mit ihrem Buch ›Fünf Autoren des Prager Kreises‹, dem sie 1994 eine Werkmonografie folgen ließ. Diese zweite Studie gab gleichfalls eine umfassende Darstellung von Leben und Werk, doch konnte sie in der Weiß-Forschung die Lücke einer bis heute feh15 lenden Biografie nicht wirklich schließen. Anlässlich des 100. Geburtstages des Autors 1982 erschien im Suhrkamp Verlag eine erste Leseausgabe des Weiß’schen Œuvres, mit der sich die Quellensituation auch für die Weiß-Forschung verbesserte.16 Diese Ausgabe machte alle Romane, Essays, Rezensionen und bis dahin bekannten Kurzprosatexte zugänglich, nicht 12
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Vgl. Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur, hg. von Eduard Goldstücker, Prag 1967; Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, hg. von Wolfgang Rothe, Bern u.a. 1969. Vgl. Klaus-Peter Hinze, Ernst Weiß: Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, Hamburg 1977. Vgl. Weiß-Blätter. 2. Folge, hg. von Peter Engel und Sven Spieker, Essen 1983–1989 [fortan: WBl, 2. F.]. Norbert Wehr, Bibliographie. Allgemeine Darstellungen zu Leben und Werk. In: WBl, 2. F., 1 (1983), S. 30–34; Peter Engel, Weiß-Bibliographie. Nachträge zu Klaus-Peter Hinze. In: WBl, 2. F., 3 (1985), S. 32f.; ders., Weiß-Bibliographie. Nachträge zu Klaus-Peter Hinze. Teil 2. In: WBl, 2. F., 4 (1985), S. 19–21; ders., Weiß-Bibliographie. Nachträge zu Klaus-Peter Hinze. Teil 3. In: WBl, 2. F., 8 (1988), S. 34f.; Gregor Ackermann, Weiß-Bibliographie. Teil 4. In: WBl, 2. F., 9 (1988), S. 12–19; ders., Weiß-Bibliographie. Teil 5. In: WBl, 2. F., 12 (1989), S. 27–34. Vgl. Margarita Pazi, Fünf Autoren des Prager Kreises, Frankfurt/M. 1978, S. 71–127; dies., Ernst Weiß. Schicksal eines jüdischen mitteleuropäischen Autors in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1994. Ihre Ergebnisse hat Pazi in verschiedenen Aufsätzen vorbereitet und vertieft. – Vgl. dies., Franz Kafka und Ernst Weiß. In: MAL 6 (1973), No. 3/4, S. 52–94; dies., Ernst Weiß’ Hitlerroman – Ursprung und Genese. In: MAL 12 (1979), No. 1, S. 63–71; dies., Die Authentizität der Gefühle in Ernst Weiß’ Frühwerk. In: Exil 2 (1982), S. 7–25; dies., Das Todesmotiv bei Ernst Weiß. In: text + kritik. Zeitschrift für Literatur, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Heft 76: Ernst Weiß, München 1982, S. 56–68; dies., Die Entwicklung und Veränderung des Vater-Sohn-Motivs in Weiß’ Werk. In: Ernst Weiß. Materialien, hg. von Peter Engel, Frankfurt/M. 1982, S. 284–297; dies., Das Problem des Bösen und der Willensfreiheit bei Max Brod, Ernst Weiß und Franz Kafka. In: MAL 18 (1985), No. 1, S. 63–81. Ernst Weiß, Gesammelte Werke. Hg. von Peter Engel und Volker Michels, Frankfurt/M. 1982 [fortan: GW].
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jedoch die Dramen und Gedichte. Sie wurde von einem ›Ernst-Weiß-Materialienbuch‹ sowie einem Heft der Zeitschrift ›text + kritik‹ begleitet, und in den Medien erschienen zum Jubiläum zahlreiche Würdigungen.17 In einer zweiten, 1983 einsetzenden Folge der ›Weiß-Blätter‹ versammelten Peter Engel und Sven Spieker weitere biografische Informationen und Primärtexte des Autors.18 1990, im 50. Todesjahr des Autors, fand in Hamburg das erste ›Internationale ErnstWeiß-Symposium‹ statt. Die 1992 erfolgte Publikation der gehaltenen Vorträge stellt bis heute einen der wichtigsten wissenschaftlichen Beiträge zur Weiß-Forschung dar.19
1.2. Die Erforschung des Romanwerks Im Zuge des germanistischen Interesses am Expressionismus und seiner Aufarbeitung in den 1960er- und 1970er-Jahren setzten auch die ersten wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen zum Weiß’schen Œuvre ein. Bis heute bildet das Romanwerk einen Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Weiß-Forschung. 1971 publizierte Wolf-Dieter Elfe die erste Dissertation mit einem Stilvergleich der drei Fassungen des Romans ›Tiere in Ketten‹ (1918, 1922 und 1930).20 Elfe arbeitete stilistische und thematische Varianten heraus, ohne sie allerdings eingehender zu interpretieren. 1981 untersuchte die österreichische Germanistin Ulrike Längle das Exilwerk des Autors und zeigte den »Modellcharakter der Entwicklung des Ich-Erzählers« am Beispiel des Romans ›Der arme Verschwender‹ (1936).21 Auch wenn Längle ihre theoretische Prämisse, die Entwicklung des Spätwerks weniger biografisch als zeitgeschichtlich deuten zu wollen, nicht immer einhält, kann ihre Studie als wesentlicher Beitrag zur Erforschung des Spätwerks angesehen werden. Zwei Jahre später publizierte die italienische Germanistin Margherita Versari ihre Deutung der Romane ›Die Galeere‹ (1913), ›Georg Letham – Arzt und Mörder‹ (1931) und ›Der Augenzeuge‹ (1963 posthum erschienen) sowie der Erzählung ›Hodin‹ (1923). Die Darstellung von Wahnsinn und Vernunft in diesen
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Vgl. text + kritik. Zeitschrift für Literatur, hg. von Heinz Ludwig Arnold, Heft 76: Ernst Weiß, München 1982; Ernst Weiß. Materialien, hg. von Peter Engel, Frankfurt/M. 1982 [fortan: EWM]. Vgl. WBl, 2. F., 1983–89. Vgl. Ernst Weiß – Seelenanalytiker und Erzähler von europäischem Rang. Beiträge zum Ersten Internationalen Ernst-Weiß-Symposium aus Anlaß des 50. Todestages. Hamburg 1990, hg. von Peter Engel und Hans-Harald Müller, Bern u.a. 1992. Vgl. Wolf-Dieter Elfe, Stiltendenzen im Werk von Ernst Weiß unter besonderer Berücksichtigung seines expressionistischen Stils. Ein Vergleich der drei Druckfassungen des Romans ›Tiere in Ketten‹, Frankfurt/M. 1971. Vgl. Ulrike Längle, Ernst Weiß – Vatermythos und Zeitkritik. Die Exilromane am Beispiel des ›Armen Verschwenders‹, Innsbruck 1981, S. 23 und 216.
Werken steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit.22 Allerdings versäumte es Versari, ihre Analysemethode klar darzulegen, zwischen Autor und Text zu unterscheiden und ihre Interpretationsthesen an exemplarischen Beispielen nachvollziehbar zu belegen. Nicht zuletzt deshalb stieß ihre Studie in der Weiß-Forschung auf Kritik.23 Als misslungen muss die 1986 von Franz Haas vorgelegte Dissertation angesehen werden, die eine chronologische Gesamtschau von Weiß’ Leben und Werk versucht. Trotz einiger faktischer Zugewinne überzeugt Haas’ Studie aufgrund der zum Teil polemischen Herangehensweise an die Texte und zahlreicher Flüchtigkeitsfehler bei der Recherche von Archivmaterial und Quellen nicht.24 Im selben Jahr wie Haas’ Monografie erschien auch Rita Mielkes Dissertation über die Weiß’sche Ethik. Angeregt von der These des Germanisten Wolfgang Wendler, Weiß habe in seiner Schaffensperiode der 1920er-Jahre östliche Philosophien rezipiert, untersuchte sie die beiden Fassungen des (Kurz-)Romans ›Die Feuerprobe‹ sowie den Roman ›Georg Letham – Arzt und Mörder‹ (1931). Mielke sah in den Texten eine immanente Transzendenz gestaltet, die sich auf ein ›Böses als Krankheit‹ bezog, und kam mit dieser These zu plausiblen Ergebnissen. Lediglich ihr psychoanalytischer Interpretationsansatz wurde bisweilen von der Forschung kritisiert.25 Einen anderen Weg wählte 1989 Thomas Delfmann mit seiner Arbeit über Weiß’ ›Existenzialistisches Heldentum‹, in der er die Entwicklung des Helden in
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Vgl. Margherita Versari, Ernst-Weiß-Individualität zwischen Vernunft und Irrationalismus. Ein Werk zwischen ›Mythologie und Aufklärung‹, Frankfurt/M. u.a. 1983, S. 45–77. Vgl. Peter Engel, Kein Beitrag zur Weiß-Forschung. Eine exemplarisch misslungene Hochschulschrift. In: WBl, 2. F., 3 (1985), S. 30f. Es wäre müßig, die Fehler der Studie im Detail nachzeichnen zu wollen. Festgehalten werden soll lediglich, dass Haas sich offenbar nicht die Mühe gemacht hat, zitierte Briefe zu autopsieren. Andernfalls wäre ihm deutlich geworden, dass beispielsweise nicht Ernst Weiß, sondern der Illustrator Emil Rudolf Weiß mit Franz Blei korrespondiert hat. – Vgl. Franz Haas, Der Dichter von der traurigen Gestalt. Zu Leben und Werk von Ernst Weiß, Frankfurt/M. u.a. 1986, S. 289. – Seine Thesen formuliert Haas noch einmal in: ders., Das verdrängte Judentum. Spuren der Assimilation im erzählerischen Werk von Ernst Weiß. In: Berlin und der Prager Kreis, hg. von Margarita Pazi und H[ans]-Dieter Zimmermann, Würzburg 1991, S. 189–198; ders., Schwulst und Sühne. Ernst Weiß, »dieser hochbegabte Schriftsteller, der die expressionistische Mode ohne Not mitgemacht hat«. In: Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste, hg. von Klaus Amann und Armin A. Wallas, Wien u.a. 1994, S. 589–99. Vgl. Rita Mielke, Das Böse als Krankheit. Entwurf einer neuen Ethik im Werk von Ernst Weiß, Frankfurt/M. 1986, bes. Kap. V.1.1. (S. 20–32); Wolfgang Wendler, Philosophie der Gewichtlosigkeit. In: text + kritik, Heft 76, S. 20–32. – Zur Kritik an Mielke vgl. Thomas Delfmann, Ernst Weiß: Existentialistisches Heldentum und Mythos des Unabwendbaren, Münster 1989, S. 8.
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Weiß’ Œuvre zu erfassen suchte.26 Delfmann stellte die These auf, Weiß habe am existenzphilosophischen Diskurs der Zeit Anteil gehabt, und wies auf Sören Kierkegaards Einfluss auf die moderne Literatur hin. Während Delfmanns Periodisierungsversuch mitunter problematische Einschätzungen enthält, gelingt es ihm, in seinen Interpretationen überzeugend aufzuzeigen, dass Weiß mit seiner fiktiven Autobiografie nicht in das Schema des Bildungsromans aus dem 19. Jahrhundert zurückfiel, sondern zu einer kritischen Revision der traditionell auktorialen Erzählweise gelangte.27 Die vorliegende Studie ist Delfmann insofern verpflichtet, als sie, gleich ihm, die Existenz- und Erkenntnisproblematik in Weiß’ Werk thematisiert. In den 1990er-Jahren, der Hochphase der Postmoderne- und Poststrukturalismusdebatten, wählten auch die wissenschaftlichen Untersuchungen über Weiß häufig diskurstheoretische Ansätze. Der polnische Germanist Janusz Golec hob 1994 in seiner Habilitation die Bedeutung von Sexualität und Macht in den Essays und in der fiktionalen Prosa von Weiß hervor. Er interpretierte die Funktion des Körpers als Metapher für das Irrationale sowie die Bedeutung der Familie, der Ehe und des Staates für die Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft.28 Insgesamt lieferte seine Studie keine Ergebnisse, die über die bisherige Weiß-Forschung hinausgehen würden. Ein wissenschaftstheoretischer Ansatz liegt auch den zwei medizinischen und drei literaturwissenschaftlichen Dissertationen zugrunde, die in den 1990er-Jahren in Deutschland entstanden.29
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Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 10f., und ders., Über einige Romane von Ernst Weiß. In: Am Erker. Zeitschrift für Literatur 10 (1987), S. 61–65; ders., Mythos der Negativität. Ernst Weiß’ Doppelroman ›Tiere in Ketten‹ und ›Nahar‹. In: WBl, 2. F., 8 (1988), S. 29–33; ders., Mythisierung und bestimmte Negation. Das Problem der expressionistischen Schriften von Ernst Weiß, dargestellt am Beispiel der beiden Romane ›Tiere in Ketten‹ und ›Nahar‹. In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker, S. 220–236. Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 171, 173 und 262. Vgl. Janusz Golec, Die Idee des »menschlichsten Menschen«. Untersuchungen zu Sexualität und Macht im Werk von Ernst Weiß, Lublin 1994; ders., Das Werk von Ernst Weiß im Diskurs der Moderne. In: ›Moderne‹, ›Spätmoderne‹ und ›Postmoderne‹ in der österreichischen Literatur. Beiträge des 12. Österreichisch-polnischen Germanistiksymposiums Graz 1996, hg. von Dietmar Goltschnigg, Wien 1998, S. 39–48; ders., Körper und Körperlichkeit in den Romanen von Ernst Weiß. In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland und Polen (Regensburg 1993). Dokumentation der Tagungsbeiträge 26. bis 30. September 1993, Redaktion Werner Roggausch (DAAD), Bonn 1994, S. 123–138; ders., Ernst Weiß’ Überlegungen zu Sprache, Literatur und anderen Künsten. In: Kwartalnik Neofilologiczny XLII (1995), S. 133–141. Vgl. Manuel Streuter, Das Medizinische im Werk von Ernst Weiß, Herzogenrath 1990; Anja Lübbig, Die Psychiatrie in den Exilromanen von Ernst Weiß, Lübeck 1997. – Lübbig widmet sich den Exilromanen und der Beschreibung der Psychiatrie in diesen Werken. Ihr Ansatz ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht fragwürdig, da die Verfasserin die Romane mit faktischen Krankengeschichten gleichsetzt und ihren fiktionalen Status weitgehend ignoriert. Streuter geht von Weiß’ »Minderwertigkeits-
Am Überzeugendsten stellte Sabine Adler 1990 ihre Frage nach dem Zusammenhang der Weiß’schen Romankonzeption und der Kunstdoktrin des französischen Naturalisten Emile Zola, wobei sie den Einfluss des Mediziners Claude Bernard und seiner Einführung in die Experimentalmedizin auf Zolas ›Experimentalroman‹ zugrunde legte. Sie arbeitete den herrschenden Medizinertypus in Weiß’ Arzt- und Forscherromanen sowie deren Wissenschaftsutopie heraus, untersuchte Weiß’ Justizkritik und ihre ästhetische Umsetzung in den Romanen. Insgesamt kam Adler zu dem Schluss, dass Weiß nicht Zolas Romanform folgte, sondern eigene moralische und ästhetische Experimente vollzog. Dafür wandte er narrative Techniken an, die Adler knapp beschreibt, und die von der WeißForschung später in den Kontext unzuverlässigen Erzählens gestellt wurden.30 Sieben Jahre nach Adler untersuchte Rudolf Käser im Rahmen einer autorenübergreifend angelegten Studie die Weiß’schen Arztfiguren erneut im Hinblick auf die Grenzen der Medizin als eines zentralen literarischen Themas der Moderne31, während sich Tanja Becker im Jahr 2000 auf die »biologischen Anleihen«32 der späten Romane aus wissenschaftlichen Diskursen konzentrierte. Theoretisch verortete sie Weiß’ ästhetischen Ansatz als Mischung zwischen den widersprüchlichen »Kulturen«33 von Naturwissenschaft und Kunst, die sich durch eine komplexe Durchdringung beider Kulturen auszeichne. Die jüngsten Beiträge zur Romanforschung lieferten André Bucher 2004 mit einer Studie zur »Repräsentation als Performanz« in der literarischen Moderne34 und Tom Kindt mit einer Untersuchung der späten Ich-Romane mit Hilfe der
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gefühl« als Arzt aus, das ihn dazu veranlasst habe, als Schriftsteller nach dem »ärztlichen Idealtypus bzw. dem idealen Menschen« zu suchen (S. 4f.). Diese biografische These kann der Verfasser nicht plausibel darlegen und auch nicht beweisen. Vgl. Sabine Adler, Vom »roman expérimental« zur Problematik des wissenschaftlichen Experiments: Untersuchungen zum literarischen Werk von Ernst Weiß, Frankfurt/M. 1990, S. 252 und S. 354f. – Zur Erzählweise merkt Adler an, dass Weiß das ›Gebautsein‹ der Texte gegenüber Hermann Kesten selbst einmal hervorgehoben habe. Sie weist auf eine »über dem Geschehen stehende Erzählinstanz« hin, »die mehr weiß als die Erzählfiguren und mit dem Leser über den Kopf des Protagonisten hinweg kommuniziert«, macht auf die »Sprachverweigerungsgesten« dieser Erzählinstanz aufmerksam und auf ihre »ironische[n] Ambivalenzen«. Diese Beobachtungen werden in späteren Arbeiten differenziert (vgl. Kap. I., Anm. 35 und Anm. 93). Vgl. Rudolf Käser, Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998. Vgl. Tanja Becker, Maschinentheorie oder Autonomie des Lebendigen? Die literarische Amplifikation der biologischen Kontroverse um Mechanizismus und Vitalismus in zentralen Prosawerken von Hans Carossa, Gottfried Benn, Ernst Weiß und Thomas Mann, Köln 2000, S. 160. Vgl. ebd., S. 297. André Bucher, Repräsentation als Performanz. Studien zur Darstellungspraxis der literarischen Moderne (Walter Serner, Robert Müller, Hermann Ungar, Joseph Roth und Ernst Weiß), München 2004, S. 259–284. – Vgl. auch Irmtraud Hnilica, Medizin,
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Heuristik des ›unzuverlässigen Erzählens‹ (2008)35. Während Bucher die Frage der Repräsentation und der Performanz an Weiß’ Roman ›Georg Letham – Arzt und Mörder‹ überprüfte, brachte Kindt die Erzählkonzeption der Ich-Romane mit der Krise des »fragwürdig gewordenen Ich« in Verbindung. Einen Schwerpunkt legte Kindt auf die Frage, inwiefern sich Weiß’ fiktive Autobiografien vom klassischen Konzept des Bildungsromans unterscheiden, und präzisierte hierfür den Begriff des unzuverlässigen Erzählens als Heuristik. Dass ein solcher Interpretationsansatz nicht nur für Einzelanalysen, sondern auch für die Frage nach der Modernisierung einer Gattung durch narrative Techniken eine wichtige Rolle spielt, ist mittlerweile unumstritten.36
1.3. Die Ausgaben der Kurzprosa: Zur Primärliteratur In der bisherigen Erforschung des Weiß’schen Œuvres steht die Kurzprosa eher am Rande. Keine der wissenschaftlichen Arbeiten widmete sich ausdrücklich dieser Gattung, was umso mehr erstaunt, als Weiß von Beginn an Novellen, Erzählungen und kurze Prosa schrieb. Ein Grund dafür mag, vereinfacht gesagt, in der publizistischen Zugänglichkeit der Texte liegen. Insgesamt verfügt die Forschung nur über zwei zu Weiß’ Lebzeiten erschienene Bände mit Erzählungen und drei posthume Editionen der Kurzprosa.37 Als erster gab der amerikanische Germanist Klaus-Peter Hinze sein Büchlein ›Der zweite Augenzeuge‹ in der Reihe ›Die andere Bibliothek‹ (1978) heraus, in dem er einen Teil der Weiß’schen Kurzprosa und Zeitungstexte versammelte.38 Hinze publizierte vorwiegend kurze Vorarbeiten, Textfragmente und ausgesonderte Kapitel, die bis dato nicht in Buchform erschienen waren. Ein Vergleich der edierten Texte mit den Originalen in den Zeitungen macht allerdings deutlich, dass der Editor mitunter flüchtig vorging.
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Macht und Männlichkeit: Ärztebilder der frühen Moderne bei Ernst Weiß, Thomas Mann und Arthur Schnitzler, Freiburg 2006. Vgl. Tom Kindt, »Gerade dadurch, daß er sich selbst am stärksten behauptet, soll er sich wandeln«. Zur Konzeption der Ich-Romane von Ernst Weiß. In: Juni 29 (1999), S. 131–140; ders., Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß, Tübingen 2008; ders., Expressionismus als ›Literatur der Existenz‹. Ernst Weiß, Sören Kierkegaard und die ›Angst vor dem Guten‹. In: Literatur als Lust. Begegnungen zwischen Poesie und Wissenschaft. Festschrift für Thomas Anz zum 60. Geburtstag, hg. von Lutz Hagestedt, München 2008, S. 155–162. Vgl. Silvio Vietta, Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992, S. 14. Ernst Weiß, Atua. Drei Erzählungen, München 1923 [fortan: A]; ders., Dämonenzug. Fünf Erzählungen, Berlin 1928 [fortan: D]. Ernst Weiß, Der zweite Augenzeuge und andere ausgewählte Werke. Eingeleitet und herausgegeben von Klaus-Peter Hinze, Wiesbaden 1978.
Von größerer Bedeutung war das Erscheinen der ›Gesammelten Werke‹ im Suhrkamp Verlag, vor allem ihres 15. Bandes ›Die Erzählungen‹ (1982). Die Herausgeber dieser Leseausgabe stützten sich bei der Textauswahl auf den 1928 erschienenen Erzählband ›Dämonenzug‹ sowie einige Prosatexte aus Zeitschriften und Zeitungen, berücksichtigten insgesamt aber nur Fassungen letzter Hand.39 Naturgemäß fehlt in diesem Band jene kurze Prosa, die erst nach seinem Erscheinen entdeckt oder zum damaligen Zeitpunkt noch nicht als solche identifiziert worden war. Da die ›Gesammelten Werke‹ nur einmal aufgelegt wurden und mittlerweile vergriffen sind, ist derzeit nur die Novelle ›Jarmila‹ in den Ausgaben des Prager Vitalis Verlags und des Frankfurter Suhrkamp Verlags im Handel erhältlich.40 Von dieser Novelle abgesehen wurden seit 1982 lediglich einzelne Romane von Weiß neu herausgebracht.41
1.4. Die Erforschung der Kurzprosa: Zur Sekundärliteratur Nur vier Dissertationen wählten einzelne Kurzprosatexte zum Gegenstand ihrer Analysen. Unter dem Stichwort ›Ontologie der Lieblosigkeit‹ untersuchte Angela Steinke 1994 im Kurzroman ›Stern der Dämonen‹ und in der Novelle ›Die Verdorrten‹ das Verhältnis der Geschlechter.42 Ihre Ergebnisse ordnete Steinke in zeitgenössische Diskurse um die Jahrhundertwende ein. Generische oder genetische Aspekte der Texte berücksichtigte sie nicht. Nach Margherita Versari und Rita Mielke betrachtete 1996 Gudrun-Iris Hahnemann das Romanfragment ›Hodin‹ sowie den Kurzroman ›Die Feuerprobe‹.43 Den Wahnsinn des Protagonisten deutete sie unter Anleihen bei Adorno und Foucault als kritischen Akt der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Gesellschaft. Hahnemann wies erstmals auf die tragende Rolle des Arztes in ›Hodin‹ hin, der als Antipode zu seinem Gefangenen Hodin die gesellschaftliche Norm verkörpert.44 Allerdings
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Vgl. Weiß, GW, Bd. 15: Die Erzählungen [fortan: E]. Vgl. Ernst Weiß, Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Mit einem Nachwort von Dominique Fliegler, Prag 1998; ders., Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Mit einem Nachwort von Peter Engel, Frankfurt/M. 1998 [fortan: JAR]. Vgl. Ernst Weiß, Der arme Verschwender. Roman, Frankfurt/M. 1999; ders., Der Augenzeuge. Roman, Frankfurt/M. 1999; ders., Franziska. Roman, Frankfurt/M. 2000; ders., Die Galeere, Roman, Frankfurt/M. 2000; ders., Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen. Roman, Frankfurt/M. 2000. Vgl. Angela Steinke, Ontologie der Lieblosigkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von Mann und Frau in der frühen Prosa von Ernst Weiß, Frankfurt/M. 1994. Vgl. Gudrun-Iris Hahnemann, Leuchtende, glühende Unglücke. Psychosoziale Existenz und Geschlechterbeziehung in der Prosa von Ernst Weiß, Franz Jung und Anna Seghers, Berlin 1996. Vgl. ebd., S. 26–65.
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ging sie nicht auf den Fragmentcharakter des Textes ein, ebenso wenig wie auf eine Vorarbeit und verschiedene Fassungen.45 Andere, monografisch angelegte Dissertationen (Haas, Delfmann) streiften die Kurzprosa lediglich in ihrem Abriss zu Leben und Werk des Autors. Dafür existieren seit den 1970er-Jahren einige detailliertere Beschäftigungen mit der Kurzprosa in Aufsatzform. 1971 untersuchte der Prager Germanist Jan Chytil das Frühwerk von Weiß und stellte sowohl den Fragmentcharakter der Erzählung ›Daniel‹ als auch die lange Entstehungszeit von ›Hodin‹ fest. Er bemühte sich allerdings nicht, die Kurzprosa des Autors zu typologisieren oder in seinen Interpretationen zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Prosa zu unterscheiden. Stilistisch trennte Chytil die späten Erzählungen ›Wer hat, dem wird gegeben‹ und ›Die Messe von Roudnice‹ (1937) von der Kurzprosa der frühen 1920er-Jahre und rechnete sie dem Bereich des Komischen zu, während er den frühen Erzählungen eine pessimistische Grundhaltung attestierte.46 Ende der 1970er-Jahre analysierte Dietrich Krusche die Kurzgeschichte ›Der Arzt‹ (1919) mit einem kommunikationstheoretischen Ansatz und lieferte eine Interpretation, in der er vergesellschaftete Sprache und individuelles Sprechverhalten gegenüberstellte.47 Mit diesen sprachphilosophischen Kategorien brachte Krusche die anthropologische Dichotomie einer äußeren und inneren Existenz zum Vorschein und arbeitete die Dominanz der Sprache des Erzählers heraus. Er übersah jedoch die ironischen Signale des Erzählers, die den Leser zu einer emotionalen Distanzierung von den offenbar pathetisch denkenden und agierenden Figuren aufforderten. Damit kann Krusches Interpretation zwar als aufschlussreich hinsichtlich der »Bedingungen und [des] Vollzugs[s] der Kommunikation«48 auf Figurenebene gelten, nicht jedoch in Bezug auf die Erzähler-Leser-Kommunikation und die Intentionen des Erzählers. In dem ersten, ausschließlich den expressionistischen Erzählungen gewidmeten Aufsatz rekonstruierte 1991 der amerikanische Germanist Augustinus P. Dierick den Begriff des ›Dämonischen‹ in den Weiß’schen Erzählungen und lie-
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Dies geschieht erst durch Katharina Leunig, »... und wäre es auch ein Schuldiger gewesen, zu richten steht uns nie zu«. Ernst Weiß’ Erzählung ›Hodin‹ – Narratologische Analyse und Interpretationsskizze, Hamburg 2000 (Univ. Magisterarbeit, unveröffentlicht). Vgl. Jan Chytil, Die frühe Schaffensetappe von Ernst Weiß. In: Germanistica Olomucensia I (1971), S. 5–17; ders., Der weniger bekannte Ernst Weiß. In: Acta universitatis Palackianae olomucensis: Philologica 42 (1978), S. 111–119; ders., Ernst Weiß a Československo 1939. In: Acta universitatis Palackianae olomucensis: Germanistica III (1973), S. 31–36. Vgl. Dietrich Krusche, Ernst Weiß: Der Arzt. In: Krusche, Kommunikation im Erzähltext. München 1979, Bd. 1: Zur Anwendung wirkästhetischer Theorie, S. 98–104, hier S. 102. Ebd., S. 99.
ferte damit wesentliche Erkenntnisse für das Frühwerk.49 Nach Dierick stehen die Fragmente ›Hodin‹ und ›Daniel‹ sowie die Erzählung ›Die Verdorrten‹ und das Fragment ›Marengo‹ in einem direkten thematischen Zusammenhang, wobei sich Dierick auf expressionistische Gegensatzpaare und Antinomien wie Heilige und Verbrecher, Gott und Tier stützt. Damit gibt er einen wichtigen Hinweis auf die thematische Verzahnung des Gesamtwerks. Sowohl in dieser Hinsicht als auch in Bezug auf die Interpretation der genannten Erzählungen kann Diericks Aufsatz bis heute als Standardtext in der Weiß-Forschung gelten. Hartmut Binder machte 1990 erstmals auf die Publikationsstrategien des Autors aufmerksam, indem er Weiß’ Rolle als Mitarbeiter der ›Prager Presse‹ (1921–23) untersuchte und dabei eine sorgfältige Rekonstruktion der Herkunft, Genese und Platzierung der Texte lieferte.50 Binder stellte fest, dass Weiß seine Texte vor einer Veröffentlichung regelmäßig überarbeitete und den Bedingungen der Zeitungspublikation anzupassen versuchte. Auch wenn es ihm nicht gelang, alle in der ›Prager Presse‹ abgedruckten Texte ins Gesamtwerk richtig einzuordnen, stellt sein Aufsatz einen wichtigen und aufschlussreichen literarhistorischen Beitrag zur Erforschung der Publikationsstrategien von Weiß dar.51 Einen Zusammenhang zwischen Weiß’ Kritik an Franz Kafkas Roman ›Der Prozeß‹ und dem Weltbild in Weiß’ eigenen Erzählungen rekonstruierten 1998 Hans-Harald Müller und Armin Tatzel in ihrer Interpretationsskizze des Kurzromans ›Die Feuerprobe‹.52 Die Verfasser lieferten einen Beitrag zur Untersuchung von Weiß’ Erzählstrategie, indem sie narrative Inkongruenzen aufdeckten und sie unter dem Stichwort einer ›Poetologie der Verworrenheit‹ deuteten. Diese
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Vgl. Augustinus P. Dierick, Heilige und Dämonen: Die expressionistischen Erzählungen von Ernst Weiß. In: Seminar. A journal of Germanic studies 27 (1991), S. 233– 248, hier S. 234. Vgl. Hartmut Binder, Ernst Weiß und die Prager Presse, in: Ernst Weiß – Seelenanalytiker, S. 67–109. Vgl. ebd., S. 76. – Binder hält den Text ›Auswanderer‹ für eigenständige Kurzprosa. Weiß hatte ihn 1921 in der ›Prager Presse‹ ohne weitere Hinweise auf seine Herkunft veröffentlicht. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine geringfügig veränderte und um zwei Absätze gekürzte Passage aus der ersten Fassung des Romans ›Tiere in Ketten‹ von 1918, die Weiß in der zweiten und dritten Fassung des Romans gestrichen hatte. Da nur die letzte Fassung des Romans in der Leseausgabe der ›Gesammelten Werke‹ enthalten ist, war für Binder die Herkunft des Textes und sein Zusammenhang mit dem Roman nicht ersichtlich. In dem in der ›Prager Presse‹ abgedruckten Ausschnitt änderte Weiß den Namen der Romanprotagonisten Olga außerdem um in »R. S.«, was den Initialen von Rahel Sanzara entspricht. – Vgl. Ernst Weiß, Auswanderer. In: Prager Presse, 25. Juni 1921, Morgenausgabe, S. 5; ders., Tiere in Ketten‹. Roman, Berlin 1918, S. 166–169. Hans-Harald Müller und Armin Tatzel, »Das Klarste ist das Gesetz. Es sagt sich nicht in Worten.« Ernst Weiß’ Kritik an Kafkas ›Prozeß‹ im Kontext seines Romans ›Die Feuerprobe‹. In: Euphorion 92 (1998), S. 1–23.
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Poetologie verwendeten die Autoren als Heuristik für ihre These, Weiß habe in der ›Feuerprobe‹ eine Vorstellung der menschlichen Existenz ästhetisiert, die sich an Kierkegaards Schriften orientiere. Mit dieser ›Poetologie der Verworrenheit‹ und ihrer Bezugnahme auf Kierkegaard lieferten sie einen Schlüssel zu den Denkstrukturen des Autors, der auch für diese Untersuchung von Bedeutung ist. Sieht man von einigen Rezensionen ab, die nach der Publikation der 1995 entdeckten Novelle ›Jarmila‹ 1998 erschienen,53 so endet die derzeitige Forschung zur Weiß’schen Kurzprosa mit den Nachworten der Herausgeber von ›Jarmila‹54 und mit zwei Aufsätzen über die Novelle. Einer dieser Aufsätze ist als überarbeitetes Kapitel in der vorliegenden Studie enthalten.55
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Zum Begriff der Existenz
Einleitend habe ich das Thema dieser Untersuchung mit der Existenz- und Erkenntnisproblematik der Helden benannt. Im Folgenden möchte ich jenen bewusstseins- und philosophiegeschichtlichen Kontext umreißen, vor dem Ernst Weiß seine Überlegungen zur Existenz- und Erkenntnisproblematik des modernen Menschen anstellt. Der Begriff der ›Existenz‹, wie ihn die vorliegende Studie verwendet, meint zunächst nichts anderes als das Dasein in seiner einfachen Tatsächlichkeit, »den innersten Kern, der auch dann noch unberührt übrig bleibt, ja dann überhaupt erst richtig erfahren wird, wenn alles, was der Mensch in dieser Welt besitzen und an das er zugleich sein Herz hängen kann, ihm verloren geht oder sich als trügerisch erweist«56. Gleichzeitig evoziert der Begriff die
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Vgl. Sabine Brandt, Die Unglücksuhr. Ernst Weiß erzählt von ›Jarmila‹. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 1998, S. V; Franz Haas, ›Jarmila‹ – die Liebe im böhmischen Dorf. Unbekannte Novelle von Ernst Weiß. In: Neue Zürcher Zeitung, 29./30. August 1998, S. 35; Armin Huttenlocher, Wiederentdeckt: ›Jarmila‹/Dunkle Liebe. In: Süddeutsche Zeitung, 29. August 1998, S. IV; Hans-Harald Müller, Die gefälschte Zeit. Ernst Weiß/›Jarmila‹ – ein sensationeller Fund aus Prag. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 8. März 1998, S. 26; Stefan Berkholz, Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Bibliothek Suhrkamp. In: SWR 2 Buchzeit, 2. Juli 1998, 14.30–15 Uhr; ders., Vom Teufel geführt. Späte Entdeckung. Die Liebesgeschichte von Ernst Weiß. In: Der Tagesspiegel, 23. August 1998, o.S. Vgl. Fliegler, Nachwort, S. 85–104; Engel, Nachwort, S. 99–111. Vgl. Steffen Höhne, Eine unbekannte Liebesgeschichte aus Böhmen. Zu einem neu entdeckten Text von Ernst Weiß. In: Brücken. Germanistisches Jahrbuch TschechienSlowakei, N. F., Bd. 6, Bonn 1998, S. 175–183; Christiane Dätsch, Das dunkle Ich im Spiegel. Subjektproblematik und Erzählkonzeption in der Novelle ›Jarmila‹ von Ernst Weiß. In: Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900, hg. von Walter Schmitz und Ludger Udolf, Dresden (im Druck). Otto F. Bollnow, Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus. In: Universitas 8 (1953), S. 461–472, hier S. 462.
Auseinandersetzung mit der Philosophie des dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard (1813–1855), der schon vor Nietzsche das Problem der zerfallenden Metaphysik und der sich selbst entfremdeten Subjektivität thematisiert hatte. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hinein betrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich?57
In seiner Schrift ›Die Krankheit zum Tode‹ (1849) hatte Kierkegaard das ›Selbst‹ als Ganzheit der Existenz definiert, als eine »Synthesis« aus Unendlichkeit und Endlichkeit, »von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis«58. Kierkegaard stellt fest, dass ein solches Selbst, das sich verhält, entweder von sich selbst oder von einem Anderen gesetzt sein muss. Nach seiner Auffassung stellt das Selbst die Ganzheit der Existenz dar und ist das zu synthetisierende »positive Dritte«, das sich in der dialektischen Spannung von Endlichkeit und Unendlichkeit entfaltet. Kierkegaards Problem besteht nun darin, dass das Unendliche vom Bewusstsein nicht erfasst werden kann. Das Erkennen dieses Zustands löst Verzweiflung aus, ›Die Krankheit zum Tode‹.59 Kierkegaard unterscheidet dabei zwei Formen von Verzweiflung – jene der Schwachen, die verzweifelt nicht sich selbst sein wollen, und jene der Trotzigen, die verzweifelt sich selbst sein wollen. Beide Formen der Verzweiflung zeigen das Scheitern von Selbstbegründungsversuchen, weil dem subjektiven Denker der letzte archimedische Punkt, das Unendliche, stets versagt bleibt.60 Sie stellen Weisen der äußersten Selbstverlorenheit dar und sind zugleich Ausdruck dafür, dass das Selbst nicht durch sich selbst ins Gleichgewicht kommen kann, sondern nur durch Gott als dem ›ganz Anderen‹. Kierkegaards Fazit lautet daher, dass sich der Mensch nur momenthaft als Synthesis
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Sören Kierkegaard, Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843. In: Kierkegaard, Gesammelte Werke. Hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Düsseldorf/Köln 1955, 5./6. Abt., S. 70f. Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. In: Kierkegaard, Gesammelte Werke. Hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Düsseldorf/Köln 1954, 24./25. Abt., S. 8: »Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.« Vgl. ebd., S. 8: »Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewußt sein ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen; verzweifelt man selbst sein zu wollen.« Vgl. Heidemarie Oehm, Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, München 1993, S. 46f.
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von Unendlichkeit und Endlichkeit erfahren kann. In der Angst ergeht der »Geistesruf der Unendlichkeit an den endlichen Menschen«61, und er wird sich seines ewigen Selbst, aber auch seiner Endlichkeit bewusst. Der dergestalt in Bewegung gekommene Mensch vollzieht eine Veränderung in Form eines inneren Weges, der ihn von einem ästhetischen über ein ethisches hinein in ein religiöses Stadium führt. Am Ende dieses Weges ist dem Menschen die Selbstannahme nur im Glauben und kraft einer göttlichen Gnade möglich, wobei der Glaube die Reflexion des subjektiven Denkers voraussetzt: Der Glaube, so verstanden, ist eine Entscheidung des Menschen. Er stellt eine bewusst gewählte Haltung, eine Antwort des Menschen auf seine Existenzbedingungen dar.62
2.1. Historisierung der Fragestellung: Bewusstseinsgeschichtliche Kontexte Sucht man Kierkegaards Reflexionen in den bewusstseinsgeschichtlichen Kontext der literarischen Moderne einzubetten, so wird evident, dass der empfindsame, existenzielle Mensch um 1900 nicht nur Gegenstand medizinischer Diagnostik63, sondern auch Zentrum philosophischer Überlegungen und literarischer Erzählungen ist.64 Verstärkt machen sich um die Jahrhundertwende Tendenzen und Fragestellungen bemerkbar, die von der Philosophie und der Dichtung zwar auf je eigene Weise zum Ausdruck gebracht werden, gleichzeitig ist der philosophische Gehalt in den Dichtungen der literarischen Moderne jedoch nicht zu unterschätzen. Es geht den Autoren, vor allem der jüngeren Generation, die um 1910 zu schreiben und zu veröffentlichen beginnt, nicht um einzelne Lebensläufe, sondern um die Grundbedingungen der menschlichen Existenz. Mit ihrem Interesse an diesem Thema sind die Schriftsteller der literarischen Moderne der um 1919 einsetzenden deutschen Existenzphilosophie einige Jahre voraus, wie Thomas Anz gezeigt hat.65 In den 1910er-Jahren des 20. Jahrhunderts
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Lieselotte Richter, Zum Verständnis des Werks. In: Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay ›Zum Verständnis des Werkes‹. Hg. von Lieselotte Richter, Reinbek 32002, S. 148–177, hier S. 167. Vgl. Oehm, Subjektivität, S. 74. Vgl. Peter Sloterdijk, Weltanschauungen und Zeitdiagnostik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, begr. von Rolf Grimminger, Bd. 8: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933, hg. von Bernd Weyergraf, München 1995, S. 309–339. Vgl. Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt/M. 21982, S.10ff. Vgl. Thomas Anz, Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus, Stuttgart 1978, S. 3; Oehm, Subjektivität, S. 9–37; Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/M. 1979, S. 55–57.
manifestiert sich in der Literatur eine »Kierkegaardrenaissance«66, so dass Anz für den Frühexpressionismus von einer ganzen ›Literatur der Existenz‹ spricht. Die Autoren greifen vor allem dann auf Kierkegaards Denkstrukturen zurück, wenn es um die radikale Infragestellung des Individuums und seiner Existenzproblematik geht; weniger interessiert sie seine Existenztheologie.67 Die existenzielle Thematik macht sich im Vokabular dieser Dichtung bemerkbar, ebenso wie in den Denkfiguren der ›Entfremdung‹ oder in der Beschreibung von Angst und Wahnsinn.68 Ästhetisch verschafft sich die Erfahrung eines Transzendenz- und Erkenntnisverlustes beispielsweise in der Figur der um sich kreisenden Subjektivität ihren Ausdruck oder bricht sich in neuen Gattungsformen wie der Reflexionsprosa oder dem Stationendrama Bahn.69 Diese Verbindung der ›Literatur der Existenz‹ zu Kierkegaard ist in der Forschung schon mehrfach aufgezeigt worden70, und auch die Nähe des Weiß’schen Existenzbegriffs zu Kierkegaards Positionen wurde gelegentlich thematisiert.71 In der vorliegenden Studie werden die Denkstrukturen des Autors anhand der Essays gründlich beleuchtet – mit dem Ziel, den spezifischen Weiß’schen Existenzbegriff herauszuarbeiten und für die Interpretationsskizzen fruchtbar zu machen.72 Gemäß dem gewählten intentionalistischen Ansatz dient dieses Vorgehen dazu, sich des hermeneutischen Ausgangspunktes zu vergewissern und die gewählte Fragestellung zu historisieren. Außerdem machen die Ausführungen deutlich, warum Weiß mit seiner Existenzthematik bisweilen als »Kierkegaard ohne Glauben«73 tituliert wurde.
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Anz, Literatur der Existenz, S. 3; Oehm, Subjektivität, S. 7. – Oehm betont die »nahezu synchrone Einwirkung beider Philosophen [Nietzsche und Kierkegaard, Ch.D.] auf die expressionistische Generation«. Vgl. Anz, Literatur der Existenz, S. 6. Vgl. Oehm, Subjektivität, S. 7. Vgl. ebd. Vgl. Steffen Steffensen, Die Einwirkung Kierkegaards auf die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Die Rezeption Sören Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie. Vorträge des Kolloquiums am 22. und 23. März 1982, Kopenhagen, hg. von Heinrich Anz u.a., München 1983, S. 210–224; Frank Krause, Sakralisierung unerlöster Subjektivität. Zur Problemgeschichte des zivilisations- und kulturkritischen Expressionismus, Frankfurt/M. 2000; Thomas Anz, Literatur des Expressionismus, Stuttgart 2002, S. 46. Delfmann, Heldentum, S. 19f.; Müller/Tatzel, »Das Klarste ist das Gesetz«, S. 15–23. Vgl. Kapitel II.3., S. 68ff. Werner Hellwig, Das Testament eines Expressionisten. Ernst Weiß: ›Der Augenzeuge‹. In: Stuttgarter Zeitung, 19. Oktober 1963. – Wiederabgedruckt in: EWM, S. 162–164, hier S. 163.
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2.2. Die Existenzproblematik der Weiß’schen Helden: Symptome der Krise In seinem ersten existenzphilosophischen Hauptwerk, der ›Psychologie der Weltanschauungen‹ (1919), rekurrierte der deutsche Arzt, Psychologe und Existenzphilosoph Karl Jaspers unter anderem auf Sören Kierkegaard, mit dem er sich seit 1914 beschäftigte, wie er im Vorwort zur vierten Auflage seines Werkes 1954 schreibt.74 In seiner Schrift hob Jaspers die Problematik des Wertezerfalls in der Moderne für den Einzelnen ebenso hervor wie die Wertekollision verschiedener Weltbilder. Ein Mensch, der eine solche Wertekollision erlebt, gerät in eine existenzielle Krise. Er erfährt, dass »nichts Festes da ist, kein unbezweifelbares Absolutes, kein Halt, der jeder Erfahrung und jedem Denken standhielte«75. Er ist »Grenzsituationen« ausgesetzt, die Jaspers als »Kampf, Tod, Zufall, Schuld«76 spezifiziert. Diese Grenzsituationen decken, bei aller Variation der äußeren Ursache, das eigentliche Problem des Menschen auf: Er erschrickt angesichts dieser Grenzerfahrungen zu Tode. »1. Der Mensch stirbt, bevor er seine Zwecke vollendet, die Nichtexistenz ist von allem das Ende. 2. Der Tod ist absolut persönliche Angelegenheit. – Mit anderen Worten: Die Situation ist eine allgemeine Situation der Welt, und sie ist zugleich eine spezifisch individuelle.«77 Die Todesangst führt in existenzielle Verzweiflung oder zu trotziger Abwehr: Der Mensch verdrängt seine Angst und sucht nach Wegen, seine Sterblichkeit zu überwinden. Die Verkennung seiner existenziellen Verfasstheit führt den Menschen hinein in Selbstabschließung und Einseitigkeit, in einen Seelenzustand, den Jaspers dämonisch nennt. Bei seiner Definition des Begriffs bezieht sich der Philosoph nicht auf die Tradition der Bibel78, sondern auf eine Beschreibung des Philosophen Sören Kierkegaard und von Johann Wolfgang von Goethe, der das Dämonische in seinen ›Gesprächen mit Eckermann‹ näher ausführt. Das Dämonische ist nach Jaspers mit Goethe nicht zu analysieren, aber übermächtig. Es ist nicht selbst anschaulich, sondern nur in seinen Manifestationen. Es steckt im Menschen, in der Anlage und auch im Schicksal, oder vielmehr in beidem zugleich: Im Schicksal und in der Individualität als
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Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen [1919], München 1985, S. X. Ebd., S. 229. Ebd., S. 256. Ebd., S. 260. Der christliche Glaube definiert das Dämonische als: »Böse Geister, nach biblischem Volksglauben die hinter besonders schweren Leiden von Menschen stehenden Kräfte, welche diese Menschen ihrer Freiheit berauben, sie beherrschen, und die im Dienst des Satans stehen.« – Vgl. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen, Freiburg u.a. 1980, S. 1429.
einer Verbundenheit. Es ist nicht das Grausliche, sondern es steckt in den Erschütterungen der tiefgreifendsten Realitäten unseres Daseins, es ist nicht eine wunderliche Welt neben der normalen, sondern es ist eine Kraft, die zu den bewegenden Faktoren allen Daseins gehört.79
Eine Überwindung der existenziellen Krise tritt nur dann ein, wenn der Mensch die Ursachen seiner Krise anerkennt, sich mit seiner Angst auseinandersetzt und seine Existenzbedingungen akzeptiert. Auch Weiß rezipiert in seinen Essays den Goethe’schen Dämonie-Begriff und rekurriert dabei, ähnlich wie Jaspers, auf dessen ›Gespräche mit Eckermann‹. Nach Weiß tritt das Dämonische vor allem in solchen Menschen zutage, die sich, wie Napoleon, allmächtig glauben.80 In seinen Romanen und Erzählungen ist das Dämonische jenen Figuren inhärent, die ihren Willen gegen ein numinoses Schicksal setzen, die im Verlauf der Handlung von fremden Mächten in die Knie gezwungen werden und diese Mächte am Ende als unausweichliche, ›höhere‹ anerkennen müssen – oder zumindest ihren transzendenten Zusammenhang ahnen. Michael Titzmann und Marianne Wünsch haben hervorgehoben, dass die Verinnerlichung der Handlung und die Verlagerung des Konflikts in die Psyche der Figur spezifische Merkmale eines Personenkonzepts sind, das die Lite-
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Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 193f. Vgl. ebd., S. 196. – Jaspers zitiert eine Passage aus Eckermanns Erinnerungen an seine Gespräche mit Goethe. Bezugspunkt ist Napoleon, an dem Goethe seinen Begriff der dämonischen Persönlichkeit erläutert: »Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas Anderem. Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem anderen, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen anderen: Mozart starb in seinem 36. Jahre, Raffael im gleichen Alter, Byron nur um weniges älter.« – Dieselbe Stelle aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe findet sich in Weiß’ Essay ›Der weisen Könige Wirken‹ von 1924/25 wieder. Auch Weiß rekurriert auf Napoleon, bevor er das Goethe’sche Zitat einflicht: »Auf dieser Stufe sehen wir Napoleon, und auch dies hat Goethe […] früher einmal klar erfasst: ›Der Mensch muss wieder ruiniert werden! … Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern: So ist zuletzt auch Napoleon unterlegen.‹ […] Hier haben wirklich Dämonen dem unseligen Menschen ein Bein gestellt.« – Vgl. Ernst Weiß, Der weisen Könige Wirken. In: Weiß, Das Unverlierbare. Essays. Meiner Mutter gewidmet, Berlin 1928, S. 291–304, hier S. 295f. – Wiederabgedruckt in: Weiß, KdE 78–82, hier KdE 79; Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823–1832. Hg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. In: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Karl Eibl zusammen mit Volker C. Dörr u.a., Frankfurt/M. 1987–1999, Bd. 12 (39) (1999), S. 660.
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ratur mit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend gestaltet.81 Um die Jahrhundertwende wird der Held als eine Menge von ihm inhärenten Möglichkeiten gedacht, die zu Beginn einer Erzählung partiell realisiert sind. Die Oppositionen der realisierten und der potentiellen Person manifestieren sich als Opposition zwischen bewusstem Ich und Nicht-Bewusstem, wobei das Nicht-Bewusste das eigentliche Thema der Erzählungen ist. Die Handlung beschäftigt sich mit der Frage, ob unbewusste oder nichtgewusste Inhalte ins Bewusstsein dringen können oder nicht. Es geht um eine Grenzverschiebung in der Psyche, die im positiven Fall zu einer Erweiterung des Selbst-Bewusstseins führt und im negativen Fall zu einem Scheitern von Erkenntnis. Was das Ich als intrapersonal akzeptiert, aber nicht in sein Sein integriert hat, ist sowohl zu integrieren als auch zu realisieren, soweit es nicht den vom Subjekt anerkannten Normen widerspricht. Selbstfindung und Selbstverwirklichung sind also dem Subjekt aufgetragen; sie vollziehen sich in immer unabschließbarem Wechsel von Krisen, die Transformationen auslösen, und temporär stabilen Zuständen, die aus diesen Transformationen resultieren. Unbewußtes hat bewußt zu werden, Potentielles realisiert zu werden. Die Person lebt gefährlich: der Prozeß kann gelingen (Selbstfindung/Selbstverwirklichung) oder scheitern (Selbstverlust); nach der Krise ist die Rückkehr in die scheinbare Selbstverständlichkeit jedenfalls unmöglich.82
Auf der Grundlage dieses Personenkonzepts beschreibt Marianne Wünsch ein Handlungsschema, das sie als »biographische Erzählung […] mit Weg-ZielStruktur«83 definiert. Die Handlung wird von einem Geschehnis oder Ereignis ausgelöst, das den Helden von seiner Außenwelt entfremdet. Die Krise löst eine Suche nach sich selbst aus und führt in Zwischenphasen, Um- und Irrwege. Sein Ziel erreicht der Held, wenn er nach diesen Zwischenphasen das Nicht-Bewusste in sich selbst entdeckt, die Grenze seines (einseitigen) Bewusstseins überschreitet und – in einem emphatischen Sinne – neue Wahrnehmungsmodi entdeckt. Im positiven Fall ist die Endphase von der Selbst-›Erlösung‹ des Helden, als einer Korrektur seines ursprünglichen Bewusstseins und dem Zustand des ›Lebens‹, gekennzeichnet. Im negativen Fall verbleibt der Held im Zustand des NichtBewussten und des ›Nicht-Lebens‹, einer Metapher für den inneren Tod. Es wird sich zeigen, dass die Helden der Weiß’schen Kurzprosa sowohl den Zustand des ›Lebens‹ erlangen als auch im ›Nicht-Leben‹ verharren. Für den Leser stellt sich
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Michael Titzmann, Das Konzept der ›Person‹ und ihrer ›Identität‹ in der deutschen Literatur um 1900. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, hg. von Manfred Pfister, Passau 1989, S. 36–52, hier S. 37f. Ebd., S. 49 (Hervorhebungen im Original). Marianne Wünsch, Wege der ›Person‹ und ihrer ›Selbstfindung‹ in der fantastischen Literatur nach 1900. In: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, hg. von Manfred Pfister, Passau 1989, S. 168–179, hier S. 170; dies., Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1991, S. 227–252.
dabei die Frage, wie sich die Erzähler gegenüber ihren Helden verhalten. Diese Frage berührt die Ebene der Darstellung und der parabolischen Erzählkonzeption, die es im nächsten Kapitel zu präzisieren gilt.
3.
Zum Begriff der parabolischen Erzählkonzeption
Die vorliegende Studie stellt die These auf, dass den zu untersuchenden Kurzprosatexten eine Erzählkonzeption zugrunde liegt, die bewusst mit rätselhafter Mehrsinnigkeit arbeitet, um den Leser – neben dem konkret erzählten Einzelfall – auf eine allgemeine Bedeutung des Erzählten hinzuweisen. Diese Bedeutung wird nicht direkt, sondern uneigentlich, parabolisch ausgedrückt. Zugleich zielt die Rhetorik der Mehrsinnigkeit darauf ab, den Leser zu aktivieren, zu involvieren und zu Reflexionen über die eigene Lebenssituation zu animieren. Ich möchte diese These hier noch weiter zuspitzen: Alle zu untersuchenden Erzählungen von Ernst Weiß sind auf den ersten Blick problemlos verständlich; in ihrer Gesamtkonzeption sind sie jedoch rätselhaft. Diese Rätselhaftigkeit wird durch semantische Mehrdeutigkeit, aber auch durch einen ambigen Diskurs erzeugt. Er bewirkt, dass der Leser den Hergang der Handlung und alles, was sich als Inhalt der empirischen Welt ermitteln lässt, als unvollständig, konstruiert und merkwürdig empfindet. Sowohl die Mehrsinnigkeit als auch die Verrätselung werden unter dem Begriff der ›parabolischen Erzählkonzeption‹ gefasst. Gemäß der intentionalistischen Bedeutungs- und Interpretationskonzeption meiner Untersuchung verstehe ich unter dieser Erzählkonzeption ein poetisches Verfahren, das mit Hilfe der Appellstruktur der Uneigentlichkeit eine zweite Bedeutung aktualisiert, ohne die erste Bedeutung außer Kraft zu setzen. Die Verrätselungen werden als (sprechpragmatischer) Appell des Autors verstanden, die Erzählungen sowohl auf ihre (Mehr-)Bedeutung als auch auf die Art der Narration hin überprüft. Dafür gilt es einige theoretische Prämissen zu skizzieren, was in der gebotenen Kürze dieses Grundlagenkapitels im folgenden Abschnitt getan wird.
3.1. Vorüberlegungen: Intention als Kategorie des Sprechaktes Dass die Intention des historischen Autors als Bezugsrahmen für die Interpretationsskizzen der Studie dienen soll, habe ich bereits angedeutet. Nun möchte ich in wenigen Worten herausarbeiten, wie dieser Ansatz zu verstehen ist, wenn nicht die Biografie des Schriftstellers, sondern der Text im Mittelpunkt der intentionalistischen Interpretation stehen soll.84 Die Studie bleibt dem histori-
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Intentionalistischen Interpretationskonzeptionen wird bisweilen vorgeworfen, Neuauflagen des Biografismus oder Psychologismus darzustellen. Diese Vorwürfe haben Lutz
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schen Autor insofern verpflichtet, als sie ihn zur Kontextualisierung ihrer Ergebnisse heranzieht. In ihren Analysen betrachtet sie den Text zunächst jedoch als eigenständige Größe und unabhängig von ihrem Urheber. Für die Interpretation der so gewonnenen Analyseergebnisse ist die Annahme konstitutiv, dass sich die Absicht eines Autors in seinem Text als dem konkret gewordenen Sprechakt niederschlägt.85 Diese Intention lässt sich, anhand bestimmter Signale in der Rede, ebenso ermitteln wie die Proposition eines Sprechaktes.86 Der Autor eines fiktionalen epischen Textes muss seine Intention also, ebenso wie der Verfasser einer pragmatischen Rede, durch rhetorische Signale anzeigen, auch wenn die Regeln für die jeweilige Textgestaltung verschieden sein mögen.87 Konstitutiv für dieses Verständnis von Intention ist in jedem Fall die Annahme, dass fiktionale ebenso wie faktuale Texte Sprechhandlungen darstellen, die eine komplexe Struktur und eine mittels dieser Strukturen manifestierte Wirkungsabsicht auf-
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Danneberg und Hans-Harald Müller entkräftet in: Der intentionale Fehlschluss – ein Dogma? In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 14 (1983), Teil I, S. 103– 137, Teil II, S. 376–411. Außerdem: Axel Bühler, Der hermeneutische Intentionalismus als Konzeption von den Zielen der Interpretation. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur (EuS) 4 (1993), S. 515–518; Tom Kindt und HansHarald Müller, Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart u.a. 2002, S. 355–375; Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis u.a., Stuttgart 2000, S. 7–34; Jürgen Kreft, Theorie und Praxis der intentionalistischen Interpretation. Brecht – Lessing – Max Brod – Werner Jansen, Hamburg 2006, S. 41–146; Kindt, Unzuverlässiges Erzählen, S. 7–25. Vgl. Gabriel, Zwischen Logik und Literatur, S. 152–155, hier S. 152. – Bei schriftlichen Texten hat es der Leser mit einer zerdehnten Kommunikationssituation zu tun, d.h., er muss die erklärten Absichten des Sprechers in einer von ihm zeitlich und räumlich getrennten Situation aus dem Text selbst ermitteln: »[D]er vom Autor intendierte Sinn muß sich als Sinn des Textes festmachen lassen. Der vom Autor intendierte Sinn ist demnach gar nicht als ein vom Text ablösbares psychisches Gebilde zu denken. [...] Unterscheiden wir so zwischen erklärten Absichten und realisierten Absichten und verstehen den vom Autor intendierten Sinn im zweiten Sinne, so spricht prima facie nichts gegen die ›Identitätsthese‹, den Sinn eines Textes mit dem vom Autor intendierten Sinn gleichzusetzen.« Vgl. John Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M. 1971, S. 32f. und S. 84–113. – Die Vorstellung, dass die Intention des Sprechers konstitutiver Teil einer Rede ist und vom Hörer ermittelt werden soll, existiert schon in der Schulrhetorik. Vgl. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, München 101990, S. 18–24. Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass sowohl die Urheber faktualer als auch fiktionaler Texte Intentionen verfolgen, beispielsweise zu informieren, aufzufordern oder zu überzeugen. Faktuale Texte sind nach dem Verständnis der Sprechakttheorie direkte Sprechhandlungen, fiktionale Texte indirekte Sprechakte. Das bedeutet auch, dass die Sprecher von faktualen und fiktionalen Texten rhetorisch unterschiedliche Mittel einsetzen, um ihre Intention zu gestalten.
weisen.88 Ein wesentlicher Unterschied zwischen pragmatischer und fiktionaler Rede besteht allerdings im Vorhandensein zweier Kommunikationssituationen im fiktionalen epischen Text: Neben der realen Rede des Autors, als welche seine Textproduktion angesehen werden kann, liegt ein zweiter Diskurs vor, jener des fiktionalen Erzählers. Während der historische Autor mit der Produktion seines Textes eine empirische Sprechhandlung durchführt, gestaltet der Erzähler mit seiner fiktionalen Rede eine (interne) Sprechhandlung, die auf die außersprachliche Wirklichkeit fiktiv Bezug nimmt.89 Was innerhalb dieser Sprechsituation geschieht, geäußert oder kommentiert wird, ist allein dem Erzähler zuzuordnen; er ist das Ordnungszentrum dieses Diskurses. Als solcher ist der Erzähler Teil des poetischen Verfahrens, das vom Autor intendiert und umgesetzt worden ist.90 Der Erzähler ist also nicht mit dem Autor identisch, sondern die »wichtigste Manifestationsfigur des Autorbewußtseins«91 im Text. Auf einem solchen Intentionalismus, der zunächst die rhetorischen Strukturen eines Textes ermittelt und seine Ergebnisse erst im Anschluss mit den Absichten des Autors vergleicht, baut die vorliegende Studie auf.
3.2. Zur parabolischen Erzählkonzeption Der Begriff der parabolischen Erzählkonzeption wurde in der Weiß-Forschung bislang nicht verwendet.92 Die vorliegende Studie geht bei der Explikation des
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Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, S. 39ff. Ebd., S. 76–122 und S. 147–155, sowie Matias Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 17. Eine intentionalistische Bedeutungs- und Interpretationskonzeption, die auf kommunikationstheoretischen Annahmen beruht, schließt eine textimmanent gedachte Autorgröße wie das Konzept des ›impliziten Autors‹ aus. Theoretische Begründungen hierfür liefern u.a. Gérard Genette, Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Vorwort hg. von Jürgen Vogt, München 1994, S. 283ff.; Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 120f.; Tom Kindt und Hans-Harald Müller, »Der implizite Autor«. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von Fotis Jannidis, Tübingen 1999, S. 273–287; Tom Kindt und Hans-Harald Müller, The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin 2006. Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse. Eine Einführung mit Studien- und Übungstexten, Weinheim 41996, S. 52. Michael Voges hat diese narrativen Verfahren mit dem Begriff des »verdeckten Diskurses« bezeichnet. Damit beschreibt er die dicht gefügte Symbolstruktur des Textes, konnotative Verfahren, Konfigurationen und Intertextualität. Ich nehme Voges’ Beobachtungen insofern auf, als ich ähnliche Merkmale auf der Ebene der Geschichte aufzeige. Mein Begriff der parabolischen Erzählkonzeption geht jedoch über Voges’ Begriff des »verdeckten Diskurses« hinaus, da ich auch die rhetorischen Funktionen des Diskurses mit einbeziehe. – Vgl. Michael Voges, Nervenkunst und ›Konstruktio-
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Begriffs von zwei Prämissen aus: Auf der Ebene der Geschichte erzeugen die Erzähler systematisch Mehrdeutigkeit, indem sie Implizite Transfersignale in die erzählte Welt einführen. Auf der Ebene des Diskurses konfrontieren diese Erzähler den Leser mit einer mehr oder minder zweideutigen Rhetorik. Zwar gerieren sie sich als glaubwürdig, doch verschleiern sie ihre Distanz zum Geschehen und die Perspektive, aus der sie erzählen; sie spielen mit der Fiktivität des Erzählten, halten Informationen zurück oder werden unzuverlässig.93 Immer wieder muss sich der Leser die Frage stellen, wie verbindlich die Aussage dieser rätselhaften Erzähler über das Erzählte wirklich ist. Die folgenden Ausführungen wollen helfen, die Rätselhaftigkeit in Geschichte und Diskurs als Merkmal der parabolischen Erzählkonzeption zu definieren, zwischen der Gattung der Parabel und einer parabolischen Schreibweise zu unterscheiden und die Merkmale des Parabolischen für die Interpretationsskizzen im Hauptteil fruchtbar zu machen. 3.2.1. Rhetorische ›obscuritas‹ als Voraussetzung parabolischen Erzählens In der Weiß’schen Kurzprosa sind Verrätselungen oder Ambiguisierungen zu beobachten, die ich mit der rhetorischen Strategie der ›obscuritas‹ erkläre.94 ›Obscuritas‹, Dunkelheit, als Merkmal der Rede wird bereits in der antiken Rhetorik als Verstoß gegen das Kooperationsprinzip beschrieben, da sie die erfolgsorientierte Interaktion – das maximale Maß an Verständlichkeit und Verständigung – zwischen Sprecher und Hörer stört.95 Die Schulrhetorik fordert ›perspicuitas‹,
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nen‹. Ernst Weiß’ Roman ›Die Galeere‹ im Diskurs des modernen Romans. In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker, S. 206–219. Vgl. Hans-Harald Müller, Zur Funktion und Bedeutung des ›unzuverlässigen IchErzählers‹. In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker, S. 26–60. Vgl. zur These der ›obscuritas‹ als Strategie eines Sprechers, mit seinem Publikum zu kommunizieren: Manfred Fuhrmann, Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarischen Theorie der Antike. In: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hg. von Wolfgang Iser, München 1966, S. 47–72. – Ambiguität als Phänomen in der Literatur der Moderne wird von Christoph Bode untersucht in: Ästhetik der Ambiguität: Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen 1988. – Über eine spezifische Spielart der Unverständlichkeit als ästhetisches Prinzip der literarischen Moderne hat Moritz Baßler gearbeitet in: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen 1994. – Gegen die These einer intentionalistischen ›obscuritas‹ spricht sich Gary Iseminger aus in: Irony, metaphor and the problem of intention. In: Intention and Interpretation, ed. by Gary Iseminger, Philadelphia 1992, S. 183–202. Paul Grice’s Kooperationsprinzip und seine Konversationsmaximen sind in der Linguistik und Kommunikationstheorie allgegenwärtig. Grice hat seine Kategorien am Kriterium des maximalen Informationsaustausches in der Alltagssprache entwickelt. Sie umfassen die Aufforderung an einen Sprecher, einen (pragmatischen) Redebeitrag so informativ wie möglich und nötig zu machen (Quantität), nichts Falsches zu sagen
intellektuelle Verständlichkeit, als Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit einer Rede, während Unklarheit (etwa in einer Parteirede) als Fehler aufgefasst wird.96 Um ›perspicuitas‹ zu erzielen, muss die Klarheit des Gedankens in der Formulierung und in der Rede gesichert sein, da beim Hörer sonst Missverständnisse über das Gesagte oder Gemeinte auftreten können. Die Klarheit der sprachlichen Formulierung (sermo manifestus, sermo apertus […]) ist die Fortsetzung der gedanklichen Klarheit im Bereich der elocutio. Diese Klarheit wird erreicht, wenn das vom Redner Gemeinte (voluntas) sowohl im unmittelbar auf den Rede-Erfolg […] bezogenen Bereich der Gesamt-materia […] als auch im Bereich der zur materia entwickelten res […] bis hinunter in jeden einzelnen Satz und sein Gefüge hinein vom Hörer verstanden wird.97
In der literarischen Kommunikation ist ›obscuritas‹ häufig ein konstitutives Verfahren, um a) die Rede in ihrer Ausführung zu verfeinern oder b) das Publikum zu aktivieren. Durch die Verrätselung oder Ambiguisierung seiner Rede versucht ein Sprecher, seinen Aussagen ein ›Mehr an Bedeutung‹ zu geben, wobei bereits die Form der Mitteilung auf eine Differenz zwischen einem Gesagten und einem Gemeinten hinweist.98 ›Obscuritas‹ ist in einem ästhetischen Text also eine Lizenz, die das direkte Verstehen erschwert, die aber auch verhindert, dass ein Text als zu einfach oder anbiedernd empfunden wird. Dem Leser suggeriert ein rätselhafter oder dunkler Text einerseits eine erhöhte Schwierigkeit zu verstehen, was eigentlich gemeint ist: Die Botschaft eines Textes ist offensichtlich komplexer, als es seine erste und einfache Lektüre nahe legt. Andererseits bedeutet die Rezeption eines komplexen Textes auch einen höheren intellektuellen Lustgewinn, denn er setzt die verstärkte Mitarbeit des Lesers am Verstehensprozess voraus und verspricht ihm eine höhere Befriedigung, sollte er das Rätsel adäquat lösen können.
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(Qualität), relevant zu sein (Relevanz) und klar zu sein (Modalität). – Vgl. Paul Grice, Logik und Konversation. In: Handlung, Kommunikation, Bedeutung, hg. von Georg Meggle, Frankfurt/M. 1979, S. 243–265. Vgl. Lausberg, Elemente, S. 50 (Hervorhebung im Original): »Die intellektuelle Verständlichkeit selbst ist eine Voraussetzung der Glaubwürdigkeit: nur was verstanden wird, kann für die Glaubwürdigkeit in Frage kommen. Die Glaubwürdigkeit selbst führt zum Rede-Erfolg der Überredung […]. Die perspicuitas ist somit eine Bedingung des Rede-Erfolgs.« Ebd., S. 50 (Hervorhebungen im Original). Diese Definition gilt auch für die Metapher, die gemäß der Interaktionstheorie als Übertragung oder Ortsveränderung eines Nomens definiert wird. Die Übertragung impliziert eine Störung der sprachlichen Ordnung mit dem Ziel, »in dieser Störung eine Erkenntnis einer Verwandtschaft der Dinge« zu artikulieren. – Vgl. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 52004, S. 11.
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Die obscuritas als Lizenz traut dem Publikum, das sich dadurch geehrt fühlt, ein gewisses Maß an Mit-Arbeit am Werk des Künstlers zu: Der Künstler gibt seinem Werk gewisse Dunkelheiten mit und überläßt dem Publikum die Ausführung des Endstadiums des Werks: die daraufhin zustandekommende Klarheit des Werks ist so Frucht der Arbeit des Publikums.99
Grundsätzlich gilt für eine durch ›obscuritas‹ verfremdete Rede, dass sie Signale besitzen muss, die den Hörer oder Leser auf die komplexe Bedeutung des Gesagten hinweisen. Eine Voraussetzung ist auch, dass die Kommunikationsgemeinschaft aus Sprecher und Hörer über dasselbe (kulturelle) Hintergrundwissen verfügt, damit die mitgemeinte Bedeutung entschlüsselt werden kann. Auch setzt der Leser beim Sprecher oder Autor eines Textes die Absicht voraus, dass er trotz einer Verrätselung seiner Rede nicht intendiert hat, alle Kommunikationsmaximen aufzukündigen. Um verständigungsorientiert zu handeln, das heißt: um weiterhin kommunizieren zu können, muß der Hörer daher unterstellen, daß der Sprecher das Kooperationsprinzip zwar nicht aufgegeben, aber auf eine andere Ebene verschoben hat. Denn er handelt, uneigentlich redend, nicht mehr nach den Maximen »Sei klar!«, »Sei informativ!«, »Sei aufrichtig!«, sondern eher nach dysfunktionalen Imperativen wie: »Streu Sand ins Getriebe!«, »Sei fintenreich!«, »Sei dunkel!« usf.100
In ihrer extremen Spielart arbeitet die ›obscuritas‹ mit unauflöslichen Tropen und nimmt in Kauf, dass der Leser auch am Ende des Textes den eigentlichen Sinn nicht verstehen kann (in solchen Fällen handelt es sich um richtungslose ›obscuritas‹). Hingegen geht die relative oder partielle ›obscuritas‹ nur von punktuellen Sonderbarkeiten aus, etwa von Kommentaren oder Deutungen des Redners, von der Symbolik des Textes oder der Darstellung von Zusammenhängen. Partielle ›obscuritas‹ ist vor allem in solchen Texten zu finden, die einen sonst kohärenten und wohlgeformten Erzählzusammenhang aufweisen; die Wohlgeformtheit ist eine Voraussetzung dafür, dass partielle ›obscuritas‹ überhaupt wahrgenommen wird.101 Solche wohlgeformten Texte mit partieller ›obscuritas‹ sind didaktische Gattungen wie etwa das Rätsel, das Gleichnis, die Beispielgeschichte, die Allegorie oder die Parabel: Ihre rätselhaften Stellen sind als Rezeptionshinweise zu deuten, dass das eigentlich Gemeinte nur indirekt, besser: uneigentlich ausgedrückt ist.102
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Lausberg: Elemente, S. 51 (Hervorhebung im Original). Dietrich Harth, Literarische Kommunikation. In: Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, hg. von Dietrich Harth und Peter Gebhardt, Stuttgart 1982, S. 241–265, hier S. 250. Lausberg, Elemente, S. 133. Vgl. Rüdiger Zymner, Uneigentlichkeit. Studien zur Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn 1991, S. 60ff.
Da in der vorliegenden Studie eine durch parabolisches Erzählen erzeugte Mehrsinnigkeit als Hauptmotivation für die Verrätselung und also für partielle ›obscuritas‹ der Texte angenommen wird, möchte ich nun den Begriff des Parabolischen präzisieren. Dafür greife ich zunächst auf eine Definition der Gattung Parabel zurück, grenze sie sodann vom Begriff der Allegorie ab und komme am Ende auf die parabolische Schreibweise zu sprechen. Dieser Begriff steht dem, was hier unter ›parabolischer Erzählkonzeption‹ verstanden wird, am nächsten. 3.2.2. Uneigentlichkeit: Zur Explikation des Begriffs Parabel In der Forschung existieren mehrere Ansätze, um die Parabel als Begriff und als Gattung näher zu bestimmen. Allerdings gibt es, wie Renate von Heydebrand feststellt, keinen Konsens darüber, welches Textkorpus unter dem Begriff der Parabel zu subsumieren ist.103 Ältere Ansätze definieren die Parabel häufig mit einer Theorie, die in der Parabel einen zu einer Erzählung erweiterten Vergleich sieht. Die Gattung der Parabel ist danach wie das Gleichnis eine eigentliche Rede, die zwischen der ›Sachhälfte‹ des Textes (also der erzählten Geschichte) und seiner ›Bildhälfte‹ (also der durch den Vergleich erzeugten eigentlichen Bedeutung) ein direktes Verhältnis herstellt.104 Hermeneutische Theorien präzisieren die Parabel dagegen als eine erkenntnisfordernde Gattung, deren konstanter Kern in einer dialektischen Struktur besteht, wobei diese Struktur – bestehend aus einer gesagten und einer eigentlich gemeinten Bedeutung – an den »appellativen Leerstellen eines Textes«105 erkennbar ist. Die narrativen Verfahren der Parabel ändern sich in dem Maße, in dem es gilt, der veränderten Weltanschauung in Aufklärung und Moderne Rechnung zu tragen.106 Sprachanalytische Ansätze wiederum versuchen die Parabel aus ihrer kommunikativen Situation heraus zu begründen
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Renate von Heydebrand, Parabel. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Im Auftrag der Kommission für Philosophie und Begriffsgeschichte der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, Bonn 1991, Bd. 34, S. 27–122, hier S. 29. Dieser Ansatz geht im Wesentlichen auf theologische Traditionen zurück, die sich bei der Auslegung der Gleichnisse Jesu herausgebildet haben. – Vgl. Adolf Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. Teil 1: Die Gleichnisreden im Allgemeinen (2), Teil 2: Auslegung der Gleichnisreden der ersten drei Evangelien, Freiburg i. Br. 1899; Klaus-Peter Philippi, Parabolisches Erzählen: Anmerkungen zu Form und möglicher Geschichte. In: Die deutsche Parabel. Zur Theorie einer modernen Erzählform, hg. von Josef Billen, Darmstadt 1986, S. 222–265; Josef Billen, Notizen zur Geschichte, Struktur und Funktion der Parabel. Nachwort. In: Deutsche Parabeln, hg. von Josef Billen, Stuttgart 1982, S. 251–295. Theo Elm, Die moderne Parabel. Parabel und Parabolik in Theorie und Geschichte, München 1982, S. 27–29, S. 82–90 und S. 136–138, hier S. 29. Vgl. auch Werner Heldmann, Die Parabel und die parabolischen Erzählformen bei Franz Kafka, Münster (Diss. masch.) 1953, S. 7–38; Erich von Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform. Essays [1959], München 1970, S. 7–51; Erwin
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und definieren sie aufgrund ihres Merkmals der doppelten Bedeutungskonstitution als uneigentlichen Sprechakt. Gemeint sind damit Redewesen, die zwei oder mehr Bedeutungen implizieren.107 Von Heydebrand fasst diese letzte Begriffsexplikation wie folgt zusammen: (4) Eine fiktionale Erzählung, die im Text oder in der Textumgebung Hinweise darauf enthält, daß sie als ganze uneigentlich zu verstehen ist. Die Hinweise können explizit (im Text oder im Co-Text, Kontext) oder implizit (etwa durch textübergreifende Metaphorik) gegeben sein, und die Richtung, in der die neue Bedeutung zu suchen ist, kann festgelegt werden oder offen bleiben. Nur dieses literaturwissenschaftliche Explikat […] erlaubt, weitgehend vom Text her und ohne inhaltliche und funktionale Festlegungen, die Erzählgattung ›Parabel‹ schlüssig von vergleichenden Textelementen […] wie mit entsprechenden Explikaten von anderen Kurzformen vergleichenden Erzählens abzugrenzen.108
Nicht zuletzt aufgrund ihres sprechpragmatischen Ansatzes ist diese Explikation für die vorliegende Studie von besonderem Interesse. Dieses Explikat erlaubt, die Parabel mit Hilfe des Merkmals der Uneigentlichkeit als Erzählgattung schlüssig von anderen Kurzformen abzugrenzen.109 Mit ihrer Definition knüpft von Heydebrand an eine Studie von Rüdiger Zymner an, der den Parabel-Begriff nach den sprachlogischen Anforderungen an die Adäquatheit wissenschaftlicher Begriffe zu klären versucht hat.110 Nach Zymner ist die Parabel eine fiktionale Erzählung metaphorischer Struktur, die im Text oder in der Textumgebung Hinweise darauf enthält, dass sie in ihrer Gesamtbedeutung ›uneigentlich‹ zu verstehen sei.111
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Wäsche, Die verrätselte Welt. Ursprung der Parabel Lessing – Dostojewski – Kafka, Meisenheim am Glan 1976. Vgl. Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, München 32004; ders., Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache. In: Zur Hermeneutik religiöser Sprache, hg. von Eberhard Jüngel und Paul Ricœur, München 1974, S. 45–70; Zymner, Uneigentlichkeit; Heydebrand, Parabel. In: Archiv für Begriffsgeschichte, S. 27–122; dies., Parabel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Klaus Weimar, Bd. III: P-Z, Berlin 2003, S. 11–15; in gewisser Weise auch: Kurz, Metapher. Heydebrand, Parabel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 11 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd. – Gemeint sind das Gleichnis, die Beispielgeschichte oder die Fabel. Zu einer bestimmten Textsorte gehört ein Text dann, wenn er sowohl einige notwendige als auch mindestens ein zusätzliches alternatives Merkmal, meist aber deren mehrere, aufweist. – Vgl. Harald Fricke, Norm und Abweichung: Eine Philosophie der Literatur, München 1981, S. 146; Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn u.a. 1993, S. 8; außerdem: Axel Spree, Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995. Vgl. Zymner, Uneigentlichkeit, S. 61: »Mit ›Uneigentlichkeit‹ bezeichne ich daher im folgenden die erläuterten Funktionen einer Appellstruktur, die aus den Elementen ›Initi-
Zu den beiden notwendigen Merkmalen der Parabel treten die variablen Merkmale der Impliziten und Expliziten Transfersignale. Unter Transfersignalen versteht Zymner eine bimorphe semantische Struktur im Text, die dem Exegeten anzeigt, dass neben dem ausdrücklich Gesagten noch etwas Anderes mitgemeint ist.112 Transfersignale sind stets Indikatoren einer Mehrsinnigkeit, die eine Richtungsänderung der im Text genannten Bedeutung anzeigen.113 Diese Transfersignale können explizit (als Kommentare, Sentenzen oder Vergleichsaufforderungen im Diskurs)114 oder implizit (etwa durch eine textübergreifende Metaphorik) gegeben werden.115 Wie von Heydebrand festgestellt hat, trägt Zymner mit diesen variablen Merkmalen der Tatsache Rechnung, dass viele ältere Parabeln fest mit einer Auslegung gekoppelt sind, während moderne Parabeln häufig keine Deutung mehr in sich tragen und bisweilen kaum als uneigentliche Erzählung zu erkennen sind.116 Während sich Explizite Transfersignale relativ leicht feststellen lassen, sind Implizite Transfersignale häufig weit weniger offensichtlich. Auch ergeben sie nur dann einen (neuen) Sinn, wenn sie in ihrer Summe denselben Richtungswechsel des Bedeutens anzeigen. Das Implizite Transfermerkmal ist also nicht ein singuläres Element (wie etwa die expliziten Vergleichsaufforderungen), sondern ein Komplex gleichgerichteter und Impliziter Textmerkmale eines episch-fiktionalen Textes. Gleichgerichtet sind diese Textmerkmale, weil sie im Zusammenhang und zusammengenommen die Mehrsinnigkeit des Erzähltextes indizieren und dadurch zum Transfer auffordern. Implizit sind diese Merkmale, weil es sich um Merkmale der Binnenebene des Erzähltextes handelt und nicht um Merkmale der Rahmenebene, die wie das Explizite Transfermerkmal klar unterscheidbar und abgegrenzt sind von der Parabel-Erzählung. Der Zusammenhang
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alsignal‹ mit gleichzeitigem ›Transfersignal zur Richtungsänderung der semantischen Kohärenzbildung‹ und aus der (allein kotextuellen oder auch kontextuell gelenkten) Richtungsbestimmung des Transfers besteht. Erst auf der Basis der ›Appellstruktur der Uneigentlichkeit‹ können andere Funktionen metaphorischer Sprachverwendung greifen.« Vgl. ebd., S. 99 (Hervorhebung im Original): »In Parabeln […] lassen sich einige Merkmale analysieren, die hier als Transfersignale interpretiert werden. Sie kennzeichnen den Erzähltext als uneigentlich und fordern dadurch dazu auf, einen oder viele vom Wortlaut des Textes unterschiedene Sinne zu finden.« Vgl. ebd. (Hervorhebungen im Original): »Die ›hermeneutische‹ oder ›allgemeine Deutungsoffenheit‹ eines Erzähltextes bezeichne ich […] mit ›einsinnig‹. Mit ›Mehrsinnigkeit‹ eines Erzähltextes bezeichne ich hingegen die durch signalisierende Textmerkmale geforderte Richtungsänderung des Bedeutens, die am Text nachweisbare Aufforderung, eine eigene und vom Wortlaut des Textes unterschiedene Text-Semantik herzustellen.« Vgl. ebd., S. 89ff. Vgl. ebd., S. 92ff. Vgl. Heydebrand, Parabel. In: Archiv für Begriffsgeschichte, S. 31f.; Zymner, Uneigentlichkeit, S. 17–20.
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und die Funktion der gleichgerichteten Textelemente wird durch die fiktionale Triftigkeit und durch gewisse narrative Formationsprinzipien gewährleistet.117
Auch wenn Zymner keine textexternen Zusatzkriterien für sein Parabel-Explikat einführt, zeigt sich, dass seine Definition des Transfersignals als Merkmal der Parabel außerordentlich nützlich ist, um einen Text systematisch zu beschreiben und eine intendierte Mehrbedeutung nachzuweisen. Die Begriffe des Expliziten und Impliziten Transfersignals werden daher in der vorliegenden Studie übernommen, um einen Richtungswechsel des Bedeutens zu bezeichnen und eine zweite Botschaft des Textes zu enthüllen. Auf diese Funktion werde ich im Einzelnen zurückkommen. Zunächst gilt es jedoch noch einen Begriff zu klären, der jenem der Parabel ausgesprochen nahe steht: die Allegorie. Diese Klärung ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, da in den Kurzprosatexten ein bestimmter Typus der Allegorie, jener der ›allegoria in factis‹, vorkommt. 3.2.3. Parabel und Allegorie: Zur Differenzierung zweier Begriffe Zunächst sollen die Begriffe Allegorie und Parabel in ihrer Übereinstimmung und in ihrer Abgrenzung voneinander definiert werden. Dafür rekurriere ich erneut auf von Heydebrands vierte Explikation des Parabel-Begriffs. Ähnlich wie Zymner, der unter Allegorie nur eine Schreibweise versteht, definiert von Heydebrand die Allegorie als eine »bestimmte Textstruktur«118, die Texten eine allegorische Qualität verleihen kann. Sie unterscheidet jedoch weiterhin auch verschiedene Spielarten der Gattung Allegorie: die Personifikation und die sich über einen Text erstreckende erweiterte Metapher.119 Da der Name Allegorie aber für Texte mit bestimmten Merkmalen eingebürgert ist, soll er als solcher auch festgehalten werden, und zwar 1. für solche Texte, die in ihrer ganzen Struktur durch die Personifikation von Abstrakta bestimmt sind, und 2. für solche Texte, die durch eine erweiterte Metapher eine ins einzelne gehende Übertragung des erzählten Geschehens auf eine andere Sinnebene nahelegen. Solche Texte sind bereits im Begriff von Parabel als ›uneigentlicher Rede‹ erfaßt […]. Für diesen zweiten Fall soll von einer ›Parabel-Allegorie‹ gesprochen werden: denn erhalten bleibt die ›globale Uneigentlichkeit‹ im Sinne Zymners, die auch die Handlungsstruktur mit betrifft.120
Während sich die allegorische Personifikation – als poetisches Verfahren zur Vergegenständlichung von Abstrakta wie Liebe, Tod, Hass oder Gerechtigkeit – von der Parabel relativ gut differenzieren lässt, ist die Allegorie vom Typ der erweiterten Metapher kaum von der Parabel zu trennen. In diesem zweiten Typ der
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Zymner, Uneigentlichkeit, S. 93f. (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 132 (Hervorhebung im Original). Vgl. Heydebrand, Parabel. In: Archiv für Begriffsgeschichte, S. 39. Ebd.
Allegorie sieht von Heydebrand eine Strukturvariante der Parabel, die sie denn auch als »Parabel-Allegorie«121 bezeichnet. In der Tat lässt sich bei einer Erzählung, der eine metaphorische Erzählstruktur zugrunde liegt, kaum eindeutig von einer Parabel oder einer Allegorie sprechen. So definiert Gerhard Kurz diesen Typus der Allegorie, die ›allegoria in verbis‹, mit denselben Merkmalen, die von Heydebrand für die Parabel festgestellt hat.122 Diese Übereinstimmung legt nahe, dass beide Wissenschaftler dasselbe meinen, auch wenn sie zwei Begriffe dafür verwenden. Sind Parabel und Allegorie also nur zwei synonyme Ausdrücke für ein und denselben Sachverhalt? Die Frage ist berechtigt, muss aber dahingehend verneint werden, als von Heydebrand und Kurz in ihren Typologien neben der ›allegoria in verbis‹ auch noch weitere Formen der Allegorie benennen, nämlich die schon erwähnte Personifikation (von Heydebrand) und die ›allegoria in factis‹ (Kurz). Diese letztere Art der Allegorie bedient sich eines Prätextes, dessen Bedeutung sie bejaht. Text und Prätext stehen in einem Erfüllungsverhältnis.123 Der Prätext ist die vorausgehende und vorausgesetzte Bedeutung, das schon Gesagte, Bekannte, Gewußte und Erinnerbare. Der Text wird gesagt. Durch diese immanente Temporalität der allegorischen Struktur setzt die Allegorie nicht nur erinnerbare Bedeutungszusammenhänge voraus, sie stiftet umgekehrt auch Erinnerungsräume. Sie konstituiert Geschichtsbewußtsein, Bewußtsein von Kontinuitäten, indem sie Altes als Neues erzählt und Neues als Altes.124
Das Zitat zeigt, dass es bei der ›allegoria in factis‹ einen konkreten Sinnhorizont gibt, auf den sich das uneigentlich Gesagte der Erzählung hin orientiert. Eine Übereinstimmung zwischen Parabel und Allegorie besteht also nur dort, wo eine ›allegoria in verbis‹, eine erweiterte Metapher, zugrunde liegt. Für die Begrifflich-
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Ebd. Vgl. Kurz, Metapher, S. 41–55. – Kurz definiert einen Text dann als ›allegoria in verbis‹, wenn er seine Mehrsinnigkeit durch »semantische Ambiguitäten« konstituiert. Die hermeneutische Beziehung zwischen der wörtlichen und der allegorischen Bedeutung entsteht durch eine systematisch durchgeführte Anspielung (S. 41). Hinweise auf eine Bedeutungsübertragung beschreibt Kurz als »implikative« und »explikative« Indikatoren (S. 43f.). Diese Terminologie erinnert sehr an Zymners Begrifflichkeit der Impliziten und Expliziten Transfersignale. Nach Kurz sind die Indikatoren Teil der Appellstruktur des Textes und dienen der Aktivierung des Lesers: »Die allegoria in verbis entspricht der Metapher. Bildspender und Bildempfänger stehen nicht in einem notwendigen Verhältnis, sondern werden aufeinander bezogen kraft der Imagination.« (S. 47, Hervorhebung im Original.) Vgl. Kurz, Metapher, S. 47 (Hervorhebung im Original): »Die allegoria in factis bezieht zwei Ereignisse (›factis‹) der Heilsgeschichte aufeinander. Text (Typus) und Prätext (Antitypus) stehen in einem typologischen Verhältnis zueinander. Sie stehen in einem von Gott gewollten Erfüllungsverhältnis. […] [Diese] Typologie ist nicht auf die Bibel beschränkt. So wurde in der Renaissance synkretistisch Antikes auf Christliches bezogen, etwa Orpheus auf Christus.« Ebd., S. 44f.
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keit der vorliegenden Studie entsteht daraus die Konsequenz, dass dort, wo eine Erzählung eine metaphorische Grundstruktur hat, von einer Parabel oder parabolischen Erzählung gesprochen wird, während nur solche Verfahren als allegorisch bezeichnet werden, die eine Personifikation oder einen Prätext erkennen lassen, es sich also um eine ›allegoria in factis‹ handelt. Zymners Einwand, es handle sich bei der Allegorie nicht um eine eigene Gattung, sondern vielmehr um eine Schreibweise, zeigt jedoch den Bedarf an, das Verhältnis zweier weiterer Begriffe zu prüfen, die narrativ etwas Ähnliches meinen, doch formal etwas Anderes bedeuten: jenen der Gattung und der ›Schreibweise‹. Der Frage, ob Zymners eigene Explikation der Parabel eine Gattung oder nur eine Schreibweise erfasst, gehe ich im folgenden Abschnitt nach. 3.2.4. Gattung oder Schreibweise? Zum Begriff der Schreibweise Gehören alle fiktionalen Erzählungen, die das Merkmal der ›Uneigentlichkeit‹ und die entsprechenden Transfersignale aufweisen, automatisch der Gattung der Parabel an? Wann wird ein narratives Merkmal zu einem formalen Kriterium? Welche Bedeutung hat die Kürze (oder Länge) einer Erzählung bei der Bestimmung einer Gattung – und also auch der Gattung Parabel? Sowohl bei Zymner als auch bei Kurz, der sich eingehend mit der »Textform« der Allegorie beschäftigt, findet man auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten. So scheint es für beide logisch und richtig, von der »Gattung« der Parabel respektive der Allegorie zu sprechen. Gleichzeitig beschreiben sie diese Gattungen jedoch vor allem durch narrative, nicht durch formale Kriterien. So entwirft Kurz gleich ein ganzes Spektrum allegorischer Merkmale, ohne allerdings zu präzisieren, inwiefern sich die genannten Charakteristika – etwa das allegorische Handlungsschema – auch gattungskonstitutiv auswirken.125 Ebenso hat Zymner dort Schwierigkeiten, wo er die Parabel im Roman vorfindet: Zwar kann ein Roman typische narrative Merkmale der Parabel aufweisen, etwa die Reduktion der erzählten Welt auf ein Modell oder die einfache Erzählform, wie sie für kurze Texte kennzeichnend ist126, doch gehört der Roman selbst deswegen noch nicht zur Gattung Parabel. Zymner weiß, dass er in argumentative Not geriete, wenn er den Roman aufgrund der Feststellung von narrativen Transfersignalen der Gattung Parabel zuzurechnen versuchte: »Wir können darum zwar von ›parabolischen Romanen‹ sprechen, kaum jedoch von der Gattung ›Parabel‹.«127 Die Tatsache,
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Ebd., S. 55: »Allegorische Formen und Strukturen können in allen literarischen Gattungen aufgenommen werden und diese spezifizieren oder gar definieren. Es gibt keine Gattungsbeschränkungen für Allegorien.« Vgl. Zymner, Uneigentlichkeit, S. 168ff. Ebd., S. 169 und S. 171: »Insgesamt kann der Prädikator ›parabolisch‹ nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei den analysierten Grundformen der Parabolik im
dass parabolische Merkmale also auch in Texten vorhanden sind, die den formalen Kriterien der Gattung nicht entsprechen – etwa dem Merkmal der relativen Kürze –, macht deutlich, dass nicht jeder parabolisch erzählte Text automatisch der Gattung Parabel zuzuordnen ist. Vielmehr ist damit nur ausgesagt, dass sich in einem Text parabolische ›Schreibweisen‹ finden. Diese Beobachtung ist für die vorliegende Studie insofern von Bedeutung, als sie sich damit vorerst von dem Ziel distanziert, die zu untersuchende Kurzprosa der Gattung Parabel zuzuweisen, sondern vielmehr das Vorhandensein parabolischer Schreibweisen im Sinne einer parabolischen Erzählkonzeption nachzuweisen versucht. Zymner bestimmt den Begriff der ›Schreibweise‹ so, dass ganz unterschiedliche literarische Techniken oder Mittel in ganz unterschiedlichen literarischen Gattungen gewissermaßen zu oder mit einer Funktion oder Wirkung ›binden‹. Schreibweisen sind materialästhetisch gesehen Wirkungsdispositionen, denn die im Text verwendeten poetischen Mittel sind zusammengenommen im Prinzip dazu geeignet, bestimmte Wirkungen zu erzielen […]; produktionsästhetisch spiegeln Schreibweisen Wirkungsintentionen […], und rezeptionsästhetisch zielen sie auf Wirkungen ab […].128
Zymners Definition der ›Schreibweise‹ zeigt, dass es sich hier um einen Funktionsbegriff handelt, der zwar bestimmte narrative Verfahren bündelt, der sich aber nicht an eine epische (Klein-)Gattung bindet. In diesem Sinne können Schreibweisen »so etwas wie Proben auf mögliche Gattungen sein«129, ohne den Anspruch zu erheben, kanonisierend zu wirken. Diese Beobachtung wirft ein neues Licht auf Zymners Definition der Parabel als fiktionale uneigentliche Rede: So treffend sie sein mag, um die narrativen und rhetorischen Merkmale einer Rede samt ihrer Funktion für die intendierte (Mehr-)Aussage zu beschreiben, so wenig nützlich ist sie doch, um eine Gattung zu beschreiben, da sie sich zuvörderst an narrativen textinternen Merkmalen orientiert. Aus dieser Beobachtung zieht die vorliegende Studie eine Konsequenz: Zymners Definition der Parabel wird nicht als Beschreibung einer Gattung, sondern einer ›Schreibweise‹ verstanden. Auch wenn Weiß’ Kurzprosatexte formal einem wichtigen Kriterium der Gattung Parabel – der Kürze – genügen, wird im Folgenden daher der Begriff der ›parabolischen Schreibweise‹ oder der ›parabolischen Erzählkonzeption‹ anstelle der Gattung Parabel verwendet. Zusammengefasst heißt das: Eine
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Roman, die sich von Fall zu Fall überlagern können, um funktional wie formal sehr unterschiedliche Formen handelt. In keinem Fall wird durch den Prädikator auch ein gattungssystematisches Präjudiz abgegeben. […] Es ist deshalb wohl im allgemeinen unzweckmäßig, eine eigene Gattung ›parabolischer Roman‹ konstruieren zu wollen. Notwendig ist dagegen stets die Präzisierung, in welcher Hinsicht ein Roman als ›parabolisch‹ bezeichnet wird.« Rüdiger Zymner, Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003, S. 187 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 188.
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fiktionale Erzählung weist dann eine ›parabolische Schreibweise‹ oder Erzählkonzeption auf, wenn der Text oder die Textumgebung Hinweise darauf enthalten, dass sie in ihrer Gesamtbedeutung uneigentlich zu verstehen ist. Gemäß der oben formulierten Setzung, dass sich (textexterne) Autorintentionen an ästhetischen Strukturen des Textes feststellen lassen, hat die ›parabolische Schreibweise‹ oder Erzählkonzeption eine zentrale heuristische Funktion für die Rekonstruktion der Autorintention.
3.3. Anmerkungen zu Heuristik und Methode der Analysen Um diese ›parabolische Schreibweise‹ oder Erzählkonzeption in den Weiß’schen Texten analysieren zu können, greife ich, wie erwähnt, auf die Zymner’sche Heuristik der Transfersignale zurück. Mit Zymner unterscheide ich Explizite Transfersignale der Erzählstimme und der Figuren (zum Beispiel explizit geäußerte Kommentare und Vergleiche) von Impliziten Transfersignalen, die einen Richtungswechsel des Bedeutens durch die Narration (etwa durch die Motivation des Geschehens oder durch Symbole) anzeigen. Die Heuristik des Transfersignals schließt die Beobachtung ein, dass zweideutige Sachverhalte als Rezeptionshinweise verstanden werden sollen, die angezeigte erste Bedeutung des Erzählten auf eine zweite (metaphorische) Aussage hin zu überprüfen. Für die Analyse des Diskurses, die Darstellung der Zeit, die Perspektive der Figuren mittels Fokalisierung und die Distanz der Narration zur Geschichte, wird auf das Instrumentarium der Narratologie zurückgegriffen, insbesondere auf Genettes Überlegungen zur fiktionalen Erzählung.130 Für die Analyse der Geschichte verwende ich Modelle der strukturalen Textanalyse, um mit ihnen die Verfahren der semantischen Bedeutungsbildung und -potenzierung in den Texten zu benennen und zu beschreiben. Zu einer Bedeutungspotenzierung tragen unter anderem die Verwendung konkurrierender Motivationen in der erzählten Welt, konnotative Verweisungstechniken, syntagmatische Verknüpfungen, Prätexte und Paradigmenbildungen bei.131 Die deskriptive Plausibilität und heuristische Fruchtbarkeit der Transfersignale gilt es im Hauptteil der Studie zu erproben. Zunächst jedoch sollen aus dem Korpus der Weiß’schen Kurzprosa jene sechs Texte ausgewählt werden, von denen ich im Hauptteil Interpretationsskizzen geben werde. Dieses Korpus stelle ich nun vor.
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Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 15. Vgl. insbesondere Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse, München 31993; Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 41993; Matias Martínez, Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996; Martínez/ Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 108–144.
4.
Zum Begriff und zum Korpus der Kurzprosa
Am Ende des Grundlagenkapitels soll ein erster systematischer Überblick über die Kurzprosa von Ernst Weiß gegeben werden. Ich habe schon erwähnt, dass bis heute keine Typologisierung der Kurzprosa existiert, auf die ein Forscher zurückgreifen könnte, der sich vergewissern möchte, mit welcher Art von epischer (Klein-)Gattung er es im Einzelfall zu tun hat.132 In der Tat ist das Korpus ausgesprochen heterogen: Schon ein Blick auf die Untertitel der Texte in den Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien und Sammelbänden zeigt, dass sich die Prosa nicht einheitlich einer Gattung, also einem »konventionalisierten Sinnbildungsmuster«133, zuordnen lässt. Die folgende Typologisierung soll helfen, verbindliche Zuordnungen zu schaffen. Im Anschluss daran werden sechs Texte für die Analyse im Hauptteil ausgewählt.
4.1. Definition der Kurzprosa: Das Kriterium der Kürze Ich sitze vor einem Riesenhaufen allerverschiedenster Texte. Ist es richtig, daß eine Novelle länger ist als eine Kurzgeschichte, und ist es richtig, daß eine Kurzgeschichte länger ist als eine Kürzestgeschichte? Ist es aber auch richtig, daß die Länge nicht den entscheidenden Unterschied ausmacht? Komme ich an die Ansammlung von diesen Geschichten deshalb nicht heran, weil sich ein Reisbreiberg von Gattungstheorien um sie aufgetürmt hat und mich nicht mehr zu den Geschichten durchläßt?134
Der Ausgangspunkt der folgenden Rubrizierung ist der schon verwendete Begriff der Kurzprosa. Darunter fasse ich all jene Texte von Weiß, die über die Merkmale der Kürze, der Fiktionalität135 und der ungebundenen Rede ver-
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Den einzigen Versuch einer Typologisierung unternahmen bislang die Editoren der ›Gesammelten Werke‹ im 15. Band der Ausgabe (vgl. E 359). Allerdings gingen sie bei ihrer Klassifikation nicht systematisch vor. So findet sich in der Rubrik ›Erzählungen‹ neben Novellen und Romanfragmenten zwar auch die Erzählung in Anekdoten ›Wer hat, dem wird gegeben‹. Der zweite Text dieses Genres, ›Die Messe von Roudnice‹, wird allerdings der Rubrik ›Verschiedenes‹ zugeordnet. Unter ›Verschiedenes‹ subsumieren die Editoren Feuilletons, Kurzgeschichten, Kürzestfragmente und das Romanfragment ›Ahira‹. Das Romanfragment ›Sered‹ wiederum ordnen sie den ›Erzählungen‹ zu. Zymner, Gattungstheorie, S. 187. Walter Höllerer, Novelle, Kurzgeschichte und kurze Prosa, von Berlin aus gesehen. In: Von der Novelle zur Kurzgeschichte. Beiträge zur Geschichte der deutschen Erzählliteratur, hg. von Dominique Iehl und Horst Hombourg, Frankfurt/M. 1990, S. 49–68, hier S. 49. Unter fiktionaler Rede verstehe ich mit Martínez/Scheffel eine »real-inauthentische Rede« im Rahmen der realen Kommunikation zwischen Autor und Leser und eine »imaginär-authentische Rede im Rahmen einer erfundenen Kommunikation«, wenn es sich um Sätze des Erzählers handelt. – Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 188f.
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fügen.136 Mit dieser Definition sind zwar alle fiktionalen Prosatexte erfasst und nicht-fiktionale Feuilletons ausgeschieden, doch muss das Merkmal der Kürze noch einmal näher betrachtet werden. Es zeigt sich, dass Kürze in den zu untersuchenden Texten sowohl ästhetisch-generische als auch außerästhetisch-pragmatische Gründe haben kann.137 So stehen Texte, die sich unschwer als Novellen, Kurzgeschichten oder Anekdoten bestimmen lassen, neben kurzer Prosa, die Fragmentcharakter hat. Die Texte sind Fragmente, entweder, weil sie der Autor nicht beendet hat, oder weil sie in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit einem größeren Ganzen, also einem vollendeten Text des Autors stehen.138 Dies ist bei Vorarbeiten, ausgesonderten Kapiteln oder Auszügen aus Werken der Fall. Als Folge dieser Beobachtung gliedere ich das Korpus der Kurzprosa in drei Untergattungen: in die eigentliche Kurzprosa, in ästhetische Fragmente und in Zeitungsprosa. Die Zuordnung erfolgt induktiv: Sie geht, soweit diese rekonstruierbar sind, von produktionsästhetischen Fakten aus.
4.2. Die Kurzprosa im engeren Sinn: Novellen, Anekdoten, Kurzgeschichten Die eigentliche Kurzprosa umfasst kurze epische Texte, die von Weiß als solche geplant und ausgeführt worden sind. Weiß gibt diesen Texten meist im Untertitel eine Gattungsbezeichnung, wobei sich Novellen, Erzählungen in Anekdoten, Kurzromane und Kurzgeschichten unterscheiden lassen. Insgesamt finden sich im Weiß’schen Œuvre neun Texte, die sich einer epischen Kleinform zuordnen lassen. Sie weisen eine in sich abgeschlossene Handlungsstruktur auf, einen auf wenige Ereignisse reduzierten Plot und einen meist wenig kommentierfreudigen Erzähler. Quantitativ stellen diese Texte nur einen relativ kleinen Anteil des Korpus dar. Qualitativ sind sie jedoch als das Herzstück der Weiß’schen Kurzprosa anzusehen.
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Romane gehören demnach nicht zum Korpus der Kurzprosa, ebenso wenig wie Rezensionen und Feuilletons, da hier keine fiktionalen Sprechakte vorliegen. Vgl. Moritz Baßler, Kurzprosa. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Klaus Weimar, Berlin u.a. 1997–2003, Bd. II: H-O (2000), S. 371–374, hier S. 371. – Unbrauchbar ist hingegen die Definition von Heidrun Graf-Blauhut in: Sprache: Traum und Wirklichkeit. Österreichische Kurzprosa des 20. Jahrhunderts, Wien 1984, S. 5. Den Begriff des Fragments definiert Peter Strohschneider als »Bruchstück eines ursprünglich vollständigen Textes, allgemeiner [als] Ausdruck für unabgeschlossene Texte überhaupt, also auch solche, die es nie anders denn in unvollständiger Form gab«. – Peter Strohschneider, Fragment 2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Klaus Weimar, Berlin u. a. 1997–2003, Bd. I: A-G (1997), S. 624–625, hier S. 624.
4.2.1. Die Novellen ›Franta Zlin‹, ›Die Verdorrten‹ und ›Jarmila‹ Drei seiner Kurzprosatexte hat Weiß selbst als »Novellen« bezeichnet: ›Die Verdorrten‹, ›Franta Zlin‹ und ›Jarmila‹. Als Merkmale der Novelle werden gemeinhin die einfache Handlungsstruktur und die Tendenz zur Konzentration auf das Ende der Geschichte genannt. Hinzu kommen die formale Abgeschlossenheit, bisweilen eine Rahmenhandlung und der objektive Berichtstil des Erzählers.139 Diese Merkmale treffen auch auf die Weiß’schen Texte der Gattung zu. ›Franta Zlin‹ erscheint erstmals 1919 in der Zeitschrift ›Genius‹ des Kurt Wolff Verlags und wird insgesamt viermal veröffentlicht.140 Die nachfolgende Novelle ›Die Verdorrten‹ publiziert Weiß 1920 in der Münchner Zeitschrift ›Der neue Merkur‹ von Efraim Frisch. Sie erlebt, wie ich noch zeigen werde, zahlreiche Überarbeitungen: 1921 kommt sie in erweiterter Form unter dem Titel ›Fragmente des Lebens‹ in die ›Prager Presse‹ und erscheint im selben Jahr in einer Novellenanthologie von Max Krell. Weitere, überarbeitete Versionen finden sich in den Sammelbänden ›Atua‹ (1923) und ›Dämonenzug‹ (1928).141 Die dritte Novelle ›Jarmila‹ entstand im Jahr 1937 und wurde zu Weiß’ Lebzeiten nicht mehr publiziert. Das Manuskript ging nach dem Tod des Autors verloren und wurde erst 1995 in einer Abschrift im Prager Literaturarchiv wieder gefunden.142 Von diesen bekannten Novellen abgesehen, ist den Briefen des Autors aus den Jahren 1912 bis 1916 zu entnehmen, dass Weiß in der ersten Phase seines Schreibens weitere Novellen verfasst haben musste, die entweder verloren gingen oder die zu Romanen erweitert wurden. Zu diesen, heute nur namentlich bekannten
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Vgl. Hugo Aust, Die Novelle, Stuttgart 1990, S. 1–20. Vgl. Ernst Weiß, Franta Zlin. In: Genius 1 (1919), S. 298–308 [fortan: GEN]; ders., Franta Zlin. Stern der Dämonen. In: Die Gefährten 3 (1920), S. 1–77 [fortan: GEF]; ders., Franta Zlin. In: Weiß, Atua, S. 7–50; ders., Franta Zlin. In: Weiß, Dämonenzug, S. 153–190. – Der Text wurde in dieser Fassung letzter Hand auch aufgenommen in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 84–103. Vgl. Ernst Weiß, Die Verdorrten. Novelle. In: Der neue Merkur 4 (1920/21), S. 119– 139; ders., Fragmente des Lebens. In: Prager Presse, 8. bis 19. Juli 1921, Abendausgabe; ders., Die Verdorrten. In: Die Entfaltung. Novellen an die Zeit, hg. von Max Krell, Berlin 1921 [fortan: K], S. 200–223; ders., Die Verdorrten. In: Weiß, Atua, S. 51–100; ders., Die Verdorrten. In: Weiß, Dämonenzug, S. 111–152. – Der Text wurde in dieser Fassung letzter Hand aufgenommen in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 61–83. Vgl. Fliegler, Nachwort, S. 86.
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und vom Autor gelegentlich als »Novelle« bezeichneten Texten gehören ›Agnes Leilacher‹ (1912)143, ›Der Überfall‹ (1914)144 und ›Mensch gegen Mensch‹ (1914)145. 4.2.2. Die Erzählungen in Anekdoten Zweimal wählt Weiß den Untertitel ›Erzählung in Anekdoten‹, um kurze Prosatexte zu charakterisieren. Damit nimmt er auf eine Gattung Bezug, deren Begriffsund Überlieferungsgeschichte in der antiken Geschichtsschreibung beginnt und die ihren Höhepunkt im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts erfährt.146 Nach Grothe bilden sich früh zwei Typen heraus, die historische und die »Charakteranekdote«147. Ähnlich scheidet Hilzinger die (ältere) »anecdote historique« von einer (jüngeren Form der) »anecdote littéraire«148. In ihrer historiografischen Schreibart ist die Anekdote ein »fortlaufend erzählter Text, durch Kapitel gegliedert, die keine historische Fortsetzung darstellen, sondern besonders interessante einzelne Ereignisse beschreiben«149. Die literarische Anekdote hingegen ist kürzer und pointierter: Sie präsentiert ›Bonmots‹ und stellt eine individuelle Biografie ins Zentrum – sei es die von Königen und Fürsten oder jene von Bürgerlichen, Gelehrten und Künstlern.150
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Nach Weiß’ Ausführungen in einem Brief an Arthur Schnitzler ähnelte seine Heldin ›Agnes Leilacher‹ der Protagonistin Christine in Schnitzlers Theaterstück ›Liebelei‹. Bis etwa 1916 versuchte Weiß, diese Novelle zu veröffentlichen, dann distanzierte er sich aus künstlerischen Gründen von seinem Text. – Vgl. Ernst Weiß an Arthur Schnitzler, Brief vom 9. März 1912, aufbewahrt in der Arthur-Schnitzler-Collection, Cambridge University Library, Cambridge (Großbritannien). Diese Novelle, die Franz Kafka 1914 in seinem Tagebuch erwähnte, schickte Weiß 1917 offenbar der ›neuen Rundschau‹ mit der Bitte um Abdruck. Im Register der Zeitschrift für die Jahre 1916 bis 1920 ist jedoch keine Publikation verzeichnet, ebenso wenig in der ›Frankfurter Zeitung‹, für die Albert Ehrenstein die Novelle 1917 von Weiß angefordert hatte. – Vgl. Franz Kafka, Die Tagebücher 1910–1923. Hg. von Max Brod, Frankfurt/M. 1990, S. 299; Albert Ehrenstein an Ernst Weiß, Postkarte vom 9. Februar 1917, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Marbach a.N. (Deutschland); Ernst Weiß an Rahel Sanzara, Brief vom 26. Februar 1917. Vgl. Ernst Weiß, Mensch gegen Mensch. Roman, München 1919. – ›Mensch gegen Mensch‹ hatte offenbar bereits 1914 als Novelle vorgelegen, denn wie dem Briefwechsel zwischen Weiß und Rahel Sanzara zu entnehmen ist, hatte Weiß’ Lebensgefährtin den Text zu diesem Zeitpunkt bereits abgetippt. Weiß arbeitete ihn wenig später jedoch zum ersten Teil des Romans ›Mensch gegen Mensch‹ um. Den Roman stellte Weiß 1917/18 fertig und veröffentlichte ihn 1919 im Verlag Georg Müller. – Vgl. Ernst Weiß an Rahel Sanzara, Brief vom 15. Januar 1917. Vgl. Heinz Grothe, Anekdote, Stuttgart 21984, S. 61ff. Ebd., S. 62. Vgl. Sonja Hilzinger, Anekdote. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 7–26, hier S. 11f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13: »An die Stelle geschichtlicher Zusammenhänge trat der einzelne Mensch, losgelöst von seinem Lebensumfeld.«
Da sich Weiß theoretisch so gut wie nicht zur Anekdote geäußert hat, fällt eine Einordnung seiner ›Erzählungen in Anekdoten‹ in seine Poetik nicht ganz leicht.151 Allerdings lassen der Aufbau beider Erzählungen in Kurzkapitel, die Erzählung merkwürdiger Begebenheiten und die anekdotische Pointe kaum Zweifel daran, dass der Autor die Gattung reflektiert und seine eigenen Erzählungen in ihre Tradition gestellt hat. Nach der oben getroffenen Typologie ließe sich die Erzählung ›Wer hat, dem wird gegeben‹152 als »anecdote littéraire«, ›Die Messe von Roudnice‹153 als »anecdote historique« bestimmen. Erstere fokussiert einen frommen Mann, der seine Überzeugungen in Sentenzen zum Ausdruck bringt, zweitere die Ereignisse im böhmischen Hinterland vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. 4.2.3. Die Kurzromane ›Stern der Dämonen‹ und ›Die Feuerprobe‹ Unter ›Kurzroman‹ verstehe ich mit Gero von Wilpert eine »nicht genauer abgegrenzte Zwischenform von Roman und Novelle«, die entweder einen »romanhafte[n] Stoff in knapper Ausführung oder novellistische[n] Stoff in romanhafter Breite«154 darbietet. Innerhalb der Weiß’schen Kurzprosa lassen sich die beiden Werke ›Stern der Dämonen‹ (1920) und ›Die Feuerprobe‹ (1923/29) zu dieser epischen Kleinform zählen. Sie überschreiten in ihren Erstausgaben kaum die Seitenzahl von 100, werden im Untertitel jedoch als ›Romane‹ bezeichnet. Der Kurzroman ›Stern der Dämonen‹ wird erstmals 1920 mit der Novelle ›Franta Zlin‹ in der Wiener Zeitschrift ›Die Gefährten‹ veröffentlicht und erscheint ein Jahr später als Buch. Als ›Erzählung‹ nimmt ihn der Autor 1928 in seinen Sammelband ›Dämonenzug‹ auf.155 Der Kurzroman ›Die Feuerprobe‹ kommt 1923 in einer bibliophilen Ausgabe auf den Buchmarkt und wird 1929 in einer überarbeiteten Fassung mit fast verdoppeltem Umfang neu veröffentlicht.156 Beide Texte
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Vgl. Kapitel II.5.2, S. 81ff. Vgl. Ernst Weiß, Die Messe von Roudnice. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937), S. 12–22. – Wiederabgedruckt in: Weiß, Der zweite Augenzeuge, S. 100ff., sowie in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 341–353. Vgl. Ernst Weiß, Wer hat, dem wird gegeben. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937), S. 68–78. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 251–264. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 61979, S. 439f. Ernst Weiß, Franta Zlin. Stern der Dämonen. In: Die Gefährten, S. 18–70; ders., Stern der Dämonen. Roman, München 1921; ders., Stern der Dämonen. In: Weiß, Dämonenzug, S. 9–110. – Aufgenommen in dieser Fassung letzter Hand in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 7–60. Ernst Weiß, Die Feuerprobe. Roman, Berlin 1923. Mit 5 Radierungen von Ludwig Meidner. Gedruckt in einer einmaligen Ausgabe von 675 Exemplaren. Ausgabe A: Nr. 1-XXV (Pergament); Ausgabe B: Nr. XXVI-C (Halbpergament); Ausgabe C: Nr. 1–575 (Pappband). (Druck der Offizin Fabri. 1.)
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weisen in ihrer ersten Fassung eine Komprimiertheit auf, die den Autor offenbar zu einer Überarbeitung und stärkeren Episierung der Handlung reizte. So erarbeitet Weiß für die dritte Veröffentlichung des Kurzromans ›Stern der Dämonen‹ 1928 ein neues Einleitungskapitel, in dem er Herkunft und Kindheit des Protagonisten andeutet. Trotz dieser Erweiterung des Textes, den er noch 1920 als ›Roman‹ klassifiziert hat, integriert er ihn in seinen Erzählband ›Dämonenzug‹. Damit stellt er ihn seinen Novellen und Romanfragmenten zur Seite. Warum Weiß so vorging, die Gattungszuweisung ›Roman‹ eliminierte und durch den Untertitel ›Erzählung‹ ersetzte, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Es ist allerdings möglich, dass er mit seinem Band ›Dämonenzug‹ eine Ausgabe seiner frühen Prosa vorlegen wollte, in der ›Stern der Dämonen‹ als wichtiges Werk dieser Phase nicht fehlen durfte. Den Kurzroman ›Die Feuerprobe‹ hingegen überarbeitet Weiß so sehr, dass der Umfang der Erstausgabe um mehr als zwei Drittel anwächst, so dass nicht mehr von einem ›Kurzroman‹ gesprochen werden kann. Fünf Jahre nach Erscheinen der Erstfassung unternimmt er diese kritische Revision des Romans. Als die Zweitfassung der ›Feuerprobe‹ 1929 auf dem Buchmarkt erscheint157, wird die erste Fassung von 1923 von den Kritikern nurmehr als »Entwurf«158, »Novelle«159 oder »kurze[…] Erzählung«160 angesehen. Auch der Autor selbst deklariert seine erste Fassung als »frühere Erzählung gleichen Titels«161, deren Überarbeitung er rückblickend mit autobiografischen Erlebnissen begründet. Die erste Fassung war das Werk einer schrankenlosen Phantasie gewesen, die zweite hatte an meinem Innersten teilgehabt. Mein verborgenstes Dasein schrieb ich dort nieder. Ich habe vor mir selbst eine Seite meiner Existenz bis in ihre Tiefen und Abgründe offenbart. Natürlich ging ich dabei von einem sehr persönlichen Standpunkt aus, denn ich steckte mit Leib und Seele in einer erschütternden und zerstörerischen Leidenschaft, und es war ohne Zweifel das einzige Heilmittel, diesen in mir verborgenen Grund aus Finsternis und Verwirrung zu Papier zu bringen.162
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Ernst Weiß, Die Feuerprobe. Roman, Berlin 1929. Hans Sahl, Die Feuerprobe. Der neue Roman von Ernst Weiß. In: Berliner BörsenCourier, 7. Juli 1929, o.S. Ludwig Winder, Neue Bücher: Die Feuerprobe. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 8. Dezember 1929, o.S. Franz Blei, Ernst Weisz: Die Feuerprobe. In: Der Querschnitt 9 (1929), S. 528; außerdem J[ ] Kn[ ], Büchertisch. Ernst Weiß: ›Die Feuerprobe‹. In: Berliner Börsen-Courier, 22. November 1929, o.S.: »Aus einer kleineren Erzählung gleichen Titels ist dieser phantastische Roman entstanden.« Vgl. Peter Engel, Nachwort. In: Weiß, GW, Bd. 6: Die Feuerprobe, Frankfurt/M. 1982, S. 155–158, hier S. 156 [fortan: FEU]. Ernst Weiß, Notizen über mich selbst. In: WBl, 2. F., 4 (1985), S. 3–8, hier S. 6f.
In der zweiten Fassung präzisiert Weiß die knapp gehaltene Handlung, ergänzt sie um neue Erzählstränge und bettet das Geschehen in eine realistisch erzählte Welt ein. Ebenso setzt er in den Text der Zweitfassung sein eigenes Geburtsdatum, den 28. August163, sowie Bezüge auf Berliner Lokalitäten ein.164 An den beiden Kurzromanen zeigen sich somit unterschiedliche Konsequenzen, die der Autor aus der Zwischenform des ›Kurzromans‹ zog: Während Weiß den Roman ›Stern der Dämonen‹ geringfügig erweiterte, dann aber als eine ›Erzählung‹ deklarierte, wurde aus der komprimierten Erzählung ›Die Feuerprobe‹ 1929 ein umfänglicher Roman, den der Autor inhaltlich, erzähltechnisch und stilistisch neu gestaltete. 4.2.4. Die Kurzgeschichten ›Der Arzt‹, ›Die Herznaht‹ und ›Die Hilfsschwester‹ Innerhalb des Weiß’schen Œuvres lassen sich die Texte ›Die Herznaht‹, ›Der Arzt‹ und ›Die Hilfsschwester‹ als Kurzgeschichten klassifizieren. Der Begriff der Kurzgeschichte steht Weiß als Gattung zwar noch nicht gesondert zur Verfügung, da sich die Kurzgeschichte als eigenständiges Genre in Deutschland erst konstituiert. Dennoch lassen sich einige publizistische Kriterien festhalten, mit denen der Autor das Genre von der (europäischen) Kunstnovelle abgrenzt.165 Die ersten beiden Titel, die mit dem Begriff der Kurzgeschichte gefasst werden können, ›Die Herznaht‹ und ›Der Arzt‹, sind frühe Texte des Autors. Sie erwachsen aus Kapiteln von Weiß’ Roman ›Mensch gegen Mensch‹ (1919). Allerdings trägt eine mehrfache Überarbeitung der Kapitel vor ihrer Publikation zur Eigenständigkeit der Geschichten gegenüber dem Roman bei. Die Kurzgeschichte ›Der Arzt‹ entspricht zunächst dem 16. Kapitel des zweiten Teiles des Romans ›Mensch gegen Mensch‹; außerdem erscheint sie im selben Jahr wie der Roman in der expressionistischen Prosa-Anthologie ›Die Erhebung‹.166 Die Kurzgeschichte ›Die Herznaht‹ entwickelt Weiß aus dem 12. Kapitel desselben Romans. Sie publiziert er 1921 erstmals unter dem Titel ›Operation‹ in der ›Prager Presse‹. Wenige Jahre später, 1924, erscheint der Text unter dem Titel ›Die glückliche Operation‹ in der Zeitschrift ›Das Tage-Buch‹ sowie in der ›New Yorker Volkszeitung‹. 1929 trägt die Geschichte, die Weiß erneut überarbeitet hat, die Überschrift ›Der General rettet Hildegard Annemarie‹ und wird im ›Prager Tagblatt‹ sowie 1930 im ›Hannoverschen Kurier‹ veröffentlicht. Drei
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Vgl. Pazi, Die Entwicklung und Veränderung des Vater-Sohn-Motivs, S. 284–297, hier S. 292. Engel, Nachwort. In: Weiß, GW, Bd. 6: FEU, S. 155–158, hier S. 157. Vgl. auch Kapitel II.5.3, S. 86ff. Vgl. Ernst Weiß, Der Arzt. In: Die Erhebung, hg. von Alfred Wolfenstein, Berlin [1919] (Fischer-Jahrbuch), Buch 1: S. 251–259. – Aufgenommen in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 293f.
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Jahre später, 1933, schickt der Autor den Text als ›Die Herznaht‹ an Hermann Kesten, um ihn in dessen Novellenanthologie im Verlag Allert de Lange unterzubringen. 1937 erscheint die Kurzgeschichte unter selbigem Titel in der ›Pariser Tageszeitung‹ sowie im ›Argentinischen Wochenblatt‹.167 Mit diesen Abdrucken hat die Geschichte ihre endgültige Form gefunden. Dennoch beginnt Weiß bereits 1936, ein neues Einleitungskapitel für die Kurzgeschichte zu entwerfen. Offenbar erschien ihm der Text zu kurz, da er ihn in einem Buch unterbringen wollte – es galt, ihn auf die nötige Länge zu bringen. Diese geplante Veröffentlichung in einem englischen Exilverlag kam jedoch nicht zu Stande, weshalb Weiß die Texte nicht zusammenführte.168 Die dritte Kurzgeschichte des Autors, ›Die Hilfsschwester‹, stammt aus dem 11. Kapitel des überarbeiteten Romans ›Die Feuerprobe‹ von 1929 und erscheint anlässlich eines Kurzgeschichtenwettbewerbs in der ›Berliner Illustrirten Zeitung‹ des Ullstein Verlages, bei dem Weiß zu diesem Zeitpunkt unter Vertrag stand.169 Einen Sonderfall stellt in gewisser Hinsicht das Romankapitel ›Daniel und der Kaiser‹ dar, das 1924 in der Zeitschrift ›Der neue Merkur‹ veröffentlicht wird. Der Text wurde von Weiß 1933 als »Novelle« für eine Anthologie ausgegeben, obwohl er deutlich als ein Kapitel des Romanfragments ›Daniel‹ (1924) zu identifizieren ist.170 Weiß handelte hier offenbar nicht nach generischen, sondern nach publizistischen Kriterien. Das Beispiel zeigt, dass Weiß Gattungsbegriffe bisweilen
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Vgl. Ernst Weiß, Mensch gegen Mensch. Roman, 1919, S. 129–137; ders., Operation. In: Prager Presse, 24. Juli 1921, Morgenausgabe, S. 12; ders., Die glückliche Operation. In: Das Tage-Buch 5 (1924), S. 767–770; ders., Die glückliche Operation. In: Sonntagsblatt der New Yorker Volkszeitung, 29. Juni 1924 [Section I, S. 5]; ders., Der General rettet Hildegard Annemarie. In: Prager Tagblatt, 25. Dezember 1929 [Weihnachtsbeilage, S. III-IV]; ders., Der General rettet Hildegard Annemarie. In: Hannoverscher Kurier, 31. Januar 1930, Morgenausgabe [Beilage S. [1–2]]; ders., Die Herznaht. In: Die Lesestunde. Zeitschrift der deutschen Buchgemeinschaft 7 (1930), S. 358f.; ders., Die Herznaht. In: Novellen deutscher Dichter der Gegenwart, hg. von Hermann Kesten, Amsterdam 1933, S. 381–397; ders., Die Herznaht. In: Pariser Tageszeitung, 10., 12. und 13. Januar 1937, S. 3, 4 und 6; ders., Die Herznaht. Novelle. In: Argentinisches Wochenblatt (Buenos Aires), 13. März 1937 [Beilage: Hüben und Drüben, S. 3–5]. – Aufgenommen in dieser letzten Fassung von 1937 in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 329–340. Vgl. Ernst Weiß, Einleitungskapitel zur Erzählung ›Die Herznaht‹ (1935). In: WBl, 1. F., 3 (1974), S. 11–16, hier S. 14; Ernst Weiß an Hans F.J. Oppenheimer. Drei unbekannte Schreiben von Ernst Weiß aus dem Pariser Exil. Ediert und kommentiert von Peter Engel. In: Die Horen 19 (1974), S. 92 –95, hier S. 92. Vgl. Ernst Weiß, Die Hilfsschwester. Novelle von Ernst Weiß, die einen 500-MarkPreis in unserem Kurzgeschichten-Preisausschreiben erhielt. In: Berliner Illustrirte Zeitung, 28. April 1929, S. 721, 723, 725. – Wiederabgedruckt in: Weiß, Der zweite Augenzeuge, S. 91ff., sowie in: WBl, 1. F., 4 (1975), S. 3–7. Vgl. Ernst Weiß, Daniel und der Kaiser. In: Der neue Merkur 8 (1924/25), S. 271– 282; ders., Daniel und der Kaiser. In: Die deutsche Novelle der Gegenwart, hg. von Hanns Martin Elster, Berlin 1925, S. 193–206.
oberflächlich verwendete und auch auf Texte ausdehnte, die den Genres nicht eindeutig angehörten. Durch das Verfahren, aus Kapiteln neue Geschichten zu schaffen, werden seine Genrezuweisungen dynamisch.
4.3. Ästhetische Fragmente: Konzeptionelle Aporien Neben der Kurzepik im engeren Sinn existieren im Weiß’schen Œuvre auch Texte, die ursprünglich als längere Prosa geplant waren, die jedoch nicht vollendet wurden. Die Ursachen für diese Fragmente sind, neben den Produktionsund Rezeptionsbedingungen des Autors, konzeptionelle Aporien.171 Die relative Kürze dieser Texte resultiert aus ihrer formalen und ästhetischen Unabgeschlossenheit: Weiß brach die Arbeit an einer bestimmten Stelle ab und setzte sie nicht mehr fort. Später vollzog er die Eingliederung der Texte in sein novellistisches Œuvre, wo sie nicht mehr als Romanprojekte, sondern als »Erzählungen« ausgewiesen wurden. Einige dieser Texte von kurzem oder mittlerem Umfang nahm Weiß 1928 in seinen Erzählband ›Dämonenzug‹ auf. Sie werden in dieser Studie als ästhetische Fragmente klassifiziert. Insgesamt sind sechs solcher Romanfragmente aus den Jahren 1923 bis 1926 und vier Kürzestfragmente aus den Jahren 1914 bis 1922 erhalten, die auf konzeptionelle Aporien zurückgehen. Den Romanfragmenten ist eine offene Form und ein abruptes Ende der Handlung eigen – ein Umstand, den Weiß auch dann nicht behob, wenn er die Texte für eine Veröffentlichung überarbeitete und mit neuen Anfangskapiteln versah. Die Kürzestfragmente führen häufig Gattungsbezeichnungen im Titel, lassen sich formal aber keinem Genre zuordnen. Möglicherweise plante Weiß auch mit ihnen größere Werke, führte sie dann aber nicht fort und nahm sie auch in seinen Sammelband von 1928 nicht auf. Sie wurden meist nur in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. 4.3.1. Die sechs Romanfragmente Das erste Fragment veröffentlicht Weiß 1920 in der expressionistischen Zeitschrift ›Die weißen Blätter‹ unter dem Titel ›Aus Ahira‹. Auf den Status des (Roman-) Fragments weist der Zusatz »Aus«172 hin, da die Präposition im Titel einen Ausschnitt und also die Existenz eines vollständigen Textes suggeriert. Vier Jahre spä-
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Vgl. Strohschneider, Fragment 2, S. 624: »Zum Abbruch eines Textes kann es aber auch kommen, weil sich etwa dessen Konzeption während des Produktionsprozesses aporetisch, überkomplex oder uneinlösbar erweist. Erst im Nachweis solcher konzeptionellen Gründe erschiene Fragmentarizität nicht als Zufallsprodukt, fügte sie sich hermeneutischen Rationalitätsstandards und einem die romantische Ästhetik beerbenden, nicht bloß technischen Fragmentbegriff.« Ernst Weiß, Aus Ahira. In: Die weißen Blätter 7 (1920), S. 431–434.
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ter veröffentlicht Weiß das Fragment in der Zeitschrift ›Vers und Prosa‹ erneut, diesmal mit dem Zusatz: »Eine Studie«173. Der Text wird jedoch nirgends in einen größeren epischen Zusammenhang gestellt und auch nicht in den Band ›Dämonenzug‹ aufgenommen, weshalb zu vermuten ist, dass Weiß ihn aufgab. Ein weiteres Romanfragment stellt ›Hodin‹ dar, das Weiß erstmals 1923 im Berliner Tillgner Verlag veröffentlicht. Der Text erscheint in einer limitierten Ausgabe und hat keinen Untertitel. Allerdings wird im Anhang der Hinweis gegeben, dass es sich um den »erste[n] Teil eines unveröffentlichten Romans«174 handelt. In der ein Jahr später publizierten, leicht überarbeiteten zweiten Buchveröffentlichung trägt ›Hodin‹ den Untertitel »Erzählung«, doch von einer Fortsetzung ist nicht mehr die Rede. 1928 geht der Text als »Erzählung« in den Band ›Dämonenzug‹ ein.175 Im selben Jahr wie ›Hodin‹, 1923, erscheint die Erzählung ›Atua‹ im gleichnamigen Erzählband bei Kurt Wolff in München. ›Atua‹ enthält zwar keinen Hinweis auf eine geplante Fortsetzung, doch hat der Text einen offenen Schluss: Das Ende der Geschichte ist so abrupt, dass es den Leser vor das Rätsel stellt, was die Erzählung aussagen will. Diese Frage wird vom Autor nicht beantwortet: Weiß vollendet ›Atua‹ nicht und publiziert den Text kein weiteres Mal. Damit gehört die Erzählung zu jener mythischen Prosa, von der sich Weiß später offenbar bewusst distanzierte, und die er auch nicht in seinen Band ›Dämonenzug‹ aufnahm.176 Auch das Fragment ›Daniel‹ war zunächst offenbar als »Roman« geplant, wie aus den Untertiteln zahlreicher Vorabdrucke in Zeitungen und Zeitschriften ersichtlich wird.177 In der bibliophilen Ausgabe des Berliner Verlags Die Schmiede hält sich Weiß 1924 zwar mit einer Gattungsbezeichnung zurück (er wählt den unspezifischen Untertitel »Erzählung«),178 doch kann aus dem kurze Zeit später veröffentlichten Fortsetzungskapitel ›Daniel und der Kaiser‹ geschlossen werden, dass der Autor schon an einer Fortsetzung des Romans arbeitete.
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Vgl. Ernst Weiß, Ahira. Eine Studie. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 265–269; ders., Ahira. In: Die Welt am Abend, 3. September 1924 [Beilage, S. 1–2]. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 312–316. Ernst Weiß, Hodin. Mit Steinzeichnungen von Nikolai Pusirewski, Berlin 1923, S. 58. Ernst Weiß, Hodin. Erzählung, Stuttgart u.a. 1924; ders., Hodin. In: Weiß, Dämonenzug, S. 235–278. – Aufgenommen in dieser Fassung letzter Hand in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 128–154. Vgl. Ernst Weiß, Atua. In: Berliner Börsen-Courier, 16. April 1922, S. 9; ders., Atua. In: Weiß, Atua, S. 101–183. – Aufgenommen in dieser Fassung in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 155–192. Vgl. dazu die Angaben in der Bibliografie auf S. 276ff. Ernst Weiß, Daniel. Erzählung, Berlin 1924. – Aufgenommen in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 193–250.
›Daniel und der Kaiser‹ erscheint 1924 in der Zeitschrift ›Der neue Merkur‹, bleibt als Kapitel aber isoliert, da Weiß den »Roman« nicht fortsetzt.179 Ebenso wenig führt er das neue Kapitel mit dem Torso von ›Daniel‹ zusammen, denn wie ›Atua‹ wird auch ›Daniel‹ nicht in den Erzählband ›Dämonenzug‹ aufgenommen. Ein fünftes Romanfragment heißt ›Marengo oder das Leben ohne Illusionen‹; es wird vom Autor 1926 in der Zeitschrift ›Das Tage-Buch‹ mit dem Zusatz »Aus einem Roman« veröffentlicht. Im selben Jahr lässt Weiß den Text in der Zeitschrift ›Die neue Rundschau‹ und in der ›New Yorker Volkszeitung‹ als »Erzählung« abdrucken. Als »Liebesgeschichte« erscheint er 1927 in der Anthologie ›Drei Bücher der Liebe. Die schönsten Liebesgeschichten der Lebenden‹ im Berliner Ullstein Verlag. Nach geringfügiger Überarbeitung nimmt ihn der Autor 1928 auch in seinen Band ›Dämonenzug‹ auf.180 Das letzte bekannte Romanfragment schließlich stammt aus Weiß’ Pariser Exilzeit: Der Text ›Sered‹, 1939 in der ›Pariser Tageszeitung‹ abgedruckt, stellt ein »Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman« dar.181 Mit den Kapiteln ›Sered findet endlich einen guten Freund‹ und ›Der Herzensbruder‹, die gleichfalls in der ›Pariser Tageszeitung‹ abgedruckt und als »Erzählung« deklariert sind, bildet es eine Einheit.182 Alle drei Kapitel sind vermutlich Teil eines größeren Romanprojekts, das Weiß nicht mehr vollenden konnte. Ob ein vollständiges Manuskript dieses Romans existierte, ob es allein der Autor besaß oder ob es bereits an Verlage verschickt worden war, ist unbekannt, da Weiß’ persönlicher Besitz nach seinem Suizid 1940 verschwand und kein Manuskript mehr existiert.
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Vgl. Ernst Weiß, Daniel und der Kaiser. In: Der neue Merkur 8 (1924/25), S. 271– 282. Ernst Weiß, Marengo oder das Leben ohne Illusionen. Aus einem neuen Roman. In: Das Tage-Buch 7 (1926), S. 562–565; ders., Marengo oder das Leben ohne Illusionen. In: Die neue Rundschau 37 (1926), S. 233–235; ders., Marengo oder das Leben ohne Illusionen. Erzählung von Ernst Weiß. In: New Yorker Volkszeitung, 30. März bis 5. April 1926; ders., Liebe ohne Illusion. In: Drei Bücher der Liebe. Die schönsten Liebesgeschichten der Lebenden, Berlin 1927, Bd. 3, S. 40–77; ders., Marengo. In: Weiß, Dämonenzug, S. 191–234. – Aufgenommen in dieser Fassung letzter Hand in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 104–127. Ernst Weiß, Sered. Ein Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman. In: Pariser Tageszeitung, 26./27. Februar 1939, S. 3. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 265–287. Ernst Weiß, Der Herzensbruder. Erzählung von Ernst Weiß. In: Pariser Tageszeitung, 14. und 15. August 1938; ders., Sered findet endlich einen guten Freund. Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman. In: Pariser Tageszeitung, 7./8. Mai 1939, S. 3. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 265–287.
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4.3.2. Die Kürzestfragmente Die Texte dieser Gruppe lassen aufgrund ihrer Kürze nicht mehr erkennen, in welcher Gattung sie geplant waren.183 Sie sind wie die unvollendeten Romane Fragmente. Interessant ist jedoch, dass sie – ebenso wie einige Vorarbeiten – meist eine Gattungsbezeichnung im Titel tragen: Offensichtlich waren einige Texte als »Legenden« geplant, das heißt, als Texte mit vordergründig erbaulichem und lehrreichem Inhalt. Zu diesen Kürzestfragmenten zählen der Text ›Familiengeschichte‹184, den Weiß 1924 in der Zeitschrift ›Das Tage-Buch‹ veröffentlichte, sowie die Texte ›Legende einer Mutter‹185 und ›Südseelegende‹186, die 1920 im ›Prager Tagblatt‹ und in der ›Deutschen Zeitung Bohemia‹ erschienen. Diese Kürzestfragmente wurden zu Weiß’ Lebzeiten meist nur einmal in Tageszeitungen oder Zeitschriften abgedruckt.
4.4. Publizistische Fragmente: Die Zeitungsprosa In den literarischen Zeitschriften und den Feuilletons der Tageszeitungen finden sich außerdem zahlreiche kürzere Texte von Weiß, die eine enge inhaltliche Beziehung zu seinem restlichen Œuvre aufweisen. Ich spreche von der so genannten ›Zeitungsprosa‹ und subsumiere unter diesem Begriff jene Texte, die sich als Ausschnitte, Kapitel oder als Vorarbeiten größerer Werke charakterisieren lassen. Sie wurden meist nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Diese Texte sind kurz, weil sie Ausschnitte darstellen oder weil es das publizierende Medium verlangte. Ihre Kürze hat keine (produktions-)ästhetischen, sondern publizistische Gründe: Weiß veröffentlichte die Kapitel und Kapitelfragmente, um für sein Werk zu werben. Zugleich bedeutete ihr Abdruck ein Zubrot für den Autor. Aufschlussreich ist diese Zeitungsprosa für Literarhistoriker, die Produktionsbedingungen, Vermarktungsstrategien und Mechanismen des Literaturbetriebs untersuchen. Aus philologischer Perspektive ermöglicht sie zum Teil die Rekonstruktion von Textgenesen oder Produktionsprozessen. Für eine Typologie der Kurzprosa liefert sie jedoch keine eigenständigen Kriterien.
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Vgl. Baßler, Kurzprosa, S. 371. – Die Kürzestfragmente entsprechen einer Unterkategorie der Kurzprosa, die Baßler so definiert: »(2) im engeren, im folgenden allein explizierten Sinne: Restkategorie, die alle jenen eigenständigen literarischen Kurzprosatexte erfasst, die sich der Zuordnung zu definierten Genres entziehen.« Ernst Weiß, Familiengeschichte. Geschrieben 1914. In: Das Tage-Buch 5 (1924), S. 20–22. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 309f. Vgl. Ernst Weiß, Legende einer Mutter. In: Prager Tagblatt, 27. Juni 1920, S. 6; ders., Legende einer Mutter. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 5. September 1920 [Sonntags-Beilage, S. 1]. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 299f. Ernst Weiß, Südseelegende I-III. In: Berliner Börsen-Courier, 31. Mai 1925, S. 5. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S.317–321.
4.4.1. Vorarbeiten zu Romanen und Erzählungen Unter ›Vorarbeiten‹ fasse ich Skizzen für ein späteres Werk, die Weiß entweder vor oder zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Werks in Zeitungen publizierte. Im Weiß’schen Œuvre gibt es mehrere solcher kurzen epischen Texte. Einer davon ist Weiß’ erste publizierte epische Arbeit überhaupt: Die Zeitungsprosa ›Kleine Flammen‹ weist auf den Roman ›Der Kampf‹ hin, der später den Titel ›Franziska‹ erhält, und wird 1912 in der expressionistischen Zeitschrift ›Saturn‹ veröffentlicht.187 Eine weitere Vorarbeit stellt das Fragment ›Cyrill Albaran‹ dar, das Weiß 1921 in der ›Prager Presse‹ publiziert.188 Später überarbeitet Weiß diese Skizze und fügt sie dem erwähnten gleichnamigen Romanfragment ›Hodin‹ als Binnenerzählung ein. Gleich zweimal erscheint ein Text, der sich als Vorarbeit des Romans ›Boetius von Orlamünde‹ identifizieren lässt. Diesen Roman benannte Weiß später in ›Der Aristokrat‹ um. 1922 druckt die ›Prager Presse‹ den Text ›Boetius von Orlamünde. Oder: Der Traumtrödler‹ ab, der sich mit dem Identitätskonflikt und der Familiengeschichte des Protagonisten beschäftigt. 1928 – im selben Jahr, in dem auch der Roman erscheint – publiziert der ›Berliner Börsen-Courier‹ das Fragment in leicht veränderter Textgestalt, diesmal unter dem Titel ›Die Novelle von Boetius‹189. Beide Vorarbeiten weisen mit dem Roman und seinem Protagonisten nur eine entfernte Ähnlichkeit auf. Als Vorarbeit zu dem Roman ›Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen‹ (1933) lässt sich ein Text bestimmen, den Weiß 1931 unter dem Titel ›Tat der Gedanken und der Hand‹ im ›Berliner Börsen-Courier‹ veröffentlicht.190 Ein Vorspann macht den Zusammenhang zwischen der Vorarbeit und dem Roman deutlich: Dessen Angaben zufolge entstand die publizierte Vorarbeit schon im Jahr 1923, während der Roman erst 1933 vollendet und veröffentlicht wurde. Die Vorarbeit hat im Großen und Ganzen jedoch nur wenig Ähnlichkeit mit dem späteren Roman.
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Ernst Weiß, Kleine Flammen. Erstes Kapitel aus einem Roman. In: Saturn 2 (1912), S. 185–190. Ernst Weiß, Cyrill Albaran. In: Prager Presse, 12. März 1922, S. 5f. – Wiederabgedruckt in: Weiß, Der zweite Augenzeuge, S. 83ff. Vgl. Ernst Weiß, Boetius von Orlamünde. Oder: Der Traumtrödler. Ein Fragment. In: Prager Presse, 18. Mai 1922, S. 5f.; ders., Die Novelle von Boetius. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1928, S. 8. – Wiederabgedruckt in: Weiß, Der zweite Augenzeuge, S. 87ff. Ernst Weiß, Tat der Gedanken und der Hand. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1931, Neuausgabe [3. Beilage, S. 13f.].
51
4.4.2. Ausgesonderte Romankapitel Zu dieser Gruppe zähle ich kurze Prosatexte, die ein Kapitel oder eine Episode aus einem Roman darstellen, die bei Überarbeitungsgängen jedoch gestrichen und gesondert veröffentlicht wurden. Überarbeitungen dieser Art weisen vor allem die Werke der frühen Schaffensphase zwischen 1914 und 1920 auf. So entstammen dem Roman ›Mensch gegen Mensch‹ (1919) gleich mehrere Kapitel: Das Kapitel ›Eine klinische Vorlesung‹191 eliminiert Weiß noch vor dem Druck des Romans, um es 1918 in der Wiener expressionistischen Zeitschrift ›Der Friede‹ zu publizieren. Darüber hinaus müssen die beiden Kapitel ›Fragment der Kindheit‹192 und ›Fragment der Jugend‹193 in einem Zusammenhang mit dem Roman gesehen werden: Sie entstammen vermutlich der ersten Fassung des Romans, in der sie als Einleitungskapitel dienten. Die beiden Fragmente stellen einen Sonderfall dar, da sie der Autor für seine Novelle ›Die Verdorrten‹/›Fragmente des Lebens‹ weiter verwendete und damit in einen neuen epischen Kontext stellte.194 Um ein ausgesondertes Kapitel handelt es sich auch bei dem Text ›Zwei Reden über einen Mord‹, der aus Weiß’ Roman ›Tiere in Ketten‹ (1918) stammt, und den Weiß erstmals in der Brünner Zeitschrift ›Der Mensch‹ veröffentlicht.195 Als ›Rede über einen Mord‹ erscheint das Fragment 1921, gekürzt um den Monolog des Staatsanwalts, außerdem noch einmal in der ›Prager Presse‹. Diesmal gibt der Untertitel einen Hinweis auf seine Herkunft aus dem Roman ›Tiere in Ketten‹.196 4.4.3. Ausschnitte aus Romanen und Erzählungen Die als Ausschnitte klassifizierten Kurztexte stehen in einem engen Verhältnis zum Gesamtwerk des Autors. Sie stammen aus seinen Erzählungen und Romanen, sind in der Regel identisch mit dem Ursprungswerk und für den Druck nur leicht stilistisch verändert. Es zeigt sich, dass der Großteil dieser Ausschnitte aus den Jahren 1918 und 1930 datiert, aus einer Zeit also, in der Weiß für Prager und Berliner Feuilletonredaktionen arbeitete. Die meisten dieser Veröffent191 192
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Vgl. Dr. E. Weiß, Eine klinische Vorlesung. In: Der Friede 2 (1918/1919), S. 187f. Vgl. Ernst Weiß, Fragment der Kindheit. In: Der Friede 1 (1918), S. 574f. – Wiederabgedruckt in: text + kritik, Heft 76, S. 1–4; ders., Die Mutter. In: Morgenzeitung und Handelsblatt (Mährisch-Ostrau), 5. August 1924, S. 2f. Ernst Weiß, Fragment der Jugend. In: Der Friede 2 (1918/1919), S. 402–405. – Wiederabgedruckt in: text + kritik, Heft 76, S. 5–12; Ernst Weiß, Fragment der Jugend. In: Deutsche Zukunft (Prag), 1919, S. 7. Vgl. auch Kapitel III.1., S. 94ff. Vgl. Ernst Weiß, Zwei Reden über einen Mord. Zu einem Roman: Tiere in Ketten. In: Der Mensch 1 (1918), S. 114–121. Vgl. Ernst Weiß, Rede über einen Mord. Unveröffentlichtes Kapitel aus dem Roman Tiere in Ketten von Ernst Weiß. In: Prager Presse, 24. April 1921, S. 3–5.
lichungen dienten als Leseproben, als Werbemittel und Kaufanreiz für Weiß’ Romane und Erzählungen. Daher finden sich auch ausgesprochen viele Vorabund Nachdrucke aus den Romanen ›Tiere in Ketten‹, ›Mensch gegen Mensch‹ und ›Nahar‹ in den Prager und Berliner Blättern zu Beginn der 1920er-Jahre. Ebenso weist das Romanfragment ›Daniel‹ eine überdurchschnittliche Verbreitung in Berliner und Prager Zeitungen und Zeitschriften auf. Da es nicht möglich ist, auf alle diese Ausschnitte im Einzelnen einzugehen, verweise ich summarisch auf das Unterkapitel ›Ausschnitte aus Romanen und Erzählungen in Zeitungen und Zeitschriften‹ in der Bibliografie dieser Studie.197
4.5. Eingrenzung der Kurzprosa für die Interpretation: Textauswahl Da sich diese Studie zum Ziel gesetzt hat, die Existenzproblematik und ihre narrativen Verfahren anhand einzelner Interpretationsskizzen zu zeigen, würde es ihren Rahmen sprengen, dies an allen hier vorgestellten Texten zu tun. Daher wähle ich aus dem Korpus der Kurzprosa sechs Werke aus. Die Texte der Zeitungsprosa werden nicht berücksichtigt, da sie vor allem literarhistorischen Wert haben. Auch auf die Interpretation von Kürzestfragmenten wird verzichtet, da ihre Handlung auf ein Minimum reduziert ist. Hingegen werden aus der Kurzepik die drei Novellen ›Die Verdorrten‹, ›Franta Zlin‹ und ›Jarmila‹ ausgewählt. Obwohl es sinnvoll wäre, auch einen Kurzroman zu analysieren, wird darauf verzichtet, weil von beiden Kurzromanen bereits Interpretationen vorliegen.198 Stattdessen werden die so gut wie unbeachteten Romanfragmente ›Daniel‹ und ›Marengo‹ einbezogen, ebenso wie die Erzählung in Anekdoten ›Wer hat, dem wird gegeben‹. Diese Auswahl ermöglicht sowohl eine Analyse der Existenz- und Erkenntnisproblematik der Helden in verschiedenen Phasen des Œuvres als auch der parabolischen Erzählkonzeption. Die Wahl von Romanfragmenten, die Weiß’ Schaffen zwischen 1920 und 1925 abbilden, ist für die gleichfalls beabsichtigte Rekonstruktion der Entwicklung der Kurzprosa sinnvoll.
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Vgl. die Bibliografie der Primärliteratur, S. 275ff. Vgl. Steinke, Ontologie, S. 149–218; Mielke, Das Böse als Krankheit, S. 117–153; Müller/Tatzel, »Das Klarste ist das Gesetz«, S. 1–23; Kindt, Unzuverlässiges Erzählen, S. 125–134.
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4.6. Anmerkung zur Verwendung von Ausgaben bei den Interpretationen In der jüngeren Weiß-Forschung wurde zur Zitierung des Werks bislang meist auf die Leseausgabe der ›Gesammelten Werke‹ zurückgegriffen. Ein solches Vorgehen ist legitim, zumal die Überprüfbarkeit der zitierten Stellen so am Besten gewährleistet ist. Auch diese Studie wird bei ihren Analysen meist aus der genannten Leseausgabe zitieren. Wo allerdings philologische Fragestellungen wie jene der Textgenese und -entwicklung, der Überarbeitung und der Varianten in den Blick geraten und relevant für die zeitliche Einordnung der Erzählungen ins Gesamtwerk sind, werden auch Erstfassungen und Originalquellen verwendet und zitiert. Dies soll verhindern, dass bei der Darstellung der Werkentwicklung und der Einordnung der Texte eine Verzerrung durch stilistische, narrative oder thematische Überarbeitungen entsteht. Eine kurze Beschreibung aller Fassungen vor der Interpretationsskizze ermöglicht es außerdem, Inkongruenzen, die durch solche Überarbeitungen entstanden, darzustellen.
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II. Existenzproblematik und Erzählstrategie (1): Die Denkstrukturen in den Essays Diese Arbeit, die zu leisten ich mir vornehme, ist sie das Werk eines Romanschriftstellers, sind es philosophische Abhandlungen oder aber politische Essays? Versuche ich, das Zusammenspiel der augenblicklichen politischen und sozialen Strömungen zu erfassen, oder suche ich im Gegenteil nach einem Ort, wo ich mich dauerhaft niederlassen kann? Ernst Weiß, Notizen über mich selbst
Das folgende Kapitel des Hauptteils versucht, die existenziellen Fragestellungen im Werk des Autors anhand seiner Essays zu vertiefen. Die Untersuchung dieser Texte zeigt, dass sich Weiß lebenslang mit den für ihn zentralen Themen der menschlichen Erkenntnis und Existenz beschäftigt hat. Weiß beginnt kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Essayproduktion. Er publiziert sie vorwiegend in Prager und Berliner Tageszeitungen und veröffentlicht 1928 eine Auswahl in einem eigenen Sammelband.1 Die Hauptthemen der heute bekannten, etwa 50 Arbeiten des Autors sind anthropologische Fragestellungen, die Rolle des Individuums in der Gegenwart, Überlegungen zur Kunst sowie Rezensionen der aktuellen und aktuellsten Literatur. Weiß’ Reflexionen über ›Welt, Gott und Seele‹ vollziehen sich unter Berücksichtigung der griechischen Philosophie, Mythologie und Literatur sowie weiterer wichtiger Werke der Weltliteratur. Hinzu treten religiöse und mythische Schriften der orientalischen und asiatischen Völker, unter denen das Alte Testament für Weiß eine besondere Rolle spielt. Mit der Darstellung der Anfänge der Welt und der Geschichte Israels, mit der Erzählung von den Gesetzestafeln und von Gottes Weisungen für das menschliche Leben verfügt das Alte Testament über Texte, die den Kampf des Menschen mit Jahwe ins Zentrum stellen. Die Welt entsteht nicht durch Zufall, sondern ist »die bewußte Tat eines Gottes, der die Welt auf ihren Weg schickte«2. Ein solches, wenn auch stark säkularisiertes Denken ist der Ausgangspunkt der Weiß’schen Essays: Er wird durch Bezugnahmen auf die Philosophie des Rationalismus und ihrer Gegner, auf den Positivismus, auf die Lebensphilosophie, auf die Werke der Philosophen Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche sowie des Arztes Sigmund Freud formuliert.3 1 2 3
Vgl. Ernst Weiß, Das Unverlierbare. Günter Sternberger, Epochen der jüdischen Literatur, München 1982, S. 13. Franz Kafka hat Freuds Psychoanalyse als ein Kapitel der jüdischen Geschichte angesehen. Die Juden seien von »jeher gezwungen […], sich selbst zu kommentieren, sich zu befragen und zu deuten«. Die Psychoanalyse bezeichnete Kafka als Ausdruck jener »schrecklichen inneren Lage«, der die gegenwärtige jüdische Generation ausgesetzt sei.
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Thomas Delfmann hat die relative Kürze der Weiß’schen Essays festgestellt, sie mit dem essayistischen Œuvre anderer Schriftsteller verglichen und ihnen den Status »flüchtige[r] Skizzen eines Gedankens«4 zuerkannt. Dieser Einschätzung möchte ich insofern widersprechen, als sich bei der Analyse der Essays zeigt, dass Weiß in seinen Texten eine Schreibweise anwendet, die auch für seine Kurzprosa als typisch angesehen werden kann: Er legt ein dichtes Gefüge aus Anspielungen, Bildern und Vergleichen über die Texte und erzeugt damit eine Vielzahl von Bezügen. Dieses uneigentliche Sprechen erinnert nicht nur an orientalische Mythen, sondern auch an die Erzählungen der Bibel. Da Gott, der Jahwe ist, nicht beim Namen genannt werden darf, wird das Transzendente zum sprachlichen Geheimnis. In diesem Sinne sind die Juden, die sich um die stete Aneignung dieses Geheimnisses bemühen, für Weiß »das einzige Volk des Westens [...], bei dem das ganze geistige Leben sich auf Studium und Wiederstudium eines Stückes Pergament konzentriert« (KdE 61). Zieht man diese literarischen Traditionen mit in Betracht, erscheint das Fazit der »Flüchtigkeit« und unpräzisen Skizziertheit in den Weiß’schen Essays unbegründet. Sie weisen vielmehr auf eine Rhetorik hin, die das Problem des unaussprechlichen Inhalts, des Transzendenten, ästhetisch zu würdigen versucht.5 Dass Weiß seine Essays mit derselben sprachlichen Akribie verfasste wie seine erzählende Prosa wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er sie in ähnlicher Weise überarbeitete und um neue inhaltliche Aspekte ergänzte, wie er dies auch mit seiner fiktiven Kurzprosa tat.6 Es ist allerdings nicht das Ziel des folgenden Kapitels, die rhetorische Beschaffenheit der Essays weiter zu analysieren, sondern vielmehr, den weltanschaulichen Standpunkt des Autors zu eruieren und damit ein Fundament für die folgenden Interpretationsskizzen zu schaffen. Dabei knüpft
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Freud selbst hatte einmal bekannt, dass es vielleicht kein Zufall war, dass der Begründer der Psychoanalyse ein Jude sei. – Vgl. Gerhard Kurz, Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 41f. Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 25. Ein solcher Duktus ist nicht nur bei Weiß zu beobachten, sondern auch bei Philosophen des 19. Jahrhunderts. Nietzsche imitiert in ›Also sprach Zarathustra‹ den Redestil der jesuanischen Worte und Parabeln im Neuen Testament. – Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. In: Nietzsche, Werke in sechs Bänden. Hg. von Karl Schlechta, München 1980, S. 275–561. Vgl. etwa die Veränderungen, die Weiß in seinem Essay über Mozart vornahm. Im August 1921 hatte er eine erste Fassung dieses Essays angefertigt. In der zweiten Fassung desselben Jahres schrieb er eine neue Einleitung und ein neues erstes Kapitel, in dem er die Philosophie des Westens mit jener des Ostens konfrontierte. Dafür relativierte er die Aussage, Mozart sei ein »Paradoxon Kierkegaardscher Tiefe«, die er noch in der ersten Fassung des Essays getroffen hatte. – Vgl. Ernst Weiß, Der große Ahn und Meister. In: Prager Presse, 9. Oktober 1921, Morgenausgabe, S. 12; ders., Mozart, ein Meister des Ostens. In: Die neue Rundschau 32 (1921), S. 1200–1210. – Die zweite Fassung wurde wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 16: KdE, S. 146–155.
die Studie an Themen an, die Mielke und Delfmann in ihren Arbeiten teilweise extrapoliert haben.7 Es geht um existenz- und religionsphilosophische Fragen, um Metaphysik und Moral, um Subjektivität, Erkenntniskritik, Endlichkeit und Tod – kurz darum: Was ist der Mensch?
1.
Zur Kritik der Moderne: Gesellschaft, Wissenschaft und Christentum
Wie die in Deutschland seit der Jahrhundertwende präsente Lebensphilosophie, die unter dem starken Einfluss Friedrich Nietzsches steht, und wie die im Entstehen begriffene Existenzphilosophie mit ihrem Vordenker Sören Kierkegaard analysiert Weiß die Situation des modernen Menschen als eine weltbildumstürzende Krisen- und Grenzsituation.8 Er organisiert seine Betrachtungen um das zentrale Thema des ›Wertezerfalls‹ und der Auflösung abendländischer metaphysischer Gewissheiten, wofür er immer wieder die Metapher der »Grenze« (KdE 44), der »Grenzscheide« (KdE 69) und des »Grenzgefühls« (KdE 80) nutzt. Weiß’ Reflexionen entzünden sich am Ersten Weltkrieg als einem Ereignis gesellschaftlichen Umsturzes, doch gehen die Ursachen des Krisengefühls weit über dieses historische Geschehen hinaus. Vielmehr erscheint Weiß die Massenvernichtung auf den Schlachtfeldern als Symptom einer tiefergehenden kosmischen ›Störung‹, die archaische Mächte auf den Plan ruft und die antinomische Urstruktur von Welt und Kosmos sichtbar macht: Wer wie ich überzeugt ist, daß diese unsere Höllenwelt von 1918 keineswegs mit dem Mobilisierungstag begonnen hat, wer mit mir in den letzten Jahren nur eine mystische Verwandlung der ewig über dem Dasein ruhenden bösen Mächte in sichtbare, greifbare, fühlbare sieht, der muß gesegnet sein mit einem aufrührerischen Optimismus, einem fanatischen Glauben an das Endlich-Gute. Denn sonst ertrüge er das Dasein nicht. (KdE 52)
7 8
Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 19–54; Mielke, Das Böse als Krankheit, S. 55–111. Vgl. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994, S. 120 und 122. – Lindner unterscheidet die Begriffe ›Lebensideologie‹ und ›Lebensphilosophie‹, wobei er letzteren für das systematische philosophische Denken reserviert und mit ersterem eine »halbbewußte Struktur« bezeichnet, die sich in literarischen oder halbliterarischen Texten findet: »Die philosophischen Ausformungen dieses Denkens sind demgegenüber sekundäre Erzeugnisse dieses Nährbodens, die natürlich mit dem lebensideologischen Kontinuum rückkoppeln, aber keinesfalls die ursprünglichen Quellen lebensideologischen Denkens darstellen. […] Gegen den ›Mechanismus‹ und ›Atomismus‹ der Zivilisation greift sie einerseits auf alte oppositionelle Strömungen bürgerlicher Ideologie zurück, vornehmlich auf die Romantik bzw. auf anti-idealistische Außenseiter […] wie zuerst Schopenhauer und später Kierkegaard.«
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Das Rumoren der »ewig über dem Dasein ruhenden bösen Mächte« ist eine konstante Weiß’sche Metapher, derzufolge die Menschheitskatastrophe Weltkrieg nicht allein politische, sondern auch kosmische Gründe hat. Der Mensch befindet sich in einer Welt, in der nicht nur seine inneren Koordinaten, sondern der ganze scheinbar geordnete Kosmos fragwürdig geworden sind. Weiß stellt der prägenden abendländischen Metaphysik, dem Christentum, dabei ebenso einen Schuldschein aus wie der rational argumentierenden Wissenschaft. Beide Formen dieses menschlichen ›Selbst‹-Bewusstseins haben zu Einseitigkeit und Unterdrückung, zu Verdrängung und Entfremdung geführt. Ob hierbei das Erlebnis des Krieges bei Weiß wirklich eine völlige »Klärung und Stabilisierung des eigenen Standpunktes«9 bewirkt hat, wie Volker Michels meint, ist zwar fragwürdig. Doch fest steht, dass er spätestens in den Jahren zwischen 1916 und 1918 eine Ausweitung seiner existenziellen Fragestellung ins Metaphysische vornimmt.
1.1.
Der soziale Mensch: Kritik an Gesellschaft, Justiz und Nationaldenken
In dem programmatischen Essay ›Über die Liebe‹ von 1918 nimmt Weiß eine Abrechnung mit der Gesellschaft und der Idee des Nationalstaates, die nicht das Individuum, sondern nur die ›Masse Mensch‹ sieht und zweckrational über sie verfügt, vor. Als Ausgangspunkt seiner Argumentation wählt Weiß zwei Wertbegriffe, die das Zusammenleben von Menschen maßgeblich bestimmen, und die er in einer negativen und einer positiven Spielart ausführt: ›Gerechtigkeit‹ und ›Liebe‹. Europäische Regierungen, stellt der Autor fest, haben den Begriff der Gemeinschaft missbraucht, indem sie an die Stelle einer humanistisch geprägten Gesellschaft die ›Nation‹ als regulierende Größe in ihrem Wertekodex gesetzt haben: »Es heißt, daß man nur ›in Nationen denken‹ kann. Nationen, behaupten noch die am meisten Gemäßigten, seien die niedrigsten Recheneinheiten der Geschichte.« (KdE 50). Der Nationalismus ist jedoch eine Ideologie, die Machtinteressen betont und das Individuum zum bloßen Instrument für höhere patriotische Zwecke umdefiniert. Alle Regierungen trifft der Vorwurf, Macht an Recht geschmiedet zu haben. Einige haben es früher getan, haben getrotzt und getrieft von diesem bösesten Glauben, andere haben sich dieses ›Kampfargument zu eigen gemacht‹, gewillt, dem Gegner die Wahl der Waffe zu überlassen. (KdE 47)
Unter dem zweckrationalen Anspruch der Nation ist das Individuum keine unverwechselbare Persönlichkeit mehr, sondern nur noch Mitglied einer Sippe, »weil
9
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Volker Michels, Nachwort. In: Weiß, GW, Bd. 16: KdE, S. 452–457.
Nationalität Stammesverwandtschaft ist« (KdE 49). Es gehorcht den Befehlen der Sippe, ohne sie zu hinterfragen. In diesem System wird auch Recht durch Macht erstritten und legitimiert. Möglich wird die Legitimation der Nation als »niedrigste Recheneinheit der Geschichte« durch die offizielle Forderung nach einer »Liebe zum Vaterland«, die neben die Liebe zur Familie als der tragenden Säule der Organisation menschlichen Zusammenlebens tritt. Wie der Familienzusammenhalt durch die Liebe zum Blutsverwandten, so soll die Bindung ans Vaterland durch die Liebe zur Nation legitimiert werden. Diese Liebe hat für das Individuum jedoch ihre Tücken, denn sie geschieht nicht freiwillig, sondern ist patriotisch gelenkt. Stammes- und Blutsverwandtschaft binden den Einzelnen ohne seinen Willen an eine Gemeinschaft, die ihm zum (höllischen) Schicksal werden kann. Mütter lieben ihre Söhne, obwohl diese zu Mördern anderer Menschen geworden sind. Söhne fühlen sich ihren Müttern verpflichtet, weil sie in ihnen »lügnerisch und ohnmächtig sentimental ›mein besseres Teil‹ liebe[n]« (KdE 49). Die Folge dieser Verpflichtungen durch Verwandte und Vaterland ist »die böse ›Verbrüderung‹, die Entmenschung [des Individuums, Ch.D.] durch die Familie« (KdE 48) und den Staat. Beide verstellen die Bereitschaft zu einer Liebe, die durch die Einzigartigkeit des Menschen und durch eine Gemeinschaft der Seelen erzeugt wird. »Die Einmaligkeit des Menschen wird fortgetäuscht durch die Familie.« (KdE 92). Erst die seelische Liebe ermöglicht es dem Menschen, eine humanistische Gesinnung zu entwickeln und sich seiner Einzigartigkeit zu vergewissern: »Für mich ist eben diese menschliche Kreatur das letzte, das denkbar Nächste, wenn auch nicht das einzig Denkbare.« (KdE 55). Gegen die Liebe zu Blutsverwandten fordert Weiß daher eine »Liebe um jeden Preis« (KdE 56, Hervorhebung im Original) und eine menschliche Gerechtigkeit, die nicht durch die Gesetze der Nation pervertiert wird. Denn während die Nation den Einzelnen nur als Teil der Masse begreift und mit ihrem Misstrauen die Welt »verseucht wie Pest« (KdE 49), kann gerechte Güte den Menschen heilen und das Gute zum Vorschein bringen. Der besseren Anschaulichkeit wegen bettet Weiß Gerechtigkeit und Güte, zwei moralphilosophische Begriffe, in die Terminologie des ›Gesetzes‹ ein: Juristisch gesehen ist das Gesetz eine Kategorie des ›äußeren‹ Menschen, der im gesellschaftlichen Leben besteht oder versagt. Moralphilosophisch gesehen ist der Begriff eine Metapher für jene Wertvorstellungen, nach denen ein Mensch sein ›inneres‹ Leben auszurichten versucht. »Friede ist eine eigene Sinnesart des Menschen. Er ist eine besondere Kategorie, die Welt innen und außen zu fassen. Er ist eine eigene Methode, mit dem Dasein aktiv fertig zu werden, und diese Arbeit kann man nicht auf Kommando und Diktat bestellen.« (KdE 83). Ein Mensch, der seinen (Lebens-)Sinn aus ›äußeren‹ ideologischen Wertvorstellungen zieht und nur dem ›äußeren‹ Gesetz der Rasse, der Nation oder der Sippe folgt, verkennt die Bedeutung seiner inneren Existenz. Nationalis59
mus, Patriotismus und Sippenwesen tragen zur Geringschätzung des Individuums bei.10
1.2. Die Naturwissenschaften: Kritik am rationalistischen Weltbild Im Zentrum von Weiß’ Kritik steht das Welt- und Menschenbild der Moderne, das auf dem philosophischen Rationalismus, Szientifismus und Empirismus in Europa fußt. Der Rationalismus hat die Transformation vom Mythos zum Logos vollzogen und an der Entstehung eines Selbstbewusstseins mitgewirkt, das meint, durch den Analogieschluss der Vernunft die Erfahrung des Transzendenten objektivieren und die Phänomene der Welt fassen zu können. Dieser Rationalismus hat einer naturwissenschaftlichen Welterfassung den Boden bereitet, die sich auf die Erforschung rein empirischer Phänomene beschränkt.11 Daher sieht Weiß die alte Regel bestätigt, »daß die Naturforscher in ihren ›wissenschaftlichen Tatsachen‹ stets das entdecken, was die reinen Philosophen und Logiker ihnen in ›Gedanken‹ vorausgedacht haben« (KdE 74). Weder die analytische Philosophie noch die Naturwissenschaften können allerdings das Wertund Sinnvakuum füllen, das mit dem Ende der Metaphysik des Christentums im Abendland entstanden ist. Denn die Ideen der Vernunft, der ›Ordnung‹ und der ›Naturbeherrschung‹ sind blutleer, wenn es um Fragen der Transzendenz geht. Vor allem auf die Frage, welchen Sinn das Leben angesichts des Todes hat, reagieren die Naturwissenschaften ratlos: Sie sehen im Menschen bloß eine »Meisterleistung der Technik, eine recht gut konstruierte Maschine. Man dachte, man habe sie bloß vor Abnützung zu schützen, nicht aber vor Tod« (KdE 73). Die Kompetenz der empirischen Wissenschaften endet mit der physischen Seite,
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In einer Rezension von 1925 hat Weiß dieses Thema noch einmal aufgegriffen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Er warnt davor, sich im Nationalismus zu verlieren und seinem Leben nicht aus eigener Kraft einen Sinn zu geben: »Man kann allgemein annehmen, daß der große Zug zum Nationalismus, der seit 1914 einsetzt, darin begründet wird, dass die Völker in ihrem Bestande problematischer geworden, sich auf die Rasse, die Ahnen zu stützen versuchen. Das Soziale geht auf eine ähnliche Quelle zurück. Der einzelne verzweifelt an seiner Lebensmöglichkeit, an dem Sinn des Daseins, ja an dem Sinn der Frage nach dem Sinn. Was er bei sich nicht finden kann, will er in der Gemeinschaft, in einem soziologisch erfaßten Menschheitsgebilde finden, und hier sieht er sich wenigstens eine längere Daseinsdauer, ein größeres Format zugewiesen, er ist von den Fesseln des Ich bis auf Reichweite entledigt.« – Vgl. Ernst Weiß, Franz Kafka, ›Der Proceß‹. In: Berliner Börsen-Courier, 26. April 1925. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 16: KdE, S. 261–265, hier S. 262. Vgl. Wolf Wucherpfennig, Antworten auf die naturwissenschaftliche Herausforderung in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, begr. von Rolf Grimminger, Bd. 7: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890–1918 , hg. von York-Gothart Mix, München 2000, S. 155–176, hier S. 170.
der Hygiene: »Hygiene war die große, die einzige Lehre dieser Tage. Es war eine Lust zu leben, oder eine lustvolle Arbeit. Dieses Lebensgefühl schien so stark, so unbesieglich, daß diese Generation den Tod nie tragisch begriff […].« (KdE 73). Indem die empirischen Wissenschaften den Tod als »praktische Lösung […], als Ausscheidungsprozeß« (KdE 73) begreifen, deuten sie den Menschen radikal um. Die Hybris dieser Auffassung besteht in der Selbstgefälligkeit: Man glaubt, eine Erklärung für das Leben gefunden zu haben, weil man die Physis der Dinge erforscht und sie ästhetisch beschreibt. Doch »[i]n einem bestimmten Augenblick müssen wir alle, als Einzelwesen, als die einzig erleuchteten dem schwarzen, dem unendlich weiten, unendlich kalten, unendlich dummen Universum ins Auge sehen, im Augenblick des Todes« (KdE 91). Die rein naturwissenschaftliche Betrachtung des Menschen führt zu einem Gefühl des Mangels. Denn auf wesentliche Fragen haben bis jetzt nicht die Wissenschaft, »sondern nur die Religion oder die religiöse Philosophie Symbole und Werte gefunden« (KdE 105).
1.3. Das Christentum: Kritik an der Opfer- und Erlösungslehre Die soteriologische Botschaft des Christentums ist für Weiß Anlass, diese Religion als Sinn- und Wertespeicher zu hinterfragen. Obwohl ein Grundgefühl von Religiosität für alle Fragestellungen und Ansichten des Autors prägend ist, lehnt Weiß das Heilsangebot des Christentums explizit ab. Seine Hauptkritikpunkte sind die christliche Theodizee, also die Erklärung Gottes angesichts des Übels in der Welt, und der Anspruch des Christentums auf seine einzigartige Stellung in der Welt und im Kosmos. Diese Kritik ist grundlegend für Weiß’ ganzes Denken, und noch in seinem literarischen Spätwerk nutzt er die christliche Theologie als Negativfolie.12 Zunächst untersucht Weiß die Erlösungsdoktrin des Christentums, die eine Befreiung des Menschen von seiner Erbsünde durch den Opfertod Christi verspricht. Daraus schließt Weiß, dass der christliche Mensch zu einer Erlösung aus eigener Kraft nicht fähig ist. Der Bund zwischen Mensch und Gott wird durch Gottes Tod und Auferstehung in menschlicher Gestalt vollendet, nicht durch eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Mensch und Gott, wie sie das Alte Testament im Bund Gottes mit Abraham andeutet.13 Weiß ist die Vorstellung,
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Daher teile ich Volker Michels’ Einschätzung nicht, der glaubt, ein »so positive[s] wie kenntnisreiche[s] Verhältnis des Juden Ernst Weiß zur christlichen Religion« festzustellen. – Vgl. Michels: Nachwort. In: Weiß, GW, Bd. 16: KdE, S. 457. Vgl. Gen 15, 1–5: »Nach diesen Ereignissen erging das Wort des Herrn in einer Vision an Abram: Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild; dein Lohn wird sehr groß sein. […] Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Abram glaubte dem Herrn, und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an.«
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dass die Erlösung des Menschen durch einen gewaltsamen Opfertod geschehen ist, höchst suspekt. Er empfindet weder das Wissen als befreiend, dass ein (göttlicher) Mensch für die Erlösung der Menschheit sterben musste, noch das gewissliche Versprechen, durch diesen einmaligen Opfertod selbst erlöst zu werden. Vielmehr potenziert der Tod eines anderen Menschen für Weiß die Erbschuld ins Unendliche und wird so zu einem »Widersinn, an dem mehr als ein großer Nachbeter des Christentums [...] gescheitert ist« (KdE 42). Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Trennung der Welt in ein Diesseits und ein Jenseits eine unhaltbare Vorstellung ist. Das Heilsversprechen eines Jenseits, das im Diesseits nicht wahrzunehmen ist, empfindet Weiß als problematisch, weil es den Menschen in eine doppelte Frontstellung bringt: Der Glaube an ein fernes Jenseits verhindert einerseits, dass sich der Mensch schon vor seinem Tod seiner unsterblichen Seite vergewissern kann. Andererseits stellt ihn die Behauptung, Gottes Ebenbild auf Erden zu sein, gegenüber allen anderen Lebewesen auf einen einsamen Posten. »Wir und Gott sind die einzigen, die begreifen, wir fassen, wir halten.« (KdE 90). Der strikten christlichen Trennung von Diesseits und Jenseits begegnet Weiß mit der Vorstellung einer immanent erfahrbaren Transzendenz: »Wir wollen nicht mehr sagen: Zeit oder Ewigkeit, nicht mehr scheiden: leibliche Hölle, ewiger Himmel, denn unsere Himmelfahrt geht nicht erst nach der Todesnacht an.« (KdE 70). Nur einer Transzendenz, die Teil seiner Wirklichkeit ist, kann sich der Mensch auch gewiss werden – und seine Zugehörigkeit zu dieser Sphäre verspüren. Was das Christentum, chaotisch in seinen vier widersprechenden Evangelien, geben konnte, hat es gegeben. Was die Kirche, dieses Chaos nach Menschenkräften ordnend, von den Zeiten ihrer sagenhaften und zugleich politischen Gründung bis zum heutigen Tage nicht vermochte, wird keine Kirche der kommenden Jahrhunderte geben können. Der Weg der weltlichen Erziehung ist der einzige, der bleibt. (KdE 85)
Im Gegensatz zu Nietzsche schafft Weiß zwar die Vorstellung eines Gottes oder göttlichen Prinzips nicht ab, wohl aber die Erlösungsdoktrin des Christentums. Gott ist für ihn weiterhin ein »Höchst Denkbare[s]«, ein »Höchst-Wünschbare[s]« (KdE 54), ein Prinzip und Synonym für das Gute im Kosmos. Das Gute ist jedoch nicht privilegiert; vielmehr herrscht im Kosmos auch das Böse, das Gott – als das Gute – genauso bekämpfen muss wie der Mensch. Diese Theosophie präzisiere ich nun.
62
2.
Mensch und Kosmos: Die Denkfiguren der Ganzheit und der Polarität
Weiß antwortet auf die Sinn- und Wertekrise der Moderne nicht nur mit einer Ablehnung der christlichen und naturwissenschaftlichen Weltbilder, sondern auch mit einem Weltentwurf, den ich als philosophisch reflektierten und dadurch bereits gebrochenen, aufgeklärten Mythos beschreiben will. Das Attribut ›aufgeklärt‹ bezieht sich vor allem auf das reflektierende Bewusstsein des Menschen und seine Erkenntnisfähigkeit, während der Begriff des Mythos auf die inhaltliche Vorstellung eines ganzheitlichen, unbefangen naiven Lebens zielt. Diese Annahme einer ›Ganzheit‹ wird von Martin Lindner auch als eine »erkenntniskritische Denkfigur der Lebensideologie«14 bezeichnet. In Weiß’ Essays wird sie plastisch durch die Annahme eines »metaphysischen Hintergrund[s]« oder eines »Weltgesetz[es]« (KdE 14f.). Zur Denkfigur der ›Ganzheit‹ gehört, als ihre Kehrseite, auch die Denkfigur der ›Polarität‹. Sie ist zu verstehen als eine »›Zweiheit‹, die nicht dualistisch ist, sondern ›vergleichbar den beiden Polen eines Magneten, die gerade in ihrer Zweiheit eine untrennbare Einheit darstellen‹«15. Nach Weiß erlebt sich der Mensch als ein gespaltenes, polares Wesen, denn er ist Geist und Natur, unendlich und endlich, gut und böse. Er erlebt seine Polarität in der Auseinandersetzung mit der Welt und existiert aus der Spannung dieser Oppositionen heraus. Er ist erfüllt von der Erfahrung seiner Affekte und seiner Lust, von der Vergänglichkeit und von allem, was im Leben ist. Und doch ahnt er zugleich, dass diese materiellen Erfahrungen eine immaterielle Gegenseite haben. Mit den Denkfiguren der ›Ganzheit‹ und ›Polarität‹ rekurriert Weiß indirekt auf die eingangs angedeutete Definition Kierkegaards vom Selbst als einer ›Synthesis‹ aus Unendlichkeit und Endlichkeit ebenso wie auf Positionen der Lebensphilosophie, die mit ihrer gedachten Opposition von ›Leben‹ versus ›Geist‹ bereits eine Gegenmetaphysik zum Rationalismus aufgebaut hat.16 Der polare Mensch der Lebensphilosophie besitzt ein ›Selbst‹-Bewusstsein, das ihm seine Vergänglichkeit vor Augen führt,
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Lindner, Leben in der Krise, S. 102. Ebd., S. 104. – Lindner zitiert eine anschauliche Definition von Felix Weltsch in den ›weißen Blättern‹ aus den Jahren 1913/14: »Das ureigentlichste Wesen des Menschen ist Polarität: Zweiheit und die Sehnsucht nach Einheit: Spannung des Gegensatzes, und das Verlangen, diese Spannung zu überwinden. Eine solche Polarität ist im tiefsten Grunde auch das Verhältnis des Menschen zur Welt. Die Spannung dieser beiden Pole gebiert jenen grausigen Abgrund, der sich zu Zeiten im Geiste des Menschen seiner Umwelt gegenüber auftut, jene unheimliche Fremdheit des Gegenstandes, das tiefe Erlebnis des ›Etwas-Anderes-Sein‹ in der Welt, das als Moment der höchsten Spannung der Pole zu irgendeiner Überwindung dieser Spannung treibt.« Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/M. 1983, S. 176ff.
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und das radikal subjektiv ist. Aus dieser Feststellung, dass der Mensch nichts wissen kann, was seine subjektive Wirklichkeit übersteigt, zieht Weiß eine Konsequenz, die er mit der Formulierung des »Unddoch« (KdE 69) umschreibt: Der Mensch ahnt nur, dass er ein ewiges Selbst hat, doch er kann es nicht beweisen. Um der bloßen Ahnung willen nimmt er daher den Existenzkampf auf.
2.1. Die Denkfigur der kosmischen Polarität: Endlichkeit und Unendlichkeit Der Kosmos ist für Weiß, ähnlich wie für Alexander von Humboldt, ein Synonym für vorhandene »Weltgesetze«17, ohne dass Weiß allerdings die Harmonievorstellung der Klassik in Bezug auf diesen Kosmos teilen würde. Der Mensch ist bei Weiß in ein Weltganzes hineingestellt, das »unsichtbare, aber immer gegenwärtige Gegner« (KdE 158) beherrschen. Diese Mächte sind gut und böse, spielen sich gegeneinander aus und greifen auch auf der Erde, diesem »Stern der Dämonen« (KdE 159), in den Lauf des Geschehens ein. Das kosmische Geschehen findet zwar ohne Zutun des Menschen statt, dringt aber in Form von Grenzerfahrungen in sein Bewusstsein ein: Kosmische Mächte schlagen den Menschen mit »Schicksal, Zwang, Tod« (KdE 158). Die Seele ist dabei das Abbild des Kosmos, denn in ihr erfährt der Mensch »das in das Dasein von uns namenlosen, schwachen, vergänglichen, erbärmlichen Menschen hereinragende, hereinrasende Weltall mit seinen bösen und seinen tröstenden Dämonen« (KdE 36). Sie bindet den Einzelnen in einen größeren Zusammenhang ein und lässt ihn das Transzendente ahnen: »[W]ir fühlen, daß die eine Grenzscheide in uns liegt, nur die, die andere aber in der höheren Sphäre, die wir wissend nicht erreichen können. […] Denn in uns begegnen sich die Widersprüche des Universums.« (KdE 69, Hervorhebung im Original). Die bipolare Struktur des Kosmos lässt den Menschen also ahnen, dass er selbst auch bipolar sein und nicht nur ein Endliches, sondern auch ein Unendliches in sich haben muss. Diese Ahnung gibt dem Menschen die Hoffnung, dass sein eigenes vergängliches Dasein nicht völlig sinnlos ist. Allerdings ist diese Ahnung nicht nur tröstlich, sondern auch schmerzlich – führt sie dem Menschen doch die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit vor Augen: »Unentrinnbar bleiben wir dem Absurden eingefügt.« (KdE 69).
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Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. [Tübingen 1845–58]. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt/M. 2004, S. 9: »Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Begründung der Weltgesetze.« (Hervorhebung Ch.D.)
2.2. Die Denkfigur der Seele: Wissen, Wollen, Müssen Zur Vorstellung eines bipolaren Kosmos mit guten und bösen Mächten tritt die Beschreibung der Beschaffenheit ureigener Seelenkräfte, das heißt der Substanz, aus der die Seele gemacht ist. Damit verbunden ist das Problem des menschlichen Willens. In seinem Essay ›Goethe‹ beschreibt Weiß die Seele als eine Trias aus »Wissen, Wollen, Müssen« (KdE 158), aus drei Haltungen also, die das Denken und Handeln des Menschen verschiedenartig lenken und seine innere Harmonie gefährden. Als Vernunftwesen (Wissen) gehört der Mensch der Welt des Geistes, der Reflexion und der Argumentation an; er analysiert und wägt ab. Mit seinen Wünschen und Trieben (Müssen) ist er Teil der Natur und folgt den Gesetzen seines Wesens und des Schicksals. Mit seinem Willen (Wollen) verfügt der Mensch über eine Instanz, mit der er eigene Akzente im Handeln setzen kann, und die auf seine Individualität zurückgeht. Sein Wille macht ihn frei, aber auch verantwortlich für seine Entscheidungen. Für die Vorstellung von der Seele als einer Trias aus Vernunft, Natur und Wille verwendet Weiß mit Goethe ein Bild aus Platons Schrift ›Phaidros‹, das die Seele mit einem Gespann aus Ross und Reiter vergleicht:18 »Aus Wissen, Wollen, Müssen, aus diesen dreifach gewebten, verworrenen Zügeln, die das unselige Roß der Seele nach drei verschiedenen Richtungen reißen wollen, aus Müssen, Wollen, Wissen […] baute der Einzige sein Dasein, sein Dortsein auf […].« (KdE 158). Nach Platon besteht die Seele aus der Vernunft, mit welcher der begehrliche Teil im Kampf liegt, und dem Zorn, der die Heftigkeit meint, mit der jemand für sein Recht streitet. Damit gab Platon neben der Vernunft dem Willen eine große Bedeutung.19 Die Vernunft lässt den Menschen sein Maß finden, der Wille verkörpert seinen Machttrieb, das Dunkle der Seele. Je nach dem, ob die Vernunft (›Wissen‹) mit dem Willen (›Wollen‹) oder der Natur (›Müssen‹) zu kämpfen hat, kann die Seele zum Schauplatz sinnlicher oder ethischer Konflikte werden. Mit dem Verbalsubstantiv ›Müssen‹ sind außerdem jene Schicksalskräfte umschrieben, die dem Willen des Menschen entgegenwirken. Mit diesen Kräften maßvoll umzugehen, ist bislang nur wenigen Menschen gelungen. Zu ihnen gehört nach Weiß’ Vorstellung der Dichter Goethe: [A]us Wissen, Wollen, Müssen […] baute der Einzige sein Dasein, sein Dortsein auf, so wandelte er den Zwang zur Freiheit, die Not zur edlen Beschränkung, die enge Grenze zur hohen Form; so lebte er, biblisch in Frieden und Freude, starb des Lebens 18
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Vgl. Platon, Phaidros. In: Platon, Sämtliche Dialoge. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1998, Bd. II, S. 1–144, hier Kap. XXXIV, S. 69: »Wie ich im Anfang dieses Mythos jede Seele in drei Teile zerlegt habe, nämlich zwei roßgestaltige Gebilde und zum dritten das eines Wagenlenkers, so soll das auch jetzt noch gelten. Von den Rossen sagten wir, ist eines gut, das andere nicht.« Vgl. Platon, Politeia, IX. Buch, 586 St. In: Platon, Sämtliche Dialoge. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1998, Bd. V: Der Staat, S. 377ff.
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satt. Er, der Einzige seit Menschengedenken, von dem man es weiß. Er war der greise Faust, der den Stern der Dämonen unter sich trat, er, der klügere, der stärkere. Nie schlug das infame Weltgetriebe ihm den Degen aus dem spielend beweglichen, aber stählernen Handgelenk. (KdE 158f.)
Nach griechischer und auch noch nach Vorstellung der deutschen Klassik liegt es in der persönlichen Freiheit des Menschen, sich von Zwang und Notwendigkeit zu entbinden und zwischen den auseinanderstrebenden Kräften der Seele, des Willens (Wollen) und des Schicksals (Müssen) eine Harmonie herzustellen. Was den Dichtern der Klassik in ihren Werken noch gelang, kann sich Weiß für die Moderne nicht mehr vorstellen: »Er [Goethe, Ch.D.] ist der Punkt, der zeigt, wie weit es die Menschheit gebracht hat. Das tröstet uns nicht.« (KdE 160). Die Moderne ist vom Optimismus der Klassik abgeschnitten, denn der Mensch erfährt sich nicht als Vollender, sondern als Opfer des Weltgeschehens. Er ist nicht für die Herstellung der Harmonie geboren, sondern erlebt den unaufhebbaren Konflikt der Gegensätze. Der moderne Mensch ist ein Don Quichote, ein Kämpfer »zwischen Himmel und Hölle, zwischen Nein und Ja, zwischen Gut und Böse, Frieden und Krieg, Sein und Werden, Hölle und Paradies […]« (KdE 174).20
2.3. Die Denkfigur der ethischen Polarität: Gut und Böse Mit der Erwähnung von ›bösen‹ und ›tröstenden‹ Dämonen ist zugleich eine qualitative Werteopposition benannt, für die Weiß im Laufe seines Schaffens verschiedene Wort- und Gegensatzpaare findet: ›Gott‹ und ›Gegengott‹, ›Gott‹ und ›Teufel‹. Der Weiß’sche Gottesbegriff ist dabei nicht mit jenem der christlichen oder jüdischen Theologie gleichzusetzen, die in Gott die höchste Instanz, den nicht Nennbaren (Jahwe) oder Gottvater sieht. Vielmehr bezeichnet ›Gott‹ bei Weiß eine metaphysische Kraft, die allgemein für das Gute steht. Diese Kraft hat sich mit dem ›Teufel‹ als dem Synonym für das Böse auseinanderzusetzen. Das Böse ist bei Weiß keine schöpferische Kraft, doch erlangt dieser »Geist, der stets verneint«21, gerade durch die Negation des Guten seine Macht: »[D]er Teufel schafft nicht, sondern er verneint nur das zur fragwürdigen Gestalt Herange-
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Zur Figur des Don Quichote bei Weiß vgl. Tom Kindt und Hans-Harald Müller, Zweimal Cervantes. Die Don Quijote-Lektüren von Ernst Jünger und Ernst Weiß. Ein Beitrag zur literarischen Anthropologie der zwanziger Jahre. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik, hg. von Sabina Becker, St. Ingbert 1995, Bd. 1: S. 230–254. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil. Hg. und kommentiert von Erich Trunz, München 1999, S. 47 (V. 1338–1344). – Die Passage, der das Zitat entstammt, lautet vollständig: »Studierzimmer. Mephisto: ›Ich bin der Geist, der stets verneint!/ Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,/ ist wert, daß es zugrunde geht;/ Drum besser wär’s, dass nichts entstünde./ So ist denn alles, was ihr Sünde,/ Zerstörung, kurz das Böse nennt,/ Mein eigentliches Element.‹«
borene.« (KdE 166). Indem der Teufel zerstört, was Gott schafft, macht er die Schöpfung endlich und unvollkommen. Die Werteopposition des Guten und des Bösen findet sich dabei ebenso in der Welt wie in der Seele des Menschen als dem Abbild des Kosmos: »[D]ie Welt ist böse, die Menschen sind böse, die Ebenbild Gottes sind, von ihm nach Wunsch und Willen geschaffen.«22 Pessimistisch stellt Weiß fest, daß der Teufel nicht bloß mehr Macht über den Menschen besitzt als das gute, das wohlwollende menschliche Prinzip, sondern daß auch die Einsicht des Bösen in das Innerste der menschlichen Triebe und Getriebenheiten tiefer ist, als die wohlmeinende, eudaimonistische Blickrichtung von der anderen Seite (KdE 166).
Dass auch die Bibel nicht nur vom Guten, sondern vom Bösen berichtet, liegt daran, dass das Gute ohne das Böse nicht zu denken ist. Die Genesis erzählt, wie sich der Mensch von Gott emanzipiert, und wie er das Böse als Kraft neben Gott zulässt. Gott hat den Menschen darüber aufgeklärt, dass der Baum der Erkenntnis nicht für ihn bestimmt ist, und ihm die Freiheit geschenkt, ihm zu gehorchen oder es zu unterlassen. Die Schlange suggeriert dem Menschen, dass er allumfassende Erkenntnis erhalten und wie Gott sein könne. Adam, in dem Weiß einen anthropologischen »Mythus«23 sieht, folgt der Versuchung. Doch alles, was er anschließend weiß, ist, dass er nackt ist, und mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnt das sichere Wissen um die eigene Sterblichkeit. Diese Versuchung beschreibt Weiß so: »Hier Gott, dort Gegengott.« (KdE 65). Für den sterblichen Menschen ergeben sich physische und moralische Übel aus der Polarität von Gut und Böse. Dennoch tut der Mensch gut daran, das Böse als Faktum zu akzeptieren. Hauptsache scheint mir: das Böse in den Mitlebenden, in allen Mitlebenden im tiefsten Herzensgrunde, also von Gott an, zu sehen, zu erkennen und trotzdem zu lieben oder ganz zu verzichten auf eine Verbrüderung hier oder dort. (KdE 53)
Den Grund dafür, dass auf der Erde immer wieder Gutes geschieht, sieht Weiß im Bedürfnis Gottes, den Menschen an sich zu erinnern. Eine solche Annäherung wird exemplarisch im Buch Hiob gestaltet. Hiob ist ein gerechter Mann, auf den Gott stolz ist, bis der Satan Gott zu einem Menschenexperiment anstiftet (ganz ähnlich wie in Goethes ›Faust. Erster Teil‹). Hiob soll leiden, um seine Standhaftigkeit gegen das Böse zu beweisen. Der Mensch erträgt die Last, bis er an den Strafen Gottes verzweifelt. Doch selbst im Zustand der Verzweiflung, des Nicht-Verstehens und des Elends hält Hiob an seinem Glauben fest. In Hiob versinnbildlicht sich damit der starke Mensch, der – etwa im Gegensatz 22 23
Ernst Weiß, Albert Ehrenstein. In: Juden in der deutschen Literatur, hg. von Gustav Krojanker, Berlin 1922, S. 63–70, hier S. 64. Vgl. Ernst Weiß, Nervöse Leute [Rezension Eugen Löwenstein]. In: National-Zeitung (Berlin), 5. Juli 1914, 1. Beilage.
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zu Faust – den Willen Gottes als letzte Instanz akzeptiert. Intellektuell bleibt Hiob der Wille Gottes zwar unerforschlich, doch moralisch hält er an ihm fest. Auf diese Moral kommt es letztlich an: Hiob nutzt die von Gott geschenkte Freiheit nicht, um dessen Willen zu hinterfragen oder zu negieren, sondern er nimmt sein Schicksal als gottgegeben hin. Weiß nutzt in seiner Hiob-Interpretation die Denkfigur der Polarität, um das Problem des Menschen mit dieser moralischen Werteopposition zu verbinden: Größe zeigt demnach nicht, wer mit seinem Schicksal hadert, sondern derjenige, der die Herausforderungen akzeptiert, auch wenn er sie nicht versteht. Ein Teil des Jüdischen scheint mir in seiner Bipolarität zu liegen. Bipolarität ist die Scheidung: zwischen Gut und Böse, zwischen Hier und Dort, zwischen Gott und Mensch. Bipolarität ist die Forderung des Juden nach Entscheidung. Urteil fordert der Jude, und sei es Todesurteil: Gottes oder des Menschen. In diesem Sinne wird das Buch Hiob das stärkste jüdische Dokument sein, und das, was Hiob ist, wird sich niemals wegdenken lassen aus der Geschichte des menschlichen Geistes.24
Hiobs Standhaftigkeit wird für Weiß zum Beispiel, dass der Mensch zwar von höheren Mächten abhängt, dass er jedoch trotz allem eine eigene Haltung gegenüber den (bipolaren) Grundbedingungen seiner Existenz entwickeln kann. Er hat die Freiheit zur Wahl und zur Selbstwahl, denn der Mensch kann sich entscheiden, wie er handeln will. Damit bleibt er allerdings moralisch in der Verantwortung.
3.
Existenz und Erkenntnis: Die Unhintergehbarkeit von Subjektivität
Dass er die Zusammenhänge zwischen sich und dem Kosmos zu erahnen vermag, ermöglicht dem Menschen seine Seele. Dass er die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos reflektieren kann, ermöglicht ihm sein Verstand. Der Mensch ist in der Lage, sich in größere Zusammenhänge hineinzudenken, auch wenn er sie nicht völlig durchdringen oder begründen kann: »Man erlauscht das höhere Gesetz, angedeutet, wenn auch nicht erschöpft, im immerhin irdischen Gegenstande.« (KdE 30). Damit ist aber auch eine Kehrseite verbunden: Der Mensch weiß, dass das, was er erkennt, nur ein Ausschnitt ist, der radikal begrenzt wird durch seine Subjektivität. Doch was ist dann überhaupt objektiv? Was kann der Mensch dann noch verbindlich über die Wirklichkeit aussagen? Diese zentralen Fragen beantwortete der Philosoph Immanuel Kant dahingehend, dass er das korrelierende Band zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit kappt: Über objektive Gegebenheiten, über ein Transzendentes vermag der Mensch nichts auszusagen. 24
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Weiß, Albert Ehrenstein, S. 64f.
Es bleiben ihm seine durch den Verstand gebildeten Formen des Denkens, um die Welt zu beschreiben. Diese Kategorien der analytischen Beschreibung sind ›transzendental‹, denn sie finden ihren Fluchtpunkt in der Vernunft des Menschen als einer abstrakten Kategorie.25 Weiß teilt Kants Vorstellung, dass der Mensch über das Transzendente nichts wissen kann. Allerdings zieht er daraus eine andere Konsequenz und folgt Kierkegaards Thesen: Die Vernunft als abstrakte Kategorie bietet keine letzte Gewissheit, um intersubjektiv gültige Aussagen zu machen. Der Mensch ist und bleibt als Einzelner in seinem Denken radikal subjektiv. Das ist sein Schicksal, seine große moralische Herausforderung. Und wenn nichts mehr verbindlich gewusst werden kann, bleibt dem Menschen nur noch eines: der Glaube.
3.1. Das Existenzproblem des Menschen: Der Tod als Grenze Mit dem Tod als Gewissheit des Menschen habe ich sein existenzielles Problem schon benannt. Einerseits weiß der Mensch, dass er ein endliches Wesen ist; andererseits ahnt er, dass er einmal unsterblich war. »Wir und Gott sind die einzigen, die begreifen, wir fassen, wir halten. Wir sind die nennenden, die richtenden, die rechtenden.« (KdE 90). Der Tod stellt den Menschen vor das epistemische Problem, dass er ihn nicht begreifen kann, denn dazu bedürfte es eines Bezugspunktes außerhalb seiner selbst. In seinem Essay ›Passionsweg der Zeit‹ (1925) macht Weiß auf dieses Dilemma aufmerksam: »Es kann kein bloßer Zufall sein, daß wir, sobald wir mit unseren Worten in die Nähe des Todes kommen, phrasenhaft werden.« (KdE 38). Der Mensch kann seine eigene Subjektivität nicht hintergehen und kommt deshalb über diese epistemische Grenze nicht hinaus: »Daß aber ein kontinuierlich denkendes, ein kontinuierlich existierendes Wesen sein Nichtexistieren sich durch irgendeinen Kunstgriff sollte vorstellen können, das ist grundsätzlich unmöglich.« (KdE 39).26 So wird der einzelne 25
26
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Transzendentale Ästhetik. In: Kant, Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen bzw. Göttinger Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., Bd. 4 (1911), S. 59f: »Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung nichts als Vorstellung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das in sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur unsere subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Objekte in Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. Was es für eine Bewandtnis mit den Gegensätzen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt.« Hierin stimmt Weiß mit Kierkegaard überein, der in seiner Schrift ›Die Wiederholung‹ zu einem ähnlichen Schluss kommt: »Ich kann mich selbst umsegeln; aber ich kann nicht über mich hinauskommen, den archimedischen Punkt vermag ich nicht
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Mensch nie wirklich wissen, warum er gelebt hat, und was sein Leben für die Menschheit bedeutet. »Der Tod erlöst, wenn einen, dann nur den Sterbenden, und zwar von sich.« (KdE 44). Je nach dem, wie bewusst sich der Mensch über diese Tatsache wird und welche Haltung er ihr gegenüber entwickelt, kann er zum Vorbild oder zum abschreckenden Beispiel, zur tragischen oder zur komischen Figur werden: »Zur Hälfte wissend, zur Hälfte blind ist selbst der Weiseste, aber auch der Törichte kennt kein anderes wissendes Wesen unter Gottes Sonne als sich und seinesgleichen.« (KdE 173). Im Tod und damit im fragwürdigen Sinn menschlicher Existenz sieht Weiß nicht nur ein tragisches Dilemma, sondern auch eine Chance: Wer keine objektive Gewissheit mehr erlangen kann, kann durch eigene Sinnsetzungen zu (Lebens-)Erklärungen gelangen.27
3.2. Das Erkenntnisproblem des Menschen (1): Augenblick und Ewigkeit Wenn der Mensch aus seiner Wahrnehmung keine objektive Gewissheit mehr ziehen kann, wie kann er dann überhaupt etwas ahnen, das jenseits des Moments, des bloßen Augenblicks liegt? Um diese Frage zu beantworten, rekurriert Weiß erneut auf die Seele als jenen Ort, in dem sich die Ewigkeit des Alls und die Zeitlichkeit des Individuums treffen. Die Kategorie der Zeit ist für Weiß dabei eine sowohl empirische als auch eine philosophische Größe. Ihre »Kontinuierlichkeit, das unaufhaltsame Weiterfließen« der Zeit wird dem Menschen zum Grunderlebnis seiner Existenz: »Die Kontinuität ist die Ewigkeit im Zeitlichen.« (KdE 43). In diesem Sinn beschreibt Weiß in seinem Essay ›Recentissime oder die Zeitung als Kunstwerk‹ die Zeit als eine ›Synthesis‹ von Endlichkeit und Unendlichkeit, aus Augenblick und Ewigkeit. Beide Größen sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Jenen Moment, in dem beide Aspekte der Zeit aufscheinen, nennt Weiß ›Aktualität‹. Sie ist eine philosophische Größe, die nicht nur das Geschehene und Geschehende, sondern auch alles bloß Vorstellbare umfasst: Alles, was sich auf dem Erdenrund, in seiner kosmischen Umgebung auf dem Sternenhimmel, im lebenden Herzen oder in den Eingeweiden seiner Bewohner, in den Träumen und Gedanken von Mensch und Tier jemals ereignen kann, ist aktuell, das heißt, es ist im Geiste möglich. Dieser Begriff der Aktualität ist einer der weitesten von allen, die der menschliche Geist geschaffen hat. (KdE 103)
Die ›Aktualität‹ ist eine »Frage über Tod und Leben hinaus« (KdE 103) und für Weiß eine erkenntnistheoretische Denkfigur. Aktuell ist nicht nur das »Ephe-
27
70
zu entdecken.« – Vgl. Kierkegaard, Die Wiederholung, S. 59, und Oehm, Subjektivität, S. 44. Vgl. Kindt/Müller, Zweimal Cervantes, S. 28–35.
mere«, sondern auch »das seelisch Aktuelle« (KdE 104). Beide Formen von Aktualität, die ephemere und die seelisch-zeitlose, lassen sich am Weltgeschehen extrapolieren: Wenn in den Zeitungen über die Eroberung der Erdenpole, über Bismarcks Sturz, über die Mörderverschwörung gegen Rathenau oder die »Geheimnisse und Bekenntnisse eines Verurteilten aus der Zelle« berichtet wird, handelt es sich nicht nur um einzelne Vorfälle, sondern um Menschheitsereignisse (KdE 103). Der Mensch muss lernen, nicht die Tagesaktualität als »sichere[s] Wissen« zu begreifen, sondern die tieferen Schichten des Geschehenen auf ihren Sinn hin auszuloten. Diese verborgenen Dimensionen der ›Aktualität‹ haben für Weiß einen transzendendierenden Charakter: Wir lernen unaufhörlich, nur wissen wir nie etwas ganz. Wir wandeln uns unablässig, ändern uns aber im Wesensgrunde nie. Wir sehen ohne Unterlaß die Welt, erkennen sie aber nie ›im Grunde‹. Wie wäre es denn auch anders möglich? Im Grunde ist es dunkel. Nur dieser Umstand unterscheidet ihn von der Oberfläche. (KdE 104)
Bislang haben es nur die (Welt-)Religionen und die religiöse Philosophie geschafft, neben dem Irdischen auch das Transzendente dieser Aktualität, ihren »dunklen Grund«, mit auszudrücken. Der Geist dieses Aktuellen ist der »Geist des Höchsten und Notwendigsten« (KdE 105, Hervorhebung im Original). Dort, wo Augenblick und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit in einer praktischen Lebensauffassung verschmelzen, werden dem Menschen neue Perspektiven möglich: Er nimmt seine Existenz im ›Fluss des Lebens‹ wahr und gewinnt eine neue Sicht auf die Frage nach Zeit und Ewigkeit. Wo dies geschieht, kann sich auch »die Religion täglich neu aus dem aktuellen Augenblick entwickeln« (KdE 105).
3.3. Das Erkenntnisproblem des Menschen (2): Wirklichkeit, Sprache und Seele Neben der Zeit hat die Sprache für die Selbstvergewisserung des Menschen eine zentrale Bedeutung. Nach Weiß ist auch sie eine transzendierende Kategorie: Auch sie hat »das doppelte Gesicht, wie es alles wahrhaft und im tiefsten Sinn Erfasste auf Erden zeigt« (KdE 12), sie ist Ausdruck des menschlichen Geistes und der Seele: »Erst die Sprache macht den Menschen zum Menschen.« (KdE 11). Die Sprache besitzt der Mensch von Anbeginn: Sie wurde ihm nicht von Gott gegeben, sondern sie kommt aus ihm heraus.28 Seitdem wird sie von Generation zu Generation vererbt, genauso »wie die Erbsünde, mit der die Sprache viel
28
Vgl. Gen 2,19–20: »Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes.«
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gemeinsam hat« (KdE 11). Sie ist Kommunikationsmittel und – wie die Kunst – Medium des Menschen, um sich »den höheren Sphären, den durch Logik nicht erreichbaren Lebensbezirken anzunähern«. Die Sprache hat die Tendenz, »aus dem Irdischen ins Überirdische aufzusteigen und aus dem vergänglichsten Hauche der vergänglichsten Brust ein Siegel für den ewig dauernden Bund zu prägen« (KdE 16). In diesem Sinne ist die Sprache sowohl konkret als auch transzendent. Um dies zu zeigen, verwendet Weiß erneut ein Bild aus der Bibel: Einst war die Sprache Teil des Bundes mit Gott und der Einheit der Menschen. Doch dann baute der Mensch den Turm zu Babel, um in den Himmel zu gelangen und zu sein wie Gott. Um diese Hybris zu bestrafen, zerstörte Gott die Einheit der Sprache und damit die »mystische Insel im Getriebe der Welt« (KdE 11).29 Auf die Sprache der Seele folgte die Vielheit der Ausdrücke und des Sinns. Die Sprachgemeinschaft des biblischen Mythos wird von den einzelnen Sprachen der Völker abgelöst. Die Vielheit der Sprachen ist der tiefste, der wahrhaft beweisende Ausdruck für die Feindschaft zwischen Mensch und Mensch. Hier setzte das Alte Testament den Zorn Gottes als unverrückbaren Markstein mitten in die Historie der lebenden Geschlechter. Wohl mag einmal Gott die Sprache der Menschen sprechen, aber untereinander sollen die Menschen einander sich in dem Maß nähern dürfen, wie sie sich von den anderen entfernen. Die Völker sind durch Sprachen wie durch Ruten aneinander gebunden. (KdE 16)
Von seiner »religiösen Funktion« ist das Wort »hinab zu dem praktischen Mittel [gesunken], einander zu verstehen, sich miteinander in Verständnis zu setzen oder sich, kontradiktorisch, auseinander zu setzen« (KdE 12). Doch auch das gelingt den Menschen nicht bis ins Letzte. Die Problematik, etwas verständlich machen zu müssen, das nur im Geiste existiert, führt in ein Dilemma, das der babylonischen Sprachverwirrung gleicht. »Die ultima thule menschlicher Gemeinschaft ist der Turmbau zu Babel.« (KdE 16). In einzelnen Momenten vermag die Sprache der Literatur die Vielheit der Alltagssprachen aufzuheben – dann, wenn sie auszudrücken vermag, was »Hinter-den-Dingen« (KdE 32) liegt. Weiß propagiert ein literarisches Erzählen, das »die Grundformen des menschlichen Wesens« nachvollzieht und damit zeitlose Gültigkeit erlangt: 29
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Vgl. Gen 11, 1–6: »Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. […] Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. […] Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen […]. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so daß keiner mehr die Sprache des anderen versteht.« (Hervorhebung im Original).
Ob nun ein einzelner oder ein Volk bei diesen Gestalten mitgedichtet hat, sie sind nicht aus der Beobachtung der fremden Welt entstanden, sondern dem Flusse des eigenen Daseins entsprungen, dem Überflusse einer zweideutenden, einer umfassenden Seele. (KdE 18)
Dass Weiß hier auf Analogien zwischen mythischem und modernem literarischen Erzählen anspielt, liegt auf der Hand: »Wilde Völkerschaften, wie Südseeinsulaner, Eskimos und Lappen erzählen schlechthin vollendet.« (KdE 17). Für die moderne Literatur bleibt hingegen das ›Leben‹ der zentrale Bezugspunkt: Der Greis »empfindet den Durst, nochmals zu leben, in dem Augenblicke, da er nochmals sich reden hört. Er erzählt, solange er atmet. Solange er atmet, solange er lebt.« (KdE 18).
4.
Immanente Transzendenz und Ethik: Kunst, Glaube, Geschichte, Mythos
Weiß war Zeit seines Lebens davon überzeugt, dass der »metaphysische Gehalt des Glaubens« (KdE 105) eine wesentliche Voraussetzung für ein Gelingen der Suche nach dem Sinn des Daseins darstellt. Allerdings stellt sich der Autor diesen metaphysischen Gehalt als immanent erfahrbar vor. Es gibt für Weiß, wie gesagt, kein abgetrenntes Jenseits, sondern nur ein auf ein ›Weltgesetz‹ hin transzendierendes Diesseits.30 Diese Vorstellung teilt Weiß mit Kulturen, in deren Religion und Philosophie eine solche Trennung der Sphären seit je aufgehoben ist. Buddhismus und Taoismus setzen dem bipolaren Menschen des Abendlandes ein ganzheitliches Menschenbild, seiner Religion vom Jenseits eine immanente Transzendenz entgegen. Die Leichtigkeit des ›Möglichen‹, des nicht Endgültigen, und die Vollendung menschlichen Strebens im Leben sind in diesen Kulturen zu Ende gedacht. Die Menschen des Ostens, die Chinesen, und in Europa die Mohammedaner waren von diesem Zustand einmal nicht allzuweit entfernt. Es ist bewundernswert, daß diese Menschen sich aus praktischer Lebensauffassung [...] eine übersinnliche und dennoch stets aktuelle Religion zu bauen verstanden. (KdE 105)
China bewährt sich in der Welt, indem es nicht ihre Gegensätze, sondern ihre Ganzheitlichkeit betont. Das Wissen des Ostens ist, dass der Mensch »tiefer [ist] als die Welt, die er begreift«, und dass es um die »innere Dauer eines Daseins«
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Zum Begriff der immanenten Transzendenz vgl. Wolfgang Rothe, Metaphysischer Realismus. Literarische Außenseiter zwischen Links und Rechts. In: Rothe, Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S. 255–280, hier S. 271: »Man könnte sie eine immanente Transzendenz nennen, denn die Absolutheitsgrenze wird in das erlebende Ich verlegt; das Jenseits befindet sich in der Person, im Diesseits [...].«
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(KdE 41, Hervorhebung im Original) geht, die vom Gedächtnis festgeschrieben wird. Damit ist in wenigen Worten jene Transzendenz umrissen, die Weiß als Gegenentwurf zur sichtbaren Welt dient. Sie setzt voraus, dass sich der Mensch nur im Diesseits erfahren kann, dass sein Geist jedoch nicht nur von dieser Welt ist. In diesem Kontext spielt das Vorbild bedeutender einzelner Menschen eine ebenso große Rolle wie die Setzung eines Glaubens, der sich der realen Existenzbedingungen des Menschen bewusst ist. Dieser Glaube erweist sich, allen rationalen Einwänden zum Trotz, als Modus, die menschliche Existenz zu erfassen.
4.1. Die Denkfigur der Ganzheit (1): Innere Erleuchtung durch die Kunst Der Mensch, konstatiert Ernst Weiß, kann über die Wirklichkeit des Universums nichts wissen, er kann sie nur ahnen. Diese Vorstellung hat auch Konsequenzen für die Art, wie der Mensch Erkenntnisse über sich selbst gewinnt. Der Autor unterscheidet dabei eine ›innere‹ von einer ›äußeren‹ Erleuchtung: Beide führen zu einem erweiterten (Selbst-)Bewusstsein und zu einer höheren moralischen Handlungsbereitschaft. Die ›innere‹ Erleuchtung ist eine Form des ›seelischen Wiedererkennens‹: Die Seele erinnert sich an transzendente Inhalte, die ihr selbst zu Eigen waren, und die den Menschen in einen Zusammenhang mit dem (zeitlosen) Kosmos stellen. Nach Weiß’ Vorstellung kann die Kunst eine solche ›innere Erleuchtung‹ auslösen: Wie schon bei Schopenhauer und Nietzsche verwaltet sie auch bei Weiß die Restbestände der europäischen Metaphysik. Der Begriff der ›Kunst‹ schließt dabei alle musischen Formen ein: Musik, bildende Kunst und Literatur. Beim Hören einer Symphonie wird der Mensch vom Rhythmus angerührt, bei der Betrachtung eines mittelalterlichen Tafelbildes von der Komposition und den Farben, beim Lesen eines poetischen Textes von Sprache und Form. Wie Lindner gezeigt hat, wird die Dynamik des ganzheitlichen Lebens bei vielen Autoren der Epoche mit der Rhythmus-Metapher dargestellt.31 Auch bei Weiß findet sich der musikalische Rhythmus als Metapher für den Weltenrhythmus. Romantische Werke etwa, zur Aufführung gebracht, lassen metaphysische Zusammenhänge ahnen. Ihr Rhythmus wandelt sich, er faßt uns selbst, die wir lauschen, in sich, wir müssen folgen, er wächst an unserer Brust, wie sie sich weitet, er verengt sich mit der Angst unseres Herzens, wenn er näher, härter dringt an das innerste, zarteste, unverletzlichste Geheimnis unserer Existenz (KdE 31).
Der Rhythmus löst eine Bereitschaft zur Einfühlung in das Schöne und Erhabene des Kunstwerkes aus, das einer transzendenten Sphäre geheimnisvoll verbunden ist. Hörer, Betrachter oder Leser werden in einen Zustand versetzt, der 31
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Vgl. Lindner, Leben in der Krise, S. 105.
jenem der ›unio mystica‹, der »Einung von Mensch und absolutem Sein«32 , recht nahe kommt. Statt Gottes Prophet ist es nun die »Leben spielende Kunst« (KdE 30, Hervorhebung im Original), die dem Rezipienten diese mystische (Selbst-) Erfahrung ermöglicht. Sie deutet ihm die Sphäre eines ›Heiligen‹ an. Wir wissen es, wir fühlen es mit letzter Gewißheit. Mit unserer ganzen Erbärmlichkeit gleiten wir an diesen gottgewollten Werken herab auf unsere Knie: wir begreifen, daß wir sterben und verenden können an eben dieser Vergänglichkeit, daß wir ersticken in den Netzen dieser unserer Grenzen. Aber ein Leben steht hinter diesem Leben. Ein hoher Sinn hinter der Erscheinung. (KdE 34f.)
In der Kunstbetrachtung wird sich der Mensch der Schaffenskraft des Menschen gewahr. So erfährt der Betrachter des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald nicht nur das Göttliche, das den Künstler angetrieben haben muss, sondern auch das »Christushafte in uns selbst« (KdE 35). Die Kunst leitet damit eine Selbsterfahrung ein, die über den konkreten Augenblick hinausgeht und den Betrachter eine transzendente Sphäre ahnen lässt. Mit diesem Kunstverständnis zeigt Weiß eine gewisse Übereinstimmung sowohl mit der deutschen Klassik als auch mit den Vertretern der Lebensideologie.33 In seinem Essay ›Der Vorwurf in der Kunst‹ von 1922 stellt Weiß die Beziehung zwischen der Kunst und dem Leben außerdem dadurch her, dass er die (Lebens-)Erfahrung als den Stoff eines Werks, das (Gesamt-)Leben hingegen als die Idee oder Matrix dessen bezeichnet, dem die Kunst folgt. Der Vorwurf (welch doppelsinniges Wort!) eines Kunstwerkes kann einfach der Stoff sein, aus dem das Kunstwerk gearbeitet ist, die schwere Materie, an der sich die Kraft, das Können, die Leistung bewährt, – Vorwurf kann aber auch das Ideal sein, das nie zu erreichende Vorbild, und ein solches ist oft das Leben selbst. (KdE 30)
Die Meisterwerke der Kunst überwinden kulturelle und sprachliche Grenzen unabhängig vom Ort und der Zeit ihrer Entstehung. Sie enthalten Botschaften, die der erlebende Betrachter auf nachfühlende Weise versteht – ganz gleich, wie alt das Kunstwerk ist. So sind die Meisterwerke auf ihre Weise eine ›Synthesis‹ aus Endlichem und Unendlichem, denn sie überwinden Raum und Zeit. Als ein Beispiel aus der Literatur führt Weiß dafür die ›Odyssee‹ an (KdE 34): Ihr Dichter, Homer, ist unsterblich geworden, da er in seinem Werk weiter fortlebt und -wirkt. »Dadurch, daß ein Werk seine Spuren in die Seele eines weiter fortwirkenden Menschen gräbt, zeugt es selbst, es pflanzt sich fort, verwandelt, zum Sohn geworden, trägt es die alten Züge in einer neuen Erscheinung.«34
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Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 51991, S. 509. Vgl. Anz, Literatur des Expressionismus, S. 161. Ernst Weiß, Hans Jäger. In: Prager Presse, 27. Januar 1922, S. 5f., hier S. 5.
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4.2. Die Denkfigur der Ganzheit (2): Äußere Erleuchtung. Ethik der Heroen Ist die ›innere‹ Erleuchtung ein Akt des Angerührtwerdens und einer ästhetischen Erkenntnis, so geschieht die ›äußere‹ Erleuchtung durch die moralische (Selbst-) Erziehung des Menschen. Sie bildet auch die Basis für seinen gesellschaftlichen »Moralbegriff« (KdE 41). Für Weiß steht fest, dass es dem Menschen als eine sittliche Aufgabe zufällt, den Sinn seiner Existenz angesichts des Absurden auch ohne vorgegebene Sinnkonstruktionen zu finden und zu gestalten: Allein, seine ganze gesammelte Existenz dem Unabwendbaren kühn entgegengehalten, das Leben nicht durch Leiden, sondern trotz dem Leiden überwindend, es kraft der Halbgotteigenschaften des schwach geborenen Menschen zu Ende lebend und über sich hinaus, nüchtern, stumm, in keuscher Heiterkeit, nicht gestört durch das Dröhnen kosmischer Gewitter, zerreißender Altardecken und verlöschender Sonnen, so steigen diese Menschen aus der Reihe von uns allen in einen höheren Kreis. (KdE 98)
Damit berührt Weiß auch die Frage nach der Freiheit des Menschen. Der Mensch hat die moralische Pflicht, die guten Eigenschaften an und in sich zu entwickeln. Dies gelingt, wenn er sich durch sein Tun und Handeln als Vorbild in der Welt manifestiert. Zu den Menschen, die solches erreicht haben, zählen Forscher, Künstler und Humanisten, aber auch herausragende Führungspersönlichkeiten der Geschichte. Selbst Jesus Christus ist für Weiß in diesem Sinne ein Vorbild – nicht als Erlöser, aber als beispielgebender Heiliger (vgl. KdE 41f.). Heroen sind in Weiß’ Begrifflichkeit ›Heilige‹ vor dem Horizont der Geschichte: Sie erreichen aus eigener Kraft einen Ausgleich der Pole und schaffen sich eine maßvolle Existenz (vgl. KdE 41). Ein Held ist demnach ein Mensch, der »sein eigenes System wird, und dadurch beispielhaft für die Welt. Ein in seiner Art großer Gesetzgeber: erst einmal Gesetzgeber seines eigenen bewußten Daseins und in zweiter Linie Gesetzgeber für alle, die ihn sehen. So kommt er dem Urwesenhaften nahe« (KdE 311). In diesem Sinne ist auch der Pädagoge ein Vorbild, da er an die »Bildungs- das heißt: Besserungsfähigkeit« (KdE 87) des Menschen glaubt. Solche Lehrer waren Rousseau oder Platon und Augustinus, aber auch Amos Komenius und Tomáš Masaryk. Böhmen (es ist sehr schade, daß die Tschechoslowakei diesen wundervollen Namen nicht offiziell kennt) hat von jeher große, das heißt selbstbescheidene, ihrer Grenzen klar bewußte Lehrer hervorgebracht, vom Amos Komenius bis zu Masaryk, vielleicht kommt der Lehrer der neuen Völker und Menschengemeinschaft, der Begründer einer Renaissance II., aus diesem herrlichen, dunklen, aber nicht unheimlich, sondern eher gemütlich dunklen Boden. (KdE 124)
Darüber hinaus sieht Weiß vor allem in den östlichen Kulturen die Vorstellung verwirklicht, dass der Mensch es wert sei, »erzogen zu sein. Das ist die Maxime der chinesischen Weisen, und von hier wäre auch eine Brücke zu schlagen zu dem Lebenswerk des Amos Komenius, zu dem tiefsten Geheimnis der böhmi76
schen Wälder« (KdE 59). Zwar wird es kaum möglich sein, das Wesen des Menschen, der auch böse ist, grundlegend zu ändern, doch kann Erziehung immerhin dazu beitragen, ihn von seinem »biblisch bösen Sinn abzubringen« (KdE 87). Ein solcher Optimismus erweist sich, bei einer rationalen Betrachtung der Dinge, zwar als ebenso absurd wie ein bewusst gesetzter Glaube an einen höheren Sinn. Doch lassen ein solcher Glaube und ein pädagogischer Optimismus den Menschen sinnvoller leben und Gutes tun. Beide, Glauben und Erziehung, verleihen ihm Würde.
4.3. Die Denkfigur der Ganzheit (3): Glaube als innere Haltung zum Leben Den vielen Erscheinungen der Gegenwart fehlt, wie Weiß mehrfach konstatiert, der archimedische Punkt. Es gibt keinen a priori verbürgten Sinn mehr, doch ohne Sinn bietet sich dem Menschen sein Dasein als ein Absurdum dar. Warum lebt er? Was bleibt von ihm? Weiß postuliert, dass dieses Leben trotz allem einen Sinn haben muss, und dass dieser Sinn nur durch einen logisch nicht zu begründenden, gleichwohl rationalen Glauben gefunden werden kann. »Glauben« meint im Weiß’schen Sinn eine aktive Haltung, eine Entscheidung, sich den Voraussetzungen und Gegebenheiten des Lebenslaufes zwischen Himmel und Erde zu stellen. Wie liegt in dem Worte credo schon die ganze namenlose Freudigkeit des einzelnen! Gegen diese Freudigkeit gibt es keinen Beweis. Auch trotz der letzten satanischen Logik der Welt rauscht unnennbar in emporgewehtem Schwung dieses Gefühl der Freudigkeit und ist durch nichts zu erschüttern. Es ist ein Zeugnis des rasendsten Lebensgefühles, zu glauben. Das heißt: das gemußte zufällige Leben durch den gläubigen Willen nochmals dauernd zu schaffen. Das heißt es, wenn einer sagt, fühlt und beweist, er glaube: kraft des Unmöglichen. (KdE 66, Hervorhebungen im Original)
Dieser Glaube ist, unter logischen Gesichtspunkten, genauso absurd wie die menschliche Existenz. Er ist moralisch gesetzt, doch ohne festen Fluchtpunkt und ohne dogmatische Wahrheiten. Eine solche Auffassung vom Glauben ist sowohl der Kant’schen Vernunftreligion35 als auch Kierkegaards Vorstellung vom Menschen als eines Glaubenden verwandt, der sich des Sinns seines Daseins nur 35
In seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ hatte Kant eine Moralität beschrieben, die an der Einsicht in die Endlichkeit des Daseins festhält und aus dieser Einsicht zu einer neuen Erhabenheit gelangt. Nach Kant beweist der Tugendhafte, der sich am moralischen Handeln orientiert, die praktische Realität der Idee der Freiheit. Seine Entscheidung ist durch die Vernunft bestimmt. – Vgl. dazu Peter Fischer, Philosophie der Religion, Göttingen 2007, S. 111ff., hier S. 115: »Kants Vernunftreligion kann als Darstellung einer wichtigen Funktion der Religion verstanden werden, nämlich der Funktion, die moralische Motivation und Standhaftigkeit angesichts der Schwäche des Menschen und der kontingenten Umstände seines Lebens zu stärken.«
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irrational versichern kann.36 Das Christliche wird bei Kierkegaard nicht durch den Verstand gesetzt, sondern im Existenzvollzug als ein Unbegreifliches erfahren.37 Bei Weiß bleibt die Annahme eines Glaubens eine formale Setzung: Er übernimmt von Kierkegaard nicht den Versuch, die menschliche Existenz auf Gott hin zu explizieren, konstruiert aber – ähnlich wie Kierkegaard – eine Werteordnung, die das Problem des Glaubens mit dem Problem der Lebenshaltung verknüpft.38 So wie Kierkegaard ein ästhetisches, ethisches und religiöses Stadium des Menschen auf dem Weg zu Gott entwirft, so konstruiert Weiß drei mögliche (Glaubens-)Haltungen. Zwar fehlt bei ihm die Kierkegaard’sche Stufe des religiösen Stadiums, doch fügt der Autor seinem Dreischritt stattdessen ein Vor-Stadium menschlicher Selbstwerdung ein, das des (dämonischen) ›Egozentrismus‹. Damit bleibt das ethische Stadium für Weiß das höchste, das der existenziell gestimmte Mensch in seinem Leben überhaupt erlangen kann. Die ethische, welche Gott-Ordnung und Gerechtigkeit heißt, die Entscheidung Hiobs, sie ist die bitterste und fruchtbarste zugleich. Die zweite ist die ästhetische, die Auflösung der als unrettbar ungerecht erkannten Welt wenigstens in der Schönheit, in der Harmonie der Sternensphären, im Troste des überirdischen Einklangs. Dies ist die Gnadenwahl Goethes, und man kann in der italienischen Reise den Wendepunkt sehen, wo er von der Gerechtigkeit zur Ordnung, zur Schönheit, zum gefälligen Maß, zum freundlichen Leben übergeht. [...] Die dritte Lösung ist die egozentrische, monomanische, die sowohl die gerechte Entscheidung als auch die gefällige, schöne Harmonie draußen läßt und dafür durch Bändigung der inneren Triebe oder aber durch fesselloses Walten dieser innern Triebe sich Frieden innerhalb des eigenen Wesens zu schaffen sucht. (KdE 78f.)
Aus der Möglichkeit dieser (Selbst-)Wahl speist Weiß seine Überzeugung vom Daseins-Sinn des Einzelnen. Auch wenn der Mensch zum Spielball des Schicksals wird, so hat er doch die Chance einer Selbstbehauptung. Weiß schöpft mit seinem ›Credo quia absurdum‹ – bei aller verbalen Analogie zu den Kirchenvätern Augustinus und Tertullian – nicht aus der christlichen Metaphysik, sondern aus dem Vertrauen in die Kraft des Menschen. Sein Standpunkt gleicht darin
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Zu Weiß’ Kierkegaard-Lektüre vgl. Müller/Tatzel, »Das Klarste ist das Gesetz«, S. 15–21. Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 95: »[K]ann irgendein Mensch dieses Christliche begreifen? Keineswegs, es ist ja auch das christliche, also zum Ärgernis. Es muß geglaubt werden. Begreifen ist die Fähigkeit des Menschen im Verhältnis zum Menschlichen; aber glauben ist das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen. Wie erklärt denn das Christentum dieses Unbegreifliche? Ganz konsequent, auf eine ebenso unbegreifliche Weise, mit Hilfe dessen, daß es geoffenbart sei. [...] [C]hristlich [...] heißt es: Dir geschehe, wie du glaubst [Mt 9, 20] oder, wie du glaubst, so bist du, Glauben ist Sein.« (Hervorhebung im Original). Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder – Oder. Zweiter Teil. In: Kierkegaard, Gesammelte Werke. Hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Düsseldorf/Köln 1950ff., 2./3. Abt. 1957, S. 190–255.
den Thesen des Philosophen Hans Vaihinger, dessen Philosophie des »Als ob« (KdE 74) eine pragmatische Annahme im Glauben formuliert, weil der Mensch nicht (mehr) wissen kann.39 Auch für Weiß bedeutet der rationale Glaube vor allem eine selbst gewählte Haltung: »Und es ist absurd, aber es ist dennoch unser Glaube, kraft des Unmöglichen: Unendliches erwartet uns.« (KdE 71).
4.4. Die Denkfigur der Ganzheit (4): Andenken, Geschichte und Mythos Weiß’ Vorstellung von der Rolle des Individuums und die überzeitliche Bedeutung einzelner Menschen hat auch Auswirkungen auf seine Definition von Geschichte. Für Weiß bedeutet Geschichte nicht die Chronik von Fakten und Ereignissen, sondern er begreift sie als seelische Menschheitsgeschichte. Dabei unterscheidet er zwei Arten von Geschichte: Zum einen die Weltgeschichte, die sich als Kategorie des abstrakten Denkens manifestiert, und zum anderen die (Lebens-) Geschichte des Einzelnen, die sich im Andenken als einer Kategorie der subjektiven Erfahrung zeigt. Das Andenken der Ahnen etwa dient als »Stütze der Sittlichkeit bei allen großen Kulturen, besonders den östlichen« (KdE 41). Es stellt einen Moralbegriff dar und ermöglicht die immanente Transzendierung eines Lebens über die Zeitläufte hinweg. Etwas Gutes, Warmes, Vertrautes bietet sich unseren Ahnen, das uns aber, im Gegensatz zu dem strengeren, adligeren Osten, nicht zur Ahnenehrung verpflichtet. Etwas in die unabsehbare Zukunft Hindeutendes (aber es deutet nur und bedeutet nichts an sich), offenbart sich uns in den Kindern, und wenn eine werdende Mutter auf ihren gewölbten Leib deutet und sagt: hier ist, was der Mensch Unsterblichkeit nennt, wer wollte sie dann Lügen strafen? (KdE 92)
Die Weltgeschichte stellt für Weiß keinen zielgerichteten Prozess dar, sondern eine Wiederholung in »Wellenbewegungen« (KdE 58). Menschliche Geschichte vollzieht sich zyklisch, führt in Hochkulturen, Blütezeiten und Niedergänge, sie kennt die Dynamik des Werdens und Vergehens. Mächteverhältnisse verschieben sich, Völkerherrschaften werden abgelöst. Weiß bemerkt auch, dass sich niemals ähnliche Herrschaftsformen ablösen, sondern dass auf schöpferische Regentschaften häufig pragmatische Kulturen folgen. Götterhaft war es, daß Babylon stürzte und Assur auferstand. Daß das Perserreich verging und Griechenlands volle Sonne über den gezackten Felsen und silbergrauen, leicht umgrünten Bergen sich ergoß. Daß Griechenlands müder gewordenes Licht dann
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Vgl. Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche [1911], Leipzig 1927, Punkt D: »Erkenntnistheoretische Konsequenzen«, S. 286–327.
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niedertauchte und das kluge Auge Roms die Welt kalt überblickte: ›Was ich erfasse, ergreife ich. Was ich ergreife, behalte ich. Was ich behalte, wird ich.‹ (KdE 75)
Griechenland wird durch Rom abgelöst, auf das philosophische Zeitalter der Aufklärung folgt die französische Revolution. In Rom wird eine Staatsphilosophie geboren, die mit ihrer Kategorie der ›Ordnung‹ und ihrem Utilitarismus den Okzident prägt. Die französische Revolution überwindet mit der Aufklärung ein vernünftiges Zeitalter, das sich um den Bildungsfortschritt, nicht aber um die Prämissen der seelischen Erziehung gekümmert hat. Nur der zeitlich letzte Aufklärer, Jean Jacques Rousseau, setzt sich in seinem Werk ›Émile‹ mit der Bildung des Einzelnen auseinander und lenkt so den Blick auf die Bedeutung menschlicher Erziehung. Die französische Revolution ging nicht an das Metaphysische, sondern an das Wirkliche, nicht die Erbsünde wird bekämpft, sondern die großen und kleinen Mißstände, man betet nicht mehr, sondern erkennt die Welt. Man ordnet. Man ordnet die Welt einem Sinn unter, einer Idee, einer Utopie, einem Schlagwort […]. Dieses Wort lautet: Der Mensch ist eines Fortschritts fähig. Er ist zu erziehen. Die ganze Revolution ist nichts als ein grandioser Erziehungsversuch, niemand kann das Schulmeisterliche in der Bewegung verkennen […]. (KdE 59)
Für Weiß folgt aus diesen Überlegungen, dass schöpferische Zeitalter einen anderen Begriff vom Individuum haben als pragmatische Epochen. Anders ausgedrückt: Kulturelle Zeitalter entwickeln eine differenziertere Vorstellung vom Individuum, weil sie den Einzelnen in den Mittelpunkt stellen. Geschichte ist letztlich nicht das Geschick der Masse, sondern des Einzelnen. Um sie in irgendeiner Form erklärbar zu machen, bedarf es einer Beleuchtung der Rolle einzelner Menschen. Indem der Autor immer wieder Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt, interpretiert er die Geschichte gemäß seiner eigenen Theorie in »Wellenbewegungen«40. Menschliche Katastrophen, heldenhafte Taten und humanistische Ideen kehren in einzelnen Herrschaftsformen und Kulturen in regelmäßigen Abständen wieder. Dass Weiß dieses Geschichtsverständnis auch in seinen Erzählungen umsetzt, werde ich am Beispiel von ›Daniel‹ zeigen.
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Vgl. Ernst Weiß, Bruno Meißner: Babylonien und Assyrien. In: Berliner BörsenCourier, 19. Mai 1925, S. 5. – Weiß beschließt die (wissenschaftliche) Darstellung von Babylonien mit einem Vergleich des babylonischen Exils und der Situation in Europa nach dem Ersten Weltkrieg: »Das Babylon im Exil würde uns auch noch deutlicher den Weg durch die drei oder vier Jahrtausende bis 1925 weisen, denn es mag sein, daß wir heute noch in manchem unter dem Weltbaume Babylons ruhen und seines grünen Schaffens uns freuen.«
5.
Skizze einer Poetik von Weiß: Die Semantik der Form
Michael Voges hat bemerkt, dass Weiß keine systematische Poetik hinterlassen hat, was ihn dazu bewog, dem Autor »die Fähigkeit zu methodologischer Reflexion weitgehend ab[zusprechen]«41. Dieser Rückschluss greift zu kurz, da Weiß zwar keine Theorie, wohl aber ästhetische Positionen formuliert hat; sie zeigen von 1907 bis 1940 eine konstante Linie. Diese Positionen dienen keiner normativen Abgrenzung in Form einer Poetik, sondern einem mehr oder weniger »theoretischen Nachvollzug dessen, was Dichtung selbst sehr viel direkter sagt«42. Ausgangspunkt der Weiß’schen Überlegungen zur Aufgabe der Kunst ist seine Kritik an der Programmatik der Realisten und Naturalisten. Sie, so Weiß, würden nur die irdische, verfangene Seite des Menschen zeigen, nicht aber das, »was dem innersten Urgrund menschlichen Seins positiv entspricht« (KdE 188). Die Realisten arbeiten »unsere Vergänglichkeit, unsere mangelnde Erleuchtung, unsere fehlende Besinnung, unsere Dummheit im metaphysischen Begriff« (KdE 188) heraus, doch sie beschränken sich in ihrer Darstellung auf die empirische Seite des Menschen. Daher sind französische Romanciers wie Flaubert oder Maupassant vollendet im Ausdruck, aber unvollendet im Thema. Ihre Werke sind Fragmente geblieben, denn sie geben »Wissenswertes und Wissensmögliches«, nicht aber das »ganze menschliche Wissen«. So gewiss es aber ist, »daß die Seligkeit des Künstlerischen nicht leichter verdient wird als die Seligkeit des religiös Strebenden, so gewiß ist es auch, daß sie nicht durch das nächtliche Studium von Atlanten, Akten und Photographien […] errungen werden kann« (KdE 28). Die Kunst der Realisten geht »auf Kosten der menschlichen Seele und der tieferen, also nicht musealen Wahrheit« (KdE 28). Eine Kunst aber, die ›wesenhaft‹ sein will, darf nicht allein empirisch agieren, sondern muss tiefer schürfen. In diesem Sinn urteilt Weiß über den Naturalismus: Wenn der Naturalismus im wesentlichen doch aus Nerven hervorging, sich dem einzelnen in liebevoller Durchdringung zuneigte, und als das höchst Erstrebenswerte ein starkes Lebensgefühl postulierte, eine Einheit mit der Natur, eine Urverwandtschaft des Darstellers mit dem Dargestellten, so bauen die neuen Strömungen der Kunst schon auf diesem Grundgefühl auf. Es handelt sich nicht mehr darum, tausendfältige Einzelheiten auf minutiöse Art wiederzugeben, sondern dem Sein des Schaffenden ein ebenso unzweifelhaftes Sein des Kunstwerkes entspringen zu lassen.43
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Michael Voges, »Leichenöffnungen des Lasters«. Der Dichter Ernst Weiß. In: Spurensuche (15), 28. Januar 1987, Studio Bremen (Rundfunkmanuskript). Vgl. Helmut Koopmann, Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung, Darmstadt 1997, S. 93f. Ernst Weiß, Antwort auf eine Rundfrage: Gibt es eine neue Kunst? In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 25. Dezember 1919, Weihnachtsbeilage, S. 6.
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In diesem Kontext kann Weiß’ Poetologie als Reaktion auf und als Kritik an einer Kunstdoktrin verstanden werden, die sich einem positivistischen Weltbild verschrieben hat.44 Die folgenden Ausführungen beschränken sich darauf, Weiß’ Überlegungen zu einzelnen Gattungen zusammenzufassen, doch lassen sie auch erkennen, dass der Autor die Kriterien der Form einer semantischen Fragestellung unterordnet. In seinen Essays macht Weiß Anmerkungen zur Novelle und zum Roman, während er auf die Kurzgeschichte und die Anekdote nur indirekte Hinweise gibt. Diese Äußerungen beleuchte ich nun näher.
5.1. »Das Ende der Novelle«: Zur Poetik der Novelle Den für sein Novellenverständnis zentralen Essay ›Das Ende der Novelle‹ hat Ernst Weiß erst 1937 geschrieben. Dennoch belegt der Essay eine Konstante im Weiß’schen Denken, da er zahlreiche Merkmale benennt, die der Autor bereits in seinen frühen Rezensionen um 1914 zum Ausdruck gebracht hat. Weiß ordnet die Gattung in die Tradition der Novellendichtung Boccaccios und Cervantes’ ein, wobei er nicht exakt zwischen diesen beiden Richtungen der europäischen Novelle unterscheidet. Nach Weiß verfügt die Novelle über einen klaren Aufbau: Tektonisch soll sie »ihr Maß in sich tragen«, bei der Motivierung des Geschehens eine »innere Notwendigkeit des Ganzen«45 aufweisen. An dem »technisch so schwierigen Gebilde der Novelle« schätzt er, dass es den Autor zu äußerster Konzentration zwinge: »Nicht mehr als zehn Seiten, Dichter, und werde trotzdem unvergeßbar, wirf den Leser um, vergewaltige ihn mit einem stürmischen, männlichen Glück!« (KdE 409). Denn wenn dem Schriftsteller »nur wenige Seiten zur Verfügung stehen, dann gilt kein literarisches Messe-Zelebrieren, kein langes Federlesen: heran an den Stoff, an die dramatische Anekdote, an den Leser!« (KdE 408). Der »Panthersprung des suggestiven Erzählers« (KdE 409) erzeugt eine Nähe und Betroffenheit, der sich der Leser nicht entziehen kann: »Und immer der federnde Sprung, die Überraschung, die ganze Tragikomödie eines menschlichen Daseins, ›in der Nuß‹« (KdE 409). Dergestalt dramatisch erzählt, reißt die Novelle den »Menschen aus der grauenhaften Öde der halb gewollten, halb erzwungenen Ummauerung«46. In den Themen und Handlungen einer Novelle findet sich der Leser auch Jahrhunderte nach der Entstehung des Textes mit seinen eigenen Gedanken und Erlebnissen wieder:
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Vgl. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur, 1880–1900: Naturalismus, hg. von Manfred Brauneck, Stuttgart 1987. Ernst Weiß: Novellen. In: National-Zeitung (Berlin), 26. Februar 1914, Beiblatt (Rückseite). Ebd.
Ich will die Meisterwerke nicht aufzählen, denen dies gelungen ist. Ihre Zahl ist zu groß, und ihre Wirkung umfaßt alle Bezirke der menschlichen Seele, Erschütterung, Grauen, Lachen, Technik, Jagdtrieb, Neugier, Humor, Spott; Philosophie und blütenhafte Lyrik, Haß, Liebe, Wollust, Hunger und Tod. (KdE 409)
Um diese ›Menschheitsthemen‹ zu gestalten, um sie Lesern über die Zeiten hinweg verständlich zu machen, bedarf es einer durchdachten, vielschichtigen Gestaltung. Für sie findet Weiß in seinen Rezensionen die Metapher der horizontalen und der vertikalen Werkbedeutung. Die vertikale Bedeutung einer Erzählung ist die versteckte und tiefgründige; sie bettet den erzählten Einzelfall in einen höheren Zusammenhang ein. Sie bezeichnet Weiß auch als die »Legende« eines Textes. Die vertikale Bedeutung wird ästhetisch nicht, wie die vordergründige (die horizontale) Bedeutung, in einfachen Worten ausgedrückt, sondern in »Punkte[n], Chiffren, geheimnisvolle[n] Zeichen von fernen Planeten, aber nicht unverständlich« angedeutet (KdE 344). In seiner Besprechung von Joseph Conrads Novelle ›Freya von den sieben Inseln‹ (1929) illustriert Weiß diesen Sachverhalt zweier in ein Werk eingeschriebenen Bedeutungen wie folgt: Es sind in dieser einfachen, schmucklosen, aber mit jedem Worte unvergeßbar sich einprägenden Erzählung ›Freya von den sieben Inseln‹ zwei Erzählungen übereinander geschrieben, eine für den Unterhaltungsleser, der solch eine ›Novelle‹ in einem Magazin auf der Veranda einer Villa Londons verdauen möchte, und eine zweite Erzählung steht da, eine Legende vielmehr, welche statt der nüchternen Worte und Tatsachen geheimnisvolle Symbole enthält – nicht Symbole von allegorischer Art, nicht dekorative Hirngespinste, sondern starke, fast giftige Extrakte des Daseins, Wesenheiten, abgekürzte Formeln für lange Prozesse, ein Tag, ja nur ein entscheidender Augenblick für ein ganzes vergeudetes Leben! (KdE 342, Hervorhebung im Original)
Conrads Kunst zeichnet sich – ähnlich wie jene Stifters und Hamsuns – dadurch aus, dass sie den »mühelose[n] Übergang von Dingen auf dieser Erde zu den Dingen über dieser Erde« schafft (KdE 343). Miteinander verschränkt und zugleich kontrastiert werden die horizontale und die vertikale Bedeutung einer Geschichte in der Charakterisierung der Helden und der Symbolik des Textes. Weiß nennt exemplarisch zwei Heldentypen: den erdennahen Realisten (KdE 342) und den liebenden Idealisten (KdE 343). In ›Freya von den sieben Inseln‹ überlebt zwar die Realistin, doch ist sie laut Weiß im Grunde lebensunfähiger als der Idealist, da sie sich nicht »über die Materie erheben« kann (KdE 344). Der Symbolik der Novelle kommt die Funktion zu, das semantische Verweissystem auf diese beiden Pole hin auszubilden. Der Leser kann die Hinweise dann als die ›Legende‹, als die Darstellung zeitloser anthropologischer »Wesenheiten« (KdE 342), deuten. Ähnlich wie die Ikonografie in der darstellenden Kunst hat die Symbolik in der Literatur die Funktion, jene vertikale Botschaft zu vermitteln, die hintergründig angedeutet ist. Gerade die Abgeschlossenheit der inneren und äußeren Welt macht das Werk zur Novelle. […] Denn dort, wo ein Dichter dem bildenden Künstler sich annähert, dort
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nähert er sich der Novelle an. Dort, wo ein Dichter dem Philosophen sich annähert, dort gerät er in den weiten Plan des Romans. In der Novelle entwickelt sich nicht das Menschenherz. Es ist da, es stößt gegen die Wirklichkeit, es blutet, blüht, vergeht.47
Es wird deutlich, dass Weiß mit seinem Gattungsverständnis nicht nur auf die Novelle der Romania rekurriert, sondern auch auf ein romantisches Novellenverständnis. Die ›unerhörte Begebenheit‹ als handlungsauslösendes Moment hat für ihn, wie für viele Romantiker, eine zeitlose anthropologische Bedeutung. Auch die Verwendung der Symbole oder Chiffren ist ohne den mitgedachten Hintergrund einer ›paradiesischen‹ oder ›wunderbaren‹ Welt nicht zu verstehen.48 Was aber bedeutet dies für den zeitgenössischen Novellenschreiber? Weiß konstatiert, dass der Begriff der Novelle in den Jahren um die Jahrhundertwende verwässert worden sei: Mit dem Begriff der Novelle ist in den letzten Jahren viel Mißbrauch getrieben worden. Was wollte nicht alles Novelle sein? Anekdote, Skizze, Romanfragment, ja sogar Abhandlung über philosophische Themen mit moralischen Nutzanwendungen, all das kroch gemütlich unter dem Mantel ›Novelle‹ zusammen. Als vor zwei Jahren ein amerikanischer Meister der Erzählungskunst, Jakob Wassermann, in seinem ›Goldenen Spiegel‹ die alte Rahmenerzählung wieder neu belebt hatte, war, so wunderbar auch dieser Versuch gelungen, der Begriff der Novelle nur noch unklarer geworden.49
Ein Hauptproblem der modernen Novellendichter ist es, dass ihnen der Glaube an eine ›Ganzheit‹ verloren gegangen sei. Es fehle ihnen damit die Voraussetzung, in den Geschichten vertikale Bedeutungen anzulegen und die Novelle ästhetisch vollendet zu gestalten. In der problematischen Situation der modernen Novelle spiegele sich damit das Problem einer glaubenslosen Zeit. Keine gute, keine klassische Novelle ging aus einer problematischen Zeit hervor. […] Tatsachen, Wertungen, Räume und Linien der Landschaft, Linien und Runen der Seele, Worte und Bäume, organisches und mineralisches Leben, Mensch: Mensch, und Mensch in Mensch, das alles […] muß in der Novelle beschlossen, vollendet, endgültig sein, wenn dieser äußerlich kleine, aber dem Kosmos ahnend verwandte Kristall sich schließen soll; glänzend, unberührbar dem schürfenden Urteil, selbst-
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Ernst Weiß, Ein neuer Barbusse. In: Berliner Börsen-Courier, 11. Juni 1926, Morgenausgabe, 1. Beilage, S. 5. Vgl. Aust, Novelle, S. 77. – Aust erläutert zwar, dass die Romantiker den Novellenbegriff nur sparsam für ihre Werkkennzeichnung einsetzten, dass der viel zitierte Zusammenhang von Formbewusstsein und Epochenstil jedoch auf drei Kriterien zurückging, die den Sinn eines prägnant novellengeschichtlichen Zugriffs determinierten. Von besonderem Interesse ist das folgende Kriterium: »Durchdringung des Alltäglichen mit dem Wunderbaren; von hieraus lassen sich für die Novelle […] erwarten: Apophanie des Wunderbaren im Alltäglichen, Familiarität mit dem Wunderbaren, Finalität des Alltagswunders im triadischen Geschichtsdenken und seine Synthese in der konkreten Symbolik.« Weiß, Novellen, Beiblatt (Rückseite).
verständlich und auf sich selbst begründet entschlossen zu sich selbst, uns magnetisch ordnend, da er50selbst geordnet ist nach ewig stehenden Polen im ewig bewegten Felde der Welt.
Was bleibt, sind literarische Werke, die weiterhin an traditionelle metaphysische Systeme erinnern oder aber ihren Verlust in ganzer Härte darstellen. Von dieser Wahl ist nicht nur das Schicksal der Novelle, sondern das der Kunst an sich abhängig. Weiß selbst entscheidet sich dafür, an höhere Zusammenhänge zu erinnern – und dafür, den erzählten Inhalten weiterhin eine vertikale Bedeutung abzugewinnen.
5.2. »Novellen, geschnitten mit kurzen Anekdoten«: Zur Poetik der Anekdote In seinen Essays und Rezensionen hat Weiß die Anekdote nicht annähernd so präzise gewürdigt wie die Novelle. Es finden sich allerdings Hinweise darauf, dass er die Anekdote als eine der Novelle verwandte Gattung ansieht. So steckt in jeder Novelle im Kern eine »dramatische Anekdote«, die in der Novelle narrativ entfaltet wird. Wie die Novelle ist die Anekdote eine Erzählform der »äußerste[n] Konzentration« (KdE 408), wobei Weiß den Terminus ›Anekdote‹ vor allem für sehr pointierte Erzählungen verwendet: »Novellen, geschnitten mit kurzen Anekdoten; abgeschlossene Erzählungen, geschnitten mit Fragmenten.« (KdE 403). Im Gegensatz zur Novelle arbeitet die Anekdote nicht mit Symbolen, sondern mit Sentenzen. Sie ist belehrend, aber ohne Pathos, was erklärt, warum im Expressionismus »nicht eine einzige Anekdote« (KdE 405) entstand. Ihre komprimierte Form macht die Anekdote in der Aussage »[m]onumental« (KdE 404) und zugleich zu einer narrativen Herausforderung: Indem sie Inhalte verkürzt, entstehen Leerstellen, deren Bedeutung der Leser rekonstruieren muss. Abgesehen von diesen Erläuterungen sieht sich der Leser auf allgemeine Überlegungen verwiesen: Die Anekdote wird oft als kurze, schmucklose, in einen heiteren Ausspruch gipfelnde Erzählung definiert, die der scharfen Charakterisierung einer (historischen) Persönlichkeit oder merkwürdigen Zeitbegebenheit dient.51 In ihrer literarischen Form führt sie strukturell auf eine geschliffene Pointe hin, für ihren Inhalt ist der Bezug zur ›wahren‹ Begebenheit bedeutsam.52 Neben der langen Tradition ihrer mündlichen Ausformung existiert die Anekdote seit der Antike auch als Kunstform53, und im deutschsprachigen Raum wird sie auf Kleist
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Weiß, Ein neuer Barbusse, S. 5. Vgl. Grothe, Anekdote, S. 13. Vgl. Hilzinger, Anekdote, S. 11. Vgl. Grothe, Anekdote, S. 61f., hier S. 62: »Die frühe griechische Anekdote beleuchtet also den ›Charakter einer bedeutenden Persönlichkeit blitzartig‹ [...]. Sie kleidet sich
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und Hebel zurückgeführt.54 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzt eine formale Erneuerungsbewegung der Anekdote ein: Franz Carl Weiskopf beschreibt die Anekdote als »pointiert vorgetragene, merkwürdige (das ist des Merkens würdige) Kurzgeschichte, die Vorgänge, Verhaltensweisen und Charaktere gewissermaßen blitzartig erhellt, dergestalt, daß die Mit- und Nachwelt den Kern eines Menschen, die Quintessenz einer Situation, den Herzpunkt eines gesellschaftlichen oder historischen Zustandes präsentiert bekommt«55. Seit den 1930er-Jahren ist mit der antifaschistischen Anekdote – etwa bei Weiskopf, bei Anna Seghers, Johannes R. Becher oder Heiner Müller – eine weitere Aktualisierung zu bemerken: Sie rekurriert verstärkt, wie Hilzinger ausführt, »auf die aufklärerische Funktion der Gattung und auf die ihr strukturell innewohnenden Möglichkeiten, komplexes historisches Geschehen durch Fragmentierung und biographische Perspektivierung moralisch bewertbar und somit ideologisch nutzbar zu machen«56. Inwiefern eine solche Aktualisierung auch auf Weiß’ eigene Erzählungen in Anekdoten zutrifft, zeige ich im III. Kapitel.
5.3. »Gebrauchsgraphik«: Zur Bedeutung der Kurzgeschichte Die Kunstform der Novelle stirbt aus, befand Weiß 1937: »Man erinnert sich keines jüngeren europäischen Autors, der einen Weltruhm der Novelle verdankt.« (KdE 408). Anstelle der Novelle drucken amerikanische Zeitungen Prosatexte, die der einfachen Unterhaltung ihrer Leser dienen sollen. Diese, für die Zeitung produzierten Texte bezeichnet Weiß als »Gebrauchsgraphik«, und ihnen haftet das (Vor-)Urteil der oberflächlichen ›short story‹ an.57 Damit vertritt Weiß die gängige Meinung, dass die Kurzgeschichte nur als ›Feuilletongeschichte‹, als Gebrauchsartikel für eine Massenzeitung entstehen konnte.58 Der primäre Verwendungszweck dieser Prosa ist ihre Einmalkonsumption bei der täglichen Zeitungslektüre, nicht ihre literarische Kanonisierung: »Geschrieben, gedruckt, bezahlt (in Europa mäßig, in Amerika fürstlich) – und abgetan. Keine Dauer. Nicht einmal Eintagsruhm. Keine literarische Prüfung, die sich doch erst an dem in Buchform gesammelten Werkchen ausüben ließe.« (KdE 408). Da die Texte eng mit ihrem Publikationsort, der Zeitung, verknüpft sind, weisen sie einen knappen Umfang auf: »Auf engstem Raum, in wenigen Zeilen.« (KdE 404). Die
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deshalb bisweilen auch in das Gewand einer bunten, verhüllenden kurzen Erzählung oder ›sie wollte geistreich überraschen‹.« Vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 106. Hilzinger, Anekdote, S. 25. Vgl. Leonie Marx, Die deutsche Kurzgeschichte, Stuttgart 21997, S. 6. Zur Rezeption des Genres der Kurzgeschichte in Deutschland als Zeitungsprosa vgl. Adolf von Grolman, Die strenge Novellenform und die Problematik ihrer Zertrümmerung. In: Novelle, hg. von Josef Kunz, Darmstadt 1968, S. 154–166.
journalistische Umgebung bedingt auch den sachlichen Stil dieser Zeitungsprosa und rückt sie in die Nähe der Reportage. In Amerika ist die Novelle gesucht. Es besteht, um sich kaufmännisch auszudrücken, ein kuranter Bedarf an dieser Ware. Zeitschriften, Magazine, Tagesblätter, auch in Europa, in unstillbarem Hunger nach geistiger Hausmannskost, bestreiten wohl oder übel ihren allmonatlichen und täglichen Konsum an Novellen. Aber damit soll das Leben dieser Kurzgeschichten beendet sein. (KdE 408)
Mit der Novelle teilt sich die Kurzgeschichte nur die Thematik: »Der Mensch [...], das ist es.« (KdE 404). Denn auch in der Kurzgeschichte werden »äußerste, fast unbegreifliche, nahezu magische Grenzfälle der menschlichen Seele« (KdE 404) beschrieben – doch nur in den seltensten Fällen, wie etwa bei Ernest Hemingway, erreichen die Texte ästhetisch das Niveau der Novelle: »Es sind exemplarische Novellen, beispielhafte Lebens- und Sterbensläufe, diese moralischen Novellen, die letzten unserer Zeit, ebenso wie es die ersten des alten Cervantes waren.« (KdE 405). Was die Texte des Cervantes jedoch von den meisten amerikanischen Kurzgeschichten unterscheidet, ist die Ausgestaltung einer mythischen (respektive vertikalen) Bedeutung. In den Zeitungsgeschichten findet sich »[n]ichts von Göttern, nichts von Flüchen und Segnungen, nichts von blinden, blöden Schicksalen, die über den Menschen zusammenstürzen« (KdE 404f.). Sie begnügen sich mit Momentaufnahmen, mit Aussagen über den sichtbaren Horizont. Dort, wo die Geschichte doch einmal die Vertikale berührt, tut sie es durch (Ver-)Schweigen: Sie spart aus, was das eigentlich Bedeutsame der Geschichte wäre. Das macht die Kurzgeschichte letztlich zum Tatsachenbericht: »Deshalb keine Sentimentalität: Man ehre den Untergang durch schicksalstreuen Bericht – und darüber hinaus schweige man.« (KdE 404). Hemingway etwa ist für Weiß ein Skeptiker, ein nüchterner Beobachter seiner Zeit59, der zwar ähnlich spannungsreiche Momente im Leben eines Menschen schildert wie Dostojewski, der jedoch kein »Ekstatiker« ist wie er (KdE 403). Historisch gesehen ist die Kurzgeschichte für Weiß auch eine Reaktion auf die »unnatürliche Kompression des Expressionismus« (KdE 404), der Erkenntnis »nicht ohne Schrei ertragen konnte – so entstand der Expressionismus« (KdE 405). Die Sachlichkeit des Ausdrucks und die Aussparung des Erhabenen (KdE 404) rückt die Kurzgeschichte jedoch mehr in die Nähe der Reportage als in die Nähe der Literatur.
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So kritisiert Weiß 1930 Hemingways Roman ›In einem andern Land‹ und dessen gestaltlose Nüchternheit: »Wir sehen alles, nur sein Wesentliches nicht. [...] Wozu also? Wieso also? Warum? Nur weil alles eben sinnlos ist?«. – Vgl. Ernst Weiß, Ein neuer Hemingway: ›In einem andern Land‹. In: Berliner Börsen-Courier, 31. Oktober 1930, 1. Beilage, S. 5f.
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5.4. »Zufällige Kontraste, ins Gigantische gesteigert«: Zur Poetik des Romans In drei Essays – dem 1922 erschienenen »Der neue Roman«, dem Essay »Kleine Anmerkung über den slawischen Roman« (1921) und in »Kleine Anmerkung zu Gustave Flaubert« (1921)60 – äußert sich Weiß über die Gattung des Romans, ebenso wie in mehreren Rezensionen. Für den Roman lässt sich nach Weiß festhalten, dass der Dichter auf keine formalen Kriterien zurückgreifen kann, und »oft mag ihn deshalb diese scheinbare Freiheit, diese entschiedene Leere lähmen«61. Der Roman ist ein weites Land. Er hat keine bestimmbaren Kunstgesetze. Umfang, Anordnung des Stoffes, Verteilung von Dialog und von vorbereitender oder deutender Schilderung bleiben der Hand des Romanschreibers offen. Regeln sind dieser Kunstform nirgendwo gesetzt, eine einzige Bedingung ist zu erfüllen im Roman, daß etwas ›hindurchgeht‹, das allerdings schwer zu umgrenzen ist.62
Die Technik des Romans ist für Weiß »ein so kompliziertes Gebiet, daß Sachliches darüber zu sagen fast unmöglich ist. Der Roman ist: die leichteste und schwerste Form. Er kann alles sein, er kann nichts sein«63. Der Roman lebt von der Inszenierung der Welt und ihrer Gegensätze, von Spannungen und Oppositionen, die den Menschen herausfordern und zu einer Haltung zwingen. Eine solche Struktur bestimmt den ersten nachmittelalterlichen Roman der Weltliteratur, den ›Don Quichote‹. Cervantes ist es gelungen, »zufällige Kontraste (dick und dünn, Ritter und Plebejer)« darzustellen. Indem er diese Kontraste ins »Gigantische« steigert, erreicht er »das Maß der wirklichen Welt, wie sie durch Gott und den Satan geschieden, wie sie durch den Fleischmenschen und den Seelenmenschen belebt ist« (KdE 28). Die Tektonik eines Kontrastes, der das »ganze menschliche Wissen« (KdE 28) über die Welt spiegelt, ist für Weiß das zentrale Merkmal des modernen Romans. Gemäß dieser Definition bezeichnet er auch ein zweites Werk der Weltliteratur als Roman, als »epische Arbeit von nahezu geschlossener Vollendung« (KdE 29), obwohl sie eigentlich ein Drama ist: Goethes ›Faust‹. »Dies ist der größte moderne Roman. Dass er sich in Szenenform abspielt, ist eine Äußerlichkeit.« (KdE 29). Konnte die Klassik die Gegensätze der Welt noch ins Gleichgewicht bringen, so bleibt dem modernen Dichter nur, »entweder den Ton der großen Meister, gebrochen durch unsere eigene künstlerische Seele weiterzutra60
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Ernst Weiß, Der neue Roman. In: Berliner Börsen-Courier, 22. Oktober 1922. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 16: KdE, S. 27–29; ders., Kleine Anmerkung über den slawischen Roman. In: Prager Presse, 28. Oktober 1921, S. 11; ders., Kleine Anmerkung zu Gustave Flaubert. In: Prager Presse, 11. Dezember 1921, Morgenausgabe, S. 5f. Weiß, Kleine Anmerkung zu Gustave Flaubert, S. 5. Weiß, Ein neuer Barbusse, S. 5. Weiß, Kleine Anmerkung zu Gustave Flaubert, S. 5.
gen« oder aber »aus unserer zerstörten, aber immer noch, immer doch lebenden Seele heraus« Werke zu schaffen, »zu malen, zu dichten, zu musizieren; namenlos vielleicht unterzugehen, verschüttet von dem nächsten Sturz, aber doch das Wesentliche des Menschen, sein Herrliches, seine andere Seite, sein tollkühnes Bestehen […]«64 zu benennen. Für den Roman hält Weiß deshalb die Aufgabe fest, Welten darzustellen, die dem Menschen seine Widersprüchlichkeit vor Augen führen. Im Zentrum des Epos stehen, als Kontraste gestaltet, das unabdingbare Schicksal und der Behauptungswille des Menschen.
6.
Zusammenfassung
Die Untersuchung der Weiß’schen Essays in Hinblick auf die Kultur- und Zivilisationskritik der Moderne hat gezeigt, dass es für Weiß keine metaphysische Gewissheit mehr gibt. Die empirischen Nachweise der Naturwissenschaften reichen nicht aus, um das Wesen des Menschen zu erklären, ebenso wenig wie dies die Vernunftreligion des Rationalismus oder das Erklärungsangebot des Christentums vermögen. Weiß beschreibt den Menschen als ein bipolares Wesen, das zwischen Himmel und Erde existiert: Er ist eine Synthesis aus Endlichem und Unendlichem, um mit Kierkegaard zu sprechen. Die Denkfigur der ›Polarität‹ wird ergänzt durch die Denkfigur der ›Ganzheit‹, mittels derer die menschliche Seele ihr ewiges Selbst ahnt. Doch die Wahrnehmung des Menschen ist subjektiv und daher begrenzt: Er kann über die Wirklichkeit nicht mehr aussagen, als es seine Individualität zulässt. Diese radikale Begrenzung führt dazu, dass die eigene Perspektive nicht gesichert mit einer objektiven Aussage über die Weltordnung in Deckung zu bringen ist. Mit diesen Thesen rekurriert Weiß auf verschiedene Schriften des Existenzphilosophen Sören Kierkegaard, der seinerseits die Problematik der Erkenntnis für die Wahrnehmung des Ewigen dargestellt hatte. Wie Kierkegaard nimmt Weiß einen absurden Glauben als letzte Möglichkeit des Menschen an, um sich an einer metaphysischen Größe, einem Unendlichen, zu orientieren. Allerdings denkt er diesen Glauben nicht auf einen christlichen Gott hin, sondern als eine immanente Größe, die in der Denkfigur des ›Lebens‹ aufgeht. Weiß’ Poetologie zeigt gleichfalls, dass der Autor die Kunst als eine transzendierende Größe versteht. Sie hat die Aufgabe, das Überzeitliche im Zeitlichen darzustellen. So sieht Weiß auch seine Prosa letztlich als eine Kunst mit ›metaphysischen‹ Absichten: Implizit, mittels ästhetischer Strukturen, erzählt sie von einer zweiten Wirklichkeit. Dies möchte ich im folgenden Kapitel zeigen.
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Weiß, Kleine Anmerkung über den slawischen Roman, S. 11 (Hervorhebung im Original).
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III. Existenzproblematik und Erzählstrategie (2): Die Kurzprosa Der eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, der andere, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu Euch selbst macht Euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Die folgenden Kapitel widmen sich den sechs ausgewählten Kurzprosa-Texten in exemplarischen Interpretationsskizzen. Im Zentrum der Analyse der Geschichte steht die Existenzproblematik der Helden. Die Analyse des Diskurses fokussiert die Darstellung des Erkenntnisprozesses der Helden und – sofern vorhanden – seine Bewertung durch den Erzähler. Die sechs Novellen, Romanfragmente und Erzählungen in Anekdoten stammen aus verschiedenen Phasen des Weiß’schen Schreibens: Als Novelle der ersten Produktionsphase des Autors interpretiere ich ›Die Verdorrten‹, da ihre Ursprünge vermutlich in den Jahren 1914/15 liegen. Die Novelle ›Franta Zlin‹ (1918/19) rechne ich den frühexpressionistischen Arbeiten des Autors zu. Das Romanfragment ›Daniel‹ kann sowohl als Beispiel einer mythischen Erzählung um 1923/24 als auch als hochexpressionistischer Text von Weiß eingeordnet werden. Für die letzte Phase des Weiß’schen Schreibens ab etwa 1926, der Zeit der so genannten ›Neuen Sachlichkeit‹, werden drei Texte des Kurzprosa-Korpus analysiert: Das um 1925 entstandene Romanfragment ›Marengo‹ steht am Beginn dieser Phase, während die um 1937 entstandene Novelle ›Jarmila‹ und die Erzählung in Anekdoten ›Wer hat, dem wird gegeben‹ späte Zeugnisse der Produktivität dieses Autors sind.1 Den Analysen und Interpretationsskizzen sind Erläuterungen zur Textgenese und -gestalt sowie zur zeitgenössischen Rezeption und zur Forschung vorange-
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Mit dieser Einteilung ist keine Periodisierung des Werks angestrebt, wie sie in der Vergangenheit von Jan Chytil, Franz Haas, Ernst Alker, Thomas Delfmann oder Margarita Pazi vorgelegt wurde. So aufschlussreich diese – sich in Teilen widersprechenden – Periodisierungsversuche auch sind, so wenig wurden sie dem Weiß’schen Werk gerecht. Die hier vorgenommene Einteilung orientiert sich an der Entstehung der Texte, ihrer Thematik und der Entwicklung der Helden. Ein solcher Zuschnitt erscheint angesichts des Themas der Studie sinnvoll. – Vgl. Jan Chytil, Zum Werk von Ernst Weiß. In: Weltfreunde, S. 271–278; Roland Heger, Der österreichische Roman des 20. Jahrhunderts. Erster Teil, Stuttgart 1971, S. 67–72; Ernst Alker, Profile und Gestalten der deutschen Literatur nach 1914, Stuttgart 1977, S. 746–750; Pazi, Fünf Autoren, S. 103ff.; Delfmann, Heldentum, S. 63; Haas, Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 254ff.; Peter Engel, Einige Leistungen, viele Defizite. In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker, S. 9–21, hier S. 14.
stellt. Dies geschieht vor dem Hintergrund der gewählten Interpretationskonzeption und einer werkgenetischen Betrachtung, die pragmatische Gründe des Autors von ästhetischen Intentionen (einer verrätselnden Erzählkonzeption) zu unterscheiden sucht.
1.
»... ich bin es nicht, es ist meine Natur!« – ›Die Verdorrten‹
Zahlreiche Überarbeitungsgänge und ein relativ später Publikationszeitpunkt haben in der Weiß-Forschung die Meinung verfestigt, dass die Novelle ›Die Verdorrten‹ der so genannten expressionistischen Schaffensphase des Autors zuzuordnen sei.2 Als Argumente führten die Interpreten unter anderem an, dass die Novelle dem Autor als Vorlage für das 1923 uraufgeführte und heute verschollene expressionistische Drama ›Leonore‹ gedient habe, das kurz nach der Novelle entstanden sei. Zudem wies eine 1921 in der ›Prager Presse‹ veröffentlichte Langfassung der Novelle eine Überschneidung mit Weiß’ expressionistischem Roman ›Mensch gegen Mensch‹ (1919) auf – ein Umstand, der gleichfalls für einen Entstehungszeitpunkt um 1918/19 zu sprechen schien.3 Betrachtet man aber den Stil, die Handlung und den Helden der Novelle näher, so lässt sich die These, es handle sich um expressionistische Prosa, kaum halten. Die Sprache der ›Verdorrten‹ ist nüchtern und sachlich, und der Text weist keines jener typischen expressionistischen Stilmerkmale auf – Ellipse, Parataxe, Inversion –, die in anderen Weiß’schen Texten zu beobachten sind.4 Darüber hinaus besitzt die Novelle auf der Ebene der Geschichte eine auffallende Ähnlichkeit mit Werken aus der Wiener Schaffenszeit, namentlich mit dem Roman ›Die Galeere‹, was bereits die zeitgenössischen Kritiker registriert hatten.5 Zu dieser Beobachtung passt auch Weiß’ Aussage, dass die Anfänge der Novelle bis in die Jahre 1914/15 zurückreichen würden.6 Es ist deshalb wahrscheinlich, dass der Autor eine erste Fassung der Novelle bereits um 1914/15 geschrieben hatte, möglicherweise noch unter einem anderen Titel. Denkbar wäre auch, dass der heute verschollene Text ›Der Überfall‹ die Basis für die spätere Novelle ›Die 2 3 4 5 6
Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 88; Haas, Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 99; Steinke, Ontologie, S. 150. Vgl. Klaus-Peter Hinze, Die Gestalt der Mutter im Werk von Ernst Weiß. In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker, S. 158–166, hier S. 161. Vgl. Elfe, Tiere in Ketten, bes. S. 48–63. Vgl. Paul Wiegler, Der Büchertisch. Zehn Bücher des Monats. In: Prager Tagblatt, 29. April 1923, 99, Unterhaltungsbeilage, S. 6. Vgl. Ernst Weiß an Efraim Frisch. 18 Postkarten und Briefe aus den Jahren 1920– 1924, aufbewahrt im Leo Baeck Institut, Efraim-Frisch-Collection, ›Der neue Merkur‹, Redaktionsbriefwechsel, New York (USA). Hier zitiert aus dem Brief vom 30. März [1920].
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Verdorrten‹ abgab: Laut Albert Ehrenstein wies diese Geschichte eine »erotische«7 Grundstruktur auf – eine Beschreibung, die auch auf den Plot der ›Verdorrten‹ zutrifft. Denkbar wäre, dass Weiß den ›Überfall‹, von dem in den Briefen an Rahel Sanzara viel die Rede ist, gegen Ende des Ersten Weltkriegs überarbeitete, und dass aus ihm um 1917/18 ein Text entstand, den er nun ›Die Verdorrten‹ nannte. Dies würde auch erklären, warum ›Der Überfall‹ in der Korrespondenz des Schriftstellers, aber auch auf dem Zeitschriften- und Buchmarkt von 1918 an keine Rolle mehr spielt. Ausgehend von diesen werkgenetischen Vermutungen stelle ich die These auf, dass ›Die Verdorrten‹ nicht der zweiten, stilistisch dem Expressionismus nahe stehenden Schaffensphase des Autors zuzurechnen sind, sondern seiner ersten. Auch aufgrund der langen Bearbeitungszeit und einiger auffallender Ähnlichkeiten der Handlung und der Hauptfiguren der Novelle mit dem Roman ›Die Galeere‹ werde ich ›Die Verdorrten‹ als frühestes Beispiel der Weiß’schen Kurzprosa behandeln.
1.1.
Thematische Zusammenhänge: ›Die Galeere‹ und ›Die Verdorrten‹
Die Einordnung der ›Verdorrten‹ in die erste Produktionsphase des Autors soll durch einen thematischen Vergleich der Handlung mit dem 1911 entstandenen und 1913 veröffentlichten Roman ›Die Galeere‹ deutlich gemacht werden.8 Im Zentrum der Novelle steht, ähnlich wie in der ›Galeere‹, ein Held, der als Brotberuf die Wissenschaft ausübt und sich als Egozentriker erweist. Beide Figuren sind Intellektuelle, und beide sind auf ihre Weise unfähig zu Liebe und Selbsthingabe. Edgar, der Protagonist der ›Verdorrten‹, ist wie Erik in der ›Galeere‹ an einer Neurose erkrankt, deren Ursachen im Verhältnis der Helden zu ihrer Sexualität liegen. 9 Beide suchen in der Beziehung zu einer Frau vor allem eines: sich selbst.10 Auch die Art und Weise, wie die Helden von ihren Frauen geliebt werden und wie sie selbst ihre Liebesbeziehungen gestalten, lässt sich bis ins Detail vergleichen. Helenes Mut, Erik trotz der Gefahr gesellschaftlicher Ächtung ohne Trauschein zu lieben, wiederholt sich in Esthers Entschluss, Edgars voreheliche Geliebte zu sein. Mit Helene kann Erik in der ›Galeere‹ erstmals zur Ruhe
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Albert Ehrenstein an Ernst Weiß, undatierte Karte aus Zürich [1917]. Vgl. Ernst Weiß. Die Galeere. Roman, Berlin 1913; Weiß, GW, Bd. 1: Die Galeere, Frankfurt/M. 1982 [fortan: G]. Von Erik heißt es in der ›Galeere‹, er leide unter einer »kompensierten Neurasthenie« (G 42). Was in der ›Galeere‹ über Erik gesagt wird, trifft in den ›Verdorrten‹ auch auf Edgar zu: »Er ist nicht schlecht, nicht gemein, nicht einmal brutal; aber er ist ein Mensch ohne Gemeingefühle, ohne Mitfreude, ohne Mitleid.« (G 98f.).
kommen: Sie ist ihm ebenbürtige Partnerin und mütterliches Geschöpf, da sie – im Gegensatz zu den anderen Frauen im Roman – nicht versucht, Herrschaft über andere auszuüben. Auch in den ›Verdorrten‹ stellt Esther für Edgar jenen Punkt dar, auf den sich seine Sehnsucht fokussiert. Hier wird die Beziehung des Paares nach einer Reise »entzaubert«, die Esther allein unternimmt; in der ›Galeere‹ findet diese Entzauberung während einer gemeinsamen Reise des Paares statt.11 Selbst die Reaktion der Männer auf ihr nachlassendes Verlangen ist identisch: Nach dem Verlöschen der ersten Liebe bleibt ihnen die Leidenschaft, aber keine Hoffnung mehr auf eine ›Erlösung‹ aus ihrer Situation.12 Erik wehrt diese Erkenntnis ab, indem er seinen wissenschaftlichen Strahlenversuch zu Ende führt und versucht, »sich selbst zu imponieren« (G 109), wobei er sich tödlich infiziert. Edgar will sich mit der Erfindung eines roten Farbstoffs innerlich panzern und dank dieser Erfindung zugleich unsterblich werden. Die Wahrnehmung der Frauen wird in den beiden Erzählungen unterschiedlich dargestellt. In der ›Galeere‹ gibt die interne Fokalisierung Einblick in Helenes Gedanken und damit Aufschluss über die Problematik der freien Liebe: »Sie war die Dame oder konnte es sein, wenn sie sich behauptete in ihrer eigenen Achtung und in der Achtung der Welt. Er blieb der Herr …« (G 134). An diese Selbstanalyse schließt sich eine allgemeine Einschätzung der Liebe an, die nicht nur die persönliche Enttäuschung, sondern auch eine grundsätzliche Skepsis zum Ausdruck bringt, dass sich zwei Menschen liebend erreichen können.13 In den ›Verdorrten‹ erfährt der Leser nichts über solche Gedanken: Dass Esther an der gesellschaftlichen Ungleichheit der Geschlechter leidet, wird nur indirekt deutlich, da sie ihre Beziehung zu Edgar zu verheimlichen sucht und von einem fernen Jugendgeliebten spricht. Aus der Perspektive beider Frauen scheint ein Kind die einzige Möglichkeit zu sein, eine wahrhaft enge Verbindung zum Mann zu schaffen, gemeinsam am Leben teilzuhaben und seelische Liebe dauerhaft zu empfinden.14 Helene versucht,
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»Sie dachten immer, es sei das letztemal. Und gegen ihren Willen fielen sie sich von neuem in die Arme. Erik tröstete Helene, und Helene tröstete ihn.« (G 109) »Erst Mitleid, dann Liebe, und Verzweiflung zum Ende, das hatte sie an Erik gekettet.« (G 133) »Die Häuser waren alle angefüllt von Menschen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, mit Menschen, die miteinander lebten und welche die Erotik mißbrauchten, um die Wunden zu heilen, die ihnen das Leben geschlagen hatte. So wie sie gestern auf die Gasse gegangen war, um sich Ruhe für ihre überreizten, übermüdeten Nerven zu holen, so wollten alle die Menschen von der Erotik den Ersatz für das, was sie draußen nicht erreichen konnten.« (G 134) »Es war eine grauenhafte Welt, die sich vor den Augen Helenes aufrollte, wie vor den Augen einer Entzauberten. Und die Hoffnung all dieser Menschen, wie ihre eigene, war das Kind. Die Mutter des Kindes war nicht mehr die Mätresse eines Mannes. Das war der Schüssel, der alle Schlösser dieser Kette aufschloß. Das Kind war das
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ihrer Beziehung mit Erik durch Mutterschaft einen Sinn zu geben, doch wird sie im Gegensatz zu Esther in den ›Verdorrten‹ nicht schwanger. Trotzdem lässt sich ihre Reaktion auf Erik, der ihr kein Kind schenkt, mit jener von Esther vergleichen, die von Edgar zur Abtreibung gezwungen wird und ihn nach der erzwungenen Abtreibung hasst.15 Helene heiratet nach dieser Erfahrung einen ungeliebten, hässlichen, aber gesellschaftlich anerkannten Mann, Eriks Studienkollegen und -rivalen Egon Sänger. Er hat sowohl Züge des jüdischen Außenseiters als auch des willensstarken, vernünftigen Egoisten, der Erfolge durch Fleiß und Taktik erringt. In den ›Verdorrten‹ ist es der Bankier Anschütz, ein Jugendfreund Edgars, der die »abgelegte Geliebte« (E 82) zur Frau nimmt. Der Bankier verfügt über Edgars Geld und hat damit eine ähnlich überlegene Position wie Egon Sänger über Erik, der das für Eriks Forschungen so wichtige Radiumbromid besitzt. Ähnlich sind auch die Reaktionen der beiden Frauen, als die Helden erkranken. Als bei Erik Krebs diagnostiziert wird, erklärt sich Helene bereit, ihn zu pflegen. Esther führt in den ›Verdorrten‹ Edgars Lungenkrankheit zwar herbei, doch pflegt auch sie ihn und opfert der Krankheit sogar ihr zweites Kind. Wie sich durch einen weiteren Vergleich zeigen ließe, wiederholt sich dieses Handlungsschema auch in Weiß’ zweitem Roman ›Der Kampf‹ (1916), der später den Titel ›Franziska‹ trägt. Die Liebesgeschichte zwischen Hedy und Erwin weist zugleich eine Analogie zur Geschichte von Alfred Dawidowitsch und Poldi im Roman ›Mensch gegen Mensch‹ (1919) auf. Mit diesem Roman überschneidet sich die Textgenese der ›Verdorrten‹.
1.2. Zur Genese der Langfassung der ›Verdorrten‹ Neben dem Vergleich von Personen und Handlungen der ›Verdorrten‹ mit dem Roman ›Die Galeere‹ ist für die Einordnung der Novelle in die erste Schaffensphase auch eine werkgenetische Beobachtung aufschlussreich. Ich spreche von der Verzahnung der ersten Novellenfassung mit der (Ur-)Fassung des Romans ›Mensch gegen Mensch‹ (1919). Am 30. März vermutlich des Jahres 1920 sandte Weiß an den Chefredakteur der Zeitschrift ›Der neue Merkur‹ Efraim Frisch einen Text mit der Bitte um Abdruck und dem Hinweis, an dem kleinen Werk »mit
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einzige, was beiden, dem Mann und der Frau, am Herzen lag, an dem beide leiden, durch das beide glücklich werden konnten.« (G 135) »Helene sollte nicht Mutter werden, nicht Mutter eines Kindes von Erik Gyldendahl. […] Sie haßte Erik von diesem Augenblick an, sie verachtete ihn mit der ganzen Kraft eines Weibes, das einen Mann verachtet, weil seine Umarmungen unfruchtbar sind. Sie waren unfruchtbar – grausam und schmählich, brutal, weil Brutalität nichts ist als unnütze Grausamkeit. Das Leben war verändert – sie hatte abzuschließen mit dem Kapitel Liebe – und sie schloß ab.« (G 138)
großen Unterbrechungen, 5 Jahre gearbeitet« zu haben. Mit seinem Text zeigte sich der Schriftsteller nicht recht zufrieden, er deutete kompositorische Mängel an und begründete sie mit der langen Schaffenszeit: »Es kann daher gut sein, daß die Arbeit nicht jene Geschlossenheit und Einfachheit hat, besonders in den Anfangspartien, wie ich sie heute anstrebe.«16 Frisch bestätigte Weiß’ Zweifel und riet zu Kürzungen. Mag sein, daß, wie Sie selbst sagen, die lange Arbeit an der Novelle sie in erster Linie etwas zäh und undurchsichtig gemacht hat. Ließe sich da nicht durch einen herzhaften Schnitt abhelfen? Einfach zu kürzen schiene mir das radikalste, doch wohl auch zweckdienlichste zu sein; es würde die Wirkung bedeutend heben.17
Als ›Die Verdorrten‹ in der Mai/Juni-Ausgabe 1920 des ›Neuen Merkur‹ erscheinen, umfasst der Text nur noch gut 20 Seiten; der Autor war dem Rat des Redakteurs offenbar gefolgt. Ein Jahr später veröffentlichte Weiß die Novelle erneut in der ›Prager Presse‹, diesmal unter dem Titel ›Fragmente des Lebens‹. Dieser Text war allerdings um drei Anfangskapitel länger.18 Da die Version stilistisch außerdem weniger durchgearbeitet war als jene im ›Neuen Merkur‹, kann man annehmen, dass es sich um die älteste heute bekannte Fassung der Novelle handelt.19 Ein Vergleich der beiden Fassungen zeigt, dass Weiß die drei Anfangskapitel zunächst offenbar als festen Textbaustein der ›Verdorrten‹ eingeplant hatte. Die Briefe des Autors aus den Jahren 1917 und 1918 zeigen, dass die drei Kapitel ursprünglich einem ganz anderen Text angehört hatten, nämlich der ersten Novellenfassung des späteren Romans ›Mensch gegen Mensch‹, den Weiß um 1917/18 auszuarbeiten begann. In seinen Briefen an Rahel Sanzara gibt Weiß zahlreiche Hinweise darauf, dass er diese drei Kapitel erst bei der endgültigen Überarbeitung des Romans aus dem Manuskript herausgenommen hatte, als er den Text für die Drucklegung straffte.20 Die eliminierten Kapitel publizierte er noch vor dem Erscheinen des Romans 1918/19 in der Zeitschrift ›Der Friede‹. Hier erfolgte
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Ernst Weiß an Efraim Frisch, Brief vom 30. März [1920]. Efraim Frisch an Ernst Weiß, Brief vom 22. April 1920. Neun Schreiben an Ernst Weiß aus den Jahren 1920–1924, aufbewahrt im Leo Baeck Institut, Efraim-FrischCollection, ›Der neue Merkur‹, Redaktionsbriefwechsel, New York, USA. Vgl. Weiß, Fragmente des Lebens, Abendausgabe. Diese Abweichungen in der Textgestalt von ›Fragment der Kindheit‹ im ›Frieden‹ [fortan: F] und in der ›Prager Presse‹ [fortan: PP] sind vor allem stilistischer Art. Ein Vergleich der Texte erhärtet Hartmut Binders These, dass die Fragmente, die im ›Frieden‹ abgedruckt worden waren, ähnlich wie die Fassung der Novelle im ›Neuen Merkur‹ jüngere und überarbeitete Versionen des Textes darstellen. – Vgl. Binder, Ernst Weiß und die Prager Presse, S. 79f. Dies lässt sich aus den Briefen des Autors an Rahel Sanzara erschließen. Vgl. als Beispiele hierfür die Briefe vom 21. Januar 1917, Februar [1917], 24. Februar 1917, 15. & 16. März 1917, 13. April 1917.
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allerdings kein Hinweis auf ihre Herkunft aus dem Romanentwurf; sie erschienen schlicht unter den Titeln ›Fragment der Kindheit‹ und ›Fragment der Jugend‹.21 In diesen Abdrucken der Kapitel trägt der Held erstaunlicherweise den Namen Edgar – also des Protagonisten der Novelle ›Die Verdorrten‹. Nur eine Stelle im ›Fragment der Jugend‹ offenbart, dass der Held in einem früheren Entwurf einen anderen Namen getragen haben muss: Durch einen Flüchtigkeitsfehler blieb hier der Name »Alfred« im Text stehen, der auf die Hauptfigur des Romans ›Mensch gegen Mensch‹ hindeutet.22 Dieser Flüchtigkeitsfehler legt die Vermutung nahe, dass der Protagonist des ›Fragments der Jugend‹ ursprünglich mit jenem des Romans ›Mensch gegen Mensch‹ identisch gewesen sein muss. Weiß eliminierte also die drei Romankapitel, veröffentlichte sie nach kurzer Überarbeitung in der Zeitschrift ›Der Friede‹ und schlug sie dann der Novelle ›Die Verdorrten‹ zu. Erst als sie Efraim Frisch im Text störten, entschloss sich Weiß, die Kapitel ganz zu streichen. Warum er die drei Anfangskapitel allerdings in der Langfassung der ›Verdorrten‹ in der ›Prager Presse‹ beibehielt, kann nicht rekonstruiert werden. Es könnten pekuniäre Gründe eine Rolle gespielt haben, die Kapitel mit abzudrucken – je länger ein Text, desto höher der Verdienst. Binders These, dass Zeitnot den Autor trieb, die alte Fassung anstelle der überarbeiteten Version aus dem ›Neuen Merkur‹ einzureichen, ist plausibel.23 Sie lässt aber die Frage unbeantwortet, warum Weiß das erste Kapitel der Prager Fassung im August 1924 noch einmal unter dem Titel ›Die Mutter‹ in der ›Morgenzeitung und Handelsblatt Mährisch-Ostrau‹ erscheinen ließ und für diese Veröffentlichung ebenfalls auf sein ältestes Manuskript zurückgriff.24 Dass zahlreiche weitere Überarbeitungen der ›Verdorrten‹, etwa jene für eine Novellenanthologie von Max Krell im Jahr 1921, ebenfalls auf der Basis der Prager Veröffentlichung stattfanden, legt den Schluss nahe, dass Weiß das Manuskript seiner Fassung für den ›Neuen Merkur‹ schlicht nicht mehr besaß.
1.3. Zu den verschiedenen Textausgaben der ›Verdorrten‹ Ernst Weiß veröffentlichte seine Novelle, nach dem Abdruck im ›Neuen Merkur‹ und in der ›Prager Presse‹, noch dreimal. Bei der Bearbeitung legte er
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Vgl. Weiß, Fragment der Kindheit, S. 574f.; ders., Fragment der Jugend, S. 402–405. Vgl. Weiß, Fragment der Jugend, S. 404. Binder mutmaßt, dass Weiß Arne Laurin ein vollständiges Manuskript vorlegen wollte, um die Tatsache zu verschleiern, dass die Texte bereits veröffentlicht waren, oder dass Weiß unter Zeitnot handeln musste und ihm ein zwar veralteter, aber homogener Text zur Veröffentlichung geeigneter erschien als die schnelle Zusammensetzung der anderen Drucke. – Vgl. Binder, Ernst Weiß und die Prager Presse, S. 80. Vgl. Weiß, Die Mutter, S. 2f.
jeweils die Prager Fassung zugrunde. Als ›Die Verdorrten‹ 1921 in einer von Max Krell herausgegebenen Novellenanthologie25 erschienen, zeigten sie Merkmale sowohl der Prager Version als auch des Abdrucks im ›Neuen Merkur‹26, woraus sich schließen lässt, dass Krell von Weiß eine leicht korrigierte Version der Urfassung erhielt.27 1923 publizierte Weiß die Novelle in seinem Erzählband ›Atua‹ bei Kurt Wolff28 und nahm in dieser Version eine neue Kapiteleinteilung vor.29 Der fünfte und letzte Abdruck der Novelle zu Lebzeiten des Autors erfolgte 1928 in Weiß’ Erzählband ›Dämonenzug‹.30 Hier legte der Autor die Fassung aus dem Band ›Atua‹ zugrunde, veränderte jedoch die Kapiteleinteilung und überarbeitete den Text auch stilistisch.31 Inhaltlich verstärkte er Bezüge auf die zeitgenössische Wirklichkeit, indem er die Geschichte in einen konkreten Zeitrahmen einbettete32 , zusätzliche Informationen über die Herkunft des Protagonisten
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Vgl. Weiß, Die Verdorrten. In: Die Entfaltung, S. 200–223. Der Text in Krells Anthologie zeigt vor allem in den ersten Kapiteln Spuren der Umarbeitung, die ihn in die Nähe der Fassung im ›Neuen Merkur‹ [fortan: NM] rücken. In den späteren Kapiteln stimmt der Text hingegen mit der Version in der Prager Presse überein, vgl. NM 123: »Das Böse der bösen Tage trieb ihn und sie mit jedem Tage näher.« und K 204 und PP: »Das Böse der bösen Tage draußen, trieb ihn und sie zu ihr und ihm.«; vgl. NM 128: »[I]n ihrer Verzweiflung umarmten sie ihre ganze Liebe noch einmal.« und K 210 und PP: »[I]n einer verzweifelten Umarmung umarmten sie ihre ganze Liebe noch einmal.« Zum Beispiel findet sich in der Anthologie jene Stelle aus der ›Prager Presse‹ wieder, an der Esther Edgars Brust »wie ein Liebender« befühlt (K 217), während die Formulierung im ›Neuen Merkur‹ an Esthers Geschlecht angeglichen ist: »wie eine Liebende« (NM 134). Vgl. Weiß, Die Verdorrten. In: Weiß, Atua, S. 51–100. Das erste und das dritte Kapitel werden in kleinere Einheiten unterteilt, so dass nun zehn anstatt sieben Kapitel entstehen. Vgl. Weiß, Die Verdorrten. In: Weiß, Dämonenzug, S. 111–152. So strich Weiß die hier kursiv gesetzten Passagen aus der Fassung von 1923 in der Fassung von 1928, vgl. A 71 und D 122: »Tränen wurden. Überwältigung. Nun war Esther das Wesen ohne Wissen, [...] ein nackter Schoß, eine Seele nackt, nicht der mütterlich schützende Leib, sondern nur des Geliebten Geliebte, des Bräutigams Braut. Sie schämte sich, ihn nachher anzusehen.« – Auch die nachfolgend zitierte Stelle verbesserte Weiß. Das in der zitierten Fassung von 1923 kursiv gestellte Wort fehlt in der Fassung von 1928, vgl. A 76 und D 126: »›Wir werden telefonieren‹, sie verschwand, entglitzerte.« – Zurückgenommen ist in der Fassung von 1928 auch die Metaphorik, die sich noch in der Fassung von 1923 findet, vgl. A 85: »[Sie] befühlte, wie aus Liebe, Edgars Brust, sein hart pochendes Herz, seine Haut, die schwamm in bitterer Feuchtigkeit.« und D 134: »[Sie] befühlte, wie aus Liebe, Edgars Brust, sein hart pochendes Herz, seine Haut, die in krankhaftem Schweiß schwamm.« (Alle Hervorhebungen Ch.D.) So findet sich in einem Satz im letzten Kapitel eine Anspielung auf den Ersten Weltkrieg, vgl. D 144: »Sie überlebten den Krieg, die Revolution und was nachher kam.«
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gab33 und die gesellschaftliche Bedeutung der Ehe betonte34 . Dafür veränderte Weiß den Perspektivenanteil beider Figuren zugunsten jener des Protagonisten35 und nahm einige Aussagen des Erzählers über Gefühle der Figuren zurück36. Diese stark überarbeitete letzte Fassung37 liegt dem 15. Band der ›Gesammelten Werke‹ und meiner Interpretationsskizze zugrunde.
1.4. Zur zeitgenössischen Rezeption und zur Forschung Die Besprechungen der Novelle setzten 1921, mit dem Erscheinen der Anthologie von Max Krell, ein. Sylvia von Harden reagierte als eine der ersten Rezensenten auf ›Die Verdorrten‹ und betonte die Problematik des Geschlechterkampfes in der Novelle.38 Die Kritiker des Erzählbandes ›Atua‹ (1923) sahen in der Liebesgeschichte vor allem die Darstellung eines Existenz- und Lebenskampfes und eines ausweglo33 34
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Ebd., D 110: »Er entstammte als einziges Kind einer unglücklichen Ehe, er fürchtete sich, sich zu binden, und doch graute es ihm davor, allein zu sein.« Ebd., D 112: »Sie sprach von Ehe, aber er schwieg. Nun sprach sie nie mehr davon.« – Vgl. auch D 120: »An einer formalen Ehe würde ›es‹ nicht scheitern. Er würde sich nicht versagen, in keinem Falle. Sie hätte die Wahl, sei ganz frei. Sie ließ ihn reden, atmete schnell, sagte nichts.« In der Fassung von 1923 ist Edgar noch fest entschlossen, das Kind zu vernichten, vgl. A 66f.: »Er wollte ›es‹ also zertreten? Er wollte es, er wußte in seiner Seele, daß er dieses ungeborene Kind haßte. Er konnte nicht ertragen, dieses gegen seinen Willen Lebende lebend zu wissen.« In der Fassung von 1928 weiß er nicht mehr genau, was er will, vgl. D 118: »Er wollte es also zertreten? Was wollte er? Konnte er nicht ertragen, dieses gegen seinen Willen Lebende lebend zu wissen?« (Hervorhebungen Ch.D.) Vgl. A 60: »Esther aber hatte sich endlich daran gewöhnt, die Schwefelsäure in ihrem Zusammenleben mit ihm zu ertragen.« Diese Stelle wird in ›Dämonenzug‹ komplett umformuliert. Die Metapher der Schwefelsäure entfällt. Stattdessen gibt der Erzähler einen Gedanken Edgars in erlebter Rede wieder, vgl. D 113: »Was aber hatte sie außer ihm? Sie wollte ihn, aber kein Kind.« Nicht jede Inkongruenz entspringt einer Autorintention. So ist eine Unklarheit in den Zeitangaben der letzten Fassung auf den Überarbeitungsvorgang zurückzuführen. In ein und derselben Szene ist einmal von einem »späten Apriltag« und sodann vom heutigen »12. Mai« die Rede (vgl. D 118 und D 121). Die Inkongruenz lässt sich erklären, wenn man in Betracht zieht, dass Weiß in der Erstfassung noch auf das Datum des 27. April rekurriert (anstelle des 12. Mai) und die Szene somit ganz im April ansiedelt. Erst im Zuge der Überarbeitung für den Sammelband ›Dämonenzug‹ änderte er das Datum auf den 12. Mai ab (vgl. D 121), weil er den 27. April bereits im ersten Satz seines Fragments ›Hodin‹ verwendet hatte (vgl. D 231). Durch einen Flüchtigkeitsfehler war in der Letztfassung der ›Verdorrten‹ der »späte Apriltag« als Zeitangabe stehen geblieben. Vgl. Sylvia von Harden, Die Entfaltung. Zeitnovellen, herausgegeben von Max Krell, Ernst Rowohlt-Verlag, Berlin. In: Prager Presse, 11. September 1921, S. 13: »Es erstarrt die wirklich erlebte, wirklich geliebte Zeit in beiden, die Gewohnheit des Sichkennens beginnt.«
sen menschlichen Daseins.39 Zwei Rezensenten hoben die stilistische und thematische Verwandtschaft der Novelle mit Weiß’ ersten Romanen hervor: So sah Paul Wiegler in den Anfangspartien der Novelle eine große Nähe zum Roman ›Franziska‹40, während Hans Bethge auf den impressionistischen Stil der Novelle hinwies.41 In diesem Zusammenhang erwähnten die Kritiker auch die Tragikomödie ›Leonore‹,42 bei der sie eine Affinität zum »Erbe Strindbergs«43 und zu Wedekind sahen. Die meisten Besprechungen der Novelle im 1928 erschienenen Erzählband ›Dämonenzug‹ betonten hingegen die gesellschaftliche und moralische Bedeutung der Novelle.44 Erstmals wurde auch das Thema der Schuld in den ›Verdorrten‹ angesprochen.45 Darüber hinaus rückten die »technischen Mittel psychoanalytischer Erzählkunst« in den Blickpunkt der Kritiker.46 Auf die Bedeutung des Psychischen in den ›Verdorrten‹ ging auch die Weiß-Forschung ein. So bemerkte Pazi eine »psychische Verlagerung«47 des Todesmotivs in der Novelle, während 39 40 41
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Vgl. Guido K. Brandt, Atua. Drei Erzählungen. In: Die Literatur 26 (1923), S. 37f. Wiegler, Der Büchertisch, S. 6. Vgl. Hans Bethge, Atua. Drei Erzählungen. München. Kurt Wolff, 1923 (183 Seiten). In: Zeitschrift für Bücherfreunde N. F., 16 (1924), Sp. 131. – Erstaunlicherweise fokussiert Bethge nicht den Protagonisten Edgar, sondern Esther. Weiß hatte die Novelle als Textvorlage für die Handlung des Dramas genutzt, das 1923 an der Kleinen Bühne in Prag uraufgeführt worden war. Den Premierenkritiken ist zu entnehmen, dass Weiß in dem verschollenen Textbuch die Novellenfigur Esther durch die Bühnenfigur Leonore ersetzte, dass das Drama der Novelle inhaltlich jedoch weitgehend folgte. – Vgl. Ludwig Winder, Ernst Weiß: Leonore. Uraufführung in der Kleinen Bühne. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 1. Juli 1923, S. 6. o[tto] p[ick], Kampf um ›Es‹. Uraufführung in der Kleinen Bühne: ›Leonore‹, Tragikomödie in 8 Bildern von Ernst Weiß. In Szene gesetzt von Hans Demetz. In: Prager Presse, 1. Juli 1923, S. 11. Johannes Urzidil, Ernst Weiß: Leonore (Uraufführung in Prag). In: Berliner Börsen-Courier, 20. Juli 1923, Beilage S. 1.– Wiederabgedruckt in: EWM, S. 52–55. Vgl. Hans Horkheimer, Dreimal Ernst Weiß: Dämonenzug; Boetius von Orlamünde; Das Unverlierbare. In: Berliner Tageblatt, 15. März 1929, Morgenausgabe, 1. Beiblatt; Max Krell, Rebellen und Dämonen [u.a. Dämonenzug, Das Unverlierbare]. In: Vossische Zeitung, 20. Dezember 1928, S. 2 [Das Unterhaltungsblatt]; Bernhard Flemes, Neue Prosa? In: Hannoverscher Kurier, 13. Dezember 1928, S. 3f.; N. N., Ernst Weiß: Dämonenzug. In: Münchner Neueste Nachrichten, 8. Januar 1929, S. 11; [Richard] Huelsenbeck, Ernst Weiß: Dämonenzug. Berlin: Ullstein. In: Die literarische Welt 5 (1929), S. 5. – Wiederabgedruckt in: EWM, S. 96. Sch-r., Ernst Weiß, Dämonenzug. In: Der Bund. Eidgenössisches Zentralblatt und Berner Zeitung, 9. Februar 1929, Samstagsausgabe, S. 3: »Edgar und Esther, die ein ungeborenes Leben gemordet haben und unter der Last der Schuld an lebendigem Leibe verdorren.« Ernst Lemke, Ernst Weiß: Dämonenzug. Fünf Erzählungen. In: Rheinisch-Westfälische Zeitung (Essen), 12. Mai 1929, S. [12]. Pazi, Das Todesmotiv bei Ernst Weiß, S. 63.
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Delfmann die Erzählung als Ausdruck der menschlichen Entfremdung »in der modernen Gesellschaft schlechthin«48 interpretierte. Binder bewertete die Novelle biografisch, indem er in der »Erzählung [...] wichtige Aspekte der Beziehungsprobleme des Autors«49 ästhetisiert sah. Die ausführlichste und bislang einzige Interpretation der Novelle stammt von Angela Steinke, die sich der Personenkonfiguration und der Geschichte unter dem thematischen Aspekt der MannFrau-Problematik näherte.50 Die Interpretin erkennt die für die Geschichte wesentliche Größe des Schicksalhaften in Esthers Rache; allerdings erläutert sie die Erzählverfahren nicht näher, die diesen Eindruck erzeugen und unterstützen.
1.5. »… ich bin es nicht, es ist meine Natur!« – Interpretationsskizze Die folgende Interpretationsskizze versucht, auf der Ebene der Geschichte die Existenz- und Erkenntnisproblematik der Hauptfigur herauszuarbeiten. Auf der Ebene der Erzählung benennt sie die narrativen Verfahren, mit deren Hilfe der Konflikt des Helden vermittelt und gedeutet wird. Es zeigt sich, dass die Krise des Protagonisten vordergründig als psychische Erkrankung beschrieben werden kann, dass sie hintergründig jedoch auch eine ethische Dimension hat. Es geht um den Themenkomplex der menschlichen Existenz und Erkenntnis, der Willensfreiheit und der Schuld. Diese Liebesgeschichte erzählt weniger von der (altruistischen) Sorge der Partner füreinander als vielmehr von der (egoistischen) Suche nach dem eigenen Seelenheil. Hinweise auf eine ethische oder existenzielle Textbedeutung erhält der Leser narrativ durch ein System aus textinternen Verweisen, aber auch durch die Kommentare des Erzählers und durch die Titelmetapher. So entsteht früh der Eindruck, dass in dieser Erzählung nicht alles wörtlich, vieles aber metaphorisch zu verstehen sei. Die Interpretationsskizze untersucht auf der Ebene der Geschichte die Figur, ihr Handeln sowie die Ursachen ihrer Existenz- und Erkenntnisproblematik und wirft einen Blick auf die Impliziten Transfersignale der Novelle. Auf der Ebene des Diskurses stellt sie die Anordnung der Zeit und die (Figuren-)Perspektive dar, geht auf die Rolle des Erzählers ein und auf das Explizite Transfersignal der Titelmetapher.
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Delfmann, Heldentum, S. 88. Binder, Ernst Weiß und die Prager Presse, S. 78. – Der Kafka-Forscher geht so weit, den Protagonisten Edgar in der Langfassung ›Fragmente des Lebens‹ mit Kafka gleichzusetzen. Vgl. Steinke, Ontologie, S. 189–218.
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1.5.1. Die Geschichte: Die Krise des Helden und das Muster des Kampfes ›Die Verdorrten‹ werden von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler51 vermittelt, der das Geschehen im Tempus Präteritum erzählt und seine Haltung gegenüber seinen Figuren in wenigen Kommentaren andeutet. In ihrer letzten Fassung ist die Geschichte in 13 Kapitel unterteilt, wobei sich das erste und das letzte von den restlichen elf Kapiteln in Stil und Länge unterscheiden. Während diese beiden Kapitel eine Art Rahmen für die Erzählung und für die ErzählerLeser-Kommunikation bilden, wird in den restlichen elf Kapiteln die eigentliche Handlung wiedergegeben. Diese Handlung unterteile ich in zwei Phasen: In der ersten Phase (Kap. 2–8) wird die Beziehung von Edgar und Esther bis zur ersten Schwangerschaft und Abtreibung beschrieben; sie endet mit der Trennung des Paares. Die zweite Phase erzählt von der erneuten Annäherung der beiden Protagonisten, von Edgars Erkrankung, Esthers zweiter Schwangerschaft, deren Abbruch und einem freudlosen Zusammenleben (Kap. 9–12). Beide Erzählphasen kulminieren in einem Schwangerschaftsabbruch. Sie erweisen sich damit in ihren Ereignissen als aufeinander bezogen, in ihrer Struktur als repetitiv.52 Diese Rück- und Gegenbezüglichkeit verleiht der Handlung etwas Künstliches. Beide Protagonisten sind zudem auf der Suche, ihr Handeln ist von Annäherung und Abstoßung gekennzeichnet. In diesem Sinne spreche ich von einer doppelten ›Weg-Ziel-Struktur‹ der Handlung, die sich semantisch als Muster eines Kampfes deuten lässt. Die Seele als Kampfschauplatz. Der Neurotiker Edgar Die Existenzproblematik des Helden in den ›Verdorrten‹ ist vordergründig als Krankheit gestaltet. Edgar wird als Neurotiker53 geschildert, der »in Furcht vor dem Wahnsinn« fiebert und sich auf »ewige[r] Flucht durch die ewige Verfolgung des eigenen Ichs« befindet (E 66). Die Ursachen für diesen Konflikt werden 51
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Zu den Begriffen der Extradiegese und der Heterodiegese vgl. Genette, Die Erzählung, S. 163 und S. 175. – Nach Genette gibt der Begriff der »Extradiegese« den Ort des Erzählens an. Die Erzählung eines Rahmenerzählers erfolgt auf einer ersten Ebene, die Genette als »extradiegetisch« bezeichnet. Die Ereignisse, von denen dieser Erzähler erzählt, sind auf einer zweiten Ebene angesiedelt, die »intradiegetisch«, in der Geschichte, verortet ist. Der Begriff der »Heterodiegese« charakterisiert die Identität oder NichtIdentität eines Erzählers mit einer Figur: Ein Erzähler, der eine Geschichte erzählt, in der er selbst nicht vorkommt, ist »heterodiegetisch«. Einen Erzähler, der mit einer Person der Geschichte identisch ist, nennt Genette einen »homodiegetischen« Erzähler. Vgl. dazu auch Steinke, Ontologie, S. 208. Der Neurotiker wird allgemein definiert als ein an einer psychogenen Affektion erkrankter Mensch, wobei die Wurzeln der Krankheit in die Kindheit zurückreichen. – Vgl. J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Neurose. In: Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 111992, S. 325–329.
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nicht dargestellt, sondern nur in einem Satz benannt: »Er entstammte als einziges Kind einer unglücklichen Ehe, er fürchtete sich, sich zu binden, und doch graute es ihm davor, allein zu sein.« (E 64).54 Seit seiner unglücklichen Jugend muss sich Edgar permanent seiner selbst vergewissern: Seine Selbstgewissheit ist ihm in dem Maße abhanden gekommen, in dem er eine tiefe Einsamkeit verspürt. Für Gemeinschaft und Gesellschaft kann er sich jedoch nicht dauerhaft entscheiden. Er »sprach zu sich, sang stundenlang zum Takt seiner Schritte, zu dem Stampfen der Lokomotive, wenn er reiste, [...] während er arbeitete oder umherging« (E 61f.). Edgar sehnt sich nach menschlicher Nähe. Zugleich empfindet er sie als Überforderung und Bedrohung. Allzu große Nähe löst bei ihm sogar Ekel aus: Aber auf die Dauer konnte er nicht mit ihr [Esther, Ch.D.] leben. Er konnte überhaupt nicht dauernd mit Menschen Wand an Wand, Mund an Mund, Brust an Brust leben. Es beengte ihn bis zur Angst des Erstickens; er haßte, er verfluchte alles, was zu nahe um ihn lebte [...], und ebenso die Geliebte, den Hauch ihres Atems, den etwas vergilbten Einsatz ihres Hemdes, ihr Haar, das er am Tage nachher in seinem Kamm fand oder auf dem Grunde seines Waschbeckens, alles reizte ihn zum Erbrechen, als ziehe es sich durch seinen Hals die Kehle hinab. (E 61)
Im weiteren Verlauf der Erzählung wird deutlich, dass die Ursachen für diese Störung nicht nur auf eine unglückliche Familiengeschichte zurückgehen, sondern existenzieller Natur sind. Edgar hat Angst vor dem Tod. Diese Angst führt zu einem widersprüchlichen Verhalten. Als Chemiker bringt sich Edgar immer wieder selbst in (Lebens-)Gefahr, indem er mit dem Feuer spielt und den Tod provoziert. Er blieb lange über die Arbeitszeit hinaus in dem ganz verlassenen Laboratorium, zündete die Gashähne der Bunsenbrenner an, stellte sie wieder klein, eine nutzlose Beschäftigung, endlich warf er sich auf ein Sofa im Chefzimmer, zog den Rock über das Gesicht, tat sich Gewalt an, langsam zu atmen, nichts zu sehen noch zu denken, nur um sich vor der großen Angst, dem idiotischen Verhängnis zu schützen, das vielleicht an unrechter Stelle Feuer gefangen hatte. (E 66)
Diese Angst vor dem Tod macht Edgars Verhalten ambivalent. Einerseits weiß er, dass der Tod das Ende seiner (physischen) Existenz bedeutet. Andererseits ahnt 54
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In der Fassung von 1921, in der sich auch die drei ersten Kapitel aus der ersten Romanfassung von ›Mensch gegen Mensch‹ finden, werden die Ursachen der Störung ausführlich begründet: Sie bestehen im Gefühl eines Nicht-Geliebt-Seins des Sohnes durch seine Mutter, die sich ihrerseits nicht geliebt fühlt. Der Pessimismus der Kleinfamilie führt den Heranwachsenden in eine Traumwelt, die ihn die Nähe zum Theater und zur Natur suchen lässt. Durch das Gefühl des Nicht-Geliebt-Werdens entwickelt der Junge außerdem einen Minderwertigkeitskomplex, den er nach der Matura durch seine Berufswahl zu kompensieren versucht: Er will Arzt werden, weil ihm dieser Beruf eine Herrschaft über Leben und Tod zu versprechen scheint. – Vgl. Weiß, Fragmente des Lebens, Abendausgabe.
er, dass sich hinter dieser Grenze eine ersehnte Freiheit verbirgt. Seine Sehnsucht nach ›Freiheit‹ überträgt er auf Esther: Sie ist »etwas Tiefes zum Hineinversinken, dem Schlafe gleich und dem Tod, dem ersehnten, dem gefürchteten« (E 61, Hervorhebungen Ch.D.). Der Schlaf ist, wie der Traum, ein Zustand, in dem der Verstand keine Kontrolle mehr über das Bewusstsein hat. Edgars Wunsch, sich mit Esther zu vereinigen, manifestiert sich als Zeichen seiner Sehnsucht, das vereinzelte Ich zu verlassen und in einem ›ganzheitlichen‹ Zustand aufzugehen. Metaphysikkonstruktionen (1): Esther, das »lichtdurchflutete Wesen« Doch auch Edgars Verhältnis zu Esther ist von Unschlüssigkeiten geprägt. Zunächst ist sie für ihn das Lebewesen, das ihm die Aufhebung seiner Ängste verspricht. Sie allein scheint der Weg zu sein, um in ein ganzheitliches ›Leben‹ zu gelangen, die Grenzen seiner Vereinzelung zu sprengen. Die Frau, deren Namen »Stern«55 bedeutet, ist ein Wesen ohne Wissen, umgeben von ewiger Sommerzeit, schwimmend in Duft wie in einer eigenen Welt! Ein Stern, allem Bekannten unbekannt, entfernt von den Tieren, von den Pflanzen, eine starke Gewalt, beide Hände voll von Wollust […]. (E 61)
Esthers Überhöhung durch die Lichtmetaphorik kennzeichnet Edgars Denken als nicht-rational. Aus seiner Sicht ist die Frau ein Naturwesen, das vom Duft der Pflanzen umgeben (vgl. E 63) ist, und ein heiliger, von Licht durchfluteter Raum. Ihr Gesicht ist wie eine »gotische Kathedrale«, ihr Kinn geformt wie ein »schmale[r] gotische[r] Bogen« (E 61). In diesem sakralen Raum sucht Edgar »die einzige Wirklichkeit, die, über zwei Säulen wie ein Pfeilerbogen gespannt, unerschütterlich schien für den Blick, aber es nicht war für die Zeit!« (E 62). Was er sich ersehnt, ist der Eros der Seele, nicht die körperliche Vereinigung.56 Dies wird an jener Stelle deutlich, als der Erzähler berichtet, dass sich Edgar »nicht einen nackten Körper, sondern eine nackte Seele« (E 63) wünscht. Allerdings erfährt er in der Vereinigung mit Esther in erster Linie körperliche Nähe. Die Partnerschaft erweist sich als labiles Äquilibrium, in dem »an manchen Tagen […] alles Wollen bei beiden« (E 62) versagt. Die körperliche Vereinigung erfüllt Edgar mit Enttäuschung, denn er erlebt, dass »nicht nur das Sterbliche am Menschen verwesen konnte, sondern auch das Unsterbliche« (E 62). Esthers Duft geht mit
55 56
Vgl. Steinke, Ontologie, S. 191. Vgl. Platon, Gastmahl. In: Platon, Sämtliche Dialoge. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1998, Bd. III: S. XXXIf. und S. 57f. – Im ›Gastmahl‹ geht Platon dem Eros-Begriff nach. Wenn der Mensch im Eros das Gute und Schöne begreift, dann, so Platon, deswegen, weil es zu ihm gehört, weil es seine Natur, sein besseres Ich ist, das er liebt, wie er eben sich selbst liebt, und das darum beglückt und beseligt. Gemeint hat Platon damit den Eros, der am Urschönen und Urguten teilhat, nicht das naturhafte, regellose Begehren des Menschen.
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dem Beischlaf dahin, und Edgar erkennt, dass das Wesen neben ihm nicht heilig, sondern Leib ist, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Mit Esther erlangt nicht er die ersehnte überirdische ›Ganzheit‹, sondern er macht Esther, den Stern, durch seine Körperlichkeit irdisch. Sie verliert ihre jungfräuliche Unberührtheit und erlangt die »Seele einer Mutter« (E 63). Mit der Verwandlung der (Jung-)Frau in die Mutter geht eine »Entgötterung« (E 65) einher, die sich in der Entfremdung von der Geliebten niederschlägt: »Sie war jetzt nichts als die Vernunft, sie war nun der tägliche Tag, die logische Entzauberung, die kalte Wirklichkeit.« (E 64). Esther existiert von nun an als ein ungeliebter Rest neben Edgar, und er nimmt sich immer häufiger vor, sich bald von ihr zu trennen. Nur noch für kurze Zeit, dachte er, müsse er zu der alten Geliebten zurückkehren, dann erst würde eine neue Zeit beginnen, um so viel herrlicher als das Jetzt, als Esther in ihren schönsten Sommertagen herrlicher gewesen war als die einsame Zeit vorher. (E 64)
Edgars Furcht vor Esther wird durch ihre äußere Erscheinung gesteigert; offenbar ist sie größer als er. Ihre Brust reicht an seine Schulter heran, wie die Erinnerung an eine Abschiedsszene auf dem Bahnhof deutlich macht: »Der kleine Hügel von Esthers unbewehrter Brust [lehnt] an seine Schulter zum Abschied.« (E 62). Darüber hinaus wird Esther als eine Frau mit männlichen Attributen geschildert: Sie hat »schmale, keusche Hüften« (E 62) und scheint an Kräften ebenbürtig. Dass sich Edgar trotz der Ambivalenz seiner Gefühle nicht von Esther lösen kann, ist ein Zeichen seiner Unfähigkeit, sich mit einem Problem auseinander zu setzen: der Angst vor dem Tod. Wille, Verantwortung und Schuld: Der Entschluss des Helden Edgars Beziehung zu Esther zeichnet sich, wie deutlich wurde, nicht durch Liebe, sondern durch Angst und Projektionen aus. Diese Angst löst in Edgar am Ende der ersten Handlungsphase eine Reaktion aus, die ein Schuldverhältnis zwischen beiden Protagonisten nach sich zieht: Er zwingt Esther, ihr Kind abzutreiben. ›Die Verdorrten‹ erzählen von diesem Moment an nicht mehr nur eine Krankengeschichte, sondern auch eine Geschichte von Willen und Schuld. Schuld setzt ein zurechnungsfähiges Bewusstsein und eine selbst getroffene Entscheidung voraus. Ist Edgar zurechnungsfähig? Ihm jagt die Aussicht, Vater zu werden, eine so tiefe Angst ein, dass sich bei ihm der Wunsch verfestigt, Esthers Schwangerschaft zu beenden, um wieder (angst-)frei zu werden. Das Kind erscheint ihm als »völlige Vernichtung seines Lebens, als Erstickung jeder besseren Zukunft« (E 65). Für alles gab es einen Ausweg, einen guten Trost, nur diese unheimliche Möglichkeit mußte fort, dieses Gespenst einer Familie, einer Kinderschar bei einem jährlichen Einkommen von 3800 für alles. Dieses Gespenst erst mußte fort, alles stand ja gut, morgen konnte man in Sicherheit sein, auch sie, die vielumsorgte Esther, morgen oder spätestens in einer Woche. (E 67)
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Die Erzählung macht die Ablehnung des Kindes in einer Episode und mit einer biologischen Metapher plastisch. Edgar sieht sich an einem »späten Apriltag« (E 68) beim Anblick einer Anzahl lebendiger Würmer im Park mit dem ›Leben‹ konfrontiert. Die Furcht, er könne die Würmer zertreten, lässt ihn über seinen Wunsch nachdenken, das eigene Kind möge tot sein. Dennoch kommt Edgar selbst bei der ganz konkreten Vorstellung einer Abtreibung zu keinem klaren Entschluss. Während der Mann sein ganzes Wollen dazu zwang, die goldenen Windungen der schädellosen Tiere zu schonen, fühlte er mit Entsetzen, daß etwas ebenso Wortloses, ebenso Lebendiges im Schoße seiner Esther lebe und nicht zertreten sein dürfe. Er wollte es also zertreten? Was wollte er? Konnte er nicht ertragen, dieses gegen seinen Willen Lebende lebend zu wissen? Er sprach nichts. (E 68)
Mit der Annäherung an das Thema ›Leben‹ geht narrativ eine Entpersönlichung und Anonymisierung einher (»der Mann«). In Edgars Bewusstsein dringt nur in kurzen Momenten das Gefühl einer Schuld: »Alles, das fühlte er jetzt tief erschüttert, tat sie seinetwegen, unauslöschlich war seine Schuld.« (E 71). Aus seiner Perspektive erscheint das Kind weiterhin als etwas Schicksalhaftes, »Unentrinnbares« (E 70), das sich seiner Kontrolle entzieht. Erneut wird deutlich, dass Edgars Egoismus von einer tiefen Angst vor Selbstverlust angetrieben wird. Er sah es vor sich, drei Jahre alt, schlecht gepflegt, ein halbes Tier, ohne Sprache, zudringlich, drohend, es zwang ihn, es zu hassen, wie es sich erzwungen hatte, auf der Welt zu sein. Aber die anderen, Esther und dieses Kind, wie fühlte er, daß diese beiden einander lieben würden ohne ihn! Jetzt entschloß er sich. Er zerstörte dieses Kind in seinen Gedanken, dann erst konnte es in Esthers Gedanken zerstört werden und am Ende in Wirklichkeit. (E 70, Hervorhebung Ch.D.)
Indem der Held seine Freundin zwingt, sich gegen ihren Willen und für den seinen zu entscheiden, gewinnt er die Frau vordergründig zurück. Der Erzähler lässt offen, warum Esther ihrem Geliebten gehorcht und was in ihr vorgeht. Er deutet lediglich an, dass sie dem Willen Edgars unterliegt: »Sie schämte sich, ihn nachher anzusehen. Von dem Kinde sprachen sie nicht mehr.« (E 71). Dass Esther abtreibt, gibt Edgar das Gefühl der Sicherheit und der Macht über Esther zurück. Er war erschüttert, besänftigt durch ihre Tat. Daß es nicht mehr lebte, gab ihm ein neues Dasein; er fühlte eine neue Jugend, eine neue Kraft, da sein Wille sich durchgesetzt hatte und Esthers Liebe zu ihm die Natur überwunden hatte. (E 74, Hervorhebung im Original)
Edgar, der sich egoistisch verschließt, erkennt die Bedeutung des natürlichen Lebens nicht an, er bleibt gefangen in der Beziehung zu sich selbst. Sein Wille bringt ihm jedoch nur einen vorübergehenden Sieg. Am Ende verliert er nicht nur Esther als Partnerin, sondern er erlebt sie auch als eine Schicksalsmacht, die ihn fast zerstört. 105
Metaphysikkonstruktionen (2): ›Ganzheit‹ durch die Wissenschaft Die Sehnsucht nach ›Ganzheit‹, die Edgar in der ersten Handlungsphase in die Beziehung zu Esther hineinführt, führt in der zweiten Handlungsphase zum Versuch, diese ›Ganzheit‹ aus sich selbst heraus zu schaffen. Hierzu erscheint die Erfindung der Farbe Rot als ein adäquates Mittel. Edgar beginnt kurz nach der Trennung von Esther damit, diesen »Farbstoff« zu erfinden, der »säureecht […], unzerstörbar« (E 75) sein soll. Die Experimente kosten ihn Lebenszeit und sein ganzes Geld. Der Anspruch auf Unzerstörbarkeit wiederholt den Wunsch, etwas über die Zeit hinaus zu schaffen. Doch mit dem Wunsch sind Bedingungen verbunden: Edgar muss in eine fremde Stadt. Der frühere Chemiker war an Lungenblutungen erkrankt, er lag in elendem Zustande in einem verlotterten Hotelzimmer. Die Tätigkeit in einem Betriebsraum voller dichter Salzsäuredämpfe bei unvollkommener Ventilation verätzte jede Lunge; auch sein Vorgänger sei erkrankt, niemand könne sich auf die Dauer schützen und retten, sagte man ihm, das war die Wahrheit, die Erklärung für das hohe Gehalt. Man warnte ihn, die fremden Kollegen meinten es gut. (E 76)
Durch diese Konstellation – Esthers Wille führt sie herbei – wird die Erfindung direkt mit dem gefürchteten Tod verknüpft. Denn was Edgar an jenem fernen Ort zu Stande bringt, ist kein unzerstörbares Rot, sondern nur die biologische »Farbe« Blut: In einer Märznacht schlief er einen bleiernen Schlaf, auf die Glasplatte des Tisches im Laboratorium gesunken. Er träumte, er schwämme durch das Meer, im Munde alle salzige Bitternis des Meerwassers, und Esther, über den Bord eines Schiffes gelehnt, schütte von oben neue Bitternis in seinen Schlund. Er erwachte. Er sah die Glasplatte an. Sie war naß. Es war Blut. (E 77)
Damit bekommt die Farbe Rot eine doppelte Bedeutung: Sie verkörpert zum einen den Traum des Helden von ›Ganzheit‹ durch eine Erfindung, zum anderen steht sie für das biologische Leben, das durch Krankheit gefährdet und durch Tod zu Ende gehen wird. Die tragische Pointe dieser doppelten Bedeutung liegt darin, dass sich beide Bedeutungen ausschließen: Der überzeitliche Ruhm durch ein Werk, das Edgar durch seinen Geist gebiert, ist mit seiner körperlichen Zerstörung notwendig verbunden. Nicht das synthetische Rot, sondern das natürliche Blut, jenes genuine Symbol für ›Leben‹, steht am Ende der Versuchsreihe. Edgar reagiert auf die Todesgefahr mit verbissener Verdrängung. Die Erzählung lässt an dieser Stelle offen, ob er den Zusammenhang zwischen beiden Bedeutungen erkennt, und ob er seinen Wunsch nach ›Ganzheit‹ aufgibt. Existenz und Schicksal (1): Esther in der Rolle der Rächerin In den ›Verdorrten‹ wird die Problematik der Schuld nicht allein als Kampf des Willens gegen einen anderen menschlichen Willen verhandelt, sondern auch als Kampf des Individuums mit dem Schicksal. Das Schicksal ist neben dem Willen 106
eine zentrale Größe, doch wird sie nicht explizit benannt, sondern uneigentlich ausgedrückt. So stellt Esther, deren Kind Edgar in der ersten Handlungsphase als bedrohliches Schicksal empfunden hat, in der zweiten Handlungsphase selbst das Schicksal dar. Die Frau, nun Akteurin der Handlung, wird zur Metapher für Edgars Los; sie nimmt Züge einer Rächerin von alttestamentarischem Ausmaß an. Durch ihr Handeln sieht sich der Held einer Serie von Ereignissen ausgesetzt, die ihn finanziell, beruflich, gesundheitlich und seelisch ruinieren. Esther trägt dazu bei, dass Edgars Papiere nicht zum rechten Zeitpunkt verkauft werden, was ihn finanziell in die Knie zwingt und nötigt, die Stelle eines Chemikers in einer fremden Stadt anzunehmen. Esther weiß, dass die Tätigkeit seine Gesundheit – und also sein Leben – gefährdet, doch sie negiert alle Verantwortung: »Du siehst nicht gut aus, bist du denn wirklich krank?« (E 80). Den ruinierten Edgar demütigt sie, indem sie ihn zum Beischlaf gegen Geld zwingt und belügt: »Ich bin nicht mehr fruchtbar.« (E 78). Edgar erkennt am Ende in der Frau sein auswegloses Schicksal: »Endlich sehe ich das Muß.« (E 79). Sowohl in ihren Handlungen als auch mit ihren Worten nimmt Esther direkt auf die Ereignisse der ersten Handlungsphase Bezug: »›Habe ich vergessen‹, sagte sie, und ein fürchterliches Lächeln ging um ihren Mund.« (E 77). Ebenso sorgt die stereotype Wiederholung von Sätzen für eine Rückbezüglichkeit. So verwendet Esther vor dem erneuten Geschlechtsverkehr dieselbe Formel wie vor ihrer ersten Abtreibung: »Kann ich angezogen bleiben, soll ich nackt sein? Mir ist es gleich.« (E 78).57 In moralischer Hinsicht impliziert ihre Rache, dass Edgar eine Grenzüberschreitung begangen hat, die nicht ungesühnt bleiben soll. Weil er sich egoistisch an ihrem Leben und ihrem Glück vergangen hat, rächt sie sich an ihm. Sie bricht systematisch seinen Willen und lässt ihn an Körper und Seele leiden – so, wie sie selbst gelitten hat: ›Liebe ich dich noch?‹, sagte sie, ›zürne ich dir? Du hast mich zum Menschen gemacht, du hast mich zum Tier gemacht. Es gibt so viel andere Männer, gesündere, schönere, bessere. Für mich nicht. Und du‹, sie schrieb dem gewesenen Geliebten wie mit steinernem Finger eine tiefe Linie von der Halsgrube über das Brustbein den Leib hinab, ›jetzt, da du leidest, bist du Mann.‹ (E 78)
Gemäß der Logik dieser Rache ist alles, was Edgar geschieht, für Esther gerecht. Ein Gefühl von Schuld kennt sie nicht, vielmehr agiert sie als ›Medium‹ einer höheren Gerechtigkeit. Nach dieser Logik kann der erlittene Verlust nur durch die Entstehung neuen ›Lebens‹, im Zeugungsakt mit demselben Mann, wieder gutgemacht werden: Was ich von dir will? Ein einfaches Geschäft. Ich bin zwei Jahre verheiratet, mein Mann ist jung, ist stark, jünger, stärker als du. Du siehst leider sehr kränklich aus.
57
Vgl. E 73: »Kann ich angezogen bleiben, soll ich nackt sein?«
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Aber wir zwei, du und ich, kennen uns. […] Steh jetzt nicht auf, rühre dich nicht, du wirst deine Kräfte noch brauchen, heute nacht, das ist mein Geschäft. (E 77f.)
In Esthers mythischer Denkungsart können nicht Vergebung und Neuanfang, sondern allein Ritual und Wiederholung zur ›Rettung‹ beitragen. Die Frau sieht in der Weitergabe biologischen Lebens die Möglichkeit einer Verbindung ihrer Person mit dem ganzheitlichen ›Leben‹: »Ich habe ›es‹ noch nicht, bin noch nicht gerettet.« (E 80, Hervorhebung im Original). Für Esther ist die Weitergabe des Lebens also ein Weg, um im ›All‹-Leben aufzugehen: »[I]ch habe etwas, das du nie gekannt hast, auch in meiner ersten Zeit nie. Ich fühle immer, wie es in mir lebt.« (E 81). Ein Kind bringt nicht nur ihr, sondern auch Edgar die ersehnte ›Erlösung‹: »Wird das Kind gerettet, ich schwöre es dir, dann bist du es auch!« (E 81). Dennoch wird auch Esther am Ende nicht froh. Sie, die bereit war, das Leben des früheren Geliebten zu gefährden, wird von den Folgen ihrer Handlungen eingeholt. Ihr betrogener Gatte verstößt sie, sie kehrt zu Edgar zurück. Doch als Edgar erneut Blut von sich gibt, verhindern finanzielle Not und Krankheit – Versehrtheiten, die sie ihm zugefügt hat – die Geburt ihres zweiten Kindes. »Wo es gebären, für wen zuerst sorgen, wohin es legen, wenn er schon daliegt?« (E 82). Im Angesicht des Todes verzichtet sie auf ihr ›Leben‹ und gibt ihre Idee von Unsterblichkeit ebenso auf wie Edgar die seine. Die Botschaft, die auf handlungslogischer Ebene mit diesem Verzicht verbunden ist, ließe sich in Kürze so umschreiben: Egoismus und Rache als unreflektierte Formen des menschlichen Handelns bewirken nichts Gutes. Den Figuren dieser Geschichte wird der eigene Wille zum (tödlichen) Schicksal. Ungelöst bleibt allerdings die Frage, ob die Figuren in der Lage gewesen wären, die Dinge anders zu steuern als sie es taten, denn sie erscheinen als Getriebene. Edgar besitzt zumindest Schuldbewusstsein und ein diffuses Gefühl von Moral. Und Esther? Der Erzähler gibt über beide Figuren ein Urteil ab. Darauf komme ich in meiner Analyse der Erzählung und des Expliziten Transfersignals der Titelmetapher zurück. 1.5.2. Reduzierte Welt – parabolische Welt? Zu den Impliziten Transfersignalen In den ›Verdorrten‹ lassen sich Implizite Transfersignale nicht in jener großen Zahl und Deutlichkeit finden wie in den Weiß’schen Erzählungen der mittleren Schaffensperiode. Implizite Transfersignale findet der Leser in der Motivation der Handlung, in der kompositorischen Verknüpfung eines freien Motivs und mit dem Symbol der Farbe Rot.58 Zu diesen Impliziten Transfersignalen 58
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Die von Martínez erläuterten und illustrierten Verfahren der doppelten Motivierung entsprechen im Wesentlichen jenen Merkmalen, die Rüdiger Zymner als Implizite Transfersignale der Parabel charakterisiert hat. – Vgl. Zymner, Uneigentlichkeit, S. 92ff.
kommen in den ›Verdorrten‹ noch Explizite Transfersignale. Zu ihnen zähle ich die Titelmetapher der Novelle und teilweise auch die Kommentare des Erzählers (vgl. 1.5.5.). Alle Transfersignale weisen darauf hin, dass sich das Erzählte in seiner ganzen Bedeutung erst dann entfaltet, wenn der Leser die Geschichte uneigentlich, das heißt parabolisch liest. In den folgenden Unterabschnitten werfe ich einen Blick auf die Motivierung der Geschichte und stelle die durch das Motiv der Spitzen erzeugte metonymische Relation sowie die Symbolik der Farbe Rot als Implizite Transfersignale vor. Realistische Welt, mythisches Denken? Kausale und finale Motivierung Matias Martínez hat in seiner Studie über ›Doppelte Welten‹ gezeigt, dass realistische Erzählungen in der Regel kausal motiviert sind. Die Geschehnisse werden nach dem Prinzip der logischen Ursache und Wirkung miteinander verknüpft. Eine Geschichte kann aber auch final motiviert sein – etwa, wenn sie sich auf schicksalhafte Erklärungsmuster bezieht. Die Handlung findet dann »vor dem mythischen Sinnhorizont einer Welt statt, die von einer numinosen Instanz beherrscht wird«59. Kausale und finale Motivierung können bisweilen konkurrieren und in ein und derselben Geschichte auftreten. Beide Motivierungen sind zwar nicht in einer Lesart vereinbar, doch können sie dem Leser als alternative Erklärungen der Geschichte dienen – denn was in einer kausalen Lesart als bloßer Zufall erscheint, ist in einer finalen Lesart »numinos geprägt«60. Die »paradoxe« doppelte Motivierung ist es, die der Erzähltypus der ›Doppelten Welt‹61 näher beschreibt. Zurück zu den ›Verdorrten‹. Betrachtet man die erzählte Welt der Novelle, so bildet sie eine realistisch gezeichnete Wirklichkeit zur Zeit der Weimarer Republik ab (vgl. E 83). In dieser Welt gibt es Fabriken, Banken, Laboratorien und Pianos, Abendgesellschaften, Telefone (vgl. E 75) und Abtreibungskliniken (vgl. E 71). Allerdings erfährt der Leser von den Figuren und Orten der Geschichte nur wenig: Weder wird klar, wo Edgar und Esther zu Hause sind (vgl. E 83), noch wohin Edgar fährt, um als Chemiker eine Stelle anzunehmen (vgl. E 76). Die einzige konkrete Ortsangabe der Geschichte, die »Schweiz« (vgl. E 69), hat metaphorischen Charakter: Sie gilt dem jungen Paar als jener imaginierte Zufluchtsort, an dem ein Leben ohne Geldsorgen möglich ist. Undeutlich bleiben auch die Charaktere als psychologische Figuren: Von Edgar erfährt der Leser nur, dass er eine Erfindung zu machen versucht (vgl. E 75, 82) und ein variierendes Vermögen besitzt. Esther hingegen ist ein junges Mädchen, das aus Liebe zu enormen Zugeständnissen bereit ist und Edgars Launen mit Sanftmut hinnimmt.
59 60 61
Martínez, Doppelte Welten, S. 163. Ebd. Ebd., S. 10.
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Sie ist »groß« und »blond« und zum Zeitpunkt ihrer zweiten Schwangerschaft 30 Jahre alt (vgl. E 61, 82). Edgars Alter bleibt im Dunkeln: Man erfährt nur, dass er wesentlich älter als Esther sein muss, da er ihren um 20 Jahre älteren Gatten Anschütz an Lebensalter übertrifft (vgl. E 77, 82). Durch diese Unkonturiertheit kann sich der Leser kein wirkliches Bild von der erzählten Welt und der Realität der Figuren machen: Auch sie selbst sind eher Typen denn authentische Charaktere, sie sind so genannte ›flat characters‹62. Der Reduktion realistischer Details in der erzählten Welt entspricht die schwache kausale Motivierung der Geschichte. Bis zum ersten Wendepunkt der Novelle, Esthers Abtreibung, lässt sich allein die Schwangerschaft als dynamisches Motiv konstatieren. Alle anderen Ereignisse sind aufgrund der Art ihrer Darstellung kaum zu verorten. Auf Edgars Entscheidung gegen das Kind folgen zwar zahlreiche handlungsauslösende Motive schnell und stakkatoartig aufeinander – Edgar wird von seinem Freund verraten (vgl. E 75), er wird reich (vgl. E 74), er wird arm (vgl. E 75), er wird krank (vgl. E 77), er wird alt (vgl. E 75) –, doch werden diese Motive als Einzelereignisse kaum entfaltet. Vielmehr spart der Erzähler genau solche Realitätsmomente konsequent aus, die dem Leser die Ursache und Wirkung der Ereignisse logisch erklären würden. Warum kann Esther plötzlich den Bankier heiraten? Wie kann es sein, dass Edgar nichts von der verlorenen Freundschaft spürt? Warum wehrt er sich nicht gegen das sexuelle »Geschäft« mit Esther, und warum verliert er auf so naive Weise sein Geld? Auf diese Fragen gibt der Text keine befriedigenden Antworten. Dagegen lässt sich in der Geschichte eine andere Logik erkennen, wenn man das finale Denken der Figuren mit in Betracht zieht. Dass eine Finalität ihr Handeln prägt, wurde bereits an mehreren Stellen deutlich, und dass die Figuren eine numinose Instanz als Motor ihres Schicksals annehmen, zeigt die wörtlich zitierte Figurenrede. Edgar umschreibt sein Schicksal mit einem substantivierten Modalverb: »Endlich sehe ich das Muß.« (E 79). Esther bringt ihre Hoffnung auf ›Leben‹ durch die Metapher des ›Es‹ zum Ausdruck: »Ich habe ›es‹ noch nicht, bin noch nicht gerettet.« (E 80, Hervorhebung im Original). Dieses Denken zeitigt Handlungen, die kausal nicht mehr zu erklären sind. Finalität durch kompositorische Motivierung: Das Motiv der Spitzen Das Denken und Tun der Figuren wird in gewisser Weise von der Logik des Erzähltextes bestätigt. Esther wird am Ende genauso bitter bestraft wie der egoistische Edgar. Einen finalen Erklärungsrahmen generiert die Komposition der
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Dieser Begriff stammt von E.M. Forster (›Aspects of the novel‹). Er bezeichnet eine eindimensionale Figur im Gegensatz zum »round character«, der die mehrdimensionale psychologische Figur beschreibt. – Vgl. Manfred Pfister, Das Drama, München 112001, S. 243.
Erzählung durch ein Netz aus Verweisen, das sich dicht über die Geschichte legt. Diese Art der finalen Motivierung zeige ich nun am Motiv der Spitzen auf. Nach einer Definition von Martínez/Scheffel wird die kompositorische Motivierung durch semantische Relationen zwischen einem einzelnen Motiv und der Gesamtheit des Geschehens oder einem großen Teil der Handlung erzeugt.63 Sie motivieren die Geschichte, indem sie Ereigniserklärungen (meist hinter dem Rücken der Figur) für die Geschehnisse der Erzählung bieten. Diese Funktion erfüllt in ›Die Verdorrten‹ unter anderem das freie Motiv der Spitzen, das insgesamt siebenmal erwähnt wird. Als Motiv haben die Spitzen keine Bedeutung für die Handlung; sie fallen lediglich durch ihre wechselnde Einbindung in die oppositionellen semantischen Felder Erotik/Liebe und Geld auf. Zu Beginn der Erzählung werden die »Spitzen der Zähne« (E 62) genannt, die das Motiv mit Kampf und Gewalt in Verbindung bringen. Sodann erscheinen die Spitzen im Zusammenhang mit Esthers Jungfräulichkeit: »[I]m Schweigen glaubte der Mann zu fühlen, wie die starren Spitzen ihrer Brüste durch den weißen Schleierstoff ihres Kleides stachen, das wie bei einem Kinde hoch geschlossen sich kräuselte […].« (E 63). Steht die ›Spitze‹ der Brust hier ganz offensichtlich für Erotik, werden die ›Spitzen‹ bei ihrer dritten Nennung mit materiellem Wohlstand/Geld konnotiert: Um sich von Esther seine Freiheit zurückzukaufen, stellt Edgar der Geliebten teure »Brüsseler Spitzen« in Aussicht, die ihre Beine verschönern sollen (vgl. E 67). Die folgenden Nennungen rekurrieren auf die drei Verwendungskontexte – Kampf, Erotik und Geld – und erzeugen eine textinterne Klammer. Auf die Frauenbrust bezieht sich die Szene der ersten Abtreibung, in der sich aus Esthers einst jungfräulicher Brust nun »Nässe […] fast schwarz auf vergilbte Spitzen« (E 73) ergießt. Das »in Spitzen knisternde Beinkleid« (E 79), das Esther als junge Frau trägt, spielt auf Edgars Versprechen von Brüsseler Spitzen und damit auf Wohlstand an (vgl. E 79). Später bietet die Frau Geld für den Beischlaf (also Liebe/Erotik) und zeigt sich dank ihres Wohlstandes als wirkungsmächtig. Zuletzt streift Esther ihre »spitzenumflossene« Kleidung ab, um Edgar eine künstliche Wunde zu zeigen, die ihre Schwangerschaft verheimlichen und ihr ungeborenes Kind schützen soll (vgl. E 80). Hier tauchen die Spitzen wieder in einem von Erotik und Liebe konnotierten Text auf, und der Bezug auf die erste Schwangerschaft wird klar ausgesprochen (vgl. E 79). Das Motiv der Spitzen erzeugt also eine Textklammer, die zwischen der ersten und der zweiten Handlungsphase metonymische Bezüge herstellt. Auf diese Weise trägt es dazu bei, für die gesamte Erzählung eine Erklärung zu bieten, die als final zu bezeichnen ist64: Alles, was in den ›Verdorrten‹ geschieht, tritt
63 64
Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 114. Vgl. Martínez, Doppelte Welten, S. 54–57.
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ein, weil es zunächst von jemandem gewollt war. Doch dann verändern sich die Vorzeichen, und die Figuren verlieren die Kontrolle über den weiteren Verlauf der Dinge. Liebe und Geld, Immaterielles und Materielles, Wille und Schicksal stehen zueinander in einem undurchdringlichen Verhältnis. Die symbolische Bedeutung der Farbe Rot Das offensichtlichste Implizite Transfersignal in den ›Verdorrten‹ ist das Symbol der Farbe Rot. Als symbolisch sei hier eine semantische Relation bezeichnet, »die zwischen einem konkreten Gegenstand der fiktiven erzählten Welt und einem abstrakten Sachverhalt besteht und aufgrund einer vom Text gesteuerten Interpretation des Lesers erkannt wird«65. Dies trifft auf die Farbe Rot insofern zu, als sie auf der Ebene der Handlung oder des Geschehens konkret eine synthetische Farbe und das natürliche Blut bezeichnet, hintergründig jedoch als Sehnsucht nach individueller Unsterblichkeit respektive als allgegenwärtiges ›Leben‹ interpretiert werden kann. Erstmals taucht die Farbe Rot als Lebenssymbol bei der Abtreibung auf, als der Arzt Esther vor Blutungen warnt (vgl. E 74). Wenig später spuckt der lungenkranke Edgar Blut (vgl. E 77), und Esther versucht, ihre zweite Schwangerschaft durch eine Blutwunde zu verbergen (vgl. E 80). Das Blut symbolisiert hier Leben, das nicht werden darf, und das – durch Edgars Krankheit – sogar noch reduziert wird. Ebenso deutet das Rot, als ›Farbe des Mannes‹, auf Kampf und Tod hin.66 Diese Bedeutung wird evoziert, als Edgar versucht, das »nie dagewesene Rot« zu erforschen, »eine wundervolle Farbe, sie sollte säureecht sein, unzerstörbar« (E 75). Dass dieses Rot nicht vollendet werden kann, bringt den Willen einer höheren Instanz zum Vorschein, die Edgars Ziele verhindert. In Esthers Schwangerschaft und in Edgars Forschung treffen am Ende der Erzählung beide im Text aufgebaute Bedeutungen der Farbe Rot – Leben und Tod – zusammen: Edgar ließ es leben. Er selbst kündigte, weil Esther es ihm riet, die Stellung am Untersuchungslaboratorium, denn sein früherer Assistent hatte die Erfindung jener Farbe nicht vollenden können, es bestand noch die Möglichkeit für ihn, die Sache zum Gelingen zu bringen. […] Esther diente dem Chemiker wie eine Magd, so retteten sie sich zwei Sommermonate hindurch ein erbärmliches Dasein, die Arbeit ging ohne Glück vor sich. Eines Nachts erwachte Edgar, Blut auf die von Esther frisch gewaschenen Kissen speiend. […] ›Blut!‹ stammelte er. (E 82)
Esther steht hier für Leben, Edgar für den Tod. Der Held gibt Blut (und Leben) von sich, während er an seinem Farbstoff forscht, und während in Esther neues Leben wächst. Die semantischen Oppositionen ›Leben‹ und ›Nicht-Leben‹ werden an dieser Stelle konkret und über das Symbol miteinander verbunden. Das
65 66
112
Ebd., S. 167. Vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 634.
Symbol wird zu einem Impliziten Transfersignal und verweist auf das unaussprechliche ›Leben‹ selbst, aber auch auf die unhintergehbaren Bedingungen menschlicher Existenz. 1.5.3. Zur Darstellung der erzählten Zeit: Vergangenheit oder Gegenwart? Betrachtet man den Diskurs, so ist die Darstellung der erzählten Zeit von besonderem Interesse. Eine kleine Rechenübung ergibt, dass die Binnengeschichte der ›Verdorrten‹ einen Zeitraum von etwa acht Jahren umfasst. Dieser lässt sich aus wenigen Zeitangaben der Geschichte rekonstruieren: Im siebten Kapitel erfährt der Leser, dass Edgar und Esther seit vier Jahren ein Paar sind. Kurz danach erfolgt die erste Abtreibung. »[S]echs Wochen nachher« (E 74) heiratet Esther den Bankier Anschütz, und die Ehe dauert zwei Jahre (vgl. E 77), bevor eine zweite Schwangerschaft eintritt. »In der Mitte des Sommers« (E 80), also vermutlich drei bis vier Monate später, erfährt Edgar von seiner Vaterschaft. Esther zieht »nach vier Wochen« (E 81) bei ihm ein, und es vergehen »zwei Sommermonate« (E 82) bis zur zweiten Abtreibung im siebten oder achten Monat. Anschließend pflegt die Frau den Kranken »über ein Jahr« (E 83). Zur Erzählgeschwindigkeit in den ›Verdorrten‹ Bei der Erzählgeschwindigkeit in den ›Verdorrten‹ ergibt sich für die erste und die zweite Handlungsphase ein je unterschiedliches Bild, auch wenn der Erzähler für beide Handlungsphasen exakt dieselbe Erzählzeit, jeweils zehn Seiten, verwendet. Im ersten Teil der Erzählung, der die ersten vier Jahre der Gemeinschaft wiedergibt, wird überwiegend summarisch erzählt (Kap. 2–7). Die erzählte Zeit wird gerafft, der Großteil der erzählten Zeit ausgespart. Es entsteht der Eindruck, dass der Zeitraum nur lückenhaft, fragmentarisch, wiedergegeben wird. Umso mehr stechen einige iterativ erzählte Ereignisse hervor, denn bedeutsam für die Geschichte muss sein, was sich häufig wiederholt und dann einmal exemplarisch erzählt wird. Im 8. Kapitel verlangsamt sich die Erzählgeschwindigkeit, und der summarische Bericht wird von einer Szene abgelöst. Das Streitgespräch zwischen Edgar und Esther um ihr erstes Kind wird im wörtlich zitierten Dialog der Figuren wiedergegeben; es kommt zur Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit (2 Seiten). Damit kennzeichnet der Erzähler die besondere Bedeutung dieser Konfrontation, denn er räumt ihr mehr Platz ein als allen vorangegangenen Ereignissen der Geschichte. Durch den Austausch der Argumente erhält der Leser erstmals einen direkten Einblick in Esthers Bewusstsein. Nicht zuletzt deshalb kann die Szene als Schnittstelle und Übergang zwischen den beiden unterschiedlich erzählten Handlungsphasen interpretiert werden. Die letzten vier Kapitel der Geschichte (Kap. 9–12) werden dann wieder summarisch erzählt und die erzählte Zeit gerafft. Wieder werden genau vier Jahre auf zehn Seiten erzählt. Erneut gibt der Erzäh113
ler nur einzelne Ereignisse wieder und spart große Phasen der erzählten Zeit aus. Dennoch wirkt dieser zweite Abschnitt zusammenhängender als der erste, da er singulativ – und erkennbar sukzessiv – erzählt wird. Analytisch oder synthetisch? Die Anordnung der erzählten Zeit Weniger leicht als über die Erzählgeschwindigkeit gewinnt der Leser der ›Verdorrten‹ einen Überblick über die Ordnung der erzählten Zeit. Dies gilt vor allem für die ersten sieben Kapitel der Erzählung, die keine lineare Abfolge der Ereignisse erkennen lassen. Die Erzählung beginnt in einem nicht näher gekennzeichneten Augenblick im Leben des Helden, in medias res. Immer wieder wird die Handlung durch kurze Erinnerungen des Protagonisten unterbrochen, die sich aufgrund der Darstellung (fehlende inquit-Formeln) allerdings nicht mit absoluter Bestimmtheit als Rückblenden innerhalb der Erzählung bestimmen lassen. Solche Erinnerungen finden sich vor allem zwischen der Feststellung des Helden, Esthers Nähe nicht ertragen zu können (vgl. E 62), und Esthers Rückkehr von einer Reise (vgl. E 63). Als mögliche Analepsen zwischen diesen beiden Ereignissen lassen sich folgende Szenen ermitteln: Edgars Abschied von Esther auf einem Bahnsteig im November (vgl. E 62), die nackte Esther (vgl. E 62) und erfüllte Liebesnächte im Sommer (vgl. E 63) sowie die Ratlosigkeit nach misslungenen Begegnungen (vgl. E 62). Die meisten Analepsen werden mit Sequenz- oder Tempus-Adverbien eingeleitet, wobei Rückblenden mit größerer Reichweite an jenem Punkt enden, an dem sich der Held seiner Entfremdung von Esther erstmals bewusst wird (vgl. besonders E 63). Diese von Erinnerungen durchsetzte, größtenteils jedoch lineare Anordnung der erzählten Zeit wird ab dem dritten Kapitel von einer iterativen Erzählweise abgelöst. Wiederkehrende Ereignisse sind von nun an in einem nicht näher bestimmten Zeitraum die Kämpfe und Versöhnungen des Paares (vgl. E 65, 67), das unglückliche Zusammenleben (vgl. E 64), Edgars Furcht vor Einsamkeit (vgl. E 66), Esthers Angst vor Schwangerschaft (vgl. E 66) und die verleugnete Partnerschaft (vgl. E 65). Diese iterative Erzählweise wird von drei singulativ erzählten Ereignissen unterbrochen, die ein Fortschreiten der Handlung andeuten: (1) Edgar verliert sein Vermögen an der Börse und verspielt damit die materielle Basis für eine Ehe (vgl. E 64); (2) Edgar plant seine Trennung, indem er sich eine Stelle in einer anderen Stadt suchen will und eine spätere Ehe verspricht (vgl. E 66); (3) Edgar reagiert auf die Schwangerschaft mit Gewalt, was sich im abrupten Beischlaf mit der schwangeren Esther äußert (vgl. E 67–71). Die drei Szenen stehen in einer semantischen Relation zur zweiten Handlungsphase, in der sie – unter umgekehrten Vorzeichen – Wirklichkeit werden: (1) Edgar verarmt durch Esthers Rache (vgl. E 75), (2) er muss nun wirklich in einer fremden Stadt arbeiten (vgl. E 76), (3) er wird von Esther zum Geschlechtsverkehr gezwungen (vgl. E 78). Diese Vor- beziehungsweise Rückbezüglichkeit der Ereignisse erzeugt eine semantische Klammer, wie ich sie auch im Zusam114
menhang mit der finalen Motivierung zeigen konnte. Sie verleiht den singulativ erzählten Ereignissen in einer überwiegend iterativen Erzählung eine besondere Bedeutung. Erstmals konkret, im Sinne einer exakten Zeitangabe, wird die erzählte Zeit kurz vor dem Streitgespräch der Partner: »Heute, am 12. Mai, im vierten Jahre seiner Gemeinschaft, war Esther das Unentrinnbare.« (E 70). Mit dieser präzisen, für den restlichen Verlauf der Geschichte kaum motivierbaren Datumsangabe geht die iterative Zeitdarstellung in eine sukzessive Darstellung über. Die Anordnung der erzählten Ereignisse ist von nun an klar, denn sie folgt den Gesetzen einer realistischen Welt, in der die Zeit nach dem Gesetz des »und dann« verstreicht. Erinnern oder Erleben? Die Rolle von Deiktika im Figurenbewusstsein Betrachtet man den Zusammenhang zwischen der Darstellung der erzählten Zeit und der Darstellung des Figurenbewusstseins, ergibt sich eine interessante Koinzidenz. Die erste Hälfte der Handlung wird, wie ich andeuten konnte, von der Darstellung des Figurenbewusstseins bestimmt. In der zweiten Hälfte dominiert die Wiedergabe rasch aufeinander folgender Ereignisse. Insgesamt macht die Erzählung keine klaren Angaben, mit deren Hilfe der Leser eine kohärente Reihenfolge der Ereignisse herstellen könnte. Zwar werden einige Jahreszeiten genannt – Edgar verabschiedet seine Freundin an einem Novemberabend (vgl. E 62), er genießt das Glück mit Esther in den Frühsommermonaten Mai und Juni (vgl. E 63), und er beschließt an einem 12. Mai, die Abtreibung durchzusetzen (vgl. E 70) –, doch sind diese Angaben im Ganzen metaphorisch zu verstehen und ergeben kein Gerüst für die Sukzession der Ereignisse. Anstelle konkreter Zeitangaben finden sich dafür zahlreiche neutrale Tempus- und Sequenz-Adverbien mit deiktischer Funktion im Text.67 »Heute« (E 69, 70) endet das Leben des Kindes; »lange schon« (E 64) fühlt das Paar, dass die Beziehung zu Ende ist, »schon vorher« (E 62) tritt Verzweiflung ein: »Frühere Tage!« (E 69). Am häufigsten wird das Tempus-Adverb »jetzt« (achtmal, vgl. E 64, 65, 66, 68, 69) verwendet. Es erlaubt zwar keine zeitliche Verankerung der Ereignisse, suggeriert aber große Unmittelbarkeit und geringe Distanz zwischen Erzählen und Erzähltem. Jetzt, da sie neben ihm lag und er ihr mattes Haar im Licht der Laterne draußen schimmern sah, da seine Finger sich um ihre nackten, wie Pfirsiche flaumig-festen Knie spannten, jetzt lebte sie in ihm, unverlierbar. (E 66, Hervorhebung Ch.D.)
67
Zu den verschiedenen Kategorien von Adverbien vgl. Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl, EvaMaria Willkop, Mannheim u.a. 1993, S. 572–581.
115
Dem Leser ermöglichen die Adverbien keine Orientierung innerhalb der objektiven Zeit der Geschichte. Sie signalisieren ihm aber, dass der denkende, reflektierende Held, aus dessen Perspektive erzählt wird, offenbar (noch) keinen Abstand zu seinen Erlebnissen hat. Im »Hier« und »Jetzt« seines Empfindens fallen alle Zeitstufen zusammen. Edgar kann sich über Erlebnisse, Eindrücke und Empfindungen keine Klarheit verschaffen; er ist nicht analytisch, sondern assoziativ.68 In diesem Sinne lassen sich auch die nur schwach markierten Rückblenden erklären: Sie illustrieren keinen Mangel einer äußeren Kohärenz der Ereignisse, sondern – erzählt aus der Perspektive des Helden – eine fehlende innere Kohärenz. Gezeigt wird das erfolglose Kreisen von Gedanken um sich selbst, das einerseits immer wieder an derselben Stelle einsetzt und dadurch redundant wirkt – so kehren Edgars Gedanken immer wieder zum Ausgangsproblem zurück (vgl. E 61, 62, 64, 66) –, und das andererseits neue Erinnerungen des Helden in den Gedankenfluss integriert. Edgar ist ein ›trüber Reflektor‹, der seine Gedanken zwar zu ordnen versucht, sich jedoch nicht distanzieren und zu keinen Schlüssen kommen kann. Für den Leser ist es das Abbild einer sich selbst undurchsichtigen Psyche. Das Bewusstsein des Helden ist von Reflexen geprägt, nicht von Reflexion. Es gelingt zwar nicht, die Logik dieses Bewusstseins nachzuvollziehen; durch die Art seiner Darstellung kann der Leser jedoch erahnen, wie radikal subjektiv dieses aporetisch um sich selbst kreisende Denken ist. 1.5.4. Modus: Doppelte Fokalisierung und ›psycho narration‹ Bei den ›Verdorrten‹ handelt es sich um eine über weite Strecken fokalisierte Erzählung.69 Der Erzähler wechselt nach einem nullfokalisierten kurzen Prolog auf die interne Fokalisierung seines Helden.70 Die Fokalisierung bringt es mit sich, dass der Leser Esthers Gedanken im ersten Teil der Erzählung nur indirekt, also durch Edgars Sichtweise, mitgeteilt bekommt. Da Edgar jedoch offenbar 68
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70
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Dazu fügt sich, dass Edgar den Begriff der »Zeit« immer wieder als Synonym für einen ersehnten Zustand verwendet. So stellt Edgar fest, dass die Beziehung zu Esther nicht stabil genug ist »für die Zeit!« (E 62), während er in Momenten des Glücks »ohne Bewusstsein der Zeit« (E 63) zu leben versteht. Später kehrt die Geliebte nicht mehr in »die gleiche Zeit« zurück (E 63). Mit Fokalisierung bezeichne ich mit Genette die Darstellung eines Geschehens aus verschiedenen Blickwinkeln, d.h. die Perspektivierung des Erzählten. – Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 134. Vgl. ebd., S. 134f. – Die Nullfokalisierung bezeichnet einen Standpunkt, der durch »Übersicht« charakterisiert ist, d.h. der Erzähler weiß bzw. sagt mehr, als irgendeine Figur weiß bzw. wahrnimmt. Die interne Fokalisierung (»Mitsicht«) bezeichnet eine Erzählperspektive, in der nicht mehr gesagt wird, als die Figur weiß. Genette unterscheidet bei der internen Fokalisierung eine feste, variable und multiple interne Fokalisierung – je nach dem, ob der Erzähler die Perspektive einer Figur einnimmt oder zwischen seinen Figuren wechselt.
nicht in der Lage ist, Esthers Gedanken und Wünsche richtig einzuschätzen, lassen sich im ersten Teil der Erzählung auch immer wieder Fokalisierungsverstöße finden. Sie haben die Funktion, die Gedanken der nicht fokalen Person Esther jenseits von Edgars Bewusstsein darzustellen, um den Leser mit Informationen zu versorgen. Dies trifft vor allem dort zu, wo Esthers Haltung zur Ehe und zu einem Kind zum Thema wird. Das Keuscheste wurde schamlos, wenn sie, die Geliebte des Verarmten, daran dachte, daß sie ein Kind bekommen könnte. Sie sprach von Ehe, er aber schwieg. Nun sprach sie nie mehr davon. (E 65) Sie war reifer geworden, denn sie fürchtete nichts mehr. Anderen Männern, wie dem Freunde Edgars, dem Bankier, trat sie mit damenhafter Sicherheit entgegen, es war ihr trauriger Triumph, daß niemand von ihrer Verbindung mit Edgar wußte. (E 65) Seit langem hatte sie es gefühlt; daß es kommen mußte, hatte sie gewußt seit der ersten Nacht, vor so langer Zeit. Aber sie hatte sich nie nur mit Angstsorgen an dieses Es in Gedanken geklammert, vielleicht hatte sie es immer gewollt, es allein. Aber Edgars Unglück war nicht zu ermessen? War es so schwer? (E 68, Hervorhebung im Original)
Die in den Paralepsen gegebene Information steht in Opposition zu Edgars Auffassung und ermöglicht eine Korrektur seiner Sicht. Lassen sich diese Verstöße gegen die Perspektive damit erklären, so finden sich im ersten Abschnitt der Erzählung immer wieder Stellen, die unentscheidbar machen, ob es sich um Null- oder um interne Fokalisierung handelt. Dies ist etwa der Fall, wenn der Erzähler nicht nur die Gedanken des Mannes oder der Frau, sondern eines Kollektivs wiedergibt. Sie dachten lange nicht daran, daß es möglich sein könne, aber dann kam eine Zeit, da sie einstimmig lachten, wenn sie davon sprachen, aber, allein gelassen, Gelübde ablegten für den Fall, daß das Unglück doch nicht einträfe. [= Nullfokalisierung] Es war mehr als Unglück, es erschien ihm als völlige Vernichtung seines Lebens, Erstickung jeder besseren Zukunft. [= interne Fokalisierung] Was aber hatte Esther außer ihm? Sie wollte ihn, aber kein Kind. [= interne Fokalisierung] (E 65, Hervorhebung Ch.D.) In einem befreiten Aufatmen gestanden sie einander ihre Sorgen, und als sie lange genug einander eingeredet hatten, daß ›es‹ unmöglich sei, begannen sie Pläne zu schmieden. [= Nullfokalisierung] Jetzt, da sie neben ihm lag und er ihr mattes Haar im Licht der Laterne draußen schimmern sah, da seine Finger sich um ihre nackten, wie Pfirsiche flaumig-festen Knie spannten, jetzt lebte sie in ihm, unverlierbar. [= interne Fokalisierung] (E 66, Hervorhebung Ch.D.) Sie suchte und fand einen Gelderwerb. Leicht war es ihr nicht, die an fremde Türen zu klopfen nicht gewohnt war, aber es war leichter, als Edgar zur Last zu fallen. [= interne Fokalisierung] Sie blieben beisammen. Das Böse der bösen Tage trieb ihn zu ihr und sie zu ihm. Verzweiflung kam nach Jahren, Hoffnungslosigkeit nach lange geduldig ertragenen Enttäuschungen. Er verzweifelte an ihr, sie am Leben. [= Nullfokalisierung] (E 65, Hervorhebung Ch.D.)
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Sie liebte ihn jetzt mit einer so sublimen, außerirdischen Liebe, über alles Maß, ganz ohne Grund. [= interne Fokalisierung] Denn wenn Gründe gegolten hätten, wie hätten sich die Verstummten jetzt in die Augen sehen können? [= Nullfokalisierung] (E 68, Hervorhebung Ch.D.)
Die Personalpronomen im Plural deuten darauf hin, dass es der Leser mit einer nullfokalisierten Aussage zu tun hat, da er über das Bewusstsein beider Figuren Auskunft erhält. Im nächsten Satz geht die (scheinbare) Nullfokalisierung jedoch sofort wieder in die interne Fokalisierung Edgars über. Daher kann das Pluralpronomen auch als Projektion des Helden auf seine Freundin gelesen werden. Diese Lesart würde die Interpretation mit einschließen, dass sich Edgar wünscht, seine Freundin möge das Kind ebenfalls als Unglück ansehen – wie er. Die Stellen bleiben jedoch zweideutig und können, je nach Standpunkt, als Nullfokalisierung oder als interne Fokalisierung interpretiert werden. Die Annahme, es handele sich um eine interne Fokalisierung, ließe die Erklärung zu, dass inhaltliche Divergenzen mit der Erkenntnisproblematik des Helden zu tun haben. Die Annahme einer Nullfokalisierung bedeutet, dass der Erzähler die Sicht der Figuren auf die objektive Ordnung der erzählten Welt ausweitet. Die Unentscheidbarkeit, wer hier sieht, entsteht durch die Darstellung; ich bezeichne sie als ›doppelte Fokalisierung‹. Sie macht es unmöglich, das erzählte Wissen definitiv an den Horizont der Figur oder jenen des Erzählers zu binden. Die Frage, wer sieht, wird gekoppelt an die Frage: Wer weiß? Und wie verbindlich ist das Gesagte oder Gedachte für den Leser? Distanz: Gedankenbericht und ›psycho narration‹ Um das Bewusstsein der Figuren und die Ereignisse zu versprachlichen, wählt der Erzähler über weite Strecken die mittelbarste aller Darstellungsformen, den Erzähl- und Gedankenbericht. Im ersten Teil der Erzählung changiert der Gedankenbericht an einigen wenigen Stellen und geht in erlebte Rede über. Diese Möglichkeit transponierter Figurenrede stellt eine Zwischenform von indirekter und direkter Rede dar und ist unmittelbarer als der reine Gedankenbericht. Da die erlebte Rede kein ›verbum dicendi‹ als Einleitung benötigt, kann der Übergang vom Gedankenbericht zur erlebten Rede nahtlos sein. Der Erzähler erreicht damit die Illusion einer gewissen Unmittelbarkeit (er gibt die Fragen der Figur wieder), andererseits wird die Rede weiterhin durch seinen narrativen Filter präsentiert: Sie dachten lange nicht daran, daß es möglich sein könnte, aber dann kam eine Zeit, da sie einstimmig lachten, wenn sie davon sprachen, aber, alleine gelassen, Gelübde ablegten für den Fall, daß das Unglück doch nicht einträfe. [= Gedankenbericht] Es war mehr als Unglück, es erschien ihm als völlige Vernichtung seines Lebens, als Erstickung jeder besseren Zukunft. Was aber hatte Esther außer ihm? Sie wollte ihn, aber kein Kind. [= erlebte Rede] (E 65)
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Im ersten Teil der Erzählung spielt bei der Darstellung des Figurenbewusstseins im Gedankenbericht außerdem eine als ›psycho narration‹ bezeichnete erweiterte Spielart des Gedankenberichts eine wichtige Rolle.71 Mit diesem Begriff bezeichnet Dorrit Cohn die mittelbare Darstellung von Gefühlen, Assoziationen und Vorstellungen, die der Figur selbst noch nicht voll bewusst sind. In den ›Verdorrten‹ kommt eine solche ›psycho narration‹ dort zum Einsatz, wo für den Leser die diffusen Gefühle des Helden anschaulich gemacht werden sollen. Ein Beispiel: Nie fühlte er Müdigkeit, alle Glut entzitterte ihm zu unbeschreiblichem Entzücken, er liebte sie wie ein hochgeschwungener Ton von der tiefsten Tiefe her, beide schwebten wie ein unhörbar hohes, durchdringendes Zittern im Unsagbaren. Sie waren mit der höchsten Höhe ihrer Liebe am Ende der erreichbaren Welt. (E 63, Hervorhebung Ch.D.)
Die ›psycho narration‹ erläutert den Zustand einer Figur, indem sie auch visuelle, affektive und mentale Prozesse thematisiert. Dargestellt wird ein Halb- oder Vorbewusstes, das Gefühle und Wünsche (noch) nicht in konkrete Worte zu fassen vermag. Stattdessen illustrieren Metaphern und Bilder die Gefühle und Affekte der Figur. Mit der ›psycho narration‹ wählt der Erzähler also die mittelbarste aller narrativen Techniken – den Bewusstseinsbericht – und zeichnet zugleich die intimsten und verborgenen Schichten im (Halb-)Bewusstsein der Figur nach. Dem Leser eröffnet diese narrative Technik die Möglichkeit, mehr über den Helden zu wissen als dieser über sich selbst. Sie gibt ihm einen Wissensvorsprung vor der Figur und fordert ihn auf, sich auf Bewusstseinsschichten einzulassen, die sich der Figur noch nicht erschlossen haben – und möglicherweise nie erschließen werden. Damit versetzt die ›psycho narration‹ den Leser in eine privilegierte Position und macht ihn auf das Hauptthema der Geschichte aufmerksam, die Unhintergehbarkeit der eigenen Subjektivität. Erst im zweiten Teil der Erzählung bietet sich dem Leser ein anderes Bild. Hier verwendet der Erzähler häufig die direkte zitierte Figurenrede. Der dramatische Modus hat die Funktion, Bewusstes zu versprachlichen und dem Leser die kontroversen Vorstellungen der Figuren direkt zu vermitteln. Dies erzeugt Unmittelbarkeit, zugleich verringert sich der Wissensvorsprung des Lesers vor den Figuren. Er ist nun Beobachter dessen, was die Figuren wissen, und wie sie agieren.
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Vgl. Dorrit Cohn, Transparent minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton 1978, S. 23: »In pronouncedly authorial narration, the inner life of an individual character becomes a sounding-board for general truths about human nature.« – Vgl. auch Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, Opladen/Wiesbaden 81998, S. 157–161.
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1.5.5. Stimme: Die Kommentare des Erzählers und die Titelmetapher Am Ende dieser Interpretationsskizze soll noch auf die kommunikative Rolle des Erzählers eingegangen werden. Warum interessiert sich der Erzähler für Edgar? Diese Frage ist bei einem heterodiegetischen Erzähler zugegebenermaßen spekulativ, doch möchte ich zeigen, dass wir es nicht mit einem distanzierten, sondern mit einem kritisch wertenden Erzähler zu tun haben. Er nutzt direkte Kommentare und auch Metaphern, um dem Leser seine Kritik an den Figuren deutlich zu machen. In diesem Zusammenhang spielt die Überschrift der Novelle als Explizites Transfersignal eine wichtige Rolle. Sie ist als Aufforderung an den Leser zu verstehen, das Erzählte auf eine zweite Bedeutungsebene hin zu prüfen. Die Haltung des heterodiegetischen Erzählers: Der kritische Erzähler Die Kommentare des Erzählers untergliedern sich in Deutungen der Ereignisse und in Deutungen der Figuren. Der Erzähler deutet seine Helden kritisch und gibt Hinweise darauf, dass er ihre Sichtweisen für defizitär hält. Einen solchen Kommentar gibt der Erzähler gleich zu Beginn seiner Erzählung ab, als er Edgars Bild von Esther korrigiert. Aus Edgars Sicht erscheint die Frau als ein metaphysisches Wesen, als ein transzendenter Fluchtpunkt. Der Erzähler stellt diese (falsche) Annahme richtig: Das war sie nicht. Sie war ein Mensch aus bürgerlichen Kreisen, ein Herz, noch unberührt, in ihrer Blüte ein junges Mädchen. In ihrer Blöße eine zitternde Braut: das hatte Esther zu geben, das gab sie ihm. (E 61)
Im Verlauf der Geschichte finden sich weitere solcher Kommentierungen. Sie beurteilen das Handeln der Figuren und bewerten es meist aus einer moralischen Sicht. Ich zitiere eine Stelle, die diese Form des Kommentierens veranschaulicht: Der Arzt, höflich, alltäglich zugewandt dem unerhörtesten Mord von Müttern an ihrer Mütterlichkeit, tat, was man von ihm erwartete, wofür man ihn mit dem letzten Gelde bezahlte. Das Kind wurde vernichtet. (E 83, Hervorhebung Ch.D.)
Indem der Erzähler auch Esther kritisiert, distanziert er sich von allen Figuren. Er erweist sich als ein Kommunikationspartner, der den Leser auffordert, trotz einer perspektivischen Annäherung an die Figuren keine Identifizierung mit ihnen, sondern eine kritische Überprüfung ihres Verhaltens vorzunehmen und sich ihre Moral auf keinen Fall anzueignen. Zu seinen direkten Kommentaren gesellt sich als Explizites Transfersignal noch die Titelmetapher, auf die ich zum Abschluss eingehe.
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Die Titelmetapher als Explizites Transfersignal Die Geschichte, die so hoffnungslos mit einer Abtreibung endet, wirft die Frage auf, ob sich für die Figuren am Ende der Erzählung eine Veränderung nicht nur ihres Zustands, sondern auch ihres Bewusstseins ergeben hat. Dies wird vom Erzähler indirekt verneint. Er macht die Stagnation der Figuren und die Kreisbewegung der Handlung durch einen syntaktischen Parallelismus deutlich. Das letzte Kapitel der Erzählung wird mit dem Satz eingeleitet: »Edgar und Esther lebten miteinander viele Jahre, nachdem sie sich geliebt hatten.« (E 85, Hervorhebung Ch.D.). Begonnen hatte die Erzählung mit dem Satz: »Edgar und Esther kannten sich viele Jahre, bevor sie einander liebten.« (E 63, Hervorhebung Ch.D.). Die Analogie macht auf ein zeitliches und ein qualitatives Moment aufmerksam. Der Tempuswechsel beim Verb »lieben« signalisiert, dass zwischen dem Anfang und dem Ende der Erzählung ein Gefühl verloren gegangen ist: »Sie wohnten am äußersten Ende der Stadt, liebten sich nicht und haßten sich nicht, der Spiegel in dem Glase Wasser zwischen ihnen bei den grauen Mahlzeiten rührte sich nie ...« (E 85, Hervorhebung Ch.D.). Eine andere Veränderung scheint nicht eingetreten zu sein. Mit einem Vergleich setzt der Erzähler die biologische Lebenszeit des Paares außerdem in eine Beziehung zur Ewigkeit: »Sie lebten ihre alternde Zeit, als wäre es Unsterblichkeit, sie erwarteten weder Gutes noch Böses.« (E 83, Hervorhebung Ch.D.). Damit gibt er einen expliziten Hinweis darauf, worum es diesem Paar eigentlich ging – und was es nicht erreichte: die Unsterblichkeit der Seele. Die seelischen Folgen ihres Egoismus veranschaulicht der Erzähler mit einem Bild, das nachgerade biblisch wirkt. Er, der Irrsinn und menschenleere Einsamkeit gefürchtet hatte, war verflucht zu endlosem Alter, nie von Esther verlassen, und sie, die Mutter ohne Frucht, verdorrte, ein Strauch am Gestein. (E 83, Hervorhebung Ch.D.)
Damit greift der Erzähler eine Metapher auf, die sich schon im Co-Text der Erzählung, in der Überschrift, findet. Sie fordert den Leser zu einem Bedeutungstransfer auf. Die ›verdorrte‹ Mutter ähnelt einem »Strauch am Gestein«, einer Pflanze, die wegen chronischen Mangels an Nahrung kaum gedeiht. So wie sie hat auch ein ›verdorrtes‹ Paar keine Chance mehr auf ›Errettung‹. Der Fluch des Alters wiederum trifft einen Mann, der sich der ›Krankheit zum Tode‹ ausgesetzt sah und aus Furcht vor ihr das Leben nicht wählen konnte. Edgar und Esther sind, um in der Sprache der Bibel zu bleiben, in der »Hölle« (E 89) gelandet.
1.6. Zusammenfassung: ›Die Verdorrten‹ – eine parabolische Novelle? Die Sehnsucht nach ›Leben‹ wird in den ›Verdorrten‹ dort virulent, wo der Held den Versuch unternimmt, seine Sterblichkeit zu negieren und seine Angst vor dem Tod in prometheischer Selbstbehauptung zu bekämpfen. Die Handlung der ›Verdorrten‹ ist ein einziger Kampf: mit sich selbst, mit anderen. Sowohl 121
der Versuch, durch die Vereinigung zweier Seelen in ein luzides ›Himmelreich‹ zu kommen als auch der Wunsch, sich forschend in die Ewigkeit einzuschreiben, misslingen. Bei alledem ist der Held ein schlechter Grenzgänger: Er wird schuldig, weil er das ›Leben‹ als höheren Sinnzusammenhang nicht (an-)erkennt. Er ist ein Egoist und gleicht darin dem Röntgenforscher Erik Gyldendahl aus Weiß’ Roman ›Die Galeere‹, den Berthold Viertel in seiner Rezension 1914 so beschrieben hatte: Ethisch ein sehr bemerkenswerter Typus. Der Spezialist. Äußerste Bemeisterung des Intellekts und äußerste Hemmungslosigkeit des Instinkts, der barbarisch blieb. Ein Amoralist, ohne daß er es auch nur wüßte, jenseits von Gut und Böse; richtiger: überhaupt noch vor Gut und Böse, wie ein Kind. Der Mensch einseitig höchst entwickelt, aber auf allen anderen Seiten Kind geblieben, naiv und roh, ahnungslos in seiner Rohheit. Sie wuchert dicht neben zartester Sensibilität. Der luzide Gelehrte ist seelenblind.72
Angst und Selbstverfangenheit verstellen Edgar die Möglichkeit zur Erkenntnis. Es kommt zur Abschließung und zur Dämonisierung im Kierkegaard’schen Sinne: »Der Mensch, der in vollem Bewußtsein zum Trotz er selbst sein will, wird ›dämonisch‹.«73 Die Angst vor dem Tod, aber auch die Selbstpanzerung sind die Wurzeln dieser Dämonie und der Grund zugleich, dass die Seele ihr Ziel nicht findet. Um verzweifelt man selbst sein zu wollen, braucht man Bewußtsein eines unendlichen Selbst. Dieses unendliche Selbst ist indessen eigentlich nur die abstrakteste Form, die abstrakteste Möglichkeit des Selbst. Und das ist dieses Selbst, das er verzweifelt sein will, das Selbst von jedem Verhältnis einer Macht, die es gesetzt hat, losreißend, oder es von der Vorstellung losreißend, daß es eine solche Macht gibt. Mit Hilfe dieser unendlichen Form will das Selbst verzweifelt über sich selbst gebieten oder sich selbst erschaffen, sein Selbst zu dem Selbst machen, das es sein will, bestimmen, was er in seinem konkreten Selbst mithaben will und was nicht.74
Die Alternative zur ›dämonischen Selbstabschließung‹ besteht in den ›Verdorrten‹ darin, das ›Leben‹ zu wählen. Mit dieser Vorstellung bewegt sich Weiß nicht nur im Gedankengut der Lebensphilosophie, sondern auch jener Literatur, die sich seit der Jahrhundertwende mit dem ›Leben‹ als transzendentem Ersatz für verloren gegangene traditionelle Metaphysikvorstellungen auseinandersetzt.75 Mit Edgars Krankengeschichte knüpft Weiß an die Themen der Literatur des fin de siècle an, mit seinen Erzähltechniken geht er indes über diese Epoche hinaus: Er
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Berthold Viertel, Die Galeere. [Roman von Ernst Weiß]. In: Die neue Rundschau 25 (1914), S. 302f. – Wiederabgedruckt in: EWM, S. 16. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 428. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 68. Eine Definition dieser Vorstellung von ›Leben‹ in der Literatur der Moderne vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie gibt Lindner, Leben in der Krise, S. 18–48.
führt einen kommentierenden Erzähler in den Text ein und zugleich eine stufenlose Regulierung der Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem. Damit bewegt sich Weiß von der mimetischen Darstellungsweise der Jahrhundertwende fort und hin zu einem Erzählstil, der, für den Leser klar erkennbar, jenseits der psychologischen Einzelgeschichte eine ethische Bedeutungsebene impliziert.76 Diese zweite Bedeutung wird durch Implizite Transfersignale – semantische Relationen im Text und das Symbol der Farbe Rot – ebenso transparent wie durch das Explizite Transfersignal der Titelmetapher.77 Erst dieser implizit und explizit angedeutete moralische Sinn macht aus der Novelle ›Die Verdorrten‹ einen parabolischen Erzähltext der literarischen Moderne.
2.
»Alles hat es herausgehaut aus mir!« – ›Franta Zlin‹
Obwohl ›Die Verdorrten‹ aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte als Weiß’ früheste heute bekannte Novelle anzusehen ist, trat der Autor erstmals mit einer anderen Novelle in die Öffentlichkeit: ›Franta Zlin‹. Über den exakten Entstehungszeitpunkt von ›Franta Zlin‹ ist nichts bekannt; es ist jedoch wahrscheinlich, dass Weiß die Novelle, ähnlich wie sein Drama ›Tanja‹, entweder kurz vor seiner Entlassung aus der Armee 1919 in Beneschau oder unmittelbar danach in einem Prager oder Münchner Kaffeehaus niederschrieb.78 Dass es sich bei ›Franta Zlin‹ um einen Text der Nachkriegszeit und nicht um einen umgearbeiteten Entwurf aus der Vorkriegszeit handelt, macht der Bezug auf den Ersten Weltkrieg deutlich.79 Weiß verwendete Daten und Orte, die sich auf sei-
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Vgl. Kurz, Traum-Schrecken, S. 134. Solche Titelmetaphern finden sich in vielen Texten von Weiß. Insgesamt lassen sich die Titel in drei Gruppen einteilen: a) Werke mit Titelmetaphern, die als expliziter Hinweis auf eine parabolische Bedeutung zu verstehen sind: ›Der Überfall‹ (1914, die Novelle ist verschollen), ›Die Galeere‹ (1914), ›Der Kampf‹ (1916), ›Tiere in Ketten‹ (1918), ›Mensch gegen Mensch‹ (1919), ›Stern der Dämonen‹ (1920), ›Die Feuerprobe‹ (1923), ›Dämonenzug‹ (1928); b) Werke mit Namenstiteln. Einige Namen sind mythischer Natur: ›Agnes Leilacher‹ (1911, verschollen), ›Franziska‹ (1919), ›Nahar‹ (1922), ›Hodin‹ (1923), ›Daniel‹ (1924), ›Marengo‹ (1926, Deckname), ›Boetius von Orlamünde‹ (1928, Deckname), ›Georg Letham – Arzt und Mörder‹ (1931, Deckname und Anspielung auf Hamlet); c) Titel, die eine Eigenschaft des Protagonisten hervorheben: ›Der Aristokrat‹ (1929), ›Der Gefängnisarzt‹ (1933), ›Der arme Verschwender‹ (1936), ›Der Verführer‹ (1938) und ›Der Augenzeuge‹ (posthum, 1963). Vgl. Ernst Weiß, Theater und Kunst. Ernst Weiß über sein Drama ›Tanja‹. In: Wiener Mittagspost, 23. Dezember 1919, S. 3: »Das Drama niederzuschreiben brauchte ich zehn Tage, Ende August bis Anfang September vorigen Jahres.« Neben den ›Verdorrten‹ reichen auch die erste Fassung des Romans ›Tiere in Ketten‹ (1918), die Anfänge des Romans ›Mensch gegen Mensch‹ (1919) und möglicherweise
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nen eigenen Einsatz im Ersten Weltkrieg zurückführen lassen.80 Damit gehört ›Franta Zlin‹ neben dem Roman ›Mensch gegen Mensch‹ (1919) und dem Drama ›Tanja‹ (1918) zu den wenigen Texten, in denen der Autor das aktuelle Zeitgeschehen direkt literarisch umsetzt.81 Wißt Ihr, wer Franta Zlin ist? Ein Soldat, der im Feld einen Unterleibsschuß erhält und das Geschlecht verliert ... Der dann mit einem Mädchen von der Straße ins Hotel geht und seine verkrüppelte Geschlechtlichkeit in ohnmächtiges Morden wandelt ... Die unerbittliche Konsequenz dieses unerbittlichen Kriegsschicksals mit der grausamen Genauigkeit nüchterner Tatsachensprache verfolgt und verzeichnet zu haben, ist ein unschätzbares Verdienst eines überaus schätzenswerten Dichters.82
In ihrer Tiefenstruktur zeigt sich die Novelle den schon in den ›Verdorrten‹ verhandelten Themen von Liebe und Gewalt, Willen und Schicksal verpflichtet. Diese Gegensätze beherrschen auch das Drama ›Tanja‹. In diesem Stück, das vor dem Hintergrund der Russischen Revolution spielt, geht es, wie in ›Franta Zlin‹, um den Aufhellungs- und Erkenntnisprozess zweier Figuren, deren Existenz durch äußere Gewalt erschüttert wurde.83 Doch erst im Angesicht des Todes verstehen sie die Zusammenhänge. Im Drama wird dieses Thema pathetisch, in der Novelle in einem sachlichen Erzählstil ausgebreitet. Dennoch ist auch für die Geschichte und für die Erzählung von ›Franta Zlin‹ erhellend, was Weiß über ›Tanja‹ aussagt:
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jene des Kurzromans ›Stern der Dämonen‹ (1920) in die Jahre vor 1914 zurück. – Vgl. den Briefwechsel von Ernst Weiß mit Rahel Sanzara aus den Jahren 1916–1918. Wie schon Binder dargestellt hat, befand sich Weiß 1915 als Arzt des FeldartillerieRegiments Nr. 22 in den Karpaten und im November 1916 in Lublin in RussischPolen, in jenen Gegenden also, in denen er auch Franta Zlins Flucht- und Leidensweg ansiedelte. – Vgl. Binder, Ernst Weiß und die Prager Presse, S. 98; außerdem Ernst Weiß, Briefe an Rahel Sanzara vom 20., 23., 28. November und 4. Dezember 1916. Vgl. Ernst Weiß, Mensch gegen Mensch. Roman, München 1919; Weiß, GW, Bd. 3: Mensch gegen Mensch, Frankfurt/M. 1982 [fortan: MgM]; Ernst Weiß: Tanja. Drama in drei Akten, Berlin 1920. Joseph Roth, »Franta Slin«. In: Berliner Börsen-Courier, 12. Mai 1921. – Wiederabgedruckt in: Roth, Werke in sechs Bänden. Hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Köln 1989–91, Bd. 1 (1989): Das journalistische Werk 1915–1923, S. 557f. Im Zentrum des Stückes steht die russische Dirne Tanja, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. Ihre eigene Demütigung lässt sie an ihrem Kind aus, das sie zu Tode quält. Der Vater des Kindes kehrt als Revolutionär zurück, wird von Tanja jedoch verraten und stirbt. Erst in ihren letzten Minuten erkennt Tanja, dass sie das frühere Unrecht selbst ungerecht gemacht hat. – Vgl. Ernst Weiß, Tanja. Drama in drei Akten [6 Bilder, »Rahel Sansara gewidmet«]. In: Der neue Daimon 2 (1919), S. 65–112; Ernst Weiß, Tanja. Drama in drei Akten, Berlin 1920. – Die Uraufführung fand am 11. Oktober 1919 an den ›Kammerspielen‹ des Deutschen Landestheaters in Prag statt.
›Tanja‹ spielt in Rußland, was jedoch mit den seelischen Dingen des Stücks wenig zu tun hat, es sollte durch das Kostüm bloß die räumliche Distanz geschaffen werden. Tanja ist ein Weib, das wie Hiob seinen ganzen Jammer ausschreit, um Gottes Gerechtigkeit zur Manifestation zu zwingen. Ihr ist ein Unrecht geschehen. Statt daran zu verbluten, vergrößert sie es, indem sie selbst Unrecht tut, rüttelt an den Grundfesten der Welt und erwartet, daß sich Gott ihr irgendwie zeige. Sie, die Dirne, fühlt, daß sie in der tiefsten Hölle des Menschen ist – doch leidet Gott den Jammer seiner Geschöpfe nicht mit, kann er sie ohne Hilfe lassen? [...] Der stumpfen und starren Tanja treten im Irrenhaus die drei hauptsächlichsten Seelenkräfte im Menschen, im Irrsinnigen symbolisiert, entgegen: das fliehende Verbrechen, die hingegossene Liebe und die züchtigende Güte. Da Tanja sich selbst erkennt, ihre eigene Güte geweckt erwacht, stürzt sie sich zum Fenster hinab.84
Die Tatsache, dass die Helden »von Dämonen besessene Mensch[en]« sind, erzeugt in ›Tanja‹ wie in ›Franta Zlin‹ eine tragische Konstellation, die aus Opfern Täter macht. Im Gegensatz zu den ›Verdorrten‹ wird in ›Franta Zlin‹ der Weg des Helden zu sich selbst nicht mehr als aporetisch um sich kreisendes Denken dargestellt, sondern als Abfolge von Ereignissen in einer vordergründig realistisch gezeichneten Welt. Auch das Verhältnis von Individuum und Welt wird anhand der bekannten Fragen von Tod und Schuld neu diskutiert: Schuld entsteht nicht als Folge von Narzissmus, sondern durch die Verteidigung des Menschen gegen eine Welt, die ihn angreift, durchdringt und schließlich selbst böse werden lässt.
2.1. Zu den verschiedenen Textausgaben der Novelle Insgesamt veröffentlichte Weiß seine Novelle über den tschechischen Goldschmied Franta Zlin vier Mal, doch arbeitete er den Text – im Gegensatz zu den ›Verdorrten‹ und anderen Prosawerken – nur geringfügig um. Makrostruktur, Kapiteleinteilung und Handlungsschema bleiben bei allen Überarbeitungsgängen weitgehend unangetastet; lediglich stilistisch sucht der Autor die Qualität seines Textes noch zu optimieren. Dass Weiß, der seine Werke stets zu verbessern suchte, ›Franta Zlin‹ so behutsam behandelte, mag zwei Gründe haben: Zum einen hatte er durch den Schauplatz des Ersten Weltkriegs einen historisch festgelegten Rahmen geschaffen, der die Transposition der Geschichte in einen anderen Kontext kaum ermöglichte. Zum anderen hielt er seine Novelle offenbar für so gelungen, dass er an ihrem Sujet und ihrer Form auch lange nach ihrer Entstehung nichts auszusetzen hatte.85
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Weiß, Theater und Kunst, S. 3 (Hervorhebung Ch.D.). In einem Brief an Hermann Kesten von 1933 bezeichnet Weiß ›Franta Zlin‹ als »wohl meine geschlossenste novellistische Leistung«. – Vgl. Hermann Kesten, Deutsche Autoren im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–49, Wien u.a. 1964, S. 63f.
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Der erste Abdruck von ›Franta Zlin‹ findet sich in der von Carl Georg Heise, Hans Mardersteig und Kurt Pinthus herausgegebenen Zeitschrift ›Genius‹ des Verlags Kurt Wolff in München, wo der Text im Register mit dem Beisatz »Novelle« ausgewiesen ist.86 1920 publizierte Weiß die Novelle erneut in der von Albert Ehrenstein und anderen Wiener Autoren herausgegebenen Zeitschrift ›Die Gefährten‹, diesmal zusammen mit seiner Erzählung ›Stern der Dämonen‹ und dem Gedicht ›Der bunte Dämon‹.87 Die Fassung in den ›Gefährten‹ unterscheidet sich kaum von der Erstversion im ›Genius‹, sieht man von einigen geringfügigen stilistischen Änderungen ab.88 1921 isolierte Weiß das dritte Kapitel der Novelle und ließ es unter der Überschrift ›Der Soldat und das Tier‹ in der ›Prager Presse‹ drucken.89 Der Abdruck weist einige kleine Abweichungen von den ersten beiden Versionen auf, die sich auch in der dritten Fassung des Textes nicht wiederfinden lassen, die Weiß 1923 in seinem Erzählband ›Atua‹ im Verlag Kurt Wolff veröffentlicht.90 Diese dritte Fassung stellt eine Zwischenstufe dar: Sie ist stilistisch weitgehend bereinigt, wobei Weiß vor allem syntaktische Ellipsen, Modal-Partizipien und Austriazismen eliminierte, die eine wienerisch-österreichische Provenienz des Textes deutlich machten.91 Für den fünf Jahre später erfolgenden vierten Abdruck 86 87
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Vgl. Weiß, Franta Zlin. In: Genius, S. 298–308. Vgl. Weiß, Franta Zlin. Stern der Dämonen. In: Die Gefährten, S. 1–77. – Der Verlag gab zunächst die expressionistische Zeitschrift ›Daimon‹ (vom 2. Jahrgang an ›Der neue Daimon‹) heraus, die einen Kreis neuer österreichisch-böhmischer Dichter um sich sammeln sollte. Der Titel ›Daimon‹ spielte auf einen Schutzgeist der Griechen und der Römer an, der den Menschen durchs Leben begleitet, der Freud und Leid mit ihm teilt. Als Ergänzung erschien von Sommer 1919 an die Serie ›Die Gefährten‹ in Sonderheften. Noch im selben Jahr vereinheitlichten die Verleger den ›Neuen Daimon‹ und die Sonderhefte zu einer Zeitschrift mit dem Titel ›Die Gefährten‹. Die einzige auffallende Veränderung in der Zweitfassung von 1920 ist die Ersetzung des Wortes »Ladung« in der Erstfassung durch das Wort »Körper«. – Vgl. GEN 298: »Während er noch mit dem Offizier sprach und sonderbare Blicke nach dem Diener warf, zog er seinen Revolver, und [...] schoß sich aus unmittelbarer Nähe in den Kopf, so daß Stücke der Ladung – wie es Franta schien, Steinchen oder heißes Wasser – auf Franta und den Adjutanten spritzten.« In der Zweitfassung lautet die Stelle, vgl. GEF 1: »... so daß Stücke des Körpers [...] auf Franta und den Adjutanten spritzten«. In der dritten und vierten Fassung setzt Weiß wieder das Wort »Ladung« ein, vgl. A 8 und D 150 (alle Hervorhebungen Ch.D.). Vgl. Ernst Weiß, Der Soldat und das Tier. In: Prager Presse, 27. August 1921, S. 3. – Der Text hat keinen Untertitel und ist nicht explizit als Romankapitel gekennzeichnet. Er schildert die Geburt eines Kalbes vor Frantas Augen und unterscheidet sich von den fast identischen Buchausgaben der Novelle von 1919 und 1920 nur durch vier lexikalische Abweichungen, die auch durch redaktionelle Eingriffe entstanden sein könnten. Vgl. Weiß, Franta Zlin. In: Weiß, Atua, S. 7–50. Beispiele dieser stilistischen Überarbeitung sind a) Syntax: Beseitigung von Gerundivkonstruktionen durch Nebensätze. Vgl. in der Erstfassung, GEN 298: »ein Reitpferd,
der Novelle in Weiß‘ Erzählband ›Dämonenzug‹92 nahm der Autor Kürzungen im Gedankenbericht der Figuren und bei der Darstellung der Ereignisse vor.93 Dieser Kürzung fallen auch Sätze zum Opfer, in denen explizit ausgesagt wird, dass Franta Maschas Tod wünsche, oder in denen der Erzähler Frantas Erkenntnis formuliert, dass ihn allein sein eigener Tod »errettet«94. Durch die Streichun-
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stallend neben ihm ...«, und in der Zweitfassung, GEF 9: »ein Reitpferd, das neben ihm stallte ...«; b) Emphase: In allen Versionen finden sich zahlreiche Anführungsstriche, die entweder fremde Rede zitieren oder Ausdrücke hervorheben sollen. In der dritten Fassung tilgt Weiß viele dieser Anführungsstriche dort, wo sie eine Ungenauigkeit des Ausdrucks suggerieren, vgl. in der Erstfassung, GEN 301: »... der Gedanke verließ ihn nicht, wie er sich doch ›erretten‹ könnte.«, und in der Drittfassung, A 20: »... wie er sich doch erretten könnte«; c) Semantik: In den ersten Fassungen verwendet Weiß häufig emphatische Einzelsätze. Diese sind in den späteren Fassungen abgeschwächt oder eliminiert, vgl. in der Erst- und Zweitfassung, GEN 307 und GEF 16: »Sein verstümmelter Leib erstand zum erstenmal vor seinem Blick. Erschütterung.«, und in der Dritt- und Viertfassung, A 46 und D 180: »Sein verstümmelter Leib erstand zum erstenmal vor seinem Blick. Tief beugte er das Haupt zu sich nieder. Tränen.«; d) dialektale Färbungen: Weiß nimmt in späteren Fassungen häufig Regionalismen zurück, vgl. in der Erstfassung, GEN 301: »Man bat ihn […] um ›ein bisserl Nichts‹.«, und in der Drittfassung, A 21: »… um ein ›klein wenig Nichts‹«. (Alle Hervorhebungen Ch.D.) Vgl. Weiß, Franta Zlin. In: Weiß, Dämonenzug, 153–190. Die vierte Fassung ist syntaktisch, semantisch und stilistisch stark bereinigt. – a) Syntax: Mit Ausnahme der Szene der Geburt des Kalbes (3. Kapitel) und Frantas Selbstanklage (9. Kapitel) sind alle elliptischen Sätze verschwunden; b) Stil: Weiß glättet Bilder und tauscht Verben aus, z.B. wird das »gekrümmte Fleisch« des gebärenden Tieres in der dritten Fassung (A 15) zum »gekrümmte[n] Rückgrat« (D 156), das »schweinische Lächeln« Wassilys in der dritten Fassung (A 40) zum »schmutzigen Lächeln« in der vierten Fassung (D 178); c) Dialekt: Weiß tilgt sämtliche Dialektwörter. So ersetzt er das wienerische Wort »Taschenfeitel« in der Erst-, Zweit- und Drittfassung (GEN 300, GEF 5 und A 16) durch das Wort »Soldatentaschenmesser« in der vierten Fassung (D 157). Außerdem werden Zeitangaben präzisiert (z.B. »Frühjahr 1915« in D 163) und Details eingefügt, vgl. D 154: »Franta blieb beim Train und hatte vom 1. Dezember 1914 an den Dienst [...].«; d) Motivierung: Bis zur dritten Fassung benutzt Franta die Goldmünzen zur Bezahlung der Fahrkarten. In der vierten Fassung hat er Papiergeld zur Hand (vgl. D 181). (Alle Hervorhebungen Ch.D.) So deuten in der ersten Fassung einige Sätze auf Mord und Tod hin, die in der Fassung letzter Hand von 1928 allesamt fehlen, vgl. GEN 305: »Franta wollte Mascha tot. Er sammelte alles in sich, er zündete seine Gedanken an.«; GEN 305: »Die Nachbarin wachte an der Leiche, sie hatte Maschas ganzen Oberkörper (kalt gleißten nackte Brüste und ein fürchterlich umblutetes Haupt) aus Mitleid mit ihrer Wetterpelerine bedeckt.«; GEN 305: »Endlich sich ausziehen können, keine Angst mehr um das zerstörte Geschlecht!« – In der für die Handlung zentralen Szene der Selbstkonfrontation finden sich in der ersten Fassung explizite Aussagen der Figur, dass Franta »in sich selbst« gefangen sei, vgl. GEN 307: »Franta, armer! Ausgewürgt Du selbst, verkerkert Du selbst! Nicht errettet! Nicht zu retten mehr!«, und dass er »aus sich selbst [heraus]« müsse, vgl. GEN 307: »Aber er mußte auf und fort, fliehen außer Land, her-
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gen wird die Motivation des Helden, seine Frau zu töten, in der Fassung letzter Hand uneindeutiger und sein Verhalten insgesamt rätselhafter.95 Stilistisch veränderte Weiß die Fassung durch eine vollständige Syntax und einen gleichmäßigeren Erzählfluss. Diese Version, die im 15. Band der ›Gesammelten Werke‹ wieder abgedruckt wurde, liegt der folgenden Interpretationsskizze zugrunde.
2.2. Zur Rezeptions- und zur Forschungsgeschichte Eine der frühesten Reaktionen auf die Novelle findet sich 1921 im ›Prager Tagblatt‹. Zwar handelt es sich nicht eigentlich um eine Kritik, sondern um die Wiedergabe eines Vortragsabends, mit dem sich Rahel Sanzara und Ernst Weiß aus dem Prager Kulturleben verabschiedeten. Dennoch geht der Beitrag detailliert auf die Novelle ein.96 Andere Prager Zeitungen reagierten auf das Erscheinen der Novelle in den ›Gefährten‹: »Franta Zlin, Opfer des Weltkrieges«, urteilte Ludwig Winder in der ›Deutschen Zeitung Bohemia‹, sei ein Werk, das »keine einzige Anklage erhebt und eine einzige Anklage«97 ist, und Walter Tschuppik entlarvte einen »unbarmherzige[n] Erzähler«, dessen Protagonist »der Krieg entmannt hat und der nun [...] ganz sachte zum unschuldsvollen Tier wird«98.
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aus aus sich selbst.« – Diese Hinweise werden in der vierten Fassung gekürzt, vgl. D 180: »Franta! Nicht zu retten mehr! Fürchterliche Tränen! Fürchterlicher Tod!«; D 180: »Aber er mußte auf und fort, fliehen außer Land.« (Alle Hervorhebungen Ch.D.) Maschas Gefühle sind in den frühen Fassungen stärker differenziert. In der Erstfassung stellten sie einen Zusammenhang zwischen Frantas Schlaf und dem Eindruck von Heiligkeit im Zimmer her, vgl. GEN 303: »... kurz vor zehn Uhr kehrte sie abends zurück. Franta schlief. Das Zimmer war wie heilig.« In der vierten Fassung fehlt dieser Satz, vgl. D 167: »… kurz vor zehn Uhr kehrte sie zurück. Das Zimmer war wie heilig.« Die erste Fassung spricht Maschas Empfinden von Frantas seelischem Tod aus, vgl. GEN 305: »Aber jetzt war ihr, als sei ihr armer Franta schon lange tot, nichts mehr von ihm auf der Welt [...].« In der vierten Fassung wird der Tod nicht mehr explizit genannt, vgl. D 168: »… jetzt aber war es, als sei ihr armer Franta schon lange weg und dahin, nichts mehr von ihm auf der Welt […].« (Alle Hervorhebungen Ch.D.) Vgl. st., Vortragsabend Ernst Weiß und Rahel Sanzara. In: Prager Tagblatt, 1. Mai 1921, S. 6: »Franta, ein unberührter Mensch, erlebt im sinnzerstörenden Aufruhr des Feldkrieges seinen Sündenfall. Die Vergewaltigung einer wehrlosen Frau, im entfesselten Halbwahnsinn vollbracht, findet ihre Strafe durch die furchtbarste Wunde an dem Teil, mit dem er gesündigt hat. Der verstümmelte Mensch wird von da ab zum Teufel: ein bewußter Quäler seiner Wohltäter, ein Künstler im bösen Wollen und Tun, ein erbarmungsloser Denker von Mordgedanken. Das Schuldproblem, von Weiß in immer neuer Wendung lyrisch und philosophisch erörtert, entwickelt sich hier in nervenspannender, beängstigender Handlung.« L[udwig] W[inder], Stern der Dämonen, in: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 1. Januar 1921, 5. Beiblatt. Walter Tschuppik, Neue Bücher. In: Prager Tagblatt, 13. Februar 1921, S. 2 [Unterhaltungsblatt].
Die Kritiker des Erzählbandes ›Atua‹ arbeiteten verstärkt die existenzielle Thematik der Novelle heraus: Der Leser ahne, dass sich hinter dem Kriegsgrauen noch ein tieferes Grauen verberge, schrieb der Rezensent des ›Tage-Buch‹, und man erlebe »das Sexuelle als wichtigsten Zug ins Soziale«99. Melchior Vischer betonte den numinosen Charakter der Novelle und die literarische Tradition, der sie verpflichtet sei: »Hier wird slawisch gestaltet und gefühlt. [...] Und hier bohrt sich ein Schicksal aus dunkler Nacht der Verzweiflung in den sonnenhellen Tag, ohne Rettung, ohne Glück.«100 Uneins schienen sich die Rezensenten über den Erzählstil zu sein. Während Paul Mayer in der Sprachgewalt der Novelle den »Schlüssel ins Innerste der Menschen«101 sah, hob der Kritiker der ›Frankfurter Zeitung‹ ihre Nüchternheit hervor: »Das wird hart und kalt erzählt. Ernst Weiß kehrt gefestigter als vorher zur Tatsache zurück und gewinnt sich selbst und seine Besonderheit.«102 Nur ansatzweise hat sich die Weiß-Forschung bislang mit ›Franta Zlin‹ beschäftigt. Dierick erkennt in der Novelle »das tiefe Verständnis von Weiß für die Psychologie eines aus seiner gewöhnlichen Bahn Gerissenen« und sieht in der gewaltsamen Geschlechtervereinigung das zentrale Problem der Erzählung.103 Als einen der »literarisch wertvollsten Texte von Weiß« bezeichnet Haas die Novelle, weil er einen erzwungenen Selbstmord prägnant und »in vereinfachender Schwarzweißtechnik« erzähle. Allerdings fällt Haas in seiner Deutung noch hinter die zeitgenössische Kritik zurück, wenn er in der Novelle vor allem die »Tragödie eines unschuldigen Opfers des Krieges«104 sieht. Delfmann beschränkt sich darauf, ›Franta Zlin‹ in einem Atemzug mit dem 1919 erschienenen Roman ›Mensch gegen Mensch‹ zu nennen, ohne weiter auf den Text einzugehen. Er sieht in dem Text ein literarisches Zeugnis über »die Grausamkeit der Fronterlebnisse, das allgegenwärtige Elend der Zivilbevölkerung im unmittelbaren Hinterland der Kampfabschnitte und die häßliche Szenerie der Etappenlazarette«105. Innerhalb seiner Periodisierung ordnet Delfmann die Novelle – wie Haas und Dierick – in die expressionistische Phase des Autors ein, zu der auch der Roman ›Mensch gegen Mensch‹ gehört.
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N. N., Franta Zlin. In: Das Tage-Buch 2 (1925), o.S. Melchior Vischer, Zwei Prosawerke von Ernst Weiß. In: Prager Presse, 27. November 1923, S. 4. Paul Mayer, Ernst Weiß. In: Prager Tagblatt, 4. Februar 1923, S. 6 [Unterhaltungsbeilage]: »Dichter ist, wer sagen kann, was unsagbar schien.« – Vgl. auch Wiegler, Der Büchertisch, S. 6. Richard Mattheus, Ernst Weiß. In: Frankfurter Zeitung, 7. September 1924, S. 9. Dierick, Heilige und Dämonen, S. 245. Haas, Der Dichter von der traurigen Gestalt, S. 87. Delfmann, Heldentum, S. 84.
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2.3. »… alles hat es herausgehaut aus mir!« – Interpretationsskizze Mit ›Franta Zlin‹ liegt dem Leser erneut eine Novelle vor, in der die Existenzproblematik des Helden vordergründig als psychische Erkrankung, hintergründig als Reise einer verletzten Seele zurück in eine wie auch immer geartete ›Ganzheit‹ erzählt wird. Allerdings tritt hier ein anderer männlicher Heldentypus auf als in den ›Verdorrten‹: der einfache (tschechische) Charakter. Insgesamt ist die Novelle auch handlungsintensiver als der erste Text, geringer ist hingegen der Anteil der Bewusstseinsdarstellung. Nicht zuletzt deshalb bleibt der Held dem Leser auf seltsame Art und Weise fremd: Wer ist dieser Franta Zlin, und warum muss er sterben? Welche Logik herrscht in dieser erzählten Welt? Welchen Anteil hat der Held selbst an seiner Ermordung, und ist der Tod am Ende eine Erlösung? Um diese Fragen zu beantworten, untersuche ich zunächst die Handlung und sodann die Darstellung der erzählten Welt und des Figurenbewusstseins. ›Franta Zlin‹ spielt in keiner fantastischen, sondern in einer realistischen, historisch zudem genau definierbaren erzählten Welt. Dennoch herrscht der Eindruck einer numinosen Wirklichkeit vor. Dieser Eindruck ist, so die These der folgenden Skizze, auf die Erzählkonzeption und die Gestaltung einer ›doppelten Welt‹ zurückzuführen. Es wird zu zeigen sein, in welchem funktionalen Zusammenhang diese ›doppelte Welt‹ mit der Erzähler-Leser-Kommunikation steht. Dabei ist, im Unterschied zu den ›Verdorrten‹, eine Zunahme Impliziter und eine Reduktion Expliziter Transfersignale festzustellen. 2.3.1. Die Geschichte: Die Existenzkrise des Helden. Das Muster der Reise Auch ›Franta Zlin‹ wird von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler vermittelt, der zur Wiedergabe der Geschichte das Erzähltempus Präteritum wählt und aus der Retrospektive berichtet. Formal ist die Fassung letzter Hand in zehn Kapitel unterteilt. Sie lässt drei Handlungsphasen erkennen: Die erste Phase (Kap. 1–4) erzählt von Frantas Kriegserfahrung und -verletzung (vgl. E 92); die zweite Phase (Kap. 5–7) umfasst seinen Krankenhausaufenthalt, die erste Begegnung des Ehepaars nach dem Krieg und Maschas Tod (vgl. E 99). Die dritte Sequenz schildert Frantas Haft, seine Entlastung vor Gericht, das Wiedereinsetzen seines sexuellen Drangs, den Besuch bei einer Hure und Frantas Tod (Kap. 8–10). Auf ihrer Oberfläche bildet die Geschichte das Muster einer Reise ab, nämlich der Reise eines Kriegsverletzten zurück in seine Heimat.106 In ihrer Tiefenstruktur folgt die Novelle einer »Weg-Ziel-Struktur«107, die den Weg einer verletzten und gefangenen Seele zu sich selbst respektive in ein höheres ›Gesamtleben‹ nachzeichnet; dieser Weg impliziert den Tod des Individu-
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Vgl. Kurz, Metapher, S. 52; ders., Traum-Schrecken, S. 132. Vgl. Wünsch, Wege der ›Person‹, S. 168–179.
ums respektive seines versehrten Körpers. Je nach Wahl des Erklärungsrahmens – Oberflächen- oder Tiefenstruktur – lässt sich ›Franta Zlin‹ als Verfallsprozess des ›äußeren‹ Menschen oder als Rückkehr des ›inneren‹ Menschen zu sich selbst und damit zugleich zu einer numinosen ›Ganzheit‹ lesen. Ursachen der seelischen Krise (1): Die äußere Todesbedrohung Der Held der Novelle ist zu Beginn gesund. Doch schon der zweite Satz: »Es fiel der General.« (E 84) leitet ein Ereignis ein, das für Frantas psychische Verunsicherung von zentraler Bedeutung ist: die Begegnung mit dem Tod. In einem kurzen Rückblick wird die verlorene Schlacht von Rawaruska aus der Sicht des Generals geschildert, der sich nach seiner militärischen Niederlage selbst tötet. Dieser Ehrenrettungsversuch findet in Frantas Anwesenheit statt. Der Leser, der das Geschehen aus Frantas Blickwinkel miterlebt, bemerkt, dass Franta Zlin den Sinn dieser Tat nicht versteht: Er kann die Blicke des Offiziers nicht deuten (sie bleiben »sonderbar« für ihn), die Munition nicht identifizieren (»Steinchen oder heißes Wasser, wie es Franta schien«, E 84), und es bleibt auch offen, ob er in der Szene nur als Augenzeuge dienen oder selbst sterben sollte. Die Bedrohung löst einen tiefen Schock aus: Franta stampfte schreiend davon, lief laufenden Soldaten nach, sah zurückgewandten Blicks (er hatte ›seinen‹ General sehr liebgewonnen) auch den Stabschef zusammenkrachen und etwas Blinkendes auch dessen Hand entsinken. (E 84)
Das in Anführungsstriche gesetzte Possessivpronomen zeigt, dass der Erzähler die Gedanken der Figur zitiert. Sein Inhalt deutet eine exklusive Beziehung zum Vorgesetzten an, die durch die Verwendung des Verbs ›lieb haben‹ noch unterstrichen wird. Ein solches Gefühl geht über ein Dienstverhältnis weit hinaus und präsupponiert eine naive Identifikation mit dem General als einer Vaterfigur.108 Der Verlust des Vorgesetzten und die Bedrohung des eigenen Lebens führen zu einer Traumatisierung, die nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Fluchtbewegung auslöst. Die psychische Schwächung äußert sich in einer »Verwirrung« (E 84) und mündet in einen Zustand, der in der Terminologie der Psychoanalyse als Neurose bezeichnet werden kann.109 In Verbindung
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Die Voraussetzung für diese Bindung liegt in der Novelle im Dunkeln. Sie kann als Anspielung auf die Unmündigkeit der Figur und ihre Anfälligkeit für Autoritäten gelesen werden, wie sie in der Literatur des Expressionismus in der gehassten Vaterfigur, der nationalen Vaterfigur des Kaisers oder des Großindividuums Staat kritisiert wurden. – Vgl. R. Hinton Thomas, Das Ich und die Welt: Expressionismus und Gesellschaft. In: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien, hg. von Wolfgang Rothe, Bern u.a. 1969, S. 19–36; Anz, Literatur des Expressionismus, S. 75–82 und S. 127–147. Vgl. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips. In: Freud, Studienausgabe in zehn Bän-
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mit Frantas körperlicher Kraftlosigkeit führt er zu Momenten des Irreseins: »[E]r lachte, wachend und bewußtlos.« (E 85). Die Bewusstlosigkeit erzeugt einen totenähnlichen Zustand, der nicht als bedrohlich, sondern als entlastend empfunden wird: »Nun waren alle Sorgen glücklich ausgelöscht.« (E 85). Im Schlaf wird die Erfahrung des nahen Todes ins Unbewusste verschoben. Dort wird eine Gegenkraft aktiv, der lebensspendende Eros: »Nach zweitägiger Wanderung fühlte Franta sich in einem Zustand solcher Erschöpfung, wie wenn er mit seiner Frau sechsmal zusammengekommen wäre.« (E 85). Die Sexualität wird als Akt der Selbsthingabe, der Liebe und Entgrenzung des Individuums dargestellt. Zugleich ist sie aber auch ein gefährdeter Ort. Darauf wird der Leser aufmerksam, als der Erzähler schildert, wie Franta während der Flucht aus seinem Erschöpfungsschlaf gerissen wird. Ein furchtbarer Schmerz erweckte ihn: das Rad des Wagens, endlich sich weiterbewegend, riß an den Enden seines Mantels und fi ng schon an, das Fleisch seiner linken Lende mit einzurollen. Ein mit aller Kraft geführter Riß machte ihn frei. Später erst bemerkte er Blut und böse Schmerzen bei jedem Schritt. (E 85, Hervorhebung Ch.D.)
Es wird noch zu zeigen sein, dass der Eros in ›Franta Zlin‹ nicht allein für die Libido steht, sondern auch – wie in den ›Verdorrten‹ – für die Liebe der Seele. Erst die Nähe zu einem geliebten Menschen ermöglicht es der im Körper wohnenden Seele, sich selbst zu entgrenzen. Franta kann seine Angst allerdings nicht, wie Edgar in den ›Verdorrten‹, reflektieren – und sei es auch nur diffus – geschweige denn benennen, denn sie ist ihm unbewusst. Die tödliche Angst mobilisiert vielmehr seinen (Über-)Lebenstrieb.110 Existenz und Schuld (1): Eros und Thanatos. Die Bäuerin Die Mobilisierung des Eros als Gegenkraft zu Thanatos, dem Todestrieb, findet ihren äußeren Anlass in der Vergewaltigung einer jungen jüdischen Bäuerin, die der Held auf einem freien Feld bei der Nahrungssuche antrifft. Franta muss helfen, ein Rind zu schlachten, doch er verabscheut den Tötungsakt: »Franta, der immer ein sanfter Mensch gewesen war, konnte von dem Fleisch nichts essen.«
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den mit Ergänzungsband. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt/M. 2000 [fortan: StA], Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, S. 213- 271, hier S. 222. Zu den Begriffen Eros und Thanatos vgl. Sigmund Freud, Das Ich und das Es. Die beiden Triebarten. In: Freud, StA, Bd. 3: Psychologie des Unbewussten, S. 307–314, hier S. 307. – Freud entwickelte seine Theorie vom Todestrieb vor dem Hintergrund der Erfahrung von Massentötungen im Ersten Weltkrieg. Es ist bezeichnend, dass der Wissenschaftler ähnlich wie der Schriftsteller den Todestrieb offensichtlich nicht allein als psychologische, sondern gleichfalls als kosmische Größe ansieht. – Vgl. auch Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Freud, StA, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, S. 33–60.
(E 86). Auf die befohlene Tötung reagiert er mit Abwehr, doch als er kurze Zeit später der Besitzerin des Rindes noch einmal begegnet, verspürt er Wollust. Dieses Begehren wird vom Helden als etwas »Unheimliches« (E 86) empfunden, und er nimmt es wie ein Außenstehender wahr. Die gewaltsame Vereinigung mit der Frau stärkt ihn nicht, sondern schwächt ihn so sehr, dass Franta während des Aktes ohnmächtig wird. Er hörte noch, wie der Kopf der Frau auf die knarrend einsinkenden Flanken des Tieres fiel. Während der flammenden Lust würgte es ihn. Wühlend umwogte seine Hand die gewaltigen Brüste der verstummten, atemtief versteinerten Frau, und unter seinem wütenden Druck fühlte er warme Feuchtigkeit zwischen seinen Fingern rinnen. Im Krampf stemmte sich seine von Süßigkeit umflossene Zunge gegen seine Zähne, und als er nach kurzer Zeit erwachte, sah er sich auf die unter ihm zitternde Frau verströmend Tränen herabweinen, wie er sie früher nie geweint hatte. (E 86)
Destruktions- und Liebestrieb mischen sich, die Vereinigung steigert sich zu einem Kampf um Leben und Tod. Franta kann den Akt nicht als Befreiung empfinden, sondern reagiert mit Ekel und Scham. Dass er sich als ein von äußeren wie inneren Kräften Getriebener erlebt, erregt in ihm ein Grauen, auf das er mit Tränen antwortet. Franta ist von diesem Moment an nicht mehr nur Opfer, sondern auch Täter. Die Destruktion, die er bislang als Ergebnis einer Kraft von außen erlebte, ist ihm selbst gleichfalls inhärent. Metaphysikkonstruktionen (1): Die Natur. Die Geburt des Kalbes Zweimal wird Franta mit außergewöhnlichen Ereignissen konfrontiert. Zunächst begegnet ihm eine gebärende Kuh, die Teil jenes Schlachtviehtrosses ist, den Franta nach Wologda zu führen hat. Als das Tier spürt, dass sein Nachwuchs zur Welt kommen wird, sucht es sich einen Platz abseits der Herde im Wald. Dieser Raum ist mythisch konnotiert: Die Kuh wandelt zwischen »Urwaldbäumen[n]« (E 87), an einem Ort also, der traditionell als heilig und geheimnisvoll angesehen wird. Auch die Geburt selbst wird in ›Franta Zlin‹ als etwas Heiliges beschrieben: Die Gestalt der kalbenden Kuh gleicht einem Kirchenraum, und sie wird von den anderen Tieren wie in einem religiösen Ritual umkreist. Die Geburt rückt in die Nähe einer sakralen Handlung. Die anderen Tiere blieben beisammen, umwandelten langsam kreisend Frantas Tier, das nun ein weitgezogenes Brüllen schallte. Nun stand es da, näherte die vier Gliedmaßen, niedrige Säulen, dem ungeheuer schwellenden Leib. Als ein hohes Gewölbe krümmte sich die Wirbelsäule, das Haupt senkte sich. (E 87, Hervorhebungen Ch.D.)
Die Unberührtheit des Kalbes wird durch den Schnee angezeigt, auf dem das Köpfchen des kleinen Tieres »zittert« (E 88). Franta verspürt Ehrfurcht gegenüber dem neuen Leben, er bindet die Nabelschnur mit dem Band seiner Hose ab, versorgt das Tier und gibt ihm zu fressen. Nicht nur die Sanftheit dieser Gesten, Liebe und Mitleid, sondern auch die Formulierung, wie Franta die Tiere 133
füttert, spielt auf das letzte Abendmahl an und damit auf einen biblischen Text, in dem es um Tod und Auferstehung geht: »Er brach Brot und gab es.« (E 88).111 Zugleich enthält die Szene einen Hinweis auf die bevorstehende ›Trennung‹ des Helden vom Leben. Das Band seiner Hose, das hier der Versorgung des Tieres dient, wird später noch einmal im Zusammenhang mit Frantas Verwundung erwähnt. Es verknüpft diese beiden Szenen und fungiert für den Leser als textinterner Verweis (vgl. E 90). Nicht zuletzt diese Verknüpfung deutet einen parabolisch zu lesenden Zusammenhang der Ereignisse an, der, jenseits des figuralen Bewusstseins, diese erzählte Welt offensichtlich bestimmt. Metaphysikkonstruktionen (2): Das Leben der Seele. Die Perlen Wurde schon bei der Beschreibung der Geburt deutlich, dass dem Vorgang eine besondere Bedeutung beigemessen wird, so gilt dies umso mehr für das zentrale Symbol der Novelle, die Perlen. Franta erhält sie bei einer zufälligen Begegnung im Wald – von jener Bäuerin, die er zuvor vergewaltigt hat (vgl. E 89f.). Der Held, ein Goldschmied, erkennt ihre Kostbarkeit und will sie den Besitzern zurückgeben. Dieser Versuch scheitert am seltsamen Verschwinden der Bauern in der Ferne (vgl. E 90). Schwer schritten seine Kühe vorbei, ein Huf verwickelte sich in die Riemen und trat auf den Boden unter die auseinanderrollenden Perlen; Franta sammelte sie und lief dann dem Rind nach, holte ihm aus der Höhlung zwischen dem gespaltenen Huf die letzte Perle hervor. Dann hielt er die Hände vor den Mund und schrie dem Wagen nach, der nun schon, fast unsichtbar in der Nacht, in eng gewundenen Ringeln die tieferen Serpentinen befuhr, von roten Wölkchen im Hauch bestrahlt. (E 89f.)
Der gespaltene Huf einer Kuh, in den sich die Perle »verirrt« hat, ist, in einer psychoanalytischen Lesart, unschwer als Bild für weibliche Sexualität zu entschlüsseln. Dass die Perle mit der Kuh und damit einem Symbol der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wird, deutet auf eine ›Errettung‹ des Helden in ein gesundes seelisches ›Leben‹ hin. Dieser Vorstellung steht in der Geschichte eine zweite entgegen: Die Perlen, das werde ich bei der Analyse der dritten Phase zeigen, weisen Franta den Weg nicht zurück ins (körperliche) Leben, sondern in den Tod. Ursachen der seelischen Krise (2): Die äußere Katastrophe Die Verletzung des inneren Menschen findet ihre äußere Entsprechung in der (Kriegs-)Verletzung der Genitalien. In einer vordergründigen Lesart kann diese
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Vgl. Mt 26, 26: »Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es den Jüngern und sprach: Nehmt und eßt, das ist mein Leib.«
Entmannung als Strafe für die gewaltsame Vereinigung mit der jungen Bäuerin gedeutet werden. Zugleich enthält die Szene zahlreiche versteckte Hinweise auf eine höhere, finale Logik und legt eine zweite, mythische Lesart der Ereignisse nahe. Vordergründig ist Frantas Züchtigung durch eine Verspätung motiviert, die seine Geburtshilfe für die kalbende Kuh verursacht hat. Er hat die Kuh zwar vor dem Schlachter bewahrt, jedoch die Feldküche warten lassen (vgl. E 90), weshalb er bestraft wird. Die Strafe – er muss in den Schützengraben und in den Stacheldraht (vgl. E 90) – schwächt den Helden körperlich und löst erneut einen Zustand der Bewusstlosigkeit aus, so »daß er nichts mehr von sich wußte« (vgl. E 90). In diesem Zustand der völligen Kraftlosigkeit ist es Franta nicht einmal mehr möglich, seinen Körper zu retten, so wie es ihm noch vor einigen Tagen gelungen ist, als er sich von einem anfahrenden Wagen befreit hat. Der Angriff des Feindes im Stacheldraht überrascht ihn ganz und gar: Es krachte neben ihm, der Einjährige stampfte auf und war sofort bis an die Augen in Blut gehüllt, aber auch Franta merkte, wie Blut in seine Stiefel rann. Zwischen den zusammengepreßten Beinen jagte der Schmerz zum erstenmal gegen das hoch aufzuckende Herz, und Franta verging, während er, rechtshin den Kopf beugend, ein langes Brüllen ausstieß in das weiße Schweigen der staubigen Ebene. (E 90)
Am Stacheldrahtzaun verliert Franta seine Hose, da er sie nicht mehr befestigen kann. Er ist nackt und »spürte plötzlich, wie seine Unterhose, deren Schnüre er gestern zerrissen hatte, raschelnd und feuchtigkeitsschwer an ihm niedersank…« (E 90). Was zunächst komisch wirkt – »Franta wollte lachen« (E 90) –, wird Sekunden später tragisch: »Franta verging, während er, rechtshin den Kopf beugend, ein langes Brüllen ausstieß in das weiße Schweigen der staubigen Ebene.« (E 90). Die seelische Verletzung des Helden wird nun in einer äußeren Wunde sichtbar. Der Verlust der Genitalien verunmöglicht Franta, Leben biologisch weiterzugeben und raubt ihm seine Identität als Mann. Der Fortgang der Handlung in der zweiten Phase zeigt aber auch, dass durch diese Verletzung in Frantas Seele etwas zu Tode gekommen ist. Ursachen der seelischen Krise (3): Der äußere Mensch. Die Gesellschaft Mit Frantas Verwundung beginnt, nach seiner Überführung in ein Krankenhaus und seiner Rückkehr zu seiner Gattin Mascha, die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Die zweite Handlungsphase erzählt von Entschlüssen – jenen etwa, seine Wunde zu verheimlichen und seine Frau zu töten. Damit kommt eine ethische Kategorie in die Erzählung, das Problem der Entscheidung und der Schuld. Franta wird böse, weil er sich gegen die Liebe stellt. Er ist nicht – wie Edgar in den ›Verdorrten‹ – von vornherein ein Egoist. Vielmehr wird Franta erst durch die Mitmenschen zu dem gemacht, was er ist. Das Böse ist in ›Franta Zlin‹ daher eine sozial verhandelte Kategorie: Es entsteht, weil eine 135
Gruppe auf den Einzelnen einwirkt und ihn unwert behandelt. Damit trägt sie zu seiner Selbstabschließung bei. Zu Beginn der zweiten Handlungsphase erlangt der Held sein Bewusstsein zurück und versucht, sich mit seiner Wunde zu konfrontieren. Die Art und Weise, wie dies geschieht, lässt zunächst offen, wie Franta seine Verletzung empfindet, und was sie für ihn bedeutet. Sein vorsichtiges Tasten lässt keinen Ekel erkennen, vielmehr Verwunderung und Scham darüber, einer Frau ähnlich geworden zu sein (vgl. E 91). Dieser Zustand wird zunächst nicht negativ bewertet, sondern weckt durch die Wiederholung der Worte »Feuchtigkeit« und »Wärme« in der Erzählung die Erinnerung an die Geburt des Kalbes und eine Leben spendende Mütterlichkeit. Gerade so, als wolle der Verletzte diese Mütterlichkeit verehren, faltet er seine Hände über dem Verband: – aber war dann alles vorbei, dann hob er das immer schwer lastende Deckbett mit beiden Händen fort vom zertrümmerten Unterleib, und seine Hände, ineinandergefaltet, fühlten Wärme, warm hauchende Feuchtigkeit, das seidige Knistern des weich sich spannenden Verbandes. (E 91, Hervorhebung Ch.D.)
Franta nimmt die Wunde wahr, aber sie löst bei ihm kein Gefühl des Entsetzens aus. Vielmehr wird sich der Held seiner Situation erst bewusst, als ihn eine Frau, die Rote-Kreuz-Schwester, »voller Hohn« auf seinen minderwertigen Status als Mann aufmerksam macht. »Sie armer Soldat, haben Sie denn schon ihrer bemitleidenswerten Frau geschrieben?« (E 92). Die Häme steht im Gegensatz zur verweigerten intimen Annäherung: Franta darf seine Wunde nicht sehen (vgl. E 91) und gerät gegenüber Pflegern und Schwestern in einen Wissensrückstand. »Franta, der, sanften Herzens, früher immer gesprächig gewesen war«, zieht sich in sich selbst zurück: Er »verstummte ganz. Bloß beim Essen öffnete er den Mund« (E 92). Der Hohn im Krankenhaus führt zu einer seelischen Wunde, die sich im Gefühl der Minderwertigkeit manifestiert. Franta verändert sich. Aus einem offenen, »sanften« Menschen wird ein verschlossener, aggressiver Mensch. Was er verteidigen muss, ist seine äußere Existenz. Der Rückzug des Menschen vom Menschen bereitet den Boden für einen rigoristischen Selbstschutz: Um sich selbst zu ›retten‹, wird Franta zum Mörder. Metaphysikkonstruktionen (3): Die christliche (Nächsten-)Liebe. Mascha Frantas Gattin Mascha versinnbildlicht innerhalb der Logik der Geschichte die christliche Religion. Schon ihr Name weist darauf hin: Mascha, ein Kosewort für Maria, erinnert an die Muttergottes. Mascha handelt in der Tat wie eine vorbildliche Christin und am Ende sogar wie eine Märtyrerin. Der Erzähler beschreibt sie als geduldig und arbeitsam (vgl. E 93), als arglos und altruistisch, als »sehr still, sehr gut, und selbst das äußerste Elend machte sie nicht böse« (E 93). Mascha nimmt die Veränderung ihres Mannes mit Schrecken wahr, 136
ohne sie zu verstehen. Sie fühlt jedoch, dass von dieser Veränderung etwas ausgeht, das nicht nur sein, sondern auch ihr Leben bedroht: »Die Frau war durch sein strenges Wesen tief erschreckt, etwas war ›in ihr gerissen‹, als sie ihn so sah, so fürchterlich wiedersah. Sie war so erschüttert, daß sie nicht einmal weinte.« (E 92, Hervorhebung Ch.D.). Auffallend ist, dass Mascha nicht herauszufinden versucht, was ihren Gatten so verändert hat. In der Erzählung werden keine Gespräche und auch keine Fragen zwischen den Eheleuten explizit. Vielmehr anerkennt Mascha die Veränderung ihres Gatten mit einer Art Schicksalsergebenheit, die nur die stille Klage zulässt: »›Ich weiß schon gar nicht mehr.‹« (E 93). Für Mascha geht von Franta Tod aus. Sie schläft in seiner Gegenwart »wie tot« (E 93) und fühlt sich innerlich »wie ausgestorben« (E 94). Auch der Gatte selbst verwandelt sich aus ihrer Sicht in einen Toten, er nimmt Züge einer Leiche an: »[D]er Mann verfiel von Tag zu Tag, und sein Blick, tief gesenkt aus fast schwarzen Höhlen, machte sie den Mund aufreißen vor Schmerz.« (E 93). Sie spürt, dass Franta ein Getöteter ist, ohne es begründen zu können. Auch besitzt sie keine Möglichkeiten, ihn wieder »lebendig« zu machen. Manchmal dachte sie, alles müßte doch noch da sein, nur jetzt in der Kälte eingegraben, sie müsse sich nur noch bis zum Sommer erhalten. Sie kam auf ihren Mann zu, streichelte ihn lange, rief ihn süß an, gab ihm die Hand unter das Kreuz, damit er weicher liege, und dachte so tief an ihn, daß ein Toter hätte erwachen müssen in seiner ersten toten Nacht; jetzt aber war es, als sei ihr armer Franta schon lange weg und dahin, nichts mehr von ihm auf der Welt, und sie weinte lange auf sein unbewegtes Gesicht, das aber nicht schlief. (E 94, Hervorhebung Ch.D.)
Die Anspielungen auf die christliche Erlösungslehre und ihre Symbole – das Kreuz, die Auferstehung der Toten durch den Glauben – sind deutlich. Mascha trägt von ihrem ›Erweckungsversuch‹ lediglich die Stigmata des Leidens davon. Sie sind Hinweise auf ihr bevorstehendes eigenes Martyrium: »Ihre magere Hand war starr und blau, erfroren und verödet und mit einem Wundmal von dem harten Knopf der Matratze verwundet.« (E 94).112 Maschas ›Kreuz‹ heißt Franta, und so ist auch die empirisch nur schwer erklärbare Färbung ihrer Kopfhaut als versteckter Hinweis auf ihren eigenen baldigen Tod zu verstehen: »Mit Freude sah Franta im Mondlicht, wie sich Maschas Kopfhaut an der Wurzel der blonden Haare schwärzlich färbte.« (E 94). Erst das Abschneiden der schönen langen Haare, dann die Schwarzfärbung der Kopfhaut symbolisieren das Schwinden
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Parallelen dieser Art zwischen dem Schicksal seiner Figuren und dem Leidensweg Christi zeichnet Weiß immer wieder. So findet sich auch in der ersten Fassung des Kurzromans ›Stern der Dämonen‹ eine Szene, die von einer solchen Stigmatisierung erzählt. Auch im weiteren Verlauf der Geschichte spielt die christliche Religion eine große Rolle, etwa in der Figur des Bruders Matthias, der dem katholischen Klerus angehört. – Vgl. Weiß, Stern der Dämonen. In: Die Gefährten, S. 18–70, hier S. 49.
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der Lebenskraft in der Figur.113 Ähnlich ist die Information des Erzählers zu verstehen, dass Mascha beim Anstehen um Lebensmittel »fast die Brüste abgestoßen« wurden (E 94). Das Symbol weiblicher Fruchtbarkeit kann in Beziehung zum Verlust von Frantas Männlichkeit gesetzt werden: Maschas Leben ist ähnlich gefährdet wie das ihres Mannes. In beiden Fällen symbolisieren die bedrohten Körperteile diese Gefahr. Existenz und Schuld (2): Urteil des ›äußeren‹ Menschen. Maschas Tod Mit Maschas Tod ist für Franta die Hoffnung auf eigene ›Errettung‹ verbunden (vgl. E 93). Daher weist er ihr zweimal den Weg zum Selbstmord. Erstmals gibt ihm Maschas gerichtliche Verurteilung als Mundräuberin einen Anlass, sie mit dem Tod zu konfrontieren. Mascha versteht voller Schrecken die Botschaft ihres Gatten: [E]r führte sie aber durch die Stadt über die Linzer Straße nach Hütteldorf in einen Wald bei einer Wiese. Dort blieb er stehen und riß an den Ästen der Bäume herum. Ob das vielleicht einen Menschen trägt? fragte er für sich, und nahm einen Strick aus der Tasche. ›Jesus Maria, was fällt dir ein?‹ sagte Mascha. Er sagte nichts, sah sie nur so an, daß sie merkte, es war für sie. Sie konnte aber nicht, sie hatte gar keine Kraft. Sie wußte, daß es sein mußte, konnte aber nicht. Sie gingen dann um die Wiese herum und wieder in die Stadt zurück. (E 96, Hervorhebungen Ch.D.)
Die geschilderte Gerichtsverhandlung kann als Metapher einer viel weitreichenderen Gerichtsbarkeit verstanden werden, in der Franta Maschas Richter ist. Er verhindert, dass die Anklage in der konkreten Verhandlung ein gutes Ende findet, indem er das Auslösegeld seiner Frau verschwendet (vgl. E 97). Auch macht die Erzählung deutlich, dass der Held die Tötung seiner Frau schon seit langem plant. Franta hat sich einen »›spanisch eingelegten Damenrevolver‹« (E 95) besorgt und gibt vor, sich als Goldschmied mit dem Tötungsinstrument zu beschäftigen. Aber Mascha merkt, »daß der Revolver geladen war, und als sie ihn ansah, wußte sie, dass er nur für sie Patronen gekauft und sie schon lange abgeurteilt hatte. Sie war so vernichtet, daß sie nicht mehr reden konnte« (E 97). Ihre Reaktion, »daß es sein mußte«, ist rational nicht nachzuvollziehen. Sie erschießt sich in bravem Gehorsam. Ihren Gatten nimmt sie in ihrer Todesminute wahr – als Todesengel und als Teufel zugleich: Er kniete vor ihr und glänzte mit seinen mörderischen Augen. Das Licht brannte mit einer rosa Flamme. Auf ihre Brust hatte er Kruzifix und Heiligenbilder gepackt. Sie konnte kaum atmen, ließ aber die Heiligenbilder liegen. Er wollte aufstehen, sie faßte seine Hand und sagte: ›Bleib bei mir, ich muß sterben.‹ Um acht Uhr morgens war sie tot. (E 98, Hervorhebung Ch.D.)
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Zur Symbolik des Haares als Sitz der Lebenskraft vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 272.
Frantas Wille und Maschas frommer Gehorsam ergänzen sich und machen die Tat erst möglich. Der Selbstmord der Frau demonstriert die Macht eines Menschen über einen anderen: Mascha gehorcht ihrem Gatten und aus religiöser Überzeugung. Selbstrettungsversuche (1): Sexualität. Die Perlen Nach Maschas Tod fühlt sich Franta befreit: »Endlich keine Angst mehr um das zerstörte Geschlecht. Keine Scham wegen der Verstümmelung. Das Goldgeld, die dicken Münzen, die herrlichen Perlen, endlich alles ihm allein!« (E 98). Allerdings gibt die Erzählung schon bald einen Hinweis darauf, dass die Perlen Franta nicht in ein neues (körperliches) Leben retten werden. Noch hält er sie in einem »von früher her durch Blut versteiften Stoff« (E 90) versteckt, wobei ihn dieses Blut an die Verletzung seines Körpers erinnert. Die Perlen nehmen die rötliche Färbung des Tuches immer wieder an (vgl. E 93) und müssen gereinigt werden. Nach Maschas Tod lassen sie sich allerdings kaum mehr säubern: »Wieder waren sie rötlich umhaucht, stärker als früher, und blieben ein wenig gerötet auch nachher.« (E 98). Der Schmuck gleicht nun »Schrotkörnern« (E 98), einem Werkzeug zum Töten. Erstaunlich ist, dass Franta offensichtlich erst jetzt Interesse am materiellen Wert der Perlen findet: »Er verglich sie mit Perlen in den Auslagen der Juweliere und schätzte die größte Perle auf zehntausend, die kleineren auf je dreibis viertausend.« (E 98). Dieser Reichtum wird Franta später in den Tod führen. Zugleich lösen die Perlen erstmals seit seiner Verletzung wieder »Wollust« (E 98) in ihm aus. Das körperliche Begehren lässt sich aber weder befriedigen noch kanalisieren. Es wucherte in Franta eine schwüle Glut, oft zitterte er. Der Schlaf war nachts schwer, mit wüsten Träumen. Franta Zlin hämmerte sich in viel Arbeit ein, aber das Sitzen auf dem Arbeitsschemel, gepresst zu einem Bündel Fleisch, das sich selbst erhitzte und von trockenen Fetzen rings umgeben war, machte ihn wild. (E 99)
Franta, der vor lauter Unruhe nicht mehr sitzen kann, gibt seinen Beruf als Goldschmied auf. Dieser Schritt leitet das Ende seiner äußeren Identität ein. Die Anonymität der äußeren Person nähert ihn vorübergehend dem ›inneren‹ Menschen an (vgl. E 99), doch lässt sich die fordernde »Glut« nicht mehr verdrängen. Franta folgt dem Russen Wassily zu den Huren und wählt ein junges Mädchen. Vor der Entblößung faltet er »sanft« seine Hände auseinander – genauso, wie er sie einst im Krankenhaus ineinander faltete, als er den Verlust seiner Männlichkeit registrierte (vgl. E 91). Dieser Rückbezug verklammert die Szenen und verleiht der neuerlichen Annäherung an den eigenen Körper etwas Sakrales. Durch die Begegnung mit der Prostituierten werden in Franta auch jene diffusen Erinnerungen und Wünsche wieder wach, die er verdrängt hat. Kuh, Perle und Huf werden psychische Realität. 139
Wie sie sich schmiegte in die Höhlung seiner geweiteten Arme! Glühend wogte er zwischen ihren Gliedern. Der gespaltene Huf des Tieres, zwischen dessen Höhlung er die Perle gefunden hatte, einst, einst. (E 101)
Zum ersten Mal seit seiner Verwundung sieht sich Franta offensichtlich selbst an: »Sein verstümmelter Leib erstand zum ersten Mal vor seinem Blick.« (E 101). Schlagartig wird ihm die Bedeutung seiner Versehrtheit bewusst – gerade so, als habe ein Mensch, der nicht sieht, auch nicht gewusst, was mit ihm passiert ist: »Da, sieh her, so war ich nie! […] Alles hat es herausgehaut aus mir, Franta! Alles hat es herausgehaut aus Dir!« (E 101). Dieses Erschrecken ist ein schicksalhafter Moment; er lässt dieses (Ge-)Wissen zu und macht Schuld bewusst. »Franta erhob sich: Mörder, der umsonst gemordet hat.« (E 101). Er erkennt, dass Maschas Tod ihn nicht retten konnte, weil ihr Opfer seinen Körper und seine Seele nicht heilt.114 Er reagiert mit einer inneren Fluchtbewegung, die mit einem äußeren Aufbruch korrespondiert: »Aber er mußte auf und fort, fliehen außer Land.« (E 101). Selbstrettungsversuche (2): Vollendung der Reise. Erlösung im Tod Gibt es Hinweise in der Erzählung, dass Franta den Tod freiwillig wählt? Keine direkten. Doch auffallend ist, dass der Held nun seine bislang wohl verborgenen Perlen jemandem zeigt – Wassily, seinem Mörder. Wurde dieses Vorzeigen in früheren Fassungen durch die Notwendigkeit begründet, die Fahrkarten zu bezahlen, entfällt diese Begründung in der letzten Fassung. Der Held bezahlt hier mit Scheinen: Am Fahrkartenschalter zog Franta das noch vom Blute der Schlacht bei Rawaruska blutige Tuch mit dem Goldgeld hervor. ›Kaputt?‹ fragte der Russe mit bösem Lächeln. Franta antwortete nicht, stieß den Russen beiseite, wollte eine Karte lösen und mit Papiergeld bezahlen. Wassily, außerhalb des Eisenbahngeländers, das zum Fahrkartenschalter führte, winkte ihm, machte Zeichen: zwei! zwei! (E 102) 115
Durch das Papiergeld erscheint das Vorzeigen des blutigen Tuches mit Goldgeld und Perlen völlig unmotiviert – oder gerade so, als sei eigentlich eine andere Absicht damit verbunden. Es bleibt offen, ob Franta mit dem Vorzeigen seines Schatzes einen Raubmord forciert oder nicht. Auf alle Fälle weiß er, »daß er mit dem Russen nicht allein bleiben dürfe, sonst würde er von ihm erschla-
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Indirekt kann man diese Erkenntnis auch als einen kritischen Kommentar zur Theodizee der christlichen Religion lesen: Ein stellvertretender Opfertod, wie ihn Jesus Christus starb, konnte die Menschheit nicht erlösen, weil die Menschen als subjektive Wesen ihren eigenen Weg finden müssen. – Vgl. dazu Kapitel II.1., S. 61ff. Vgl. GEN 308: »Am Fahrkartenschalter zog Franta das noch vom Blute der Schlacht bei Rawaruska blutige Tuch mit dem Goldgeld. ›Kaput?‹ fragte der Russe mit bösem Lächeln. Franta antwortete nicht, stieß den Russen beiseite, wollte eine Karte lösen.«
gen« (E 102). In Wassily erkennt er seinen Mörder: »Grauenhafte Angst erfüllte Franta, als er neben sich die groben, gutmütigen Züge des Russen sah, und unter ihnen den Mörder, sein Ebenbild.« (E 101). Trotzdem steigt er mit ihm auf freier Strecke aus dem Zug aus, gelangt in einen Wald, legt sich um Mitternacht nieder und lässt sich töten. Frantas Ermordung findet zum selben Zeitpunkt statt wie Maschas Selbstmord (vgl. E 94). Der Wald ist eine Metapher für das Unbekannte, der Schlaf symbolisiert den anderen Zustand des Bewusstseins. Franta weiß, dass Wassily ihn vielleicht nicht töten würde, wenn er seinen Schatz freiwillig aushändigte. Doch er tut es nicht, denn der Besitz ist ja gerade die Voraussetzung für das gewaltsame Vorgehen des Russen. Wie ein Tier hatte er sich nur eingeworfen, nicht mehr bewegt. Starr gefesselt, glücklich unbewegt, in Ewigkeit gebadet, war er umgeben rings von der letzten befreienden Erfüllung bis zu tiefst gesättigter Lust. Mit seiner Hand, wie unter das liegende Muttertier einst, fühlte er vor, sein eigenes ausströmendes Blut empfand er als ausblühende Glut, als Befreiung ohne Schrei, und in stärkeren Kreisen löste er sich ganz in der niederfließenden Überwältigung. (E 103)
Die Todesfantasie vereint alle numinosen Begegnungen der ersten Handlungsphase. Indem sie in das unklare Bewusstsein des Sterbenden dringen, erfährt er Erlösung. Der Sterbemoment ermöglicht es auch, den unbändig gewordenen Sexualtrieb zu stillen. Frantas Blut verlässt seinen Körper, und diese »ausblühende Glut« (E 103) macht ihn frei. Vordergründig siegt der Thanatos über den Eros, hintergründig kehrt der Einzelne in ein ›Gesamtleben‹ zurück: Im Tod öffnet und schließt sich der Kreislauf des Lebens. Frantas Reise ist zu Ende, denn während der äußere Mensch stirbt, ist der innere Mensch im ›Leben‹ angelangt. Er ist frei. 2.3.2. Realistisches Protokoll einer Psyche? Zur Konnotation von Raum und Zeit In ›Franta Zlin‹ tritt der heterodiegetische Erzähler an keiner Stelle direkt als Person oder Kommentator hervor. Allerdings lässt die Art und Weise, wie dieser Erzähler die Geschichte ordnet, auf einen Berichterstatter schließen, der an der sachlichen und glaubwürdigen Wiedergabe der Geschehnisse interessiert ist. Seine Erzählung folgt streng der Chronologie der Ereignisse und gleicht, in ihrem penibel an Fakten orientierten Aufbau, einem Protokoll. Zu einem Protokoll gehört auch, dass es verlässliche, nachvollziehbare Angaben über Orte und Zeiten der Handlung enthält. Diese Prämissen sind im Bericht des Erzählers von ›Franta Zlin‹ erfüllt. Das möchte ich anhand der erzählten Zeit und der erzählten Orte kurz skizzieren.
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Die Anordnung der erzählten Zeit und die Abfolge der Ereignisse Exakt belegt ist im Protokoll des Erzählers die zeitliche Abfolge der Ereignisse. Franta erlebt kurz nach Kriegsbeginn den Selbstmord seines Vorgesetzten bei Rawaruska mit; seine Flucht nach Krakau dauert etwa einen Monat, wo er am 13. November anlangt (vgl. E 85). Nach weiteren 14 Tagen erreicht er mit seinem neuen Infanterieregiment die Karpaten (dort wird er am 1. Dezember als Treiber für das Schlachtvieh eingestellt, vgl. E 86) und verrichtet zwei Wochen lang seine Arbeit, bis er sich am 14. Dezember durch die Geburt eines Kalbes mit seinem Viehtransport verspätet. Einen Tag später wird er vor dem Stacheldraht schwer verletzt (vgl. E 90). Franta bleibt bis zum Frühjahr 1915 im Krankenhaus und wird dann als Invalide aus der Armee entlassen (vgl. E 92). Am 11. Juni 1915 holt ihn seine Frau Mascha an der Radetzky-Kaserne im 16. Wiener Bezirk ab (vgl. E 92), einen Tag später nimmt er seine Arbeit als Goldschmied wieder auf. Er arbeitet in seinem Beruf bis zum 7. Januar 1916 (vgl. E 92), dem Tag vor dem geplanten Gefängnisantritt seiner Frau Mascha. Am 8. Januar wird er Zeuge des Selbstmordes seiner Frau (vgl. E 98). Anschließend verbringt er drei Tage in Haft (vgl. E 99) und arbeitet danach bis Anfang April 1916 bei einem Goldschmied. Dann wechselt er als Hilfsarbeiter in die Wiener Destillation, wo er bis zum Sommer beschäftigt ist (vgl. E 99), flieht nach dem Besuch bei der Hure nach St. Anton und wird dort am 30. Juli 1916 begraben (vgl. E 103). Insgesamt sind knapp zwei Jahre erzählte Zeit verstrichen, die der Erzähler auf 19 Seiten präzise darstellt. Eine Betrachtung der vom Erzähler genannten Zeitabstände und ein Vergleich mit den Wegstrecken, die der Held teilweise zurücklegen muss, zeigt, dass die gemachten Angaben realistisch sind. Die zeitliche Abfolge der ›äußeren‹ Reise dieses Protokolls ist empirisch glaubwürdig. Der Bezug der erzählten Räume auf die außersprachliche Wirklichkeit Ebenso präzise verhält sich der Erzähler bei der Einordnung der erzählten Räume in die außersprachliche Wirklichkeit. Sie entsprechen allesamt der realen Landkarte und tragen dazu bei, dass sich der Fluchtweg des Helden genau rekonstruieren lässt: Die weißrussische Stadt Rawaruska, die Niederlagen der Österreich-Ungarischen Armee im Osten Europas gegen die Russen, die Karpaten als Verteidigungswall, die Stadt Krakau und nicht zuletzt die Hospitäler in Linz und Wien zeichnen eine Kriegsrealität nach, die Kriegshelfern, Ärzten und Soldaten aus eigener Anschauung bekannt war.116 Aber auch bei der Schilderung der Stadt Wien bleibt der Erzähler detailgenau: So nennt er nicht nur Kaserne und Bezirk, in dem Franta entlassen wird (vgl. E 92), sondern führt auch aus,
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Vgl. Rainer Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt/M. 2002, S. 594ff.
in welcher Wiener Gasse Mascha bestohlen wird (vgl. E 94), wo das Versatzamt für arme Leute liegt (vgl. E 95), in welchem Bezirk die Herrschaft wohnt, die Mascha zu bedienen hat (vgl. E 94), und wo der Wald ist, in dem sich Mascha töten soll (vgl. E 96). Alles in diesem Bericht entspricht einer außersprachlichen Wirklichkeit, die mit Hilfe einer Landkarte überprüft werden kann. Und doch spürt der Leser, dass mit diesem exakten Protokoll noch nicht die ganze Bedeutung von Zeit und Raum ausgeschöpft ist. Vielmehr weist die Erzählung wie beiläufig noch ein zweites, semantisch konnotiertes Raum- und Zeitsystem auf. Es trägt dazu bei, dass in ›Franta Zlin‹ eine zweite Welt entsteht. Mythische Zeit, mythischer Raum: Repetitionen und Zyklen Jenes Raum- und Zeitsystem, das ich als ›mythisch‹ bezeichne, wird, quasi gegenläufig zu den überprüfbaren Zeit- und Ortsangaben des Protokolls, von der Erzählung durch metonymische und metaphorische Relationen erzeugt und paradigmatisch in die Geschichte eingeführt. Es lässt sich als zyklisch-repetitiv charakterisieren, denn es ist nicht an Daten, sondern an Zeiteinheiten gebunden, die dem ewigen Kreislauf der Natur folgen. Ihre Größen sind Tag und Nacht, Morgen und Abend.117 Sie treten in der Erzählung stets dann auf, wenn der Held mit existenziellen Fragen und Situationen konfrontiert wird. So begegnet Franta jenem Rind, das durch seine Mithilfe zu Tode kommt, in der »Dämmerung« (E 86) des Abends. Im Halbdunkel vergewaltigt er die junge Bäuerin. Erneut begegnet er ihr am Pass von Turka, und zwar »in der Dunkelheit« (E 89). Dunkel ist es auch im Zimmer der Prostituierten, die Franta besucht (vgl. E 100). Die verschiedenen (Selbst-)Tötungen finden gleichfalls am Abend oder in der Nacht statt: Der General erschießt sich »abends um halb neun« (E 84), Mascha tötet sich »um Mitternacht« (E 97), und Franta selbst wird um Mitternacht ermordet (vgl. E 102). Das Kalb hingegen kommt, wie der Tag, an einem »Morgen« auf die Welt (E 87). Ebenso wie die Zeit ist der erzählte Raum mythisch konnotiert. Orte mit numinoser Bedeutung sind der Wald und der Acker, zwei Topografien, die eine lange symbolische Tradition aufweisen. So wird das Kalb in einem Wald mit »Urwaldbäume[n]« (E 87) geboren und damit an einem (sakralen) Ort, an dem der Mensch den Göttern nahe ist.118 Die Perlen findet Franta in einem bewaldeten Landstrich unter »Baumwipfeln« (E 89), und er selbst stirbt in einem »schwere[n] Wald«, »[d]ie Sterne schienen zwischen den Bäumen« (E 102). Der Tod sucht die 117
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Zur mythischen Bedeutung der Zeit vgl. Shlomith Rimmon-Kenan, Narrative fiction: Contemporary poetics, London 1993, S. 44f.: »Time ›is‹, paradoxically, repetition within irreversible change. The repetitive aspect of time is sometimes taken one step further and seen as refutation of Heraclitan unidirectionality, as in Nietzsche’s and Borges’s concepts of ›circular time‹.« Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 811.
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Lebenden auch an Orten heim, die traditionell mit dem Leben verknüpft sind: So vollziehen sich die Vergewaltigung der Bäuerin und die Tötung des Rindes auf einem Acker, einem Symbol der lebensspendenden »Mutter Erde«119. Frantas äußere Fluchtbewegung vollzieht sich von Osten nach Westen und somit von einer ›Heil bringenden‹ Himmelsrichtung in eine Gegend der Kälte, des Todes und der Finsternis.120 Setzt man die Hinweise auf einen mythischen Raum und eine mythische Zeit in Beziehung zum realistischen Zeit- und Raumsystem der Geschichte, so zeigen sich semantisch je unterschiedliche Funktionen: Existenzielle Situationen des ›inneren‹ Menschen spielen sich an mythisch konnotierten Orten und zu mythisch konnotierten Zeitpunkten ab. Die realistischen Zeitangaben dienen hingegen dazu, den Verlauf des ›äußeren‹ Lebens abzubilden. Die mythische Zeit und der mythische Raum haben somit eine beziehungs- und bedeutungsstiftende Funktion für den ›inneren‹ Menschen, der sich, wie der ›äußere‹ Mensch, gleichfalls auf den Weg gemacht hat. 2.3.3. Mythische versus realistische Welt? Implizite Transfersignale Was ist in dieser Novelle Zufall, was Schicksal? Diese Frage richtet sich an die Logik der Erzählung und der Geschichte. Dabei ist festzustellen, dass auch in ›Franta Zlin‹ eine ›doppelte Welt‹ mittels einer doppelten Motivierung entworfen wird. Martínez hat die systematisch aufgebaute Mehrbedeutung einer Geschichte dahingehend charakterisiert, dass, widerständig zur realistischen Geschichte, eine zweite, mythische Bedeutung eingeführt wird.121 Dies geschieht unter anderem durch eine konnotative Verweisungstechnik.122 Im Folgenden beschreibe ich, welche Bedeutung das Symbol der Perlen und die Figur der jüdischen Bäuerin in diesem Zusammenhang haben. Als Motiv und Figur der Handlung sind sie zweideutig: Sie geben Hinweise auf den Weg, den Frantas Seele zu gehen hat.
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Vgl. ebd., S. 4 und 411. – Lurker führt die Symbolik des Ackers im Zusammenhang mit der Mutter Erde als Gebärerin und Ernährerin aus. Höhle, Stein, Sumpf und Acker werden in der »participation mystique« als Erdmutter erfahren. Das Rind oder die Kuh ist der Erde durch die Landwirtschaft verbunden; in vorgeschichtlicher Zeit war es ein Symbol der Fruchtbarkeit, etwa bei den Griechen und im Alten Testament als Zeichen der »Magna mater«, die alles gebiert und ernährt. Ebd., S. 310. Martínez, Doppelte Welten, S. 10. Vgl. ebd., S. 166. – Unter konnotativer Verweisungstechnik versteht Martínez symbolische, metaphorische und metonymische Bezüge zwischen einzelnen Motiven und der Gesamthandlung des Textes. Er bezeichnet damit eine »Trias«, die Gunter Reiß an anderer Stelle als »allegorische Syntax« bezeichnet hat. – Vgl. Gunter Reiß, Allegorie und moderne Erzählkunst. Eine Studie zum Werk Thomas Manns, München 1970, S. 205–208.
Die Leitfigur des ›inneren‹ Menschen: Die Bäuerin als Psychagogin Als Figur der realen Welt bleibt die junge jüdische Bäuerin seltsam konturlos: Der Leser erfährt lediglich, dass sie ein weißes, ovales Gesicht von »lichtem Fleisch« (E 86, 103) und »gewaltige Brüste« (E 90) hat, wodurch sie als symbolische Urmutter erkennbar wird. Dass sie vom Helden vergewaltigt wird, führt ihre Leiblichkeit vor Augen; dass sie ihm später den Weg aus der Welt weisen wird, charakterisiert sie als mythische Mittlerfigur. Nur dreimal taucht die Bäuerin in der Geschichte auf. Beim ersten Mal wird sie zum Objekt der sexuellen Lust des Mannes (vgl. E 86), beim zweiten Mal fährt sie an Franta vorbei und verschwindet »fast unsichtbar« (E 90) in der Nacht. Beim dritten Mal ist sie ganz und gar unwirklich, da sie Teil der Todesfantasie des Helden ist (vgl. E 103). In der Logik der empirischen Welt ist es Zufall, dass die Bäuerin plötzlich als Besitzerin der (toten) Kuh auf dem Acker erscheint. In der finalen Logik der Geschichte hat ihre Anwesenheit einen bestimmten Zweck: Sie ist die letzte Frau, mit der sich Franta Zlin vereinigt. Zugleich ist sie es, die Frantas innere Reise initiiert, denn sie verhilft ihm zu den Perlen. Am Ende der Geschichte führt sie ihn hinüber ins verheißungsvolle Reich des immerwährenden ›Lebens‹. Das delirierende Bewusstsein des Helden erinnert sich an die Botin: »Hineingewühlt in die weiche Fülle des Fleisches« (E 103) der Frau empfindet der Mann sein Sterben am Ende »als Befreiung« (E 103). Ein hoher Wagen, schwer bepackt mit umgekehrten Tischen, altem Gerümpel, schwankte ihm entgegen. Ein ausgemergelter Jude lenkte mit knitzender Peitsche zwei noch ausgemergeltere Pferde. Ein kleines Feuerchen glitzerte warm. Ein Fohlen, hellfarbig, klapperte mager nebenher, hoch wiehernd. Kühe mit weich gesenktem Haupt umwandelten ihn, zutraulich kreisend. Die junge dicke Judenfrau, nicht mehr im Wagen, suchte auf dem Boden zwischen den gespaltenen Hufen der wandernden Tiere, griff plötzlich auch Franta – er lag gelähmt in rosarotem Licht – in die Weichen. Ihr Gesicht, oval, schwer von lichtem Fleisch, näherte sich ihm, und mit einem Male war Franta ganz hoch beseligt, ganz steil getürmtes Geschlecht, ganz kreisend geballter Mann, hineingewühlt in die weiche Fülle des Fleisches, gute Flut wie weiße Elfenbeinhauer ausatmend in wogender Nacht. (E 102f.)
Die zunehmende körperliche Verflüchtigung der Frau korrespondiert mit Frantas Verlust des eigenen Körpers. Beide vereinen sich am Ende im ›Gesamtleben‹ (vgl. E 103). Diese Leitfunktion der Bäuerin wird zusätzlich durch metonymische Verweise unterstrichen, die der Erzähler mit den Farben ›Weiß‹ und ›Rot‹ aufbaut. Weiß ist die Kleidung der Bäuerin (vgl. E 86, 89); außerdem taucht die Farbe überall dort auf, wo Frantas Männlichkeit eine Rolle spielt. Das Schweigen der staubigen Ebene, in der Franta verletzt wird, ist »weiß« (E 90, 93), und »weiß« ist auch das Kleid der jungen Hure (E 100). Eine ähnliche Funktion hat die Farbe Rot. So ist der Wagen der Bauernfamilie aus Frantas Sicht »von roten Wölkchen im Hauch bestrahlt« (E 90), und Mascha wickelt noch 145
kurz vor ihrem Tod eine zerbrochene Lampe in ein »rosa Seidenpapier« (E 97). Den Suchenden lockt der »rot beleuchtete Eingang des Hotels« der Huren (vgl. E 100), und am Ende seiner Reise findet der vom Tod Gequälte fantasierend »in rosarotem Licht« zu der ersehnten Ruhe (E 102). Rot ist schließlich auch Frantas »eigenes ausströmendes Blut«, das dem Helden eine »Befreiung ohne Schrei« bringt (E 103). Das Symbol der Perlen: Abbild der (verletzten) Seele Ähnlich wie die Bäuerin sind die Perlen sowohl Teil der realistischen Handlung als auch Hinweis auf einen mythisch konnotierten Sinnhorizont. In einer realistischen Lesart stehen sie, wie ich zeigen konnte, für einen materiellen Schatz. In einer mythischen Lesart sind sie Symbol der Seele des Helden, die sich nach Heimkehr sehnt. Auch in der antiken und gnostischen Überlieferung hat die Perle die Bedeutung der erlösungsbedürftigen, lichtsuchenden Seele.123 In ›Franta Zlin‹ werden die Perlen zunächst unmotiviert eingeführt: Erstmals tauchen sie im erwähnten Zusammenhang mit der jungen Bäuerin auf (vgl. E 89), sodann bei der Verwundung des Helden im Stacheldraht (vgl. E 90), als Trost des Verletzten im Krankenhaus (vgl. E 91) und schließlich als verborgener Schatz während seiner Ehe mit Mascha (vgl. E 92f.). Nach Maschas Selbstmord werden die Perlen gepflegt und gereinigt (vgl. E 98f.). Am Ende kommen sie als Entgelt für eine Fahrkarte zum Einsatz (vgl. E 102). Franta denkt immer dann über seine ›Rettung‹ nach, wenn er sich mit den Perlen beschäftigt: »… und der Gedanke verließ ihn nicht, wie er sich doch erretten könnte« (E 90, 91, 98). Allerdings scheinen die Perlen Franta Zlin eher Unglück als Glück zu bringen, denn sie lenken ihn an der Kriegsfront von der Gefahr der Angreifer ab und führen am Ende zu seiner Ermordung. So bleibt unklar, wie diese Rettung genau aussehen könnte. Für Franta scheint sie sich als Er-›Rettung‹ aus der Kriegsgefahr, dann als Rettung aus der Ehe zu konkretisieren. Was der Held zunächst nicht begreift, erschließt sich für den Leser: Es geht nicht um die Errettung aus einer konkreten Situation in einer gefahrvollen Welt, sondern um die Rettung einer (verletzten) Seele. Die Perle ist somit vorausdeutendes Symbol für jene »Himmelfahrt«, die Franta ins ›Gesamtleben‹ zurückführen wird. In diesem Sinne kann auch der Vergleich mit einer Wiedergeburt gedeutet werden, der Franta bei der Reinigung der Perlen gebraucht: Sie kommen »weiß, wie neugeboren« aus seinem Mund heraus (E 93). Die Rettung der Seele steht in Kontrast zu Frantas körperlichem Verfall, der unmittelbar nach oder noch während der Beschäftigung mit den Perlen beginnt (vgl. E 90, 91, 102). Dass ihm die Perlen am Ende als ›Fahrtgeld‹ in den Hades
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146
Vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 561.
dienen, ist in dieser finalen Logik durchaus konsequent.124 Ihr materieller Wert bringt Franta Zlin buchstäblich zu Tode – er wird ihretwegen ermordet –, die immaterielle Bedeutung der Perlen führt ihn ins ›Leben‹. So ist es auch zu verstehen, dass die junge Frau in Frantas Todesfantasie nach ihren Perlen sucht. In dem Moment, in dem der Held stirbt und seine Seele den Körper verlässt, nimmt sie ihm den Schatz wieder ab: »Die junge dicke Judenfrau, nicht mehr im Wagen, suchte auf dem Boden zwischen den gespaltenen Hufen der wandernden Tiere […].« (E 102). Sowohl das Symbol der Perle als auch die junge Frau sind somit als Implizite Transfersignale der Geschichte zu verstehen. In der ›doppelten Welt‹ von ›Franta Zlin‹, so kann man zusammenfassen, erfährt der Leser einerseits die realistische Geschichte eines physischen und moralischen Verfalls, andererseits die mythische Geschichte der Rückkehr der vereinzelten Seele in ein ›Gesamtleben‹. Diese zweite Geschichte wird dem Leser nicht direkt, sondern uneigentlich erzählt, denn er muss sie mit Hilfe der gegebenen textinternen Hinweise entschlüsseln. Dabei erlebt er, dass er zwar viele Hinweise auf eine ›zweite‹ Wirklichkeit erkennen, dass er sie jedoch nicht plausibel deuten kann. Hinzu kommt, dass dem Leser weder Frantas Gedanken noch sein Erkenntnisfortschritt direkt und glaubwürdig erzählt werden. Dies lenkt das Augenmerk auf die Darstellung der Figurengedanken und -gefühle durch den Erzähler im Text. Bewusst oder unbewusst? Die Darstellung der Figurengedanken Ist die ›doppelte Welt‹ in ›Franta Zlin‹ Wirklichkeit? Oder ist sie nur eine Einbildung des tödlich Verletzten? Diese Vermutungen müssen nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen verneint werden. Dennoch lenken die Fragen den Blick darauf, was der Erzähler vom Bewusstsein der Figur mitteilt. Wie explizit wird Frantas Erkenntnisfortschritt erzählt? Eine Antwort findet man, wenn man jene Stellen genauer untersucht, an denen sich der Erzähler dem Bewusstsein der Figur widmet. Dies geschieht in Darstellungen (1) von Träumen und Unbewusstem, (2) der Wahrnehmung der Außenwelt und (3) der explizit erzählten Gedanken des Helden. (1) Träume/Unbewusstes: Betrachten wir jene Stellen im Text, an denen Franta sein Bewusstsein verliert. Eine erste Szene wird kurz nach Frantas Flucht vom Regiment erzählt, als der Held vor Erschöpfung einschläft (vgl. E 85). Die Träume, die während dieses Schlafes stattfinden, werden narrativ ausgespart: » – Völlig fiel er hin in Schlaf.« (E 85). Der Erzähler hält, wie der Bindestrich zeigt, eine epistemische Grenze ein. Der Leser erfährt nur, dass die Figur unglücklich und verstört ist, nicht aber, was sie verstört hat und was sie innerlich verar-
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Diese Deutung motiviert auch die sonst unverständlich bleibende Aussage, Franta gebe die Perlen aus Geiz nicht her (vgl. E 102).
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beiten muss. Ähnlich knapp wird dargestellt, wie Franta Zlin der jungen Bäuerin begegnet. Während der Vereinigung verliert er das Bewusstsein. Das Hinübergleiten vom Wachzustand in die Ohnmacht wird vom Erzähler festgestellt – »als er nach kurzer Zeit erwachte« (E 86) –, aber nicht erläutert. Der Erzähler geht also zu keinem Zeitpunkt über das hinaus, was ein Außenstehender in der Geschichte selbst beobachten könnte. Davon ist lediglich die Todesfantasie am Schluss der Erzählung ausgenommen: Sie wird erzählt, in ihr strömen all jene Bilder aus dem Bewussten und Unbewussten zusammen, die der Held bis dahin kaum selbst verstehen konnte. Dieser Fantasie kommt sowohl für die Selbstfindung des Helden, für das Zusammenfallen von Bewusstem und Vorbewusstem, als auch für das Verständnis der Novelle eine Schlüsselfunktion zu. (2) Wahrnehmung der Außenwelt: Es fällt auf, dass der Erzähler kaum Gedanken seines Helden, wohl aber dessen Wahrnehmung der Außenwelt thematisiert. Diese Wahrnehmung wird durch die Verben »Sehen« (E 88, 89), »Hören« (E 85, 86, 87, 88) und »Fühlen« (E 86, 90) angedeutet. »Sehen« findet stets in solchen Momenten statt, in denen für die Entwicklung des Helden offensichtlich Wesentliches geschieht. Ein Beispiel dafür ist seine zweite Begegnung mit der Judenfrau: Sie gibt der Erzähler aus der Figurenperspektive wieder. Franta ist hier ein stummer Augenzeuge. Als Franta die Tiere dem Standort des Regimentes näher führte, sah er weither eine kleine Flamme leuchten. [...] Er hörte Pferdegetrappel, dann sah er einen hochbeladenen Wagen. [...] Franta, sehr von Kräften und ausgehungert, sah dem Flüchtlingswagen nicht nach. [...] Im letzten Schimmer des Wagens, der auf der nächsten Serpentine schon sich wandte, sah er auf dem Boden ein schwarzes, offenes Kästchen. (E 89, Hervorhebungen Ch.D.)
Hier erfährt der Leser nur, dass Franta sieht, nicht aber, wie er das Gesehene empfindet und wertet. Auf diese Weise wird der Eindruck geweckt, dass die Figur vielleicht nur sehen, aber nicht verstehen kann, was in ihrem Umfeld vor sich geht. Diese Annahme bestätigt die Figur durch ihr Verhalten – etwa, wenn Franta die kalbende Kuh beaufsichtigt und glaubt, sie sterbe. Erst die Geburt führt ihm vor Augen, was wirklich geschieht (vgl. E 88). Der Held nimmt wahr, aber er versteht die Szene nicht. Aufschlussreich ist in diesem Kontext, dass Franta die Perlen hingegen »sofort« als solche »erkennen« kann (E 89). Hier handelt es sich offensichtlich mehr um eine ›Wieder‹-Erkennung als um eine erste Begegnung. Franta sieht in den Perlen etwas, das ihm schon vertraut ist. Kausal lässt sich der geschärfte Blick durch seinen Beruf begründen – schließlich ist er Goldschmied, und mit den Perlen hat das Paar auch fünf Goldstücke verloren (vgl. E 89). In einer finalen Logik scheint das ›Wieder‹-Erkennen auf einen Vorgang zu deuten, der nicht von äußeren Gegenständen oder Faktoren abhängt: Etwas ›Inneres‹ wird wieder erkannt. 148
(3) Gedanken: Die Darstellung von Gedanken ist in ›Franta Zlin‹ äußerst rar. Explizit machen auf den Moment des Denkens oder Erinnerns solche Sätze aufmerksam, die mit verba credendi eingeleitet werden. In der Novelle kreisen sie um die Formulierung, »wie er sich doch erretten könnte« (E 90, 91, 93). An dieser häufig wiederholten Formel ist nicht nur das Präfix des Verbs interessant – ›er‹-retten steht im Unterschied zu ›retten‹ dafür, dass jemand von oder vor etwas gerettet wird, womit implizit eine Gefahr ausgedrückt wird125 –, sondern auch die Syntax: Franta denkt nicht nur darüber nach, wie er sich erretten könnte, sondern, wie er sich doch erretten könnte. Dies suggeriert, dass er sich verloren glaubt und zunächst keine Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Situation hat. Frantas Reflexionen bleiben allerdings diffus. Deutlich wird nur, dass sie sich auf etwas Inneres richten. Fasst man diese Beobachtungen zusammen, so ergibt sich das Bild eines Helden, der den Geschehnissen der Handlung offensichtlich hilflos gegenübersteht. Die strenge Begrenzung des Erzählers auf die Darstellung dessen, was der Held sieht, nicht auf das, was er denkt und fühlt, führt dazu, dass sich der Leser in einer Situation der Uninformiertheit über den Helden befindet. Zugleich trägt der Erzähler durch die Ausblendung der Gedanken- und Gefühlswelt des Helden zum Eindruck einer ontologisch ›doppelten Welt‹ bei, in der die Präsenz des Mythischen nicht primär an den Horizont der Figur gebunden ist. Was in diesem Menschen vorgeht, wird dem Leser erst am Ende der Geschichte gezeigt. Die fortschreitende Erkenntnis des Helden spiegelt somit die fortschreitende Erkenntnis des Lesers wider: Er hat Teil an einem Erkenntnisprozess, ohne dass er mit letzter Gewissheit sagen könnte, was der Held am Ende wirklich erkannt und was er genau verstanden hat. 2.3.4. Fokalisierung und Distanz: Perspektive und Mittelbarkeit der Erzählung Betrachtet man den Modus, in dem die gesamte Erzählung präsentiert wird, ergeben sich interessante Beobachtungen zur Fokalisierung und zur Distanz. Im Ganzen handelt es sich bei ›Franta Zlin‹ um einen intern fokalisierten Bericht, wobei die Fokalisierung auf den Helden in der ersten Handlungsphase vorherrscht (bis Kap. 5). Sie wird in der zweiten Phase von kurzen Fokalisierungswechseln auf Mascha unterbrochen (bis Kap. 7) und in der dritten Phase dann wieder fast vollständig durchgehalten (bis Kap. 10). Allerdings bleibt, wie schon in den ›Verdorrten‹, an einigen Stellen der Erzählung uneindeutig, ob es sich um eine Nullfokalisierung oder eine interne Fokalisierung handelt. Eine solche Unentscheid125
Weinrich erklärt die Erweiterung des Verbs durch das Präfix er- wie folgt: »Derivate mit er- weisen in der Regel darauf hin, dass ein Anfang gesetzt und dadurch etwas neu hervorgebracht oder in einen neuen Zustand gebracht wird.« – Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, S. 1063.
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barkeit herrscht beispielsweise an der folgenden Stelle, die von Frantas Gefühlen erzählt. Franta, kriegsverwundet, sucht seinen alten Arbeitgeber auf: Er ging am nächsten Tag schon in die Arbeit zu seinem früheren Herrn, einem Goldschmied in der Mayerhofergasse im vierten Bezirk. Es gab wenig Arbeit, der Meister nahm ihn nur aus Mitleid. [= Nullfokalisierung: Der Erzähler weiß über die Gedanken eines Dritten Bescheid.] Aber Franta war bald ganz verlassen. [= interne Fokalisierung: Wiedergabe des Einsamkeitsgefühls des Protagonisten] Er hatte auf jede Frage wütend die anderen Gesellen angezischt; als man jedoch bemerkte, daß (infolge der fürchterlichen Verwundung) auf seinem Schemelsitz immer Feuchtigkeit aus ihm sickerte, da stichelten alle gegen ihn mit äußerster Bosheit. [= Nullfokalisierung: Der Erzähler liefert Zusatzinformationen in Klammern.] Franta mußte fort. Er gewann aber durch eine grauenhaft geballte, teuflisch freudige Willensanstrengung die Herrschaft über seinen Körper, und in der neuen Werkstatt merkte man nichts von seinem Leiden. [= interne Fokalisierung] (E 92, Hervorhebungen Ch.D.)
Der Leser kann die Perspektive der Erzählung nicht eindeutig der Figur oder dem Erzähler zuordnen. Vielmehr scheint es sich um ein Alternieren oder um eine ›doppelte Fokalisierung‹ zu handeln. Einerseits hat der Leser das Gefühl, dass das Geschehen aus der Perspektive des Helden erzählt wird. Andererseits erfährt er aber auch etwas von den Gedanken anderer Figuren (etwa die Motivation des Meisters) – Dinge, die eigentlich nur der Erzähler wissen kann. Die Unentscheidbarkeit der Frage: Wer sieht? Wer weiß? macht die Perspektivik in ›Franta Zlin‹ an dieser und an anderen Stellen zweideutig. Zwar scheint die Figur zu sehen und zu erleben, doch wirkt es, als gäbe es für die Bewertung der Erlebnisse noch ein anderes Maß, die Sicht des Erzählers. »Die größte mimetische Intensität koexistiert« damit »auf paradoxe Weise mit einer Präsenz des Erzählers«126, der Gedanken wiedergeben und kommentieren kann, der jedoch hinter der Figur zurücktritt. Der besondere Effekt dieser Erzählweise »besteht in der Enttäuschung jenes traditionellen Vertrauens, das man in die kohärenzstiftende Potenz eines Er-Erzählers setzt […]. […] Da der Erzähler als systemstabilisierende Instanz ausfällt, ist der […] Leser nicht mehr in der Lage, die dargestellten Ereignisse systemisch einzuordnen«127. Damit reduziert der Erzähler zugleich seine Autorität als objektive Instanz der Erzählung. Distanz: Sprache und Anwesenheit des Erzählers Betrachtet man die Distanz, die der Erzähler wählt, um die Ereignisse und Figurenworte in ›Franta Zlin‹ wiederzugeben, so ist festzustellen, dass meist mittelbare Erzählformen wie der Erzähl- und Gedankenbericht dominieren. Erst in der zweiten Handlungsphase unterbricht ein kurzer Figurendialog den narrativen Modus (vgl. E 97). Im dritten Teil wird der Gedankenbericht mehr und 126 127
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Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Münster 2007, S. 149. Ebd., S. 188, 190.
mehr von indirekter und von erlebter Rede durchsetzt, wodurch die Gedanken des Protagonisten unmittelbarer wiedergegeben werden (vgl. E 99). Beim folgenden Zitat wechselt der Erzähler vom Gedankenbericht in die direkte zitierte Rede; es findet also kurzzeitig eine graduelle Abnahme der Mittelbarkeit im Erzählmodus statt. Sie kam so weich zu ihm, küßte ihn mit solcher Liebe, daß sie schon glaubte, sie hätte ihn wieder aufgeweckt. [= Gedankenbericht] Er war auch gar nicht böse, hatte ein besseres Gesicht, wie ein Kind, ein kleiner Junge. [= Erzählbericht] Er wollte jetzt auch Heimarbeit machen, zeigte einen ›spanisch eingelegten Damenrevolver‹, an dem die in Stahl eingesprengten Goldfäden ausfallen wollten und den er zu reparieren vorhatte. [= zitierte direkte Rede] Sie hörte ihm gar nicht zu und machte alles mit ihm wie mit einem Kind. [= Erzählbericht] (E 95)
Ein ähnliches Beispiel für diese Modulation der Distanz mag die folgende Stelle sein. Hier wechselt der Erzähler in die erlebte Rede. In der erlebten Rede kann der Erzähler die inneren Prozesse der Helden sprachlich darstellen, ohne die dominante Mittelbarkeit im Erzählmodus ganz aufgeben zu müssen. Der Leser hat einen kurzen Moment lang den Eindruck, unmittelbar zu erfahren, was in Franta vorgeht. Was riß an ihm, nahm seine Hände vor? [= erlebte Rede] […] Er hatte Vickys Körper so leicht, so schmelzend, schon an den Beinen angefaßt, in betäubenden Hieben schleuderte er den Körper an die Erde, schlug ihn hämmernd nieder, in tierischer Teufelei hämmerte er die Schreiende nieder. [= Erzählbericht] (E 101, Hervorhebung Ch.D.)
Die Wahrnehmung der Ereignisse scheint auf die Figur zurückzugehen. Der Erzähler gibt sie im mittelbaren Erzählbericht wieder. Unklar bleibt, ob auch die Wertung des Geschehens, die in der Formulierung »in tierischer Teufelei« zum Ausdruck kommt, auf den Erzähler oder auf die Figur zurückgeht. Für die Uneindeutigkeit, erzeugt durch die mittelbare Darstellung, gebe ich ein weiteres Beispiel. Häufig beschreibt der Erzähler Maschas Gefühle und Gedanken in einem religiösen Kontext. Das lässt auf ein mythisches Denken der Figur schließen. Mythisch scheint die Figur auch zu denken, als Mascha in ihrem Mann kurz vor ihrem Tod ihren Mörder erkennt. Als sie erwachte, fühlte sie sich sehr schwach. [= Gedankenbericht] Er kniete vor ihr und glänzte mit seinen mörderischen Augen. Das Licht brannte mit einer rosa Flamme. Auf ihre Brust hatte er Kruzifix und Heiligenbilder gepackt. [= Erzählbericht] Sie konnte kaum atmen [= Gedankenbericht], ließ aber die Heiligenbilder liegen. [= Erzählbericht] (E 98, Hervorhebung Ch.D.)
In der zitierten Passage gibt der Erzähler Maschas Gefühle im Gedankenbericht wieder. In ihrer Todesstunde glänzen die Augen ihres Mannes »mörderisch«, und sie weiß aus früheren Erfahrungen, dass er ihr den Tod wünscht. Die kursiv gestellte Formulierung »und glänzte sie an mit seinen mörderischen 151
Augen« wiederholt der Erzähler wenige Sätze später noch einmal. Diesmal ist Mascha schon tot, sodass die Formulierung keine Wiedergabe ihrer Gedanken sein kann, sondern der seinen: Um acht Uhr morgens war sie tot. Er kniete noch neben ihr, sah auf ihre schönen großen Brüste hinab und glänzte sie an mit seinen mörderischen Augen. [= Erzählbericht] (E 98, Hervorhebung Ch.D.)
An dieser Stelle scheint es, als übernehme der Erzähler das Figurenurteil und wiederhole es aus seiner Perspektive. Er bestätigt dadurch die Wahrnehmung der Figur, verleiht ihr Emphase und scheinbare Objektivität. Durch dieses Vorgehen entsteht der Eindruck, dass der Erzähler, der sich bei der Wiedergabe von Wahrnehmungen zwar streng an epistemische Grenzen hält, bei der Bewertung von Vorgängen möglicherweise aber oszilliert und auf die Moral einzelner Figuren zurückgreift. Den Leser fordert diese Modulation der narrativen Distanz verstärkt zur Mitarbeit heraus, denn er muss sich über die Zuordnung der Wertungen länger Gedanken machen. Er erkennt, dass ihre Uneindeutigkeit nicht allein auf die »Uneindeutigkeit des darzubietenden Seelenlebens«128 zurückzuführen ist, sondern auf die sprachliche Wiedergabe, und er ist »aufgerufen, zu entscheiden, welchen Wertungsstandpunkt der Erzähler gegenüber dem Inhalt und dem Ausdruck des Personentextes [d.i. die Figurenrede, Ch.D.] einnimmt«129. Auf diesen Standpunkt gibt es in ›Franta Zlin‹ nur wenige Hinweise. Sie sind für die parabolische Deutung der Novelle jedoch von großem Interesse. 2.3.5. Stimme: Die Haltung des Erzählers zum Geschehen Wem ist die Moral zuzuschreiben, die mit Hilfe von Adverbien und kurzen Wendungen im Text angedeutet wird? Macht diese Moral die Geschichte parabolisch? ›Franta Zlin‹ wird, wie erwähnt, von einem äußerst zurückhaltenden Erzähler präsentiert, der im Gegensatz zum Erzähler der ›Verdorrten‹ seine privilegierte Rede nicht nutzt, um Kommentare explizit zu platzieren oder seinen Helden deutlich zu kritisieren. Vielmehr stellt er seinen Protagonisten zu Beginn der Erzählung als einen sanften und guten Menschen dar (vgl. E 86, 87, 88). Diese Einschätzung wird vorübergehend durch negative Bewertungen wie »tückisch« (E 93), »mörderisch« (E 98) oder »teuflisch« (E 99) aufgehoben. Am Ende der Novelle kehrt der Erzähler wieder zur Charakterisierung eines »sanfte[n] Mensch[en]« zurück (E 102). Es kann daher nicht von einer grundsätzlich kritischen Haltung des Erzählers gegenüber dem Helden gesprochen werden. Jene oben beschriebenen Wertungen, die sich in der Sprache finden, lassen sich jedoch als verdeckte moralische Botschaft verstehen: Sie zielen auf die Entlarvung eines Verhaltens, 128 129
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Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin u.a. 2005, S. 218. Ebd., S. 221.
das der Erzähler nicht zur Nachahmung empfiehlt. Häufig erinnert das verwendete Vokabular – wie etwa die »tierische Teufelei« (E 101) – an religiöse oder biblische Kontexte. Die sprachlichen Wertungen machen darauf aufmerksam, dass ein Mensch, dem Böses widerfahren ist, mitunter selbst Böses tut, und sie verurteilen dieses Verhalten. Zugleich suggeriert die wandelnde Bewertung der Hauptfigur durch den Erzähler, dass selbst der schuldige, böse Mensch durch eine innere Entwicklung zu einem wie auch immer gearteten, für ihn guten Ende gelangen kann.
2.4. Schlussbetrachtung: ›Doppelte Welt‹ und parabolisches Erzählen War in den ›Verdorrten‹ die Sehnsucht nach einer lebendigen ›Ganzheit‹ das Gegenmodell zum in sich verschlossenen, kranken und dämonischen Menschen, so führt Weiß in ›Franta Zlin‹ seinen Helden an die »Wurzeln des Seins«130: Er verliert seine Männlichkeit und muss erleben, dass erst das Ende seines individuellen Lebens eine Befreiung aus seiner Krise schafft. Vordergründig ist das Problem ein psychisches. Freud zufolge lehrt die Psychoanalyse, »daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient«131. In Weiß’ Werk taucht der Name Freuds zwar erst 1924 explizit auf, und seine kurze Stellungnahme zu den Hysteriestudien des Wiener Psychoanalytikers ist überwiegend kritisch.132 Dennoch ist das Interesse des Autors am »großen literarischen Wert dieser Methode«133 nicht zu übersehen, und nicht selten ist in seinen Erzählungen und Romanen der Traum das lite-
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Lindner, Leben in der Krise, S. 25. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Freud, StA, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, S. 191–270, hier S. 198. Vgl. Ernst Weiß, Der Fall Vukobrankovics, Berlin 1924. – Die folgende Stelle wird aus GW, Bd. 7: Der Fall Vukobrankovics, Frankfurt/M. 1982, S. 107, zitiert: »Wirkliche Symptome der Hysterie fehlen freilich bei ihr [der Vukobrankovics, Ch.D.], und Zeichen der kleinen Hysterie wird man bei keiner Frau ihrer Kreise ganz vermissen. Die Theorien Freuds, die vor allem auf die Hysterie sich beziehen, versagen also, [...] und daß die Wiener Schule, die im ganzen doch als Nachfolge Freuds anzusehen ist, diesen Fall nicht psychoanalytisch aufzulösen vermocht hat, beweist wohl, daß er einer solchen Beurteilung die größten Schwierigkeiten entgegensetzt.« Vgl. Ernst Weiß, Italo Svevo. In: Berliner Börsen-Courier, 15. Januar 1933, Morgenausgabe. – Wiederabgedruckt in: WBl, 2. F., 3 (1985), S. 5f., hier S. 5: »Jede einigermaßen intensive Beschäftigung mit dem eigenen Ich wird seit einigen Jahren unter dem Sammelbegriff Psychoanalyse zusammengefaßt. Svevo war einer von denen, die den großen literarischen Wert dieser Methode erkannten und es ist anzunehmen, daß Joyce ihm den ersten Hinweis darauf verdankt.«
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rarische Mittel ihrer Darstellung.134 Häufig verwendet der Autor auch Symbole und Metaphern, die eine Kenntnis der Freud’schen ›Traumdeutung‹ (1900) vermuten lassen.135 Die Psychoanalyse ist zwar kein Schlüssel, um Weiß’ Novelle ›Franta Zlin‹ erschöpfend zu interpretieren, doch ist sie nützlich, um ein Problem zu benennen, das in seinen Schichten insgesamt tiefer reicht: »Krankheit ist nur ein vorläufiger Name für etwas ganz anderes.«136 In ›Franta Zlin‹ geht es um Fragen des Daseins. Die ›Krankheit zum Tode‹, ausgelöst durch eine existenzielle Bedrohung, führt in die Tiefen des Unbewussten und zur Entdeckung archaischer Grundkonstellationen. Auf den Helden der Novelle trifft dabei zu, was Leo Reiß bereits 1918 über die Protagonistin von Weiß’ Roman ›Tiere in Ketten‹ (1918) geschrieben hatte: »Kehle beengend, entfaltet der Autor ein Einzelschicksal, das aber, zwingend gewaltig, ins Typische wächst, zum menschlichen Dokument wird für die Vorherrschaft des Blutes über die Hirnsubstanz.«137 ›Franta Zlin‹ ist ein einfacher Mann. Ein solcher Charakter stellte Weiß vor andere Gestaltungsprobleme als der reflektierende Edgar in den ›Verdorrten‹. Die Existenz- und Erkenntniskrise des Helden ist nicht mehr im Vorbewusstsein angesiedelt, sondern im Unbewussten. Der Konflikt kann vom Helden ebenso wenig versprachlicht werden wie seine Sehnsucht nach ›Ganzheit‹, die im Weg der Seele plastisch wird. Die Art, wie der Erzähler dieses Bewusstsein darstellt, lässt einen Sprecher erkennen, der vor allem die Rolle des Chronisten innehat. Gleichzeitig implantiert dieser Erzähler aber auch eine parabolische Lesart, indem er zu einer finalen Deutung der Geschichte auffordert. Zu den Impliziten Transfersignalen gehören die semantischen Relationen von Raum und Zeit, das Motiv der Perlen und die Leitfigur der Bäuerin. Moralische Wertungen in der Sprache weisen auf einen Erzähler hin, der die Existenz eines mythischen Sinnhorizonts nicht anzweifelt und ethische Vorstellungen vertritt. Am Ende weiß der Leser, dass Frantas Weg zum ›Leben‹ über den Tod führen muss. Er weiß auch, dass er detektivisch lesen muss, um den Schlüssel zu dieser zweiten Bedeutung der Geschichte zu finden. Sie liegt in Zeichen, Symbolen und Andeutungen – in einer parabolisch erzählten Wirklichkeit.
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So etwa die Fieberträume Erik Gyldendahls in ›Die Galeere‹ (1913), Olgas Wahnträume in ›Tiere in Ketten‹ (1918), Alfred Dawidowitschs Kriegsträume in ›Mensch gegen Mensch‹ (1919), die Inzestträume Cyrills in ›Stern der Dämonen‹ (1920), die Sexualträume der Tigerin ›Nahar‹ (1922) oder der Traum des Muttermörders ›Hodin‹ (1923). Zur Sexualsymbolik des Doppelromans ›Tiere in Ketten‹ und ›Nahar‹ vgl. Delfmann, Mythos der Negativität, S. 29–33. Kurz, Traum-Schrecken, S. 40. Leo Reiß, Tiere in Ketten. In: Der Mensch 1 (1918), S. 127. – Wiederabgedruckt in: EWM, S. 19.
3.
»Der Heilige ist Gott nahe über Worte hinaus.« – ›Daniel‹
»Sehr verehrter Herr Doktor! Ich müsste Sie vor allem um Verzeihung bitten, dass ich nach Ihrem herrlichen ›Daniel‹ auch ein Buch mit demselben Titel erscheinen lasse. Ich habe lange darüber nachgedacht, doch mir ist nichts anderes eingefallen.«138 Am 17. Juni 1924 adressiert Ernst Weiß diese Entschuldigung an Martin Buber. Der Absender bittet Buber um Kenntnisnahme seines neuesten Werks und hofft, dass »nach der Totenstille, die das Erscheinen meiner letzten Arbeiten ›Nahar‹, ›Atua‹, ›Feuerprobe‹ begleitete«, dieses neue Werk nun Bubers Beifall erringe. Weiß, der mit dem Religionsphilosophen seit 1912 in Kontakt stand, hatte seine Wertschätzung in seinen Briefen mehrfach zum Ausdruck gebracht. Schon 1916 hatte ihn Buber zur Mitarbeit an seiner Zeitschrift ›Der Jude‹ aufgefordert, was Weiß dazu bewog, intensiv über den »Begriff des Jüdischen«139 nachzudenken. Offensichtlich hatte er jene Schrift gelesen, die Buber 1913 unter dem Titel ›Daniel. Gespräche von der Verwirklichung‹ herausgegeben hatte: »Ihre schönen, profetisch warmen Worte sandte mir Ihr Verlag. Wie Ihr Daniel waren sie Worte an mich. Dank!«140 Über den genauen Entstehungszeitpunkt von Weiß’ eigener Erzählung ›Daniel‹ ist zwar nichts Definitives bekannt, doch schrieb er sie vermutlich um 1922 nieder. Darauf geben nicht nur Briefstellen einen Hinweis, sondern auch die Tatsache, dass Weiß zu dieser Zeit an mehreren Erzählungen arbeitete, die sich mythischer Prätexte bedienten. Die meisten dieser Erzählungen beziehen sich auf Sagen und Geschichten vom Weltuntergang oder -anfang, von Gottheiten oder Propheten. So spielen das Fragment ›Südseelegende‹ auf eine Erzählung der mikronesischen Insel Saipan, die ›Legende einer Mutter‹ auf eine Sage der Tonga und das Fragment ›Atua‹ (1923) auf einen polynesischen Schöpfungsmythos an. Hier entsteht die Welt durch den Beischlaf des Taaroa, des Vaters aller Atua-Gott138 139
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Ernst Weiß an Martin Buber, Brief vom 17. Juni 1924. Um 1916 hatte sich Weiß an einem Essay über den Dichter Albert Ehrenstein versucht, der den Titel ›Albert Ehrenstein und die Musik‹ trägt. Er sollte im selben Jahr in Martin Bubers Zeitschrift ›Der Jude‹ erscheinen und war als Auftragsarbeit angefordert worden. Weiß zögerte zunächst, wie einem Brief an Rahel Sanzara zu entnehmen ist: »Dr. Buber, der die Zeitschrift ›Der Jude‹ herausgibt, forderte mich zur Mitarbeit auf, behauptete, mir ein Probeexemplar geschickt zu haben. Über Ehrenstein muß ich doch schreiben, tue es, gerade jetzt, nicht übermäßig gern, wohl auch, weil ich weiß, solche Sachen mache ich nicht gut.« Dennoch verfasste er einen Essay, den er dann nicht publizierte. Das handschriftliche Manuskript fand sich im Nachlass von Rahel Sanzara. Später schrieb Weiß einen neuen Essay über Ehrenstein, der in Gustav Krojankers Anthologie veröffentlicht wurde. – Vgl. Ernst Weiß, Albert Ehrenstein und die Musik. Undatierter Essay, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach a.N. (Deutschland); Ernst Weiß an Rahel Sanzara, Brief vom 27. Juni 1916; ders., Ernst Weiß, Albert Ehrenstein, S. 63–70. Ernst Weiß, Brief an Martin Buber vom 10. August 1919.
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heiten, mit verschiedenen Göttinnen. Nach diesen Vereinigungen werden die Wolken, das Wachstum und der Regenbogen geboren, aber auch der Zorn, der Sturm und die rasenden Winde.141 In Weiß’ gleichnamiger Geschichte geht es weniger naiv zu als im polynesischen Mythos, denn die schwarze Welle Moa ist vom Bewusstsein der Endlichkeit durchdrungen: Sie zürnt dem Gott, der sie zur Vereinigung gezwungen hat, und bringt das Böse zur Welt, wodurch der polynesische Mythos um das (abendländische) Problem der (Erb-)Sünde reicher ist.142 Im Stil – alles überragend sind Inversion und Parataxe – und in ihrem Bilderreichtum weist diese Prosa eine deutliche Nähe zu den expressionistischen Gedichten des Autors auf.143 Gleichzeitig lassen die zugrunde gelegten Prätexte die Prosa als ›allegoriae in factis‹ erscheinen, die sich der menschlichen Existenzund Erkenntnisproblematik aus einer neuen Perspektive nähern. Auffallend ist, dass Weiß fast alle seine mythischen Erzählungen abbrach und auch später nicht mehr fortführte. Die Gründe dafür mögen in einer konzeptionellen Aporie gelegen haben oder im Eindruck, dass die Bedeutung der Prätexte die Handlung der neuen Texte allzu sehr überformte. Weiß veröffentlichte seine mythischen Erzählungen, zu denen ›Atua‹ (1922/23)144 und ›Daniel‹, die Fragmente ›Ahira‹ (1920)145, ›Legende einer Mutter‹ (1920)146, ›Südseelegende‹ (1924)147, ›Hodin‹ (1923)148, der 141
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Dieser Mythos findet sich auch in Paul Gauguins 1897 erstmals erschienenem Buch ›Noa Noa‹. Weiß hatte sich vermutlich 1913, während seines Jahres als Schiffsarzt, mit fernöstlichen Mythen und möglicherweise mit Gauguins Buch beschäftigt. – Vgl. Paul Gauguin, Noa Noa, Berlin 1922, S. 58–60. Vgl. Weiß, Atua. Vgl. Ernst Weiß, Das Versöhnungsfest. Eine Dichtung in vier Kreisen, München 1920. [»Diese Dichtung entstand im Felde in den Jahren 1916 und 1917.«] – Mit dem Untertitel seines Bandes »Dichtung in vier Kreisen« stellt Weiß einen Bezug zu Dantes ›Divina Commedia‹ her, die sich in drei Kreisen vollzieht. Wie Dante beschreibt Weiß den Weg der verirrten Seele zu Frieden und Heil – auch wenn sich bei Weiß dieses Heil immanent, in der erlebbaren Welt, manifestiert. ›Atua‹ hatte Weiß im Jahr 1922 fertig gestellt, worauf ein Vorabdruck hinweist. Wenig später bot Weiß den Text Efraim Frisch für den ›Neuen Merkur‹ an, doch kam der Abdruck nicht zu Stande. Laut Weiß’ Aussagen gegenüber Frisch hatte er 1920 mit der Erzählung begonnen und zwei Jahre an ihr gearbeitet. – Vgl. Ernst Weiß, Atua. In: Berliner Börsen-Courier, 16. April 1922, S. 9; Ernst Weiß an Efraim Frisch, Brief vom 27. Mai [1922]. Vgl. Ernst Weiß, Aus Ahira. In: Die weißen Blätter 7 (1920), S. 431–434; ders., Ahira. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 265–269. – Auf die Fertigstellung deutet das Erscheinungsdatum von ›Aus Ahira‹, 1920, in der expressionistischen Zeitschrift ›Die weißen Blätter‹ hin. Vgl. Ernst Weiß, Legende einer Mutter. In: Prager Tagblatt, 27. Juni 1920, S. 6; ders., Legende einer Mutter. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 5. September 1920, Sonntags-Beilage, S. 1. Vgl. Ernst Weiß, Südseelegende I-III. In: Berliner Börsen-Courier, 31. Mai 1925, S. 5. Vgl. Ernst Weiß, Hodin. Mit Steinzeichnungen von Nikolai Pusirewski, Berlin 1923; ders., Hodin. Erzählung, Stuttgart u.a. 1924.
Kurzroman ›Die Feuerprobe‹ (1923)149 und der Roman ›Nahar‹ (1922)150 gehören, von 1920 an in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Zwischen 1922 und 1924 folgten außerdem einige Buchausgaben. Keine der mythischen Parabeln nahm der Autor jedoch 1928 in seinen Erzählband ›Dämonenzug‹ auf. In ›Daniel‹ zitiert Weiß, ähnlich wie in der ›Feuerprobe‹, eine Apokalypse, die Vision einer zu Ende gehenden Welt, an deren Ende ein neuer Mensch steht. Diese apokalyptische Wirklichkeit eines Zeitenwechsels bestimmt in ›Daniel‹ nicht nur, wie in ›Franta Zlin‹, den Akt der Narration, der eine doppelte Welt erschafft, sondern auch ganz konkret den ontologischen Status der erzählten Welt. Dies möchte ich in der folgenden Analyse und Interpretationsskizze von ›Daniel‹ zeigen.
3.1. Zur Publikationsgeschichte von ›Daniel‹ Weiß veröffentlichte ›Daniel‹ zu seinen Lebzeiten nur einmal, 1924 im Verlag Die Schmiede.151 Dem Buch gingen zahlreiche Vorabdrucke einzelner Kapitel und Passagen in Zeitungen und Zeitschriften voraus, die auf den relativ frühen Entstehungszeitpunkt des Textes im Jahr 1922 schließen lassen. Das erste Kapitel publizierte Weiß im März 1923 in der Berliner ›Vossischen Zeitung‹ und verwendete es wenige Monate später erneut für einen Abdruck in der ›Prager Presse‹152; im Oktober 1923 schienen die Arbeiten an der Erzählung so weit fortgeschritten gewesen zu sein, dass der Autor auch das zehnte Kapitel im ›Berliner BörsenCourier‹ veröffentlichen konnte.153 In der Januar-Ausgabe der Zeitschrift ›Vers 149 150 151
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Vgl. Ernst Weiß, Die Feuerprobe. Roman. Mit 5 Radierungen von Ludwig Meidner, Berlin 1923. Vgl. Ernst Weiß, Nahar. Roman, München 1922. [Untertitel: »Des Romanwerkes Tiere in Ketten zweiter, in sich abgeschlossener Teil.«] Vgl. Ernst Weiß, Daniel. Erzählung, Berlin 1924. – Von diesem Erstdruck kamen in einer Vorzugsausgabe 100 vom Autor handschriftlich signierte Exemplare in den Handel. Vgl. Ernst Weiß, Die Geburt des Daniel. In: Vossische Zeitung, 18. März 1923, Morgenausgabe, S. 2f. [mit der redaktionellen Notiz: »Das erste Kapitel eines unveröffentlichten Romans«]; ders., Die Geburt des Daniel. In: Prager Presse, 1. Juni 1923, S. 4f. – Obwohl früher publiziert, scheint der Abdruck in der ›Vossischen Zeitung‹ eine überarbeitete Fassung jenes Textes zu sein, den Weiß der ›Prager Presse‹ zur Verfügung gestellt hatte. So weist die Prager Fassung expressionistische Stilelemente auf, die in der Fassung der ›Vossischen Zeitung‹ gestrichen sind. Sie fehlen auch in der Buchversion. Vgl. Ernst Weiß, Die Jugend des Daniel. Ein Fragment. In: Berliner Börsen-Courier, 7. Oktober 1923, o.S. – Im Mai 1924 ließ Weiß den Text auch in der jüdischen Wiener Zeitschrift ›Das Zelt‹ 1 (1924), H. 5, S. 151–154, abdrucken. Diese Version nimmt stilistisch eine Zwischenstellung zwischen der Fassung im ›Berliner Börsen-Courier‹ und der Buchversion von 1924 ein. Es ist deshalb anzunehmen, dass Weiß die Version vor der Drucklegung noch einmal überarbeitet hatte.
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und Prosa‹ 1924 folgte das elfte und vorerst letzte Kapitel, das von der Verkündigung Jehovas erzählt.154 Untertitel machen in mehreren Zeitungsabdrucken deutlich, dass Weiß selbst zunächst offenbar einen »Roman« und keine Erzählung geplant hatte.155 Vermutlich hatte seine Entscheidung, die ersten elf Kapitel des unabgeschlossenen Romans als Buch zu veröffentlichen, eher pekuniäre als ästhetische Gründe. Der Autor befand sich in Geldnot, und eine Ausgabe des Textes im Verlag Die Schmiede schien Abhilfe zu schaffen.156 In der Tat arbeitete Weiß schon kurz nach dem Erscheinen der Erzählung an seinem Text weiter und bot im November 1924 dem Chefredakteur der Zeitschrift ›Der neue Merkur‹, Efraim Frisch, ein neues Kapitel seines Romantorsos an: »Das Kapitel ist unveröffentlicht und schließt unmittelbar an das Ende des Fragments ›Daniel‹ an, das im Verlag ›Die Schmiede‹ erschienen ist.«157 Frisch akzeptierte den Text, bat jedoch um eine Veränderung des ursprünglichen Titels ›Aus Daniel‹ in ›Daniel und der Kaiser‹, um Verwechslungen mit dem Buch zu vermeiden.158 Dieses zwölfte Kapitel, das Daniels Deutung von Nebukadnezars Traum erzählt, wurde 1924 im Dezemberheft der Zeitschrift publiziert.159
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Vgl. Ernst Weiß, Verkündigung. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 65–70. – Weiß veröffentlichte außerdem das dritte Kapitel ›Die Bestattung des Fürsten Zedekia‹, das am 25. Dezember 1923 in der ›Prager Presse‹, Beilage S. IV, und in der Zeitschrift ›Vers und Prosa‹ 1 (1924), S. 52–56, erschien. Während die Version in der ›Prager Presse‹ fast identisch mit der Buchfassung ist, weist der Text in ›Vers und Prosa‹ stilistische Abweichungen auf. Es scheint, dass es sich hierbei um eine ältere (expressionistische) Fassung handelt, auch wenn sie Weiß erst später zum Druck freigab. Vgl. Ernst Weiß, Die Geburt des Daniel. In: Vossische Zeitung, 18. März 1923, Morgenausgabe S. 2f.; ders., Die Bestattung des Fürsten Zedekia. Aus einem neuen Roman Daniel. In: Prager Presse, 25. Dezember 1923, S. 52–56. Weiß hatte seinen Verleger Kurt Wolff gebeten, ihn wegen des guten Honorars, das ihm der Verlag Die Schmiede für den Kurzroman ›Die Feuerprobe‹ bot, vorübergehend aus seinen vertraglichen Pflichten zu entlassen. Die Schmiede war 1921 in Berlin gegründet worden. Zu ihren prominentesten Lektoren gehörte der Schriftsteller Rudolf Leonhard, der auch den Kontakt zu Weiß hergestellt haben dürfte. Fritz Landshoff beschreibt die kurzen erfolgreichen Jahre und den schnellen Niedergang des Verlags Die Schmiede in seinen Erinnerungen wie folgt: »Die Schmiede war ein kleiner, literarisch interessierter und entdeckungsfreudiger Verlag, der als erster in Deutschland Proust und Radiguet und die ersten Ausgaben von Kafkas ›Proceß‹ und ›Ein Hungerkünstler‹ verlegte. Die Schmiede litt jedoch unter einer bedenklichen Geschäftsführung, die sie schließlich auch zugrunde richtete.« – Vgl. Fritz H. Landshoff, Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag. Erinnerungen eines Verlegers. Mit Briefen und Dokumenten, Berlin u.a. 1991, S. 17; Kurt Wolff, Briefwechsel eines Verlegers, hg. von Ellen Otten und Bernhard Zeller, Frankfurt/M. 1966, S. 381f., Der Verlag Die Schmiede 1921–1929. Eine kommentierte Bibliographie, hg. von Frank Hermann und Heinke Schmitz, Morsum/Sylt 1996, S. 23. Ernst Weiß an Efraim Frisch, undatierter Brief (Hervorhebung im Original). Efraim Frisch an Ernst Weiß, Brief vom 7. November 1924. Vgl. Ernst Weiß, Daniel und der Kaiser. In: Der neue Merkur 8 (1924/25), S. 271–282.
Von 1925 an schien der Autor das Projekt jedoch verworfen zu haben. Er nahm zu Lebzeiten keine Zusammenführung der Buchkapitel mit dem Zeitschriftenkapitel mehr vor und schrieb den Roman auch nicht zu Ende. 1933 wurde das Kapitel ›Daniel und der Kaiser‹ noch einmal als »Novelle« veröffentlicht: Es erschien in der von Hanns Martin Elster besorgten Sammlung ›Die deutsche Novelle der Gegenwart‹.160 Diese Fassung weist im Vergleich zur Version im ›Neuen Merkur‹ kaum Veränderungen auf.161 Der folgenden Analyse liegt die Fassung letzter Hand, also der Text von ›Daniel‹ in der Ausgabe der ›Gesammelten Werke‹ von 1982, sowie der Abdruck von ›Daniel und der Kaiser‹ im ›Neuen Merkur‹162 zugrunde.
3.2. Zur zeitgenössischen Rezeption und zur Forschung In der literarischen Öffentlichkeit fand ›Daniel‹ schon kurz nach seinem Erscheinen eine breite Aufmerksamkeit. Autoren und Kritiker wie Ludwig Davidsohn163 oder Arnold Zweig164 besprachen das Romanfragment für Berliner und jüdische Publikationsorgane und hoben vor allem seinen Legendencharakter und seine an der Bibel geschulte Rhetorik hervor. Die diesem Stil geschuldete Erzählweise und die fehlende Ausformung der Figuren zu Charakteren waren gleichfalls das Thema der Besprechungen. So bemerkte Hans Sochazewer, dass die Geschichte eigentlich gar keinen Helden habe: »Daniel selber geht nur als ein Wunder durch die Erzählung, die von der Verbannung des Vaters Jojakim und der Mutter
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Vgl. Ernst Weiß, Daniel und der Kaiser. In: Die deutsche Novelle der Gegenwart, hg. von Hanns Martin Elster, Berlin 1925, S. 193–206 [fortan: Elster]. Insgesamt handelt es sich bei diesen Veränderungen um leichte Überarbeitungsspuren. So fehlt in der Anthologie jene nachfolgend kursiv gestellte Textpassage, die noch in der ersten Fassung vorhanden ist, vgl. NM 271 und Elster 193: »Er, Nebukadnezar, Kaiser von Babylon, bezauberte alle Menschen durch den Smaragdglanz seiner knabenhaften, schmalen Augen, […] durch sein leises Herrscherwort, durch seine, edel in sich gefügte, große, starke, ruhige Hand.« Dafür wurde in der Anthologie der Begriff »Decken« in der Erstfassung (NM 272) durch das Kompositum »Satteldecken« ersetzt (Elster 194). Die Formulierung der »langen geraden Straßen« in der Erstfassung (NM 273) wurde in der Anthologie durch die »längsten geraden Straßen« ersetzt (Elster 195), die Aufzählung »Pferd, Kamel und Rind« (NM 273) um einen Esel ergänzt, vgl. Elster 195: »Kamel, Pferd, Esel und Rind«. Weitere kleine Eingriffe lasse ich hier unaufgezählt. (Alle Hervorhebungen Ch.D.) Ich zitiere ›Daniel‹ aus GW, Bd. 15: E, mit der Sigle E. Das Kapitel ›Daniel und der Kaiser‹ zitiere ich mit der Sigle NM aus dem Abdruck im ›Neuen Merkur‹ von 1924. Ludwig Davidsohn, Ernst Weiß: Daniel. In: Jüdisch-liberale Zeitung (Berlin), 19. Dezember 1924, Nr. 45, Beilage, S. [2]. Vgl. Arnold Zweig, Bücherpaket. In: Die jüdische Rundschau, 19. Dezember 1924, S. 732f.
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Rahel spricht [...].«165 Auch Heinz Dietrich Kenter hob das Fehlen des Helden als Merkmal hervor: »Diese Vision von Babylon, der weißen Stadt, aus bunten und aus blühenden Worten gestaltet, ist wie ein asiatischer Zauber. Und damit ist zugleich diese Erzählung ohne Charakter charakterisiert.«166 Dieses Fehlen der zentralen Figur und eine mangelnde Durcharbeitung des Stoffes führte Oskar Loerke auf die schnelle Entstehung des Fragments zurück: ›Daniel‹ sei weder formal noch narrativ zu Ende gebracht, vielmehr habe der Autor zugunsten pathetischer Rhetorik auf die Modellierung der Figuren verzichtet. Zwischen den Schicksalen Daniels und denen seiner Eltern besteht keine überzeugende Verbindung. Sie sind um einige Grade zu rhetorisch. Selbst die Darstellung der Natur ist es. Die lyrische Schilderung des Lebens in Babylon speist sich gern aus der Aufzählung. [...] Wozu das alles? Wir stellen die törichte Frage, weil wir alle diese Menschen nicht kennen lernen. Wir vernehmen von ihrer Tiefe und ihrem Schmerz, doch Tiefe und Schmerz hängen im Wort. Woher kommt jedoch das Wort? Meist nicht aus Babylon und den ihm beschlossenen Schicksalen, sondern von den Lippen des Dichters.167
Gleichzeitig bemerkten die Kritiker aber auch die außergewöhnliche thematische Wendung, die ›Daniel‹ im Werk von Weiß ankündigte. Bisher habe der Dichter »in vielerlei Formen die Not der Unfreien, der Blutgebundenen dargestellt, der von Dämonen Besessenen, die in allen Verstümmelungen und Erhöhungen ihres Wesens das Stigma der Begierden, der Haßliebe tragen«. Nun aber, so der Rezensent des ›Tage-Buch‹, werde ein Mensch gezeichnet, der, »gleich dem Buddho, mehr wird als seine Götter sind, der seinen eigenen Gott segnet, der Stille, in dessen Gestalt Gott in der Welt ist«168. Im Gegensatz zu Sochazewer, der ›Daniel‹ in erster Linie als religiös-jüdische Dichtung verstand, erkannte der Rezensent des ›Tage-Buch‹ das philosophische Thema des Fragments: In ›Daniel‹ gehe es nicht um eine Nachdichtung der Bibel, sondern um die Darstellung des Menschen als eines endlichen (körperlichen) und unendlichen (seelischen) Wesens. Der Dichter ende dort, »wo die Bibel beginnt«169. Von der Weiß-Forschung wurde ›Daniel‹ bislang nur am Rande wahrgenommen. Margarita Pazi wies auf die »archaischen Sprachformen und die Bildfülle des Ostens« hin, erkannte jedoch keine tiefergehenden ästhetisierenden Funktio-
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Hans Sochazewer, Daniel. In: Berliner Tageblatt, 9. November 1924, Beiblatt [Die literarische Rundschau]. Heinz Dietrich Kenter, Daniel. Erzählung. Von Ernst Weiß. Berlin 1924. Die Schmiede, 81 S. In: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde, 27. Jg. des ›Literarischen Echo‹ (1925), H. 8, S. 494f. (Hervorhebung Ch.D.) Oskar Loerke, Ernst Weiß: Daniel. In: Berliner Börsen-Courier, 16. November 1924, 1. Beilage, S. 8. – Wiederabgedruckt in: EWM, S. 61–63, hier S. 62. f. h., Ernst Weiß: Daniel. Erzählung. Die Schmiede. In: Das Tage-Buch 5 (1924), S. 1159f., hier S. 1160. Ebd.
nen in ihnen.170 Dierick sah in ›Daniel‹ die »grundsätzliche Polarität des Seins« gestaltet, worauf auch die Struktur der Handlung basiere. Mit Hilfe von semantischen Oppositionen von Gott und Gegengott sah er das Dualitätsprinzip der Welt abgebildet und die Figuren als Dämonen und Heilige charakterisiert. Daniel verkörpere dabei das Prinzip des »Guten oder [...] Heilige[n]«171. In der Diktion des Textes bemerkte Dierick den Versuch, die Sprache des Erzählers so einzusetzen, dass sie der Erhellung dieser Grundpositionen diene; damit verteidigte er Weiß gegen den Vorwurf der übertriebenen Rhetorik.172 Anhand der Narration erkannte Delfmann eine neue Erzählkonzeption: Rhetorik, Metaphorik und »beinahe lyrische Tableaus einer versunkenen Welt« verursachten eine Verlangsamung des Geschehens und eine Intensivierung der Wahrnehmung bei gleich bleibender ästhetischer Distanz.173 Mögen Delfmanns Ausführungen im Einzelnen auch korrekturbedürftig sein, so weisen sie doch auf ein zentrales Moment hin: Die Figuren in ›Daniel‹ erleben sich nicht mehr als Opfer einer psychischen Krise oder Erkrankung, sondern sind sich ihrer existenziellen Fragestellungen bewusst. Die Darstellung ihres Bewusstseins erfordert daher neue narrative Techniken.
3.3. »Der Heilige ist Gott nahe über Worte hinaus.« – Interpretationsskizze Die folgende Interpretationsskizze behandelt ›Daniel‹ und das später veröffentlichte Kapitel ›Daniel und der Kaiser‹ als einen zusammenhängenden Text. In ihr möchte ich die Erkenntnis- und Existenzkonflikte der Personen zeigen und ferner, auf welche Weise sie diese Konflikte überwinden. Dabei sind die Bezüge der Handlung auf das Alte Testament nicht ohne Belang; ich möchte vor einer Analyse der Geschichte daher auf die evozierte Form der Legende174 und auf die Rolle des Prätextes175 zu sprechen kommen. Daran schließt sich eine Untersuchung der Geschichte, der Allegorisierung der Figuren, der Ketten und des Turms von Babel als Symbole an. Die Analyse des Diskurses soll Besonderhei-
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Vgl. Pazi, Todesmotiv, S. 63; dies., Ernst Weiß, S. 53; dies., Fünf Autoren, S. 101f. Dierick, Heilige und Dämonen, S. 239. Ebd., S. 241. Delfmann, Heldentum, S. 106. Vgl. Konrad Kunze, Legende. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Klaus Weimar, Berlin u.a., Bd. II: H-O, 3. neubearbeitete Auflage 2000, S. 389–392; vgl. außerdem Hans-Peter Ecker, Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung, Stuttgart u.a. 1993. Zum Begriff des Prätextes vgl. Kap. I.3., S. 34ff. Außerdem: Manfred Pfister, Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister, Tübingen 1985, S. 1–30.
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ten in der Darstellung von Zeit und Figurenbewusstsein zeigen, bevor ich die kommunikative Rolle des Erzählers thematisiere. Die Art seiner Narration wird uns gleichfalls noch beschäftigen. 3.3.1. Semantik und Form: ›Daniel‹ – eine Legende? Obwohl ›Daniel‹ produktionsgeschichtlich als Romanfragment zu bestimmen ist, wurde der Text immer wieder als Legende bezeichnet.176 In der Tat erweist sich die erzählte Welt, die hier entworfen wird, als semantisch und stilistisch komplex: Vordergründig schildert der Narrator eine historische Welt, die sich an reale Orte und Begebenheiten aus der Geschichtsschreibung des Volkes Israel anlehnt. Sie thematisiert die im Alten Testament genannten Könige Judas, ebenso wie die Vertreibung der Juden aus Jerusalem und ihr Exil in Babylon. Zugleich sind in dieser Welt auch Wunder möglich, die als vollwertige Ereignisse der Handlung betrachtet werden. Transzendente Botschaften sind in ›Daniel‹ nicht, wie in früheren Erzählungen, auf das Halb- oder Unbewusste einer Figur zurückzuführen, sondern in derselben Wirklichkeit angesiedelt wie empirische Ereignisse. Empirisches und Transzendentes werden vom Erzähler ganz selbstverständlich als zwei Ausprägungen ein und derselben Wirklichkeit dargestellt; sie existieren gleichwertig nebeneinander. Dies entspricht durchaus der Logik der Gattung Legende, in der »das religiöse Element das primäre in der Stoffwelt [ist], in der mit ›unschuldiger Selbstverständlichkeit‹ das Jenseits ins Diesseits hineinragt«177. In der Legende ist es nicht nur möglich, dass Gott in Träumen und Visionen zu den Menschen spricht, sondern es ist sogar wahrscheinlich. Durch diese klare Ausprägung zweier Formen von Wirklichkeit sind die Ereignisse in ›Daniel‹ nicht nur als einmalig und historisch zu verstehen, sondern auch als allegorisch und überzeitlich. Das unhinterfragte Vorkommen von Wundern und Visionen verleiht ›Daniel‹ eine nicht-kausale, finale Motivierung; danach wird der göttliche Wille oder das Schicksal als Motor für das Geschehen der realen Welt akzeptiert. Den jüdischen Legenden, an deren Tradition Weiß mit seinem ›Daniel‹ anknüpft, liegt die Überzeugung zugrunde, »daß alle Ereignisse der Geschichte in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen und nach einem einheitlichen Plan ablaufen«178. Was geschieht, ist schon seit jeher vorbestimmt und nicht Resultat einer erklärbaren Ursache oder des bloßen Zufalls. Der Leser, der durch Wunder
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Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 105f. Birgit H. Lermen, Moderne Legendendichtung, Bonn 1968, S. 60. – Gemeinhin wird die Legende definiert als »religiöse erbauliche, volkstümliche Erzählung in Vers oder Prosa um den irdischen Lebenslauf eines Heiligen [...] oder einzelner Wunder und Geschehnisse daraus, besonders den Kampf glaubensstarker Menschen mit der Umwelt [...]«. Vgl. Hans-Harald Müller, Leo Perutz, München 1992, S. 109; ders., Leo Perutz. Biographie, Wien 2007.
und durch Gottes Stimme auf die erzählte Welt eingestimmt wird, ist bereit, den »unthematischen Horizont« der fiktionalen Welt und den Sinn ihrer Geschichte vor diesem finalen Zusammenhang zu rekonstruieren.179 Diese Rekonstruktion schließt auch die Deutung der Helden unter einem bestimmten Gesichtspunkt ein: Die Figuren einer Legende sind keine psychologischen Charaktere, sondern allegorische Wesen. Sie sind typisierte Idealfiguren, die sich (im Gegensatz zu historischen Persönlichkeiten mit charakteristischen und individuellen Wesenszügen) in der Anhäufung liebenswerter und tugendhafter Züge gleichen. [...] Wie die Figuren des Holzschnitts leben sie von der Kontur her, ohne tiefere psychologische Charakteristik. Umrisse genügen, um sie als Typus des Märtyrers, des Kämpfers oder Asketen darzustellen.180
Die Bestimmung von ›Daniel‹ als Legende erlaubt die Annahme, dass in der erzählten Geschichte »zumindest ein Kern von Religiosität« enthalten bleiben soll, und dass der Erzähler den Leser mit den Mitteln der ›aedificatio‹ und der ›imitatio‹181 zur Reflexion dieses religiösen Kerns anregen will. Wie der Erzähler von ›Daniel‹ diese semantischen und kommunikativen Ziele erreicht, wird nun zu zeigen sein. 3.3.2. Die Prätexte: Das Buch der Könige und das Buch Daniel Der Handlung von ›Daniel‹ liegen zwei Prätexte zugrunde, die vor der Analyse der Geschichte dargestellt werden sollen. Ein Vergleich ist aufschlussreich, weil zwischen Prätext und Text zahlreiche Bezüge hergestellt werden. Gemäß der in I.3. getroffenen Begriffsexplikation ist von ›Daniel‹ als einer ›allegoria in factis‹ zu sprechen. Im Ganzen handelt es sich um eine Bestätigung der Zielrichtung des Prätextes, auch wenn sich in der theosophischen Aussage beider Texte Unterschiede feststellen lassen. Die beiden Bibeltexte stammen aus dem Zweiten Buch der Könige, in dem der Beginn des babylonischen Exils um 597 v. Chr. geschildert wird, und aus dem Buch Daniel.182 Mit dem Text aus dem Buch der Könige stimmen folgende Fakten der ›Daniel‹-Handlung überein: Die Könige Judas werden – weil sie taten, »was dem Herrn mißfiel« (2 Kön 23, 37; 2 Kön 24, 9) – auf Gottes Geheiß von Nebukadnezar entmachtet. Jojakim, sein Sohn Jojachin und dessen Onkel Mattania, von Nebukadnezar auch Zidikija genannt, werden in Ketten gelegt. Mit Zidi-
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Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 124. Lermen, Legendendichtung, S. 60. Vgl. Müller/Tatzel, »Das Klarste ist das Gesetz«, S. 12. Daniel bedeutet auf hebräisch so viel wie »Gott ist Richter« oder »Mächtig ist Gott«. – Vgl. Martin Bócian, Lexikon der biblischen Personen, Stuttgart 1989, S. 78; Dieter Baer, Das Buch Daniel. Neuer Stuttgarter Kommentar (Altes Testament 22), Stuttgart 1996, S. 36.
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kija endet die Reihe der Könige Judas. Nach seiner Niederlage werden die Stadt Jerusalem, der Palast der Könige und der Tempel, das Haus des Herrn, in Brand gesteckt und die Juden in die babylonische Gefangenschaft geführt. Im 37. Jahr des Exils wird Jojachin von Nebukadnezars Sohn Ewil-Merodach begnadigt; er darf seine Gefängniskleidung ablegen und mit anderen Königen an der Herrschertafel speisen (2 Kön 24, 8–20; 25, 1–30). An das Buch Daniel knüpft die Weiß’sche Handlung insofern an, als sie die Figur des Propheten mit dem Schicksal der Juden in Babylon verbindet. Das Buch Daniel, das zur Apokalyptik gehört, beschreibt das Leben eines jungen Adligen, der sich während des babylonischen Exils zusammen mit anderen gebildeten Juden an Nebukadnezars Hof aufhält. Daniel wird zum Empfänger und Deuter göttlicher Offenbarungen.183 Diese Aufgabe, die ihm von Gott zugedacht wurde, hat für Nebukadnezar Nutzen und Folgen: Daniel kann seine Träume deuten, allerdings besagen diese Deutungen für seine Zukunft nichts Gutes.184 Nebukadnezars Traum verhandelt, in abgewandelter Form, auch Weiß’ Kapitel ›Daniel und der Kaiser‹. Einige Sätze übernimmt der Autor fast wörtlich aus der biblischen Vorlage (Dan 2, 4–5 und Dan 2, 10–11). Weitaus freizügiger geht Weiß hingegen mit der Geschichte Judas um: ›Daniel‹ beginnt mit der Befreiung Jojakims (wie Weiß den jüdischen König Jojachin nennt) aus dem Kerker und seiner Zuwendung zum babylonischen Hof. Auch verändert Weiß die Figurenkonstellation der Bibel, indem er Jojakim eine Gattin zugesellt; Rahel und Jojakim sind Daniels Eltern. Die völlige Neuschöpfung der Hauptfigur macht es Weiß außerdem möglich, trotz zahlreicher Anspielungen auf die Prätexte nicht in die Gefahr zu geraten, als Nachdichter der Bibel verstanden zu werden: Daniel, der Prophet des Alten Testaments, wird bei Weiß zum Symbol des ›Neuen Menschen‹. Damit nutzt Weiß die Erzählungen der Bibel, um seine eigenen anthropologischen Vorstellungen zu inszenieren und nicht dafür, die Bibel und ihre Heilslehre zu bestätigen. (Diese Aufgabe hatten immerhin die frühchristlichen Legenden.) Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, wie Weiß die Existenz- und Erkenntnisproblematik in ›Daniel‹ erzählt.
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Vgl. Dan 2,1–49, und Dan 3, 98–4, 34. Vgl. Dan 2, 31–35: »Du, König, hattest eine Vision: Du sahst ein gewaltiges Standbild. Es war groß und von außergewöhnlichem Glanz; es stand vor dir und war furchtbar anzusehen. An diesem Standbild war das Haupt aus reinem Gold; Brust und Arme waren aus Silber, der Körper und die Hüften aus Bronze. Die Beine waren aus Eisen, die Füße aber zum Teil aus Eisen, zum Teil aus Ton. Du sahst, wie ohne Zutun von Menschenhand sich ein Stein von einem Berg löste, gegen die eisernen und tönernen Füße des Standbildes schlug und sie zermalmte. Da wurden Eisen und Ton, Bronze, Silber und Gold mit einemmal zu Staub. Sie wurden wie Spreu auf dem Dreschplatz im Sommer. Der Wind trug sie fort, und keine Spur war mehr von ihnen zu finden. Der Stein aber, der das Standbild getroffen hatte, wurde zu einem großen Berg und erfüllte die ganze Erde.«
3.3.3. Die Geschichte: Figurenpaare als narrative Ordnung ›Daniel‹ erzählt von nichts Geringerem als der Ablösung einer alten Weltordnung durch eine neue. Vermittelt wird die Geschichte von einem extradiegetischheterodiegetischen Erzähler, der seine Erzählung im Präteritum präsentiert. Am Beginn der Erzählung steht ein Prolog, mit dessen Hilfe der Erzähler in Form einer »intimitätsheischende[n] Gebärde«185 die Aufmerksamkeit des Lesers auf die beiden Hauptfiguren Daniel und Nebukadnezar lenkt. In diesem Prolog deutet der Erzähler bereits die besagte Ablösung der alten Ordnung durch eine neue an. Die eigentliche Handlung setzt mit Daniels Geburt ein und lässt sich in zwei Phasen oder thematische Subplots untergliedern. Die erste Handlungsphase führt das jüdische Exil in Babylon am Beispiel des Figurenpaars Rahel und Jojakim vor Augen. Sie erzählt deren Zusammenleben bis zum Ruf Nebukadnezars, dem Jojakim folgt. Rahel bleibt unerkannt im Gerberviertel und erzieht ihren Sohn. Nach einem Zusammentreffen mit Jojakim sagt sie sich von ihrer Herkunft und ihrem Sohn Daniel los (Kap. 2–9). Die zweite Handlungsphase umfasst die Schilderung Daniels, sein Zusammentreffen mit Nebukadnezar und seine Traumdeutung (Kap. 10–12). Beide Handlungsphasen sind durch rhetorische Verklammerungen, etwa die Wiederholung einzelner Sätze in der Figurenund in der Erzählerrede, vor allem aber durch die Figur Daniel miteinander verbunden. Für eine Analyse der Geschichte bietet es sich an, die beiden Phasen und ihre Figuren zunächst getrennt zu betrachten, wobei der Schwerpunkt auf der Erkenntnisproblematik der Personen liegen soll. Die erste Handlungsphase: Rahel und Jojakim, die ersten Menschen Die Figurenkonstellation Rahel und Jojakim bestimmt etwa zwei Drittel der Handlung. Sie illustriert den Erkenntnisvorgang zweier Personen, die innerhalb der textinternen Logik der Vergangenheit angehören. Sie stehen für eine Umbruchssituation, die ihre Anfänge mit der Vertreibung der Juden aus Jerusalem genommen hat und ihr Ende im babylonischen Exil findet. Sowohl Rahel als auch Jojakim erleiden Diskontinuitätserfahrungen, die in ›Nicht-Identität‹ und ›Nicht-Leben‹ enden. Für beide Figuren spielt die Erinnerung an Jerusalem eine zentrale Rolle: Die Stadt ist in ihrem Bewusstsein der identitätsstiftende Fluchtpunkt. Dies gilt auch für das Volk der Israeliten, das sich im Exil nur mit Hilfe seiner Bräuche und seiner (Todes-)Rituale an Gott erinnern kann (vgl. E 206– 208). Weil diese Erinnerung eine konstitutive Bedeutung für die Identität hat, ist der Moment, in dem sich Jojakim und Rahel von ihrer Vergangenheit lossagen, für ihre Seele tödlich: Sie verlieren sich selbst und das Bewusstsein davon, wer sie einmal waren, werden geschichts- und damit zugleich identitätslos.
185
Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 130.
165
Der Verlust der inneren Identität und die Wahl der ›Nicht-Identität‹: Jojakim Jojakim verkörpert in der Erzählung den letzten lebenden König der Juden. Der Erzähler beschreibt ihn als den »älterer[n], weisere[n], sanftere[n]« der beiden Königsbrüder (E 193), der seine Krone kurz vor Jerusalems Sturz an seinen Bruder übergeben hat. In ›Daniel‹ wird, im Gegensatz zum Buch der Könige, die Ursache für diesen Sturz Jerusalems nicht ausgesprochen. Andeutungen machen jedoch evident, dass es sich um eine ethische oder religiöse Strafe handeln muss. Noch zu Beginn der Geschichte hat Jojakim ein Wissen von Gott, auch wenn sein Verhältnis zu ihm durch einen Bruch gekennzeichnet ist. Jojakim rechtet mit Gott: Er kann nicht verstehen, warum Gott das Exil so lange andauern lässt, und sieht keine Verhältnismäßigkeit zwischen der Härte der Strafe und der einstigen Tat: »Alle Sünden des Volkes Israel und seine eigenen Sünden« glaubt Jojakim durch »das Leid Israels und sein eigenes Leid gebüßt« (E 196). Der König der Juden fühlt sich, gleich Hiob, von Gott verlassen, doch kann er die Strafe nicht wie diese andere Gestalt des Alten Testaments klaglos annehmen. Tief sitzen seine Zweifel ob einer Rettung durch Gott. Was kann hoffen, wer gesehen hat, was ich sah? [...] die Welt hat keinen Grund und Boden mehr. [...] Gott kennt uns nicht. Gesündigt haben viele vor uns und gefrevelt Geschlechter auf Geschlechter. Aber erst uns hat er aus dem Buche ausgestrichen. (E 200)
Der König der Juden empfindet sein Schicksal als persönliche Demütigung, gegen die er aufbegehrt: »Wurde ein König tiefer verachtet als ich?« (E 201). Deshalb zeigt er sich für das Angebot des weltlichen Herrschers Nebukadnezar empfänglich. Er lehnt den Ruf an den Hof nicht kategorisch ab, sondern antwortet mit zweifelnden rhetorischen Fragen: »Kann ich Rahel lassen, scheidet ein Gatte sich so von der Liebsten? Habe ich deshalb verfaultes Laub um ihre armen Hüften gebreitet? Wurde mir zum Hohn mein Sohn geboren?« (E 200). Schon in der nächsten Antwort gehen die Skrupel in Selbstrechtfertigungen über: »Darf ich nicht endlich auf Teppichen mich strecken, ein Dach über meinen Gliedern haben, wie ein Wasserträger in seiner Hütte, damit nicht der Morgentau mich weckt nach unruhvoller Nacht?« (E 201). Nebukadnezars Ruf wird zu einer Versuchung, der er nicht standhält. Jojakim weiß es, denn er fühlt sich vom Teufel selbst verführt: »Sprich zu mir, Rahel! Schweige nicht, wenn der Versucher uns martert, gib mir Kraft, halte mich, binde mich. Unser Geschlecht war von Gott verblendet. Führe du mich, sprich!« (E 201, Hervorhebung Ch.D.). Am Ende aber entscheidet er sich willentlich gegen Gott: »Er erkannte den Fluch Gottes. Er wußte, wer er war, und wollte es nicht mehr sein.« (E 204, Hervorhebung Ch.D.). Damit bestätigt Jojakim Nebukadnezars bestehende Herrschaft. Er demonstriert seinen Unglauben, dass Gott ihn doch noch erretten wird, und ist bereit, seine Identität aufzugeben. Dass dies just in dem Augenblick geschieht, in dem ihm ein Sohn geboren wird, dessen Geburt zudem von Wundern begleitet 166
ist, verstärkt die Tragik dieser Figur und führt ihre begrenzte Leidensfähigkeit vor Augen. Jojakim wird als zweifelnder und ungläubiger Charakter gezeichnet, der eine pragmatische Wahl trifft, um sich vermeintlich zu retten. Er wird für diese Wahl mit ›Nicht-Identität‹ und ›Nicht-Leben‹ bestraft, wie sie der vergänglichen Welt Babylons zu eigen sind. Die sorglose Atmosphäre Babylons führt bei Jojakim zur Amnesie. Wohl flüstern ihm bittende Stimmen oft von Rahel, seiner liebsten Gattin. Doch er sagt: ›Rahel? Ich habe keine gekannt.‹ Man spricht von Judas Leid und Israels Tränen. Er sagt: ›Habe ich je Leid erlitten?‹ Man raunt von König Zedekia, dem trauten Bruder, Gefährten endenloser Nächte. Er sagt: ›War nicht immer ich König der Juden?‹ [...] Er steht still, hoch, ruhig, unbewegt. ›Wer ist Gott?‹, fragt er, er spielt mit seiner goldenen Kette, er läßt seine Kleider fallen, badend versinkt er im grün umspielten Teich, um die Hitze des babylonischen Sommers zu kühlen. (E 209, Hervorhebung im Original)
Die Entscheidung gegen Gott leitet auch die Entfremdung des inneren Menschen von sich selbst ein. Jojakim erkennt sich in seinem Spiegelbild, jenem Ort, an dem der Mensch seine Seele wahrnimmt186, nicht mehr. Mit dem Verlust der Identität ist auch jedes Schuldgefühl dahin. Jojakim lebt »ohne Wehmut, ohne Kummer, friedlich, besänftigt, ausgesöhnt. Sein strahlender, weiter, offener Blick war glücklich. Wissend war er nicht mehr.« (E 212, Hervorhebung. Ch.D.). Sein Vergessen ist so umfassend, dass es nicht nur seine Identität, sondern auch sein Wissen um Gott betrifft. Jojakim ist deshalb auch der »in sich selbst begrabene, ewig in Dämmerung versunkene Fürst Judas« (E 209). Er ist an die Welt verloren gegangen: »Er beugt sich über den düster roten Wein, sieht sein großes weißes Gesicht, umrandet vom dunkel wogenden Wellenmeer des Bartes. Sein Gesicht erkennt der Selige nicht. [...] Er war nicht mehr, der er war. […] Im Namenlosen verstoßen, sich selbst entrissen.« (E 211f.). ›Nicht-Identität‹ als Konsequenz aus dem Verlust der Liebe: Rahel Jojakim vergisst sich, weil er sich gegen Gott entschieden hat. Ist seine Abwendung von Gott eine prometheische Selbstbehauptung des Menschen, so ist Rahels großes Thema die Liebe zum Gatten. Ihr Verhältnis zu Gott ist nicht durch den eigenen Willen, den Stolz, sondern durch Zuneigung bestimmt. Diese Liebe gehört zunächst Jojakim, später sorgt sie aufopfernd für ihren Sohn Daniel, das aus Liebe gezeugte Kind. Aus Liebe zu ihm nimmt sie auch das Leben im Gerberviertel auf sich, wo sie als Fremde unter Fremden lebt, »gekränkt bis zur Vernichtung« (E 219). Ihrer äußeren Identität beraubt, hält sie die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Jojakim am Leben. Rahel erinnert sich bewusst an Jojakim, immer wieder:
186
Vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 662.
167
Weich war das verfaulte Laub, es war von milder, sehr vertrauter Hand unter ihre müden Glieder einst gelegt. Hier war der Gatte nicht. Im Inneren der Hörner rauschte es leise, es klagte mit raunendem Ton. (E 219)
Insgesamt nährt sich Rahel zehn Jahre lang von diesen Erinnerungen, bis sie die Gelegenheit hat, an den Hof zurückzukehren. Diese Aussicht erfüllt sie mit dem »süße[n] Gefühl des Lebens« (E 224), denn sie glaubt an eine gute Wendung: »Heute ist der Tag der Wiederkehr. Der Tag der Wiederbegegnung.« (E 225). Der Versuch, den Gatten zurück zu gewinnen, ist allerdings vergeblich. »Bist du es noch?«, fragt sie ihn fassungslos, um sogleich die Frage an sich selbst zu richten: »Bin ich es noch? [...] Bin ich noch, die ich war?« (E 229). Sie muss erkennen, dass Jojakim zwar physisch existiert, aber seelisch tot ist: »Muß ich Witwenleid tragen um dich, der du lebst? [...] Bin ich Daniels Vater und Mutter? Ist Jojakim tot?« (E 230f.). Rahel rechtet mit Gott wie vor ihr Jojakim, doch aus anderen Gründen. Jojakims Vergessen deutet sie als Schicksal, als den Willen eines grausamen Gottes: »Allen ist er mild, mir allein ist er hart, grausam, ohne Erbarmen. [...] Mich hat Gott zu schwer gestraft, ich kann es nicht immer tragen.« (E 230). Ohne Jojakims Zuneigung kann Rahel ihr altes Leben nicht fortsetzen. Die fehlende Liebe löscht den Lebenssinn und provoziert den Schwur gegen Gott, mit dem sie ihr Ende als jüdische Königin besiegelt. Sie fühlt sich verraten. [W]endest du dich ab, erbarmst dich meiner nicht, sprichst du nicht dieses erbärmliche Wort, deiner Lippen Abfall, deiner Seele Neige und schalen Rest, dann schwöre ich, auf Leben und Tod, beim Namen dessen, den man nicht nennt und den ich doch nenne, und möge ich selbst verloren sein und im Tode wie zu Lebzeiten verdorrt, bei Jehova: Ich scheide mich von dir. [...] Ich will einem anderen Mann folgen. Du hast nie gelebt. Jerusalem hat nie gestanden, der Libanon ist nie verdorrt, ich habe kein Kind getragen, keinen Sohn geboren. (E 232)
Indem sich Rahel von Jojakim distanziert, verlässt sie auch ihren Gott und ihr Volk. Wenn sie fortan von Gott spricht, verweigert sie das Possessivpronomen der ersten Person Singular: »Es muß eurem Gott ein Greuel sein. Deshalb habe ich eurem Gotte abgeschworen, ich wandere aus den Ländern der zehn Stämme Judas.« (E 234). Rahels Schwur entbindet sie auch von ihren Mutterpflichten: »Ich habe geschworen, mich von dir zu scheiden, mich selbst zu vergessen auf Niewiederkehr.« (E 233). Die Frau wird indes nicht unwissend wie Jojakim: Sie ahnt, dass sie einen Menschen geboren hat, der eine neue Ordnung bringen wird. Schon bei seiner Geburt hat sie die Zeichen wahrgenommen, und so gibt sie ihrem Sohn einen Rat mit auf den Weg, der ihn von der alten Ordnung Judas scheidet: »Lebe nicht wie wir. Leide nicht wie wir. Stirb nicht wie wir. [...] Wir sind vertrieben, alle. Du nicht. Wir sind verflucht, alle. Du nicht.« (E 237). Rahel weiß, dass sich Daniel von den letzten Königen der Juden lösen muss, um seine Aufgabe anzutreten.187 Sie akzeptiert das Ende der alten Ord187
168
Vgl. Dierick, Heilige und Dämonen, S. 240.
nung und ihr eigenes Schicksal. Indem sich Rahel von Daniel trennt, ebnet sie den Weg für die neue Ordnung, die Gott etablieren will. Sie endet als namenlose chaldäische Frau: »Schon verrann sie in der Menge, die über die schwankenden Brücken in die Quartiere der Gerber strömte.« (E 239). Die zweite Handlungsphase: Daniel und Nebukadnezar. Weltende Die zweite Handlungsphase erzählt von der Ablösung der weltlichen Herrschaft Nebukadnezars durch Gott mit Hilfe seines Boten Daniel. Dafür greift der Erzähler auf eine Darstellung zurück, bei der Gott selbst als Figur ins Spiel kommt: die Apokalypse. Die Ablösung der alten Ordnung wird im ersten Kapitel mit der Geburt Daniels angedeutet, dann zugunsten der Geschichte von Jojakim und Rahel ausgeblendet und mit der Berufung Daniels wieder aufgenommen. Sie vollendet sich in der Zusammenkunft von Daniel und Nebukadnezar sowie in der Deutung des königlichen Traumes (Kap. 12). Mit dieser Deutung wird die Wende von der alten zur neuen (Welt-)Ordnung vorausgesagt. Ich möchte zunächst die Berufung Daniels und das Verhältnis Gottes zu seinem neuen Stellvertreter darlegen und sodann Daniels Traumdeutung und Nebukadnezars Ablösung als weltlicher Herrscher nachzeichnen. Bestimmung und Form der Mystik: Daniel, der neue Knecht Gottes Während die historischen Menschen Rahel und Jojakim an Gott verzweifeln, lebt Daniel in einer ganz anderen Zeit und Wirklichkeit. Mit ihm zeichnet der Erzähler eine Figur, an der »nichts menschlich [ist], nur die Gestalt« (E 196). Daniel wird nicht als erwachsener Prophet in die Welt gesandt, sondern als Kind in jenes Volk hineingeboren, das gegen Gott gesündigt hat und deshalb von Nebukadnezar beherrscht wird. In einem natürlichen Sinne ist Daniel mit Welt und Kosmos verbunden: Er kann mit den Tieren kommunizieren – er »ahnte der Tiere traurig verzaubertes Herz und berührte sie mit Zärtlichkeit« (E 240) –, versteht die Sprachen »der vielen Stämme, die in Babylon wohnen,« und »nimmt Wissen an von allen, die ihn lehren« (E 240). Im Zustand der Unschuld ist es ihm nicht nur möglich, sich ohne Hintergedanken der Umarbeitung der geraubten Gerätschaften aus dem Heiligsten des Tempels zu widmen (E 240), sondern auch eine natürliche Beziehung zu Gott zu entwickeln. Daniel bedarf »der Priester nicht, nicht der Gesalbten, nicht der heiligen Stätte«, er muss »Gott nicht suchen, er nannte ihn weder in Worten, noch Schreien, noch Seufzen, noch in Gebeten. Sein Glaube war Freude. Die Schrecklichkeit Gottes war ihm noch fern« (E 240, Hervorhebung Ch.D.). Daniel besitzt ein umfassendes Bewusstsein, er fragt nicht nach dem Sinn und forscht nicht nach »Gerechtigkeit, berührt nicht die Waage des Guten und Bösen«, er kennt die Folgen menschlicher Freiheit, des Willens und der Erbschuld nicht. Er nimmt sein »Schicksal hin, ohne Zürnen« (E 246). 169
In diesem Zustand wird Daniel von Gott gerufen. Jehova eröffnet ihm das Schicksal Israels und sendet ihm in einer apokalyptischen Offenbarung ein Gesicht.188 Er teilt ihm Anfang und Ende des Kosmos mit, die Gesetze des Schicksals und »des friedlosen Gottes Recht, Unrecht, Gewalt, Milde, Geben, Nehmen, Verderben, Retten aus Not« (E 243). Daniel erlebt eine »Ausleibigkeitserfahrung«189 und ruht »auf dem Urgrunde des Inmitten« (E 243). In diesem Zustand ist es ihm möglich, Gottes Ruf zu hören: »Du bist kein Mensch mehr. Du steigst auf den Stufen zwischen der Erde und den sieben Höllen, den meinen.« (E 249). Gott kommt ins Spiel: Die Partnerschaft zwischen Gott und Mensch Gottes Motivation, einen Menschen an seine Seite zu berufen, wird in dem langen Monolog des Gesandten Jehovas im elften Kapitel begründet. In diesem Monolog gibt Jehova, der sich im Menschen spiegelt, sein Wesen preis. Er ist ein Gott, der den Gesetzen des Kosmos genauso ausgeliefert ist wie der Mensch: »Ich war einst alles: Geist, Flamme, Rauch und Blut. Ruhen und Rollen. Seit Urzeiten zerrissen. Nun will ich zurückkehren, mich mit mir vereinen. Ich will dich segnen, und du sollst mich segnen.« (E 249). Die göttliche Zerrissenheit, die letztlich auch zur Entstehung der Menschheit geführt hat, soll durch Gottes Vereinigung mit Daniel wieder geheilt werden: In ihm findet Jehova seine verlorene weltliche Hälfte wieder. In Daniel besitzt Gott, der ihn zur Sprache erweckt, ein Medium, um seinen Willen in der Welt zu verkünden: »Bleibe getreu. Denn ich will in der Welt sein in deiner Gestalt.« (E 249f.). In seiner Berufung erfährt Daniel nicht nur vom Gesetz des Kosmos, sondern auch von Gottes »vergebliche[n] Bitten um der Juden Gnade« (E 242f.). Denn nicht nur die Juden suchen Gott, auch Gott sucht »seine verlorenen Söhne« (E 243). An sie ist er durch seinen Fluch über Israel gebunden, »verzweifelnd an Judas Leben, Stadt und Herrlichkeit«. Und doch ist er gekettet an seine Verwünschung, »wie sie« (E 243). Gottes Sehnsucht nach Daniel ist in seiner Einsamkeit begründet: »Heilig ist das Menschenlose. Höre es und folge mir nach. Denn ich bin sehr allein.« (E 247). Nach Jahren der Abwendung von den Menschen sehnt er sich nach Gemeinschaft: »Ein Mensch sei mein. Ein einziger, der mein ist mit allen Fibern seines Innern und mit allen Fasern seines Fleisches.« (E 248). Gott will nicht den Bund mit seinem ganzen Volk erneuern, sondern nur mit einem einzigen Menschen; in dessen Gestalt will er »in der Welt sein« (E 249). Diese Verbindung findet in der »Menschenseele« (E 248) statt, und Daniels Seele wird von Gott für diesen Bund auserkoren. »Es will ein Hoher sich in dir spiegeln.« (E 245).
188 189
170
Vgl. Lurker, Lexikon der Symbolik, S. 767. Peter Dinzelbacher, Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 1989, S. 514. – Bei der Ausleibigkeitserfahrung sieht sich die Seele »durch übernatürliches Wirken in andere Räume versetzt«. Im religiösen Kontext ist sie mit einer Offenbarung verbunden.
Dass Gott auch menschliche Züge besitzen muss – sonst wäre eine Spiegelung nicht möglich –, impliziert diese Aussage ebenso wie den Wunsch, mit Daniel ein partnerschaftliches Verhältnis einzugehen. Gottes Anthropologisierung bedeutet zugleich die Transzendierung des Menschen: »[D]u sollst ein Herr sein neben mir, dem Herrn.« (E 245). Dank dieser Verbindung soll Daniels Seele künftig die Träume der Menschen deuten können: »Das Gedachte soll in den Angeln der Ahnungen sich drehen, wenn nur deine Stärke es berühren will. Du wirst wissen, was niemand weiß, nur ich, dein Gott und Herr.« (E 246). Die Partnerschaft Gottes mit Daniel geht so weit, dass sich Gott den Menschen als sein »Jenseits« auserwählt (E 248, Hervorhebung im Original). Dies ist der Kern der göttlichen Logik: Die Erneuerung der Welt und des Bundes kann nur partnerschaftlich vor sich gehen; sie bedarf des Menschen und Gottes. Nebukadnezar, das weltliche Prinzip: Daniels Traumdeutung So wie Daniel Gottes Sehnsucht verkörpert, in die Welt zu kommen, so steht Nebukadnezar für die weltliche Macht. Obwohl Nebukadnezar bereits im ersten Absatz der Erzählung angekündigt wird, tritt der Fürst erst im zwölften Kapitel auf. Seine Domäne sind die Gerechtigkeit des Richters und die Ordnung der Gesellschaft: »Gut und Blut, [...] kalte[r] Verstand und strengstes Recht«, Körper, Rausch, Geld und Güter gehören in seine Welt (vgl. E 246). Er wurde von Gott zum Herrscher über Juda eingesetzt, ohne davon zu wissen: »Nebukadnezar führte nur das Schwert eines anderen, er kannte die Namen der Völker alle nicht.« (NM 273). Er besitzt alle Attribute der äußeren Jugend: Wie Jojakim wird auch Nebukadnezar als der ewig junge Fürst beschrieben, der »noch im Alter von fünfzig Jahren [...] das Aussehen und den frohblühenden Mund, den lichtstrahlenden Blick der ersten Jugend« hat (NM 271). Er ist ein gesunder und gerechter Herrscher: »Er kannte der Menschen Wesen und ihre bösen Gedanken und ihre guten zugleich. So teilte er Strafe aus und Lohn und wog richtig mit der Wage, die ihm verliehen war.« (NM 273). Und doch kennt er die von Gott gesetzten Grenzen nicht. Er glaubt sich gottgleich, baut einen Turm als Zeichen seiner Macht, lädt den einstigen König der Juden an seinen Tisch und hält das Volk der Juden auf ewig für besiegt. Ich will dir ein anderer Gott sein, ein besserer, ein milderer. Denn euer Gott liebt die Seinen nicht. […] Sind alle Juden verflucht von ihrem Gott, einer sei gesegnet von unserem Kaiser, der mächtiger ist. Dein Gott hat dir die Krone genommen. [...] Ich bin mild und gnädig, sagt er, ich habe dich ausersehen, begnadigt und befreit. Laß mich nicht warten, spricht das frohe Herz der Welt, Nebukadnezar. (E 199f.)
Gott sendet Nebukadnezar einen Traum, der ihn über das Ende seiner Weltherrschaft aufklärt. Darin, wie Gott seinem alten Statthalter und seinem neuen Boten – Daniel – seinen Willen mitteilt, besteht eine Analogie: Vision und Traum sind Formen des Unbewussten, in denen analytisches Verstehen oder Denken ausge171
blendet ist. So weiß Nebukadnezar am anderen Morgen, dass er eine Botschaft erhalten hat, aber er kann sich nicht an sie erinnern. Er gleicht einem »verstörten« Tier, und niemand kann ihn aus seinem hypnotischen Zustand erlösen: »Ihn erweckt nichts.« (NM 276). »Mit seinem wallenden schwarzblauen Barte wärmt er seine nackten Füße, denn es friert ihn sehr. So kauert er bis zum Morgen, bis er völlig erwacht.« (NM 276). Während seines Traumes erhebt sich Nebukadnezar wie ein Traumwandler von seiner Bettstatt und reißt sein Nachtlager aus dem Boden. Dieser Kraftakt ist äußeres Zeichen jener inneren Qual, die ihm das Geschehen im Traum bereitet. In Nebukadnezars Augen blinkt ein »böse[s] Feuer« (NM 276), doch kein babylonischer Sterndeuter kann dem Kaiser helfen. Ich habe immer in Klarheit gelebt. Nun hat mich etwas verstört, so daß ich nicht mag Rat halten, Recht sprechen, essen, trinken, noch meine Liebste kosen, noch mich des Guten freuen, das Böse eindämmen, noch mich waschen, mein Haar salben, meine Augen erheben, meine Brust in Freude öffnen und aufatmen, es sei denn, daß ihr mir sagt, meine Lieben, was mir geträumt hat, diese Nacht, in diesem Saal. (NM 277)
So vermag ihm allein Daniel zu helfen, der dank seiner Berufung in seine Seele blicken kann. Die Art und Weise, wie sich Nebukadnezar dem Jungen in die Arme »schmiegt« (NM 278), zeigt seine Hilflosigkeit, aber auch die neue Hierarchie an. Zunächst erklärt Daniel dem Kaiser seine weltliche Aufgabe, die ihm Gott zugedacht hat. »Du hast die Welt nicht gerufen: aber sie rief dich: sei du mein Herr!« (NM 279). Der Traum erzählt ihm dann von einer anderen Dimension der menschlichen Seele. Über dir zog, wie eine Wolke ins Gewitter zieht, ein zweiter Nebukadnezar auf. In Stürme gekleidet, nicht in feine Leinwand wie du. Es war kein Mensch, sondern etwas anderes, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Du warst es selbst, höher als der erste, schwerer wie ein Stein, ohne eigene Wärme, warm in der Wärme, kalt im Eise, friedlos, da er von einem Ende der Welt zum anderen rollte zu dir und nichts verschont, auch sich nicht, und voller Frieden, da er von nichts weiß, auch von sich nichts. (NM 280)
Das Bild eines schweren Gegenstandes, der die Welt ummessen kann und doch von sich nichts weiß, deutet auf einen Stern oder Kometen hin, der mit apokalyptischer Kraft ein Weltreich zerstört. Der Stein ist Nebukadnezars kosmisches Abbild, denn er trägt die Züge des Herrschers. Die Angst, die der Kaiser nach seinem Traum verspürt, ist existenziell: »Ich war ruhig bis heute Nacht und gefasst bis zu diesem furchtbaren Traum. [...] Jetzt aber, laß es mich dir leise sagen, ich fürchte, ich bin verstört für immer.« (NM 281). Er erlebt die Offenbarung im Traum als Gefangennahme seiner Seele; dabei wird er mit denselben Attributen beschrieben wie einst der gestrafte jüdische König Zedekia. Dieser war von Nebukadnezar geblendet worden und lag nackt in Ketten. Eben jene Situation durchlebt nun der chaldäische Kaiser, der als »Geblendeter« (NM 274) durch sein Schloss irrt. Er schleppt sich »wie gefangen an eine Kette geschlos172
sen« durch den Palast, und eine innere Kraft zwingt ihn, sein Bettgestell mit Füßen aus Löwentatzen zu vernichten – so, wie er selbst einst das Tempelgerät aus Stieren und Löwen (vgl. E 240) in Jerusalem beseitigt hat. Am Ende der Nacht ist Nebukadnezar so »nackt« wie die Könige der Juden in der Schlangengrube. Dass der Kaiser just dorthin sein »Ruhebett« fallen lässt (NM 275), wo Rahel und Jojakim gefangengehalten wurden, ist ein textinterner Verweis auf den Anfang der Erzählung und spielt auf die Ablösung der alten Ordnung an. Nebukadnezars Herrschaft über die Juden ist zu Ende, der Kreis schließt sich: »Ich war es einmal, doch ich bin es nicht mehr.« (NM 282). 3.3.4. Implizite Transfersignale: Allegorische Figuren und Symbole Durch die Gattung der Legende ist in ›Daniel‹ das Transzendente als Bezugsrahmen und Sinnhorizont ausgesprochen. Die Art und Weise, wie der Erzähler die Ereignisse in ›Daniel‹ motiviert und zu einem Sinnganzen zusammenfügt, wie er seine Figuren charakterisiert und die erzählte Welt darstellt, macht allerdings deutlich, dass die Botschaft der Erzählung durch den bloßen Vergleich der Handlung mit den Prätexten des Alten Testaments noch nicht ausgeschöpft ist. Die Protagonisten werden mit Attributen versehen, die sie als allegorische Figuren einer neuen Ordnung erkennbar machen, und die Rhetorik des Erzählers trägt dazu bei, dass der Leser früh damit beginnt, die erzählten Begebenheiten auf einer allegorischen Ebene zu deuten. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass diese Aufforderung von zahlreichen Impliziten Transfersignalen gestützt wird. Sie machen deutlich, dass die in ›Daniel‹ entworfene Theosophie nicht aus textexternen Systemen – etwa der Religion des Judentums – importiert wird, sondern textintern durch Bezüge auf eine zweite, transzendente Wirklichkeit und einen ›Neuen Menschen‹ konstruiert wird. Rahel und Jojakim als Adam und Eva: Allegorie der ersten Menschen Sind Rahel und Jojakim in ›Daniel‹ einerseits als (historische) Menschen der Bibel gezeichnet, so ist andererseits ihre Stilisierung zu allegorischen Figuren nicht zu übersehen. In dieser Lesart sind die beiden Könige Sinnbilder der ersten Menschen, Adam und Eva. Rahel wird darüber hinaus zu einer Muttergottes stilisiert. Auf Jojakims und Rahels Allegorisierung als Adam und Eva macht der Erzähler im ersten Kapitel aufmerksam: Die Vertreibung der Juden aus Jerusalem gleicht dem Sündenfall und seiner Folge, der Vertreibung aus dem Paradies. Der Zustand, in dem sich Rahel, Zedekia und Jojakim in der Schlangengrube befinden, entspricht dem paradiesischen der Urmenschen Adam und Eva: »Alle drei sind nackt.« (E 193). Eine Analogie zum Sündenfall zeigt der Frevel, den Judas Könige begingen: Sie wollten ihr irdisches Glück als ewiges verstehen. Diesen Frevel spricht Rahel aus: 173
[W]ir waren nur Erde und von dieser Welt, wir waren eitel in ihrer Eitelkeit, aber doch satt an irdischer Speise und froh in ihrem Frühling, wenn wir in Judas glatt gespannten, lichten Zelten saßen, auf den unvergessenen Hügeln, gekühlt von den regenfeuchten, klaren Winden. Wir dachten, wir leben so ewig. (E 236)
Die Sterblichkeit, das Erkenntnis- und das Schuldproblem des Menschen sind Konsequenzen aus dem Sündenfall. Rahel geschieht, was alle Mütter seit Eva erleben: Sie bekommt ihren Sohn unter Schmerzen, sie »wirft« ihn »wie ein Tier des Waldes« (E 193). Der paradiesische Mensch ist beschädigt, er ist endlich geworden und muss sein Leben in der – historisch gewordenen – Zeit fristen. Allein die gottgewisse Seele erinnert sich noch an den ursprünglichen Zustand. Rahel als Mutter Gottes. Daniel als Christus: Allegorien der neuen Zeit Rahel, deren Name auf hebräisch »Mutterschaf«190 bedeutet, ist nicht nur eine Allegorisierung Evas, sondern auch der Muttergottes: »Sie war gesegnet unter den Frauen.« (E 225).191 Im Augenblick ihrer Niederkunft ist sie »entrückt« und ahnt den Zusammenhang zwischen dieser Geburt und Judas Schicksal. Das Neugeborene kommt nicht als Mensch unter Anstrengungen, sondern als »schöne[s], silberne[s] Gebilde« (E 196) zur Welt. Als übermenschliche Gestalt bringt es Licht ins Dunkel der Höhle. Und so, wie die biblischen Eltern Maria und Josef nur Stroh für ihren göttlichen Sohn hatten, müssen Daniels Eltern ihr Kind auf faules Laub betten. Auf Daniels Rolle als Messias weist auch eine wundersame Begebenheit im Garten Nebukadnezars hin: Kurz nach Daniels Geburt springen Fische aus dem Teich in die Höhe und bieten ein Naturschauspiel. Im selben Moment verhilft ein Wunder dem Kind, das von seiner Mutter nicht gestillt werden kann (vgl. E 197), zu seiner rettenden Nahrung. In diesem unvergeßlichen Augenblick sieht die Mutter mit einer in Worten nie zu schildernden Freude, mit einem für andere nie zu ermessenden Troste, aufschwebend in einer im ganzen Jammer wortlos erschütternden Entzückung, wie von ihren Brüsten, erst von der rechten, dann von der linken, sich kleine, in diesem Lichte ebenfalls perlmutterfarbene Springquellen von Milch loslösen, die, von einem sanften, nach Wein und Nelken duftenden Winde getrieben und gelenkt, dem schönen Kinde zwischen die schmale Furche der festen Purpurlippen strömen, während im Garten die Fische mit knisterndem Ton, wie sich senkende Schwärme wilder Möwen, wieder ins Wasser und in die gute Dunkelheit zurückkehren. (E 197)
Das Wunder der Fische rettet Daniel und besiegelt zugleich Jojakims Schicksal, denn Nebukadnezar deutet es als Verehrung seiner Person durch die Natur und begnadigt den König der Juden (vgl. E 200). Damit bewirkt das Wunder, dass 190 191
174
Bócian, Lexikon der biblischen Personen, S. 434. Vgl. Lk 1, 41–42: »Da wurde Elisabeth vom heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du [Maria] mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.«
Daniel ins Leben kommt und Jojakim aus dem Leben scheidet. Und so wie Jesu Geburt durch einen Stern angezeigt wurde192, erscheint auch bei Daniels Loslösung von seiner Familie ein neues Sternbild am Himmel über Babylon. Hier wie dort sind die Sterndeuter ratlos: Greise weisen mit ihren Stöcken gegen den Himmel, wo ein neues Sternbild kreist, im eigenen Lichthof, wie von runden Wölkchen umkleidet, unter dem Diadem der zwölf Gefährten des Tierkreises ist es zu sehen, in fünf Farben funkelnd, von keinem Sternkundigen zu deuten. (E 238)
Daniel ist mit Eigenschaften ausgestattet, die sonst nur Jesus Christus zu eigen sind. Schon als Neugeborener ist er wissend: »So leuchtend im Augenglanz nach all den Tränen, so wissend in den festen Zügen um die Lippen nach allen Verblendungen des von Gott verblendeten Geschlechts Davids und Salomos und Zedekias. Nun blickt es den Vater an, es hebt seine rechte Hand.« (E 195, Hervorhebung Ch.D.). Dasselbe Wissen zeigt der zehnjährige Knabe, als Rahel das Gerberviertel verlässt. »Sein schneefarbenes Antlitz leuchtet inmitten des schmutzigen Gewässers. Er atmet schnell, als wolle er sprechen. [...] Er hebt die rechte Hand ruhig, ohne einen Laut.« (E 222, Hervorhebung Ch.D.). Den Abschied von beiden Eltern vollzieht Daniel also mit einer segnenden Geste, die auch in zahlreiche Muttergottes-Darstellungen Eingang gefunden hat. Am Ende wird die Berufung dieses Menschen mit jener Elischas durch den Propheten Elia verglichen, also einer Gestalt, die vom Judentum als Vorläufer des Messias gedeutet wird.193 Daniel ist jedoch, bei allen Parallelen, kein neuer Jesus. Vielmehr entwirft der Text eine eigene Theosophie, denn das Verhältnis zwischen Gott und Daniel ist partnerschaftlich. Gottferne, Gottnähe? Metonymische Relationen durch das Motiv der Kette In ›Daniel‹, ähnlich wie in den ›Verdorrten‹ und in ›Franta Zlin‹, ist über die Allegorisierung der Figuren hinaus eine kompositorische Motivierung zu erkennen, die, zusätzlich zur finalen Motivierung des Geschehens vor dem Horizont der Legende, semantische Relationen schafft. Sie ist zwar weniger ausgeprägt als in ›Franta Zlin‹, doch baut der Erzähler auch hier semantische Bezüge zwischen freien Motiven auf, die eine Finalität des Geschehens unterstreichen. Ein Beispiel ist die metonymische Relation durch das Motiv der Kette, das in der Geschichte immer wieder auftaucht und die historischen Personen Zedekia, Jojakim, Rahel und Nebukadnezar miteinander verbindet. So liegt der geblendete Zedekia über zehn Jahre lang in Ketten im Gefängnis. Er verliert sie erst als Toter. Seine Fesseln sind »doppelt« (E 194), »eisern« (E 194) und »silbern klingend« (E 103, 203, 192 193
Vgl. Mt 2, 1–3. Der Bibelkommentar beschreibt die Sterndeuter als »babylonische und sonstige Astrologen«. Vgl. Bócian, Lexikon der biblischen Personen, S. 102.
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218). Rahel erinnert sich noch im Gerberviertel an sie: »[S]ie vernahm das feine Silberklirren der Fesseln des Zedekia, der in einer Ecke des Kerkers tastend irrte.« (E 218). Ihr selbst wird der Geruch der Gerberfelle »zu unentrinnbarer Kette« (E 227). Später bewegt sich der entmachtete Nebukadnezar wie Zedekia: Zwar sind seine Ketten nur geträumt, doch ist auch er »wie gefangen an eine Kette geschlossen« (NM 274), und in Nebukadnezar steigt die Gewissheit auf, dass seine Macht zu Ende ist. Als Metapher für einen Zustand der Gefangenschaft verbindet die Kette damit jene Figuren, die Teil der alten Weltordnung sind. Das freie Motiv wird aber auch genutzt, um den paradigmatischen Gegensatz von Gottesbesitz und Gottlosigkeit anzudeuten. So schmückt Jojakims Hals eine »goldene Kette«. Er ist an Nebukadnezars Hof reich und unbeschwert geworden, hat jedoch seinen Gott vergessen: »›Wer ist Gott?‹« (E 209). Zu diesem gottlosen Menschen steht der ›Neue Mensch‹ Daniel im Gegensatz: »Seine Hände waren nicht in Ketten doppelt gebunden.« (E 241). Das Motiv der Kette, so kann man zusammenfassen, bindet in der Erzählung all jene, die sich – bewusst oder unbewusst – in einem (Un-)Verhältnis zu Gott befinden, und die eine körperliche oder seelische Gefangenschaft erleiden. Der Turm zu Babel: Symbol einer Liebe und Gottesbeziehung Insgesamt wird der Turm von Babylon elfmal in der Erzählung erwähnt (E 205, 208, 214, 215 (zweimal), 218, 220, 222, 224, 226, 238). Auf der Ebene der Handlung ist er zunächst als Jojakims Aufenthaltsort bedeutsam. Zehn Jahre zuvor hat der König der Juden den Turm erstmals gesehen, als die gefangenen Juden nach Babylon einziehen mussten. Zum zweiten Mal sieht er ihn, als er befreit wird und sich Babylon nähert, um seinen Bruder zu begraben. Nach dem Abschied von Rahel nimmt Jojakim den Palast in seiner ganzen Pracht wahr. Er wird ihm zum Symbol des unbeschwerten Lebens: In der Nacht hatten sie den Fürsten der Juden mit seinem Bruder und seiner Gattin nach dem Falle Jerusalems hierher geführt. Nie hat er dieses freudig auferbaute höchste Haus der bewohnten Welt gesehen. Nun glühen weiß die Zinnen des Turmes über der in Silberlichtern flirrenden friedvollen Stadt. Zu Füßen des Turmes schmiegt sich dienend der Strom. (E 205)
»[M]an geleitet ihn auf den ungeheuren Turm durch geheime, innere Treppen. Unter sich sieht er die Ferne nicht enden.« (E 208). Der Turm ist ein mythischer Ort, an dem der Jude Jojakim sein Gedächtnis und seine Identität, seinen Willen verliert. Für Rahel hingegen ist der Turm jener Fluchtpunkt am Horizont, an dem ihr Gatte zu finden ist; auf ihn heftet sich deshalb dauerhaft ihr Blick. Als sie den Turm vom Gerberviertel aus nicht sehen kann, wird sie nervös: »[S]ie suchte ihre stillen Höhen, den umgrünten Berg […]. Nun aber im verwehenden Staube der Vorstadt schimmerte der Gattenlosen nirgends der Berg.« (E 218). Daneben steht der Turm für die weltliche Macht Nebukadne176
zars. Er ist ein »quaderförmiger Koloß« (E 214, 224), »zehn Stockwerke hoch« (E 226) und von »neunfachen Treppen« umgürtet (E 214). Jojakims und Zedekias Gefängnis hat er zehn Jahre lang sichtbar überschattet (vgl. E 218), und noch aus der Ferne wirkt die kaiserliche Residenz in Babylon wie ein drohender »dunkler eckiger Berg« (E 215). Dieser »Berg« wirft solche Schatten, dass ganze Stadtteile verdunkelt werden. Näher dem Blick ragte der ungeheure Turm, düster und doch von Glanz umgleißt, in Zinnen gezackt, mit Treppen und Stufen bekleidet, einen ungeheuren Schatten von der sinkenden Sonne abwärts werfend, der riesige Häusermassen mit Finsternis deckte. (E 220, Hervorhebung Ch.D.)
Als Symbol der Herrschaft stellt das massive Bauwerk eine Verbindung zum Himmel her – ähnlich wie früher die Feste Jerusalem (vgl. E 205, 211, NM 273).194 Seine Spitze ist »kaum noch den menschlichen Blicken erreichbar« (E 215), und sie gleißt »in die Abendwolken gewölbt […] in düsternem Rot« (E 226). In der Nacht werden hier lodernde Opferfeuer für den Gott des Feuers, für »Baal« (E 216), dargebracht.195 Als textstrukturierendes Symbol verbindet der Turm sowohl (symbolische) Orte – Himmel und Erde – als auch Figurenschicksale. Gemäß der kommunikativen Absicht des Erzählers weist er dem Leser, ähnlich wie es die zukunftsgewissen Vorausdeutungen tun, den Weg zum Verständnis der allegorischen Bedeutung der Geschichte. Schließlich erzählt auch das Alte Testament von einem Turmbau zu Babel: Hier ist der Turm zum Sinnbild der menschlichen Hybris geworden, Gott auf halber Höhe zu begegnen.196 Diese frühere Gottesbeziehung findet mit Daniel ihr Ende: Er wird als erster Mensch seit langer Zeit von Gott gerufen. Das Ende der alten Gottesbeziehung wird im Text an der Stelle angedeutet, an der Daniel als letzte Figur auf den Turm blickt: Die Betrachtung des Turmes geschieht in einer der Nächte, die seiner Berufung vorausgehen (vgl. E 238).
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Die Stufentürme oder -pyramiden galten nach altmesopotamischer oder babylonischer Vorstellung als Begegnungsstätte zwischen der Erde und den himmlischen Regionen, den Wohnsitzen der Götter. Derjenige, der auf den Plattformen der Stufentürme ankam, hatte den profanen Bereich durchbrochen. – Vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 773. Vgl. 1 Kön 18, 20–40. – Der Prophet Elija fordert die Diener des Baal auf, sie sollten ihren Gott um ein Opferfeuer bitten. Doch während Jahwe selbst mit Wasser getränktes Holz zu entzünden vermag, reagiert Baal nicht auf die Bitten seiner Anhänger. Vgl. Gen 11, 4–8.
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3.3.5. Zur Darstellung der erzählten Zeit: Die Erzählgeschwindigkeit ›Daniel‹ weist im Diskurs einige Merkmale auf, die sich in den vorigen Erzählungen nicht finden. Dazu gehört nicht nur, dass sich die Erzählung um mehrere Figuren, genauer: vier Helden gruppiert, sondern auch, dass die Erzählung einige Inkongruenzen in der Anordnung der erzählten Zeit aufweist, die sich nicht auflösen lassen. Im Folgenden vollziehe ich nach, wie durch die Dauer und Ordnung der erzählten Zeit sowie durch Wechsel in der Erzählgeschwindigkeit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Erkenntnisprozesse der Figuren gelenkt und dadurch eine dramatische Wirkung erzielt wird. Zur Ordnung der erzählten Zeit: Sukzession als vorherrschendes Prinzip Versucht man sich einen Überblick über die erzählte Zeit in ›Daniel‹ zu verschaffen, so lässt sich ein Zeitraum von etwa 20 Jahren ermitteln. Konkret genannt wird die Dauer des Exils der Juden in Babylon bis zu Daniels Geburt, die mehrmals mit zehn Jahren angegeben wird (vgl. E 195, 199, 202, 209, 214, 228). Von Daniels Geburt bis zur Trennung von seiner Mutter vergehen »abermals zehn Jahre« (E 228), während zwischen Daniels Loslösung von seiner Mutter (vgl. E 238) und seiner Berufung etwa ein Vierteljahr verstreicht, wie sich anhand der angegebenen Jahreszeiten des Sommers und des Herbstes rekonstruieren lässt (vgl. E 222, 238, 242). Bei der Anordnung der erzählten Zeit hält der Erzähler eine sukzessive Ordnung ein, mit wenigen Ausnahmen: Die ersten zehn Jahre der Geschichte, die Zerstörung Jerusalems, die Verschleppung der Juden und die Gefangenschaft der Könige in Babylon, werden zu Beginn der Erzählung in einer Analepse wiedergegeben. Sie ist, wie die meisten Rückblenden in ›Daniel‹, an den Horizont einer Figur gebunden, an jenen Zedekias. Auch im weiteren Verlauf wird die Erinnerung an Jerusalem in kurzen Rückblenden zitiert (vgl. E 196, 205). Weitere interne Analepsen, aus der Perspektive der Figur Rahel wiedergegeben, erinnern an die Hochzeit in Juda und den Aufenthalt in der Schlangengrube, mit dem die Erzählung einsetzt (vgl. E 218, 219, 224). Inkongruenzen der erzählten Zeit: Widersprüchliche Angaben Auffallender als diese Analepsen sind in der Anordnung der erzählten Zeit einige Inkongruenzen, die sich auch durch eine mehrfache Lektüre nicht auflösen lassen. So behauptet der Erzähler, Daniels Geburt habe im Sommer stattgefunden (vgl. E 198), um einen Atemzug später zu sagen: »Im Frühling ist das Kind geboren.« (E 198). Dieser direkte Widerspruch lässt sich vielleicht erklären, wenn man den Frühling als metaphorischen Zeitpunkt versteht: Daniels Geburt wird mit dem Fall Jerusalems (im Frühling) in Beziehung gesetzt als einem Ereignis, das auf den Verlust der Gottesbeziehung anspielt. Einen expliziten Hinweis darauf gibt es jedoch nicht. Unklar ist auch die Behauptung des Erzählers, Nebu178
kadnezars Traum und Daniels Berufung hätten sich in einer Nacht abgespielt (vgl. NM 274), denn nur wenige Seiten vorher hat er erzählt, dass Daniel vom »hochströmende[n] Licht« (E 244) des Herrn bei Tag an seinem Werktisch getroffen worden sei. Mag diese Inkongruenz der fehlenden Zusammensetzung beider Fragmente und einer mangelnden Überarbeitung geschuldet sein, so ist bei der folgenden Unstimmigkeit keine einfache Erklärung möglich: Der Wagenlenker, der Rahel ins Gerberviertel bringt, berichtet ihr, König Zedekia sei »gestern bestattet« (E 216) worden. Diese Aussage ist mit der Erzählerrede nicht in Deckung zu bringen. Danach hat Rahel das Gefängnis erst sieben Tage nach Jojakim verlassen und zwei Tage sowie Nächte für die Fahrt ins Gerberviertel gebraucht. Zwischen Zedekias Begräbnis (vgl. E 207) und Rahels Ankunft im Viertel liegen nach Aussage des Erzählers also neun Tage und nicht einer, wie der Wagenlenker sagt. Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen. Dramatisches Erzählen als zeitdeckendes Erzählen: Der Anteil der Figurenrede Betrachtet man die Erzählgeschwindigkeit in ›Daniel‹, so zeigt sich, dass einige Ereignisse herausgehoben, andere stark gerafft oder ganz ausgeblendet werden. Die Konzentration auf Szenen und Dialoge gibt dem Text eine dramatische Wirkung, führt jedoch auch zu einer starken Fragmentierung der Handlung.197 Insgesamt gesehen wird die Erzählung immer langsamer, und am Ende scheinen sich erzählte Zeit und Erzählzeit sogar fast zu decken. In der ersten Handlungsphase berichtet der Erzähler von der Geburt des Helden und dem ›Wunder der Fische‹ (4,5 Seiten), von Jojakims Befreiung aus der Schlangengrube und dem Abschied der Gatten (5,5 Seiten), von Zedekias Begräbnis durch Jojakim und das Volk der Juden (4 Seiten) sowie von Jojakims Eintritt in den Palast (2 Seiten). Die erzählte Zeit beträgt rund zwei Tage und zwei Nächte, der Erzähler benötigt zu ihrer Wiedergabe 16 Seiten. Im Gegensatz dazu rafft er anschließend zehn Jahre erzählter Zeit summarisch auf 3 Seiten, wobei verwendete Tempus-Adverbien wie »oft« und »manchesmal« (E 211) Ereignisse andeuten, die sich wiederholen und einmal erzählt werden. So beschrieben werden unter anderem jene Jahre, die Jojakim im Palast verbringt. Ein abrupter Wechsel zwischen zeitdeckend erzählten Szenen und Summary lässt sich auch bei der Wiedergabe von Rahels Schicksal ab dem 5. Kapitel feststellen: Sie wird sieben Tage später als Jojakim aus der Schlangengrube entlassen (vgl. E 212), reist zwei Tage lang ins Gerberviertel (vgl. E 215) und versucht am Tag darauf, das Palastgebiet zu Fuß zu erreichen (vgl. E 221). Diese Ereignisse decken einen Zeitraum von drei Tagen und Nächten ab. Sie werden von ausführlichen Beschreibungen der babylonischen Umgebung, der Wiedergabe von Figurenge-
197
Zu den Begriffen ›Summary‹, ›Szene‹, ›Ellipse‹, ›Pause‹ und ›Dehnung‹ für die Beschreibung der Erzählzeit und der erzählten Zeit vgl. Genette, Die Erzählung, S. 61–80.
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danken und wörtlich zitierten Dialogen begleitet und auf 8,5 Seiten erzählt. Die Erzählgeschwindigkeit erhöht sich, als der Erzähler Rahels zehn Lebensjahre im Gerberviertel auf nur knapp einer halben Seite rafft (»Jahr um Jahr«, E 221). Das Erzähltempo wird wieder langsamer, als der Erzähler folgende Ereignisse schildert: Rahel fährt zum Palast (vgl. E 222f.), begegnet Jojakim (vgl. E 228), kehrt am nächsten Morgen zurück und sagt sich von ihrem Sohn los (vgl. E 232). Die Reise, für die Rahel etwa eine Woche braucht, stellt der Erzähler auf 11 Seiten dar, wobei allein 4,5 Seiten auf Rahels wörtlich zitierte Figurenrede mit Jojakim entfallen. Rahels Abschied von Daniel wird als wörtlich zitierter Monolog auf 5 Seiten dargestellt (vgl. E 233ff.), während die Rückkehr der Frau ins Gerberviertel in wenigen Sätzen zusammengefasst wird (vgl. E 232). Damit entfallen von 16 Seiten rund 9 Seiten auf die Wiedergabe der Figurenrede. Sie nimmt nur wenige Stunden der erzählten Zeit in Anspruch, aber fast die Hälfte der Erzählzeit. Nach dem dramatischen Abschied wird Daniels Leben ohne seine Mutter (etwa ein Vierteljahr) mittels iterativer Tempusadverbien (»bisweilen«, »nachts« (E 239, 240, 242)) gerafft, danach verlangsamt sich die Erzählgeschwindigkeit. Der Erzähler baut eine deskriptive Pause ein, in der er Daniels Charakter schildert (6 Seiten); dieser unbestimmte Zeitraum endet mit dem singulativ erzählten Ereignis von Daniels Berufung (vgl. E 244ff.). Es umfasst 6,5 Seiten und bringt Erzählzeit und erzählte Zeit zur Deckung. Die Erzählgeschwindigkeit bleibt auch dann langsam, als der Erzähler zu Nebukadnezar wechselt: In einer deskriptiven Pause (2,5 Seiten) setzt die Handlung zunächst ganz aus, während der Leser Informationen über den chaldäischen Kaiser erhält (vgl. NM 271– 273).198 Nebukadnezars Traum, die Dialoge des Kaisers mit seinen Sterndeutern und mit Daniel umfassen etwa 24 Stunden erzählte Zeit, die der Erzähler auf 9 Seiten darstellt. Auf die nicht einmal eine Stunde dauernden wörtlichen Figurendialoge verwendet der Erzähler 6 Seiten, während er die restlichen Stunden auf 3 Seiten rafft. Das bedeutet erneut, dass wenige Stunden Zeit deckend, die restlichen Tage konzentriert oder überhaupt nicht wiedergegeben werden. Die Handlung erscheint dadurch in zunehmendem Maße synkopiert.199 Die Fokussierung auf Figurenworte zu Ungunsten einer detaillierten Wiedergabe der Handlung verleiht dem Text eine dramatische Struktur. Er gleicht einem Stück mit langen Monologen, dessen Regisseur hinter der Bühne steht und bisweilen für kurze Erläuterungen hinter dem Vorhang hervortritt. Die häufige Deckung von erzählter und Erzählzeit erzeugt einen Eindruck von Unmittelbarkeit: Erzählung und erzählte Wirklichkeit scheinen in eins zu fallen. Die Dramatisierung der Erzählung hat auch zur Folge, dass dem Leser das Figurenbewusstsein direkt und ohne narrativen Filter vor Augen geführt wird. Indem
198 199
180
Vgl. NM 273: »Dies ist die Geschichte Nebukadnezars bis zu seinem Traum.« Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 66.
in ›Daniel‹ immer weniger geahnt oder gedacht, dafür aber immer mehr ausgesprochen wird, zeigt der Erzähler auch den zunehmenden Grad an Reflexion und (Selbst-)Bewusstwerdung der Figuren an. 3.3.6. Fokalisierung und Distanz: Zur Darstellung des Figurenbewusstseins Hatten die Erzähler in den zuvor behandelten Novellen nur geringfügig mit direkter Figurenrede gearbeitet, so steht in ›Daniel‹ das Verhältnis von Erzähler- und Figurenrede mit etwa 31:23 Textseiten in einem mehr als ausgewogenen Verhältnis. Die Relation von Erzähler- und Figurenrede verändert sich im Lauf der Erzählung: Während zu Beginn die Erzählerrede dominiert, geht das Wort im Verlauf der Geschichte zunehmend an die Figuren über. Der Eindruck einer Fragmentarisierung der Handlung zugunsten der Darstellung einzelner (philosophischer) Positionen ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Eine Folge dieser Vorliebe für das Figurenzitat ist, dass der Erzähler auf eine psychische Modellierung der Figuren fast vollständig verzichtet. Nullfokalisierung und interne Fokalisierung: Jojakim und Rahel Bei ›Daniel‹ handelt es sich um eine Erzählung, die dominant nullfokalisiert ist.200 Prinzipiell ist damit gesagt, dass der Erzähler Zugang zum Inneren aller Figuren hat, dass er die Möglichkeit der Gedankendarstellung jedoch nur partiell nutzt. Die Erzählung fokalisiert auf Zedekia, Jojakim und Rahel, gibt an manchen Stellen aber auch die Beobachtung eines unbekannten Dritten wieder. Ein Beispiel für eine interne Fokalisierung auf Jojakim ist die folgende Stelle. Hier geht die Fokalisierung mit einer Veränderung der Mittelbarkeit, mit dem Wechsel von erlebter Rede in den inneren Monolog, einher: Er war Herr wie einst, gesalbt mit dem königlichen Öl Jerusalems, Träger der heiligen, jüdischen Krone, da er seinen letzten Fürsten mühelos trug auf seinen starken Armen. [...] [= interne Fokalisierung, erlebte Rede] Wo sind meines Gottes Tempel. Längst zerfallen. [= interne Fokalisierung, innerer Monolog] (E 204f.)
Auch in Rahels Gedanken und Gefühle hat der Erzähler Einblick. Er versprachlicht sie im Gedankenbericht oder in erlebter Rede, wobei letztere Darstellungsweise die größere Unmittelbarkeit suggeriert und die Figur als eine Reflektierende charakterisiert. Ihr Busen wurde schwer, wußte sie, ob aus übervoller Mutterbrust, wußte sie, ob aus bekümmertem Herzen? [...] [= interne Fokalisierung, erlebte Rede] Schloß sie die Augen, hörte sie über den tiefen, schnellen Atemzügen ihres Kindes die Nachtbäume der Höhle rieseln, Palmen, Pappeln, Sykomoren, sie vernahm das feine Silberklirren
200
Vgl. ebd., S. 134.
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der Fesseln des Zedekia, der in einer Ecke des Kerkers tastend irrte. [= interne Fokalisierung, Gedankenbericht] (E 218)
Hingegen versucht der Erzähler nicht, ins Innere von Daniel zu blicken. Daniels Psyche wird in der Erzählung ebenso ausgeblendet wie Nebukadnezars Traum. Vielmehr beschreibt der Erzähler seinen Protagonisten mit hymnischen Sätzen als ein wundersames Geschöpf, das mit menschlichen Kategorien nicht zu fassen ist: Er zweifelte nie. Das Gewicht der Sorge hatte er abgeschüttelt, Sehnsucht zehrte nie an ihm. Die Schwere der Welt hatte er abgetan, bevor sie ihn drückte. So konnte er nie ermatten. Er hatte als Kind die Maße ausgemessen, die Lasten verteilt. Er durchforschte die Weisheiten der Schriften und ihr Neues kam nie zu Ende. Nie wurde er bitter, sein Mund kannte keine Traurigkeit, seine schnell hauchende Brust kein Betrübnis. Seine Hände waren nicht mit Ketten doppelt gebunden. [= Nullfokalisierung, Erzählbericht] (E 241)
Auch Nebukadnezars Gedanken werden dem Leser nicht mitgeteilt. Der Erzähler beschränkt sich darauf, die Figur mit äußeren Attributen zu charakterisieren, wodurch zwar die historische Bedeutung und Stärke des Herrschers hervorgehoben, zugleich aber auch eine gewisse Statik der Figur suggeriert wird. Nebukadnezar ist wie Daniel kein psychischer Charakter, sondern ein (Stereo-)Typus, jener der orientalischen Welt. Nebukadnezar, Kaiser von Babylon, bezauberte alle Menschen durch den Smaragdglanz seiner knabenhaften, schmalen Augen, hoch über dem Gewölbe seines schwarzblauen Bartes, durch die gewichtlose Anmut seines königlichen Ganges, durch sein leises Herrscherwort, durch seine edel, in sich gefügte, große, starke, ruhige Hand. Nie vor ihm noch nach ihm hat die bewohnte Erde einen König seiner Art gesehen. [= Nullfokalisierung, Erzählbericht] (NM 271)
Die wenigen zitierten Passagen zeigen, dass der Erzähler seine privilegierte Position nicht zu einer Innenschau aller Personen nutzt. Vielmehr konstruiert er zwei Figurenpaare, deren erstes aus Fleisch und Blut ist (Jojakim und Rahel) und einen inneren Wandel erlebt, während das zweite Paar ein abstraktes Prinzip, die Sphären von Gott und Welt, verkörpert. Jojakim und Rahel sind zwar durch Anspielungen auf die judenchristliche Heilsgeschichte als allegorische Figuren charakterisiert; in der Erzählung steht jedoch allein Daniel für einen neuen Gottesbund und einen ›Neuen Menschen‹, der die Unendlichkeit von Welt und Kosmos vereint. Da seine Funktion eine typisierende ist, bedarf es keiner individuellen Charakterisierung – und keiner psychologisierenden Innenschau. Augenzeuge oder Deuter? Der konkurrierende Code des Erzählers Die dominant nullfokalisierte Erzählung wird an manchen Stellen intern fokalisiert, ohne dass der Leser wüsste, aus wessen Perspektive das Erzählte wiedergegeben wird. Ein Beispiel dafür ist die Schilderung von Daniels Geburt. Der Leser hat den Eindruck, an Ort und Stelle zu sein und einem Zeugen, einem 182
Reporter über die Schulter zu schauen. Diese Darstellung geht mit dem Wechsel ins Erzähltempus Präsens einher. Wie sorgfältig das Streben des Gatten, der ein Häufchen Blätter unter den schwarzen, durch die dünnen Haare hindurch heiß anzufühlenden Scheitel der Gattin ausbreitet, ein zweites Häufchen Blätter unter ihren Hüften, die weiß und in wildem Schwung durch den braunen Dämmer der Höhle schimmern, und ein drittes, als wäre es für eine Tote, die im engen Sarge gelagert würde, unter den Fersen der leidenden Mutter entfaltet. Und als wäre es für eine Sterbende, die sich mit einem nie zu beschreibenden Seufzer auf dieser Lagerstatt ausstreckt, haucht der Gatte über die Gattin nur das leere Totenwort: ›Ach Herrin! Ach, Liebste! Rahel!‹ (E 195, Hervorhebung Ch.D.)
Unbeantwortet bleibt die Frage, wer es ist, der hier sieht. Denn diese Person scheint nicht nur in der Lage zu sein, mitzuerleben und zu beobachten, sondern auch schon zukunftsgewiss zu deuten, was sie sieht. So erinnert sie Daniels Geburt an einen Sterbeakt, denn die gebärende Mutter hat Ähnlichkeit mit einer »Toten« (E 195). Dass auf Daniels Geburt in der Tat Zidikijas physischer und Jojakims psychischer Tod, Rahels Anonymität und Nebukadnezars tödliche Verstörung folgen, konnte ich schon zeigen. Die Figuren erfahren davon erst im Verlauf der Erzählung. Der Beobachter der Szene scheint jedoch schon mehr zu wissen – warum sonst drängen sich ihm solche Vergleiche auf, die auf ein zentrales Thema der Erzählung – Tod und Leben – hinweisen? Der Augenzeuge spielt auf ein Wissen an, das auf den Standpunkt der Erzählung zurückgeht – offenbar handelt es sich um den Erzähler selbst. Dann würde der extradiegetische Erzähler jedoch eine epistemische Grenze durchbrechen und sich in eine Grauzone begeben: Sein Standort wäre figural, sein Wissen narrativ. Es liegen zwei konkurrierende Codes vor, ein Phänomen, das ich an früherer Stelle mit Genette als ›doppelte Fokalisierung‹ umschrieben habe. Dass der Erzähler eine epistemische Grenze durchbricht und narrative Grauzonen in Kauf nimmt, mag mit seiner Haltung zusammenhängen. Er ist ein Vermittler, der weiß, dass er bedeutende Ereignisse erzählt. Seine Euphorie führt ihn zur Annäherung: Er erlebt die Dinge im Erzählen gleich einer Figur, und er deutet sie im Akt des Erzählens. Distanz: Die Darstellung der Figurenworte Ich habe zu Beginn dieses Unterabschnitts auf den hohen Anteil an Figurenrede in ›Daniel‹ hingewiesen und angedeutet, dass das Verhältnis von privilegierter Erzähler- und unterprivilegierter Figurenrede fast ausgewogen ist. Dadurch entsteht eine Rede- und Kommunikationssituation, die sich durch ein ›partnerschaftliches‹ Verhältnis zwischen Erzähler und Figuren auszeichnet: Der Erzähler lässt seine Helden selbst zu Wort kommen. Gleichzeitig ergeben sich zum Teil auch fließende Übergänge zwischen Erzähler- und Figurenrede. So wiederholt der Erzähler bisweilen Sätze aus der Figurenrede, ohne sie deutlich als Zitate zu kennzeichnen. Ich nenne hierfür ein paar Beispiele. Als Rahel ihren Gatten 183
im Palast wiedersieht, versucht sie ihn mit seinem außergewöhnlichen Kind zu locken: »Es weiß, was wir ahnen.« (E 231). Diesen Satz nimmt der Erzähler wenig später als zukunftsgewissen theoretischen Satz in seiner Rede wieder auf. Er wendet sich direkt an den Leser, den er in seine Aussage sogar mit einschließt: »Was wir ahnen, wusste er.« (E 243, Hervorhebung Ch.D.). Andere theoretische Sätze in der Erzählerrede lassen sich erst nachträglich als Figurenrede identifizieren. So stellt der Erzähler kurz vor Daniels Berufung durch den Boten Gottes die Behauptung auf: »Denn was heilig ist, ist das Menschenlose.« (E 241). Dieser Satz kehrt, wenige Seiten später in nur geringfügiger Abwandlung, in der Rede des Gottesboten wieder. [Gottes Bote spricht, Ch.D.] Sei niemandes Liebling, niemandes Vater, keines Lebenden Ahne. Heilig ist das Menschenlose. Höre es und folge mir nach. Denn ich bin sehr allein. (E 247, Hervorhebung Ch.D.)
Der Erzähler hat den Satz der Figur schon vorab zitiert. Für den Leser wird die Aussage aber erst nachträglich als vorweg genommene (unmarkierte) Figurenrede erkennbar. Durch die unmarkierte Übernahme von Figuren- in die Erzählerrede entsteht für den Leser der Eindruck, dass der Erzähler Handlung und Aussagen der Figuren bejaht und bekräftigt. In kommunikativer Hinsicht erschweren diese unmarkierten Zitate dem Leser zwar die Wahrnehmung, welche (erkenntnistheoretische) Aussage einer Figur und welche dem Erzähler zuzurechnen ist. Zugleich lässt dieses ›Fluktuieren‹ zwischen Erzähler- und Figurenrede einen Rückschluss auf den Horizont des Erzählers zu. Zwar scheint er durchaus in der Lage, das Geschehen zu ordnen, zu strukturieren und zu deuten. Dass er jedoch theoretische Sätze der Figuren ohne Inquit-Formeln in seine Rede übernimmt, deutet darauf hin, dass er mit den getroffenen Aussagen der Figuren nicht nur intellektuell konform geht, sondern sich auch emotional mit ihnen identifiziert: »Heilig ist das Menschenlose.« (E 241, 247). Für den Erzähler von ›Daniel‹ kann daher gelten, was Martínez so formuliert hat: »Der allwissende Erzähler sinnt dem Leser im Spiel der literarischen Fiktion dasselbe an, was der inspirierte Prophet dem Gläubigen […] vermitteln will: Gewißheiten. Solchen unfehlbaren Stimmen der Wahrheit zu glauben, entlastet von den Anstrengungen der Rationalität.«201 3.3.7. Stimme und Erzählsituation: Beobachter oder Prophet? Deutlich wurde schon, dass ›Daniel‹ von einem rhetorisch gewandten und in der Erzählung anwesenden Erzähler präsentiert wird, der das Geschehen nachgeordnet erzählt. Ich konnte zeigen, und dass dieser Erzähler perspektivische Grauzo-
201
184
Matias Martínez, Allwissendes Erzählen. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, hg. von Rüdiger Zymner und Manfred Engel, Paderborn 2004, S. 139–154, hier S. 154.
nen in Kauf nimmt, um seine positive Haltung dem Geschehen gegenüber zum Ausdruck zu bringen, und dass er Figurenworte unmarkiert in die Erzählerrede übernimmt. Abschließend möchte ich noch auf die Erzählsituation und den Wechsel zwischen den Erzähltempi Präsens und Präteritum zu sprechen kommen. Auch dieser Wechsel ambiguisiert die Distanz zwischen Narration und Geschichte, was ich nun noch vertiefen möchte. Homodiegetisierungs-Effekte durch das Präsens: Der prophetische Erzähler In ›Daniel‹ lässt sich ein Wechsel des Erzähltempus Präteritum ins Präsens beobachten. Er führt zu einem ›Homodiegetisierungs-Effekt‹, für den es keine logische Erklärung zu geben scheint. Warum wählt ein Erzähler, der offenbar aus der Retrospektive berichtet und mit Vorausdeutungen arbeitet, für seine Erzählung das Tempus Präsens? In der Textgrammatik und der Erzähltheorie wird das Präsens häufig mit der Funktion des ›Besprechens‹, das Präteritum mit der Funktion des ›Erzählens‹ in Verbindung gebracht. Das Präsens wird als argumentierende Präsentationsform definiert, das eine gespannte Rezeptionshaltung fordert und in narrativen Texten dazu dient, »Zeitlosigkeit zu fingieren«202. Auch kann ein Erzähler im Präsens nicht-narrative Hintergrundinformationen oder allgemeine Botschaften geben.203 Der Gebrauch des Präteritums signalisiert dem Leser eine entspannte Rezeptionshaltung: Es wird von Vergangenem berichtet, das ihn nicht direkt zu eigenem Handeln auffordert.204 Das Verhältnis von Präsens und Präteritum könnte also so beschrieben werden, dass das Präsens die bevorzugte Form des Kommentierens und Kommunizierens ist, das Präteritum hingegen der Narration der Geschichte dient. Einem heterodiegetischen Bericht mischt das Präsens immer auch »ein Tröpfchen Homodiegezität«205 unter: Es suggeriert die ›Gleichzeitigkeitsbedeutung‹ von Erzählen und Erzähltem, »da dieses Tempus stets, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, einen Erzähler konnotiert, der – denkt sich der Leser unweigerlich – mit einer Handlung, die er aus einer solchen Nähe schildert, doch wohl selbst irgendwie zu tun haben wird«206. Der ›Homodiegetisierungs-Effekt‹ stellt somit die epische Distanz in Frage, »da dieses Tempus fast unwiderstehlich eine Präsenz des Erzählers in der Diegese suggeriert«207.
202 203 204
205 206 207
Genette, Die Erzählung, S. 246. Vgl. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, S. 204. Ebd., S. 198. – Zur Kritik an Weinrich vgl. Jürgen H. Petersen, Erzählen im Präsens. Die Korrektur herrschender Tempus-Theorien durch die poetische Praxis in der Moderne. In: Euphorion 86 (1992), S. 65–89. Genette, Die Erzählung, S. 247. Ebd. Ebd.
185
Auch in ›Daniel‹ scheint es so, als komme das Erzähltempus Präsens immer dann zum Einsatz, wenn Handlungselemente von großer Intensität geschildert werden. Das dramatische Präsens erzeugt Nähe, Unmittelbarkeit und Spannung.208 Diese Erklärung muss allerdings dahingehend relativiert werden, dass der Erzähler das Präsens nicht nur dort nutzt, wo er als Augenzeuge ›anwesend‹ ist, sondern dass er es offenbar willkürlich einsetzt. So werden in ›Daniel‹ nicht nur theoretische Sätze und Szenen im Präsens wiedergegeben, sondern auch große Teile der Handlung. Einige Anzeichen sprechen dafür, dass der Erzähler die Tempi nutzt, um zwei Zeitstufen zu illustrieren, die in der Geschichte eine inhaltlich-philosophische Bedeutung haben: Vergangenheit und (neue) Gegenwart. So stehen vor allem jene Passagen im Präteritum, die Rahels Schicksal wiedergeben, während Jojakims Vergessen, das Auftreten Daniels und die Verheißung einer ›neuen‹ Zeit mit dem Präsens korrespondieren. Allerdings deckt sich diese Beobachtung nicht hundertprozentig mit der jeweiligen Tempusverwendung; an manchen Stellen bleibt der Erzähler willkürlich und das Rätsel der Zeit für den Leser nicht bis ins Letzte auflösbar. Genettes Beobachtung, dass eine im Präsens erzählende Stimme auch immer irgendwie in der Geschichte anwesend sei, stützt die schon bei der Distanz und Fokalisierung gemachte Beobachtung: Der Erzähler ist bereit, narrative Grauzonen in Kauf zu nehmen, um sich selbst zu involvieren und Zeugnis abzulegen – ganz wie ein Prophet. Indem er die Distanz zwischen Erleben und Erzählen aufhebt, erzeugt er, kommunikativ betrachtet, eine komplexere Erzählsituation und appelliert an die Wachsamkeit des Lesers. Das Unglaubliche kann stets eintreten.
3.4. Apokalypse, Allegorie, Legende: ›Der Neue Mensch‹ in ›Daniel‹ Weiß’ Erzählung ›Daniel‹ beginnt, wo das Buch Daniel im Alten Testament aufhört: mit dem ›Neuen Menschen‹. Der Autor erzählt von der bevorstehenden Ablösung einer alten durch eine neue Ordnung. Die Menschen müssen sich im Bewusstsein dieses Wandels für eine Seite entscheiden. Nicht immer haben sie die Wahl, wie ihr Leben aussehen soll, aber immer können sie entscheiden, ob sie ihr Schicksal annehmen oder ablehnen. Das, so das Fazit der Erzählung, ist die Wahl des sich selbst bewussten Menschen. Nur ›Daniel‹, der Held, ist über alle Existenz- und Erkenntnisproblematik erhaben. Er ist eins mit Gott, ihm werden Wahrheiten in mystischen Visionen zuteil. Existenz ist ihm kein Rätsel. Der Prätext gibt einen Hinweis, dass dieser ›Neue Mensch‹ durchaus mit religiösen Vorstellungen spielt. »Leget von Euch ab den alten Menschen […] und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.« So steht es im Epheser-Brief des Neuen Testaments (4,
208
186
Vgl. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, S. 217.
22–24). In ›Daniel‹ hat der ›Neue Mensch‹ seine Arbeit erst begonnen. Die Niederlage der Juden und Nebukadnezars Ablösung sind Voraussetzungen dafür, dass jene neue Zeit, der die Figuren in ›Daniel‹ zustreben, anbrechen kann. Die Gattung der Apokalypse entspricht der Programmatik des literarischen Expressionismus209, der die alte Form der Weltuntergangserzählung neu entdeckt, um die eigene als krisenhaft empfundene Gegenwart neu zu erzählen und auf eine Überwindung der Krise zu hoffen. Für die Offenbarung des Johannes, die der Tradition apokalyptischen Denkens den wichtigsten Anstoß gab, war der Weltuntergang nur eine Durchgangsphase – allerdings eine notwendige – zu einer ›neuen Erde‹, einem ›neuen Jerusalem‹. Dasselbe gilt für apokalyptische Visionen, die in der Tradition des jüdischen Messianismus stehen, trotz mancher Unterschiede zur christlich inspirierten Apokalyptik. [...] Der Gedanke der Erlösung jedenfalls bestimmte die Apokalypse bis in unser Jahrhundert, auch wenn sie sich von ihrem religiösen Ursprung entfernt hat: die alte unvollkommene und verdorbene Welt muß zerstört werden, damit eine neue, vollkommene aufgerichtet werden kann.210
›Erkennen‹ hat in ›Daniel‹ allerdings ebenso schmerzliche wie befreiende Qualitäten: Erkennen kann nur, wer von Gott weiß. Rahel kann erkennen, nicht aber Jojakim. Daniel selbst verkörpert die mystische Qualität der Seele. Was er erlebt, ist mit einer Vorstellung von Selbsterfahrung und -aufhebung identisch, die Martin Buber bereits 1913 in seinem ›Daniel‹ beschrieben hatte. Buber hatte eine Lebenslehre ohne feste religiöse Bindung entwickelt, in der er die Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens zu fassen versuchte. Die »beseligende Überwindung des Ich-Bewußtseins«211 durch Anschauung und Transzendierung, die der Religionsphilosoph hier formulierte, entsprach einer Position, die sich nicht selbstreflexiv begrenzte, sondern in der mystischen Vereinigung mit dem Objekt hingab. Nur so war umfassendes Selbst-Bewusstsein möglich: Und plötzlich, als ich die Augen weghob, merkte ich: ich hatte im Anschauen nichts gewußt von ›Objekt‹ und ›Subjekt‹; in meiner Anschauung waren der Glimmer und ‚ich’ eins gewesen; ich hatte in meiner Anschauung die Einheit gekostet. [...] Und da, Lukas, fühlte ich erst: Ich; da erst war ich.212
Der Wunsch, Daniels Geschichte als moderne Parabel zu schreiben, führt bei Weiß zur Allegorisierung der Figuren aus dem Prätext und zur Gestaltung von ›Menschheitssymbolen‹, die der Autor mit seiner eigenen Theosophie überformt.
209 210
211 212
Vgl. Anz, Literatur des Expressionismus, S. 45. Klaus Vondung, Literarische Apokalyptik in der Zeit des Expressionismus. In: Die Modernität des Expressionismus, hg. von Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart u.a. 1994, S. 142–150, hier S. 142. Längle, Vatermythos, S. 42. Martin Buber, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung. In: Buber, Werke. Bd. 1: Philosophische Schriften, Heidelberg 1962, S. 9–76, hier S. 73f.
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Darauf weisen die Impliziten Transfersignale hin. Himmel und Erde sind Ausdruck der polaren Spannung des Lebens, Adam und Eva stehen für die Grundproblematik des Willens und des Schicksals.213 Jeder Mensch, der zur Welt kommt, entdeckt die Problematik um Gott, Welt, Schuld, Sünde und Erlösung wieder neu. Weiß nimmt diese traditionelle Weltsicht, um eine Mensch-Gott-Beziehung zu stilisieren, definiert den Menschen aber weniger aus seiner Abhängigkeit von Gott heraus als vielmehr durch eine Partnerschaft mit Gott. Auch Gott kann ohne den Menschen nicht leben. Darin gleicht er ›Atua‹, der ohne Moa keine Welt und keine Menschen zeugen kann. In narrativer Hinsicht baut Weiß auf einen prophetischen Erzähler, der zukunftsgewisse Vorausdeutungen mit einer bejahenden Haltung zum Geschehen verbindet, und dessen simultanes Erzählen die Distanz der beiden narrativen Ebenen bisweilen zum Verschwinden bringt. Diese Narration verwirrt den Leser zwar immer wieder, führt aber auch zu seiner Aktivierung. Schließlich ist das mit Worten kaum zu beschreibende Übernatürliche in ›Daniel‹ irritierend und faszinierend zugleich: Es ist Teil des Göttlichen und damit der menschlichen Seele – auch der Seele des Lesers.214
4.
Eine »überkommene Form des Daseins«. – ›Marengo‹
Vermutlich erst nach 1924 beginnt Weiß mit der Arbeit an seinem Romanfragment ›Marengo‹. Der Text zeigt jenen sachlichen Stil, der Weiß’ episches Werk nach seiner expressionistischen Phase etwa ab dem Jahr 1924 wieder prägt. »›Sie wollen den epischen Fluß, nach dem expressionistischen Sturzbad?‹ – ›Ja. So, wie ich für mein persönliches Leben Frieden ersehne, so möchte ich in meinen Werken Frieden.‹«215 Als Folge dieses epischen »Friedens« entstehen Plots, in denen nicht mehr Wunder und Visionen, Götter und Propheten den Verlauf der Geschichte bestimmen, sondern historische Umstürze und Zeitläufte. Diesen Plots wendet sich Weiß um 1924/25 zu. Da ›Marengo‹ am Anfang dieser Schaffensphase steht, ist das Romanfragment auch für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung. Mit seiner Problematik gleicht ›Marengo‹ dem Helden in Weiß’ erstem vollendeten Roman nach 1926, ›Boetius von Orlamünde‹ (1928). Wie Marengo entstammt auch dieser Protagonist einem alten unbekannten Geschlecht, und wie Marengos ist auch Boetius’ Identität rätselhaft,216 wie er leidet ›Der Aristokrat
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Vgl. Kap. II.2., S. 65ff. Zur »Aktivierung der Seele des Lesers« vgl. Müller/Tatzel, »Das Klarste ist das Gesetz«, S. 14. Weiß, Balzac als Romanfigur. In: Berliner Börsen-Courier, 7. August 1925. – Wiederabgedruckt in: WBl, 1. F., 5 (1977), S. 1–7, hier S. 5. Die ersten Sätze des Romans lauten: »Ich heiße Boëtius Maria Dagobert von Orla-
Boetius‹ unter einer überkommenen Lebensform, die ihm seine Eltern durch seine adelige Erziehung weitergaben.217 Am auffälligsten ist die Angst beider junger Männer vor dem Tod: Boetius nennt ihn nur den »T.« (AR 15). In ›Boetius‹ wie in ›Marengo‹ nimmt Weiß die direkte Konfrontation seiner Figuren mit dem Kosmos zurück und verlagert die Geschichte in eine realistische, aber raumzeitlich unbestimmte Welt. Gleichzeitig verzichtet er auf eine Psychologisierung der Existenz- und Erkenntnisproblematik, indem er die Handlung nicht mehr als Krankengeschichte, sondern als Protokoll einer Suche anlegt. Thematisiert wird ein Denk- und Erkenntnisprozess, der vom Erzähler kaum kommentiert, sondern vielmehr fast phänomenologisch dargestellt wird.
4.1. Zur Publikationsgeschichte von ›Marengo‹ Bis zum Jahr 1927 lag ›Marengo‹ nicht als eigenständige Buchpublikation vor. Bis zur Aufnahme des Romanfragments in Weiß’ Erzählband ›Dämonenzug‹ veröffentlichte der Autor diese Prosa allerdings dreimal in Zeitschriften und Anthologien. 1926 erschien unter dem Titel ›Marengo oder das Leben ohne Illusionen‹ außerdem eine kurze Vorstudie in der von Ernst Rowohlt verlegten Wochenschrift ›Das Tage-Buch‹; sie war mit dem Zusatz versehen: »Aus einem neuen Roman«.218 Die Vorstudie entspricht im Wesentlichen dem ersten Kapitel der Erzählung, wobei der Erzähler hier ausführlich auf die Charakterzüge seines Helden eingeht. Diese scharfe Konturierung wird im späteren Romanfragment vermieden.
217 218
münde, oder besser gesagt, ich nenne mich Orlamünde. Das historische Geschlecht derer von Orlamünde ist im 16. Jahrhundert ausgestorben. Orlamünde ist also hier bloß ein Name. Ich entstamme einem anderen uradeligen Geschlecht, das ich nicht nennen will.« – Vgl. Ernst Weiß, Boetius von Orlamünde. Roman, Berlin 1928; Weiß, GW, Bd. 9: Der Aristokrat, S. 7 [fortan: AR]. – Orlamünde, eine kleine Stadt im südlichen Saale-Tal, war bis 1373 Sitz der Grafschaft Weimar-Orlamünde. Die Linie starb 1486 aus. Während Boetius seine adelige Lebensweise aufgibt und als Arbeiter ein neues Leben beginnt, erweist sich Marengos Erkenntnisprozess als offen, wie ich gleich zeige. Ernst Weiß, Marengo oder das Leben ohne Illusionen. Aus einem neuen Roman. In: Das Tage-Buch 7 (1926), S. 562–565. – In dieser Vorarbeit wird Marengo als zielloser Mensch dargestellt. Frühere Beziehungen zu Frauen werden angedeutet, seine Ungebundenheit als Resultat dieser Erfahrungen erklärt. Der Leser erfährt von Marengos literarischer Vorliebe für Cervantes. Der Erzähler vergleicht ihn selbst mit Don Quichote, denn Marengo dient die abendliche Zeitungslektüre als Ersatz für ein eigenes Leben; mit ihrer Hilfe wird sein Leben zur ›Illusion‹. Insgesamt erscheint der Protagonist in der Vorarbeit plastischer, aber auch naiver als der Held des späteren Romanfragments. Aus der Vorarbeit strich Weiß später vor allem solche Stellen, die Marengos Don Quichotesken Charakter betonten, etwa diesen Satz auf S. 563: »Er ließ den Sonntag Nacht sein, schloß die Fenster, zog die Vorhänge zusammen, las den Don Quichote, auch Dickens, bewunderte Goethe und rauchte Zigarren, er lüftete erst abends mit dem Eintritt der Dunkelheit.«
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Eine erste Version des Romanfragments veröffentlichte Weiß 1926 in der Zeitschrift ›Die neue Rundschau‹ des S. Fischer Verlags, in dem 1928 auch Weiß’ Roman ›Boetius von Orlamünde‹ publiziert wurde. Ein mit der Fassung in der ›Neuen Rundschau‹ identischer Abdruck der Erzählung erschien im März/ April 1926 in der ›New Yorker Volkszeitung‹.219 1927 folgte ein Nachdruck dieser Fassung in der Anthologie ›Drei Bücher der Liebe. Die schönsten Liebesgeschichten der Lebenden‹ im Ullstein Verlag, bei dem Weiß 1925/26 Hausautor geworden war.220 Zum vierten Mal veröffentlichte Weiß sein Romanfragment 1928 in seinem Erzählband ›Dämonenzug‹.221 Diese Version ist geringfügig stilistisch überarbeitet, ebenso ambiguisierte Weiß die Perspektive des Protagonisten, indem er einzelne Sätze strich.222 Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass Weiß den Text bei weitem nicht so sehr veränderte wie seine frühen Novellen und Fragmente, die er gleichfalls für den Erzählband bearbeitete. Dies mag an der späten Entstehung des Fragments liegen, weshalb es Weiß’ aktuellen Vorstellungen im Wesentlichen bereits entsprach. Warum aus der rund 23 Seiten langen Erzählung jedoch kein Roman mehr wurde, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Offensichtlich ist nur, dass Weiß den Text notdürftig zu Ende brachte, um ihn in Zeitschriften und seinem Band zu publizieren.
4.2. Zur Rezeptions- und zur Forschungsgeschichte Auf ›Marengo‹ gab es kaum zeitgenössische Reaktionen. Die Rezensenten des ›Dämonenzug‹ streiften die Erzählung 1928 mit kurzen Bemerkungen, wobei Paul Wiegler vor allem das Fragmentarische der Erzählung hervorhob: Es handele sich um eine »noch unfertige, ganz ins einzelne aufgelöste Geschichte«223, die der Fortsetzung und Vollendung harre. Bernhard Flemes charakterisierte ›Marengo‹ als jene Erzählung, in der die »Dämonie« des Bandes »am schwächsten« ausgeprägt sei224, während der Kritiker der Schweizer Tageszeitung ›Der
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Vgl. Ernst Weiß, Marengo oder das Leben ohne Illusionen. Erzählung von Ernst Weiß. In: New Yorker Volkszeitung, 30. März bis 5. April 1926. Vgl. Weiß, Liebe ohne Illusion. In: Drei Bücher der Liebe, S. 40–77. Vgl. Weiß, Marengo. In: Weiß, Dämonenzug, S. 191–234. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 104–127. Vgl. Weiß, Liebe ohne Illusion. In: Drei Bücher der Liebe, S. 68. – Weiß eliminierte den einzigen Satz, der in der Erstfassung etwas über die Gefühle des Helden verrät: »Ihr Schweigen tat ihm weh. Er erwartete wenig von ihr, sie erwartete nichts von ihm.« (Hervorhebung Ch.D.). – Vgl. die entsprechende Stelle in der letzten Fassung, E 121: »Er erwartete wenig von ihr, sie nichts von ihm.« Paul Wiegler, Neue Erzähler: Ernst Weiß. In: Vossische Zeitung, Unterhaltungsbeilage Nr. 263, 1926. – Wiederabgedruckt in: EWM, S. 79–83, hier S. 82. Bernhard Flemes, Neue Prosa? In: Hannoverscher Kurier, 13. Dezember 1928, S. 3.
Bund‹ in diesem Helden einen »Einsame[n]« sah, »den das Glück der Liebe nur einmal anlacht«225. Auch die Weiß-Forschung hat sich mit dem Romanfragment bisher nur wenig beschäftigt. Dierick sieht vor allem thematische und narrative Parallelen zwischen ›Marengo‹ und den Texten der Vorkriegszeit. Marengos Schicksal sei »kaum beneidenswerter als das von Edgar und Esther in ›Die Verdorrten‹«226. Dass nicht nur in der Figurenkonstellation, sondern auch im Erkenntnisprozess der Helden Ähnlichkeiten festgestellt wurden, ist allerdings erstaunlich. Denn ›Marengo‹ endet nicht mit dem seelischen oder physischen Tod des Protagonisten, sondern weist einen offenen Schluss auf. Auch der qualitative Unterschied des Bewusstseinszustandes des Helden zwischen Beginn und Ende der Erzählung wurde unterschätzt. Allein Delfmann weist darauf hin, dass sich in ›Marengo‹ am Ende Möglichkeiten zeigen, »sich im Bewußtsein seiner selbst zur Erkenntnis der eigenen ›Existenz‹ aufzuschwingen«. In ›Marengo‹, so Delfmann, werde zum ersten Mal die Erkenntnis vertreten, »daß es für den Menschen die Möglichkeit der Entwicklung […] geben kann, vorausgesetzt, er bringt genug Entschlossenheit und geistige Beweglichkeit mit«227.
4.3. Eine »überkommene Form des Daseins«. – Interpretationsskizze In ›Marengo‹ wird, wie in ›Daniel‹, ein Erkenntnisprozess dargestellt, der die Voraussetzung für den Beginn einer neuen Existenz darstellt. Allerdings geschieht die Ablösung einer alten durch eine neue Lebensform nicht mehr explizit, wie in der expressionistischen Erzählung, durch äußere Einflüsse oder prophetische Fingerzeige, sondern durch den inneren Wandel der Hauptfigur in einem bestimmten Moment seines Lebens. ›Marengo‹ gehört damit zu den handlungsärmsten und auf den ersten Blick auch unspektakulärsten Kurzprosatexten von Ernst Weiß. Wie bei den frühen Novellen und Fragmenten des Autors ist die Handlung dieser Erzählung auf einer ersten Lektürestufe gut verständlich. Dennoch hinterlässt die Geschichte einen seltsamen Eindruck und weckt viele Fragen: Was geschieht dem Helden, und warum geschieht es auf diese Weise? Zu welcher Einstellung kommt der Held, und was deutet der Erzähler an? Inwiefern hat der Leser an diesem Prozess teil, und was davon wird ihm mitgeteilt? Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Problematik ›Marengo‹ bewegt, und welche Position der Erzähler einnimmt. Ich zeige ästhetische Verfahren der Bedeutungspotenzierung im Sinne der parabolischen Erzählkonzeption und die Darstellung des 225 226 227
Sch-r., Ernst Weiß. Dämonenzug. In: Der Bund. Eidgenössisches Zentralblatt und Berner Zeitung, Samstags-Ausgabe, 9. Februar 1929, S. 3. Dierick, Heilige und Dämonen, S. 247. Delfmann, Heldentum, S. 116.
191
Heldenbewusstseins auf. Die Analyse macht anschaulich, dass in dieser scheinbar klar erzählten Handlung einige merkwürdige Dinge geschehen, deren Sinn sich dem Leser nicht gänzlich befriedigend erschließt. 4.3.1. Die Geschichte: Das Muster der »Weg-Ziel-Struktur« ›Marengo‹ wird von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler vermittelt, der seine Erzählsituation nicht ausgestaltet, der jedoch als Organisator der Geschichte im Text anwesend ist. Bei einer äußeren Einteilung der Erzählung in sieben Kapitel (Fassung letzter Hand) sind zwei Handlungsphasen zu unterscheiden: In einer ersten kurzen Phase wird der Geschäftsmann Felix R. dargestellt. Sie dauert bis zum 32. Geburtstag des Protagonisten (Kap. 1). Es schließt sich eine zweite Phase an, die sich als Erlebnis- und Reflexionsphase des Helden, als die (Wieder-)Entdeckung seines ›inneren‹ Menschen charakterisieren lässt (Kap. 2–7). In diesem Sinne kann von einer »Weg-Ziel-Struktur« in der zweiten Handlungsphase gesprochen werden. Die Reise führt den Helden vom ›Nicht-Leben‹ des ›äußeren‹ Menschen hin zur Ahnung eines neuen ›Lebens‹, die der ›innere‹ Mensch sukzessive erhält. Der ›äußere‹ und der ›innere‹ Mensch: Die Charakterisierung von Marengo Mit wenigen Attributen charakterisiert der heterodiegetische Erzähler von ›Marengo‹ zu Beginn seine Hauptfigur: Der Geschäftsmann Marengo gehört einer gehobenen gesellschaftlichen Schicht an. Er hat einen kaufmännischen Beruf erlernt, sich aus eigener »Entschlußkraft« nach oben gearbeitet, ein kleines Vermögen erworben und ein Unternehmen mit Angestellten und Arbeitern aufgebaut, das er seit neun Jahren leitet. Die Bilanz dieses Unternehmens kann er jedes Jahr mit einem Plus abschließen (vgl. E 105). Neben materieller Sicherheit vermittelt ihm sein Unternehmen auch ein Gefühl von Autonomie und absoluter Freiheit: »[S]ein eigener Herr sein, war ein hoher Genuß, ein großes, einziges Gefühl. War dieser Wunsch erfüllt, konnte man auf viele andere Wünsche verzichten.« (E 105). Seine Firma führt Marengo als »ein lebhafter, mit der Zeit gehender Kaufmann und Industrieller, klar und gleichmäßig« (E 106), und er besitzt alle Primärtugenden, die ein Gelingen seiner unternehmerischen Tätigkeit garantieren. Er arbeitet pünktlich, verantwortlich und zuverlässig, »[s]ein Ja war Ja, sein Nein war Nein« (E 108). Als Unternehmer ist Marengo Realist, aber kein Menschenfeind. Sein »Verkehr mit seinen Angestellten und Arbeitern war ungezwungen und sachlich« (E 106), sein »geschicktes, aber oft unzufriedenes und von der Konkurrenz aufgehetztes technisches Personal« behandelt er mit ebenso straffer Hand wie seine Kunden, »die zwar im Bestellen fleißig, aber im Bezahlen säumig waren« (E 107). Der Umgang mit Zahlen befördert seine sachliche Lebenseinstellung, denn es gibt nichts, das nicht berechnet, nicht quantifiziert werden 192
könnte. Der Beruf füllt den Helden aus, er ist mit ihm identisch: »Das Unternehmen war gut. Das Unternehmen war er« (E 108). Trotzdem weist das Bild dieses erfolgreichen Menschen Brüche auf. Marengo ist zwar eins mit seinem Beruf, nicht aber mit sich selbst. Schon sein Name ist nur ein Rufname: Er bezieht sich auf schwarz-graumelierte Anzugstoffe (vgl. E 104), die Marengo trägt.228 Der eigentliche Name des Helden lautet Felix R., er ist 32 Jahre alt, unverheiratet und kinderlos. Dieser Privatmann stellt einen Gegensatz zum Geschäftsmann Marengo dar: »Er war weibisch von Herzen […]. Leidend mehr als tätig im Gefühl, ohne ein überragendes Ziel, ohne verzehrende Leidenschaften […].« (E 104). Dieser Felix R. ist »hungrig nach Illusion und bereit, dem sehr fragwürdigen Trugschein einer Illusion zu folgen […]« (E 104). Die Tragödie seiner Selbstentfremdung beginnt mit dem Tod der Eltern, durch den er jede menschliche Bindung verliert. »Er wäre ein braver Sohn gewesen, aber die Eltern starben ihm zu früh. Ein guter Gatte, denn es war ihm natürlich, treu zu sein. Aber wem? Er kam in keines Menschen Hände und in seine Hände kam kein Mensch.« (E 104). Nach dem Erlebnis von Verlust und Tod wird der ›äußere‹ Mensch Marengo dominant: »[N]iemand rief ihn mit seinem Namen, Felix, und so nannte er sich selbst, wenn er an sich dachte, Marengo.« (E 104). Im Sommer fährt der Held mit seinem Boot in die Natur hinaus, um seine Existenz »auszulöschen« und zu vergessen (E 105). Im Winter unterdrückt er seine private Existenz, indem er in seinen vier Wänden in eine Art Winterstarre verfällt. Wie im Märchen ist seine Wohnung von der Außenwelt durch die Einwirkung der Natur abgetrennt: »Die Westwand seines Wohnhauses umzog sich mit jedem Jahre dichter mit Efeu.« (E 105f.). Die schleichende Entfremdung von sich selbst führt schließlich auch zur Entfremdung von anderen: »Er war für niemanden da, nicht einmal für sich selbst.« (E 106). Rätselhafte Herkunft: Wer ist Marengo? So merkwürdig die Identität des Helden ist, so fragwürdig erscheint auch seine Herkunft. Einerseits trägt Felix R. einen bürgerlichen Namen, andererseits ist er offenbar von adeliger Geburt. Er wird von einer alten Zofe seiner Mutter versorgt (vgl. E 105, 106) und in einem Brief mit »Euer Wohlgeboren« angespro-
228
Marengo ist nicht nur die Bezeichnung für einen Anzugstoff, sondern auch der Name jenes italienischen Teilortes von Alessandria, an dem Napoleon im zweiten Koalitionskrieg 1800 gegen die Österreicher siegte; auf diese Anspielung geht der Erzähler aber weiter nicht ein. In seinem Roman ›Männer in der Nacht‹ beschreibt Weiß die Schlacht von Marengo, die Napoleon am 14. Juni 1800 gegen die Österreicher auf seinem »Araber« gewann, verlegt allerdings das Datum der Schlacht nach hinten, denn er gibt den 25. Juni 1800 anstelle des historisch korrekten 14. Juni an. – Vgl. Weiß, Männer in der Nacht, Berlin 1925, S. 36ff. – Wiederabgedruckt in Weiß, GW, Bd. 8: Männer in der Nacht, Frankfurt/M. 1982, S. 28ff. [fortan: MiN].
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chen (E 110). In seiner Wohnung finden sich wertvolles Geschirr und die Bücher der Eltern, und in den Schränken werden »viele Kleider« (E 105) aufbewahrt, die das Insektizid Napthalin vor dem Vermodern schützt. Die Kleider deuten auf ein weibliches Wesen hin, doch im Haushalt des Helden gibt es keine Frau, die mit ihm in Beziehung stünde. Unklar bleiben auch seine Verwandtschaftsbeziehungen: Marengo ist der einzige und letzte Spross eines (wie auch immer gearteten) alten Stammbaumes (vgl. E 104). Trotzdem hat er viele Verwandte: »[S]eine Familie war zahlreich, und man hatte sich nie umeinander gekümmert […].« (E 110). Seinen Beruf hat er in einem Unternehmen erlernt, »wo es solcher Volontäre aus dem ausgedehnten Kreis der Familie viele gab« (E 105, Hervorhebung Ch.D.). Dennoch scheint er seine Verwandten nicht zu kennen. Herkunft und Verwandtschaft von Marengo bleiben für den Leser also dunkel, und es ergibt sich das Bild eines Mannes, der einerseits als tüchtiger Geschäftsmann an der Gewinnmaximierung seines Unternehmens arbeitet und andererseits als rätselhafter Niemand durch die Welt geht. Dieser scheinbar starke Charakter ist jedoch nicht aus natürlicher Veranlagung stark, sondern aus Furcht vor dem »unbegreiflichen Leben« (E 104). Seine Furcht hat zwei Ursachen: die Erlebnisse seiner Kindheit und die Angst vor dem Tod. Die Ursache der Krise: Verlust von Liebe. Angst vor dem Tod Die Ursache für Marengos Existenzkrise wird in der Erzählung benannt. Es ist die Angst vor dem Tod. Sie hängt genuin mit der Familie des Helden zusammen. Ganz allgemein erfährt der Leser über Felix R.: »Er hatte trübe Kindheitserinnerungen hinter sich. Daher der Wunsch, einen möglichst großen Zwischenraum zwischen sich und die Menschen zu setzen.« (E 105). Die Kindheit ist für Felix R. mit der Mutter verbunden, wobei sich die Beziehung zu ihr als ambivalent erweist. Als Kind war Felix R. ein »sehr zärtlichkeitshungrige[r] Sohn«, der absichtlich »sein Fieber [...] in die Höhe« treibt, »damit nur die Mutter nicht von seinem Bett weiche« (E 126). Der frühe Tod der Mutter trifft seinen Lebensnerv; allerdings weist ihn die Mutter selbst auch schon früh auf den Tod als Bestandteil menschlichen Lebens hin: Noch erinnerte er sich seiner Mutter, die ihm vor dem Spazierengehen das Haar mit ihrem von Parfüm feuchten Taschentuche aus der Stirn gestrichen hatte. Wehrte er, dem der Geruch des Tuches nach Parmaveilchen unangenehm war, sich weinend dagegen, oder schämte er sich vor andern Kindern, die diesen Vorgang witzelnd betrachteten, sagte die Mutter: ›Weine nicht! Hast du nicht schon genug Falten an der Stirn wie ein Alter?‹ Die Falten, die die arme schöne Mutter an ihren feinen, porzellanartig lichten Zügen trug, waren freilich andere, hatten mit Alter nichts zu tun; ihre Stirnfalten hießen früher Tod, und die schrägen, rinnenden Falten um den vollen Mund hießen ›Kummer und Sorgen, Weinen und Weh‹. (E 107)
Die Geste suggeriert, dass die Mutter den Jungen vor dem vorzeitigen Altern zu schützen versucht. Doch mit dem Hinweis auf den Tod nimmt sie ihm die 194
unbeschwerte Lebensfreude und konfrontiert ihn mit der Endlichkeit. Der Tod wird zu einer beängstigenden Größe, auf die Felix R. mit Verdrängung reagiert. Er wird, als die Eltern sterben, zu »Marengo, recte Felix R.« (E 108). Als Unternehmer kann er individuelle Sinnfragen vernachlässigen, denn unternehmerisches ›Leben‹ lässt sich funktionalisieren und muss nicht existenziell hinterfragt werden. Die Angst vor dem Tod nimmt Felix R. an seinem 32. Geburtstag erstmals wieder bewusst wahr. Die Bürozeit gehorcht zwar der »astronomischen Uhr« (E 104), deren Zeiger sich endlos im Kreis drehen: »Das Leben war begrenzt, die Arbeit war es nicht.« (E 108). Doch schiebt sich an diesem Datum das Problem der Endlichkeit des Individuums wieder in den Vordergrund. Der einzig mögliche entscheidende Fehlschlag war der Tod, und dann war alles zu Ende, die Firma wurde zugunsten noch unbekannter Erben mit einem Plus (?) liquidiert. Auf jeden Fall war dann alles wenn nicht gut, so doch unverbesserbar gelöst. (E 106)
Zweifel, ob die gewählte Existenzform die richtige sei, dringen ins Bewusstsein. Denn »noch lebte dieser Felix R., der [...] aus Tausenden nicht hervorstechende Mann mit den zwei Falten an der Stirn [...]« (E 108, Hervorhebung Ch.D.). Marengo erlebt die Selbstkonfrontation durch bewusste Selbstbetrachtung: Er sieht sich im Spiegel. Initiationserlebnis Spiegelbild: Selbstkonfrontation durch Erinnerung Der Mensch wird durch den Blick in den Spiegel in Frage gestellt. Auch der Held sieht ein »fremdes Gesicht, das Gesicht des Marengo: es war ein sehr alt gewordenes, mit fremden Zügen gezeichnetes, wie er sie nie an sich beobachtet hatte, die er sich nicht einmal zugetraut hätte« (E 106). Er merkt, dass er trotz seines ›zeitlosen‹ Berufsdaseins gealtert ist. Er besah seine Schläfen, wo das Haar im ganzen noch dunkel und dicht war; aber schon schimmerte es weiß dazwischen, ohne daß man die Greisenhaare fassen konnte, denn sie entglitten immer wieder dem täuschenden Spiegelbilde. Umso deutlicher waren die zwei fast senkrechten Falten in der Mitte der Stirn, an der rechten Seite schärfer eingeschnitten als an der linken. Allerdings hatte er diese Falten schon als Knabe gehabt; vielleicht sogar schon auf die Welt gebracht? (E 107)
Es bleibt unklar, ob diese Zeichen des Alterns auf eine Imagination des Helden oder auf Tatsachen zurückgehen. Denn merkwürdigerweise entgleiten die »Greisenhaare« immer wieder dem »täuschenden Spiegelbilde«, so dass anzunehmen ist, dass es sich um eine Vorstellung handelt. Das Altern wird mit jenen Stirnfalten in Zusammenhang gebracht, die der Held von Kindheit an besitzt. Damit wird eine neue Deutungsart des Geschehens ins Spiel gebracht: Das Greisenhafte geht in ›Marengo‹ nicht allein auf die Lebensjahre des Helden zurück, sondern bereits auf seine Geburt. Im Anfang des Lebens ist der Tod als sein Ende schon enthalten. Rational ist diese Tatsache kaum zu begreifen. »Er dachte lange über 195
sich nach, ließ alles durch seine Erinnerung gehen.« (E 107). Mit diesem Satz wird der nun folgende Reflexionsprozess angedeutet. Er mündet in eine Selbstbefragung: »Wenn er es heute, an dem Geburtstage, nicht konnte, wie sollte er sonst als Marengo der Uhr entkommen, der Arbeit und ihrer alles verzehrenden Gier nach seiner armen, faltenzerschnittenen Existenz entgehen?« (E 107f.). Marengo führen diese Fragen nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit: Ihm ist, als streiche ihm seine Mutter mit ihrem Taschentuch nicht nur übers Gesicht, sondern auch »über die Falten seines Herzens«. Es bleibt ein »leeres Gefühl« in der »Herzgegend« (E 108). Fragen nach Leben und Tod. ›Sinn?‹ Die Beobachtung der Assel Der Blick in den Spiegel fördert Ängste des Helden aus einem Halbbewussten ins Bewusstsein; hier werden sie weiter bearbeitet. In der zweiten Handlungsphase strukturieren drei Erlebnisse Marengos inneren Weg: die Beobachtung einer Assel, die Annäherung an eine Frau und die Ahnung eines Transzendenten, die durch Humboldts ›Kosmos‹ und das Neue Testament ausgelöst wird. Die erste Episode, die Begegnung mit einer Assel, findet während eines Sommerurlaubs in den Alpen statt. Marengo nimmt das Tier in seinem Badezimmer wahr, und sein Interesse ist weniger zoologischer als vielmehr philosophischer Natur. In der Assel begegnet ihm eine Existenz, die nichts von sich weiß und doch lebt. In der Einsamkeit des Tieres sieht Marengo sein eigenes (Existenz-)Problem gespiegelt: Die Assel bleibt äußeren Impulsen gegenüber verschlossen, ist in sich verkapselt, lässt sich von Licht und Dunkel nicht beirren und weicht auch größeren Hindernissen nicht aus. Er […] sah an der Wand über einem niedrigen, durch eine halbe Zitrone ausgefüllten Ausguß ein vier Millimeter langes, goldbraunes Tier, eirund, siebenfach der Breite nach geringelt, das sich außerordentlich weich und geschmeidig bewegte. Anfangs konnte man nicht erkennen, ob das Wesen nach vorwärts oder rückwärts strebte, weil die vielen hellblonden, winzig dünnen Beine ebenso wie die gebogenen Augenfühler erst aus nächster Nähe erkennbar wurden. Es war eine Assel, die sich ohne erkennbaren Zweck auf der mit Ölanstrich versehenen, also völlig unfruchtbaren Wand des Raumes aufwärts mühte und die ihren Willen durch das geschickteste Ausnützen aller winzigen Vorsprünge […] in der Wand verfolgte, die ihr als Höhen, Täler und Gipfel erscheinen mußten. (E 112, Hervorhebung Ch.D.)
Was dieses Tier antreibt, ist nicht freier Wille, sondern ein durch Gattung und Instinkt definiertes Verhalten. Da es als Assel auf die Welt gekommen ist, wird es auch ohne Bewusstsein von dieser Welt scheiden. Diese Beobachtung lenkt die Aufmerksamkeit des Helden auf die Frage nach dem Sinn dieses Lebens: Steckt hinter diesem Tun ein Ziel, eine Bedeutung? Dieser Gedanke löst in Marengo eine Vielzahl von Fragen aus, mit deren Hilfe der Held das Verhalten der Assel zu verstehen versucht.
196
Erblickte das Tier irgend etwas? Und wenn es etwas erblickte, erkannte es etwas? Und wenn es erkannte, erkannte es die Dinge mit größerer Wahrheit, Sicherheit, Treue als er? Unlösbare Fragen. Was das goldbraune Tier wollte, was in ihm vorging, war durch kein Nachdenken, durch keinen Aufwand an Scharfsinn zu ermessen. (E 113f., Hervorhebung Ch.D.)
Die suggestive Rhetorik zeigt, dass es nur vordergründig um die Assel geht: Marengo reflektiert in Wirklichkeit sein eigenes Befinden. Dies führt ihm vor Augen, dass er nicht weiß, warum er lebt. Irgendwann wird der Tod sein Dasein beenden – genauso wie jenes der Assel (vgl. E 114). An der Assel erkennt Marengo die Sinnlosigkeit einer Existenz, die endet, ohne vom Tod gewusst zu haben. Für sich selbst fürchtet er das Ende einer Existenz, die sinnlos war, obwohl sie vom Tod weiß. Die Begegnung mit der Assel führt Felix R. aber nicht nur sein leeres Leben vor Augen, sondern lenkt seinen Blick auch auf Bereiche, die Ausdrucksformen von ›ganzheitlichem Leben‹ zu sein scheinen: der Eros und der Kosmos. ›Leben‹ und Sexualität: Margot B. und die Suche nach ›Sinn‹ Die Beobachtung der Assel löst in Marengo eine Verstörung aus und raubt ihm den Schlaf. Zugleich sensibilisiert sie ihn für die Wahrnehmung seiner Umwelt. So verläuft die erste Begegnung mit Margot B., seiner Kontoristin, nach dem Urlaub anders als sonst. Marengo hat die Person, die seit drei Jahren für ihn arbeitet, noch nie als Frau wahrgenommen (vgl. E 115), nun erscheint sie ihm zum ersten Mal als ein begehrenswertes Wesen. Dieses Begehren wird von Margots Duft ausgelöst: »Er sah sie überrascht an, sie erwiderte seinen Blick mit einem schwer zu deutenden Lächeln, sprach aber nichts, und auch er richtete nicht das Wort an sie.« (E 115). Marengo verspürt eine Anziehung, und die Annäherung verläuft im Zeichen einer Hoffnung – »[z]um erstenmal seit langer Zeit hatte Felix die starke freudige Empfindung des Lebens« (E 116). Der Held versinkt in »dieses vollkommenste stumme Ineinandersein« wie ein Erlöster (E 119). Doch die körperliche Vereinigung führt nach einem kurzen Moment nicht zu Nähe, sondern zu Entfremdung. Es berühren sich nicht die Seelen der Menschen, sondern nur ihre Körper. Schon war es ein anderer Kuß, etwas wie Auflachen oder Erschrecken, denn beider Lippen waren auseinandergewichen vor den blanken, steinharten Zähnen, und nur noch das heiße, schmerzende Gestein der Zähne, das Email der nackten Gebisse begegnete sich in einer nie zu vergessenden Vereinung, schauerlicher und wollustvoller, als sich Fleisch mit Fleisch sonst begegnet. (E 119)
Wer ist Margot B.? Als Kontoristin entstammt sie der beruflichen Sphäre des Helden. Darauf weist auch die Alliteration ihrer Namen, Mar-got und Mar-engo, hin. Von Margot B. gibt die Erzählung nur preis, dass sie »ein großes, üppiges, blondes Geschöpf« (E 109, 115) mit durchscheinender Haut (vgl. E 118) ist. Merk197
würdigerweise verliert sie diese Üppigkeit während des gemeinsamen Bootsausfluges, denn nun erscheint sie weniger als ein feminines denn vielmehr als ein androgynes Wesen: Sie hat »breite, fast männliche Schultern«, »schmale Hüften« (E 117) und »mit rötlichem Flaum besäte Hände« (E 117). Die Vereinigung der Seelen gelingt nicht, weil eine Grenze nicht überschritten werden kann. »Je näher die Natur ihm kam, desto fremder wurde ihm der Mensch. […] Konnte man sich näherkommen? Konnte man sich fremd bleiben? [...] Das Innigste war vorbei, das Glühendste dahin.« (E 122). Die Frau ist nicht Bestandteil der (Seelen-)Welt des Helden, sondern gehört der anderen Welt an. Sie verschwindet zwischen den Bäumen, während Marengo die »ungewollte Vereinigung« (E 123) als Fehler betrachtet: »Von hier aus sah er auf das Wasser, auf das Boot, das man nie hätte verlassen sollen.« (E 123). Dennoch scheint es, als habe der Held durch die Vereinigung immerhin etwas Neues verstanden. [E]r erfaßte in dieser entscheidenden Minute ganz das Fürchterliche des Augenblicks und zugleich dessen entsetzensvolle Freudigkeit. Er dachte an den letzten Tag in den Alpen, an die Begegnung mit der Assel. Was damals begonnen hatte, endete heute. Endete es? (E 121)
Aufschlussreich ist, dass Marengo seine Erkenntnis in Beziehung zu seiner verstörenden Begegnung mit der Assel setzt. Auch als kurze Zeit später ein ähnliches Tier in Margots verlorenem Hut auftaucht (vgl. E 123), fühlt sich der Held sofort an seine Beobachtungen im Gebirge erinnert. Als er das Tier zu fassen versucht, gelingt ihm dies ebenso wenig wie die Fixierung seines Spiegelbildes an seinem 32. Geburtstag. Das Tierchen war verschwunden; man würde es ebensowenig begreifen, beglücken, verletzen, in seinem ›Innern‹ treffen, wie das Tier in dem Baderaum des Hotels vor drei Tagen, das nicht begreifende und von niemandem begriffene Wesen auf der unfruchtbaren Wand im unbegriffenen Raum, im Gewitter unter dem unermeßlichen Himmel […]. (E 123, Hervorhebung Ch.D.)
Die Aussage kann als Indiz einer Erkenntnis gewertet werden, die der Held über sich selbst gewinnt, die er aber nur uneigentlich, im Bild der Assel, fassen kann. Der Kosmos: Einblick in den höheren Zusammenhang des ›Lebens‹ Marengos (Erkenntnis-)Fortschritt führt in die Vergangenheit. Dazu gehört, dass auch seine seltsamen Verwandtschaftsbeziehungen wieder aktiviert werden. Nach dem Ausflug mit Margot erwartet ihn ein alter Mann an der Tür seines Wohnhauses, Peter Kornitzer. Der Bettler löst in Marengo ein ambivalentes Gefühl aus, denn er bezweifelt, »ob er die Kraft haben würde, einen fremden Menschen von dieser Art dauernd in seiner Nähe zu haben« (E 124). Und doch beschließt er, den Mann einzulassen: »Was er sonst nicht getan hätte, heute tat er es.« (E 124). Kornitzer ist Marengo bekannt, denn schon zweimal hat der angebliche Verwandte seinen Weg gekreuzt. Eingeführt wird er vom 198
Erzähler als »›abgerissener alter Herr‹« mit einem »hellen, langen, mißfarbenen Bart«, als ein »verkrachte[r] Großunternehmer« (E 109). Er trinkt und lügt, starrt vor Schmutz, kann seine Triebe nicht beherrschen, schnorrt und verschwendet Geld. Kornitzer ist ein ›enfant terrible‹, ein aus der Ordnung gefallener lästiger Alter. Er gibt sich als Marengos Verwandter aus, doch reagieren Kornitzers Angehörige so distanziert, dass echte Blutsbande kaum angenommen werden können (vgl. E 110). In der Handlung taucht der Alte stets dann auf, wenn Marengo Begegnungen bevorstehen, die einen Zugewinn an Erkenntnis verheißen. So erscheint Kornitzer erstmals vor Marengos Sommerurlaub (vgl. E 111) und erneut nach diesem Urlaub (vgl. E 111). Durch sein unangemeldetes Kommen erschreckt er das arbeitende Paar Margot und Marengo und führt ihre erste körperliche Berührung herbei: Plötzlich pochte es, beide zuckten zusammen, und in diesem Augenblick schmiegten sich ihre Körper, in der herrschenden, brütenden Hitze doppelt beklemmend, aneinander. Beide schlossen die Augen wie geblendet, erst als es zum zweitenmal pochte, wichen sie weit auseinander. Der Eintretende war der alte, unter Kuratel stehende Fabrikherr und Bettler, der, wie es schien, in echter Rührung den ›prächtigen Herrn R.‹ begrüßte. (E 115)
Zum dritten Mal steht Kornitzer nach Marengos besagter Bootsfahrt vor der Tür. Es bleibt unklar, woher er von Marengos Heimstätte weiß und seinen Namen »R.« kennt. Er begehrt Einlass in die Privaträume, die er offensichtlich besser zu kennen scheint als der Held selbst. Er findet sich »mit ungewöhnlicher Sicherheit in den finsteren, verlassenen Räumen zurecht« (E 124), führt Marengo in diese »verlassenen Räume« und trägt dazu bei, dass sich der Held mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Zu den bislang von Marengo unbetretenen Räumen der Wohnung gehört auch die Küche, die Domäne der alten Zofe. Aus dem Küchenfenster beobachtet Marengo Menschen, die er noch nie gesehen hat, obgleich sie seit Jahren mit ihm im selben Haus leben: »Unten auf dem Hofe [...] saßen Familien, bei Licht Karten spielend und zur Ziehharmonika heisere Gesänge voll Gefühl singend.« (E 124, Hervorhebung Ch.D.). An diesem Küchenfenster, im fremden Raum, erhält Marengo eine weitere Anregung. Zwei Küchenpflanzen sind mit Textseiten unterlegt, einer »fast unleserliche[n]« Seite des Neuen Testamentes (E 125) und einer »gut lesbare[n] Seite aus Humboldts ›Kosmos‹, dritter Band, der einmal seinem Vater gehört hatte und den er seit vielen Jahren aus seiner Bibliothek ausgeschieden hatte« (E 125). Plötzlich erkennt Marengo, dass er mit seinem Leben an einem höheren, ganzheitlichen Sinnzusammenhang partizipiert. Dies entbindet ihn von der Last, seine Existenz aus sich heraus erklären und mit Sinn füllen zu müssen. Zeichnet sich sein Dasein als Kaufmann durch eine »frühzeitig erstarrte Geistestätigkeit« (E 106) aus, so eröffnet sich nun eine Perspektive jenseits von Rechnungen und Zahlen. Alter und Tod, jene früh eingeführten Themen, erscheinen in einem neuen Licht. 199
Die alte Tasse, die alten Buchtrümmer lagen vor ihm auf der durch vieles Reiben wie säurezerfressenen, blanken Platte des uralten Küchentisches. Sie zeigten ihm, wie sehr greisenhaft sein eigenes Leben geworden war, wie sich dieselben Dinge, zwar treu und ergeben, aber starr und steinähnlich und zu tot selbst auch nur zum Verwesen, in den vielen Jahren seines abgeschlossenen Wesens um ihn gesammelt hatten; alte Möbel, in denen er hauste, alte Menschen, mit denen er lebte. (E 126)
Mit dem Tod ist dieses ›Leben‹ nicht zu Ende – auch diese Einsicht wird Marengo durch die Lektüre zuteil. Während die Bibel ihre Heilsversprechen im Jenseits entfaltet, liefert Humboldts ›Kosmos‹ eine Synthese des gesamten diesseitigen Wissens über Welt und All.229 Die Texte führen den Helden erneut auf die Spur seiner Vergangenheit. Die Ablösung einer Generation durch die nächste erscheint nicht mehr als ein schweres rätselhaftes Erbe, sondern als tröstendes Zeichen der Kontinuität des Lebens. Erneut folgen zahlreiche Fragen, die sich Marengo stellt. Hatte er aber noch Kraft zu einer neuen Existenz? Die ewige Bewegung im Kosmos zu erfassen? Den Kosmos im Buche ›Kosmos‹ zu sehen, zu erleben? Oder dem Evangelium aus der Fülle des Gefühls zu folgen in die geliebte, die schauerliche, die unbegreifliche Welt, die göttliche, die ruhende? Konnte man etwas Neues beginnen? Allein? Mit anderen? Für andere? Sollte man die alte, die erste Existenz liquidieren? Verlieren, was man nie besaß? Er, der alternde Mann, hatte eben noch einen älteren neben seine alte Haushälterin zu sich ins Haus genommen. War das ein Zeichen? […] Längst erloschene Zeiten oder neue, mit unverbrauchter Kraft zu entzündende? Verlassen aller Sicherheit? Niewiedersehen mit Margot, mit der Fabrik, dem alten Hause hier? Letztes oder erstes Kapitel? (E 126f., Hervorhebung im Original)
Für den Helden hat etwas Neues begonnen: Seine Lebensordnung ist eingestürzt, der ›innere Mensch‹ freigelegt. Doch so wenig, wie Marengo zum Zeitpunkt des Erzählabbruchs klar formulieren kann, was er für sich selbst erkannt und entschieden hat, so wenig erhält der Leser durch die Erzählung eindeutige und handlungsauffordernde Antworten. ›Marengo‹ entlässt ihn mit der indirekten Aufforderung, sein eigenes Leben auf die zuletzt gestellten Fragen hin zu überprüfen.
229
Vgl. Humboldt, Kosmos, S. XXIV ff., Bd. 3: A. Uranologischer Theil der physischen Weltbeschreibung. α. Astrognosie (Fixsternhimmel). I. Weltraum und Vermuthungen über das, was den Weltraum zu erfüllen scheint. – II. Natürliches und telescopisches Sehen. – III. Zahl, Vertheilung und Farbe der Fixsterne. – IV. Neu erschienene und verschwundene Sterne. – V. Eigene Bewegung der Fixsterne. – VI. Die vielfachen oder Doppelsterne. – VII. Die Nebelflecke. - β. Sonnengebiet. I. Die Sonne als Centralkörper – II. Die Planeten – III. Die Cometen. – IV. Der Ring des Thierkreislichtes. – V. Sternschnuppen, Feuerkugeln, Meteorsteine.
200
4.3.2. Reale Welt – finale Wirklichkeit? Implizite Transfersignale Wie in ›Franta Zlin‹ fehlen auch in ›Marengo‹ Explizite Transfersignale. Der heterodiegetische Erzähler tritt nicht mit Kommentaren hervor, sondern ist über weite Strecken der Erzählung zurückhaltend und verschwiegen. Dafür sind zahlreiche Implizite Transfersignale vorhanden. Sie lassen das Erzählte zwei- oder doppeldeutig erscheinen, erzeugen eine Ambiguisierung und fordern zur Interpretation des Erzählten in mehrfacher Hinsicht auf. Zu den Impliziten Transfersignalen gehören in ›Marengo‹ eine finale Motivierung, die mit einer kausalen Motivierung konkurriert, semantische Relationen durch das Symbol der Raupe und die Personifikation von Leben und Tod durch Peter Kornitzer. Diese Impliziten Transfersignale werden erst bei einer gründlichen Lektüre offensichtlich. Finale Motivierung der Handlung oder: Der Zusammenhang des Ganzen In ›Marengo‹ herrscht – wie in den ›Verdorrten‹ – eine realistisch gezeichnete Wirklichkeit vor. Die erzählte Welt ist in einer westlichen Industriegesellschaft angesiedelt, und es gibt Fabriken, Arbeiter und Angestellte, technisches Personal, Bilanzen, Bootsfahrten und »brauchbare Verbrennungsmotoren« (E 105), ein Strafgesetz (vgl. E 108), Landarbeiterinnen (vgl. E 117) und Schulmänner (vgl. E 116). Der Leser erfährt allerdings keine Details über die Orte des Geschehens: Er weiß nicht, wo sich Marengos Fabrik befindet, wie der Fluss heißt, in den der Kanal hinter dieser Fabrik mündet, in welcher Stadt der Held zu Hause ist und wohin er in die Alpen reist. Lediglich die »Kapuzinerwand« wird als der »schönste Berg des ganzen Gebirgszuges« (E 113) erwähnt. Auch stehen die Ereignisse der Geschichte kaum in einem kausalen Zusammenhang: Warum entdeckt Marengo eine Resedapflanze am Küchenfenster? Warum steht Peter Kornitzer vor der Tür des Protagonisten? Was haben Margot und die Assel miteinander zu tun? Die Handlungen der Figuren scheinen ebenso rätselhaft wie ihre Beziehungen zueinander. Dennoch wirkt ›Marengo‹ nur auf den ersten Blick unmotiviert: Bei einer zweiten Lektüre merkt der Leser, dass hier alles mit allem in Verbindung steht. Dies wird durch die finale Motivierung möglich, die widerständig zur kausalen Logik in die Handlung eingeführt wird. Sie erzeugt im Martínez’schen Sinn eine »doppelte Welt«230. Ein finales (Natur-)Ereignis stellt das Gewitter dar. Es überschattet erstmals die Ereignisse, als sich Marengo in den Bergen aufhält und der Assel begegnet. Der Held nimmt das Gewitter intensiv wahr und denkt über den Sinn seines Daseins nach. Ein zweites Gewitter zieht herauf, als Marengo mit Margot den Fluss entlang fährt. Es leitet ihren späteren Beischlaf ein (vgl. E 112, 116, 119, 120). Seltsamerweise taucht kurz nach der missglückten Vereinigung in Mar-
230
Martínez, Doppelte Welten, S. 4.
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gots Hut eine Assel auf. Dieses Ereignis ist empirisch gesehen ein Zufall, in einer finalen Lesart hingegen eine Fügung, ein Zeichen des Himmels. Es geschieht durch den Willen einer höheren Instanz, die sich in der Natur bemerkbar macht. Diesen Eindruck unterstreicht die kompositorische Motivierung, die ich nun erläutere. Duft als Leitmotiv: Die kompositorische Motivierung durch Reseda In ›Marengo‹ spielt der Duft als Form der Sinneswahrnehmung eine große Rolle. Er wird in der Erzählung auf vielerlei Weise thematisiert: So duftet die Natur für Marengo fast immer gut, während ihm der Geruch von Parmaveilchen (vgl. E 107), von Wurzelduft, Napthalin und Seife in seiner Wohnung (vgl. E 109) unangenehm ist. Schlecht riechen auch der Mäusedung in seiner Fabrik (vgl. E 115) oder der nach Schmutz und Alkohol dünstende Peter Kornitzer (vgl. E 110, 124). Leitmotivisch kehrt in der Geschichte der Duft von Reseda und Pilzen wieder: Er ist ein Beispiel für eine metonymisch erzeugte Relation, die verschiedene Stationen des Protagonisten verbindet und ihn bis an jenen Ort begleitet, wo sein Aufhellungs- und Erkenntnisprozess vorläufig endet. Den Duft der Resedapflanze nimmt Marengo erstmals an Margot wahr, und in ihn mischt sich der Geruch von »gedörrten Pilzen« (E 115, 117, 119, 123). Seltsamerweise ist dieser Duft dem Helden »wohlbekannt«: Er kennt ihn, »ohne zu wissen, was es war […]« (E 115). Der Text lässt offen, ob Marengo das Parfüm seiner Kontoristin seit je wahrgenommen hat, oder ob es einen anderen Zusammenhang gibt. An Margot jedenfalls hat der Held drei Jahre lang »nicht mehr persönliche Worte […] als an seine Taschenuhr« gewendet (E 123). Ebenso wenig hat er früher die Küche seiner Wohnung, in der sich gleichfalls eine Resedapflanze befindet (vgl. E 124), betreten. Der Duft aus Reseda und Pilzen entfaltet die Wirkung eines Opiats: Er erfüllt den Hof der Fabrik (vgl. E 115), verflüchtigt sich in der freien Natur (vgl. E 117) und kehrt mit dem Heraufziehen des Gewitters in der regennassen Luft zurück, er provoziert erste Berührungen des Paares und führt die Vereinigung herbei (vgl. E 119). Marengo ist wie berauscht, und nach dem Beischlaf ist der Duft das einzige, was von Margot bleibt (vgl. E 123). Sodann schafft das Motiv einen Bezug zwischen Marengos erotischem Erlebnis und seiner Auseinandersetzung mit dem Kosmos. Die Resedapflanze am Küchenfenster erinnert ihn an Margot (vgl. E 126), allerdings ist dem Duft in der Küche der opiatartige Geruch von Pilzen nicht mehr beigemischt.231 Wie Kornitzer weist der Resedaduft dem Helden den Weg zu den besagten Texten (vgl. E 125), Marengo
231
Vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 576: »Pilze können wegen ihrer berauschenden Wirkung als Droge zwecks Erzeugung von Halluzinationen verwendet werden […].« Einzelne Pilzsorten werden in verschiedenen Kulturkreisen als Narkotikum verwendet oder gelten als Symbole für ein langes Leben oder »Unsterblichkeit«.
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beginnt zu lesen und zu begreifen. Der reine Duft versetzt nicht seinen Körper in einen rauschartigen Zustand, sondern seinen Geist: Er weckt den Wunsch, den Sinn des Lebens mit den Sinnen zu erleben und zu begreifen. Metonymische Relationen durch ein Symbol: Margot und die Assel Erzeugt die kompositorische Motivierung in ›Marengo‹ durch die Verknüpfung von Motiven und Ereignissen einen Bedeutungsüberschuss, so setzt ein Symbol zwei Figuren, Margot und die Assel, in eine auffällige Beziehung zueinander. Margot B., die dritte Figur der Geschichte, weist ein Körperattribut auf, das empirisch kaum zu erklären ist: Sie besitzt »reiche, hellblonde, fast raupenartig dicke, wie zwei Goldsicheln metallisch blinkende Augenbrauen« (E 117, 118, 119 122, 125f.), die ihrer halb weiblich, halb männlich beschriebenen Person ein seltsames Aussehen geben. Diese Brauen sind, obwohl sie der Held während seiner drei Jahre Zusammenarbeit mit Margot B. kein einziges Mal bemerkt hat, so entstellend, dass er sie noch aus der Ferne erkennt: »Barhäuptig ging sie unter Bäumen dahin, von denen die letzten Tropfen herabgeweht sich auf ihren hohen, raupenartig aufgestellten, wie zwei Goldsicheln gleißenden Augenbrauen verfingen.« (E 122f.). Prüft man dieses seltsame Detail auf seinen möglichen Symbolgehalt, so können die Brauen einerseits verstanden werden als Hinweis auf den Kreislauf von ›Tod‹ und ›Leben‹, Mensch und Natur, Seele und Wiedergeburt. Denn die Raupe, mit der Margots Augenbrauen zunächst verglichen werden, steht in der christlichen Ikonografie für das Leben.232 Der Schmetterling, der aus der Raupe schlüpft, ist Zeichen der Wiedergeburt. In diesem Kontext erinnert die androgyne Margot an eine überzeitliche Göttin des ›Lebens‹233. Andererseits bringt der Vergleich der Brauen mit blinkenden Goldsicheln (vgl. E 117, 122) den Tod ins Spiel: Sicheln stehen für Ernte, für Tod und das Weltgericht (vgl. Offb 14,15). Mit dieser zum ›Leben‹ gegenläufigen Konnotation verweist das Symbol der sichelartigen Augenbrauen auf ein ›Gesamtleben‹, das ›Leben‹ und ›Tod‹ als Aspekte eines Ganzen mit einschließt. Dieses ›Leben‹ wird sowohl bei der Assel als auch bei Margot angedeutet: So wie in Margots Brauen finden sich auf den Beinchen der Assel »hellblonde« Haare, und aus dem Gesicht des Tieres lugen »zwei gebogene Augenfühler« hervor (E 112). Die Fühler haben also dieselbe Form wie die weiblichen Brauen, und auch ihr Bild bleibt dem Helden im Bewusstsein.
232 233
Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 651. Dafür sprechen auch Margots graue Augen, die einen »bläulichen Schimmer« (E 118) annehmen – eine Anspielung auf die Farbe der Unendlichkeit und des Göttlichen. Die »milchweiße« Stirn, dem »Milchstaub des Alabasters« gleich, weist auf Reinheit und lebensspendende Kraft hin. – Vgl. zur Farbe Weiß: Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 824.
203
Möglicherweise ist Marengo erst durch die Beobachtung der Assel in die Lage versetzt worden, Margots seltsames Attribut wahrzunehmen. Ob er selbst diesen Zusammenhang in seinen Gedanken herstellt, erfährt der Leser allerdings nicht. Der Vergleich bleibt in der Figurenperspektive unausgesprochen. Deus ex machina? Die allegorische Leitfigur Peter Kornitzer Auf Marengos Weg hat Peter Kornitzer eine zentrale Mittlerrolle. Vordergründig ist sein Auftauchen kaum zu motivieren: Als groteske archaische Figur bricht er in die moderne Büro- und Industriegesellschaft ein. Hintergründig stellt er jedoch ein Spiegel- und Abbild des Helden dar. Denn wie Marengo war auch Kornitzer früher ein reicher Unternehmer. Und wie Marengos Identität liegt auch Kornitzers Herkunft im Dunkeln. Neben dieser Parallele im Lebenslauf ist Peter Kornitzer klar als allegorische Figur ausgewiesen. Er personifiziert das Leben und den Tod. Als dionysischer Alter evoziert er das triebhafte Leben, die Sexualität des Menschen. Kornitzer lässt seine »dunklen, feurigen, blutvoll umränderten Augen« umherschweifen und auf »den üppigen Formen des unter seinem Blick errötenden Mädchens« (E 115) ruhen. Er verkörpert das ›Andere der Vernunft‹, das Marengos »männliche[s] Gehirn« (E 104) unterdrückt. Ebenso wie der Sexualität ist der Alte dem Alkohol zugeneigt (schon sein Name Korn-itzer erinnert an ein gebranntes Getränk), und er riecht »weithin nach Schwarzwälder Kirsch« (E 110). Allerdings steht Kornitzer nicht nur für das Leben, sondern auch für den Tod. Er ist dem Alten ebenso eingeschrieben wie die Liebe. Der Tod kommt stets dann zum Vorschein, wenn das erotische Begehren in den Hintergrund tritt. Frisch gewaschen, aber nicht verjüngt, sondern, wie man erst jetzt unter dem fortgewaschenen Schmutze erkannte, erschütternd verfallen, Haut und Knochen, Haar, Bart und Auge, ein kläglicher Funke endenden Lebens. (E 126, Hervorhebung Ch.D.)
Als Sinnbild des (nahenden) Todes bringt Kornitzer ein furchtbesetztes Thema in Marengos Alltag zurück. Die allegorische Figur des Alten versinnbildlicht ›Leben‹ und ›Tod‹ und damit die zwei Seiten des ›Gesamtlebens‹. Sie verknüpft das Schicksal des Helden mit allgemeinen, seit Jahrtausenden gültigen Regeln für die Menschheit und macht den Text so zum exemplarischen Beispiel dieser unhintergehbaren Tatsache. Als Marengos Spiegel- und Gegenbild ist Kornitzer, wenn schon kein biologischer, so doch ein geistiger Verwandter des Helden. Er ist (gesellschaftlich) eine lächerliche Figur, innerlich aber frei in seinem Tun, Denken und Handeln. In dieser Hinsicht wird er für Marengo zum Denkanstoß: »Verlassen aller Sicherheit? Niewiedersehen mit […] der Fabrik, dem alten Hause hier? Letztes oder erstes Kapitel?« (E 127).
204
Sehen, Riechen, Handeln – Wissen? Die Inhalte des Figurenbewusstseins Vor diesem Hintergrund ist aufschlussreich, in welcher Form und Ausführlichkeit der Erzähler den Leser am Erkenntnisfortschritt seines Helden teilhaben lässt. So wird bei einer genaueren Betrachtung des Textes deutlich, dass der Erzähler den Reflexionsprozess seiner Figur kaum einmal erzählt. Vielmehr finden sich im Text nur Splitter der figuralen Wahrnehmung und Gedankeninhalte. Sie lassen sich spezifizieren als (1) rhetorische Fragen und (2) Beobachtungen der Außenwelt. Ich gebe im Folgenden einige Beispiele für diese beiden Formen. Sie sollen illustrieren, dass die Bewusstseinsdarstellung der Figur insgesamt zwar informativ, hinsichtlich des Erkenntnisfortschritts aber fragmentarisch ist. (1) Rhetorische Fragen: Von Beginn an durchziehen rhetorische Fragen die Erzählung. Sie sind auf dass Bewusstsein der Figur zurückzuführen und illustrieren einerseits deren Beziehungs- und Orientierungslosigkeit, andererseits ihre Wahrnehmungskrise. Dabei ist eine thematische Ausweitung der Fragen von konkreten Anlässen hin zu weltanschaulichen und philosophischen Fragestellungen zu beobachten. Dies wird in der Szene deutlich, in der Marengo auf die Assel trifft. Die Assel bewegte sich immer noch an der Wand, sie war an fast derselben Stelle über dem Ausguß zu sehen. War sie nicht von ihrem Platz gewichen? War sie wie Felix wieder an den gewohnten Ort zurückgekehrt, weil sie nur da, wie er in seinem Unternehmen und Beruf, Halt hatte? Suchte sie Nahrung? War sie wunschlos, mit der Weltordnung versöhnt? […] War diese Nacht die wichtigste ihres Lebens? War es ihr damit ernst? […] Erblickte das Tier etwas? Und wenn es etwas erblickte, erkannte es etwas? Und wenn es etwas erkannte, erkannte es die Dinge mit größerer Wahrheit, Sicherheit, Treue als er? Unlösbare Fragen. (E 113f., Hervorhebung Ch.D.)
Psychologisch lassen sich Marengos Fragen als Annäherung des sich selbst entfremdeten Menschen an seinen ›inneren‹ Menschen erklären. Sie sind eine Methode, eine verdrängte, aber lebenswichtige Seite aufzuhellen und sich mit ihr zu konfrontieren. Für den Leser bleibt die Reichweite der Fragen allerdings erstaunlich – sie versuchen, nicht nur das individuelle Schicksal, sondern auch das zu ergründen, was »die Welt im Innersten zusammenhält«234. Offenbar geht es nicht allein um die psychische Gesundung und Selbstakzeptanz eines Individuums, sondern um existenzielle Erkenntnis. (2) Beobachtungen der Außenwelt: Vor allem im zweiten Teil der Erzählung wird dem Leser das Bewusstsein des Helden nicht mehr durch seine rhetorischen Fragen, sondern durch seine Sinneswahrnehmungen zugänglich. Sie werden durch Verben wie »sehen«, »blicken«, »den Blick werfen«, »erkennen«, »bemerken« (insgesamt 20 Mal) angezeigt, wobei das wahrnehmende Subjekt mitunter verschwiegen oder durch das Indefinitpronomen »man« ersetzt wird (vgl. E 118,
234
Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, S. 20 (Vers 382f.).
205
119). Dadurch entsteht mitunter der Eindruck, der Leser habe es mit einem Beobachter zu tun, der still am Rande des Geschehens steht, und der zugleich die Möglichkeit hat, so nahe an Dinge und Figuren heranzukommen, dass er sie nicht nur beobachten, sondern auch deuten und be-urteilen kann. Dies geschieht etwa in der folgenden Naturbeobachtung: Würmer wanden sich unter schützenden Steinen hervor. Schwärme von Insekten, in glimmernde Kugeln gebannt, erhoben sich aus unbekannten Schlupfwinkeln, in die sie sich während des Gewitters geflüchtet, sie schwirrten, flügelfest, durch unerklärliche Kraft der Anziehung in den vertrauten Raum einer durchsichtigen Kugel gebannt, deren Grenzen sie nie überflogen, nie verließen; sie wirbelten höher, sie senkten sich und die kleine, unverletzliche Welt ihrer freiwilligen Gemeinschaft näher an die balsamisch duftende Erde, vielleicht dem etwas bewußteren Fluge eines Weibchens folgend. (E 122)
Die Anonymisierung des Beobachters lässt zwei Erklärungen zu: Entweder handelt es sich um einen nicht näher genannten Dritten oder es ist Marengo selbst, dessen Eindrücke wiedergegeben werden, ohne dass der Erzähler das wahrnehmende Subjekt präzisiert. Der Erzähler gibt die Wahrnehmungen des Helden als diejenigen eines ›Reflektors‹ wieder, von dessen (intellektueller und emotionaler) Intelligenz es abhängt, ob und wie äußere Eindrücke verarbeitet werden.235 Über diesen Modus des ›Sehens/Betrachtens‹ wird in ›Marengo‹ die Annäherung des ›äußeren‹ an den ›inneren‹ Menschen vollzogen. Der Leser hat es mit einem Helden zu tun, der die Ursachen seiner Krise phänomenologisch, durch ›Sehen‹ aufzudecken versucht. Er hat es aber auch mit einem verschwiegenen Erzähler zu tun, der die Beobachtungen seiner Figur kaum deutet und sie für den Leser nicht weiter plausibilisiert. 4.3.3. Die Organisation der Zeit: Erzählte Zeit und Erzählgeschwindigkeit In ›Marengo‹ wird ein Zeitraum von etwa 32 Jahren wiedergegeben, wobei innerhalb dieses Zeitraums kaum eine Zeitangabe wirklich definit ist, das heißt, sich auf die außersprachliche Wirklichkeit bezieht.236 Die Geschichte wird synthetisch erzählt und die chronologische Ordnung nur einmal, an Marengos 32. Geburtstag, durch eine externe Analepse unbestimmter Reichweite unterbrochen (vgl. E 107). Hinsichtlich der Erzählgeschwindigkeit sind in ›Marengo‹ gleich235 236
Vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 84ff. So erfährt der Leser weder den genauen Tag des 32. Geburtstages, noch, wie viel Zeit vergeht, bis Peter Kornitzer erstmals erscheint (vgl. E 109), und wann genau Marengo seinen Sommerurlaub im Gebirge verbringt (vgl. E 111). Zwischen der Beobachtung der Assel und der Bootsfahrt mit Margot verstreichen drei Tage (vgl. E 123), von denen Marengo den Sonnabend in der Fabrik verbringt (vgl. E 115) und am Sonntag mit Margot auf den Fluss hinausfährt (vgl. E 116ff.). Die Geschichte endet wenige Stunden später, am Abend desselben Tages.
206
falls keine allzu großen Probleme zu erkennen. Insgesamt braucht der Erzähler, um den Zeitraum von etwa 32 Jahren zu erzählen, in der Fassung letzter Hand 23,5 Seiten, von denen 18,5 Seiten auf die letzten sechs Tage im Leben des Helden entfallen. Die ersten Jahre werden gerafft erzählt oder ganz ausgespart, die späteren Ereignisse szenisch dargestellt und durch die Wiedergabe von Figurengedanken verlangsamt. So benötigt der Erzähler für die Darstellung der Kindheit und Adoleszenz nur eine halbe (vgl. E 104) und für die Jahre der Berufstätigkeit (12 Jahre) knapp zwei Seiten. Der iterativ erzählte (Berufs-)Alltag wird an Marengos Geburtstag durch ein singulatives Ereignis, den Blick in den Spiegel (vgl. E 106), unterbrochen. Es folgt ein indefinit geraffter Abschnitt (vgl. E 108), den Kornitzers Auftauchen beendet. »Drei Tage später« (E 110) trifft ein Brief der Verwandtschaft ein, der den Alten als Lügner entlarvt. Daran schließt sich eine indefinite Periode, die des »darauffolgenden Sommers« (E 111), an, in der Marengo seine Urlaubsreise unternimmt. Während der Reise verlangsamt sich das Erzähltempo: Für die Beschreibung des Gewitters, der Bewegungen der Assel und der Figurengedanken verwendet der Erzähler 3 Seiten (vgl. E 111–114), für die Bootsfahrt mit Margot, die drei Tage später stattfindet (vgl. E 123), sogar 8 Seiten. Ein Gutteil der Erzählzeit wird für die Beschreibung der Natur genutzt, wobei Erzählzeit und erzählte Zeit gleich schnell (oder langsam) abzulaufen scheinen. Diese verlangsamte Erzählgeschwindigkeit wird bis zum Schluss beibehalten. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen kann man sagen, dass die Erzählung von ›Marengo‹ immer langsamer und der Anteil der dargestellten Figurengedanken immer größer wird. Die Erzählung passt sich somit dem Bewusstsein der Figur und ihrem Erkenntnisprozess sowohl in der Anordnung der Zeit als auch in ihrer Geschwindigkeit an. 4.3.4. Fokalisierung und Distanz: Standpunkt und Figurenbewusstsein ›Marengo‹ wird von einem Erzähler erzählt, der seine Erzählsituation nicht ausgestaltet, sondern über die Anordnung der Geschichte mit dem Leser kommuniziert. Nach einem nullfokalisierten Erzählbeginn wechselt der Erzähler in die interne Fokalisierung auf den Helden. Nur an wenigen Stellen weicht der Erzähler von diesem Code ab. Die Abweichungen dienen – wie in den ›Verdorrten‹ – dazu, dem Leser eine Information zu liefern, die er durch die fokalisierte Figur nicht erhalten kann. In ›Marengo‹ gibt der Erzähler die interne Fokalisierung auf den männlichen Helden dort auf, wo er Einblicke in Margots Bewusstsein ermöglicht. Diese Informationen liefert der Erzähler in einer kurzen Paralepse: Er wußte nicht, was er tat, als er die Finger dann an seine Lippen führte, tief den halb herben, halb süßen Duft einatmend. Sie wußte nicht, was sie tat, als sie mit einer unerwarteten, zuckenden Bewegung ihre dünn bekleidete Schulter an eine bloße Stelle seines Halses emporhob. Seine Lippen versanken in den ihren wie in einem Blumenbeet. (E 119, Hervorhebung Ch.D.)
207
Darüber hinaus wechselt der Erzähler an solchen Stellen in die Nullfokalisierung, an denen er eine Begebenheit nicht vollständig aus der Perspektive des Helden erzählen kann – etwa, weil sie eine zweite Person mit einschließt. Das ist zum Beispiel der Fall, als sich Marengo und Margot in der Natur begegnen und einander annähern. Dennoch waren sich beide der Gefahr bewußt. Schon hatten sie sich, allem inneren Widerstreben zum Trotz, überwunden und hatten einige Schritte gegen die Böschung zurückgelegt, […] als es sie beide wieder zurücktrieb. Sie gingen nach rückwärts, ohne den Blick von dem Boote und von der sich plötzlich stahlgrau kräuselnden Wasserfläche zu lassen. Ohne zu wissen warum, stürzten sie stumm, wie sie drei Jahre nebeneinander gelebt hatten, einander in die Arme, als würde der warme, tiefgrüne, grasige Boden unter ihnen fortgezogen. (E 119f., Hervorhebungen Ch.D.)
Das Pronomen »sie« in der dritten Person im Plural kann, wie schon in den ›Verdorrten‹, als Projektion des Helden auf seine Geliebte verstanden werden. Dann läge kein Fokalisierungswechsel, sondern die kollektiv formulierte Annahme einer gemeinsamen Empfindung aus der Sicht des Helden vor. Das würde allerdings bedeuten, dass sich der Held im Stande fühlt, ins Innere einer zweiten Person zu blicken. Für eine solche Empathie gibt es in der Erzählung keine Anhaltspunkte. Auch beschreibt der Erzähler wenige Absätze später das Paar in einer Weise, die eher eine Nullfokalisierung als eine interne Fokalisierung voraussetzt: »Nicht anders als die Bäume standen die Menschen da in der schnell aufhellenden Landschaft, die einen heiteren, frühlingshaften, milden und begütigenden Charakter angenommen hatte.« (E 122). Der Erzähler bietet von einem panoramischen Ort aus das Tableau zweier Menschen zwischen Bäumen; der Standpunkt, von dem aus er erzählt, ist also mehr jener einer »Übersicht« als einer »Mitsicht«. Der Wechsel von der internen in die Nullfokalisierung an dieser Stelle zeigt, dass ein verborgener, aber präsenter Erzähler immer dann einspringt, wenn sein Held perspektivisch überfordert ist. Der Leser erhält durch die Nullfokalisierung einen Hinweis auf Dinge, die der Held im Verlauf der Geschichte erst noch erleben und verstehen muss. Distanz: Die Wiedergabe von Figurengedanken und -worten Der Erzähler gibt Marengos Geschichte überwiegend im Erzählbericht wieder. Für eine Versprachlichung der Figurengedanken (in Gestalt rhetorischer Fragen oder einiger Beobachtungen) verwendet er die erlebte Rede. Dieser Modus ermöglicht eine Annäherung an die Figur, da nicht nur die Inhalte ihrer Gedanken, sondern auch ihre Redeweise wiedergegeben wird. Einige wenige Sätze werden auch in indirekter Rede zitiert (vgl. E 109, 110, 116). Auffallend sind außerdem die immer wieder verwendeten Zitierzeichen, mit denen der Erzähler Gedanken der Figur offenbar als direkte Rede, aber ohne Erläuterung in seine Rede integriert. 208
Er tat es nicht. Aber hätte er es auch getan, selbst dann hätte sich die Macht des Höheren, da die Lebensdauer eines solchen Krustentieres ohnehin stark beschränkt war, nicht als etwas Neues, als etwas ›außerhalb der astronomischen Uhr‹ [= direkte zitierte Rede] erwiesen, sondern nur als eine kürzere Methode, dem Notwendigen sein Teil zu geben. Denn auch das Dasein dieses Lebewesens, genannt Assel, sich selbst nicht nennend, war durch den Tod gut, das heißt unverbesserbar auf jeden Fall gelöst. (E 114)
Durch die Übernahme des Figurenzitats in die Erzählerrede entsteht der Eindruck, dass der Erzähler das Bewusstsein der Figur unmittelbar wiedergibt, ohne sich jedoch dazu zu entschließen, dieses Bewusstsein ausführlicher zu erzählen (wie etwa im Inneren Monolog). Der Erzähler nähert sich der Figur also an, agiert gleichzeitig aber weiterhin als verborgener Lenker, der mehr andeutet als ausspricht. 4.3.5. Erzähler und Erzählsituation: Die Anwesenheit des Erzählers im Text Aus all diesen Beobachtungen lässt sich zusammenfassen: ›Marengo‹ wird von einem Erzähler präsentiert, der den Erkenntnisprozess seines Helden nur andeutet, und der mit Hilfe von Impliziten Transfersignalen eine Mehrbedeutung der Erzählung aufbaut. In der Erzähler-Leser-Kommunikation zeigt sich der Erzähler nicht direkt. Nur an zwei Stellen macht er sich für den Leser bemerkbar: Zu Beginn der Erzählung stört er ihre Illusion mit einer merkwürdigen Behauptung. Wenige Seiten später gibt er durch einen Vergleich einen Hinweis auf ihre Didaxe. Diesen beiden Hinweisen in der Erzähler-Leser-Kommunikation gehe ich abschließend nach. Illusionsstörung als Inkongruenz: Verstoß gegen Konversationsmaximen? Immer wieder bemerkt der Leser, dass sich der Held widersprüchlich verhält, oder dass rätselhafte Aussagen getroffen werden. Vom Erzähler bekommt er dafür keine Erklärungen. So bleibt beispielsweise Marengos Entscheidung unkommentiert, den alten Kornitzer zu unterstützen, obwohl der Held weiß, dass dieser lügt (vgl. E 110). Unklar bleibt auch, warum der erfahrene Marengo auf den Fluss hinausfährt und sein Leben gefährdet, obwohl doch ein Gewitter droht (vgl. E 116). Der Erzähler verletzt gegenüber dem Leser damit eine Konversationsmaxime, die lautet, einen Redebeitrag so informativ wie möglich und nötig zu machen (Quantität).237 Auffallender noch als die Zurückhaltung des Erzählers bei Erläuterungen ist eine Störung der Illusion der Erzählung. Der Erzähler behauptet, Felix R. sei »der einzige Sohn eines Hauses, das es in Wirklichkeit nicht gab« (E 104). Mit dieser Aussage verstößt er gegen die Logik der erzählten Welt – jeder Mensch hat schließlich eine Herkunft, ein Elternhaus. Zugleich
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Vgl. Kap. I., 3.2.1., S. 28ff.
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weckt er das Misstrauen des Lesers an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen, wie ich vorher zeigen konnte. Der Erzähler nimmt die Behauptung auch nicht zurück und verstärkt im Lauf der Geschichte das Rätsel um die Herkunft des Protagonisten durch widersprüchliche Aussagen. Er weist damit Spuren einer narrativen wie normativen Unzuverlässigkeit auf, wie sie sich auch in Weiß’ späteren homodiegetischen Erzählungen finden. Während dort erzählendes und erzähltes Bewusstsein ineins fallen und sich unter Umständen (psychologische) Gründe für diese Unzuverlässigkeiten finden lassen, ist das Verhalten des heterodiegetischen Erzählers in ›Marengo‹ gegenüber seinem Helden nicht zu erklären. Ein Vergleich als Lektüreanleitung: Die ›Lehre‹ des Erzählers Im Großen und Ganzen verzichtet der Erzähler von ›Marengo‹ auf Erläuterungen von Sachverhalten. Umso auffallender ist deshalb eine Erzählpause, die kurz nach der Exposition eintritt. Sie enthält einen Vergleich der Hauptfigur und eine ungewöhnlich lange, allgemeine Ausführung des Erzählers. Ausgangspunkt ist die Beschreibung der Hauptfigur als ›juristische Person‹. Ich zitiere die Passage: Er stand im Leben wie eine juristische Person, wie eine G.m.b.H., wie eine Wegebauverwaltung, eine Stadtgemeinde oder eine Betriebsgenossenschaft, eine Erbschaftsverwaltung nach weiland Marengo, recte Felix R., als ein dem Erwerbsleben eingegliederter Körper, der wohl besitzen und vererben, verwalten und verbrauchen kann, aber nicht menschlich lebt und nur formal rechtlich fassbar ist; und auch hier, im Rechtlichen, ist die juristische Person schattenhaft, da sie fast nie mit dem Strafgesetz, der Stätte menschlicher Verfehlungen und Leidenschaften, in Konflikt kommt, sondern nur mit dem bürgerlichen, dem Handelsgesetzbuch, dem Wechsel-, Steuer- und Aktienrecht. Man grüßt die juristische Person nicht auf der Straße, man lädt sie nicht zu Geburtstags- und Leichenfeierlichkeiten ein, sie wird nicht Bräutigam, weder Testamentszeuge noch Taufpate, man gibt ihr keine Geschenke, man verkehrt nur schriftlich und telephonisch mit ihr, wobei sich stets eine andere Stimme am Apparat meldet. Man läßt sie zwar erwerben und verlieren, wie sie es kann, aber man begrüßt nicht ihr Erscheinen in der Welt und bedauert ihr Verschwinden nur, wenn es den Beteiligten Schaden und Verluste bringt. Solche juristischen Personen sind unentbehrlich, aber sie leben im leeren Raum, denn Freunde und Feinde fehlen ihnen. (E 108f., Hervorhebungen im Original und von mir, Ch.D.)
Interessant ist, wie sich aus dem konkreten Vergleich der Hauptfigur (»wie«) eine allgemeine Beschreibung der ›juristischen Person‹ entwickelt. Sie gipfelt in der Feststellung: »Solche juristischen Personen sind unentbehrlich, aber sie leben im leeren Raum, denn Freunde und Feinde fehlen ihnen.« Der Wechsel vom Präteritum ins gnomische Präsens legt nahe, dass der Erzähler mit dem Satz eine zeitlose Botschaft, eine ›Wahrheit‹ formuliert. Sie ist in zweifacher Hinsicht als konkreter Lektürehinweis zu verstehen: Zum einen fasst sie das Thema der Erzählung vorab kompakt zusammen – es geht um die mühevolle ›Menschwerdung‹ eines aufs Juristische reduzierten Individuums. Von dieser ›Menschwer210
dung‹ kann sich der Leser im weiteren Verlauf der Erzählung (unter erheblicher Lektüreanstrengung) sein Bild machen. Zum anderen enthält der Satz eine versteckte Aufforderung an den Leser. Er warnt ihn davor, selbst keine ›juristische Person‹ zu werden. Die Erzählpause kann somit als das Konzentrat einer Handlungsaufforderung und als Didaxe der Erzählung gedeutet werden. Sie lautet: ›Lebe. Sei ein Mensch! Sei ein Individuum!‹ Deutlicher und direkter als an dieser Stelle wird diese Handlungsaufforderung allerdings nirgends mehr in ›Marengo‹ ausgesprochen.
4.4. »Letztes oder erstes Kapitel?« – Finalität als parabolisches Merkmal »Marengo, recte Felix R.« (E 108, Hervorhebung im Original) ist aus der Welt gefallen. Er besitzt keine Identität, weil er Angst vor dem Tod hat, und diese Situation wird ihm zur Krise. Menschen können keinen Halt bieten, ebenso wenig der Beruf. Erst bei der Wiederentdeckung des Neuen Testaments und des ›Kosmos‹ von Alexander von Humboldt schöpft er Hoffnung. Die Natur ist es, die Erklärungen für dieses »unbegreifliche Leben« bieten kann (E 104). Das ›Sehen‹ spielt in diesem Fragment denn auch eine hervorgehobene Rolle, denn ›Sehen‹ heißt verstehen. In diesem Sinne hat ›Sehen‹ für die gesamte Literatur der Existenz eine herausgehobene Funktion. Walter Sokel hat sie im Kontext der Romane Musils so beschrieben: Das neue Sehen erlangt seine Bedeutung [...] dadurch, daß es die Möglichkeit eines neuen Lebens ist, da ›Sehen‹ und ›Leben‹ in diesen Erzählwerken identisch ist. ›Sehenlernen‹ ist daher kein bloß intellektuelles Experiment [...], sondern es wird durch die Erschütterung eines Lebens bewirkt.238
Natürlich müssen auch in ›Marengo‹ erst die inneren Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der Held für seine Wahrnehmungen empfänglich wird. Mit dem ›Sehen‹ wird ein Erkennen im Geiste möglich, das jene diffusen psychischen, traumhaften oder mystischen Prozesse ablöst, die noch die Helden der frühen Erzählungen erlebten. Was der Held erkennt, wird auch in ›Marengo‹ nicht direkt ausgesprochen, sondern durch das ›Sehen‹ lediglich angedeutet. Woraus besteht die Erkenntnis des Helden in diesem nachexpressionistischen Werk? Erneut ist es die Ahnung einer höheren Wirklichkeit. Der Ort, an dem Marengo diese Wirklichkeit zu erahnen beginnt, ist die Natur. Sie eint Himmel und Erde, Menschen und Tiere, Seele und Kosmos. Hier hängt alles mit allem zusammen, Sonne und Regen, Zeit und Ewigkeit, natürliches Sterben
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Walter Sokel, Robert Musil und die Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres: Zum ›existenzphilosophischen Bildungsroman‹ Musils und Sartres. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte: Festschrift für Richard Brinkmann, hg. von Hans-Jürgen Brummack, Tübingen 1981, S. 658–691, hier S. 661.
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und Neubeginn des Lebens. Die Erzählung selbst nennt mit Humboldt den theoretischen Fluchtpunkt und das historische Vorbild für dieses Denken und Verstehen. Humboldt hatte im 19. Jahrhundert mit seinem Werk den Versuch unternommen, eine Synthese des gesamten Wissens seiner Zeit zu liefern und eine integrale Zusammenfassung der verschiedensten Zweige der Wissenschaft und der Erkenntnis zu begründen. In seinem Werk geht es Humboldt um den revolutionären Zusammenschluss von Außen und Innen, um den Schnittpunkt von Subjektivität und Objektivität in der forschenden Anschauung und um jenen archimedischen Punkt, um den die moderne Subjektphilosophie seit der Aufklärung kreist: den Zusammenhang von Kosmos, Bewusstsein und Psyche. Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze[s]. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzten Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen […]. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.239
Dieser Zusammenhang ist auch für Weiß der Ausgangspunkt seiner anthropologischen Fragen. Nach den mythischen und biblischen Prätexten sind die Klassiker fruchtbare Vorlagen, um die Einheit in der Vielheit zu thematisieren und ihr sowohl künstlerisch als auch forschend Ausdruck zu verleihen. Ähnlich wie Humboldt geht es Weiß nicht um die einzelne (Natur-)Betrachtung, sondern um die dahinterliegende Idee. Betrachten, Reflektieren, Fragen und Ergründen heißen bei Humboldt die zentralen Vorgänge der Wissensbildung. In ›Marengo‹ wird der Versuch, die Existenzbedingungen des Menschen zu erahnen, durch eine epistemische Archäologie, durch Betrachten, Reflektieren, Fragen und Ergründen dargestellt. ›Erkennen‹ wird gleichsam zum Experiment, ›Sehen‹ zum Hauptthema der Erzählung. Es geht einher mit einer Reduktion der Handlung, ihres Personals und einer Entdramatisierung der Geschichte. Denn auch in ›Marengo‹ geht es schließlich ums philosophische Ganze: Der Held will erfahren und verstehen. Dass ›Erkennen‹ und Verstehen schließlich an jenem Ort stattfinden, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen, wird für den Leser in einem fast Freudianischen Sinn augenfällig: Der Mensch kehrt, zur Behebung seiner Ängste, dorthin zurück, wo sie ausgelöst wurden. Dass der Held die Grenzen seiner Erkenntnis nicht als tragisch empfindet, gibt dem Romanfragment humanisti-
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Humboldt, Kosmos, Bd. 1: Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze, S. 1–26, hier S. 10.
sche Züge, in gewisser Hinsicht vielleicht auch solche einer »Donquichotterie«240. Damit ist, so Delfmann, »das Stichwort für die Konzeption der existenzialistischen Helden gegeben, deren tragikomische Existenz ›in der Mitte zwischen Vorstellung und Wirklichkeit‹ selbst ihre Irrtümer noch fruchtbar macht«241. Fortgesetzt werden in ›Marengo‹ jene narrativen Techniken und Impliziten Transfersignale, die bereits von den Erzählern der expressionistischen Texte genutzt worden waren. Zu ihnen gehören die finale und kompositorische Motivierung sowie die Symbolik der Erzählung. Besondere Bedeutung gewinnt die Allegorisierung von Leben und Tod in der Figur des Peter Kornitzer. Auch der heterodiegetische Erzähler ist nicht mehr so zuverlässig wie seine Vorgänger in ›Franta Zlin‹ oder in den ›Verdorrten‹: Er verrätselt die Herkunft des Helden, löst das Rätsel nicht oder nur teilweise auf und nimmt sogar eine Illusionsstörung in Kauf. Der Verzicht auf Korrekturen charakterisiert einen Erzähler, der die Sicht seiner Figur nicht reglementieren will, der aber selbst auch nicht ganz abwesend ist. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum homodiegetischen Erzähler der späten Kurzprosa und der Romane, in denen zwischen Erzähler und Figur personale Identität besteht.
5.
»Man darf vom Menschen nichts verlangen.« – ›Wer hat, dem wird gegeben‹
Die Erzählungen in Anekdoten ›Wer hat, dem wird gegeben‹ und ›Die Messe von Roudnice‹ verfasste Ernst Weiß in der zweiten Jahreshälfte 1936, vermutlich während einer Schaffenspause zwischen seinen beiden fiktiven Autobiografien ›Der arme Verschwender‹ (1936) und ›Der Verführer‹ (1938).242 Aus dem Œuvre des Autors ragen die Erzählungen insofern hervor, als sie nach dem jetzigen Stand der Forschung die einzigen Texte sind, die Weiß in dieser Gattung verfasste. Mit ihrer Leichtigkeit, ihrer Ironie und ihren kurzen Szenen passen sie sich den Bedürfnissen einer Zeitschriftenpublikation an. Stilistisch haben sie Ähnlichkeit mit den zur selben Zeit entstehenden Aphorismen, die Weiß in seinen Tagebüchern festhielt und in Auszügen in der Pariser Tageszeitung veröffentlichte.243 Dass der Autor seine beiden späten Erzählungen noch
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Weiß, Balzac als Romanfigur, S. 3. Delfmann, Heldentum, S. 110. Diese Annahme ist aus den Briefen des Autors an Stefan Zweig zu rekonstruieren. Vgl. Ernst Weiß, Von der Wollust der Dummheit [Aphorismen]. In: Pariser Tageszeitung, 18. und 19. Dezember 1938; ders., Von den Entzückungen der Liebe [15 Aphorismen]. In: Pariser Tageszeitung, 19. und 20. März 1939. – Wiederabgedruckt in: Weiß, Der zweite Augenzeuge, S. 47ff. und S. 51ff., und in: Weiß, GW, Bd. 16: KdE, S. 129–133 und S. 134–140.
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gerne in einer Buchausgabe untergebracht hätte, geht aus einem Brief an Thomas Mann hervor.244 Inhaltlich weisen beide Texte einen Bezug zu historischen Ereignissen und Orten im ehemaligen österreichischen Kaiserreich auf. Die Handlungen spielen in Prag oder Österreich, setzen sich mit dem politischen Nationalismus auseinander oder üben Kritik am österreichischen Katholizismus.245 Diese Themen teilen sich die Texte mit den späten fiktiven Autobiografien des Autors, wobei die Erzählung ›Wer hat, dem wird gegeben‹ eine thematische Nähe zu Weiß’ Roman ›Der arme Verschwender‹ (1936) aufweist. Schon Ulrike Längle hat darauf hingewiesen, dass sich dessen homodiegetischer Erzähler als ein Charakter zeichnet, dessen Lebenshaltung in der Verschwendung sowohl von ›Geld‹ als auch von ›Liebe‹ ihren Ausdruck findet.246 Das Verhältnis von Vater und Sohn ist im Roman durch die semantische Opposition von ›Sparsamkeit‹/›Geiz‹ und ›Freigebigkeit‹/›Verschwendung‹ gekennzeichnet. Dieselben Gegensatzpaare charakterisieren auch die Erzählung ›Wer hat, dem wird gegeben‹: Hier werden die Oppositionen von Geiz und Verschwendung durch den Protagonisten und seine Verwandtschaft markiert. Im ›Armen Verschwender‹ nennt der geizige Vater seinen Sohn einen »Don Quichotte«, da er nach Ansicht des zynischen Älte-
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Vgl. Ernst Weiß an Thomas Mann, Brief vom 25. Januar 1937: »Ich habe zu allem anderen noch die Unvorsichtigkeit begangen, einige kleinere Arbeiten, Novellen oder Erzählungen zu schreiben, die aber in einer Buchausgabe scheinbar nicht unterzubringen sind; Querido, Humanitas, selbst der kleine Kittl refüsieren, ohne diese zum Teil ergötzlichen Geschichten zu kennen ... .« – Abgedruckt in: Blätter der Thomas-MannGesellschaft (Zürich) 15 (1975), S. 15. Nach der Vorstellung des Freimaurers Weiß trug der Katholizismus dazu bei, die Idee eines nationenübergreifenden Humanismus zu verhindern, den Antisemitismus zu fördern und nationale Mythen und ideologische Diktaturen zu schützen. Dass Weiß diese Idee zwischen 1934 und 1936, in seinen ersten Emigrationsjahren also, sehr beschäftigte, und dass er einen Zusammenhang zwischen dem Christentum und den politischen Mythen des 20. Jahrhunderts sah, macht ein Brief des Autors an Stefan Zweig deutlich. So schreibt er nach der Lektüre von Zweigs Roman ›Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt‹ (1936): »Ihr Buch geht in seiner kulturkritischen und revolutionären Kraft aber noch weit über diesen ungeheuren Stoff hinaus, es greift an die Grundlage der heutigen Kultur, an das Christentum. Wenigstens mir wurde es evident, daß der Baum selbst, an dem solche Früchte wachsen, giftig sein muß. Und sicher scheint es mir, daß gerade aus dem faulenden Untergrund der agonisierenden christlichen Kultur alle diese Miasmen der Gewaltanbetung kommen, weil die Massen eben irgend etwas mythomanisch anbeten müssen, (auch ich schaffe mir meine Götter, und oft was für erbärmliche, glauben Sie es mir!) und da ihnen das Christentum den Mythus nicht mehr gibt, sind es die ›Ersatzchristusse‹ in Hitler etc., während Mussollini, als Ersatzcäsar den Untergang der zweiten großen Kulturwurzel von heute darstellt, der Antike.« – Ernst Weiß an Stefan Zweig, Brief vom 25. Mai 1936. Vgl. Längle, Vatermythos, S. 126.
ren einen aussichtlosen Kampf gegen den Egoismus der Welt führt.247 In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ ist es der Protagonist selbst, der des Vaters Werte vertritt. Allerdings weist der verliebte Eusebius auch Züge des Sohnes auf, denn sein erlahmender Kampf gegen die Verwandtschaft gleicht einer Don Quichoterie. Zu lieben und nicht wieder geliebt zu werden ist denn auch das zentrale Thema sowohl des Romans als auch der Erzählung; letztere führt das Thema, wie ich zeigen werde, in einer tragikomischen Variante aus.
5.1. Zur Publikations- und Forschungsgeschichte der Erzählungen in Anekdoten Beide Erzählungen in Anekdoten wurden zu Weiß’ Lebzeiten nur einmal abgedruckt. Sie erschienen 1937 in der Zeitschrift ›Das Wort‹ in Moskau, wurden einer breiten Leserschaft jedoch erst 1978 durch den Abdruck in Klaus-Peter Hinzes Anthologie und 1982 im 15. Band der ›Gesammelten Werke‹ zugänglich gemacht.248 Weiß’ Kontakt zu der prokommunistischen Zeitschrift ›Das Wort‹ war vermutlich über Lion Feuchtwanger und Willi Bredel zu Stande gekommen.249 Bredel schätzte Weiß sehr und forderte ihn immer wieder zur Mitarbeit an der Zeitschrift auf.250 So plante er noch 1938 eine »ausführliche Besprechung« von Weiß’ Lebenswerk in seiner Zeitschrift, die Hermann Kesten auf Wunsch des
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Vgl. ebd., S. 128. Vgl. Weiß, Die Messe von Roudnice. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937), H. 1, S. 12–22. – Wiederabgedruckt in: Weiß, Der zweite Augenzeuge, S. 100ff., sowie in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 341–353; ders., Wer hat, dem wird gegeben. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937), H. 4–5, S. 68–78. – Wiederabgedruckt in: Weiß, GW, Bd. 15: E, S. 251–264. ›Das Wort‹ (1936–39) wurde als Organ der deutschen Sektion im sowjetischen Schriftstellerverband geplant und durch einen Beschluss des Volkskommissariats für Erziehung der UDSSR genehmigt. Als Volksfrontorgan sollte es Bürgerliche und Linksintellektuelle ansprechen und für eine Verbreitung kommunistischer Ideen auch in künstlerischen Kreisen sorgen. Herausgegeben wurde die Zeitschrift seit 1936 von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel, ab 1937 auch von Fritz Erpenbeck. – Vgl. Angela Huß-Michel, Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933–1945, Stuttgart 1987, S. 119. Vgl. Ernst Weiß an Stefan Zweig, Brief vom 9. Dezember 1938: »Das ›Wort‹ würde eine Novelle von mir bringen und bezahlen, aber ich kann mich nicht entschließen, den ›Augenzeugen‹ auf längere Zeit zu unterbrechen.« – Als die Zeitschrift im April 1939 eingestellt wird, bedauert Weiß dies und schreibt an Bredel: »Ich hatte mir gerade jetzt vorgenommen, intensiv an dem ›Wort‹ mitzuarbeiten. Es war doch eine Tribüne, die offen stand für jeden, der den Kampf gegen die faschistischen Mächte des Ungeistes aufnehmen wollte.« – Vgl. Ernst Weiß an Willi Bredel, Brief vom 20. April 1939. In: Erinnerungen an einen Freund. Ein Gedenkbuch für F.C. Weiskopf, hg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin 1963, S. 416.
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Autors übernehmen sollte.251 Von Bredel stammt auch einer der ersten Nachrufe auf Ernst Weiß, der kurz nach dessen Freitod 1940 in der kommunistischen Zeitschrift ›Die Internationale Literatur‹ abgedruckt wurde.252 Die Weiß-Forschung hat sich so gut wie nicht mit den beiden Erzählungen in Anekdoten auseinandergesetzt.253 In den bisher erschienenen Dissertationen finden sich nur einzelne Anmerkungen, die selten über bloße Erwähnungen hinausgehen. Diese meist oberflächliche Beschäftigung führte auch zu Fehlurteilen hinsichtlich der literarischen Qualität der Texte, da weder die Ironie des Erzählers noch die Funktion des Prätextes mit in Betracht gezogen wurde. Delfmann gesteht zwar zu, dass es sich um Erzählungen mit einem »für Weiß sonst völlig untypischen humoristischen Charakter« handelt, zögert jedoch mit der Zuschreibung der Texte zur Gattung der Anekdote. Nach seiner Ansicht handelt es sich um Skizzen, die als Nebenprodukte minderer Qualität anzusehen sind.254 Die folgende Untersuchung soll dazu beitragen, dieses Urteil zu relativieren, indem sie sowohl den Prätext und als auch die ironische Erzählweise in ihren Analysen berücksichtigt.
5.2. Exkurs: Zur Erzählung in Anekdoten ›Die Messe von Roudnice‹ Die beiden Erzählungen in Anekdoten weisen einige gemeinsame Merkmale auf, die ich vor einer ausführlicheren Interpretationsskizze von ›Wer hat, dem wird gegeben‹ kurz darstellen möchte. Formal unterscheiden sich die Erzählungen von der frühen Kurzprosa des Autors, da sie nicht der Gattung der Novelle, der Kurzgeschichte oder des Kurzromans angehören, sondern die häufig unterhaltsame Form der Anekdote aufgreifen. Einzelne Szenen enden mit Pointen, die sich um eine Person oder einen Ort ranken; sie werden in den Erzählungen zu einer losen Handlung verbunden. Die Texte sind in Kurzkapitel gegliedert, wodurch der auf Sentenzen angelegte Charakter der Geschichten zutage tritt. Während der Erzähler in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ seine anekdotischen Episoden zu einer einigermaßen kohärenten Geschichte zusammenwebt, reduziert der Erzähler in ›Die Messe von Roudnice‹ die Handlung fast ganz auf Gesprächssituationen. In dieser Erzählung behandelt Weiß die letzten Kriegstage vor der Oktoberrevolution 1918 in Tschechien. Ort der Handlung ist ein Offizierskasino im 251 252
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Vgl. Ernst Weiß an Willi Bredel, Brief vom 25. November 1938. In: Willi Bredel. Sonderheft der Zeitschrift Sinn und Form, Berlin 1965, S. 262f. Vgl. Willi Bredel, Ernst Weiß. In: Die Internationale Literatur (1941), H. 3, S. 100– 102. – Wiederabgedruckt unter dem Titel ›Ernst Weiß, Arzt und Dichter‹ in: Heute und Morgen. Literarische Monatszeitschrift (1947), H. 7, S. 455–457. Nach meiner Kenntnis existiert lediglich ein Aufsatz des Prager Germanisten Jan Chytil über die Erzählung in Anekdoten ›Die Messe von Roudnice‹. – Vgl. Jan Chytil, Der weniger bekannte Ernst Weiß, S. 111–119. Vgl. Delfmann, Heldentum, S. 141.
tschechischen Hinterland, wo sich die Protagonisten regelmäßig zum Essen treffen und Geschichten erzählen.255 Die Tischsituation erinnert an die mittelalterliche Artus-Runde oder an die Rahmengeschichten von Novellensammlungen, wobei als Erzähler ein General, ein Geistlicher und ein Regimentsarzt hervortreten. Die Personen stehen für verschiedene Weltanschauungen, die vom Erzähler mal karikierend, mal ernst dargestellt werden. Der österreichische Kavalleriemajor ist Anhänger einer feudalistischen Gesellschaftsordnung und zugleich eines natürlichen Darwinismus; er schätzt sein Reitpferd mehr als ein menschliches Leben. Der Geistliche sinnt darüber nach, wie man Decken aus Menschenhaar erzeugen und damit die Soldaten kriegstüchtig halten könnte; von einer christlichen Nächstenliebe, die sich gegen den Krieg als falsche Form der Politik wendet, ist er weit entfernt.256 Beider Antipode ist der schweigsame Regimentsarzt, ein jüdischer Einzelgänger inmitten der Truppe. Er steht für einen Humanismus, der sich am hippokratischen Eid orientiert. Der Ton der Erzählung ist böse und ironisch, und immer wieder durchbricht der Erzähler die Illusion mit metafiktionalen Kommentaren.257 Er tritt als Stimme deutlich hervor, praktiziert zukunftsgewisse Vorausgriffe, gibt ironische Kommentare ab und stellt im Prolog seine eigene Glaubwürdigkeit in Frage. Was (historisch) wahr ist, wird in der Fiktion als Lüge bezeichnet. Die Verneinung seiner Autorität steht in erkennbarem Gegensatz zu den historisch richtigen Angaben der Geschichte. Ich will einleitend sofort bemerken, daß etwas, das Messe hieß, im alten Österreich eine kirchliche Messe bedeutete, in Deutschland jedoch auch das Offizierskasino und die dort regelmäßig abgehaltenen Mahlzeiten bezeichnete. Das Wort Messe ist also falsch. In dieser Erzählung wird jedoch kein Wert auf Wahrheit gelegt. So wie die Bezeichnung Messe unzutreffend ist, werden alle hier folgenden Tatsachen, Betrachtungen und lustigen Anekdoten erfunden oder, besser gesagt, erlogen und erstunken sein. So habe ich mir auch den Ort, wo diese Offiziersmesse eingerichtet ist, aus den Fingern gesogen. Es gibt zwar eine Stadt Roudnice, sie befindet sich heute noch
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Vgl. Chytil, Der weniger bekannte Ernst Weiß, S. 118. – Chytil betrachtet die Erzählung unter einem biografischen Aspekt. Die einzige positive Figur in der ironisch erzählten Geschichte, der jüdische Regimentsarzt, wird von ihm mit dem historischen Autor gleichgesetzt. Der Schwerpunkt der Erzählung, das erkennt Chytil richtig, liegt auf der Verflechtung von Ernsthaftem und Groteskem. Chytil geht allerdings fehl, wenn er eine Parteinahme der Erzählung für die Tschechen vermutet und Parallelen zur Figur des braven Soldaten Schweijk von Jaroslav Hašek sieht. In der Geschichte werden die tschechischen Revolutionäre als feige dargestellt. Vgl. E 346: »Das ist ein Gewebe aus Menschenhaar! Aus ärarischem Soldatenhaar! Das ist meine Erfindung.« So erklärt der Erzähler dem Leser in einer Fußnote, was ein Pörkelt ist, vgl. E 344: »* Pörkelt – ein tschechisch-ungarisches Fleischgericht, so eine Art Gulasch, aber keineswegs ein richtiges Gulasch.«
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in idyllischer Gegend am Ufer der Elbe in der Tschechoslowakei, aber ich bin niemals dort gewesen und kann daher auch niemals berichten, was sich im Offizierskasino dortselbst Ende Oktober 1918 abgespielt hat. (E 341, Hervorhebung im Original)
Durch sein Spiel mit der Fiktion fordert der Erzähler den Leser auf, weder ihm selbst noch den erzählenden Figuren allzu viel Glauben zu schenken. Die Personen in der ›Messe von Roudnice‹ hingegen meinen ernst, was sie sagen – auch wenn grotesk klingt, was sie von sich geben. Zu ihnen schafft der Erzähler eine ironische Distanz, die dem Leser helfen soll, die Überzeugungen der Figuren zu hinterfragen und die Gefahr zu erkennen, die in ihren Ideen steckt. Vor diesem Hintergrund ist ›Die Messe von Roudnice‹ als politische Arbeit des Autors zu werten.
5.3. »Man darf vom Menschen nichts verlangen.« – Interpretationsskizze Wie die schon untersuchten Erzählungen stellt ›Wer hat, dem wird gegeben‹ kein erschwertes Leseerlebnis dar – und doch hat der Leser nach der ersten Lektüre den Eindruck, zwar vieles verstanden, die eigentliche Aussage des Textes aber noch nicht ganz erfasst zu haben. Diese Rätselhaftigkeit geht vor allem auf den Protagonisten der Erzählung, Eusebius, und seine Logik zurück. Was ist das für ein Mensch, und welche Beziehung hat er zu materiellen und immateriellen Werten? Ist er ein Menschenfeind oder ein Menschenfreund, ein Darwinist oder ein Witzbold? Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Weiß mit ›Wer hat, dem wird gegeben‹ eine Parabelallegorie, eine ›allegoria in factis‹, verfasst hat. Ihr liegt ein Gleichnis zugrunde, mit dessen Aussage sich der Protagonist auseinandersetzt. Das Gleichnis wird durch Eusebius jedoch nicht bestätigt, sondern parodiert, denn sein höchster Wert ist nicht Gott, sondern das Geld. Das Geld kann so lange eine Ordnung etablieren, als die Liebe, die eine Himmelsmacht ist, nicht ins Spiel kommt. Ich stelle zunächst das Parusie-Gleichnis ›Vom anvertrauten Gelde‹ vor, dann die Handlung und das Heldenbewusstsein und komme am Ende auf die Rolle des (ironischen) Erzählers zu sprechen. 5.3.1. Der Prätext: ›Das Gleichnis vom anvertrauten Gelde‹ (Mt 25, 14–30) Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging: Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste er ab. Sofort begann der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei erhalten hatte, noch zwei dazu. Der aber, der das eine Talent erhalten hatte, ging und grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück, um von den Dienern Rechenschaft zu verlangen. Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazu gewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein
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tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn! Dann kam der Diener, der zwei Talente erhalten hatte, und sagte: Herr, du hast mir zwei Talente gegeben; sieh her, ich habe noch zwei dazu gewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn! Zuletzt kam auch der Diener, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wußte, daß du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder. Sein Herr antwortete ihm: du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewußt, daß ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluß haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.
Der Titel der Erzählung ›Wer hat, dem wird gegeben‹ ist als ein Explizites Transfersignal zu verstehen. Es verweist auf den Lehrsatz des ›Gleichnisses vom anvertrauten Gelde‹ im Neuen Testament und ist bei den Evangelisten Lukas und Matthäus nachzulesen. Als das letzte in der Reihe der Gleichnisse des großen apokalyptischen Redekomplexes Jesu hat es die Wiederkunft Christi am Tag des Jüngsten Gerichts zum Thema.258 Das Gleichnis besteht aus einem bildhaften Teil (der Beispielgeschichte) und einem Lehrsatz. Die Beispielgeschichte erzählt von einem reichen Herrn, der selbst nicht sät und erntet, der aber seinen Reichtum vermehrt, indem er andere Menschen für sich arbeiten lässt. Jene Knechte, die gehorchen, werden nach der Rückkehr des Herrn angemessen belohnt. Der dritte Knecht hingegen, der sich weigert, seine Arbeitskraft gebührend für seinen Herrn einzusetzen, wird bestraft. Das, was die Knechte als weltliche Gerichtsituation erleben, wird im anschließenden Lehrsatz auf den Jüngsten Tag ausgeweitet. Konkret heißt das: Wer sich auf Erden verweigert, wird im Jenseits nicht belohnt.259 Der irdischen Verstoßung folgt die eschatologische Strafe, »die äußerste Finsternis«, auf dem Fuß.260 Für den Leser stellt der Lehrsatz eine konkrete Handlungsaufforderung dar, sich selbst nach dem Gehörten zu richten. Die Erzählung in Anekdoten bezieht sich sowohl auf das Thema der biblischen Beispielgeschichte als auch auf den Lehrsatz des Gleichnisses: ›Wer hat, dem wird gegeben‹. Die Aufforderung, seine Seele durch Fleiß und gute Werke 258 259
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Vgl. Lk 19, 11–27, Mt 25, 14–30. Vgl. Ehrhard Kamlah, Kritik und Interpretation der Parabel von den anvertrauten Geldern. Mt 25, 14ff; Lk 19, 21ff. In: Kerygma und Dogma. Zeitschrift für theologische Forschung und kirchliche Lehre 14 (1968), S. 28–38, hier S. 35. Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Berlin 1981, S. 428–431.
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zu retten, wird paradoxerweise im Bild der materiellen Gütervermehrung erzählt. Es mag zunächst verwirrend wirken, dass das Geld als Symbol für (Gottes-) Liebe und Gehorsam eingesetzt wird. Erst durch eine Übertragungsleistung, durch den Vergleich von zwei Situationen, leuchtet der Lehrsatz ein.261 Materielles steht für etwas Immaterielles, ebenso wie das weltliche Gericht die Situation am Jüngsten Tag evoziert. Der Mensch, das sagt der Lehrsatz aus, soll seine ›immateriellen‹ Talente mehren, die er von Gott erhalten hat. Dazu gehören intellektuelle und künstlerische Fähigkeiten ebenso wie Fleiß, Gerechtigkeit oder ein liebendes Herz. Menschen, die sich entfalten, werden von Gott reich beschenkt. Denn nur, wer (auf Erden sein Werk getan und Gutes verrichtet) hat, dem wird (auch im Himmel) gegeben, was ihm gebührt. Es wird nun zu zeigen sein, inwiefern Eusebius den Text aus dem Neuen Testament zwar aufs Beste kennt, jedoch von den Füßen auf den Kopf stellt. Indem er den Text wörtlich, nicht aber in seinem übertragenen Sinne versteht, kommt er zu einer anderen Ethik – jener des Egoismus. Gleichzeitig erzeugt Eusebius’ wiederholtes Rekurrieren auf den Lehrsatz bei anderen die Annahme, das Verhalten des Helden sei durch die Bibel autorisiert. Aus der entstehenden Diskrepanz resultiert der komische, bisweilen zynische Effekt. Die Form (das biblische Sprechen) wird beibehalten, die eigentliche Handlungsaufforderung des Prätextes aber unterlaufen. Damit handelt es sich in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ nicht, wie bei ›Daniel‹, um eine affirmative Intertextualität, sondern um eine Parodie. Die nun folgende Interpretationsskizze soll erweisen, welches Bewusstsein der Held von seinem Handeln hat. 5.3.2. Die Geschichte: Die semantische Opposition von Arm und Reich Im Mittelpunkt der Erzählung steht der reiche Österreicher Eusebius, der nach vielen Geschäftsjahren in Amerika in seine Heimat zurückgekehrt ist. Dort warten zahlreiche arme Verwandte auf ihn, um ihn als Bittsteller zu verfolgen. Eusebius wehrt alle Versuche erfolgreich ab und begründet seine Entscheidungen mit einer eigenen Moral. Mehr noch, er schafft es sogar, mit dieser Moral seine Verwandten beim Kartenspiel um ihren Gewinn zu betrügen und selbst immer reicher zu werden. Dann jedoch erliegt Eusebius dem Charme zweier Großnichten, die er bei sich im Hause aufnimmt. Die jungen Damen spielen dem alten Mann Zuneigung vor, versorgen sich und die Verwandtschaft jedoch mit seinem Geld. Eusebius beschließt daraufhin zu sterben und vermacht seinem Bruder sein Vermögen, weil er ihn als einzigen reich und ebenbürtig glaubt. Doch der Zufall – oder das Schicksal? – will es, dass Eusebius noch um seinen letzten 261
Vgl. Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium, II. Teil. Kommentar zu Kapitel 14,1– 28, 20 und Einleitungsfragen, Freiburg u.a. 1988, S. 355–365: Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25, 14–30), hier S. 361.
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Triumph betrogen wird: Der Bruder hat sein Vermögen längst verloren, und so erhält ein Armer sein Geld. Dieser zeigt genauso wenig Dankbarkeit und Liebe wie alle anderen Verwandten. Damit bewahrheitet sich noch am Schluss Eusebius’ bittere Lebensweisheit: Nein, der Mensch ist nicht gut. Er hätte der Leiche folgen können, als sie aus dem gerichtsärztlichen Institut zur Beerdigung freigegeben wurde. Er tat es nicht. Reiche Leute haben immer ihre Gründe. (E 263)
Die Handlung in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ folgt keinem narrativen Muster wie etwa der Weg-Ziel-Struktur in den frühen Erzählungen. Doch lassen sich drei Phasen oder besser: drei dynamische Abschnitte erkennen, von denen der erste den alten Eusebius mittels einiger Anekdoten als geizigen und bibelfesten Mann charakterisiert (Kap. 2–7). Mit dem Auftauchen der Schwestern Resi und Rosi (Kap. 8/9) im zweiten Abschnitt beginnt die Zustandsveränderung des Protagonisten: Sie setzt nach einem Moment der Nächstenliebe ein, die im Folgenden von der erotischen Liebe überlagert wird. Eusebius’ Zugänglichkeit für die Liebe führt zu einem äußeren Machtverlust. Der dritte Abschnitt (Kap. 9–10) erzählt vom Entschluss des Helden, freiwillig zu sterben. In seinem Testament, einer Metadiegese, konfrontiert Eusebius den Leser direkt mit seinem Welt- und Menschenverständnis. Die Phase endet mit der Beerdigung des Protagonisten und dem Ausblick des Erzählers auf den weiteren Verlauf der Dinge. Die zentrale handlungsstrukturierende Opposition: Arm und Reich Erzählt wird ›Wer hat, dem wird gegeben‹ von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler, der aus einer nachgeordneten Position berichtet und sich als Kommentator und ironischer Berichterstatter bemerkbar macht. Dadurch findet eine stärkere Ausgestaltung des Diskurses statt als noch in den Erzählungen der zwanziger Jahre.262 Der Erzähler strukturiert das Thema sowohl auf syntagmatischer wie auch paradigmatischer Ebene durch die semantische Opposition ›arm‹/›reich‹: Auf syntagmatischer Ebene hat die Opposition eine handlungskonstituierende Funktion, auf paradigmatischer Ebene konnotiert sie das Gesagte und führt eine doppelte Bedeutung in die Geschichte ein.263 Im konkreten Handlungsablauf sorgt die Opposition für Dynamik: Eusebius hat Geld, während die Verwandtschaft arm ist. Deren Ziel ist es, ihren Zustand zu ver262 263
Vgl. Kap. III.5., S. 213ff. Unter semantischer Opposition verstehe ich mit Michael Titzmann eine »Relation zwischen zwei (oder mehreren) semantischen Termen derart, daß sie einander logisch ausschließen oder vom Text als einander logisch ausschließend gesetzt werden, d.h. alternative Terme derselben Klasse (semische Kategorie oder Archisem) sind, hinsichtlich derer sie eine erschöpfende Reihe bilden oder sich zu einer solchen ergänzen lassen.« – Vgl. Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 120.
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ändern und reich zu werden. Eusebius versucht dagegen, seinen Reichtum zu bewahren und keine Zustandsveränderung zu erzielen. Die Verwandtschaft triumphiert zumindest teilweise, als sie in das semantische Feld des Reichtums gelangt und in Eusebius’ Wohnhaus einzieht. Das hat für Eusebius den Verlust von materiellem Reichtum zur Folge und führt eine zielgerichtete Entscheidung herbei: Der Held leitet eine äußere Zustandsveränderung ein und flieht in den Tod. Die Handlung wird dadurch geschlossen.264 Auf paradigmatischer Ebene wird die Opposition ›arm‹/›reich‹ sowohl in einem konkreten als auch metaphorischen Sinne bedeutsam.265 Die Opposition wird zum Paradigma ›reich‹/›einsam‹ versus ›arm‹/›beziehungsreich‹ erweitert. Eusebius ist zwar reich an Geld, aber arm an Beziehungen. Die Verwandtschaft hingegen hat kein Geld, ist aber reich an Beziehungen. Innerhalb dieser vierfachen paradigmatischen Opposition – materieller und immaterieller Reichtum, materielle und immaterielle Armut – versuchen die Figuren zu einer Haltung zu gelangen und die eine oder andere Bedeutung auf sich zu vereinigen. So strebt der verliebte Eusebius sowohl materiellen als auch immateriellen Reichtum (Liebe und Zuneigung) an; die Geschichte lehrt ihn aber, dass sich diese beiden Formen des Reichtums ausschließen. Am Ende stirbt Eusebius, wie er gelebt hat: Reich an Geld, arm an Beziehungen. Damit wird seine zynische Überzeugung, dass »Nehmen seliger denn Geben« sei, am Schluss der Geschichte sowohl auf der syntagmatischen als auch der paradigmatischen Bedeutungsebene bestätigt. Eusebius’ Heilslehre: Die paradigmatische Bedeutung des Reichtums Wer ist Eusebius, der Gottesfürchtige? Viel erfährt der Leser nicht von ihm. In einer Art Prolog stellt ihn der Erzähler als einen älteren Mann vor, der in Amerika mit der Produktion von stählernen Nadeln reich geworden (vgl. E 252) und der nun in seine Heimat, in die österreichische Stadt Perchtoldsdorf, zurückgekehrt ist. Betrachten wir den Anfang der Erzählung und den einleitenden Prolog: Eusebius, ein Mann in höherem Alter, der außer seinem Bruder und früheren Geschäftsteilhaber Alexander nur recht entfernte, aber zahlreiche und fast durchwegs bedürftige Verwandte hatte, war im Alter von über 60 Jahren aus Amerika zurückgekehrt. Er brachte viel Geld mit. (E 251)
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Vgl. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 341ff.; Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 140f. Mit Titzmann verstehe ich unter Syntagma das »Ergebnis der Verknüpfung der gewählten Elemente« eines Textes, unter Paradigma die »Beziehung von Bedeutungselementen in einem Text, die zueinander in einer Relation der Ähnlichkeit oder des Gegensatzes stehen«. Diese lexikalischen Terme gehören einer geordneten Klasse an und sind hinsichtlich ihrer Einsetzbarkeit in den jeweiligen Kontexten entweder äquivalent oder oppositionell. – Vgl. Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 62 und 159.
Warum kommt Eusebius aus dem Land, das ihn reich gemacht hat, wieder in seine Heimat zurück? Wie alt ist er zu diesem Zeitpunkt? Wie reich ist der Held wirklich? All dies verrät der Erzähler nicht, vielmehr scheint es so, als sei er selbst etwas uninformiert: »Wieviel [Geld, Ch.D.] es war, hat man erst nach seinem Tode, nach über 20 Jahren erfahren.« (E 251). Zwei grundlegende Eigenschaften seines Helden nennt der Erzähler aber doch: Eusebius ist reich, und er ist demütig. Mit Hilfe dieser Begriffe lässt sich der Charakter des Helden ansatzweise rekonstruieren. Eusebius ist zwar reich, aber auch sparsam. Deshalb stiehlt er die Zuckerstücke und Semmeln im Kaffeehaus (vgl. E 259), leiht sich das Briefpapier, auf dem er sein Testament verfasst (vgl. E 261), und verzichtet sogar auf eine richtige Kugel für jenes Gewehr, das ihn ins Jenseits befördert (vgl. E 263). Geldverschwendung stellt für Eusebius eine Sünde dar, und dies in einem durchaus religiösen Sinn. Denn Geld ist nicht nur Zahlungsmittel, sondern ein ›heiliges Gut‹. Es sichert das Leben sowohl vor als auch nach dem Tod, da sein Vorhandensein Heilsgewissheit impliziert: Wer auf Erden fleißig war, wird im Jenseits belohnt. Diese Bilanz ist so einfach wie berechtigt, obwohl der bescheidene Eusebius seinen ›Gott‹ – offenbar aus Ehrfurcht – ungern beim Namen nennt: »Das Wort Geld nahm er höchst selten in den Mund.« (E 251). Auch für das Heil durch Reichtum gibt es Formen der Ehrfurcht. Der Held hat in seiner Jugend eine katholische Erziehung genossen (vgl. E 251) und dabei Haltungen erlernt, die ihm bei seinem Glauben zugute kommen. Der Gottesfürchtige, wie sein Name aus dem Griechischen übersetzt heißt, besitzt alle christlichen Primärtugenden: Er ist demütig266, freundlich, sogar unterwürfig, allerdings nur »scheinbar gutmütig« (E 251). Seine Zutunlichkeit manifestiert sich »in guten Ratschlägen« und »herzlichen Segenswünschen« (E 251, Hervorhebung Ch.D.), in immateriellen guten Taten, nicht in großzügigen Geldspenden an die Armen. Von der katholischen Kirche und ihren Geistlichen hält sich Eusebius fern: Er weicht ihr »nach Kräften […] in einer Art Furcht, vielleicht in einem Rest von Ehrfurcht« aus (E 251). Diese Charakterisierung bringt einerseits die frühe Prägung des Helden durch die Kirche zum Ausdruck, andererseits zeigt sie eine aktuelle Differenz. So schildert der Erzähler auch eine Auseinandersetzung zwischen Eusebius und einem Geistlichen, bei der es – innerhalb des Bedeutungsparadigmas von ›irdischem‹ und ›himmlischem‹ Reichtum – einmal mehr um Eusebius’ Seelenheil geht. Dieses kann offensichtlich auch nach der Vorstellung der Kirche mit Geld erkauft werden. Der Geistliche, der »um
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In der geistlichen Tradition ist Demut die zentrale Tugend, da sie der biblischen Sünde des Hochmuts entgegensteht und an jeder positiven sittlichen Haltung beteiligt ist: »Zur Demut gelangt der Mensch [...] primär durch die Gnade des Glaubens und durch sittliches Bemühen.« – Vgl. Günter Virt, Demut. In: Lexikon für Theologie und Kirche, hg. von Josef Höfer, Rom, und Karl Rahner, Innsbruck u.a. 21960, Bd. 3: Dämonen – Fragmentenstreit, S. 90–94, hier S. 90.
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die künftige Rettung seines unsterblichen Teils aus den Qualen des Fegefeuers und der Hölle« besorgt ist, rät »Eusebius, wenigstens die Hälfte seines Vermögens der Kirche oder religiösen wohltätigen Stiftungen zu hinterlassen« (E 255). Eusebius teilt zwar die Vorstellung, dass Geld selig macht, doch bedarf es seiner Meinung nach keines Mittlers zwischen Gott und ihm selbst. Er stellt den Geistlichen auf die Probe, befragt ihn nach Gottes Reichtum und verschränkt dabei die konkret-materielle mit der metaphorisch-immateriellen Bedeutung des Wortpaares ›arm‹ und ›reich‹. ›Hochwürden, ist Gott reich oder arm?‹ ›Gott ist reich, sehr reich, ihm gehört alles!‹ sagte der Pfarrer. ›Warum braucht er da mein kleines Pinkel (Bündelchen)?‹ sagte er, sich auf die linke Brustseite schlagend, wo er die dicke Brieftasche trug. Und als ihm der Geistliche mit den Höllenstrafen drohte, sagte er: ›Oh nein, Hochwürden, da bin ich jetzt ganz beruhigt! Wenn ich weiß, daß der liebe Gott reich ist, dann geht es mir drüben nicht schlecht. Denn die Millionäre tun sich untereinander nichts an.‹ Und seine goldenen Zähne glänzten wie das Morgenrot. (E 256)
Noch während der Pfarrer sich an der immateriellen Bedeutung des Reichtums – ›reich an Heil‹ – abarbeitet, konfrontiert ihn Eusebius mit dem konkreten Wortsinn, dem materiellen Reichtum. Schließlich ist es dieser Reichtum, den sich der Geistliche erhofft. Damit entlarvt Eusebius zum einen die Doppelbödigkeit der klerikalen Logik und bringt zum anderen seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Gott die Reichen immer noch reicher macht – so steht es schließlich schon im Gleichnis. Wer allerdings großzügig ist gegenüber Ungleichen, der läuft Gefahr, sein Geld, seine soziale Stellung und sein Seelenheil zu verspielen. In dieser Logik wird nachvollziehbar, warum Eusebius erst nach seinem eigenen Tod großzügig sein will. Der Tod entbindet Eusebius von seiner (Lebens-) Pflicht, reich zu werden und es zu bleiben. Nicht Raffgier, sondern eine gründliche – wenn auch recht wörtliche – Bibellektüre scheint ihn in seinem Handeln anzutreiben. Auch geht das ›Gleichnis von dem anvertrauten Gelde‹ vordergründig mit Maximen des Kapitalismus konform, die Eusebius in Amerika kennengelernt hat. Dort herrscht das Gesetz: »Jeder ist seines Glückes Schmied.« Auch diese Vorstellung scheint im Gleichnis angelegt, denn Fleiß und Einsatz sind der Gradmesser für die Rettung der Seele. Damit wird Erlösung berechenbar, sie kann mit positiven Bilanzen erkauft werden. Eusebius’ Anthropologie: Die paradigmatische Bedeutung der Armut Von seiner Heilslehre leitet der fromme Eusebius auch seine Anthropologie ab. Sie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Nein, der Mensch ist nicht gut. Schon im Prolog des Erzählers heißt es, dass Eusebius’ Sarg »gemäß seinem Willen und seinen Ansichten über die menschliche Natur keine menschliche Seele« folgte (E 251, Hervorhebung Ch.D.). Seine Vorstellung vom egoistischen Menschen entwirft Eusebius gleichfalls innerhalb des Bedeutungsparadigmas von ›Arm‹ und ›Reich‹. Ausgangspunkt seiner Anthropologie ist jedoch nicht – wie 224
bei der Heilslehre – der materielle wie der immaterielle Reichtum, sondern die Armut. Sie versinnbildlicht für Eusebius eine soziale Minderwertigkeit; ihr ordnet er überwiegend pejorative Attribute zu. Wer arm ist, zeigt Habgier, Rachsucht und Egoismus, ist berechnend, faul, laut und launisch. Deshalb blickt der reiche Eusebius auf seine arme Verwandtschaft herab; zwischen beiden Parteien verläuft für ihn eine natürliche Grenze, die der Himmel nicht aufheben wird. Eusebius’ Anthropologie wird in der Geschichte anhand einzelner Anekdoten beleuchtet. Die erste schildert eine Begegnung mit einem Großneffen, der ein begabter Musiker, jedoch ein unbeherrschter und unkontrollierter, aber auch ein großmütiger und gutgläubiger Mensch ist (vgl. E 252). Das Ansinnen dieses jungen Mannes, Eusebius etwas vorzuspielen, zielt auf ein Geschäft: Der Großneffe ist »in bedrohlichen Geldnöten« (E 252). In der Hoffnung auf einen lukrativen Ausgang lässt sich der Musiker das Vorspiel bei Eusebius sogar noch etwas kosten: Er »borgte sich bei seinen Damen etwas Geld zusammen, lieh ein Pianino für vier Wochen, ließ es zu dem Großonkel schaffen und spielte ihm nicht nur die Eusebiusstücke von Schumann, sondern auch eigene Kompositionen so prachtvoll vor, daß der Großonkel […] gerührt wurde« (E 252). Doch alle Rührung nutzt dem Neffen nichts, denn Eusebius schätzt den Tauschgedanken nicht: »Der Alte wiegte zweifelnd den Kopf, lachte und zeigte seine schönen goldenen Zähne.« (E 251). Am Ende erteilt er seinem Neffen eine Lehre, indem er ihn mit einem einfachen Silbergulden entlohnt: »Man darf vom Menschen nichts verlangen.« (E 253). Eusebius selbst ist stolz darauf, »daß er von den armen Teufeln nichts verlangte« (E 253). Dieselbe Eigenschaft schätzt er auch an seinem (angeblich) reichen Bruder: »Nie hat er etwas von mir verlangt.« (E 262). Vordergründig vertritt der Alte damit den Standpunkt, dass freiwilliges Geben höher zu werten sei als ein Tauschgeschäft. Eusebius glaubt sich im Recht, denn er hat genossen und ›genommen‹, aber er hat auch sein Geld gespart und nicht ›gegeben‹. Dem Neffen, der gegen seinen Geiz aufbegehrt, erteilt Eusebius gleich noch eine zweite Lehre, indem er aus dem Silber- einen Papiergulden werden lässt (vgl. E 252). Der Konflikt löst sich weder durch die Einsicht einer Partei noch durch eine angemessene Entlohnung, und allein dem großmütigen Naturell des Neffen ist es zu danken, dass der Streit zwischen Eusebius und ihm nicht eskaliert: [D]er Musiker [hörte] den kunstliebenden Alten außerordentlich leise und zart auf dem von fremdem Geld beschafften Klavier – nicht unbegabt – die ersten Takte der Mondscheinsonate zusammensuchen, und er mußte so darüber lachen, daß er beinahe die Treppe herabgestürzt wäre. Die Freundschaft nahm also noch kein Ende. (E 253)
Dass sich solche Großmut in der Lebensbilanz allerdings nicht niederschlägt und auch nicht rentiert, zeigt der Schluss der Anekdote: Eusebius macht seinem 225
Leben mit 81½ Jahren freiwillig ein Ende. Der verschwenderische Musiker hingegen erliegt »dem Elend, dem Alkohol und seinen Lieben […] mit noch nicht ganz 46« (E 253). Nehmen ist offenbar doch seliger als Geben – und wer hat, dem wird auch noch gegeben. Diese unbarmherzige Lehre bringt auch eine zweite Anekdote zum Ausdruck, die Eusebius’ Sozialdarwinismus thematisiert. Ein anderer Großneffe, der sich als Chirurg für die Werte der Wissenschaft und die »rettenden Dienste an der leidenden Menschheit« (E 253) einsetzen will, wird von Eusebius gleichfalls abgewiesen. Er billigt zwar das schöne Streben des Jüngeren, doch er hilft ihm nicht mit Geld. Eusebius argumentiert mit der Herkunft und Veranlagung eines Menschen, die von vornherein selektieren, welchem Menschen das Recht auf Erziehung und Bildung zugute kommt. Diese Aussage potenziert der Alte noch, indem er ausführt, dass nur derjenige, der reich geworden ist, auch ein Recht auf Gesundheit und gute ärztliche Verpflegung hat. ›Aber du würdest dich mir bei aller Berufung doch nicht anvertrauen‹, wandte der starrköpfige junge Mann ein. ›Vielleicht nein!‹ antwortete der Alte milde. ›Wer heißt dich mit unsereinem anfangen? Habe ich angefangen, mit Rothschild und Rockefeller Geschäfte zu machen?‹ [...] ›Fange an!‹ rief er hell. ›Fange an mit kleinen Leuten, mit Dienstmädchen, mit Häuslerinnen, mit Trödlern auf dem Markt, auch mit Soldaten, die sind froh, wenn sie einem Mann wie dir unter die Hände kommen. Unsereins laß! Unsereins laß!‹ Und damit schob er ihn ab. (E 253f.)
Eusebius glaubt an den sozialen Unterschied zwischen den Menschen. Seine Weltsicht schließt idealistisches Streben und Nächstenliebe aus. Seine Maxime lautet: Ein jeder muss mit seinen Pfunden leben lernen. Indem er seinem Großneffen mit dieser Argumentation die Unterstützung verweigert, hat Eusebius wieder Geld gespart. Auch beim Kartenspiel lehrt Eusebius seine Verwandten, dass derjenige, der fair bleibt, dumm ist und zu nichts kommt. Er selbst vermehrt seinen Reichtum auf Kosten seiner Verwandten, indem er seinen Gewinn einfordert, selbst aber keine Schulden bezahlt. Auf diese Weise kann er sein Vermögen vermehren. Indem er Klugheit und Dummheit, Reichtum und Armut als Eigenschaften in Beziehung zueinander setzt, kommt die rücksichtslose Ethik des Stärkeren zum Tragen: Nur wer klug und skrupellos ist, wird auch reich. Die Arten der Liebe (1): Caritas. Agnes, das Lamm Eusebius’ Metaphysik und seine Anthropologie können durch nichts in Frage gestellt werden als durch eine Kraft, die innerhalb der syntagmatischen und paradigmatischen Opposition von ›Arm‹ und ›Reich‹ ebenso viel Gewicht hat wie das Geld. In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ ist es die Liebe: Sie ist, im Unterschied zum Geld, eine ›Himmelsmacht‹. In zwei Spielarten wird die Liebe in die Handlung eingeführt: Als caritative, altruistische Liebe verlangt sie nichts und gibt ohne Einschränkungen. Als erotische Liebe baut sie auf ein Geben und 226
Nehmen. Eusebius begegnet beiden Spielarten. Dass er sie nicht unterscheiden kann, wird ihm zum Verhängnis. Die Nächstenliebe erfährt Eusebius scheinbar in der Person des kranken fünfjährigen Kindes Agnes. Es begeht an ihm, wie er später selbst sagen wird, die einzige gute Tat. Zwischen Agnes und Eusebius lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen: Wie Agnes weist auch Eusebius kindliche Züge auf (vgl. E 253), und mit ihr verbindet ihn sein christlicher Vorname: Eusebius bedeutet »Furcht vor Gott«, Agnes heißt übersetzt das »Lamm, das sich für das Heil der Welt geopfert hat«. Die beiden Namen sind die einzig sprechenden Namen in der Geschichte, und sie verweisen auf ein Transzendentes, die (Gottes-)Liebe. So wie Agnes, die keine Gegenleistung für ihr Geschenk einfordert, interpretiert sich Eusebius selbst als Altruisten, da er von anderen Menschen nichts verlangt (vgl. E 253). Der Geistliche, der seine Aufgabe, Geld für die Kirche einzusammeln, ernster nimmt als die Nächstenliebe, verschweigt Eusebius das Schicksal des Mädchens. Nach ihrer Genesung lebt Agnes mit ihrem Vater und sieben Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen und kann von Eusebius’ Reichtum nicht mehr profitieren. Dabei hätte sich der Millionär für diesen Menschen erstmals gerne und freiwillig eingesetzt. Der Geistliche wußte wohl, daß Agneschen längst genesen war und daß sie in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte mit ihrem Vater und sieben Geschwistern. Aber der geistliche Herr hatte dies dem Eusebius verschwiegen. Er hatte immer noch auf eine Bekehrung des Reichen gehofft, und er glaubte, ein Gulden, den dieser für sein ewiges Heil spende, wiege schwerer vor dem Richterstuhl des Himmels als ein Haufen Gold, den man einem dummen skrofulösen kleinen Mädchen aus dem Wilhelminenspital in den Schoß werfe. (E 263f.)
Es gehört zu den vielen Merkwürdigkeiten dieser Geschichte, dass der Held zwar Namen und Anschrift des Kindes weiß, dass er seinen Verbleib und sein Schicksal aber offenbar nicht recherchieren kann (vgl. E 256). Auch lässt der Erzähler offen, ob Agnes aus freien Stücken gehandelt hat, als sie Eusebius ihr Püppchen schenkte, denn er relativiert ihre gute Tat durch eine Vermutung: »Vielleicht hatte es in seinem Fieber den dicken Eusebius mit seinem mageren Vater verwechselt.« (E 256). Agnes selbst »hatte nie geahnt, dass sie die einzige gewesen war, die dem armen Millionär je etwas ohne Berechnung geschenkt hatte« (E 263). Auf sie trifft am Ende der Umkehrschluss von Eusebius’ Weisheit zu: Wer gibt, dem wird nicht gegeben. Die Arten der Liebe (2): Eros. Resi und Rosi Durch eine Verlagerung von der caritativen hin zur erotischen Liebe kommt es innerhalb des Bedeutungsparadigmas ›Liebe‹/›Zuneigung‹ zur Katastrophe. Da sich Eusebius dem kleinen Mädchen gegenüber nicht erkenntlich zeigen kann, lässt er sich vom Geistlichen zu einer Pension für einen armen Verwandten überreden. Allerdings führt nicht diese erzwungene gute Tat, sondern Eusebius’ 227
Versuch, seine Großzügigkeit gegenüber seinen Verwandten wieder zurückzunehmen, in die Krise (vgl. E 257). Als Ausgleich für die entzogene Alimentation werden Eusebius die beiden Großnichten Resi und Rosi ins Haus geschickt, und »in der ersten Dankbarkeit verwöhnten sie den alten Mann so, daß er bereute, nicht rechtzeitig geheiratet zu haben« (E 258). Rosi und Resi verkörpern die Erotik. Sie setzen Eusebius’ Weltsicht außer Kraft, denn er verliebt sich und ist nicht mehr in der Lage, sein Geld zu verteidigen. Es wird deutlich, dass die beiden Mädchen kein ›Geschenk‹ an Eusebius waren, sondern ein strategisches Tauschmittel ihres Vaters in der äußersten Not. Eusebius wird betrogen, muss für die Mädchen bezahlen und Verwandte in sein Mietshaus aufnehmen; seine Finanzen, angespart für sein »Seelenheil«, schmelzen dahin. Der Eros löst die Ordnung auf: Die jungen Leute hintergehen nicht nur ihn, sondern auch einander, sie zeugen Kinder und verschwinden, wählen neue Partner, drängen den Alten aus seiner Wohnung und schließlich aus dem Leben. Eusebius muss nun für alles bezahlen, was er seinen Verwandten zuvor verweigert hat. Seine besten Anzüge trug jetzt schon der Geliebte, seine kostbare Uhr war vom Nachtkästchen verschwunden, in dem Türspalt der eisernen Kasse steckte die abgebrochene Schneide einer Hacke. Die solide Kasse hatte widerstanden, aber wenn der alte Herr morgens von dem Paar mit einem vielsagenden Blick ›was, du lebst immer noch?‹ begrüßt wurde, fühlte er sich seines Lebens nicht mehr sicher. (E 260, Hervorhebung im Original)
Die fast groteske Szene zeigt Eusebius als einen Menschen, den seine Sehnsucht nach Liebe verwundbar macht. Weil die Sehnsucht, als Mensch geliebt zu werden, nicht in Erfüllung geht, spürt er zum ersten Mal, was Einsamkeit bedeutet: »Im Kaffeehaus setzte er sich in eine Ecke, holte die Lesebrille hervor und versuchte zu lesen, sehnte sich aber im Grunde heim zu den zwei Schwestern. Er stöhnte.« (E 259). Doch Eusebius wird von den Schwestern nicht wiedergeliebt, erkennt schließlich ihre Ziele und beschließt, ebenso zu sterben, wie er gelebt hat: reich und allein. Testament und Tod: Eusebius’ Metadiegese. Die ›Moral‹ der Geschichte Im letzten Drittel der Erzählung gibt der Erzähler ein Schriftstück wieder, das als Metadiegese in seinen Monolog eingelassen ist und Eusebius direkt zu Wort kommen lässt. Es handelt sich um das Testament des Protagonisten, in dem er sein Weltbild und seinen Entschluss zu sterben in zehn Punkten erklärt.267 Das 267
228
Unter Metadiegese verstehe ich eine Erzählung, die ein Ereignis im Rahmen einer Diegese darstellt. Der Sprecher einer Metadiegese ist intradiegetisch, das heißt, er ist selbst eine Figur der erzählten Welt. In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ handelt es sich um eine explikative Metadiegese, die das Verhältnis zwischen Metadiegese und Diegese kausal erklärt. – Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 166.
Schriftstück ist Eusebius’ letzter Versuch, seine aus der Ordnung geratene Welt wieder herzustellen. Der Held zählt sein Geld und stellt die exakte Summe fest, die ihm noch geblieben ist, um sich »mit dem CHEF [d.i. Gott, Ch.D.] […] direkt auszugleichen« (E 262). 2) Ich war glücklich. Ich war reich. Wer aber der Wohltätigkeit einen Finger reicht, kommt darin um. Wenn ich mich nicht durch das liebliche Geschenk des fünfjährigen Fräulein Agnes Hofschultner im Wilhelminenspital, Zimmer 32, Bett 7, hätte rühren lassen, wäre mein Leben per saldo noch besser abzuschließen. Aber was einmal geschehen ist, ist geschehen. Mir ist es nicht gut bekommen, und dem holdseligen Mädchen Agnes auch nicht. Denn ich fürchte, es lebt nicht mehr, das Fräulein. Wenn ein unschuldiges Kind von 5 Jahren so elendiglich sterben muß, wozu soll ein alter, abgetakelter Mann wie ich von 81 noch lange leben? Deshalb wünsche ich, daß mir das Püppchen, das sich im obersten Fach des Nachttisches befindet, ins Grab mitgegeben wird […]. Bargeld und Papiere sowie das schuldenfreie Haus vermache ich jedoch zur Gänze meinem geliebten Bruder Alexander und seinen Rechtsnachfolgern. Bei seinem immensen Vermögen wird er den Zuwachs zwar nicht sehr spüren. Wer hat, dem wird gegeben. Er hat nie etwas von mir verlangt! (E 261f.)
Das Testament zeigt, dass Eusebius mehreren Irrtümern aufsitzt: Weder erleidet das Mädchen Agnes jenes Schicksal, von dem Eusebius ausgeht, noch ist sein Bruder der, für den Eusebius ihn hält. Um seinem Grundsatz treu zu bleiben, dass sich nur Gleiches zu Gleichem gesellen sollte, schenkt er dem angeblichen Millionär seine Millionen – ganz so, wie der Herr im Gleichnis das Talent des faulen Knechtes an den fleißigen Knecht weitergibt. Die Hoffnung, die Ordnung auf diese Weise wieder herzustellen, erhält durch die Irrtümer eine tragikomische Note. Denn weder ist Agnes zugrunde gegangen, noch ist der Bruder reich: Er ist wegen allzu »kühner« Expansionsversuche verarmt. »Aber von all dem hat Eusebius nichts mehr erfahren und sich – in der Tat – durch seinen Tod allerhand Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen erspart.« (E 264). Der Epilog suggeriert eine Ausweitung des in der Geschichte gezeigten menschlichen Verhaltens ins Allgemeine – dahingehend, dass der Wunsch nach einer Befriedigung der eigenen Interessen nicht nur Eusebius, sondern offenbar alle Menschen prägt. Keiner achtet auf das Wohl des anderen. Weder die Verwandtschaft noch der Geistliche verhalten sich wirklich menschenwürdiger als der egoistische Eusebius. Auch sie handeln nach ihrem Vorteil und suchen ihr Glück. So kommt der Erzähler eher zu einer Bestätigung des Eusebius’schen Menschenbildes als zu seiner Widerlegung: Nein, der Mensch ist nicht gut.
5.3.3. Zum Realitätsstatus der erzählten Welt: Kausale Motivierung Hat das Schicksal den reichen Eusebius schwer geschlagen? Oder ist er am Ende an allem selbst schuld? Um diese Fragen zu beantworten, ist ein Blick auf die Motivierung der Geschichte sinnvoll. In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ ist 229
die erzählte Welt homogen: Abgebildet wird eine Wirklichkeit, die den Gesetzen der empirischen Welt nachempfunden ist, und die nicht durch Wunder in Frage gestellt wird. In dieser Welt gibt es Mietskasernen und Stahlnadelfabriken, Spitäler und gerichtsärztliche Institute, kinderreiche Familien, Tarockspiele und Poker. Eusebius wohnt in Perchtoldsdorf im Wienerwald, einem Ort, der sich auf der realen Landkarte Österreichs finden lässt. Auch die Motivation der Geschichte lässt sich durch das kausale Prinzip von Ursache und Wirkung erklären: Was Eusebius geschieht, ist stets eine mehr oder minder direkte Folge seiner eigenen Entschlüsse und gelebten Überzeugungen. Nicht immer scheint allerdings logisch, was Eusebius tut. Ein Beispiel: Weil der alte Herr zu geizig ist, zahlt er der Verwandtschaft ihren Lohn beim Kartenspiel nicht aus. Sie rächt sich mit Lärm in seinem Mietshaus und scheucht Eusebius’ Nachbarn aus dem Schlaf (vgl. E 255). Dieses kleine Delikt wäre vermutlich leicht – etwa durch ein Gespräch oder eine Änderung der Spielregeln bei den Kartenabenden – beizulegen gewesen. Seltsamerweise entschließt sich Eusebius aber zu einer großen Lösung, dem Kauf des Hauses. Das ist kaum nachzuvollziehen. In gleicher Weise unlogisch verfährt Eusebius bei der Unterstützung des jungen Mediziners, dem er erst das Geld für die Ausbildung verweigert, dann aber Hochzeit und Unterhalt bezahlen muss (vgl. E 259). Die Unlogik dieser Handlungen ist indes nicht auf höhere Einflüsse zurückzuführen, sondern allein auf Eusebius’ Willen. Sein Verhalten steuert die anderen Beteiligten, denn sie reagieren auf seinen Willen. Das einzige Ereignis, das sich dieser Handlungskette entzieht, ist die Ankunft des verarmten Bruders: Er trifft kurz nach Eusebius’ Selbstmord ein. Dies kann als Fügung interpretiert werden, ist im Grunde aber purer Zufall. Man kann daher sagen, dass die Ereignisse in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ nicht final motiviert sind, dass aber dennoch der Eindruck entsteht, dass nichts wirklich Logisches geschieht. Dieser Eindruck geht auf Eusebius’ Verhalten zurück. Es ist im Grunde irrational, weshalb ich es gleich noch näher betrachten will. Eusebius’ goldene Zähne: Zeichen seiner Macht und seiner Lebenskraft In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ werden auch kaum semantische Relationen durch Symbole, Metaphern oder Leitfiguren aufgebaut. Dies ist nicht zuletzt der Handlungsarmut geschuldet, die diese Erzählung im Vergleich zu früheren Novellen auszeichnet. Auffallend ist lediglich ein Symbol, das die Geschichte leitmotivisch durchzieht und insgesamt sechsmal erwähnt wird: Eusebius’ goldene Zähne (vgl. E 256). Sein Gebiss zeigt der Held jedes Mal mit einem gewinnenden Lächeln, wenn er zahlen soll (vgl. E 251f., 256, 257, 259). Eusebius hat es sich in Amerika anfertigen lassen, zum Preis von »785 Dollar«; es ist »eine Meisterleistung echt amerikanischer Zahnheilkunde« (E 262). Als sichtbares Zeichen von Eusebius’ Reichtum ist es mit seinem Körper unzertrennlich verbunden: Es symbolisiert sowohl seine finanzielle Macht als auch seine »Lebenskraft«. 230
Psychoanalytische Interpretationen sehen in den Zähnen sogar ein Symbol für die Manneskraft.268 Aufschlussreich ist, dass das Gebiss nach Eusebius’ Tod an eine der beiden Nichten übergehen soll: »Es soll nichts unnötig verloren gehen!« (E 262). Allerdings bringen Eusebius’ Sparsamkeit und sein Entschluss, sich mit Wasser anstelle mit einer Kugel im Gewehr zu töten, die Nichte um die zugedachte Entlohnung, denn das Gebiss wird zerstört. Die Tat beendet nicht nur Eusebius’ Leben, sondern zerstört auch das sichtbare Zeichen seines Reichtums. Am Ende kommt nichts so, wie es Eusebius berechnet hat. Figurenbewusstsein und -verhalten: Eusebius, ein mythisch denkender Held? ›Wer hat, dem wird gegeben‹ ist eine weitgehend nullfokalisierte Erzählung. Zur Wiedergabe der Ereignisse bzw. der Figurenrede wählt der Erzähler den Erzähl- bzw. den Gedankenbericht. Nur an wenigen Stellen wird die mittelbare Darstellung von wörtlich zitierter Figurenrede abgelöst; meist handelt es sich dabei um ›Weisheiten‹ des Eusebius. Das dergestalt vermittelte Bewusstsein des Helden ergibt ein komplexes Bild. Zum einen ist Eusebius »ein kluger Mann« (E 254) und »bei klarem Verstand« (E 261). Zum anderen scheint er irrational zu denken: Eusebius greift auf früh erlernte Bilder zurück, um sich die Welt zu erklären, und bezieht seine Gewissheiten nicht aus kausalen, sondern aus finalen Rückschlüssen auf das menschliche Verhalten. Dies möchte ich anhand (1) der Figurenrede und des Figurenverhaltens, (2) der Gedanken und (3) der Darstellung des Vor- oder Unbewussten zeigen. (1) Figurenrede und Figurenverhalten: Die wörtlich zitierte Figurenrede nimmt im Erzählermonolog nur einen geringen Raum ein, beschreibt aber Eusebius’ Interaktion mit anderen Figuren, seine Argumente und seine Redestrategie. Die kurzen Dialoge enden meist in allgemeinen Sätzen oder Bibelzitaten, mit deren Hilfe Eusebius versucht, seiner Rede eine höhere Autorität zu verleihen.269 Damit suggeriert er seinem Zuhörer, dass das, was in der erlebten Situation geschehen ist, ähnlich zu deuten sei wie Vorgänge in der Bibel. Als Eusebius beispielsweise seinem armen Vetter die Pension entzieht, begründet er diese Entscheidung mit einem Satz aus dem Buch Hiob: »›Was soll ich tun?‹ klagte der Arme. ›Das gleiche, was du getan hättest, wenn ich nicht auf der Welt gewesen wäre. Gott hat’s
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Vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 847. Solche belehrenden Sätze sind etwa die teilweise schon zitierten: »Man darf vom Menschen nichts verlangen.« (E 253); »Man ist entweder ein tüchtiger Chirurg oder man ist es nicht.« (E 253); »Wer hat, dem wird gegeben, und mit Recht!« (E 254); »Alles gebe ich oder nichts!« (E 255); »Ich bin gewesen wie alle anderen, und es kehre jeder demütig vor seiner eigenen Tür.« (E 262).
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gegeben, Gott hat’s genommen, der Name Gottes sei gelobt!‹« (E 257).270 Dem fassungslosen Armen empfiehlt Eusebius, seine Entscheidung ebenso gottergeben hinzunehmen wie Hiob. Dass es hier Eusebius ist und nicht Gott, dessen Willen die Katastrophe herbeiführt, wird durch die Sentenz verschleiert. Die Berufung auf fremde Autoritäten ist eine rhetorische Strategie, die Eusebius als Situationsund Redemächtiger ausübt, und die es ihm ermöglicht, konkrete Konflikte zu vermeiden und sein Geld zu sparen. Zugleich erlaubt dieses uneigentliche Sprechen, seine eigene als eine allgemeine Wahrheit zu etablieren. Wie aber lautet Eusebius’ Wahrheit? An einigen Stellen im Text kommt sie direkt zur Sprache. ›Gott wird es Ihnen danken‹, sagte der Pfarrer gerührt. ›Mischen Sie sich nicht in seine Angelegenheiten!‹ antwortete Eusebius, der im Augenblicke, wo er so viel Geld aus den Händen lassen sollte, nichts mehr von seiner Demut an sich hatte. (E 256) ›Seid Ihr denn besser als ich?‹, raunte er ihnen bitterböse, aber in zuckersüßem Ton, fast flötend zu, [...], ›ihr seid nicht besser als ich, nur ärmer, ihr kapitalistisches Gesindel!‹ Und als die Verwandten sich empörten, setzte er fort: ›Gut, ich bin für euch das Aas. Aber was seid ihr anderes als Hyänen?‹ Die Verwandten knurrten, gaben aber keine Antwort [...]. (E 255)
Diese Aussagen bringen Eusebius’ Grundüberzeugung zum Ausdruck: Der menschliche Egoismus ist der Ursprung aller Motivation, auch der Nächstenliebe. Jeder nimmt vom anderen, statt zu geben. Was den Menschen interessiert, ist ausschließlich sein eigenes Wohl. Durch die Strategie der uneigentlichen Rede wird diese Ansicht von der Bibel scheinbar bestätigt: Der Egoist erscheint jetzt als bibelfester Christ. Es bleibt unklar, ob und wie strategisch Eusebius arbeitet, oder ob sein Verhalten auf eine unkritische Bibellektüre zurückgeht. Für den Leser sind seine Bibelzitate nicht nur ein Hinweis auf mythisches Denken, sondern auch ein Transfersignal dafür, dass der Held uneigentlich verstanden werden muss. Eusebius ist kein psychologischer Charakter, sondern ein Typus. Er stellt einen Menschen dar, dessen Unfähigkeit, das im Gleichnis Erzählte aus einer materiellen in eine immaterielle Sphäre zu übertragen, zu einer verengten Weltsicht und damit zu einer falsch verstandenen Religiosität geführt hat. (2) Figurengedanken: Eusebius’ Gedanken sind dem Leser weniger zugänglich als seine Worte. Der Erzähler deutet die Gedanken seines Helden nur an wenigen Stellen an, aber er erzählt sie nicht. Es handelt sich um Halbsätze und kurze Formulierungen, die vom Verb »müssen« eingeleitet werden. Durch das Modalverb wird eine Getriebenheit suggeriert, die im Gegensatz zu seiner sonst extrapolierten Macht steht. Ich gebe zwei Beispiele, in denen der Erzähler auf Eusebius fokalisiert und seine Wirklichkeitsinterpretation wiedergibt.
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Vgl. AT, das Buch Hiob 1, 21: »Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.«
Um ihn zu ärgern, trampelten sie [die Verwandten, Ch.D.] dann mit großem Getöse die Treppe hinab, weckten die Nachbarn und erweckten solche Unzufriedenheit im Hause, daß Eusebius das riesige, von bald 200 Mietern bewohnte Haus kaufen mußte. (E 255, Hervorhebung Ch.D.) Der arme Vetter dagegen kam am ersten Montag jeden Monats und war so überschwenglich mit den Berichten über sein häusliches Elend, daß der Alte es vorzog, die Geldsumme (die er auf 100 Gulden monatlich hatte erhöhen müssen, als noch ein Zwillingspärchen in der Wiege sich eingestellt hatte) dem armen Bittsteller durch einen schmalen Spalt der Tür zu überreichen. (E 256, Hervorhebung Ch.D.)
Weder die erzählten Ereignisse noch ihre Erklärungen geben Aufschluss über den vermeintlichen Zwang, dem sich Eusebius ausgesetzt sieht. Von außen betrachtet, ist der Held nach wie vor der Situationsmächtige. Er ist seinen Verwandten überlegen und weder gezwungen, das Haus zu kaufen noch die Pension zu erhöhen. Offenbar leitet Eusebius selbst aus dem Erlebten einen Zwang zur Handlung ab, deren Folgen er fürchtet. Dieser Zwang ist für den Leser logisch ebenso wenig nachzuvollziehen wie die im Text andeutungsweise vorhandenen Begründungen. Nur weil Verwandte Lärm machen, muss niemand ein Haus kaufen. Nur weil Zwillinge geboren werden, muss niemand wohltätiger werden, als er eigentlich will. Das Denken des Helden ist offensichtlich einer anderen Logik unterworfen. Das zeigt auch ein Beispiel, in dem Eusebius’ Gedanken zwar wieder nicht erzählt, aber durch das Verb »scheinen« angedeutet werden. Die folgende Stelle ist auf Eusebius fokalisiert und zeigt, dass Eusebius zwischen scheinbaren Zufällen finale Zusammenhänge herstellt. Diese beiden Wohltaten schienen aber Eusebius kein Glück gebracht zu haben. Bei dem Krach der landwirtschaftlichen Sparkasse in Hostomeric verlor er nicht weniger als 300 000 Gulden. Unglückseligerweise war es an dem ersten Montag eines Monats, als Eusebius die Nachricht erfahren hatte, und diesmal ließ er den Bittsteller ein, gab ihm das bereits vorbereitete Kuvert, sagte aber, als der Arme demütig dankte, nicht der Vetter, sondern er selbst hätte ihm zu danken, da ihm der Vetter endlich die Gelegenheit gegeben hätte, Wohltun zu üben. Der Vetter stutzte ob dieser Demut und Zutunlichkeit, setzte sich erblassend hin und erfuhr zu seinem Schrecken, dass er von jetzt an nichts mehr erhalten solle, das Wohltun hätte dem Eusebius keine Zinsen getragen, im Gegenteil. (E 256f., Hervorhebung Ch.D.)
Indem Eusebius den Bankenkrach als Folge seiner Wohltätigkeit deutet und als Zeichen, dass sich Mildtätigkeit nicht lohnt, stellt er keinen analytischen, sondern einen irrationalen Zusammenhang her. Diese Logik wirkt abstrus: Ereignisse werden nicht unabhängig voneinander, im Sinne eines Zufalls, sondern in einem finalen Gesamtzusammenhang bewertet. Die wenigen Stellen, an denen der Erzähler die Gedanken des Helden andeutet, zeigen somit eine Figur, die nicht analytisch, sondern mythisch denkt. Eusebius’ Rückschlüsse sind daher nicht rationaler, sondern irrationaler Natur. (3) Das Vor- oder Unbewusstsein: Es ist gewagt, ein Vor- oder Unbewusstsein von Eusebius analysieren zu wollen, da in der ganzen Geschichte keine Träume 233
oder Visionen erzählt werden. Im Folgenden versuche ich dennoch, aus Eusebius’ Reflexen einen Hinweis auf verborgene und verdrängte Ängste abzuleiten. Betrachtet man Eusebius’ spontane Reaktionen auf seine Mitmenschen, so fällt auf, dass er Konflikten aus dem Weg geht. Er ist zu feige, seine Entscheidung, wer den Armenarzt heiraten darf, seiner jüngeren Nichte mitzuteilen (vgl. E 259), er fürchtet sich davor, sich mit den Hausbewohnern auseinander zu setzen und sich dem Andrang der Verwandten in seinem eigenen Haus zu stellen (vgl. E 261), und er versucht nicht, den Streit der Schwestern zu schlichten oder mit dem Oberkellner seines Stammcafés zu diskutieren. Warum nicht? Der Erzähler gibt einen Hinweis: »[M]anchmal fürchtete er sich vor den Menschen.« (E 254, Hervorhebung Ch.D.). Furcht besetzt Eusebius’ Denken und bestimmt seine Logik. Seine Furcht hat seine Wahrnehmung ver-rückt, denn er sieht sich als Opfer und macht seine Umwelt für die vermeintlichen Zwänge verantwortlich. Was aber ist der Ursprung dieser Angst? Darauf gibt die Erzählung keine Antwort, und so kann nur eine Vermutung angestellt werden. Die katholische Geistlichkeit hat in Eusebius zu Jugendzeiten eine »Art Furcht« (E 251) geweckt, und noch der Erwachsene weicht den Drohungen einer »Höllenstrafe« (E 256) ängstlich aus. Gegen das von der Kirche propagierte Jenseits hat sich Eusebius aus eigener Kraft über lange Jahre hinweg mit seiner Philosophie des Geldes gewappnet, die seine Angst dämpft und Sicherheit verspricht. Eusebius’ Bewusstsein, so lässt sich zusammenfassen, wird dem Leser vom Erzähler zunächst als ein selbst-bewusstes, das heißt: rationales und argumentierendes Bewusstsein vorgestellt. Eine Analyse der Gedanken zeigt allerdings, dass Eusebius nicht rational, sondern irrational denkt. Dieses Denken wird vor allem dort evident, wo das Geschehen auch anders, logischer hätte verlaufen können, würde der Held nicht eingreifen. Eusebius orientiert sich offenbar an einer – materiell-metaphysischen – Weltdeutung, doch seine Liebe zum Geld ist mindestens so naiv wie die Berechnung des Jenseits durch den Geistlichen. Was Eusebius umtreibt, ist eine Art ›Furcht vor der Hölle‹, und diese Angst macht ihn irrational. Der Bezug auf die Prätexte ist dabei als Explizites Transfersignal zu verstehen: Die Prätexte entlarven Eusebius’ Redestrategie als parabolisch und sein Denken als mythisch – mit fragwürdigen Rückschlüssen. 5.3.4. Der Erzähler: Ironie als Stilmittel einer dissimulativen Rhetorik Die Erzählung in Anekdoten ›Wer hat, dem wird gegeben‹ wird, wie erwähnt, von einem kommentierfreudigen Erzähler präsentiert, der sich bisweilen als ironischer Sprecher zu verstehen gibt, wobei seine Kritik nicht allein auf den Helden, sondern auf das gesamte Personal der Geschichte zielt. Neben Kommentaren gibt der Erzähler seine extradiegetische nachgeordnete Position durch kurze Vorausgriffe zu erkennen, in denen er Entwicklungen ankündigt oder Zusatzinformationen gibt, die er in Klammern einfügt. Hier drei Beispiele: Eusebius lässt 234
sich so gekonnt von einem Pianisten vorspielen, dass »der Großonkel (der den ganzen Jammer des Großneffen genau kannte) gerührt wurde […]« (E 252). Aber abgesehen davon, daß er (ein kluger Mann) ungewöhnlich gut spielte und alle Karten ›offen‹ in seinem Kopfe hatte, spielte er stets nur auf Verrechnung. Am Ende der Woche rechnete er ab. (Nicht mit den Großnichten, hier war die Abrechnung sehr traurig). (E 254) Dem Armen schien ein tröstender Gedanke gekommen zu sein. ›Ich schicke sie Ihnen, lieber Herr Großonkel, sie werden die Kragen abholen kommen, morgen um diese Zeit vielleicht, Resi und Rosi schicke ich!‹ (Diese waren die hübschesten seiner zahlreichen Mädchen.) (E 257)
Diese Vorausgriffe und zusätzlichen Erläuterungen dienen dazu, den Wissensvorsprung des Erzählers gegenüber seinen Figuren zu demonstrieren und seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Daneben finden sich im Diskurs auch theoretische Sätze, in denen der Erzähler sein Weltwissen demonstriert oder getroffene Aussagen über Figuren verallgemeinert. Hinzu kommen Indikatoren von Ironie, die der Erzähler sowohl auf Wort- als auch auf Satzebene einstreut. Die Ironie, als besondere Form der Kommentierung, verdoppelt das Kommunikat zwischen Erzähler und Leser in eine explizite und eine implizite Botschaft, wobei die implizite Botschaft als die eigentlich gemeinte aufgefasst werden soll.271 Das Prinzip der maximalen Verständlichkeit wird unterlaufen, um die Effektivität der Rede zu erhöhen und die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Redeakt zu lenken.272 Diese Formen der Ironie möchte ich nun spezifizieren. Ironie als Mittel der Distanzierung und der Kritik In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ lassen sich zwei Zielrichtungen der Ironie unterscheiden, zum einen ironische Bewertungen von Sachverhalten und zum anderen ironische Kommentare über das Figurenverhalten. So extrapoliert der Erzähler die scheinbar positive Wirkung des Geldes auf Leib und Seele des Menschen,
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Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 100. – Die Autoren erklären Ironie ähnlich und benutzen den Ausdruck des »verdoppelten Kommunikats«. Danach verdoppelt Ironie als Trope oder als Sprecherhaltung das Kommunikat zwischen zwei Gesprächspartnern in eine explizite und eine implizite Botschaft. Dass es sich um zwei Botschaften handelt, gibt der Sprecher durch Ironiesignale zu erkennen. Die Gefahr dieser zweischichtigen Semantik liegt darin, dass der Hörer oder Leser nicht immer zwischen expliziter und impliziter Botschaft zu unterscheiden vermag, und dass die Kommunikation misslingt. Vgl. Lausberg, Elemente, S. 34. – Nach Lausberg stellt die Ironie unter den Arten der ›werk-externen dispositio‹ den ›ductus subtilis‹ dar, in dem »der Redner vordergründig (thema) eine Meinung mit der hintergründigen Absicht (consilium)« simuliert, um »beim Publikum eine dieser Meinung entgegengesetzte Wirkung provokatorisch zu erzielen. Die gesamte Rede ist somit eine Simulations-Ironie«.
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indem er den Leser darüber aufklärt, dass »Geld […] zäh« erhält (E 255), und dass »reiche Leute [...] immer ihre Gründe« haben (E 263). Seine ironische Distanzierung vom Verhalten der Figuren zeigt der Erzähler durch Adjektive und Appositionen an: So tituliert er mehrmals den reichen Helden als »armen alten Mann« (E 260) oder »armen Millionär« (E 262, Hervorhebung Ch.D.) oder auch als »Tor[en]« (E 254). Die Verwandten werden kritisch beurteilt, indem der Erzähler Eusebius’ Meinung imitiert und sie gleichfalls mit negativen Attributen versieht. Der Teufel muß den Neffen geritten haben, daß er bereits nach einer halben Stunde (und nicht wenig angeheitert) wieder erschien und dem versonnen im Dunkeln dasitzenden Großoheim das aufgerissene Kuvert wies, in welchem bloß ein einziger Silbergulden versteckt gewesen war, [...]. (E 252, Hervorhebung Ch.D.)
Nicht immer kann allerdings mit absoluter Sicherheit gesagt werden, dass der Erzähler nur Eusebius’ Perspektive und nicht auch seine eigene wiedergibt. So bezeichnet er den Volontärarzt als »Schwärmer« (E 253) und den Pianisten als »tüchtigen, aber etwas sauflustigen« Musiker (E 251). Auch sind nicht alle Kommentare des Erzählers definitiv ironisch. Dies trifft vor allem dann zu, wenn der Erzähler den Helden beurteilt. Er kommentiert Fehler im Verhalten seines Protagonisten, die zu dessen frühem Tod beitragen. Diese Kommentierung impliziert eine Besorgtheit, von der sich der Leser kein völlig schlüssiges Bild machen kann. Ist sie ernst gemeint oder ironisch? Ein Beispiel: Eusebius langweilte sich oft und spielte gern Karten. Es soll hauptsächlich aus dem Grunde gewesen sein, immer ein paar geduldige Partner für das Kartenspiel bei sich zu haben, daß er seine Großnichten am Vorabend seines Todes zu sich nahm, der Tor. Er hätte sich viel Kummer ersparen und hundert Jahre alt werden können, wäre er nur etwas menschenwürdiger mit den anderen Kartenpartnern umgegangen. (E 254, Hervorhebung Ch.D.)
Durch den Wechsel von ironischen zu ernsten Kommentaren wird der Leser darauf hingewiesen, dass Eusebius nicht eine ausschließlich komische, sondern offenbar auch eine tragische Person ist. Was er tut, ruft einerseits die offene Kritik des Erzählers hervor; andererseits sind die anderen Figuren vor seiner Kritik auch nicht gefeit. Der Erzähler zeigt sich als ein Vermittler, der die ironische Distanzierung nutzt, um seine Figuren vor dem Leser zu entlarven. Der Leser soll erheitert werden und sich mit dem Verhalten der Figuren auseinandersetzen. Die Erzählmotivation ist demnach eine didaktische: Weder ist Eusebius richtig komisch noch richtig tragisch, noch sind die Pointen der dargebrachten Anekdoten wirklich zum Lachen oder Weinen. Beim Leser bleibt ein Gefühl der Ambivalenz zurück – und das Lachen ihm im Halse stecken.
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Informationspolitik: Verschweigen von Informationen Nicht immer sind die Signale in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ ausreichend, um zwischen Ernst und Ironie zu unterscheiden. Nun gibt es in diesem Diskurs aber auch Anzeichen einer Dissimulation. Das heißt, dass der Erzähler offenbar nicht alles verrät, was er weiß, oder dass er es zumindest auf Missverständnisse ankommen lässt.273 Er zensiert Informationen über Sachverhalte und Figurengedanken und evoziert damit die Frage, ob er ein Spiel mit dem Leser treibt, oder ob er wirklich nicht alles weiß.274 (1) Unwissenheit von Fakten: Am auffälligsten ist dieses Verhalten bei Informationen, die Eusebius’ Testament betreffen. So verwickelt sich der Erzähler gleich zu Beginn in einen scheinbaren Widerspruch. »Gemäß seinem Willen«, berichtet er, sei Eusebius’ Sarg kein Mensch gefolgt (vgl. E 251). Aus dem Testament erfährt der Leser später aber, dass es der »schönste Traum« des Helden gewesen wäre, seinen Bruder Alexander hinter seinem Sarg zu wissen (vgl. E 263). Andere Informationen, die der Erzähler zu Beginn gibt, sind unvollständig und werden erst durch Eusebius’ Testament verständlicher. So verrät er zunächst nicht, wo die Geschichte angesiedelt ist, sondern begnügt sich mit der Nennung der Stadt »P.« (E 251). Erst aus dem Testament erfährt der Leser, dass es sich um die österreichische Gemeinde Perchtoldsdorf bei Wien im Wienerwald handelt (vgl. E 263). Auch über das Vermögen des Helden gibt der Erzähler keine Auskunft, und er begründet dieses Schweigen damit, dass man den wahren Reichtum erst nach seinem Tod erfahren habe. In der Tat zählt der Held kurz vor der Niederschrift seines Testaments sein Geld und stellt »fast 2 Millionen österreichischer Gulden« (E 261) fest. Warum ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler, der über alle Informationen verfügt, die Summe nicht schon zu Beginn der Geschichte nennt, ist seltsam. Erstaunlich ist auch, dass der Erzähler offenbar nicht genau weiß, womit Eusebius sein Geld verdient hat (vgl. E 252).275 Er kann sich nicht
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Vgl. Lausberg, Elemente, S. 141f. Der Erzähler in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ wird in der vorliegenden Studie als ironisch bestimmt. Es ist zwar richtig, dass die ironischen Erzähleraussagen an manchen Stellen unvollständig oder widersprüchlich sind. Dennoch halte ich diesen Erzähler nicht für unzuverlässig. In der Narratologie gibt es Versuche, Unzuverlässigkeit auch bei heterodiegetischen Erzählern nachzuweisen, wobei diese Beweisführungen auch Störungen der Fiktionalität und der Illusion berücksichtigen. Es ist nicht möglich, den Forschungsstand hier wiederzugeben, doch erscheinen die bisherigen Versuche, Unzuverlässigkeit bei heterodiegetischen Erzählern darzustellen, wenig schlüssig. – Vgl. zur Diskussion um den unzuverlässigen heterodiegetischen Erzähler: Martínez/ Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 102; Dorrit Cohn, Discordant narration, S. 307–316; Manfred Jahn, Package deals, Exklusionen, Randzonen: das Phänomen der Unverlässlichkeit in den Erzählsituationen, S. 81–106. Dass es »stählerne Nadeln« gewesen sein könnten, vermutet der Erzähler auf E 252, aber es wird nirgends in der Erzählung definitiv bestätigt. Einen indirekten Hinweis
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erklären, warum der alte Mann das Pokerspiel bloß vom »Hörensagen« kennt, da er doch so lange in Amerika gelebt hat (E 258), und ebenso wenig weiß er, warum Eusebius seine beiden Nichten aufnimmt. Er spekuliert: »Es soll hauptsächlich aus dem Grunde gewesen sein, immer ein paar geduldige Partner für das Kartenspiel bei sich zu haben, dass er seine Großnichten am Vorabend seines Todes zu sich nahm, der Tor.« (E 254, Hervorhebung Ch.D.). (2) Unwissenheit von Figurengedanken: Dieselbe Uninformiertheit lässt sich auch hinsichtlich der Wiedergabe von Figurengedanken feststellen. Aufgrund der gewählten Nullfokalisierung müsste der Erzähler in der Lage sein, die Gedanken verschiedener Figuren zu präsentieren. An einigen Stellen erfährt der Leser, was die Figuren offenbar bewegt.276 An anderen Stellen deutet der Erzähler mit Hilfe des Erzählberichts nur an, dass die Figuren etwas denken. »Dem Armen schien ein tröstender Gedanke gekommen zu sein« (E 257), heißt es an einer Stelle, und wenig später an einer anderen: »[Ü]brigens schien es so, als ob die andere Schwester diese Verbindung nicht gerne sähe.« (E 258). Das Verb deutet an, dass der Erzähler vermutet, was die Figur denkt, dass er es aber offenbar nicht definitiv weiß. Dieselbe Unwissenheit scheint vorzuliegen, als der Erzähler nicht sagen kann, ob das Mädchen Agnes seine Puppe freiwillig verschenkt hat: »Vielleicht hatte es in seinem Fieber den dicken Eusebius mit seinem mageren Vater verwechselt.« (E 255f., alle Hervorhebungen Ch.D.). Später erfährt der Leser durch eine Fokalisierung auf Agnes, dass es sich bei dem Geschenk offensichtlich um einen Irrtum gehandelt hat, denn das Mädchen vermisst seine Puppe nach dem Erwachen (vgl. E 263). Indem sich der Erzähler uninformiert gibt, erweckt er den Eindruck, dass er weder die Geschichte noch seine Figuren gut kennt, obwohl er eine allwissende Position hat. (3) Störung der Fiktionalität durch Metafiktion: Darüber hinaus spielt der Erzähler an einer Stelle mit der Fiktionalität des Textes. Er erzählt nicht nur, was in dem Testament steht, sondern auch, dass etwas nicht mehr darin steht. Der Held hat die Stelle geschwärzt. Diese Anmerkung kommt einer Metafiktion gleich, da sie auf die Anwesenheit des Erzählers und den konkreten Erzählakt hinweist. Bei seinem [Eusebius’ Bruder Alexander, Ch.D.] immensen Vermögen wird er den Zuwachs zwar nicht sehr spüren. Wer hat, dem wird gegeben. Er hat nie etwas von mir verlangt! Ich ... (Hier folgt eine durchgestrichene, unleserliche Zeile). (E 262, Hervorhebung Ch.D.)
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auf Eusebius’ Metier erhält der Leser durch den Beruf des Bruders, der Eusebius’ Geschäftspartner war. An diesen »20 Jahre jüngeren unermeßlich reich gewordenen Bruder und Nähnadelfabrikanten« (E 261) schreibt Eusebius seinen Abschiedsbrief. Etwa, als sich Rosi und Resi um Eusebius sorgen: »Daheim überfielen ihn die Schwestern weinend und schluchzend, angeblich in Unruhe um ihn. In Wirklichkeit wollten sie ihn aber bewegen, einer von ihnen eine Mitgift zu geben, damit sie den schönen Armenarzt heiraten könne.« (E 259).
Die Bemerkung trägt nicht zum Verständnis des Textes bei, sondern verrätselt ihn vielmehr. Was hat Eusebius weggelassen? Warum? Der Leser würde dies gerne wissen, doch der Erzähler gibt keine Auskunft. Die Metafiktion betont allein die Gegenwart des Erzählers, der sich in die Metadiegese einmischt, ohne dass damit ein informativer Mehrwert verbunden wäre. Es ergibt sich das Bild eines Erzählers, der einerseits nachgeordnet erzählt, andererseits aber einige Informationen zurückhält und damit zur Verrätselung der Geschichte beiträgt. Dissimulation als Redestrategie? Die Funktion der Verschwiegenheit Warum gibt ein allwissender Erzähler kein klares Urteil ab, sondern stellt sich unwissend? Diese Frage führt zu einer These, die Lausberg im Zusammenhang mit der rhetorischen Ironie aufgestellt hat. Er erläutert, dass auch der rhetorische Ironiker vom Zuhörer verstanden werden will. Dieser Redner erreicht sein Ziel jedoch nicht sofort, sondern arbeitet absichtlich eine Zeitlang mit Zweideutigkeit oder Dunkelheit, um das Verstehen des Hörers oder Lesers hinauszuzögern und so eine Steigerung der Aussage zu erreichen. Zweideutigkeit oder Rätselhaftigkeit erreicht er, wenn er in einer Aussage oder Frage die eigene Unwissenheit vortäuscht, oder wenn er den Inhalt des Gesagten bagatellisiert.277 Der Leser bleibt länger im Unklaren darüber, worauf der Erzähler hinaus will, und der eigentliche Sinn der Rede bleibt für ihn in der Schwebe. Nach diesem Erklärungsmuster könnte die Informationszensur in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ als Strategie der rhetorischen Ironie verstanden werden. Nur: Welches Ziel verfolgt der Erzähler damit? Eine Erklärung bietet die Spekulation über das Menschenbild des Erzählers. Einen Hinweis darauf, dass dieses Menschenbild ebenfalls nicht allzu positiv ist, gibt jene Stelle, an der dieser Erzähler offen lässt, ob Agnes’ Geschenk wirklich freiwillig war. Damit stellt er die Motivation des einzigen selbstlosen Menschen in der Geschichte in Frage. Kann der Mensch wirklich selbstlos sein? Der Erzähler verneint die Frage, da er die altruistische Tat als Irrtum entlarvt. In dieser Hinsicht scheinen die Ansichten des Erzählers mit Eusebius’ Menschenbild übereinzustimmen, auch wenn er seinen Helden oft ironisiert: Nein, der Mensch ist nicht gut. Rhetorisch trägt die dissimulative Ironie also dazu bei, dass sich der Leser dem Erzähler gegenüber häufig nicht sicher fühlt. Die ›dissimulatio‹ macht die Geschichte nicht unglaubwürdiger, aber, durch die Strategien des Aufdeckens und Verbergens, ambivalenter. Der Erzähler verbirgt sich 277
Vgl. Lausberg, Elemente, S. 141f.: »Die dissimulatio besteht in der Verheimlichung der eigenen Parteimeinung, und zwar durch grammatische immutatio […], durch die die eigene Meinung verbergenden Tropen der Emphase […], durch die das eigene Redevermögen und die eigene Fähigkeit der Situationsbewältigung überhaupt verheimlichenden oder einen Bagatell-Charakter der eigenen Parteisache vortäuschenden Figuren der gedankliche detractio […] und der Hinwendung zur Rede-Situation.«
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als wissende und urteilende Größe, was nahe legt, dass er über Eusebius’ Menschenbild nicht abschließend urteilen will.
5.4. Schlussbetrachtung: Dissimulation und Parabolik? Sinn und Zweck der Gleichnisse: Da kamen die Jünger zu ihm und sagten: Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen? Er antwortete: Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreiches zu erkennen; ihnen aber ist es nicht gegeben. Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluß haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen. (Mt 13, 10–13)
Ist Eusebius, im Sinne der Erzählung, ein schlechter Mensch? Selbst nach einer wiederholten Lektüre ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Eusebius, der Gottesfürchtige, ist ein einfacher Charakter, aber er ist nicht dumm. Seine Orientierung an der Wort-für-Wort-Lektüre verstellt ihm die Sicht auf übertragene Bedeutungen. Er richtet sich nach dem, was er sieht, was er begreift und was sich berechnen lässt – und das ist wenig. Die Wahrnehmung einer übernatürlichen Wirklichkeit, der Glaube an eine immateriell-metaphysische Sphäre sind ihm verwehrt. Beide scheinen nur einmal kurz in der Hoffnung auf, geliebt zu werden. Allerdings ist Eusebius kein amoralischer Mensch: Er kennt die Tugenden der Bescheidenheit und der Nächstenliebe, und er ist der einzige, der für seine Prinzipien stirbt. Er wird zum tragikomischen Menschen, weil er sich durch die Einhaltung seiner Maxime auf dem rechten Weg glaubt. Am Ende betrügen ihn die Menschen genauso wie seine Berechnungen. Das Paradigma ›arm‹/›reich‹ in ›Wer hat, dem wird gegeben‹ erinnert an ein zentrales Werteparadigma in modernen kapitalistischen Gesellschaften, das an die Stelle des ›Guten‹ den Begriff des ›Wertes‹ gesetzt und damit eine Vokabel aus der Welt des Geldes philosophie- und religionstauglich gemacht hat. Max Weber erkannte in seiner ›Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus‹ (1904/05) die Ursache dieser modernen Kombination von ökonomischer Rationalität und innerweltlicher Askese in einer im Ende metaphysisch motivierten Ethik. Die calvinistische Doktrin von der ›Gnadenwahl‹ einiger Menschen charakterisierte er als eine pathetische, gleichwohl unmenschliche Lehre, die Trost in der Aussicht fand, durch irdische Werke und rastlose Berufsarbeit zu den Auserwählten zu gehören. Max Horkheimer konstatiert über diesen Geist des Kapitalismus im Sinne Webers: Der Protestantismus war die stärkste Macht zur Ausbreitung der kalten rationalen Individualität. […] Anstelle der Werke um der Seligkeit willen trat das Werk um des Werkes, der Profit um des Profits, die Herrschaft um der Herrschaft willen; die ganze Welt wurde zum Material.278 278
Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung. In: Subjektivität und Selbsterhal-
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In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ wird zwar nicht der Protestantismus kritisiert, doch wird eine Diesseits-Jenseits-Beziehung verhandelt, die meint, dass materieller Reichtum sicheres Seelenheil erwirken könne. Diese Ansicht findet in Eusebius als einem demütigen Reichen eine eigenartige Realisierung. Er richtet sich nach dem, was er errechnen und in einfachen Lebensweisheiten artikulieren kann – nicht nach dem, was sich vielleicht nur ahnen lässt. In diesem Sinn stellt Eusebius’ Entwicklung im Vergleich zu den Helden der frühen Prosa von Weiß einen Rückschritt dar. Narrativ unterscheidet sich die Erzählung von der früheren Prosa, indem der Erzähler keine zweite Wirklichkeit mehr mit Hilfe von Impliziten Transfersignalen auf der Ebene der Geschichte darstellt. Es sind weder Leitfiguren oder Symbole vorhanden, die auf eine solche Wirklichkeit hinweisen, noch eine finale Motivierung der Geschichte oder der direkte Eingriff Gottes ins Geschehen wie in ›Daniel‹. Allerdings arbeitet der Erzähler mit der Anspielung auf einen biblischen Prätext, so dass auch bei ›Wer hat, dem wird gegeben‹ von einer Allegorie gesprochen werden kann. Dem (ironischen) Erzähler gerät diese ›allegoria in factis‹ in Teilen allerdings zur Parodie: Da Eusebius eine Dimension der vielgestaltigen Wirklichkeit nicht wahrnehmen kann, kann er auch die Botschaft des Gleichnisses nicht verstehen. Was in der Bibel als ernste Aufforderung gemeint ist, gerät aus seinem Mund zur komischen Rezitation. Vor diesem Hintergrund zeigt der Erzähler eine grundlegende Erkenntnisund Sprachskepsis, die seine eigene Erzählweise mit einschließt. Während Eusebius in der wörtlichen Lektüre biblischer Gleichnisse verhaftet bleibt, nutzt der Erzähler das Verfahren der dissimulativen Ironie. Als ironischer Kommentator kommuniziert er seine Kritik indirekt, als dissimulativer Erzähler verschweigt er seine Wertevorstellungen und macht nur Andeutungen. Damit ahmt er nicht zuletzt die Erzählhaltung in den Gleichnissen nach. So wie Jesus seinen Jüngern durch ein negatives Beispiel den richtigen Weg zu weisen versucht, so kommuniziert der Erzähler auf indirekte – ironische – Weise mit dem Leser. Diese Ironie ist eine rhetorische Fortentwicklung der Weiß’schen Erzähler und semantisch ein Hinweis auf die Anthropologie des Autors: Diese besagt, dass sich der Mensch des Transzendenten nicht mit voller Gewissheit sicher sein kann. Auch sein Erkenntnishorizont ist subjektiv und begrenzt. Daher bleibt er – bei aller Komik – eine tragische Gestalt.
tung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, hg. von Hans Ebeling, Frankfurt/M. 1976, S. 41–75, hier S. 53.
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6.
»Eine Liebesgeschichte aus Böhmen«. – ›Jarmila‹
»Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut, Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden«, bekennt der Rahmenerzähler in Stefan Zweigs Novelle ›Amokläufer‹ 1922.279 Im Oktober 1936 hatte Zweig seinem Korrespondenzpartner Weiß zwei Bände seiner Erzählungen ins Pariser Exil gesandt, in denen vermutlich auch der ›Amokläufer‹ abgedruckt war.280 »Mit der Übersendung Ihrer zwei Novellenbände haben Sie mir eine große Freude bereitet! So ist die alte, von uns geliebte Welt doch nicht tot!«281, bedankte sich Weiß bei Zweig und sandte ihm seinerseits ein dreiviertel Jahr später ein Typoskript, bei dessen Niederschrift das Vorbild des Schriftstellerfreundes angeblich eine Rolle gespielt hatte. In der Zwischenzeit habe ich, angeregt durch Ihren Novellenband, eine kleinere Erzählung, so 60 Schreibmaschinenseiten geschrieben. Daran habe ich erst erkannt, welche Präzision und Subtilität und innere Geschlossenheit diese Form voraussetzt und habe Sie sehr bewundert. Darf ich Ihnen das Ding, das sich wahrscheinlich im Augenblick gar nicht verwenden läßt, zusenden? Es heißt: Jarmila, und, mehr oder weniger ironisch, mit dem Untertitel: Eine Liebesgeschichte aus Böhmen.282
Glaubt man der Zeitzeugin Mona Wollheim, so schickte Zweig das Typoskript bald darauf mit den begeisterten Worten zurück: »Die Novelle Jarmila ist eine ihrer stärksten.«283 Dennoch beschäftigten den Autor die Form und der Inhalt des kleinen Textes noch weiter, denn schon jene Version, die Zweig erhalten hatte, war laut Wollheim nicht die erste, sondern eine überarbeitete Fassung der Novelle gewesen. Den tragischen Schluß änderte Weiß in einer zweiten Fassung ab (wie Ibsen die ›Nora‹), in welcher der Held nach Jahren in einem Park gesehen wird, verändert, mit
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Stefan Zweig, Der Amokläufer. Frankfurt/M. 112001, S. 74–138, hier S. 81. – Vgl. auch Ernst Weiß an Stefan Zweig, Brief vom 24. Juni 1927: »Ich höre so Außerordentliches von Ihrem Novellenband Amok, dass ich ihn gern kennen lernen möchte.« 1927 fasste Zweig seine frühen Novellensammlungen ›Erstes Erlebnis‹ (1911) und ›Amok. Novellen einer Leidenschaft‹ (1922) mit der Novelle ›Verwirrung der Gefühle‹ (1927) zur Trilogie ›Die Kette. Ein Novellenkreis‹ beim Verlag Insel in Leipzig zusammen. 1931 erschien eine zweite Auflage der Trilogie, und es liegt nahe zu vermuten, dass es sich um diese Ausgaben handelt, wenn Weiß von »Novellenbänden« spricht. – Vgl. Stefan Zweig, Die Kette. 3 Bde., Leipzig 21931. Ernst Weiß an Stefan Zweig, Brief vom 17. Oktober 1936. Ernst Weiß an Stefan Zweig, Brief vom 16. Juni 1937. Wollheim, Begegnung mit Ernst Weiß, S. 14.
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einer anderen Frau, nicht der unseligen Jarmila, und einem spielenden Kind, seinem Kind. Hier lauteten die Schlußworte: ›So weiß das Leben zu wirken.‹284
Nach Weiß’ Tod verschwand die ungedruckte Novelle wie viele andere Typoskripte zunächst spurlos285, und so kam es einer kleinen Sensation gleich, als 1995 eine Abschrift im Prager Literaturarchiv ›Památnik Národního Písemnictví‹, Fonds Otokar Fischer, aufgefunden wurde.286 Diese Prager Fassung, die 1998 in zwei Ausgaben auf den Buchmarkt kam, weist im Vergleich zu Wollheims Ausführungen einen anderen Schluss auf: Sie endet tragisch. Im Typoskript sind Stellen gestrichen, die einen dritten Handlungsstrang eröffnen, und die Verwendung einer anderen Schreibmaschine ab dem 15. Kapitel geht mit dem Ende der Binnenhandlung sowie der abrupten Rückkehr zur Rahmenerzählung einher. Die Prager Editorin Dominique Fliegler folgert daraus, Weiß habe den »zweiten Teil der Rahmenhandlung neu geschrieben«287. Es könnte sich aber auch schlicht um eine Zusammensetzung der ersten beiden Fassungen handeln. Eine solche versatzstückartige Arbeitsweise entsprach durchaus der Weiß’schen Produktionsweise und führte vor allem in der Frühphase zu zahlreichen Verflechtungen zwischen seinen Romanen und seiner Kurzprosa.288 Nicht nur die Entscheidung, zu einem tragischen – und damit offenen – Schluß zurückzukehren, sondern auch die durch die Arbeitsweise entstandenen Nahtstellen im Text korrespondieren mit einer Form der narrativen Verrätselung, die ich in der folgenden Interpretationsskizze näher untersuchen möchte.
6.1. Zu den Textausgaben und zur Forschung von ›Jarmila‹ Die erste Leseausgabe von ›Jarmila‹ erschien 1998 und wurde von der deutschen DAAD-Lektorin Dominique Fliegler im Prager Vitalis Verlag herausgegeben; sie hatte das Typoskript im Prager Literaturarchiv gefunden. Im selben Jahr veröffentlichte auch der Suhrkamp Verlag die Novelle, diesmal wurde die Aus-
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Ebd. In Eduard Wondráks ›Versuch einer Bibliographie der Werke von Ernst Weiß‹ wurde die unbekannte Novelle unter dem Titel ›Irgendeine Jarmila‹ erwähnt. – Vgl. Wondrak, Einiges über den Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß, S. 37. Vgl. den Brief der ›Památnik Národního Písemnictví‹-Bibliothek an Ruth Weibel, Liepman AG, Zürich, 22. Januar 1997, unterzeichnet von Hana Klinkova (unveröffentlicht). Eine Kopie des Briefes befindet sich in der Walter Berendsohn-Forschungsstelle für Exilliteratur, Universität Hamburg. Das Original wird im Literaturarchiv PragStrahov aufbewahrt. Otokar Fischer war Lyriker und Professor für deutsche Literatur an der tschechischen Universität Prag. – Vgl. Pazi, Fünf Autoren, S. 33f. Vgl. Fliegler, Nachwort, S. 87. Ansätze zu einer Rekonstruktion der Weiß’schen Produktionsästhetik finden sich bei Binder, Ernst Weiß und die Prager Presse, S. 67–109.
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gabe von Peter Engel besorgt.289 Das Erscheinen des Textes auf dem deutschen Buchmarkt fand in den Feuilletons und Radiomagazinen großen Widerhall, und Weiß’ Novelle wurde ohne Ausnahme sehr positiv besprochen.290 Die Weiß-Forschung widmete ihr bislang zwei Aufsätze: 1998 veröffentlichte Steffen Höhne seinen Aufsatz über die »unbekannte Liebesgeschichte aus Böhmen«, in dem er vor allem motivische Bezüge und die Rolle der Protagonistin als »slawische bzw. tschechische Geliebte« im Kontext der deutschböhmischen Literatur herausarbeitete.291 Höhne zeigt, dass dieses Stereotyp einerseits das Spannungsfeld zwischen Erotik und Macht konnotiert und andererseits die nationale Rivalität im ehemaligen Österreich-Ungarn thematisiert. Die politisch-nationale Dimension wird durch den homodiegetischen Erzähler der Rahmengeschichte eingeführt. Die Lesart der Novelle als politisches Zeugnis der Auseinandersetzung mit der aktuellen Zeitgeschichte teilt der Verfasser des Nachwortes der deutschen Ausgabe von ›Jarmila‹, Peter Engel. Er sieht im typografisch hervorgehobenen Wort der »Grenzen« einen Leitbegriff, mit dem Weiß auf die nationale Verfeindung und die bevorstehende Mobilmachung anspielt.292 Hingegen widmet sich mein Aufsatz in einem Tagungsband über die Prager deutsche Literatur den Erzählstrukturen in ›Jarmila‹. Er entstand aus einer Vorarbeit für die vorliegende Studie und bildet, in überarbeiteter Form, auch die Grundlage für die folgende Interpretationsskizze.293
6.2. »Eine Liebesgeschichte aus Böhmen«. – Interpretationsskizze In ›Jarmila‹ verhandelt Weiß die Existenz- und Erkenntnisproblematik erneut am Beispiel einer unglücklichen Liebe. Diese ist eine Himmelsmacht, doch der Mensch, der sie entbehrt, ist nicht in der Lage, diesen Verlust zu ertragen. Dieses Thema wird in ›Jarmila‹, wie schon in Weiß’ Erzählungen aus den 1920er-Jahren, am Beispiel einer tragischen Paarbeziehung erzählt. Zugleich ent-
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Vgl. Engel, Nachwort, S. 99–111. Vgl. Sabine Brandt, Die Unglücksuhr. Ernst Weiß erzählt von ›Jarmila‹. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 1998, [Literaturbeilage S. V]; Franz Haas, ›Jarmila‹ – die Liebe im böhmischen Dorf. Unbekannte Novelle von Ernst Weiß. In: Neue Zürcher Zeitung, 29./30. August 1998, S. 35; Armin Huttenlocher, Wiederentdeckt: ›Jarmila‹/ Dunkle Liebe. In: Süddeutsche Zeitung, 29. August 1998, S. IV; Hans-Harald Müller, Die gefälschte Zeit. Ernst Weiß/›Jarmila‹ – ein sensationeller Fund aus Prag. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 8. März 1998, S. 26; Stefan Berkholz, Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Bibliothek Suhrkamp. In: SWR 2 Buchzeit, 2. Juli 1998, 14.30–15 Uhr; ders., Vom Teufel geführt. Späte Entdeckung. Die Liebesgeschichte von Ernst Weiß. In: Der Tagesspiegel, 23. August 1998, o.S. Vgl. Höhne, Eine unbekannte Liebesgeschichte aus Böhmen, S. 175–183. Vgl. Engel, Nachwort, S. 110. Vgl. Dätsch, Das dunkle Ich im Spiegel (im Druck).
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steht mit Hilfe Impliziter Transfersignale auf der Ebene der Geschichte und der Erzählung wieder eine Mehrbedeutung, die dem Text eine allgemeine Aussage gibt, die ihn parabolisch macht. Dementsprechend ist auch in ›Jarmila‹ eine ›doppelte Welt‹ zu finden, die mit Hilfe der kompositorischen Motivierung, der Konnotation von Raum und Zeit und von Symbolen hergestellt wird.294 Im Unterschied zu den frühen Erzählungen wird ›Jarmila‹ jedoch nicht mehr von einem extradiegetischen heterodiegetischen Erzähler, sondern von einem beteiligten homodiegetischen Erzähler vermittelt. Im Folgenden gebe ich eine kurze Einführung in die Struktur der Erzählung, stelle die Geschichte mit ihren Impliziten Transfersignalen dar und beleuchte die Diskurse der beiden Erzähler. Am Ende der Skizze zeige ich, inwiefern Weiß das Instrumentarium der Impliziten Transfersignale durch die Verwendung zweier so genannter ›unzuverlässiger Erzähler‹ erweitert hat. 6.2.1. Aufbau und Struktur der Erzählung: Zwei homodiegetische Erzähler In ›Jarmila‹ hat es der Leser mit einer Rahmen- und einer Binnenhandlung zu tun, die ihm in Form zweier ineinander verschränkter Redeakte präsentiert werden. Zwei Männer erzählen an jeweils unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten einen wesentlichen Ausschnitt aus ihrem Leben: In der Rahmenhandlung tritt dem Leser ein homodiegetischer Erzähler entgegen. In seinen Monolog ist die Erinnerung des Uhrmachers Bedrich Kohoutek als direkte zitierte Figurenrede, als Metadiegese295, eingelassen. Beide Redeakte finden dem Geschehen nachgeordnet statt und werden weitgehend im Präteritum präsentiert. In beiden Erzählakten finden sich Anzeichen, dass die Erzähler das Erlebte zum Zeitpunkt des Erzählens weder psychisch noch moralisch vollständig verarbeitet haben. Das Erzählen gerät den Männern deshalb zu einem Prozess mit unbestimmtem Ausgang: Sie geben nicht ihre Vergangenheit wieder, sondern formen im Erzählen zugleich das Konstrukt einer Welt, die »im Prozeß des Erzählens allererst geschaffen wird«.296 Nimmt man den bloßen Erzählstrang der Fabel, so scheint es eine schlichte Skandalgeschichte. Doch der Reiz der Novelle liegt im Atmosphärischen, aus dem sich
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Vgl. Fliegler, Nachwort, S. 90–100. In ›Jarmila‹ handelt es sich um eine thematische Metadiegese, das heißt, dass keine raumzeitliche Kontinuität, sondern eine Gleichheits- oder Ähnlichkeitsbeziehung hergestellt wird: Was in der Metadiegese erzählt wird, hat für die Diegese exemplarischen Charakter. – Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative fiction, S. 92. Renate Hof, Das Spiel des unreliable narrator. Aspekte unglaubwürdigen Erzählens im Werk von Wladimir Nabokov, München 1984, S. 9.
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das Fleisch der Fabel nährt, im Gewoge der Emotionen, das keiner begreift und niemand beherrscht.297
Der erste Eindruck, den der Leser von der Geschichte erhält, ist der einer tiefen Rätselhaftigkeit. Wer sind diese Männer, und warum erzählen sie ihre Geschichte(n)? Beide Protagonisten scheinen sich diametral entgegengesetzt zu sein. Der namenlose Ich-Erzähler wohnt in Paris, ist (vermutlich) Junggeselle (vgl. JAR 35) und möchte gerne ein pünktlicher Mensch sein. Bedrich hingegen liebt verzweifelt (vgl. JAR 92), er ist unbeherrscht und von maßlosen Ideen ergriffen. Bei näherem Hinsehen weisen diese Männer jedoch auch Gemeinsamkeiten auf: Beide sind fahrende Händler und aus ihrer Heimat herauskatapultiert, beide haben den Wunsch nach Selbstvergewisserung, und beide verkörpern einen Zustand, der sich als einseitig charakterisieren lässt. Sie geraten für Momente in die Sphäre des jeweils anderen, sie beobachten, kommentieren und bewerten sich. Sie nähern sich der Welt des jeweils Anderen an, überschreiten für eine kurze Zeit die Grenze der Diskretion und offenbaren sich. Ihre Beichten führen jedoch nicht zu weit reichenden (Selbst-)Erkenntnissen, denn statt zu verstehen, was geschah, verstricken sich die Helden weiter in ihre Weltsicht. Sie rechtfertigen sich, argumentieren und zensieren. 6.2.2. Geschichte und Implizite Transfersignale: Eine ›Liebe in Böhmen‹ Der Inhalt der Rahmen- und Binnengeschichte sei zu Beginn kurz zusammengefasst: Ein homodiegetischer Erzähler reist von Paris nach Prag, um einen Geschäftspartner zu treffen. Noch vor der Abfahrt bemerkt er, dass er seine Uhr zu Hause vergessen hat. Er ersteht ein billiges Ersatzexemplar, doch die neue Uhr erweist sich als äußerst unzuverlässig: Der Ich-Erzähler verpasst seinen Termin und lernt statt dessen den Uhrmacher und Straßenhändler Bedrich Kohoutek kennen. In einem Wirtshaus erfährt er Kohouteks Geschichte, die sich in einem anonymen böhmischen Dorf zugetragen hat, hört von der verheirateten Jarmila, die Kohouteks Leidenschaft entfachte, und von dem Feuer, das der Geliebte aus Eifersucht im Heuschober des Gatten gelegt hat. Jarmila stirbt durch einen unglücklichen Sturz, und Kohoutek wird für seine Brandstiftung und den Tod zweier Menschen zu Zuchthaus verurteilt. Er hat nach Ablauf der Strafe nur noch einen Wunsch: Er will Jarmilas Sohn Jaroslaus besitzen, den er als sein eigenes Kind ansieht. Die Männer trennen sich nach dieser Nacht, bis Kohoutek den Erzähler unangemeldet in Paris aufsucht. Er will mit seinem vermeintlichen Sohn nach Amerika fliehen. Doch der Plan wird vereitelt und der Uhrmacher verhaftet. Er tötet sich im Gefängnis.
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Sabine Brandt, Die Unglücksuhr. Ernst Weiß erzählt von Jarmila. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 1998, S. V.
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Reise an einen mythischen Ort: Der Raum als Implizites Transfersignal Der Grundkonflikt der Handlung von ›Jarmila‹ lässt sich bestimmen als die Ohnmachtserfahrung zweier Männer zwischen Trieb und Verstand, zwischen der ›Macht des Schicksals‹ und dem Wunsch nach Autonomie. Diese komplementären Teilräume werden im Text sowohl mit Hilfe des Raumes als auch der Zeit angedeutet; Raum und Zeit sind in ›Jarmila‹ semantisch konnotiert.298 So beginnt bereits die Rahmenhandlung im ersten Satz des ersten Kapitels mit einer ›Grenzüberschreitung‹: Der homodiegetische Erzähler fährt von Paris, der Stadt der »Wunderwerk[e] moderner Technik und Erzeugnis[se] leistungsfähiger Massenindustrie« (JAR 8), nach Prag und damit an einen Ort, der im Kräftespiel von Kognition und Intuition dem Irrationalen zugeordnet ist. In Prag sind die Gesetze der Rationalität aufgehoben, und je mehr der Erzähler in die Atmosphäre dieser Stadt eintaucht, desto mehr legt sich ein Schleier über seine Sinne. Statt kühl zu beobachten wird seine intuitive Wahrnehmung geweckt: »Regen lag in der Luft. Oder waren es die Dünste, die hier, wie in allen engen Tälern, abends von dem Fluß aufsteigen?« (JAR 14). Der mythischen Konnotation des Raumes entspricht jene der Zeit. Die billige Ersatzuhr, noch in Paris erstanden, folgt in Prag nicht den Gesetzen der Mechanik, sondern ihrer Laune. Auf der Fahrt »ging das Ding in dem Zeitraum von 11 Stunden eine Viertelstunde nach, dann aber galoppierte es mit einer halben Stunde vorwärts« (JAR 7). Als der Erzähler in Prag ankommt, zeigt sie »mit der großen Bahnhofsuhr verglichen, trotz allem die richtige Zeit« (JAR 7). Auf diese Weise seiner vertrauten Raum- und Zeitempfindung beraubt, gerät das Ich aus seinen Bahnen und hinein in ein neues Zeitgefühl, das es für den natürlichen Tag-und-NachtZyklus sensibilisiert. Es war schon spät am Nachmittag. [...] Die Sonne schien noch mit ziemlicher Kraft auf das Denkmal des heiligen Wenzel [...]. Jetzt brachen sich die schrägen Abendstrahlen auf der prallen Hinterhand eines Denkmalpferdes [...]. Die Sonne ging unter. [...] Meine neue Uhr zeigte eine unsinnige Zeit. (JAR 9, 11)
Auch der zweite Teil der Rahmenhandlung wird von einer Grenzüberschreitung eingeleitet: Kohoutek sucht den Ich-Erzähler in Paris auf, um von dort mit seinem Sohn nach Amerika zu fliehen. Paris bleibt als Stadt zwar weitgehend ohne Relief, doch verkörpert sie die Welt des scheinbar nüchternen Erzählers der Rah-
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Zur Raumsemantik vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 311–328. – Lotman nimmt an, dass die räumliche Ordnung der erzählten Welt zum organisierenden Element wird, um das herum auch die nichträumlichen Charakteristika einer Erzählung aufgebaut werden. So ist etwa der erzählte Raum in Dante Alighieris ›Göttlicher Komödie‹ topologisch durch den Gegensatz von Oben und Unten, semantisch durch den Gegensatz von Gut und Böse strukturiert. – Vgl. auch Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 141.
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menhandlung, der hier seine Geschäfte mit Konservendosen betreibt. In seiner Pragmatik und Nüchternheit steht Paris der Stadt Prag und dem tschechischen Dorf, aus dem Kohoutek stammt, diametral entgegen. Tatsächlich kann Kohoutek in diese Atmosphäre nicht annähernd so gut eintauchen wie es dem Erzähler mit seinem Uhren-Kompass in Prag gelungen ist. Seine Grenzüberschreitung geht mit einer Schwächung seiner Person einher, die sich physisch als Verwahrlosung – »das Gesicht voll Schmutz, eben wie ein Vagabund« (JAR 82) – und psychisch durch den Verlust innerer Stabilität bemerkbar macht. Sein Wunsch nach Austausch ist in der Pariser Sphäre reduziert, sein Denken bleibt der irrationalen Sphäre seiner Herkunft, dem böhmischen Dorf, verhaftet: »Er war nicht sehr gesprächig diesmal.« (JAR 83). Die Argumente des Ich-Erzählers empfindet Kohoutek als feindlich; er reagiert auf sie mit Ablehnung und Misstrauen: »Warum flüsterte er? Ich verstand seine Sprache nicht. Und niemals hätte ich ihn verraten!« (JAR 85). Kohoutek, in der Pariser Atmosphäre bar jeder Fähigkeit zur Kommunikation, durchschaut weder die List seines kleinen Sohnes Jaroslaus (vgl. JAR 85, 91) noch kann er sich zu der angeratenen Rückkehr nach Prag entschließen (vgl. JAR 88, 92, 94) oder zu einer Flucht ohne seinen Sohn (vgl. JAR 91). Für den Uhrmacher erweist sich die Grenze zwischen Paris und Prag als impermeabel, die Grenzüberschreitung als irreversibel: Er leugnet sämtliche Gründe, die seine Tat fragwürdig erscheinen lassen, und beharrt auf seinem Recht. Sein Aufbegehren endet tragisch; er bezahlt es mit dem Leben. Reise in eine mythische Zeit: Das Implizite Transfersignal der Uhr In der Rahmenhandlung von ›Jarmila‹ gibt es, neben der semantischen Opposition der Räume, ein zweites Transfersignal: die Uhr. Dieses Symbol kann als veritabler ›Falke‹ der Novelle bezeichnet werden, denn es verknüpft die Lebensläufe der beiden Männer und weist auf die Bedeutung zweier Tempuskategorien hin, der subjektiv gefühlten und der objektiven Zeit. Zeit ist für die Figuren nicht allein eine durch Zifferblatt und Zeiger messbare Einheit, sondern auch eine schicksalhafte Größe. Gleich zu Beginn kauft der Erzähler die Uhr ein: Als ich im Herbst vor einem Jahr von Paris nach Prag fahren wollte, merkte ich im Auto, kurz vor dem Bahnhof, daß ich meine Uhr daheim unter dem Kopfkissen vergessen hatte. Ich ließ den Wagen halten und suchte nach einem Uhrengeschäft, um mir eine billige Nickeluhr zu kaufen. Nur ein großes Einheitspreisgeschäft war in der Nähe. (JAR 7)
Diese neue Uhr ist ein merkwürdiges Ding. Nicht nur, dass sie nicht richtig funktioniert, vielmehr widersetzt sie sich auch den fachkundigen Händen eines tschechischen Uhrmachers, den der Erzähler nach der Ankunft aufsucht. Noch nach der Reparatur stolpert sie vorwärts oder bleibt »tückisch zurück«, ganz so wie ein »störrische[s] Kind« (JAR 8). Diese merkwürdig menschliche Uhr tut offensichtlich, was sie will, und so ist sie auch daran schuld, dass der Geschäftsmann 248
seinen Termin verpasst. Nach einem lau verlebten Nachmittag auf dem Wenzelsplatz führt sie ihn jedoch geradewegs zu seinem Antagonisten, dem tschechischen Uhrmacher Kohoutek. Dieser Mann fasziniert den Erzähler von Anfang an: Er nimmt ihn als »jungen, aber nicht mehr ganz jungen Straßenhändler mit schön geschnittenem, nur etwas verbissenem Gesicht« (JAR 10) wahr, der »meist wie verloren in Gedanken« (JAR 10) dasteht, während er Vögelchen mit einer Feder(!)-Mechanik feilbietet. Der Erzähler folgt Kohoutek verstohlen in den Park und ins Wirtshaus. Sein Uhren-Kompass bleibt in dem Moment stehen, in dem beide Männer Kontakt aufnehmen: Sie stand wie ein Stein, obwohl die Feder bis zu Ende aufgezogen war. Und während ich noch wütend die herrlich verchromte Nickeluhr schüttelte, trat ich in den dunstigen, von Tabakrauch, Bier- und Braten- und Zwiebelgeruch erfüllten Raum unter dem dicken gotischen Spitzbogengemäuer und sah mich um. In einer Ecke, zwischen zwei Kellnerinnen, stand mein Freund, der Vogelhändler, und zwinkerte mir und meiner unseligen Uhr mit seinem rechten Auge zu. (JAR 17)
Der Erzähler registriert die Einseitigkeit des tschechischen Uhrmachers. Kohoutek hat »eine sonderbare Art, mit der er mich ansah, nämlich nur mit einem Auge, während das andere umherschweifte« (JAR 14). Und so wie Vögel mit ihren Augen jeweils nur in eine Richtung blicken können, ist es auch Kohoutek verwehrt, die ganze Situation zu erfassen.299 Sein Verhalten ist unkonzentriert (vgl. JAR 29) und unbeherrscht (vgl. JAR 33), er ist brutal und »hämisch« (JAR 23). Sein Lächeln bleibt »undurchsichtig« (JAR 25), und aus seinem Blick spricht »halb Liebe, halb Haß« (JAR 14, 25). Seine Gewaltbereitschaft demonstriert er im Umgang mit den Kellnerinnen und in der Vorführung eines »Doppelvogel[s]« (JAR 19) aus »zwei befiederte[n], mit einer Mechanik versehene[n], aufgeplusterte[n] Vögelchen, die nicht voneinander lassen sollten und konnten« (JAR 19). Von dieser Demonstration einer bösartigen Zuneigung zeigt sich der Erzähler deutlich abgestoßen: »Ich blickte absichtlich fort.« (JAR 29). Zugleich hat er ein erstaunliches Interesse daran, mit diesem Mann ins Gespräch zu kommen: »Ich hatte geglaubt, er würde erzählen, man hatte mir gesagt, die Tschechen seien meist gesprächig.« (JAR 23). Doch der Händler will zunächst gar nicht sprechen (vgl. JAR 22), daher hilft der Rahmenerzähler fast gewaltsam nach. »›Nun, das sehe ich‹, sagte ich lustig, ›daß Sie noch keinen Menschen ums Leben gebracht haben.‹ ›Nein, o nein!‹ sagte er, aber jetzt konnte ich leider weder sein rechtes Auge sehen, das in der Uhrmacherlupe stak, noch das andere, das er jetzt geschlossen hielt.« (JAR 24). Der seltsame »Scherz« (JAR 24) tut seine Wirkung. Kohoutek verliert seine Haltung und erzählt, bis er sich selbst nicht mehr unter Kontrolle hat: »Er wollte nichts anderes als erzählen.« (JAR 44). Der Erzähler
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Dominique Fliegler hat im Nachwort der Prager Ausgabe darauf hingewiesen, dass Kohoutek im Tschechischen »Hähnchen« heißt. – Vgl. Fliegler, Nachwort, S. 101.
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lauscht ohne Gegenrede und fällt am Ende ein hartes Urteil: »Aber glauben Sie nicht, sagte ich so laut, daß die Felsenwände davon dröhnten, daß Sie schon genug Menschen ins Unglück gebracht haben?« (JAR 89). Nach diesem Gespräch verlässt er Prag und seine eigentümliche Atmosphäre, allein seine launische Uhr bleibt bei Kohoutek in Prag zurück, der sie zu reparieren verspricht (vgl. JAR 32). Und erneut ist es die Uhr, die beide Erzähler zusammenführt: Der Tscheche sendet die reparierte Uhr voraus, die sich jetzt als äußerst zuverlässig herausstellt. Doch an einer solchen zuverlässigen Uhr hat der homodiegetische Rahmenerzähler seltsamerweise kein Interesse mehr. Vor einiger Zeit erhielt ich, ohne daß ich es erwartet hätte, die Uhr. Auf dem Transport war das Uhrenglas gebrochen, aber die Uhr ging nicht schlecht. [...] Sie erregte gemischte Gefühle in mir, und doch konnte ich mich nicht von ihr trennen, ich wollte sie aber auch nicht bei mir tragen, obwohl sie genauer ging als die alte Repetieruhr, die ich von meinem Urgroßvater ererbt hatte. (JAR 81)
Noch in Prag wollte der Erzähler das »Uhrenungetüm« »zur Vernunft [...] bringen« (JAR 20, Hervorhebung Ch.D.). Als ihn der Uhrmacher mit seinem Sohn in Paris besucht und um ein Domizil bittet, wiederholt der Erzähler diesen Wunsch wörtlich in Bezug auf Kohoutek (vgl. JAR 81). Die Entfremdung der beiden Männer wird gleichfalls mit Hilfe des Uhrensymbols erzählt: »Er verstand mich nicht, und er wurde noch kälter mir gegenüber. Einmal schob er die arme, alte, unnütze Uhr, die doch der Anfang unserer Freundschaft gewesen war, von meinem Schreibtische herab.« (JAR 92f.). Kohoutek ahnt die Feindseligkeit zwischen ihm und dem Erzähler, kann sie aber nicht vollständig deuten. Dass der Erzähler seinem Gast am Ende der Geschichte die Uhr wieder aushändigt, gewinnt eine besondere Bedeutung. Mit dem Zeitmesser nimmt der Uhrmacher jenen Gegenstand ins Gefängnis mit, der ihn in Prag leben ließ und ihm in Paris zum Sterben verhilft: »An die kleine scharfe Uhrfeder dachte ich nicht.« (JAR 97). Die Uhr symbolisiert die Welt des Tschechen. Sie ist instinktiv und launisch, aber auch spontan und leidenschaftlich wie er. Der Konflikt des Binnenerzählers: Kampf um Liebe. Tod und Schuld In der erzählten Welt von ›Jarmila‹ ist die Grenze nicht nur Metapher für zwei räumlich getrennte Lebenswelten, sondern auch für den Dualismus des menschlichen Wesens schlechthin. Beide Erzähler testen ihre subjektiven Macht- und Rechtsvorstellungen, indem sie die Sphäre des Anderen bezwingen und damit eine Grenze überschreiten wollen. In der Rahmenhandlung bewegt sich der homodiegetische Erzähler an dieser Grenze der Hybris, als er Schicksal über Bedrich spielt und zu seinem Freitod beiträgt. In der Binnenhandlung provoziert Kohoutek die menschliche und die göttliche Ordnung und wird dafür sehr bestraft. Jarmilas Weigerung, ihm öffentlich anzugehören, wird für Kohoutek zur ausschlaggebenden Grenzerfahrung. Sie löst ein Gefühl der Krise, Ohn250
macht und der Demütigung aus, das seine Selbstkontrolle schwächt und seinen Stolz empfindlich trifft. Kohoutek glaubt zu lieben, aber nicht wiedergeliebt zu werden. In kurzen Momenten gewinnt er Einsicht in seine glücklose Lage. Er beschließt, dem Rat eines »gebildete[n] Mann[es]« (JAR 56) zu folgen und seinen »Frieden« ohne Jarmila zu suchen. Plötzlich sah ich es klar vor mir, daß mir weder das eine noch das andere Kind gehören würde. Und ebenso wenig die Frau. Ich begann zu weinen, ich weinte über meine verlorenen Jahre. Ich weinte über alle Welt, sogar über den gesetzlichen Vater, der in seiner Art nicht weniger unglücklich war als ich [...]. (JAR 57)
Doch als der Uhrmacher handeln muss, ist er dazu nicht in der Lage. Die Einsicht in den Verzicht kann nicht in die Tat umgesetzt werden. Im Affekt kehrt er zu Jarmila zurück (vgl. JAR 58) und zündet den Heuschober ihres Gatten an. Es siegen der Wunsch nach Rache und das Gefühl, als Mann und potentieller Gatte nicht ernst genommen zu werden. Der gekränkte Stolz bringt die Vernunft zum Schweigen: Der Funke von der offenen Pfeife flog. Fast hätte er mich erreicht, der ich mich im Gebüsch unten zusammenkauerte, klopfenden Herzens. Der Bauer rauchte fest und gut, und die Pfeife zischte. Er sah auf den hohen Heuschober hin, den er und der Knecht und Jarmila aufgerichtet hatten und der das viele Heu von allen seinen Wiesen enthielt ... Vielleicht kam ich durch den Funken auf meinen Gedanken. (JAR 59f., Hervorhebung Ch.D.)
Auch kann der Uhrmacher die Situation nicht einschätzen und beschwört in seiner Verblendung eine menschliche Katastrophe herauf: Indem er Bombardon, den Gatten und Feuerwehrmann (vgl. JAR 29, 63), mit Feuer (!) strafen will, gerät sein Racheakt zu einer Inszenierung von Naturgewalten. Er überschreitet damit eine dem Menschen gesetzte Grenze, spielt Schicksal und verursacht den Tod zweier Menschen. Objektiv wird er schuldig, weil er um diese Grenze wusste und sie dennoch übertrat: »Ich nahm es wahr, ich folgte dem Trieb, ich weiß nicht, wie es benennen, und doch ist es nicht zu vergessen.« (JAR 60f.). »Ich wußte, es hätte nicht sein dürfen, und doch tat ich es.« (JAR 61). In seiner Hybris gleicht er den ersten Menschen, die Gottes Gebot nicht anerkennen. Er wiederholt damit – allegorisch gelesen – den menschlichen Sündenfall300, und wie in der Bibel folgt auch in ›Jarmila‹ die Strafe auf dem Fuß. Kohoutek wird 300
Im ersten Buch Mose heißt es: »Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit. Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Daß er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon ißt und ewig lebt! Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.« (Gen 3, 21–24)
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aus dem (Dorf-)»Paradies« vertrieben, und eine Rückkehr gibt es nicht: der Mensch muss sich beugen oder vergehen. Auf diese religiöse Lesart weist die stereotypisierte Darstellung der Verführerin Jarmila als eine ewige Eva ebenso hin wie die Symbolik des Apfels, dem ihre Brüste gleichen (vgl. JAR 27), der Vergleich ihrer Arme mit einer Schlange (vgl. JAR 30) oder die Bezeichnung ihres Sohnes als »Cherubim« (JAR 84, 85). In der Tat vereitelt Jaroslaus die Rückkehr seines Vaters ins »Paradies«, indem er Kohouteks Fluchtplan verrät und damit seine Verhaftung einleitet. Der Cherubim steht vor dem Eingang und lässt den uneinsichtigen Adam nicht mehr hinein. Die Feder: Metonymische Relationen zwischen Rahmen- und Binnengeschichte »Wie man weiß, ist […] das Herz jeder Uhr […] eine kleine Spiralfeder, von der alles abhängt.« (JAR 20). Für die Verknüpfung von Rahmen- und Binnengeschichte ist in ›Jarmila‹ ein weiteres Transfersignal zentral: die Federn. Als »Unruhe« ist die Feder ein wichtiger Bestandteil der Uhr. Als Kleid der Gänse, das Jarmila rupft, haben die Federn in der Binnengeschichte eine ökonomische Bedeutung. Kohoutek wird mit beiden Bedeutungen der Feder konfrontiert: Er ist nicht nur Uhrmacher, sondern auch Vogelhändler, denn er verkauft »künstliche Vögelchen« aus Holz auf dem Wenzelsplatz (JAR 11). Und schließlich hat der Protagonist selbst etwas Vogelartiges, wenn auch »nicht die putzige Unruhe des Hühnervolkes« (JAR 11). Seltsamerweise muss der Rahmenerzähler beim Anblick der »federbesetzten Marionetten« (JAR 15) von Kohoutek sofort an jene Gänse denken, die er während seiner Reise nach Prag in »unzählige[n] Rudel[n]« (JAR 15) auf den Feldern gesehen hat. Er hört von dem Brauch, diese Gänse bei lebendigem Leibe zu rupfen. Die Antwort eines Mitreisenden auf seine Frage, warum einige Tiere so erbärmlich aussehen, kann semantisch als Vorausdeutung auf Kohoutek verstanden werden: ›Lassen Sie sich erst einmal schinden bei lebendigem Leibe, und lassen Sie sich alle Haare einzeln ausreißen, während man Ihnen zu gleicher Zeit die Kehle zudrückt und Ihnen ganz fest den Leib zusammenpreßt zwischen den Knien! Dann möchte ich Sie wiedersehen! Und das jedes Jahr!‹ – Ich erfuhr also jetzt genau, wie in den meisten Gegenden Böhmens die Gänse jedes Jahr bei lebendigem Leibe gerupft wurden, damit sie die prachtvoll leichten Daunenfedern lieferten, die mir in den prallen, schneeweißen Kissen meines Prager Hotels nachts so gutgetan hatten. Aber die Gans liefert nicht nur Flaumfedern, sondern auch Haut, Fett, Fleisch, Magen, Herz, Leber, Blut! Man ißt so gut wie alles von ihr, und man kann ihr hier nicht entrinnen. (JAR 16)
In der Binnengeschichte rupft Jarmila, die mit einem Federnhändler verheiratet ist, die Gänse auf ganz ähnliche Weise. In der Rahmenhandlung reißt der Vogelhändler Kohoutek einem Spielzeugtier »mit einem Ruck den hellgelben Flaum von der winzigen Brust« (JAR 25). Kohoutek selbst stellt die Bedeutungsbezie252
hung zwischen den Federn und Jarmila her: »Ja, so bin ich auch zusammengezuckt, als ich als junger Mensch meine geliebte Jarmila vor ihrem Hause sah, wie sie einer Gans die Federn von der Brust fortriß, mit einer weißen Hand.« (JAR 26). Jarmilas Federn kommen in die Kopfkissen des ehelichen Bettes. Ebenso werden sie auf dem Dachboden einer Scheune gelagert, die dem Liebespaar zum Treffpunkt wird. Was Jarmila und Kohoutek miteinander erleben, ist Leidenschaft, aber auch eine große Qual. So meint der Vogelhändler, er sei in Jarmilas Armen wie eine Gans gefangen: Sie weiß es einzurichten, daß ich keine Luft bekomme, und es ist furchtbar, es ist wie ein Rausch, anders aber als von schwarzem Biere und tiefer, es wird einem dunkel um die Augen, dunkel, dunkelrot, und die Hitze steigt in alle Glieder, und sie werden schwach. Nur das Herz bäumt sich auf! Mit Wut und Kraft und Zorn und Glut! Und auf einmal gibt sich alles hin, und ein Seufzerchen kommt, so zart, kaum daß die Federchen davon auffliegen und die Mäuschen in den Ecken sich schrecken lassen … (JAR 30)
Beim Versuch, sich von Jarmila loszusagen, evoziert Kohoutek einen Vergleich mit dem Griff der Frauen beim Rupfen – »Ich wollte nicht zwischen ihren runden süßen Knien eingezwängt sein und vor Wut stumm zischen wie die armen Gänse« (JAR 57). Als Jarmilas gewaltsamer Tod ihre Beziehung beendet, fängt Kohoutek eine kleine Gänsefeder und »legte sie ihr sanft vor die Lippen« (JAR 69). Mit dem Tod verwandelt sich nicht nur Jarmilas Körper – auch die semantischen Relationen verändern sich. Die Federn, die bis zu diesem Zeitpunkt Gewalt und Lust symbolisierten, werden zum Zeichen des Todes. Diese Bedeutung teilen sie mit der Feder in der Uhr, die Kohoutek repariert: »Ich legte ihr den Kopf so, daß er weicher gebettet war, aber als ich ihn losließ, knackte es ihr im Genick wie die Feder einer zerbrochenen Uhr.« (JAR 70, Hervorhebung Ch.D.). Das Geräusch kehrt in der Rahmenhandlung wieder und wird durch das Abspannen der Feder erzeugt (vgl. JAR 23). Damit stellen die Federn eine syntaktische Klammer zwischen der Rahmen- und der Binnenhandlung her. Paradigmatisch evozieren sie einen Zusammenhang zwischen Liebe und Tod; in beiden Geschichten endet ein Leben durch (eine) Feder(n). Die Hybris des Rahmenerzählers: Spiel mit dem Schicksal. Recht und Ordnung Im letzten Drittel der Erzählung ist der homodiegetische Erzähler der Rahmenhandlung nicht mehr nur ein Beobachter, sondern auch Akteur. Erstmals greift er ein, als der Uhrmacher versucht, seinen eigenen Sohn zu entführen und mit ihm nach Amerika zu entkommen. Damit begeht er aus der Sicht des Erzählers ein Unrecht: »Wozu noch eine Grenzüberschreitung mehr?« (JAR 84). Solche Normverstöße will der Erzähler in einer Zeit, in der »die Frage der Grenzen [...] so furchtbar wichtig geworden ist« (JAR 84), auf keinen Fall dulden. Er fühlt sich durch Kohouteks Handeln provoziert, entscheidet sich für ›Recht und Ordnung‹ und verbündet sich deshalb mit Jaroslaus. Er schenkt ihm eine 253
Münze für ein Eis, die der Kleine augenblicklich für eine Postkarte an die »gesetzlichen« Eltern in Prag ausgibt. Das Kind verstand sofort und züngelte mit seiner wie bei einer Katze hellrosafarbenen Zunge, um mir zu zeigen, daß er das Geld für Eis verwenden wolle. [...] Als er fort war, ging ich aber doch auf den Balkon. Man konnte sich wirklich von seinem Anblick nicht leicht trennen. Ich sah Jaroslaus, leichtfüßig wie ein Reh, seine blonden Locken schüttelnd, die etwas abschüssige Straße hinablaufen, er blieb aber nicht bei der Eisbude stehen, sondern ging, etwas langsamer, weiter. Ich hätte diese unbedeutende Einzelheit natürlich nicht weiter beachtet, wenn Jaro nicht am nächsten Tag krank geworden wäre. (JAR 89f., Hervorhebungen Ch.D.)
Der homodiegetische Erzähler weckt mit seiner Wortwahl des »Züngelns« Assoziationen an das Feuer der Binnenerzählung. Indem er sich mit einem Engel, dem »Cherubim« Jaroslaus (JAR 84, 85), verbündet, spielt er – wie einst der Brandstifter Kohoutek – Schicksal. In dieser Funktion steht er Kohouteks »Willen zur Macht«, der in der Binnenhandlung tragische Folgen hat, in nichts nach.301 Auch hier liegt ein Fall von Hybris vor – jener nämlich, Schicksal über Kohoutek zu spielen und zu seinem Freitod beizutragen. Der homodiegetische Erzähler der Rahmenhandlung wird im Gegensatz zu Kohoutek jedoch nicht für seine Machtausübung bestraft; vielmehr wird der Tod des Uhrmachers als selbst gewähltes Schicksal dargestellt. Dass dem Erzähler bei seinem Eingreifen jene Leidenschaft fehlt, die Kohoutek besaß, zeigt nicht nur seine heimliche Bewunderung für einen Mann, der für seine Liebe gestorben ist, sondern auch sein Bedürfnis nach einer Rückversicherung, indem er sich seine eigenen Normen und seine Handlungsmaximen schreibend noch einmal in Erinnerung ruft. 6.2.3. Diskurs und Implizite Transfersignale: Zwei unzuverlässige Erzähler Die beiden Erzählerhelden glauben, in ihrem Denken und Handeln eindeutig zu sein – und sind in Wirklichkeit alles andere als das. Ihre Erzählerreden weisen Verzerrungen und Widersprüche auf, die sich auf der Ebene des Diskurses manifestieren. Um die rätselhafte Wirkung der beiden Monologe auf den Leser näher beschreiben zu können, verwende ich ein heuristisches Konzept, das seit seiner ersten Definition durch Wayne C. Booth 1961 in der Erzähltheorie in unterschiedlichen Ansätzen thematisiert und definiert wurde.302
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In dieser Hinsicht weisen die Erzähler in ›Jarmila‹ große Ähnlichkeit mit den Erzählern der fiktiven Autobiografien von Weiß auf. – Vgl. Tom Kindt, »Gerade dadurch, daß er sich selbst am stärksten behauptet, soll er sich wandeln«. Zur Konzeption der Ich-Romane von Ernst Weiß. In: Juni 29 (1999), S. 131–140, hier S. 132; ders., Unzuverlässiges Erzählen, S. 208ff. Zum Stand der Forschung vgl. die Bibliografie in: Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzähllite-
Laut Booth ist ein Erzähler dann unzuverlässig, wenn er nicht für die Werte und Normen des impliziten Autors eintritt oder in Übereinstimmung mit ihnen handelt.303 Wird ein Erzähler als unzuverlässig beurteilt, so setzt das die Annahme einer dahinter stehenden Instanz, nämlich des (per definitionem zuverlässigen) Autors voraus. Dieser hat ein kohärentes Bild vom Geschehen und von seinen Figuren, setzt aber den unzuverlässigen Erzähler strategisch ein, um den Leser zu irritieren und auf den Akt des Erzählens selbst zu lenken.304 Die Diskussion über die Indikatorenbildung erzählerischer Unzuverlässigkeit ist noch nicht abgeschlossen.305 Jüngste Präzisierungsversuche der von Booth gegebenen Definition unterscheiden zwischen ›mimetischer‹ und ›theoretischer‹ Unzuverlässigkeit (Martínez/Scheffel) bzw. ›narrativer‹ und ›normativer‹ Unzuverlässigkeit (Kindt) und liefern damit eine aufschlussreiche Differenzierung.306 Mit ›normativer‹ oder theoretischer Unzuverlässigkeit ist gemeint, dass sich ein Erzähler entweder in seinen Kommentaren und Urteilen widerspricht, und/oder dass er dadurch die vereinbarten Kooperationsprinzipien zwischen sich und seinen Lesern, die schon erwähnten Grice’schen Konversationsmaximen, nicht einhält.307 ›Narrative‹ Unzuverlässigkeit hingegen bezieht sich auf Widersprüche bei der Darstellung der Fiktion, also der erzählten Welt und ihrer räumlich
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ratur, hg. von Ansgar Nünning, Trier 1998, S. 287ff; Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext, hg. von Walter Grünzweig und Andreas Solbach, Tübingen 1998. Wayne C. Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, Heidelberg 1974, Bd. 1, S. 164f. Vgl. Tamar Yacobi, Fictional unreliability as a communicative problem. In: Poetics today 2 (1981), No. 2, S. 113–126. – Martínez/Scheffel vertreten die Theorie, erzählerische Unzuverlässigkeit sei eine Spielart der Ironie, bei der »die doppelte Botschaft der Ironie auf zwei verschiedene Sender verteilt ist. In diesem Fall kommuniziert der unzuverlässige Erzähler eine explizite Botschaft, während der Autor dem Leser implizit, sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft vermittelt. Die explizite Botschaft des Erzählers ist die nicht eigentlich gemeinte, die implizite des Autors hingegen die eigentlich gemeinte«. – Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 101. Vor dem Hintergrund verschiedener Bedeutungs- und Interpretationskonzeptionen haben sich seit Booth mit dem Problem der Unzuverlässigkeit unter anderem theoretisch auseinandergesetzt: Rimmon-Kenan, Narrative fiction, S. 106; Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 201f.; Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart 1993, S. 103; Ansgar Nünning, Unreliable Narration zur Einführung. In: Nünning, Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998, S. 3–40; Kindt, Unzuverlässiges Erzählen, S. 28–67. Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 99f.; Kindt, Unzuverlässiges Erzählen, S. 28–67. – Theoretische Sätze beinhalten kommentierende Stellungnahmen des Erzählers über die erzählte Welt, mimetische Sätze behaupten einen räumlich und zeitlich fixierten Sachverhalt innerhalb der erzählten Welt. Vgl. Grice, Logik und Konversation, S. 243–265.
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und zeitlich fixierten Sachverhalte. Um sie festzustellen, muss die erzählte Welt grundsätzlich homogen und stabil sein.308 Zahlreiche Arbeiten haben Merkmale bzw. Merkmalskataloge für narrative Unzuverlässigkeit aufgestellt.309 Für die Untersuchung ›narrativer‹ Unzuverlässigkeit beziehe ich mich teilweise auf diese Kataloge und versuche in der Novelle textuelle Indikatoren nachzuweisen, die sich als (1) faktische Widersprüche, (2) widersprüchliche Deutungen, (3) widersprüchliche Selbstdeutungen und (4) Zensuren von Information erweisen. In der Erzähler-Leser-Kommunikation macht sich ›normative‹ Unzuverlässigkeit durch (i) logisch-analytische Verstöße gegen die Vereinbarung der Verständlichkeit zwischen Erzähler und Leser hinsichtlich der Quantität, Qualität und Modalität des Gesagten, (ii) durch Verstöße gegen die erzählte Welt oder (iii) gegen den Horizont der Gattung als dem ›generic principle‹ eines Textes bemerkbar.310 Unzuverlässigkeit ist in ›Jarmila‹ dort festzustellen, wo die Erzähler bewusst oder unbewusst Strategien entwickeln, um ihre Defizite zu verbergen oder um die objektive Wahrheit nicht thematisieren zu müssen. Die Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Erzählungen des jeweils anderen dient der Ablenkung von sich selbst und der Kaschierung der eigenen Unzulänglichkeit. Die Metadiegese: Der narrativ unzuverlässige Bedrich Kohoutek Kohouteks Monolog umfasst etwa ein Drittel der Erzählung, womit seine Bedeutung für die Erzählung benannt ist. In seiner Rede finden sich zahlreiche widersprüchliche Darstellungen und Urteile über Personen. Ursachen für diese Inkongruenzen sind die fehlende Distanz des Erzählers Kohoutek zum Geschehen und seine hohe Emotionalität. In seiner Rede tritt das erzählende Ich bald hinter das erlebende Ich zurück, macht sich durch die Erwähnung des Erzählens (vgl. JAR 27, JAR 33, JAR 72), durch rhetorische Fragen (vgl. JAR 27, 35, 47, 56 58, 79), Anredeformeln und Rechtfertigungen (vgl. JAR 28) allerdings immer wieder
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Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 101f. Merkmale und Merkmallisten für erzählerische Unzuverlässigkeit mit heuristischer Funktion haben unter anderem aufgestellt: Müller, Unzuverlässiger Ich-Erzähler, S. 186–196; ders., Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz – dargestellt an der Novelle ›Nur ein Druck auf den Knopf‹. In: Grenzüberschreitungen um 1900: Österreichische Literatur im Übergang, hg. von Thomas Eicher, Oberhausen 2001, S. 177–191; Gaby Allrath, ›But why will you say that I am mad?‹ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration. In: Unreliable Narration, S. 59–79; Silke Lahn, »In Wirklichkeit war das vielleicht alles ganz anders, als ich es erzähle.« Zum ›unreliable narrator‹ im Werk Hans Erich Nossacks am Beispiel des Romans ›Spätestens im November‹. In: Hans Erich Nossack. Leben, Werk, Kontext, hg. von Günter Damann, Würzburg 2000, S. 175–194. Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S.103; Yacobi, Fictional reliability, S. 117.
bemerkbar. Die Einwürfe sind jedoch keine Äußerungen eines gereiften erzählenden Ich, vielmehr betonen sie die Position des emotional distanzlosen erlebenden Ich. Immer wieder verfällt Kohoutek vom Erzähltempus Präteritum ins Präsens, das gleichfalls die starke Vergegenwärtigung des Erlebten signalisiert: »›Dann werden wir noch glücklicher sein als jetzt!‹, sagte sie und presste mich an sich, und will husten, und um nicht zu husten, küsst sie mich ...« (JAR 30, Hervorhebungen Ch.D.). Kohouteks Hilflosigkeit gegenüber der Vergangenheit zeigt sich in Redewendungen: »ich weiß nicht, wie« (vgl. JAR 28, 38, 51). Andere Kommentare suggerieren zunächst, der Erzähler könne sein Verhalten beurteilen, doch dann stellen sie sich als bloßes Bedauern der Ereignisse heraus: »So wenig ahnte ich, was er wollte. Ich begriff eben nicht, weder ihn noch seine Frau!« (JAR 51f., 63f.). Insgesamt zeigt Kohouteks Erzählakt, dass das erzählende gegenüber dem erlebenden Ich keinen Erkenntnisvorsprung hat. Seine Vergegenwärtigungen kulminieren in dem Entschluss, die »falsche« Familie zu zerstören und seinen Sohn, sein »Fleisch und Blut«, zurückzuholen (JAR 79). Gerade in Hinblick auf seine Vaterschaft verstrickt sich der Uhrmacher immer wieder in (1) faktische Widersprüche: So scheitert er bereits bei der Altersangabe seines Sohnes: »... das erste Kind, mein Kind, mein Jaroslaus, bekam Zähnchen, er war nicht eben krank, er war aber mißmutig, er trank nicht, was weiß ich ...« (JAR 51). Kurz darauf benennt er das Alter dieses Kindes mit zwei Jahren (vgl. JAR 75). Bekanntlich bekommen Kinder nicht in diesem Alter, sondern früher Zähne, und ein aufmerksamer Vater könnte dies wissen. Die unklare Altersangabe wird von Widersprüchen über den Ehevollzug zwischen Jarmila und Bombardon begleitet. Zunächst behauptet Kohoutek, der Alte würde »sein blondes junges Weib nicht an[rühren], um sie nicht abzunutzen« (JAR 27). Wenige Seiten später hört es sich anders an: »Er ließ uns tanzen, das junge Weib und den jungen Burschen. Dafür aber nachts, da holte er sich sein gesetzliches Teil.« (JAR 34). Die Äußerungen machen seine Unsicherheit deutlich, möglicherweise doch nicht Jaroslaus’ Vater zu sein (vgl. JAR 37). Er kompensiert sie durch Beteuerungen: »Das Kind war von mir. Wenn ich etwas weiß auf dieser grundverlogenen Welt, dies weiß ich.« (JAR 35). (2) Widersprüchliche Deutungen: Kohoutek widerspricht sich vor allem bei der Deutung fremder Personen und der Beschreibung von Frauen. Er projiziert seine Ängste auf Dritte und beschreibt gerade dadurch sich selbst.311 Den Lehrer bezeichnet Kohoutek als »gelehrte[n] Spinnerich, mit den Taschen voll gebildeter Bücher« (JAR 28, 57, 77), doch er schätzt ihn auch wegen seiner Ordnung (vgl. JAR 38). Je nach Befinden sieht er in ihm einen »Feind« (JAR 48) oder »Freund« (JAR 38). Seine Furcht vor dem Pädagogen kompensiert er durch eine erotische 311
Vgl. Dagmar Busch, Unreliable narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster. In: Unreliable Narration, S. 41–58, hier S. 46.
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Fantasie: Danach hätte der Lehrer gerne an Jarmila »genascht, aber sie wollte nicht« (JAR 28). Kohoutek triumphiert, weil er aus dem fiktiven Kampf als Sieger hervorgeht: »... sie wollte nicht. Nur mich.« (JAR 28). Ohnmacht empfindet Kohoutek auch gegenüber Bombardon, den er einmal als »abgemagert[en]« Bauern (JAR 53), dann wieder als fetten Mann schildert, der sich »mit seiner ganzen Masse in dieses Fenster« lehnt (JAR 59). Er wird als herzloser Materialist dargestellt, der seine Frau mit Geld »erkauft« (JAR 30) hat und durch Geiz zu Reichtum kam. Allerdings kann er Bombardons Status kaum attackieren: »Er, der gesetzliche Gatte, war eben das tägliche Brot, er war eben der gesetzliche Mann.« (JAR 47). »Was kann man gegen das Gesetz?« (JAR 47). Sein Minderwertigkeitsgefühl kompensiert Kohoutek durch eine Projektion, bei der aus Hass Mitleid wird: »Wie sehr haßte ich diese falsche Hand, und doch, etwas im Grunde meines Herzens hatte Mitleid mit ihm ...« (JAR 55). Die scheinbare Souveränität des Eifersüchtigen entpuppt sich als Reue über die eigene Schwäche und als Selbstmitleid: »Ich begann zu weinen, ich weinte über meine verlorenen Jahre. Ich weinte über alle Welt, sogar über den gesetzlichen Vater, der in seiner Art nicht weniger unglücklich war als ich […].« (JAR 57). Noch mehr driften Realität und Fantasie bei den Beschreibungen von Maruschka und Jarmila auseinander. Seiner Braut Maruschka unterstellt Kohoutek Heiratswünsche, um sexuelle Erfahrungen machen zu können (vgl. JAR 47), doch schon wenige Sätze später wird durch einen fast wörtlichen Selbstwiderspruch klar, dass er, der eine Heirat versprochen hat, die er nicht erleben will, seine eigenen Ängste auf die gesetzliche Braut projiziert: »Auch Maruschka konnte mir nichts tun ...« (JAR 48). Dasselbe gilt für Jarmila, die er als »kaltes« und »feiges« Weib (JAR 56) bezeichnet. Beide Beschreibungen entsprechen nicht den Informationen, die der Leser sonst erhält: Maruschka will auf den Uhrmacher trotz seiner Haft warten (vgl. JAR 78), und Jarmila gesteht ihm ihre Liebe (vgl. JAR 55). Bei Kohoutek lösen die Frauen ein ambivalentes Gefühl aus, da sie ihn anziehen und zugleich entmachten (vgl. JAR 33). (3) Widersprüchliche Selbstdeutungen: Kohouteks Glaubwürdigkeit wird für den Leser durch seine Selbstdarstellungen auf die Probe gestellt. So behauptet der Uhrmacher, sein Wort gelte etwas, »obwohl ich im Zuchthaus gesessen bin« (JAR 29). Gleich im Anschluss an diese Bemerkung liefert er Beispiele seiner Skrupellosigkeit. Bedenkenlos würde er dunkelhäutige Amerikaner prellen (vgl. JAR 29), und auch sein Eheversprechen an Maruschka löst er nicht ein: »Mein Wort, das hast Du. Aber sonst hatte sie nichts, denn ich war Jarmila treu.« (JAR 46). Die Ambivalenz in der Selbstdarstellung prägt sich bis auf die Satzebene aus. »Ich wußte nicht, war es ja, war es nein.« (JAR 56). »Ich ahnte nicht den Tod und ahnte ihn doch.« (JAR 69). »Ich wollte und wollte nicht.« (JAR 61). »Ich senkte den Kopf, ich sagte nicht ja, ich sagte nicht nein.« (JAR 73). Er will Feuer legen und doch keines erzeugen: »Ein Herbstwind begann von dort zu uns zu wehen ... Ich dachte, ich habe Glück gehabt, einmal im Leben! Deinen 258
Willen hast Du ja gehabt, sprach es in mir. Aber das Feuer hat nicht gefangen. Gut! Gut!« (JAR 62). Dass seine Selbstwahrnehmung problematisch ist, davon zeugen auch seine (4) Selbstzensuren: So verschweigt Kohoutek, was er Jarmila am letzten Abend fragen wollte (vgl. JAR 58) und liefert diese Auskunft an keiner Stelle nach. Der Uhrmacher, so lässt sich zusammenfassen, erzählt unzuverlässig, weil er Verdrängungen vornehmen muss. Anstatt zu einer reifen (Selbst-) Einschätzung zu gelangen, verliert er den Bezug zur Realität. Kohoutek fürchtet den Verlust des Sohnes, leugnet jeden Zweifel und verstrickt sich in eine mitleidvolle Selbstwahrnehmung. Seine Angst verunmöglicht ihm jede Distanz, schlägt auf sein Erzählen zurück und macht ihn als Erzähler unzuverlässig. Der strategische homodiegetische Erzähler der Rahmengeschichte Weit weniger plastisch als Kohoutek wird für den Leser der homodiegetische Erzähler der Rahmenhandlung. Er verweigert schon die grundlegenden Angaben zu seiner Identität. »Ich wollte nicht sagen, wer ich war, ich tue es nie auf Reisen.« (JAR 24). Seine Erzählsituation bleibt weitgehend unbestimmt: Der Leser erfährt nicht, ob der Erzähler spricht oder schreibt, wo und wann er seine Erinnerungen niederlegt, welche Distanz er zum Geschehen hat und aus welcher Motivation heraus er erzählt – er beginnt einfach ›in medias res‹. Nur das Erzähltempus Präteritum und einige Tempusadverbien machen deutlich, dass der Erzähler aus der Retrospektive erzählt. Einige Angaben zur Erzählsituation lassen sich außerdem vage aus dem Text rekonstruieren. So lässt das Deiktikum »Es sind keine drei Wochen her« (JAR 81) vermuten, dass der Erzähler direkt nach Kohouteks Tod mit seinem Bericht begonnen hat. Möglicherweise war der Tod der Auslöser seines Erzählens. Rekonstruieren lässt sich so auch der Umfang der erzählten Zeit: Die Rahmenhandlung beginnt »im Herbst vor einem Jahr« (JAR 8) und endet in einer Periode, in der in Paris »Eiswaffeln und Kokosnußmilch verkauft« (JAR 90) werden, vermutlich also im Sommer. Zwischen Anfang und Ende der Handlung ist demnach etwa ein dreiviertel Jahr vergangen. Ein Großteil der erzählten Zeit wird im Bericht jedoch ausgeblendet: Der Erzähler erzählt nur von zwei Tagen in Prag, gibt dann Kohouteks Rede und schließlich dessen kurzen Aufenthalt in Paris wieder. Diese Auswahl verrät nicht nur die Hand des Erzählers, sondern auch eine gezielte Fokussierung der Erzählung auf Kohoutek. Unklar bleibt die Haltung, die der Erzähler gegenüber seiner Erzählung einnimmt. Seiner Rede fehlen alle oberflächlichen Signale eines psychischen oder existenziellen Bedürfnisses der Selbstvergewisserung. Ebenso wenig ist ein »Bedürfnis nach ordnender Überschau«312 spürbar. Der Erzähler kommentiert fast nie, und manche Reflexionen sind merkwürdig unvollständig. So liefert er dem Leser 312
Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 127f.
259
nur eine halbe Erklärung, warum er die unzuverlässige Uhr nicht weggeworfen hat: »Natürlich hätte ich meine Uhr von der Brücke herab in den Fluß werfen können, und in Versuchung war ich.« (JAR 8, Hervorhebung Ch.D.). Auch sein Beharren auf »Mittelware« scheint angesichts seiner langen Reise seltsam: »Es gab Wanderhändler mit allen Arten wunderbarer Äpfel (keine Mittelware) ...« (JAR 9). Doch warum holt er den versäumten Termin mit seinem Apfelhändler nicht nach? Dazu sagt er nichts. Auch den Rest der Geschichte erzählt er so, als wolle er von Ereignissen berichten, die nichts mit ihm zu tun haben. Fast durchgängig wählt der Erzähler zur Wiedergabe der Geschichte die Perspektive des erlebenden Ich. Allerdings weist diese Perspektive einige Widersprüche auf. Sie treten bei der (3) Selbstcharakterisierung und bei der (2) Deutung Kohouteks zutage. Über sich selbst behauptet der Erzähler, ihn könne »keine noch so große Menge Alkohol umwerfen« (JAR 33), obwohl er schon nach etwas Biergenuss fast eingeschlafen wäre (vgl. JAR 23). Ebenso widersprüchlich sind seine Aussagen über den Uhrmacher. Eigentlich hat der Erzähler Zweifel an Kohouteks Vaterschaft – »War es denn wirklich sein Fleisch und Blut, wie er so felsenfest glaubte, der arme Tor?« (JAR 82) –, dann wieder behauptet er aber, Jaroslaus sei »dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten« (JAR 82). Ambivalent sind auch seine Gefühle für den Uhrmacher: Einerseits sieht er in Kohoutek einen »Freund« (JAR 24, 82, 95). Andererseits drückt er offen seinen Argwohn gegen den »entlassene[n] Zuchthausgefangene[n]« und seine »Verbindungen mit der Verbrecherwelt« (JAR 84) aus. Einerseits behauptet er, sich mit Kohoutek auf sein freies Leben in Amerika zu freuen (vgl. JAR 82, 87), »[a]ndererseits hatte ich ein trübes Vorgefühl« (JAR 82, 85). Zwiespältig ist auch sein Verhältnis zu Jaroslaus. Der Erzähler betont, dem Kinde zu »mißtrauen« (JAR 83). Dann wieder hebt er dessen Anziehungskraft hervor (vgl. JAR 89). Er klagt über den Charakter des Jungen, nimmt ihn zugleich aber in Schutz: »Vielleicht war es die Furcht vor einer in den Augen eines Kindes so gefahrvollen Reise, die Jaroslaus krank gemacht oder zu seinen kleinen Schwindeleien veranlasst hatte.« (JAR 92). Mehr noch als solche inhaltlichen Widersprüche fällt in ›Jarmila‹ die Verschwiegenheit des Erzählers auf, wenn es darum geht, Dinge zu erläutern oder Vorgänge für den Leser zu desambiguisieren. Diese Verschwiegenheit kann als Verstoß gegen die (i) konversationellen Implikationen der Erzähler-Leser-Kommunikation gewertet werden kann. So irritiert der Erzähler den Leser immer wieder mit bewertenden Halbsätzen – »Es war verständlich«, »Es schien so klar« (JAR 96), »Die Gründe dafür sind doch sonnenklar« (JAR 82) –, ohne allerdings aufzulösen, was denn »so klar« ist. Unverständlich ist auch sein Humor: Beispielsweise findet der Erzähler einen unterstellten Mord erheiternd (vgl. JAR 24). Daneben irritiert er den Leser mit impliziten Vorausdeutungen: Als der Erzähler beispielsweise im Wirtshaus das »knackende Geräusch« (JAR 23) der Uhrenfeder wahrnimmt, denkt er sofort an den »Hahn eines Revolvers« (JAR 23) und verspürt Furcht. Obwohl das »Mißverständnis« geklärt wird – »der Uhrmacher 260
beruhigte mich« –, hebt der Erzähler seinen Gedanken im Erzählbericht deutlich hervor: »(Manche Waffen geben diesen Laut, der vom Rotieren der Trommel herrührt.)« (JAR 23). Später gibt der Rahmenerzähler dem kundigen Uhrmacher den Zeitmesser mit ins Gefängnis. Dass er wirklich ahnungslos ist, was Kohoutek damit vorhat, scheint zweifelhaft. Er heftete seinen Blick auf die Uhr? Ich gab sie ihm mit. Sie hatte kein Glas, ich konnte dem Polizeiagenten sagen, er möge dies gestatten, denn wo keine Glasscherben sind, kann sich ein verzweifelter Untersuchungsgefangener nicht die Pulsadern aufschneiden. An die kleine scharfe Uhrfeder dachte ich nicht. (JAR 96, Hervorhebung Ch.D.)
Unklar ist im Monolog des Rahmenerzählers auch der (ii) Realitätsstatus des Erzählten. Denn ein Zeitmesser, der vor- und nachgeht, dann wieder springt wie ein »störrisches Kind« (JAR 8), ist mit einer realistischen Welt nicht wirklich in Deckung zu bringen. Das Fantastische der Uhr wäre in einer romantischen Novelle mit der erzählten Realität vereinbar, da hier die »unerhörte Begebenheit« eine Grenzüberschreitung zwischen realistischen und fantastischen Welten zulässt. Vom homodiegetischen Erzähler in ›Jarmila‹ wird dieses Fantastische jedoch als Widerspruch zur empirischen Welt und den Gesetzen der Logik erkannt: »Keine Uhr der Welt kann zugleich vor- und zurückgehen.« (JAR 13). Vordergründig akzeptiert er das Wunderbare also nicht. Warum er der Uhr und ihrer Logik dennoch so fasziniert folgt, bleibt ein Rätsel. Diese Kette aus Merkwürdigkeiten ließe sich fortsetzen und macht dem Leser vor allem eines deutlich: Der Erzähler erzählt nicht aus Unwissenheit oder psychischer Not, sondern er verschweigt, argumentiert strategisch und wägt ab. Indirekt gibt er auch einen Grund für sein Verhalten an: »Nach dem Gesetz war es ein Verbrechen, und dieses Verbrechen, Kindesraub, war gerade jetzt, zur Zeit der amerikanischen Kindesentführungen, das bestgehaßte der Welt, es empörte mit Recht die Menschen tiefer als Raubmord!« (JAR 85). Die Wertung wird im Text durch keine objektive Instanz bekräftigt – ja, es gibt nicht einmal einen konkreten Anlass, den Uhrmacher zu verraten: »Alles schien in Frieden, von der Polizei kamen keine Nachforschungen, in den Prager Blättern war nicht ein Wort zu lesen von diesem Kindesraub, wenigstens nicht mehr in der Nummer, die jetzt erschien.« (JAR 85). Trotzdem beharrt der Erzähler auf »Recht und Ordnung« – warum? Nur eine Aussage des Erzählers legt eine Antwort nahe: »... ich sah manche von meinen eigenen Irrtümern und Schwächen in seinem Wesen gespiegelt, ohne daß ich es freilich jemals so weit getrieben hatte wie er.« (JAR 80). Indem der Erzähler Kohoutek zur Ordnung ruft, diszipliniert er zugleich sich selbst. Würde er Kohouteks Auffassung von Recht und Ordnung zulassen, wäre sein eigenes Normensystem in Frage gestellt. Umso rätselhafter wirkt das Fazit dieses Erzählers, dass er Kohouteks Schicksal zwar als das tragischere, nicht aber als das schlechtere im Vergleich zu seinem eigenen ansieht: 261
Ich durfte die Leiche des unseligen Mannes sehen. Aber war er wirklich so unselig? Er hatte geliebt, sein ganzes Mannesalter lang, und es war vielleicht besser, an einer solchen Liebe zugrunde zu gehen als an Gicht. (JAR 97)
Der Rahmenerzähler spürt, dass der Uhrmacher »das Andere der Vernunft« verkörpert. Es überkommt ihn ein leiser Zweifel an seinen Normen, der jedoch nicht zu ihrer Revision führt. Der Bericht des Erzählers dient dem Zweck, sich über sich selbst klar zu werden. Die letzten Erklärungen bleiben dem Leser aber auch nach der Niederschrift verborgen. Das macht sein Erzählen unzuverlässig. 6.2.4.
Die Hierarchie der Erzähler: Ein Resümee
Die Untersuchung hat gezeigt, dass zwischen den Erzählern der Rahmen- und der Binnenhandlung, die sich als Antipoden gegenüberstehen, auch ein Gefälle der Macht besteht. Der Erzähler der Rahmengeschichte geht aus der Begegnung mit Kohoutek scheinbar unbeschadet hervor, während der leidenschaftliche Uhrmacher seinen Selbstbehauptungsversuch mit dem Leben bezahlt. Der Erzähler der Rahmenhandlung ist an Kohouteks Geschichte als Voyeur interessiert, aber nicht in der Lage, die Natur dieses Menschen zu akzeptieren. Selbst mit einem zeitlichen Abstand können die Erzähler ihr Handeln nicht ändern. Sie wiederholen ihre Verhaltensmuster, verstricken sich in Widersprüche, ergehen sich in Entschuldigungsversuchen und zensieren ihre Rede. Indem sie sich weigern, ihren Anteil am Geschehen zu akzeptieren, bleiben die Zusammenhänge in ihren Reden verborgen.
6.3. Spiegel- oder Gegenbilder? ›Jarmila‹ als Parabel der Erkenntnis Die »Urkraft der Liebe« bestimmt in Weiß’ letzter Novelle das Schicksal des Menschen zwischen Erfüllung und Enttäuschung, zwischen körperlich-seelischem Einklang und dem erlebten Zwiespalt von Trieb und Geist. Die Liebe ist eine Grundwesenheit, die Existenz bedeutet oder erst ermöglicht. Sie gleicht dem Eros, wie ihn Platon im ›Symposion‹ beschrieben hat.313 Auch in ›Jarmila‹ bildet die Liebe ein »Mittleres zwischen Gott und Mensch«314, um mit Platon 313
314
Vgl. Platon, Gastmahl. In: Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. 3, Kap. 23, S. 46f.: »Was wäre denn also der Eros? fuhr ich fort. Etwa ein Sterblicher? Bewahre. Aber was denn? Wie schon vorher gesagt, ein Mittleres zwischen Sterblichem und Unsterblichem. Was also, Diotima? Ein großer Dämon, lieber Sokrates. Denn alles Dämonische ist ein Mittleres zwischen Gott und Mensch. Mit welcher Wirkungskraft begabt? fragte ich. Wirkend als Dolmetsch und Bote von den Menschen bei den Göttern und von den Göttern bei den Menschen […]; zwischen beiden ist er das den Zusammenhang wahrende Bindeglied, so daß das All ein festgefügtes Ganzes ist.« Ebd., S. 46.
262
zu sprechen, und sie ist die Grundvoraussetzung für Kohouteks Leben – oder zumindest für das, was es seiner Meinung nach ausmacht. Die Liebe ist in der Novelle ein dämonisches Gefühl, das zu Tode kränken oder zum prometheischen Machtkampf herausfordern kann. Die Figuren in ›Jarmila‹ wissen, dass es Gut und Böse gibt, aber sie können nicht abschätzen, ob das, was sie tun, wirklich gut oder böse, richtig oder falsch ist. Handeln bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. In ›Jarmila‹ haben beide Erzähler ein Normenproblem; eine Selbstkorrektur ist ihnen nur bedingt möglich. Die Moral, die sie aus ihren Normen ableiten, ist, von einem humanistischen Standpunkt aus, fehlbar, da die Mächte und Kräfte, auf die der Mensch in der Welt trifft, nicht mitberücksichtigt werden. Melchior Vischer hat diese Aporie sowie ihre ästhetische Konsequenz im Werk von Ernst Weiß einmal treffend mit der Metapher der Uhr beschrieben. Das, was das fast Unbeschreibbare bei Weiß ist, kann man durch einen naiven, einfachen Vorgang ahnen: Man steht in einem Zimmer, in dem eine Uhr geht. Man kennt den Klang und das Ticken des Räderwerks. Plötzlich bleibt die Uhr stehen. Daran ist weiter nichts Absonderliches, und doch fühlen wir im selben Moment etwas Ungewöhnliches, Geheimnisvolles. Etwas, das uns packt, erschüttert und ergreift, wie der ›Mörder, der umsonst gemordet hat‹.315
Nichts ist sicher in ›Jarmila‹ – am wenigsten die Liebe. Ist die Liebe altruistisch? Ist sie egoistisch? Niemand weiß es. Die Konnotationen von Zeit und Raum sowie die kompositorische Motivierung durch das Uhrensymbol und die metonymischen Relationen der Federn führen in die Geschichte ein fantastisches Element ein, das als ›Schicksal‹ oder ›mythische Welt‹ zu interpretieren ist. Es folgt einer anderen Logik als der Vernunft. Durch die beiden unzuverlässigen Erzähler erlebt der Leser außerdem, wie unsicher die scheinbar verbindliche (Selbst-) Wahrnehmung werden kann. Die Form der Ich-Erzählung mit einem unzuverlässigen Erzähler gibt, wie es Hans-Harald Müller formuliert hat, die »Idee der Zugänglichkeit zu einem wahren oder authentischen Ich preis, an der der ErErzähler noch festhält, wenn er im inneren Monolog nur noch dessen diskontinuierliche Gedankenfetzen und Empfindungen registriert«316. Die Verzerrung indiziert, dass der Mensch nur ein sehr subjektives, in jedem Fall unvollständiges Bild von seinen Erlebnissen besitzt. Die Suche nach dem Sinn involviert den Leser, der sich nun gleichfalls »an den verzerrten Bildern der Romanfiguren und den Selbstbildern« abarbeitet, der schließlich aber »die Suche nach einem widerspruchsfreien Bild aufgeben« muss317.
315 316 317
Melchior Vischer, Ernst Weiß. In: Prager deutsche Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas, hg. von Hartmut Binder, Berlin 1993, S. 444–447, hier S. 444. Müller, Unzuverlässiger Ich-Erzähler, S. 194. Ebd.
263
Mit dieser Erzählweise entlarvt Weiß die Vorstellung von einer intersubjektiv verbindlichen Wirklichkeitswahrnehmung. Die Aufgabe modernen Erzählens besteht nicht mehr allein in der Gestaltung des »philosophisch allgemeinen« Inhaltes318, von dem in der Moderne auch die Rede ist, sondern in seiner Ästhetisierung. Denn das einzige Wissen, das der moderne Mensch haben kann, ist jenes, »das zwar keines Wertes ganz gewiß ist, das aber alle Werte ahnt, die höchsten wie die niedersten« (KdE 70).
7.
Zusammenfassung der Analysen und Interpretationsskizzen
Am Ende des Hauptteils sollen die Ergebnisse der sechs Interpretationsskizzen zusammengefasst und die Entwicklung der Helden, die Darstellung einer ›zweiten‹ Wirklichkeit und die Rolle der Erzähler miteinander verglichen werden. Die Untersuchung der ersten beiden Erzählungen der Weiß’schen Kurzprosa, ›Die Verdorrten‹ und ›Franta Zlin‹, hat gezeigt, dass Weiß die Existenz- und Erkenntniskrise seiner Helden vordergründig als Krankengeschichten gestaltet. Beide Protagonisten sind Neurotiker, und ihre Angst vor dem Tod wirkt sich körperlich aus: Sie endet in Krankheit und physischem Tod. Der Neurotiker Edgar versucht seine Angst durch Projektionen einer ›metaphysischen‹ Liebe auf Esther und durch ein wissenschaftliches Experiment zu kompensieren, doch seine Versuche scheitern, weil er nicht versteht, dass er seine Individualität in eine Beziehung zu einem ›Gesamtleben‹ setzen muss. Edgar kommt zu keinem Ergebnis und keiner Entscheidung; er kreist um sich selbst. – Auch in ›Franta Zlin‹ wird eine Krankengeschichte erzählt: Der Erzähler beschreibt einen einfachen Heldentypus, der nicht über die intellektuellen Kapazitäten von Edgar verfügt, sondern ein von Krieg und Schicksal Getriebener ist. Franta handelt offenbar ohne wirkliches Bewusstsein von seinem Konflikt. Durch den Tod wird der (versehrte) Körper erlöst, und auch die Seele ist endlich frei. Dieser Zusammenhang wird dem Helden erst im Augenblick des Sterbens, in seiner Todesfantasie, evident, wenn auch von einer vollen Bewusstwerdung nicht zu sprechen ist. Der Leser erhält vom Erzähler durch die doppelte Motivierung der Geschichte, ihre Symbolik und die Konnotationen von Raum und Zeit Hinweise auf jene nicht-empirische Wirklichkeit, die verborgen in der erzählten Realität anwesend ist, und die als Sphäre der Seele zu charakterisieren ist. In den Romanfragmenten ›Daniel‹ und ›Marengo‹ gestalten die Erzähler das Thema der Existenz in einem heilsgeschichtlichen respektive naturmystischen Kontext. In ›Daniel‹ verwendet der Erzähler Prätexte aus dem Alten Testament, und Gott selbst tritt auf. Hier ist keine realistische Welt gestaltet, sondern die
318
Voges, Nervenkunst und ›Konstruktionen‹, S. 206–219.
264
mythische Welt der Legende. Die Hauptfigur, Daniel, ist ein Heiliger und verfügt über Möglichkeiten der Wahrnehmung und des Verstehens, die sonst nur Gott gegeben sind: Daniel stellt eine Synthesis des Geistes aus Endlichem und Unendlichem dar. Seine Eltern, Rahel und Jojakim, gehören der alten Ordnung an, Daniel der neuen: Er löst Nebukadnezar in Gottes Auftrag ab, und er ist der ›Neue Mensch‹ dieser neuen Ordnung. – In ›Marengo‹ ist das Existenzproblem des Helden in einer realen Welt angesiedelt. Der Protagonist erleidet einen Identitätskonflikt, weil er sich seiner Herkunft und Vergangenheit nicht vergewissern kann. Er lebt eine Berufsexistenz. Dennoch ist er in der Lage, Beobachtungen zu machen, zu reflektieren und Zusammenhänge zwischen Seele und Kosmos zu erahnen. Seine Beobachtungen verändern ihn, Marengo verliert seine Angst vor dem Tod. Der Leser kann diesen Wandel nachvollziehen, indem er die Suche der Figur miterlebt. Marengo gehört zu jenen Helden, die ihre existenzielle Krise zumindest potentiell meistern können. Die Helden der späten Erzählungen ›Wer hat, dem wird gegeben‹ und ›Jarmila‹ sind hingegen nicht mehr in der Lage, das Transzendente im Weltlichen, die Ewigkeit im Augenblick zu erkennen. Eusebius, der Held in ›Wer hat, dem wird gegeben‹, ist sich sicher, das Neue Testament befolgt und damit alles richtig gemacht zu haben. Nicht er selbst, sondern nur die Habgier anderer Menschen können seinen Reichtum und Seelenheil gefährden. – In ›Jarmila‹ stellt die Angst vor dem Verlust der Liebe den Helden der Binnenerzählung, Bedrich Kohoutek, vor eine Zerreißprobe. Weil ihm die Liebe nicht gelingt, gibt er sein Leben klaglos hin. Der Rahmenerzähler ahnt am Ende zwar, dass Kohouteks Liebe eine tiefere Dimension des Daseins auslotet als seine eigene Rationalität es vermag, doch bleibt diese Erkenntnis für sein Leben möglicherweise folgenlos. Die Erzählungen der letzten Phase zeigen damit einen gewissen Pessimismus hinsichtlich der Fähigkeit des Menschen, die eigene Subjektivität zu überwinden und das Andere zumindest zu erahnen. In ihrer tragikomischen Variante parodieren die Erzählungen diese Unfähigkeit des Menschen und zeigen ihre Helden als »Don Quichotes«, als unvollkommene Wesen. Die Darstellung der ›zweiten‹ Wirklichkeit folgt in den meisten Geschichten einem narrativen Muster, etwa der Reise oder der Suche. Drei der untersuchten Erzählungen arbeiten ausschließlich mit Impliziten Transfersignalen: Die Erzähler von ›Franta Zlin‹ und ›Marengo‹ verweisen den Leser durch Motivierung, Leitfiguren und Symbolik auf eine Mehrbedeutung. Der Erzähler von ›Franta Zlin‹ unterstreicht die Existenz einer ›zweiten‹ Wirklichkeit durch die Konstitution einer ›doppelten Welt‹, durch das Symbol der Perlen (für die Seele) und durch die Leitfigur der Judenfrau. Der Erzähler von ›Marengo‹ entwirft mit Hilfe der Leitfigur Peter Kornitzer eine Allegorie des vergänglichen Lebens und weist so auf Marengos Problematik hin. In ›Jarmila‹ wird der Leser durch die Symbole der Uhr und der Federn sowie durch die Topografie des erzählten Raumes auf höhere Zusammenhänge hingewiesen. Durch Motivation und Komposition, 265
metonymische, metaphorische und symbolische Relationen entsteht in all diesen Erzähltexten eine Bedeutung, die eine sowohl realistische als auch parabolische Lesart der Geschichten möglich macht. In den Erzählungen ›Die Verdorrten›, ›Daniel‹ und ›Wer hat, dem wird gegeben‹ sind neben den genannten Impliziten auch Explizite Transfersignale vorhanden, mit deren Hilfe der Erzähler die Geschichte direkt kommentiert. Die Erzähler arbeiten mit Metaphern im CoText (›Die Verdorrten‹) oder mit Prätexten (›Daniel‹, ›Wer hat, dem wird gegeben‹). In den ›Verdorrten‹ gibt der Erzähler mit der Titelmetapher einen Hinweis darauf, dass die Geschichte vor einem quasi religiösen Hintergrund zu bewerten ist. ›Daniel‹ wird durch den Bezug auf den Prätext eine ›allegoria in factis‹; allerdings wird vor dem Hintergrund der alttestamentarischen Apokalypse eine neue Theosophie entworfen. In ›Wer hat, dem wird gegeben‹ wird der neutestamentliche Prätext parodiert. Der Held versteht die übertragene Bedeutung des Gleichnisses entweder nicht oder widmet sie gemäß seiner Philosophie des Geldes um. Das bedeutet, dass die Expliziten Transfersignale zwar auf textexterne Systeme anspielen, dass sie diese jedoch nur nutzen, um vor ihrem Hintergrund ihre eigene Vorstellung von (immanenter) Transzendenz zu entwerfen. Das erklärt auch die Unbestimmtheit der Transzendenz in diesen Texten. Fünf Texte werden von heterodiegetischen Erzählern erzählt, die Novelle ›Jarmila‹ von homodiegetischen Erzählern. Alle heterodiegetischen Erzähler sind in den Erzählungen spürbar anwesend, auch wenn sie nicht kommentieren, denn sie wählen meist mittelbare Darstellungsformen (Erzähl- und Gedankenbericht), fokalisieren aber gleichzeitig auf ihre Helden. Die zu Beginn der meisten Erzählungen beim Leser geweckte Erwartung einer souveränen und distanzierten Darstellung lösen sie selten vollständig ein. Der Erzähler von ›Daniel‹ verschleiert seine Erzählsituation durch Homodiegetisierungseffekte, der Erzähler von ›Marengo‹ spielt mit der Fiktivität des Erzählten, der Erzähler der ›Messe von Roudnice‹ verstößt gegen die Fiktion des Textes. Der Erzähler von ›Wer hat, dem wird gegeben‹ gibt sich uninformierter, als er ist, und die homodiegetischen Erzähler in ›Jarmila‹ erweisen sich als unzuverlässig. Die Entscheidung für eine homodiegetische anstelle einer heterodiegetischen Erzählstimme führt im Spätwerk dazu, dass die Erkenntnisproblematik der Figur verstärkt auf den Akt des Erzählens ausgeweitet wird. Der Einsatz eines unzuverlässigen homodiegetischen Erzählers zeigt, dass es nicht möglich ist, die eigenen Gedanken und Gefühle verbindlich darzustellen. Unzuverlässigkeit ist daher gleichfalls als Transfersignal zu werten, das im Rahmen der parabolischen Erzählkonzeption auf eine philosophisch-existenzielle Überzeugung aufmerksam macht: die Aporie einer unhintergehbaren Subjektivität. Ziel der parabolischen Erzählkonzeption ist es, den Leser auf eine ›zweite‹ Wirklichkeit aufmerksam zu machen und ihn zugleich existenziell zu verstören. So wie die Helden lernen müssen, ihr Problem zu erkennen und auf eine ›zweite‹ Wirklichkeit hin zu handeln, so soll der Leser im Lektüreprozess auf266
gestört werden. Die Transfersignale der Geschichten sind »geheimnisvolle Symbole« (KdE 342), für die es nicht nur einen passenden Schlüssel gibt. Darin entspricht die parabolische Textur der Kurzprosa ästhetisch der (philosophischen) Auffassung des Autors von der Unfassbarkeit des Transzendenten. Dies dem Leser zu vermitteln, ist das Ziel des Autors. Der Leser folgt der Spur durch ein dicht gewebtes Netz aus Verweisen und ahnt am Ende die Existenz eines Höheren, das sich nicht vollständig erklären lässt. Das Initiationserlebnis der Helden ist für ihn ein Signal, selbst über die Bedingungen des Daseins zu reflektieren. Zugleich ist der Leser auch aufgefordert, das Verhalten der Helden zu überprüfen und sich ein Urteil zu bilden. Darin, und in der Übertragung des Einzelfalls auf eine allgemeine sinnhaltige Bedeutung, besteht die Aufgabe und die Funktion parabolischen Erzählens.
267
IV. Parabolisches Erzählen, literarische Moderne und Ernst Weiß Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnisvollen Lauf der Dinge. Alexander von Humboldt, Kosmos
Am Ende dieser Studie sind noch einige Fragen offen. Welchen Beitrag leistete Weiß mit seiner parabolischen Erzählkonzeption zur Ästhetisierung der Existenz- und Erkenntnisproblematik in der literarischen Moderne? Inwiefern trug seine Kurzprosa zur Modernisierung der Gattung Parabel oder der parabolischen Schreibweise bei? Um diese Fragen ansatzweise beantworten zu können, ordne ich Weiß’ parabolische Erzählkonzeption in den Diskurs der Parabel der Moderne ein und greife dafür auf Ergebnisse von Rüdiger Zymner zurück. Deutlich wird dabei, dass die parabolische Schreibweise in einem Zusammenhang mit mythopoetischen Tendenzen in der Literatur der Moderne zu sehen ist. Dabei ist auch auf die Fruchtbarkeit der Heuristik für das Weiß’sche Gesamtwerk hinzuweisen. So kann die gewählte Erzählkonzeption für weitere Befragungen des Werks, etwa der Romane oder der Dramen, dienen – eine Beobachtung, die auch den Begriff der parabolischen Schreibweise legitimiert.
1.
Historische Verortung: Transzendenz und ›indirekte Mitteilung‹
Bei der Analyse der Essays konnte ich zeigen, dass Weiß das positivistische Weltbild des 19. Jahrhunderts ablehnt. Er befürwortet eine Transzendenz, die im Kern mythisch, jedoch reflektiert und daher rational gebrochen ist.1 Damit nähert sich sein Standpunkt einer lebensideologischen Bewegung in Kunst und Literatur an, die den Transzendenzverlust als Faktum anerkennt und sich gegen diesen Verlust zugleich widerständig zeigt. Die Überzeugung vom traditionellen Metaphysikverlust2 einerseits und von der Beibehaltung einer säkularisierten Religiosität andererseits stellt Weiß vor neue Herausforderungen. Ästhetisch mündet sie in eine Kritik an der realistischen Erzählweise des 19. Jahrhunderts.3 Weiß propagiert stattdessen einen symbolischen Kunstwerkbegriff4, der über das Gegen1 2 3 4
Vgl. Kap. II, S. 63ff. Zur historischen Nihilismusanalyse vgl. Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper, Expressionismus, München 41990, S. 134ff.; Oehm, Subjektivität, S. 74–124. Vgl. Kap. II, S. 81ff. Zu diesem Begriff vgl. Längle, Vatermythos, S. 86.
268
ständlich-Gegebene hinausgeht. Um seinen Subjektivitäts- und Metaphysikbegriff adäquat wiederzugeben, greift er auch auf ältere Sinngebungsmuster wie die Legende oder die Parabel zurück, entwickelt aber neue narrative Techniken, um die höheren Zusammenhänge anzudeuten. In scheinbar realistisch erzählte Texte werden Transfersignale eingeführt, die für semantische Offenheit sorgen und sich »im Zeichen einer neuen Urverbundenheit mit dem Absoluten gegen den positivistischen Determinismus«5 auflehnen. Zudem gehen Weiß’ Vorstellungen von menschlicher Erkenntnis mit Kierkegaards Überlegungen konform. Weiß’ Erzählungen sind Versuche, die von Kierkegaard formulierte Problematik der radikalen Subjektivität ästhetisch umzusetzen. Die Diskurse der Erzähler weisen eine Rhetorik auf, die Kierkegaard für den religiösen Denker der ›indirekten Mitteilung‹ formuliert hatte. [D]er subjektive Denker muß sofort darauf aufmerksam werden, daß die Form künstlerisch ebenso viel Reflexion enthalten muß, wie er selbst existierend in seinem Denken davon hat. Wohlgemerkt: künstlerisch, denn das Geheimnis liegt nicht darin, daß er die Doppelreflexion direkt aussagt: eine solche Aussage ist gerade ein Widerspruch.6
Die Methode, durch Fragen, Rätsel oder Zweideutigkeiten auf ein existenzielles Problem aufmerksam zu machen, erscheint auf den ersten Blick so paradox wie das Problem selbst. Schließlich ist der Drang zu kommunizieren stets ein Wunsch nach Selbstvergewisserung und objektiver Klarheit. Nach Kierkegaard ist alle Erkenntnis jedoch radikal subjektiv und jede Kommunikation »von dem Dunklen« umfasst, »das indirekt da ist und bewegt«7. Kierkegaard nennt die ›indirekte Mitteilung‹ eine Form der »Existenzmitteilung«, die, wie Jaspers später präzisiert, »von Mensch zu Mensch das Wesentliche zu verbinden vermag, ohne es durchleuchten zu können«8. Indem sich Weiß der Form der ›indirekten Mitteilung‹ bedient, sie im narrativen Diskurs ästhetisiert und in einen Zusammenhang mit der Erkenntnisproblematik stellt, findet er zu einer Erzählkonzeption, die seiner Vorstellung von der radikalen Subjektivität des Menschen Ausdruck verleiht. Er nimmt den transzendenten Sinnhorizont der Gattung Parabel als gesichert an, nutzt die Narration jedoch, um seiner (modernen) Vorstellung einer immanenten Transzendenz Ausdruck zu verleihen. Diese Transzendenz erlebt der Einzelne nicht als objektiv gesetzte Wahrheit, sondern als subjektive Erfahrung, als schlaglichtartige Erkenntnis im Verlauf seines Lebens.
5 6 7 8
Richard Hamann, Jost Hermand, Stilkunst um 1900, München 1973, Bd. 4: S. 121. Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, in: Kierkegaard, Gesammelte Werke, 16. Abt., 1957, S. 65f. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 378. Ebd.
269
2.
Systematische Verortung: Parabolik und literarische Moderne
Rüdiger Zymner hat darauf hingewiesen, dass die Erneuerung der parabolischen Schreibweise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Bereich der Entdeckungsparabel stattgefunden hat, wobei insbesondere die Texte Franz Kafkas und Bertolt Brechts »den Rang von Mustern der Gattung« erreichen.9 Diese Muster weisen sich durch das Vorhandensein Impliziter anstelle Expliziter Transfersignale auf einen Sinnhorizont aus, wodurch sie sich von der biblischen Parabel oder der Parabel der Aufklärung deutlich unterscheiden.10 Zu den Impliziten Transfersignalen zählt Zymner auch Erzähltechniken des Diskurses, in dem sich die wesentlichen Innovationen der Literatur um 1900 und der folgenden Jahrzehnte vollziehen. Inhaltlich erzählen diese Texte nicht mehr durchgängig vom Gelingen eines Verstehens (und damit von der Voraussetzung für ein moralisch gutes Dasein), sondern von seinem Scheitern. Ästhetisch wird dieses Thema durch eine zunehmende Verrätselung des Diskurses dargestellt. Zymner gibt in diesem Zusammenhang einige Merkmale der modernen Parabel am Beispiel der Kurzprosa von Franz Kafka wieder, die er wie folgt kategorisiert: (a) im typologischen Bereich die Forcierung von offenen Entdeckungsparabeln mit Implizitem Transfersignal; (b) im erzähltechnischen Bereich die Ausnutzung der Innenperspektive und des Modus des ›Ich‹-Reflektors als Konstruktionstechniken des Impliziten Transfersignals; (c) im inhaltlichen Bereich das Motiv des Scheiterns […]. In unterschiedlichen Kombinationen werden u.a. diese Aspekte der Parabeln Kafkas seit etwa 1943 (seit den Parabeln des jungen Dürrenmatt) rezipiert und in neuen Parabeldichtungen verwendet […].11
Nimmt man diese drei Kriterien als ein Raster, um auch die Weiß’sche parabolische Erzählkonzeption auf ihre Modernität hin zu überprüfen, so ergibt sich eine praktikable Methode, um die Kurzprosa des Autors mit Texten anderer Schriftsteller der literarischen Moderne und im besonderen mit jenen von Franz Kafka zu vergleichen. (a) Forcierung von offenen Entdeckungsparabeln mit Implizitem Transfersignal: Wie ich zeigen konnte, wird die Geschichte der Helden häufig in einer realistischen Welt dargestellt. Der Erzähler suggeriert, die sachlichste aller möglichen Weisen der Darstellung zu wählen, nämlich das Protokoll. Allerdings bricht in die Logik dieser realistisch erzählten Welt dann ein Numinoses ein, das mit Hilfe von Transfersignalen angedeutet wird. In der Kurzprosa dominieren Implizite 9
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Zymner, Uneigentlichkeit, S. 288: »Der entscheidende innovative Zug in der Entwicklung der Parabel im 20. Jh. ist die typologische Dominanz von Entdeckungsparabeln mit Implizitem Transfersignal und […] offener Richtungsänderung des Bedeutens.« Elm, Moderne Parabel, S. 89. Zymner, Uneigentlichkeit, S. 272.
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Transfersignale, die ein Netz aus textinternen Verweisen aufbauen. Die Verwendung dieser Transfersignale ist dem Umstand geschuldet, dass die uneigentlich erzählte ›zweite‹ Wirklichkeit keinen objektiven Fluchtpunkt besitzt, mit traditionellen metaphysischen Vorstellungen also nicht in Deckung zu bringen ist. Die Texte setzen mit ihrer semantischen Offenheit die Vorstellung um, dass Transzendenz nur als ›innere‹ Wahrheit, nur subjektiv erfahren werden kann. In diesem (philosophisch-weltanschaulichen) Sinne erweist sich die Weiß’sche Kurzprosa als modern. (b) Ausnutzung der Innenperspektive: Wenn die Subjektivität die letzte Grenze darstellt, wird die Vermittlung objektiver Wahrheit problematisch. Ich konnte zeigen, dass die Weiß’schen Erzähler einerseits auf ihre Figuren fokalisieren, und dass sie andererseits ihren Diskurs verrätseln – bis zur Unzuverlässigkeit. Dem Leser wird dadurch bewusst, dass die Mitteilungen der heterodiegetischen Erzähler nicht objektiv, sondern subjektiv sind. Nichts, auch nicht die hierarchisch privilegierte Rede des Erzählers, ist für den Leser vollkommen verlässlich; darauf weisen die Rätsel und Widersprüche in seinem Diskurs hin. Sie betonen Zweideutigkeit, unterminieren ein einfaches und direktes Verstehen und verleihen der Vorstellung einer an sich rätselhaften Wirklichkeit ästhetischen Ausdruck. Mit diesen Techniken reihen sich die Texte in jene Literatur der Avantgarde ein, die von einer ambigen Wirklichkeit erzählen. Weitere Merkmale dieser Art in der Moderne zählt Lodge auf: Formal experiment, dislocation of conventional syntax, radical breachers of decorum, disturbance of chronology and spatial order, ambiguity, polysemy, obscurity, mythopoetic allusion, primitivism, irrationalism, structuring by symbol and motif rather than by narrative and argumentative logic, and so on.12
Mit ihren Erzähltechniken schreibt sich die Literatur der Moderne somit weg vom realistischen Erzählen und formuliert nur noch hypothetische Aussagen. Gleichzeitig nimmt sie einen Sinnhorizont an, der nicht ausschließlich empirisch erklärbar ist. An diesem Diskurs hat Weiß mit seiner parabolischen Erzählkonzeption teil. Durch die Ausweitung der Transfersignale von der Geschichte auf den Diskurs entsteht auch eine rhetorische Zweideutigkeit, die den Leser zur Auseinandersetzung nicht nur mit dem Helden, sondern auch mit der Rede (und Person) des Erzählers zwingt. (c) Das Motiv des Scheiterns: Weiß’ Helden sind, wie ich zeigen konnte, selten erfolgreich, wenn es um die Erkenntnis ihrer Daseinsbedingungen, vor allem aber ihrer seelischen Wirklichkeit geht. Häufig ist ihnen, soweit der Leser Einblick in ihr Bewusstsein bekommt und dies zu beurteilen vermag, das ganze Ausmaß,
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David Lodge, Working with structuralism: Essays and reviews on nineteenth and twentieth century literature, Boston u.a. 1981, S. 143–155 (zit. nach: Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 2).
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vor allem aber die Ursache ihres Schicksals, nämlich die Polarität ihres Wesens, undurchschaubar. Auch in dieser Hinsicht erweisen sich die Weiß’schen Erzählungen als modern: Sie sind von einem Autor in einem Bewusstsein geschrieben, dass der Mensch auf der Erde, dem ›Stern der Dämonen‹, zwar ein auserwähltes, zugleich jedoch ein unvollkommenes Wesen ist. Der Mensch lebt in einer »unergreiflichen, unbegreiflichen Welt« (KdE 174) und ist diesem Dasein »zwischen Hölle und Paradies« (KdE 174) für eine Zeitlang ausgesetzt. Er hat die Möglichkeit, höhere Zusammenhänge zu ignorieren oder die Gesetze des Kosmos zu akzeptieren. Je nach dem ist der Mensch ein tragischer oder ein tragikomischer Held – eine Alternative gibt es nicht. In seiner parabolischen Kurzprosa gibt Ernst Weiß dem Leser eine Ahnung von beiden Seinsweisen.
3.
Einordnung der parabolischen Erzählkonzeption in Weiß’ Werk
Blickt man auf das Gesamtwerk des Autors, so lassen sich parabolische Erzählweisen nicht nur in der Kurzprosa, sondern auch in den Romanen des Autors feststellen. Michael Voges hat auf das bedeutungskonstitutive immanente Verweissystem in Weiß’ erstem Roman ›Die Galeere‹ (1913) hingewiesen13, Wolf-Dieter Elfe und Thomas Delfmann haben die expressive Bildgebung in Weiß’ expressionistischem Roman ›Tiere in Ketten‹ sowie deren psychoanalytische Konnotationen herausgearbeitet.14 Ulrike Längle entschlüsselte die zwar weniger offensichtliche, jedoch gleichfalls bedeutungskonstitutive politische Symbolik in Weiß’ Exilroman ›Der arme Verschwender‹ (1936).15 Delfmann, Müller und Kindt haben in anderen Romanen des Autors, etwa dem Roman ›Mensch gegen Mensch‹ (1919) und den Exilromanen, Unklarheiten in der Fokalisierung, Ansätze zur Ironie oder Unzuverlässigkeit festgestellt – Erzähltechniken also, die in der vorliegenden Studie gleichfalls unter dem Begriff der parabolischen Erzählkonzeption subsu-
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Vgl. Voges, Nervenkunst und ›Konstruktionen‹, S. 209. Elfe, Stiltendenzen, S. 32–63, Delfmann, Mythisierung, S. 225. – Auf die allegorische Lesart des Kurzromans ›Die Feuerprobe‹ haben Rita Mielke, Hans-Harald Müller und Armin Tatzel hingewiesen. Da es sich nach meiner Typologisierung bei der ›Feuerprobe‹ um Kurzprosa handelt, sind die Ergebnisse dieser Studien als Bekräftigung der These einer parabolischen Erzählkonzeption in der Kurzprosa zu verstehen. – Vgl. Mielke, Das Böse als Krankheit, S. 135ff., Müller/Tatzel, Das Klarste ist das Gesetz, S. 6f. Längle, Vatermythos, S. 101. – Laut Längle kann der Roman als »Gleichnis für die Lebensmöglichkeiten der um die Jahrhundertwende geborenen Generation« verstanden werden.
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miert werden.16 Damit wird sichtbar, dass die parabolische Erzählkonzeption als ›Schreibweise‹ letztlich für das ganze Werk von Weiß konstitutiv ist, auch wenn sie in den Romanen längst nicht so komprimiert und strategisch eingesetzt wird wie in der Kurzprosa. Es bestätigt sich die Entscheidung, den Begriff der parabolischen ›Schreibweise‹ als terminus technicus gegenüber jenem der ›Gattung‹ zu wählen: Parabolische Schreibweisen können ermittelt werden, ohne den Text der Gattung Parabel unterordnen zu müssen. Die hier angewandte Heuristik ist nicht nur für weitere Analysen der Kurzprosa fruchtbar, sondern auch für die Untersuchung des Romanwerks. Ein weiterführendes Forschungsziel könnte es sein, den hier gewonnenen Katalog parabolischer Merkmale durch weitere Einzelanalysen zu erweitern und zu verfeinern. Aufschlussreich wäre auch die Frage, ob sich parabolische Schreibweisen in den Dramen und Gedichten des Autors finden lassen. Diese Fragen gehen indes über die gesetzten Ziele dieser Studie hinaus – und damit über ihre Grenzen.
16
Vgl. Müller, Unzuverlässiger Ich-Erzähler, S. 186–196; Delfmann, Heldentum; Kindt, Unzuverlässiges Erzählen.
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V. Siglen
A D E Elster EWM GW JAR K KdE MAL
NM NR PP StA WBl, 1.F.
WBl, 2.F.
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Ernst Weiß, Atua. Drei Erzählungen, München 1923. Ernst Weiß, Dämonenzug. Fünf Erzählungen, Berlin 1928. Ernst Weiß, Die Erzählungen. In: Weiß: Gesammelte Werke, Bd. 15. Die deutsche Novelle der Gegenwart, hg. von Hanns Martin Elster, Berlin 1925. Ernst Weiß. Materialien, hg. von Peter Engel, Frankfurt/M. 1982. Ernst Weiß, Gesammelte Werke. Hg. von Peter Engel und Volker Michels, Frankfurt/M. 1982. Ernst Weiß, Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Mit einem Nachwort von Peter Engel, Frankfurt/M. 1998. Die Entfaltung. Novellen an die Zeit, hg. von Max Krell, Berlin 1921. Ernst Weiß, Die Kunst des Erzählens. In: Weiß: Gesammelte Werke, Bd. 16. Modern Austrian Literature. A journal devoted to the study of Austrian literature and culture; journal of the Modern Austrian Literature and Culture Association; International Arthur Schnitzler Research Association, Houston, Tex.: Assoc, 1968, anf.: Binghamton, New York: State Univ. Der neue Merkur. Monatsschrift für geistiges Leben, München 19141919, Selbstverlag 1919-1924, Stuttgart 1924-1925. Die neue Rundschau. Monatsschrift, Berlin 1890-1933. Prager Presse. Tageszeitung. Morgenausgabe. Abendausgabe, Prag 19211927. Sigmund Freud: Studienausgabe in zehn Bänden mit Ergänzungsband. Hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt/M. 2000. Weiß-Blätter, 1. Folge: Diskussionsforum und Mitteilungsorgan für die am Werk von Ernst Weiß Interessierten. Hg. von Peter Engel, Hamburg 1973-78. Weiß-Blätter, 2. Folge. Hg. von Peter Engel und Sven Spieker, Essen 1983-1989.
VI. Bibliografie
1.
Primärliteratur
1.1.
Quellen und Korrespondenzen
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Briefe von Ernst Weiß Ernst Weiß an Martin Buber. 14 Briefe und Postkarten aus den Jahren 1912 bis 1924. Aufbewahrt im Martin-Buber-Archive, ARC. Ms. Var. 350, Department of Archives, National Library of Israel, Jerusalem (Israel). – an Arthur Schnitzler. Zwei Schreiben von 1912 und zwei undatierte Schreiben. Aufbewahrt in der Arthur-Schnitzler-Collection, Cambridge University Library, Cambridge (Großbritannien). – an Stefan Zweig. 186 Bögen, darunter 30 undatierte Briefe und zwölf undatierte Postkarten aus den Jahren 1913 bis 1940. Aufbewahrt in der Stefan-Zweig-Collection – Reed Library, State University of New York at Fredoria, New York State (USA). – an Rahel Sanzara. 143 Briefe (vier davon unvollständig), 94 Postkarten, 8 Beilagen aus dem Felde von 1916 bis 1918. Aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Marbach a.N. (Deutschland). – an Efraim Frisch. 18 Postkarten und Briefe aus den Jahren 1920–1924. Aufbewahrt in der Efraim-Frisch-Collection, ›Der neue Merkur‹, Redaktionsbriefwechsel, Leo Baeck Institute, New York (USA). – an Willi Bredel. Brief vom 20. April 1939. In: Erinnerungen an einen Freund. Ein Gedenkbuch für F.C. Weiskopf. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin 1963, S. 416. – an Willi Bredel. Brief vom 25. November 1938. In: Willi Bredel. Sonderheft der Zeitschrift Sinn und Form. Hg. von der Akademie der Künste zu Berlin, Berlin 1965, S. 262f. – an Hans F.J. Oppenheimer. Drei unbekannte Schreiben von Ernst Weiß aus dem Pariser Exil. Ediert und kommentiert von Peter Engel. In: Die Horen 19 (1974), Nr. 94, S. 92–95.
275
– –
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Manuskripte und Druckvorstufen Ernst Weiß: Albert Ehrenstein und die Musik. Undatierter Essay. Aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Marbach a.N. (Deutschland). – Der Augenzeuge. Bürstenexemplar des Herbig Verlags. Copyright by Paul GordonProduktion (Bühnenverlag). Berlin W 15, Brandenburgische Straße 38. Aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Bibliothek, Marbach a.N. (Deutschland).
Interviews, Werkstattgespräche und Autobiografisches Ernst Weiß: Theater und Kunst. Ernst Weiß über sein Drama ›Tanja‹. In: Wiener Mittagspost, 23. Dezember 1919, S. 3. – Balzac als Romanfigur. In: Berliner Börsen-Courier, 7. August 1925. Wiederabgedruckt in: WBl, 1. F., 5 (1977), S. 1–7. – Notizen über mich selbst. In: WBl, 2. F., 4 (1985), S. 3–8.
1.2. Werke in alphabetischer Reihenfolge Ernst Weiß: Ahira. Eine Studie. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 265–269. – Ahira. In: Die Welt am Abend, 3. September 1924, Beilage [S. 1–2]. – Aktualität. In: Prager Presse, 25. Februar 1922, S. 3. – Albert Ehrenstein. In: Gustav Krojanker (Hg.): Juden in der deutschen Literatur, Berlin 1922, S. 63–70. – An Rurky. In: Der Friede 2 (1918/1919), S. 311f. – Antwort auf eine Rundfrage: Gibt es eine neue Kunst? In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 25. Dezember 1919, Weihnachtsbeilage, S. 6. – Atua. In: Berliner Börsen-Courier, 16. April 1922, S. 9. – Atua. Drei Erzählungen, München 1923. [A] – Aus Ahira. In: Die weißen Blätter 7 (1920), S. 431–434. – Auswanderer [Tiere in Ketten, 1. Fassung]. In: Prager Presse, 25. Juni 1921, Morgenausgabe, S. 5. – Begegnung [Die Galeere]. In: Almanach S. Fischer 27 (1913), S. 310–314. – Boetius von Orlamünde. Roman, Berlin 1928. – Boetius von Orlamünde. Oder: Der Traumtrödler. Ein Fragment. In: Prager Presse, 18. Mai 1922, S. 5f. – Bruno Meißner: Babylonien und Assyrien. In: Berliner Börsen-Courier, 19. Mai 1925, S. 5. – Bücher, die ungerecht behandelt wurden. [Antwort auf eine Rundfrage]. In: Das TageBuch 10 (1929), S. 469f. – Cyrill Albaran [Hodin]. In: Prager Presse, 12. März 1922, S. 5f. – Cyrill [Stern der Dämonen]. In: Prager Presse, 4. September 1921, S. 17. – Dämonenzug. Fünf Erzählungen, Berlin 1928. [D] – Daniel. Erzählung, Berlin 1924.
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– Daniel und der Kaiser. In: Der neue Merkur 8 (1924/25), S. 271–282. – Daniel und der Kaiser. In: Hanns Martin Elster (Hg.): Die deutsche Novelle der Gegenwart, Berlin 1925, S. 193–206. – Das Ende des Vaters. Aus einem Roman [Boethius von Orlamünde]. In: Die Lesestunde. Zeitschrift der Deutschen Buch-Gemeinschaft 5 (1928), Nr. 10/11, S. 324ff. – Das Tigerkind [Nahar]. In: Prager Tagblatt, 20. August 1921, S. 1f. – Das Unverlierbare. Essays. Meiner Mutter gewidmet, Berlin 1928. – Das Versöhnungsfest. Eine Dichtung in vier Kreisen, München 1920. – Der arme Verschwender. Roman, Frankfurt/M. 1999. – Der Arzt. In: Alfred Wolfenstein (Hg.): Die Erhebung, Berlin o.J. [1919], Buch 1, S. 251–259. – Der Augenzeuge. Roman, Icking und München 1963. – Der Augenzeuge. Roman, Frankfurt/M. 1999. – Der Fall Vukobrankovics, Berlin 1924. – Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen. Roman, Frankfurt/M. 2000. – Der General rettet Hildegard Annemarie. In: Prager Tagblatt, 25. Dezember 1929, Weihnachtsbeilage, S. III-IV. – Der General rettet Hildegard Annemarie. In: Hannoverscher Kurier, 31. Januar 1930, Morgenausgabe, Beilage [S. 1–2]. – Der große Ahn und Meister. In: Prager Presse, 9. Oktober 1921, Morgenausgabe, S. 12. – Der Herzensbruder. Erzählung von Ernst Weiß. In: Pariser Tageszeitung, 14. und 15. August 1938, o.S. – Der Kampf. Roman, Berlin 1916. – Der Mensch und seine Tat. Aus einem Roman [Mensch gegen Mensch]. In: Der Friede 2 (1919), Bd. 3, S. 189–191. – Der neue Roman. In: Berliner Börsen-Courier, 22. Oktober 1922, o.S. – Der Soldat und das Tier [Franta Zlin]. In: Prager Presse, 27. August 1921, S. 3. – Der weisen Könige Wirken. In: Weiß: Das Unverlierbare, Berlin 1928, S. 291–304. – Der zweite Augenzeuge und andere ausgewählte Werke. Eingeleitet und herausgegeben von Klaus-Peter Hinze, Wiesbaden 1978. – Die Bändigung des Hengstes [Boethius von Orlamünde]. In: Almanach S. Fischer 1929, 42 (1928), S. 183–188. – Die Bestattung des Fürsten Zedekia. Aus einem neuen Roman Daniel. In: Prager Presse, 25. Dezember 1923, Beilage, S. IV. – Die Bestattung des Zedekia, letzten Königs der Juden. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 52–56. – Die Constanza [Der Kampf]. In: Das dreißigste Jahr. Almanach des S. Fischer Verlages 30 (1916), S. 288–295. – Die Feuerprobe. Roman. Mit 5 Radierungen von Ludwig Meidner. Gedruckt in einer einmaligen Ausgabe von 675 Exemplaren. Ausgabe A: Nr. 1-XXV (Pergament); Ausgabe B: Nr. XXVI-C (Halbpergament); Ausgabe C: Nr. 1–575 (Pappband). Druck der Offizin Fabri 1, Berlin 1923. – Die Feuerprobe. Roman, Berlin 1929. – Die Galeere. Roman, Frankfurt/M. 2000. – Die Geburt des Daniel. In: Vossische Zeitung (Berlin), 18. März 1923, Morgenausgabe S. 2f. [Red. Notiz: »Das erste Kapitel eines unveröffentlichten Romans als Schaffensprobe des Dichters, den die Junge Bühne heute mit seinem Drama Olympia zu Worte kommen läßt.«]
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Menschen und Tiere [Mensch gegen Mensch]. In: Prager Presse, 3. Juli 1921, Morgenausgabe, S. 12–13. Mitten im Brande. Ein Fragment [Die Feuerprobe]. In: Prager Presse, 29. Juni 1923, S. 5. Mitten im Brand [Die Feuerprobe]. In: Berliner Börsen-Courier, 19. August 1923, o.S. Mozart, ein Meister des Ostens. In: Die neue Rundschau 32 (1921), S. 1200–1210. Nahar. Ein Romankapitel von Ernst Weiß. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1921, S. 5f. Nahar. Roman. [»Des Romanwerkes Tiere in Ketten zweiter, in sich abgeschlossener Teil.«] München 1922. Nahars Zweikampf und Tod. In: Otto Pick (Hg.): Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei, Reichenberg 1922, S. 403–411. Nervöse Leute. In: National-Zeitung, 5. Juli 1914, 1. Beilage. Novellen. In: National-Zeitung, 26. Februar 1914, Beiblatt (Rückseite). Olga begegnet sich selbst [Tiere in Ketten, 3. Fassung]. In: Berliner Tageblatt, 29. November 1929, o.S. Olympia. Tragikomödie, Berlin 1923. Operation. In: Prager Presse, 24. Juli 1921, Morgenausgabe, S. 12. Rede über einen Mord. Unveröffentlichtes Kapitel aus dem Roman Tiere in Ketten von Ernst Weiß. In: Prager Presse, 24. April 1921, S. 3–5. Sered. Ein Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman. In: Pariser Tageszeitung, 26./27. Februar 1939, S. 3. Sered findet endlich einen guten Freund. Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman. In: Pariser Tageszeitung, 7./8. Mai 1939, S. 3. Spione [Mensch gegen Mensch]. In: Prager Presse, Sonntagsbeilage, 14. August 1921. Stern der Dämonen. In: Die Gefährten 3 (1920), H. 9, S. 18–70. [GEF] Stern der Dämonen. Roman, München 1921. Südseelegende I-III. In: Berliner Börsen-Courier, 31. Mai 1925, S. 5. Tanja. Drama in drei Akten. 6 Bilder, Rahel Sanzara gewidmet. In: Der neue Daimon 2 (1919), S. 65–112. Tanja. Drama in drei Akten. Rahel Sanzara gewidmet, Berlin 1920. Tat der Gedanken und der Hand. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1931, Neuausgabe, 3. Beilage, S. 13f. Tigerspiel und Jagd [Nahar]. In: Prager Tagblatt, 9. Oktober 1921, Unterhaltungsbeilage, S. 1. Tigerparadies [Nahar]. In: Prager Presse, 25. September 1921, S. 11. Tigerparadies [Nahar]. In: Der Feuerreiter 1 (1922) H. 2, S. 74–77. Trost in Tränen. Unveröffentlichtes Kapitel aus dem Roman ›Der Verführer‹. In: Pariser Tageszeitung, 10./11. Juli 1938, S. 4. Verkündigung. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 65–70. Von den Entzückungen der Liebe. 15 Aphorismen. In: Pariser Tageszeitung, 19. und 20. März 1939, o.S. Von der Wollust der Dummheit. Aphorismen. In: Pariser Tageszeitung, 18. und 19. Dezember 1938, o.S. Wer hat, dem wird gegeben. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937) H. 4–5, S. 68–78. Zwei Reden über einen Mord. Zu einem Roman: Tiere in Ketten. In: Der Mensch 1 (1918), H. 8–10, S. 114–121.
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1.3. Werke in typologischer Reihenfolge Gesammelte Werke und Anthologien Ernst Weiß: Der zweite Augenzeuge und andere ausgewählte Werke. Eingeleitet und herausgegeben von Klaus-Peter Hinze, Wiesbaden 1978. – Gesammelte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Peter Engel und Volker Michels, Frankfurt/M. 1982, 16 Bde. [GW] Bd. 1: Die Galeere. Roman. [G] Bd. 2: Franziska. Roman. Bd. 3: Mensch gegen Mensch. Roman. [MgM] Bd. 4: Tiere in Ketten. Roman. [TiK] Bd. 5: Nahar. Roman. Bd. 6: Die Feuerprobe. Roman. [FEU] Bd. 7: Die Fall Vukobrankovics. Bericht. Bd. 8: Männer in der Nacht. Roman. [MiN] Bd. 9: Der Aristokrat. Roman. [AR] Bd. 10: Georg Letham, Arzt und Mörder. Roman. Bd. 11: Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen. Roman. Bd. 12: Der arme Verschwender. Roman. Bd. 13: Der Verführer. Roman. Bd. 14: Der Augenzeuge. Roman. Bd. 15: Die Erzählungen. [E] Bd. 16: Die Kunst des Erzählens. Essays, Aufsätze, Schriften zur Literatur. [KdE]
Sonstige Ausgaben von Romanen, Gedichtbänden, Theaterstücken und Essays Ernst Weiß: Der Kampf. Roman, Berlin 1916. – Mensch gegen Mensch. Roman, München 1919. – Tanja. Drama in drei Akten. 6 Bilder, Rahel Sanzara gewidmet. In: Der neue Daimon 2 (1919), S. 65–112. – Tanja. Drama in drei Akten. Rahel Sanzara gewidmet, Berlin 1920. – Das Versöhnungsfest. Eine Dichtung in vier Kreisen, München 1920. – Nahar. Roman [»Des Romanwerkes Tiere in Ketten zweiter, in sich abgeschlossener Teil«], München 1922. – Olympia. Tragikomödie, Berlin 1923. – Der Fall Vukobrankovics, Berlin 1924. – Männer in der Nacht. Roman, Berlin 1925. – Boetius von Orlamünde. Roman, Berlin 1928. – Das Unverlierbare. Essays. Meiner Mutter gewidmet, Berlin 1928. – Die Feuerprobe. Roman, Berlin 1929. – Der Augenzeuge. Roman, Icking und München 1963. – Der arme Verschwender. Roman, Frankfurt/M. 1999. – Der Augenzeuge. Roman, Frankfurt/M. 1999. – Franziska. Roman, Frankfurt/M. 2000. – Die Galeere. Roman, Frankfurt/M. 2000. – Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen. Roman, Frankfurt/M. 2000.
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Sonstige Ausgaben der Kurzprosa Ernst Weiß: Stern der Dämonen. Roman, München 1921. – Atua. Drei Erzählungen, München 1923. [A] – Hodin. Mit Steinzeichnungen von Nikolai Pusirewski, Berlin 1923. – Die Feuerprobe. Roman. Mit 5 Radierungen von Ludwig Meidner. Gedruckt in einer einmaligen Ausgabe von 675 Exemplaren. Ausgabe A: Nr. 1-XXV (Pergament); Ausgabe B: Nr. XXVI-C (Halbpergament); Ausgabe C: Nr. 1–575 (Pappband). Druck der Offizin Fabri 1, Berlin 1923. – Hodin. Erzählung. Buchhandelsausgabe, Stuttgart u.a. 1924. – Daniel. Erzählung, Berlin 1924. – Dämonenzug. Fünf Erzählungen, Berlin 1928. [D] – Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Mit einem Nachwort von Dominique Fliegler, Prag 1998. – Jarmila. Eine Liebesgeschichte aus Böhmen. Mit einem Nachwort von Peter Engel, Frankfurt/M. 1998. [JAR]
Novellen und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien Ernst Weiß: Franta Zlin. In: Genius. Zeitschrift für werdende und alte Kunst, München 1 (1919), S. 298–308. [GEN] – Franta Zlin. In: Die Gefährten 3 (1920), H. 9, S. 1–17. [GEF] – Stern der Dämonen. In: Die Gefährten 3 (1920), H. 9, S. 18–70. [GEF] – Die Verdorrten. Novelle. In: Der neue Merkur 4 (1920/21), S. 119–39. – Fragmente des Lebens. In: Prager Presse, 8.–19. Juli 1921, Abendausgabe, o.S. – Die Verdorrten. In: Max Krell (Hg.): Die Entfaltung. Novellen an die Zeit, Berlin 1921, S. 200–223. [K] – Die Messe von Roudnice. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937), H. 1, S. 12–22. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 100ff., und in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 341–353. – Wer hat, dem wird gegeben. Erzählung in Anekdoten. In: Das Wort 2 (1937), H. 4–5, S. 68–78. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 251–264.
Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien –
Der Arzt. In: Alfred Wolfenstein (Hg.): Die Erhebung, Berlin o.J. [1919], Buch 1, S. 251–259. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 293–298. – Operation. In: Prager Presse, 24. Juli 1921, Morgenausgabe, S. 12. – Die glückliche Operation. In: Das Tage-Buch 5 (1924), S. 767–770. – Die glückliche Operation. In: Sonntagsblatt der New Yorker Volkszeitung, 29. Juni 1924, Section I, S. 5. – Die Hilfsschwester. Novelle von Ernst Weiß, die einen 500-Mark Preis in unserem Kurzgeschichten-Preisausschreiben erhielt. In: Berliner Illustrirte Zeitung, 28. April 1929, S. 721, 723, 725. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 91ff., und in: WBl, 1. F., 4 (1975), S. 3–7. – Der General rettet Hildegard Annemarie. In: Prager Tagblatt, 25. Dezember 1929, Weihnachtsbeilage, S. III-IV. – Der General rettet Hildegard Annemarie. In: Hannoverscher Kurier, 31. Januar 1930, Morgenausgabe, Beilage [S. 1–2].
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Die Herznaht. In: Die Lesestunde. Zeitschrift der Deutschen Buchgemeinschaft 7 (1930), Nr. 20, S. 358f. – Die Herznaht. In: Hermann Kesten (Hg.): Novellen deutscher Dichter der Gegenwart, Amsterdam 1933, S. 381–397. – Die Herznaht. In: Pariser Tageszeitung, 10., 12. und 13. Januar 1937, S. 3, 4 und 6. – Die Herznaht. Novelle. In: Argentinisches Wochenblatt (Buenos Aires), 13. März 1937, Beilage: Hüben und Drüben, S. 3–5. – Die Herznaht. Einleitungskapitel (1935). In: WBl, 1. F., 3 (1974), S. 11–16.
Roman- und Kürzestfragmente in Zeitschriften und Anthologien Ernst Weiß: An Rurky. In: Der Friede 2 (1918/1919), S. 311f. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 288–292. – Legende einer Mutter. In: Prager Tagblatt, 27. Juni 1920, S. 6. – Legende einer Mutter. In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 5. September 1920, Sonntags-Beilage, S. 1. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 299. – Aus Ahira. In: Die weißen Blätter 7 (1920), S. 431–434. – Ahira. Eine Studie. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 265–269. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 312–316. – Ahira. In: Die Welt am Abend, 3. September 1924, Beilage [S. 1–2]. – Familiengeschichte. Geschrieben 1914. In: Das Tage-Buch 5 (1924), S. 20–22. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 309–311. – Daniel und der Kaiser. In: Der neue Merkur 8 (1924/25), S. 271–282. – Daniel und der Kaiser. In: Hanns Martin Elster (Hg.): Die deutsche Novelle der Gegenwart, Berlin 1925, S. 193–206. – Südseelegende I-III. In: Berliner Börsen-Courier, 31. Mai 1925, S. 5. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 317–321. – Marengo oder das Leben ohne Illusionen. In: Die neue Rundschau 37 (1926), Bd. 1, S. 233–235. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 104–127. – Marengo oder das Leben ohne Illusionen. Erzählung von Ernst Weiß. In: New Yorker Volkszeitung, 30. März bis 5. April 1926. – Liebe ohne Illusion. In: Drei Bücher der Liebe. Die schönsten Liebesgeschichten der Lebenden, Berlin 1927, 3 Bde., Bd. 3, S. 40–77. – Der Herzensbruder. Erzählung von Ernst Weiß. In: Pariser Tageszeitung, 14. und 15. August 1938, o.S. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 265–287. – Sered. Ein Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman. In: Pariser Tageszeitung, 26./27. Februar 1939, S. 3. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 265–287. – Sered findet endlich einen guten Freund. Kapitel aus einem unveröffentlichten Roman. In: Pariser Tageszeitung, 7./8. Mai 1939, S. 3. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 15: E, S. 265–287.
Vorarbeiten zu Romanen und Erzählungen in Zeitungen und Zeitschriften Ernst Weiß: Kleine Flammen. Erstes Kapitel aus einem Roman. In: Saturn 2 (1912), S. 185–190. – Cyrill Albaran [Hodin]. In: Prager Presse, 12. März 1922, S. 5f. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 83ff. – Boetius von Orlamünde. Oder: Der Traumtrödler. Ein Fragment. In: Prager Presse, 18. Mai 1922, S. 5f.
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Marengo oder das Leben ohne Illusionen. Aus einem neuen Roman. In: Das TageBuch 7 (1926), S. 562–565. Die Novelle von Boetius. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1928, S. 8. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 87–90. Tat der Gedanken und der Hand. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1931, Neuausgabe, 3. Beilage, S. 13f.
Ausgeschiedene Romankapitel in Zeitungen und Zeitschriften Ernst Weiß: Fragment der Kindheit. In: Der Friede 1 (1918), S. 574f. Wiederabgedruckt in: Arnold (Hg.): text + kritik, S. 1–4. – Fragment der Jugend. In: Der Friede 2 (1918/1919), S. 402–405. Wiederabgedruckt in: Arnold (Hg.): text + kritik, S. 5–12. – Eine klinische Vorlesung. In: Der Friede 2 (1918/1919), S. 187f. – Zwei Reden über einen Mord. Zu einem Roman: Tiere in Ketten. In: Der Mensch 1 (1918), H. 8–10, S. 114–121. – Fragment der Jugend. In: Deutsche Zukunft 1 (1919), H. 1, S. 7. – Rede über einen Mord. Unveröffentlichtes Kapitel aus dem Roman Tiere in Ketten von Ernst Weiß. In: Prager Presse, 24. April 1921, S. 3–5. – Die Mutter. In: Morgenzeitung und Handelsblatt (Mährisch-Ostrau), 5. August 1924, S. 2f.
Ausschnitte aus Romanen und Erzählungen in Zeitungen und Zeitschriften Ernst Weiß: Begegnung [Die Galeere]. In: Almanach S. Fischer 27 (1913), S. 310–314. – Die Constanza [Der Kampf]. In: Das dreißigste Jahr. Almanach des S. Fischer Verlages 30 (1916), S. 288–295. – Kleinseite [Franziska]. In: Das jüdische Prag, Prag 1917, S. 35f. – Der Mensch und seine Tat. Aus einem Roman [Mensch gegen Mensch]. In: Der Friede 2 (1919), Bd. 3, S. 189–191. – Auswanderer [Tiere in Ketten, 1. Fassung]. In: Prager Presse, 25. Juni 1921, Morgenausgabe, S. 5. – Menschen und Tiere [Mensch gegen Mensch]. In: Prager Presse, 3. Juli 1921, Morgenausgabe, S. 12–13. – Mensch und Masse [Mensch gegen Mensch]. In: Prager Presse, 3. August 1921, S. 5. – Spione [Mensch gegen Mensch]. In: Prager Presse, Sonntagsbeilage, 14. August 1921. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 69. – Das Tigerkind [Nahar]. In: Prager Tagblatt, 20. August 1921, S. 1f. – Der Soldat und das Tier [Franta Zlin]. In: Prager Presse, 27. August 1921, S. 3. – Cyrill [Stern der Dämonen]. In: Prager Presse, 4. September 1921, S. 17. – Tigerparadies [Nahar]. In: Prager Presse, 25. September 1921, S. 11. – Ende und Anfang [Franziska]. In: Prager Presse, 9. Oktober 1921, Morgenausgabe, S. 12. – Tigerspiel und Jagd [Nahar]. In: Prager Tagblatt, 9. Oktober 1921, Unterhaltungsbeilage, S. 1. – Eine Mutter sucht und findet ihr Kind [Nahar]. In: Prager Presse, 27. November 1921, Morgenausgabe, S. 11f. – Nahar. Ein Romankapitel von Ernst Weiß. In: Berliner Börsen-Courier, 25. Dezember 1921, S. 5f. – Tigerparadies [Nahar]. In: Der Feuerreiter 1 (1922) H. 2, S. 74–77.
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Atua. In: Berliner Börsen-Courier, 16. April 1922, S. 9. Nahars Zweikampf und Tod. In: Otto Pick (Hg.): Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei, Reichenberg 1922, S. 403–411. Die Geburt des Daniel. In: Vossische Zeitung (Berlin), 18. März 1923, Morgenausgabe S. 2f. [Red. Notiz: »Das erste Kapitel eines unveröffentlichten Romans als Schaffensprobe des Dichters, den die Junge Bühne heute mit seinem Drama Olympia zu Worte kommen läßt.«] Die Geburt des Daniel. In: Prager Presse, 1. Juni 1923, S. 4f. Die Jugend des Daniel. Ein Fragment. In: Berliner Börsen-Courier, 7. Oktober 1923, o.S. Die Bestattung des Fürsten Zedekia. Aus einem neuen Roman Daniel. In: Prager Presse, 25. Dezember 1923, Beilage, S. IV. Mitten im Brande. Ein Fragment [Die Feuerprobe]. In: Prager Presse, 29. Juni 1923, S. 5. Mitten im Brand [Die Feuerprobe]. In: Berliner Börsen-Courier, 19. August 1923, o.S. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 98. Verkündigung. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 65–70. Die Bestattung des Zedekia, letzten Königs der Juden. In: Vers und Prosa 1 (1924), S. 52–56. Die Jugend des Daniel. In: Das Zelt 1 (Mai 1924), H. 5, S. 151–154. Die Bändigung des Hengstes [Boethius von Orlamünde]. In: Almanach S. Fischer 1929, 42 (1928), S. 183–188. Das Ende des Vaters. Aus einem Roman [Boethius von Orlamünde]. In: Die Lesestunde. Zeitschrift der Deutschen Buch-Gemeinschaft 5 (1928), Nr. 10/11, S. 324ff. Fragmente aus ›Feuerprobe‹. In: Die literarische Welt 5 (1929), Nr. 18, S. 3f. Olga begegnet sich selbst [Tiere in Ketten, 3. Fassung]. In: Berliner Tageblatt, 29. November 1929. Geburt eines Tigers [Nahar, 2. Fassung]. In: Vossische Zeitung, 9. Februar 1930, Beilage: Unterhaltungsblatt. Geburt eines Tigers [Nahar, 2. Fassung]. In: Der Wiener Tag, 19. Juli 1930, S. 6. Kokain [Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen]. In: Prager Tagblatt, 8. Dezember 1934, S. IV. Trost in Tränen. Unveröffentlichtes Kapitel aus dem Roman ›Der Verführer‹. In: Pariser Tageszeitung, 10./11. Juli 1938, S. 4. Frühe Erlebnisse. Fragment aus einem Roman [Der Augenzeuge, 2. Fassung]. In: Maß und Wert 3 (1940), S. 361–377. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 113ff.
Essays und Kunstbetrachtungen in Zeitschriften, Zeitungen und Sammelwerken Ernst Weiß: Novellen. In: National-Zeitung, 26. Februar 1914, Beiblatt (Rückseite). – Nervöse Leute. In: National-Zeitung, 5. Juli 1914, 1. Beilage. – Antwort auf eine Rundfrage: Gibt es eine neue Kunst? In: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), 25. Dezember 1919, Weihnachtsbeilage, S. 6. – Der große Ahn und Meister. In: Prager Presse, 9. Oktober 1921, Morgenausgabe, S. 12. – Mozart, ein Meister des Ostens. In: Die neue Rundschau 32 (1921), S. 1200–1210. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 146–157. – Kleine Anmerkung über den slawischen Roman. In: Prager Presse, 28. Oktober 1921, S. 11.
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Kleine Anmerkung zu Gustave Flaubert. In: Prager Presse, 11. Dezember 1921, Morgenausgabe, S. 5f. Hans Jäger. In: Prager Presse, 27. Januar 1922, S. 5f. Aktualität. In: Prager Presse, 25. Februar 1922, S. 3. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 103ff. Der neue Roman. In: Berliner Börsen-Courier, 22. Oktober 1922, o.S. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 27–29. Albert Ehrenstein. In: Gustav Krojanker (Hg.): Juden in der deutschen Literatur, Berlin 1922, S. 63–70. Franz Kafka, ›Der Proceß‹. In: Berliner Börsen-Courier, 26. April 1925, o.S. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 261–265. Bruno Meißner: Babylonien und Assyrien. In: Berliner Börsen-Courier, 19. Mai 1925, S. 5. Ein neuer Barbusse. In: Berliner Börsen-Courier, 11. Juni 1926, Morgenausgabe, 1. Beilage, S. 5. Der weisen Könige Wirken. In: Weiß: Das Unverlierbare, Berlin 1928, S. 291–304. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 78–82. Bücher, die ungerecht behandelt wurden [Antwort auf eine Rundfrage]. In: Das TageBuch 10 (1929), S. 469f. Wiederabgedruckt in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 118f. Ein neuer Hemingway: ›In einem andern Land‹. In: Berliner Börsen-Courier, 31. Oktober 1930, 1. Beilage, S. 5f. Italo Svevo. In: Berliner Börsen-Courier, 15. Januar 1933, Morgenausgabe. Wiederabgedruckt in: WBl, 2. F., 3 (1985), S. 5f. Von der Wollust der Dummheit. Aphorismen. In: Pariser Tageszeitung, 18. und 19. Dezember 1938, o.S. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 47ff. und in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S.129ff. Von den Entzückungen der Liebe. 15 Aphorismen. In: Pariser Tageszeitung, 19. und 20. März 1939, o.S. Wiederabgedruckt in: Weiß: Der zweite Augenzeuge, S. 51ff., und in: Weiß: GW, Bd. 16: KdE, S. 134ff.
2.
Sekundärliteratur
2.1. Quellen Klinkova, Hana, Památnik Národni Písemnictví Bibliothek, an Ruth Weibel, Liepman AG, Zürich. Brief vom 22. Januar 1997 (unveröffentlicht). Aufbewahrt im Literaturarchiv Prag-Strahov (Kopie in der Walter Berendsohn-Forschungsstelle für Exilliteratur der Universität Hamburg).
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Index der Namen
Ackermann, Gregor 9, 286 Adler, Sabine 13, 286 Adorno, Theodor W. 15 Alker, Ernst 90, 286 Allrath, Gaby 256, 287 Amann, Klaus 11, 287, 290 Antonsen, Jan Erik 287 Anz, Heinrich 21, 287, 297 Anz, Thomas 14, 20, 21, 75, 131, 187, 287, 293, 298 Apelt, Otto 65, 103, 296 Archimedes 69 Arnold, Heinz Ludwig 6, 9, 10, 284, 287, 289, 295, 298 Augustinus 76, 78 Aust, Hugo 41, 84, 287 Baal 177 Baeck, Leo 91, 95, 275 Baer, Dieter 163, 287 Balzac, Honoré de 188, 213, 276 Barbusse, Henri 84, 85, 88, 278, 286 Baßler, Moritz 28, 40, 50, 287 Bauer, Gerhard 7, 287 Becher, Johannes R. 86 Becker, Sabina 66 Becker, Tanja 13, 287 Benn, Gottfried 13, 287 Berendsohn, Walter 243, 286 Berkholz, Stefan 18, 244, 287 Bernard, Claude 13 Bernhard, Thomas 14, 297 Bethge, Hans 99, 287 Billen, Josef 31, 287, 295 Binder, Hartmut 17, 95, 96, 100, 124, 243, 263, 287, 297 Bismarck, Otto von 71 Blei, Franz 11, 44, 287 Boccaccio, Giovanni 82 Bócian, Martin 163, 174, 175, 287
Bode, Christoph 28, 271, 287 Böhme, Gernot 2, 287 Böhme, Hartmut 2, 287 Bollnow, Otto F. 18, 288 Booth, Wayne C. 254, 255, 288 Borges, Jorge Luis 143 Brandt, Guido K. 99, 288 Brandt, Sabine 18, 244, 246, 288 Brauneck, Manfred 82, 288 Brecht, Bertolt 26, 215, 270, 293 Bredel, Willi 215, 216, 275, 288 Breindl, Eva 115, 298 Brinkmann, Richard 211, 296 Brod, Max 9, 26, 42, 292, 293, 295 Broich, Ulrich 161, 295 Brummack, Hans-Jürgen 211, 296 Buber, Martin 8, 155, 187, 275, 288 Bucher, André 13, 14, 288 Bühler, Axel 26, 288 Busch, Dagmar 257, 288 Byron, George Gordon Noel Lord 23 Cäsar, Gajus Julius 214 Calvin, Johannes 214, 240 Carossa, Hans 13, 287 Cervantes Saavedra, Miguel de 66, 70, 82, 87, 88, 189, 293 Chytil, Jan 16, 90, 216, 217, 288 Claassen (Verlag) 8 Cohn, Dorrit 119, 237, 288 Conrad, Joseph 83 Dätsch, Christiane 18, 244, 288 Damann, Günter 256, 294 Daniel 164, 165, 167−172, 174−180, 182−184, 186, 187, 265, 278, 283, 285, 296 Danneberg, Lutz 25f., 288 Dante Alighieri 156, 247 Darwin, Charles 226
301
Davidsohn, Ludwig 159, 288 Delfmann, Thomas 11, 12, 16, 21, 56, 57, 90, 91, 100, 129, 154, 161, 162, 191, 213, 216, 272, 273, 288f. Demetz, Hans 99, 295 Detering, Heinrich 26, 293 Dickens, Charles 189 Dierick, Augustinus P. 16, 17, 129, 161, 168, 191, 289 Dinzelbacher, Peter 170, 289 Dörr, Volker C. 23, 290 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 32, 87, 298 Dürrenmatt, Friedrich 270 Durst, Uwe 150, 289 Ebeling, Hans 241, 291 Ecker, Hans-Peter 161, 289 Eckermann, Johann Peter 22, 23, 289 Ehrenstein, Albert 42, 67, 68, 92, 126, 155, 275, 276, 286 Eibl, Karl 23, 290 Eicher, Thomas 256, 295 Eggebrecht, Axel 8 Elfe, Wolf-Dieter 10, 91, 272, 289 Elia 175 Elija 177 Elischa 175 Elm, Theo 31, 270, 289 Elster, Hanns Martin 46, 159, 274, 277, 283 Engel, Manfred 184, 294 Engel, Peter 1, 6, 8−11, 15, 18, 44−46, 90, 244, 274−276, 279, 281, 282, 287−289, 291, 293−298 Erpenbeck, Fritz 215 Ette, Ottmar 64, 292 Ewil Merodach 164 Feuchtwanger, Lion 215 Fischer (Verlag) 45, 190, 276, 277, 284, 285 Fischer, Otokar 243 Fischer, Peter 77, 289 Flaubert, Gustave 81, 88, 279, 286 Flemes, Bernhard 99, 190, 289 Fliegler, Dominique 15, 18, 41, 243, 245, 249, 279, 282, 289 Forster, Edward Morgan 110
302
Foucault, Michel 15 Freud, Sigmund 55, 56, 131, 132, 153, 154, 212, 274, 289 Fricke, Harald 32, 289 Frisch, Efraim 41, 91, 94−96, 156, 158, 275 Fuhrmann, Manfred 28, 290 Gabriel, Gottfried 4, 26, 290 Gauguin, Paul 156, 290 Gebhardt, Peter 30, 291 Genette, Gérard 27, 38, 101, 116, 179, 180, 183, 185, 186, 228, 290 Gerdes, Hayo 19, 78, 292 Gnilka, Joachim 220, 290 Goethe, Johann Wolfgang von 22, 23, 65−67, 78, 88, 189, 205, 289, 290 Goldstücker, Eduard 9, 288, 290 Golec, Janusz 12, 290 Goltschnigg, Dietmar 12, 290 Gordon, Paul 276 Graf-Blauhut, Heidrun 40, 290 Greve, Wilfried 20, 297 Grice, Paul 28, 29, 255, 290 Grimminger, Rolf 20, 60, 291 Grolmann, Adolf von 86, 290 Grothe, Heinz 42, 85, 290 Grünewald, Matthias 75 Grünzweig, Walter 255, 290 Grüters, Hans 23, 289 Haas, Franz 11, 16, 18, 90, 91, 129, 244, 290 Hackert, Fritz 124, 296 Hagestedt, Lutz 14, 293 Hahnemann, Gudrun-Iris 15, 291 Hamann, Richard 269, 291 Hamsun, Knut 83 Harden, Sylvia von 98, 291 Harth, Dietrich 30, 291 Hašek, Jaroslav 217 Hebel, Johann Peter 86 Hecht, Hugo 8 Heger, Roland 90, 291 Heise, Carl Georg 126 Heldmann, Werner 31, 291 Hellwig, Werner 21, 291 Hemingway, Ernest 87, 278, 286 Heraklit 143
Hermand, Jost 269, 291 Hermann, Frank 158, 291 Heydebrand, Renate von 31−35 , 291 Hilzinger, Sonja 42, 85, 86, 291 Hinze, Klaus-Peter 9, 14, 91, 215, 277, 281, 289, 291 Hippokrates 217 Hirsch, Emanuel 19, 78, 292 Hitler, Adolf 9, 214, 295 Hnilica, Irmtraud 13, 291 Höfer, Josef 223, 294 Höhne, Steffen 18, 244, 291 Hölderlin, Friedrich 14, 297 Höllerer, Walter 39, 291 Hof, Renate 245, 291 Hombourg, Horst 39, 291 Homer 75 Horkheimer, Hans 99, 291 Horkheimer, Max 240, 291 Huelsenbeck, Richard 99, 291 Humboldt, Alexander von 64, 196, 199, 200, 211, 212, 268, 291 Huß-Michel, Angela 215, 292 Huttenlocher, Armin 18, 244, 292 Ibsen, Henrik 242 Iehl, Dominique 39, 291 Iseminger, Gary 28, 292 Iser, Wolfgang 28, 289 Isolani, Gertrud 8, 292 Jäger, Hans 75, 279, 286 Jahn, Manfred 237, 292 Jannidis, Fotis 26, 27, 292, 293 Jansen, Werner 26, 293 Jaspers, Karl 22, 23, 122, 269, 292 Jojachin 163, 164 Jojakim 163−169, 171, 173−177, 179−183, 186, 187, 265 Joyce, James 153 Jülicher, Adolf 31, 292 Jüngel, Eberhard 32, 296 Jünger, Ernst 66, 293 Jung, Franz 15, 291 Käser, Rudolf 13, 292 Kafka, Franz 9, 17, 31, 32, 42, 55, 56, 60, 100, 142, 158, 263, 270, 278, 286, 291−293, 295, 297, 298
Kahler, Erich von 31, 292 Kahrmann, Cordula 27, 292 Kamlah, Ehrhard 219, 292 Kant, Immanuel 2, 55, 68, 69, 77, 79, 287, 292, 297 Kantorowicz, Alfred 8, 292 Kemper, Hans-Georg 268, 297 Kenter, Heinz Dietrich 160, 292 Kesten, Hermann 7, 8, 13, 46, 125, 215, 278, 282, 292 Kierkegaard, Sören 2, 5, 12, 14, 18−22, 55−57, 63, 69, 70, 77, 78, 89, 122, 269, 287, 292f., 293, 296, 297 Kindt, Tom 13, 14, 26, 27, 53, 66, 70, 254, 255, 272, 273, 293 Kleist, Heinrich von 85 Klinkova, Hana 243, 286 Knop, Andreas 27 Koch, Edita 7, 293 Komenius, Amos 76 Koopmann, Helmut 81, 293 Krause, Frank 21, 293 Kreft, Jürgen 26, 293 Kreißelmeier (Verlag) 7 Krell, Max 41, 96−99, 274, 278, 282, 291, 293 Krojanker, Gustav 67, 155, 276, 286 Krolop, Kurt 1, 293 Krusche, Dietrich 16, 293 Kunz, Josef 86, 290 Kunze, Konrad 161, 293 Kurz, Gerhard 29, 32, 35, 36, 56, 123, 130, 154, 293 Längle, Ulrike 10, 187, 214, 268, 272, 293 Lahn, Silke 256, 293 Landshoff, Fritz H. 158, 294 Lange, Allert de (Verlag) 46 Laplanche, Jean 101, 294 Laurin, Arne 96 Lausberg, Heinrich 26, 29, 30, 235, 237, 239, 294 Lemke, Ernst 99, 294 Leonhard, Rudolf 158 Lermen, Birgit H. 162, 163, 294 Lessing, Theodor 26, 32, 293, 298 Leunig, Katharina 16, 294 Lindner, Martin 57, 63, 74, 122, 153, 294
303
Lodge, David 271, 294 Loerke, Oskar 160, 294 Löwenstein, Eugen 67 Lotman, Jurij M. 38, 222, 247, 294 Lubrich, Oliver 64, 292 Lübbig, Anja 12, 294 Lurker, Manfred 75, 112, 138, 143, 144, 146, 167, 170, 177, 202, 203, 231, 294
Nietzsche, Friedrich 2, 19, 21, 55−57, 62, 74, 79, 90, 143, 295, 297 Nossack, Hans Erich 256, 293, 294 Nünning, Ansgar 255, 287, 288, 292, 295
Mann, Thomas 13, 14, 144, 214, 276, 287, 291, 296 Marcuse, Ludwig 8, 294 Mardersteig, Hans 126 Martínez, Matias 27, 38, 39, 108, 109, 111, 144, 163, 184, 201, 222, 235, 237, 247, 255, 256, 294 Marx, Leonie 86, 294 Masaryk, Thomáš 76 Mattania → Zidikija Mattheus, Richard 129, 294 Maupassant, Guy de 81 Mayer, Paul 129, 294 Meggle, Georg 29, 290 Mehring, Walther 8, 294 Meidner, Ludwig 43, 157, 277, 282 Meißner, Bruno 80, 276, 286 Michel, Christoph 23, 289 Michels, Volker 1, 9, 58, 61, 274, 279, 281, 294 Mielke, Rita 11, 15, 53, 57, 272, 294 Mitscherlich, Alexander 132, 274, 289 Mix, York-Gothart 60, 298 Morgenstein, Soma 8 Mozart, Wolfgang Amadeus 23, 56, 280, 285 Müller, Georg (Verlag) 42 Müller, Hans-Harald 1, 8, 10, 17, 18, 21, 26−28, 53, 66, 70, 78, 162, 163, 188, 244, 256, 263, 272, 273, 276, 287−289, 291, 293, 294f., 297 Müller, Heiner 86 Müller, Robert 13, 288 Musil, Robert 211, 296 Mussolini, Benito 214
Pauli, Hertha 8, 295 Pazi, Margarita 9, 11, 45, 90, 99, 160, 161, 243, 290, 295 Petersen, Jürgen H. 185, 255, 295 Perutz, Leo 8, 162, 256, 276, 294, 295 Pfister, Manfred 24, 110, 161, 295, 297, 298 Philippi, Klaus-Peter 31, 295 Pick, Otto 99, 280, 285, 295 Pinthus, Kurt 126 Platon 65, 76, 103, 262, 296 Pontalis, Jean-Bertrand 101, 294 Proust, Marcel 158 Pusirewski, Nikolai 48, 156, 279, 282
Nabokov, Wladimir 245, 291 Napoleon I. 23, 193 Nebukadnezar 163−166, 169, 171−176f., 179, 180, 182, 183, 187, 265
Sahl, Hans 8, 44, 296 Salomo 175 Sanzara, Rahel 8, 17, 42, 92, 95, 124, 128, 155, 275, 280, 281, 298
304
Oehm, Heidemarie 19−21, 70, 268, 295 Oppenheimer, Hans F.J. 46, 275 Otten, Ellen 158, 295
Radiguet, Raymond 158 Raffael Sanzio 23 Rahel 164−169, 173−176, 178−183, 186, 187, 265 Rahner, Karl 223, 294 Rasch, Wolfdietrich 296 Rathenau, Walter 71 Reiß, Gunter 27, 144, 292, 296 Reiß, Leo 154, 296 Richter, Lieselotte 20, 293, 296 Ricœr, Paul 32, 296 Rimmon-Kenan, Shlomith 143, 245, 255, 296 Rockefeller (Familie) 226 Roggausch, Werner 12, 290 Roth, Joseph 13, 124, 288, 296 Rothe, Wolfgang 9, 73, 131, 296, 297 Rothschild (Familie) 226 Rousseau, Jean-Jacques 76, 80 Rowohlt, Ernst (Verlag) 98, 189, 291
Sartre, Jean-Paul 211, 296 Scheffel, Michael 27, 38, 39, 111, 163, 222, 235, 237, 247, 255, 256, 294 Schischkow, Georgi 296 Schlechta, Karl 56, 295 Schluchter, Manfred 27, 292 Schmid, Wolf 152, 296 Schmidt, Heinrich 296 Schmitz, Heinke 158, 291 Schmitz, Walter 18, 288 Schnädelbach, Herbert 63, 296 Schnitzler, Arthur 6, 14, 42, 274, 275, 291 Schnitzler, Julius 6 Schopenhauer, Arthur 55, 57, 74 Schorske, Carl E. 20, 296 Schumann, Robert 225 Searle, John 26, 296 Seghers, Anna 8, 15, 86, 291 Serner, Walter 13, 288 Shen, Dan 296 Sloterdijk, Peter 20, 296 Sochazewer, Hans 159, 160, 296 Sokel, Walter 211, 296 Sokrates 262 Solbach, Andreas 255, 290 Spieker, Sven 9, 10, 274, 298 Spree, Axel 32, 296 Stach, Rainer 142, 297 Stanzel, Franz K. 206, 255, 259, 293, 297 Stark, Michael 187, 287, 298 Steffensen, Steffen 21, 297 Steinke, Angela 15, 53, 91, 100, 101, 103, 297 Sternberger, Günter 55, 297 Stifter, Adalbert 83 Streuter, Manuel 12, 297 Strindberg, August 99 Strohschneider, Peter 40, 47, 297 Strube, Werner 32, 297 Suhrkamp (Verlag) 7, 9, 15, 243 Svevo, Italo 153, 279, 286 Tatzel, Armin 17, 21, 53, 78, 163, 188, 272, 295 Tertullian 78 Theunissen, Michael 20, 297 Thomas, R. Hinton 131, 297
Thurmair, Maria 115, 298 Tillgner (Verlag) 48 Titzmann, Michael 23, 24, 38, 221, 222, 297 Trunz, Erich 66, 290 Tschuppik, Walter 128, 297 Udolf, Ludger 18, 288 Ullstein (Verlag) 46, 49, 99, 190, 291 Ungar, Hermann 13, 288 Urzidil, Johannes 6, 99, 297 Vaihinger, Hans 79, 297 Versari, Margherita 10, 11, 15, 297 Viertel, Berthold 122, 297 Vietta, Silvio 14, 268, 297 Virt, Günter 223, 297 Vischer, Melchior 129, 263, 297 Voges, Michael 27, 81, 264, 272, 297 Vogt, Jochen 119, 298 Vogt, Jürgen 27 Vondung, Klaus 187, 297 Vukobrankovics 153, 277, 279, 281 Wäsche, Erwin 31f., 298 Wallas, Armin A. 11, 287, 290 Walter, Friedrich 8 Wassermann, Jakob 84 Weber, Max 240 Wedekind, Frank 99 Wehr, Norbert 9, 298 Weibel, Ruth 243, 286 Weimar, Klaus 32, 40, 161, 287, 291, 293, 297, 298 Weinrich, Harald 115, 149, 185, 186, 298 Weiskopf, Franz Carl 8, 86, 215, 275, 298 Weiß, Bertha 6 Weiß, Emil Rudolf 11 Weiß, Gustav 6 Wellenstein, Ingeborg 8 Weltsch, Felix 63 Wendler, Wolfgang 11, 298 Westermann, Klaus 124, 296 Weyergraf, Bernd 20, 296 Wiefel, Wolfgang 219, 298 Wiegler, Paul 91, 99, 129, 190, 298 Willkop, Eva-Maria 115, 298 Wilpert, Gero von 43, 298
305
Winder, Ludwig 44, 99, 128, 298 Wolfenstein, Alfred 45, 277, 282 Wolff, Kurt (Verlag) 41, 48, 97, 99, 126, 158, 287, 295 Wollheim, Mona 7, 8, 242, 243, 298 Wondrák, Eduard 7, 8, 243, 298 Wucherpfennig, Wolf 60, 298 Wünsch, Marianne 23, 24, 130, 298 Yacobi, Tamar 255, 256, 299 Zanzara → s. Sanzara, Rahel
306
Zedekia 167, 172, 173, 175−179, 181, 182, 277, 285 Zeller, Bernhard 158, 295 Zidikija 163f., 183 Zimmermann, Hans-Dieter 11, 290 Zipfel, Frank 27, 165, 299 Žmegač, Viktor 296 Zola, Emile 13 Zweig, Arnold 159, 299 Zweig, Stefan 8, 213−215, 242, 275, 299 Zymner, Rüdiger 30, 32−34, 36−39, 108, 184, 268, 270, 294, 299