Evolution rückwärts: Auf den Spuren des Dinosauriers im Huhn (German Edition) 3827424410, 9783827424419

Lassen Sie sich von einem weltberuhmten Palaontologen auf eine spannende Reise uber den ganzen Globus zu Fund- und Forsc

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English Pages 272 Year 2010

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Hell Creek Zeit, Raum und Grabungen in der
Vergangenheit
Die Hell-Creek-Formation
Die Dinosaurier
Von den Dinosauriern bis heute
Die Grabungen beginnen
2 Es ist ein Mädchen! Ein Schwangerschaftstest für T. rex
Die zweite Grabung
Die Knochen und ihr Innenleben
Chemische Spuren
Sproing!
3 Auch Moleküle sind Fossilien Biologische Geheimnisse in uralten
Knochen
Entdeckung fossiler Moleküle
Kollagen
In die ferne Vergangenheit
4 Dinosaurier unter uns Hühner und andere Vettern
von T. rex
Ein neues Bild von Dinosauriern
Die Abstammung der Vögel
Gefi
ederte Dinosaurier
5 Woher kommen die Babys?
Vorfahren im Ei
Der Embryo in der Evolution
Obergene
So wachsen Federn
Von der Hand zum Flügel
6 Der unterhaltsame Vogel Das schrumpfende Rückgrat
Die Evolution wird zurückgespult
Hühner mit Zähnen
Der Schwanz, die große Unbekannte
7 Evolution rückwärts
Experimente mit dem Aussterben
Sollen wir es tun?
Ist es gefährlich?
Anhang
Literatur
Danksagungen
Index
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Evolution rückwärts: Auf den Spuren des Dinosauriers im Huhn (German Edition)
 3827424410, 9783827424419

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Evolution rückwärts

Jack Horner James Gorman

Evolution rückwärts Auf den Spuren des Dinosauriers im Huhn Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel

Titel der Originalausgabe: How to Build a Dinosaur. Extinction Doesn’t Have to Be Forever Die englische Originalausgabe ist erschienen bei Dutton, einem Unternehmen der Penguin Group (USA). Copyright © 2009 by John R. Horner and James Gorman. All rights reserved. Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag und die Autoren haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in diesem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt. BibliograÀsche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalbibliograÀe; detaillierte bibliograÀsche Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2010 Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer 10 11 12 13 14

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, MikroverÀlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Planung und Lektorat: Frank Wigger, Anja Groth Redaktion: Regine Zimmerschied Herstellung und Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd, Pune, Maharashtra, India Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg TitelfotograÀe links: © J. M., Küken + © Perrush, Fotolia.com, rechts: © Cary Wolinsky, Getty Images. ISBN 978-3-8274-2441-9

Für Darwin

Inhaltsverzeichnis

1

Einleitung

1

Hell Creek

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Zeit, Raum und Grabungen in der Vergangenheit

2

Es ist ein Mädchen!

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Ein Schwangerschaftstest für T. rex

3

Auch Moleküle sind Fossilien

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Biologische Geheimnisse in uralten Knochen

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Dinosaurier unter uns

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Hühner und andere Vettern von T. rex

5

Woher kommen die Babys?

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Vorfahren im Ei

6

Der unterhaltsame Vogel

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Das schrumpfende Rückgrat

7

Evolution rückwärts

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Experimente mit dem Aussterben

Anhang

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Literatur

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Danksagungen

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Index

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Einleitung

Nichts ist zu schön, um wahr zu sein, wenn es sich mit den Gesetzen der Natur verträgt, und in solchen Dingen prüft man die Übereinstimmung am besten mit einem Experiment. Michael Faraday

Angenommen, wir picken uns aus der Geschichte des Lebens einen Augenblick heraus und lassen ihn immer wieder vor unseren Augen ablaufen – vorwärts und rückwärts, wie eine DVD mit Fußball-Highlights. Wir sehen uns ganz genau an, was geschehen ist. Rücklauf. Stopp. Play. Rücklauf in Einzelbildern. Stopp. Vorlauf in Einzelbildern. Stephen Jay Gould, einer der bekanntesten Evolutionsbiologen seiner Zeit, vertrat in seinem Buch Wonderful Life (deutsch: Zufall Mensch) über die seltsamen, großartigen Fossilien aus einer Gesteinsformation, die als Burgess-Schiefer bekannt ist, die Ansicht, dass man in der Evolution nicht „nach Hause zurückkehren“ könne, denn man riskiere dann, nicht mehr da zu sein, wenn man wiederkommt. Damit wollte er sagen: Evolution ist eine Zufallsangelegenheit, die von vielen verschiedenen EinÁüssen und Ereignissen abhängt. Man kann sie nicht zurückspulen, noch einmal abspielen und darauf hoffen, dass man erneut zu dem gleichen Ergebnis gelangt. Beim zweiten

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Evolution rückwärts

Durchlauf würde vielleicht kein Homo sapiens auf der BildÁäche erscheinen. Auch die Primaten gäbe es womöglich nicht. Das ist Evolution im großen Maßstab: Zu den bedeutenden Trends in der Geschichte des Lebendigen trugen Ereignisse des Massenaussterbens bei, und zahlreiche biologische Arten kämpften um die besten Ausgangspositionen. Dieses Band können wir nicht zurückspulen, denn uns steht zum Experimentieren kein ganzer Planet zur Verfügung. Mir schwebt eine etwas enger eingestellte Zeitmaschine vor, eine Art Evolutionsmikroskop, das wir beispielsweise auf das erste Auftauchen von Federn bei Dinosauriern richten könnten, das heißt auf die Entstehung der Vögel. Diese Zeitmaschine (oder dieses Mikroskop) könnte sich auf einen einzigen Körperteil konzentrieren. Wenn es um Vögel geht, können wir klein anfangen, bei einem häuÀg missachteten Körperteil: dem Schwanz. Über Vogelschwänze denken wir in den höheren GeÀlden der modernen Evolutionsbiologie kaum einmal nach, aber in Wirklichkeit sind Schwänze faszinierender, als man sich meist vorstellt. In der Evolution tauchen sie auf und verschwinden wieder. Auch während des Wachstums einer Kaulquappe entstehen sie und verschwinden wieder. Die meisten Primaten haben einen Schwanz. Menschen und Menschenaffen sind Ausnahmen. Auch die Dinosaurier hatten Schwänze, und manche davon waren höchst bemerkenswert. Ihre Nachkommen, die Vögel – die heute von nahezu allen Fachleuten als Áiegende Dinosaurier angesehen werden –, haben keinen Schwanz. Sie besitzen zwar Schwanzfedern, aber keine muskulöse Körperverlängerung mit Wirbeln und Nerven. Bei einigen frühen Vögeln war ein langer Schwanz vorhanden, und bei manchen späteren Formen war er kürzer. Heute gibt es keine Vögel mit Schwänzen mehr.

Einleitung

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Wie kam es zu dem Wandel? Kann man diese entwicklungsgeschichtliche Veränderung noch einmal ablaufen lassen und dabei beobachten, wie sie sich vollzog, bis hin zu den Molekülen, die an der Regulation oder Blockade des Schwanzwachstums mitwirken? Nach meiner Überzeugung kann man die Frage bejahen. Wir können das Videoband der Vogelevolution tatsächlich bis in eine Zeit zurückspulen, bevor Federn und Schwänze entstanden und die Zähne verschwanden. Dann können wir den Ablauf beobachten, erneut zurückspulen und ihn nun ohne die entwicklungsgeschichtlichen Veränderungen abspielen, sodass wir bei dem ursprünglichen Vorgang ankommen. Ich schlage nicht vor, dies in großem Maßstab zu tun, sondern eine biologische Art herauszugreifen, ihr Embryonalwachstum zu beobachten, ihre Entwicklung zu studieren und in Erfahrung zu bringen, wie wir in diese Entwicklung eingreifen können. Dann können wir mit einzelnen Embryonen experimentieren und die Entwicklung auf unterschiedliche Weise manipulieren: Wir können auf Eingriffe verzichten, aber auch eine oder mehrere Veränderungen vornehmen. Ein wenig wäre es so, als würden wir das sechste Baseballspiel der World Series von 1986 zwischen den New York Mets und den Boston Red Sox nachspielen: Damals rollte ein Ball am Boden der ersten Base zwischen den Beinen des Spielers Bill Buckner hindurch, und das Blatt in der gesamten Meisterschaft wendete sich. Wir würden aber nicht nur mit dem Videoband herumspielen, sondern das ganze Spiel mit Bill Buckner und allen anderen Beteiligten noch einmal spielen. Dahinter stünde der Wunsch, die Ursache für den Jubel der Mets und die Trauer der Sox genau zu ermitteln. Lag es an Buckners falscher Beinbewegung, an der Geschwindigkeit des Balles oder der Boden-

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Evolution rückwärts

beschaffenheit des Spielfelds? Was war der Grund, dass er den Ball verfehlte? Wenn wir dann glauben, wir hätten die Ursache gefunden, überprüfen wir unsere Hypothese. Wir statten Buckner mit jüngeren Beinen aus oder glätten das Spielfeld; dann beobachten wir, ob er unter solchen geänderten Bedingungen den tiefen Ball fängt. Natürlich können wir die Zeit nicht wirklich zurückdrehen, doch mit Computermodellen ist es durchaus möglich – sowohl im Baseball als auch in der Biologie, mit unseren heutigen technischen Möglichkeiten in Verbindung mit unseren Kenntnissen über Embryonalentwicklung und Evolution sogar bei einem Lebewesen. Dass wir dazu in der Lage sind, liegt vor allem an einem neuen, aufblühenden Forschungsgebiet, in dem sich die Untersuchung der Embryonalentwicklung mit der Evolutionswissenschaft verbindet. Dahinter steht ein Gedanke, der sich mit einfachen Worten so formulieren lässt: Da sich die äußere Form eines Tieres auf dem Weg von der befruchteten Eizelle zum ausgewachsenen Organismus entwickelt, muss sich jede evolutionsbedingte Veränderung dieser Form auch im Wachstum des Embryos widerspiegeln. Im Embryo eines langschwänzigen Urvogels zum Beispiel würde sich der Schwanz aus kleinen Anfängen immer weiter entwickeln, bis er fertig ausgebildet ist und der Vogel aus dem Ei schlüpft. Die Embryonen einer späteren Art, die keinen Schwanz mehr besitzt, müssten sich anders entwickeln. Die Embryonalentwicklung der heutigen Vögel können wir beobachten und dabei feststellen, an welchem Punkt das Wachstum des Schwanzes zum Stillstand kommt. Dann erforschen wir, welche Ereignisse auf molekularer Ebene dafür sorgen, dass der Schwanz nicht länger wird. Nun können wir sagen: An dieser Stelle hat sich in der Evolution eine Veränderung eingestellt. Diese Vorstellung lässt sich anschließend überprü-

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fen. Wir können versuchen, im richtigen Augenblick in das Wachstum des Embryos einzugreifen und noch einmal die Signale für Wachstum und Entwicklung zu erzeugen, die nach unserer Vermutung in der Evolution vor dem Verschwinden des Schwanzes vorhanden waren. Wenn wir Recht haben, sollte unter solchen Umständen wieder ein langer Schwanz wachsen. Und das Gleiche können wir auch mit Zähnen, Federn, Flügeln und Füßen machen. Der am besten erforschte und sowohl im Labor als auch in der Küche am einfachsten verfügbare Vogel ist das Huhn. Warum nimmt man nicht einfach einen Hühnerembryo und spielt damit biochemisch so lange herum, bis kein Küken, sondern ein kleiner Dinosaurier aus dem Ei schlüpft – mit Zähnen, Vorderbeinen, Klauen und Schwanz? Nichts spricht dagegen. Gemacht hat man es bisher nicht, aber wir unternehmen die ersten kleinen Schritte in diese Richtung. Von ihnen handelt dieses Buch: von dem Weg, der vor uns liegt, von dem, was wir lernen können, und von der wissenschaftlichen und ethischen Frage, warum wir das Experiment anstellen sollten. Ein Hühnerei, aus dem ein Dinosaurier schlüpft – das klingt ein wenig nach einem schlechten Film. Von meinem Fachgebiet – der Wirbeltierpaläontologie mit Schwerpunkt Dinosaurier – scheint dies ungeheuer weit entfernt zu sein. Paläontologen sind doch diese leicht exzentrischen Typen, die in sonnendurchglühten Wüsten uralte Knochen ausgraben und oftmals zu viel über Schädel und Oberschenkelknochen reden. Im Innersten ist wahrscheinlich jeder Paläontologe nicht nur ein Stephen Jay Gould, sondern auch ein Frank Buck. Frank Buck hat wirklich gelebt. Er wurde vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Helden zahlreicher Filme und Bücher. Von seinen Reisen in die Urwälder und andere abgelegene

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Regionen der Erde brachte er nicht nur Fossilien mit, sondern auch lebende exotische Tiere. Was dabei so manchen kleinen Jungen faszinierte: Er war kein Jäger, der seine Beute tötete, sondern er sammelte lebende Tiere. Sein Motto wurde zum Schlagwort: Bringt sie mir lebendig. Nun, als Paläontologe hat man es mit Tieren zu tun, die seit Langem tot sind. Aber alle Grabungen, das Präparieren von Skeletten und die Museumsstücke verfolgen letztlich das Ziel, die Vergangenheit zu rekonstruieren und bestimmte Augenblicke aus der Geschichte des Lebens wieder lebendig werden zu lassen. Sie lebendig vorzeigen – wenn wir könnten, würden wir genau das am liebsten tun. Das war allerdings in den letzten 200 Jahren nicht möglich. Dinosaurierforscher drangen jedoch weit in die entfernte Vergangenheit vor, in die Zeit vor Millionen und Abermillionen von Jahren, und fanden Anhaltspunkte und Einzelteile eines Puzzles, das wir nun zusammensetzen wollen. Manchmal ist es ganz buchstäblich ein Puzzle: Man muss die Teile eines fossilen Skeletts so zusammensetzen, dass sie passen. Manchmal spielt sich das Puzzle aber auch auf einer anderen Ebene ab: Dann muss man ein längst nicht mehr existierendes ökologisches System rekonstruieren. Gelegentlich ist es eine makroskopische Aufgabe – man beschreibt große Evolutionstrends, den Übergang vom Meer zum Land, vom Land in die Luft, vom Reptil zum Vogel. Dann wieder arbeitet man mikroskopisch: Man dringt tief in das Gewebe uralter Knochen vor und versucht, etwas über die physiologischen Eigenschaften der Dinosaurier oder über die molekulare Zusammensetzung des fossilen Gewebes in Erfahrung zu bringen. In wissenschaftlichen Fachveröffentlichungen und Büchern schreiben wir darüber, wie die Dinosaurier vermut-

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lich aussahen. Wir bauen Dinosaurierskelette und -nachbildungen, mit denen jeder Museumsbesucher etwas anfangen kann. Zu Bildungs- und Unterhaltungszwecken konstruieren wir bewegliche Dinosaurierattrappen. Wir haben sogar dazu beigetragen, dass Filme sich enger an die wissenschaftlichen Tatsachen anlehnen. Deshalb ist es der ganz natürliche nächste Schritt, vom Bau eines Dinosauriers zu seiner Zucht überzugehen, vom Mechanischen zum Biologischen. So schien es zumindest, und so scheint es mir bis heute. Deshalb wurde ich zum Initiator: Ich suchte nach Wissenschaftlern, die in der molekularbiologischen Laborforschung über mehr Fachwissen verfügen als ich, um auf diese Weise meine anfangs scheinbar abwegige Idee weiterzuverfolgen und die bestmögliche Rekonstruktion der Vergangenheit zu schaffen – einen lebenden Dinosaurier. Jede Rekonstruktion beginnt damit, dass man sich genau klarmacht, was man eigentlich herstellen will. Um biologisches Reverse Engineering betreiben zu können, muss man das Lebewesen, um das es geht, auseinandernehmen und seine Funktionsweise analysieren. Dies ist das tägliche Brot der Dinosaurierforschung. Wir Ànden Fossilien, graben sie aus, datieren sie und ordnen sie in den Zusammenhang der anderen Organismen ein, die zur gleichen Zeit lebten. Mithilfe der fossilen Knochen verschaffen wir uns eine Vorstellung davon, wie der Dinosaurier aussah. Wir stellen mehr oder weniger gut begründete Vermutungen darüber an, wie er sich bewegte, wie er sich verhielt, welches Sozialleben er hatte und wie er für seine Nachkommen sorgte. Mit den modernen bildgebenden Verfahren und leistungsfähigen Computern können wir Fossilien heute genauer untersuchen als je zuvor. Wir können ins Innere der Knochen blicken. Die ComputertomograÀe schafft dreidimensionale

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Bilder vom Inneren eines Schädels. Wir zerkleinern winzige Fossilienstücke und suchen darin nach Überresten von Muskelgewebe, Blutgefäßen oder roten Blutzellen. Und mit den Mitteln von Chemie und Physik dringen wir sogar noch weiter vor. Die technischen Mittel zur Untersuchung von Knochen haben sich in jüngster Zeit drastisch gewandelt. Im letzten Jahrhundert war die Erforschung der Dinosaurier vorwiegend eine Frage des Sammelns; um eine experimentelle Wissenschaft handelte es sich mit Sicherheit nicht. Aber das ändert sich. Heute können wir Proteine und andere biologische Moleküle aus Fossilien gewinnen, die zigmillionen Jahre alt sind. Durch die Erforschung der Genome heutiger Lebewesen können wir ihre Entwicklungsgeschichte zurückverfolgen. Damit holen wir die Geschichte des Lebendigen ins Labor, wo wir unsere Ideen mit Experimenten überprüfen können. Und ganz oben auf der Liste solcher Experimente steht der Versuch, die Eigenschaften ausgestorbener Lebewesen, die bisher in eine ferne Vergangenheit gehörten, wieder ans Licht zu holen. In diesem Sinne können wir auch einen Dinosaurier konstruieren. Eines Tages werden wir vielleicht Bruchstücke von Dinosaurier-DNA entdecken, aber das ist nicht der Weg zur Herstellung eines Dinosauriers. Auch wenn so etwas im Film bereits versucht wurde, in der Realität wird es nicht geschehen. Damit will ich die Filme nicht schlecht machen. Jurassic Park geÀel mir wirklich, nicht zuletzt weil ich an diesem Film und den späteren Folgen als wissenschaftlicher Berater mitwirkte und für die richtige Gestaltung der Dinosaurier sorgte. Der Gedanke, einen Dinosaurier zu klonen und dazu die DNA aus einer in Bernstein eingeschlossenen Mücke zu verwenden, die einen Dinosaurier gestochen hatte, war eine großartige Idee.

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Aber es war nur eine Fiktion, in der sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse jener Zeit widerspiegelten – die Faszination, die von der DNA ausging, und der Gedanke, man könne einen Dinosaurier mithilfe eines vollständigen Bauplans herstellen. Heute sind wir der Erschaffung eines Dinosauriers in Wirklichkeit viel näher, ohne dass wir dazu DNA aus der Vorzeit gewinnen müssten. Die Möglichkeit dazu erwächst aus den Gesetzmäßigkeiten der Evolution, die neue Lebensformen nicht aus dem Nichts erschafft, sondern ständig auf sich selbst aufbaut und alte Baupläne an neue Umstände anpasst. Die Fachliteratur über Dinosaurier konzentriert sich in jüngster Zeit zu einem großen Teil darauf, alte Fehler zu korrigieren. Aber wenn man viele Dutzend Millionen Jahre in die Vergangenheit vordringt, muss man mit Fehlern rechnen. Bei genauerem Nachdenken ist es eher erstaunlich, dass unsere wichtigsten Erkenntnisse über Form und Körperbau der Dinosaurier von Anfang an im Großen und Ganz richtig waren. Wie war es möglich, so leicht zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, wo man doch glauben könnte, dass solche vorzeitlichen Tiere jede vorstellbare oder auch unvorstellbare Form haben konnten? Die Antwort: Evolution lässt keine grenzenlosen Erneuerungen zu. Sie lässt nicht zu, dass Dinosaurier mit jedem beliebigen Körperbau auf der BildÁäche erscheinen. Dinosaurier haben den gleichen grundlegenden Bauplan wie alle anderen Tiere, die eine Wirbelsäule besitzen. Das liegt auch dann, wenn man keine wissenschaftliche Vorbildung besitzt, auf der Hand. Wer schon einmal das Skelett eines Hirsches, einer Eidechse oder eines Menschen gesehen hat, erkennt dessen grundlegende Eigenschaften auch dann sofort wieder, wenn ein paar Knochen von Tyrannosaurus rex aus der Erde geholt werden. Wie ein Aal, ein Lachs oder eine Maus hat

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auch T. rex eine Wirbelsäule, einen Schädel und Rippen. Er hat Vorder- und Hintergliedmaßen wie Krokodile und Frösche, Falken und Menschen. Warum? Warum sind sich Tiere, die sich in äußerer Gestalt und Lebensweise stark unterscheiden, in vielen Merkmalen dennoch so ähnlich, dass wir den grundlegenden Aufbau ihres Knochengerüsts sofort erkennen? Das liegt daran, dass die Körperform kein unbegrenztes Büffet darstellt, an dem die Evolution sich nach Belieben bedienen könnte. Alle Lebewesen sind Teil eines Kontinuums. Der Körperbau der Tiere entwickelt sich in langen Zeiträumen aus früheren Bauplänen. Und die grundlegenden Körperbaupläne der großen Tiergruppen sind ihrerseits in der Evolution aus früheren Bauplänen hervorgegangen. Alle Wirbeltiere haben ein Rückgrat. Bevor es aber diese Neuerung gab, entwickelten sie sich aus Lebewesen, die bezüglich Fressen und Ausscheidung von vorn nach hinten orientiert waren. Davor kam die selbstständige Fortbewegung, davor der Energiestoffwechsel und so weiter, bis hin zur DNA selbst, die wir mit allen Lebewesen gemeinsam haben – es sei denn, man zählt auch die RNA-Viren zu den Lebewesen. Der Körperbauplan ist etwas Abstraktes – vier Extremitäten, eine Wirbelsäule, ein Schädel, ein Mund am vorderen und ein Darmausgang am hinteren Ende –, aber er ist gleich geblieben und hat sich gleichzeitig als höchst wandlungsfähig erwiesen. Berge sind in die Höhe gestiegen und wieder zerfallen, Meere haben sich gebildet und sind ausgetrocknet, Kontinente haben sich verschoben – der Standardbauplan mit vier Gliedmaßen aber, die Blaupause für alle Vierbeiner, ist mit geringfügigen Abwandlungen erhalten geblieben. Die Knochen in den Händen und Armen, mit denen diese Worte getippt werden, sind fast die gleichen wie die in den

Einleitung

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Flügeln eines Huhnes. Wenn man die Entwicklung eines Hühnerembryos genau verfolgt, erkennt man an den Enden des entstehenden Flügels fünf Knospen, und die gleichen Knospen tauchen auch in den Embryonen von Mäusen und Menschen auf. Beim Menschen werden daraus die Finger, bei einer Maus die Klauen. Beim Huhn verlängern sich die fünf Knospen an den Vordergliedmaßen, um dann wieder kürzer zu werden und zu verschwinden; sie verschmelzen und werden zu dem allgemein bekannten Gebilde, das in unseren Augen geradezu nach Paprikaketchup schreit. Die Erkenntnis, dass die Form eine so erstaunliche, dauerhafte Kontinuität besitzt, wurde häuÀg als wichtigstes Geschenk der Fossilforschung an die Evolutionsbiologie bezeichnet. Die vorhandenen Baupläne unterliegen einem ständigen entwicklungsgeschichtlichen Wandel. Genetische Anweisungen werden nicht ausgemustert. Um einen Dinosaurier zu züchten, brauchen wir nicht bei Null anzufangen. Wir müssen keine urzeitliche DNA gewinnen und klonieren. Vögel stammen von Dinosauriern ab. Eigentlich sind sie Dinosaurier, und das genetische Programm für die Dinosauriereigenschaften, die wir rekonstruieren wollen, ist in den Vögeln zum größten Teil noch verfügbar – auch in jedem Huhn. Den Beleg für diese Kontinuität liefert die Entwicklung der Embryonen. Hühnerembryonen in ihrem hervorragend funktionierenden Behälter, dem Ei mit seiner harten Schale, wurden endlos untersucht. Schon Aristoteles beobachtete die Wachstumsstadien eines Hühnerembryos. Dass andere Wissenschaftler später seinem Beispiel folgten, lag nicht zuletzt daran, dass Hühner und Hühnereier so leicht zu beschaffen sind. Wie man schon mit einem schwach vergrößernden Seziermikroskop deutlich erkennt, wächst auch bei einem

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Hühnerembryo ein Schwanz nach Art eines Dinosauriers heran, bevor irgendetwas diese Entwicklung zum Stillstand bringt. Das Ergebnis ist ein dicker Schwanzstiel, der auch als Pygostyl bezeichnet wird. Das Pygostyl ist ein Verschmelzungsprodukt aus einer ganzen Reihe von Knochen, deren Wachstum und Aufgaben sich verändert haben – es ist eines jener Provisorien, die eine Spezialität der Evolution sind. Damit zeigt sich ganz deutlich, dass Evolution nicht auf Intelligenz, Planung oder zielgerichtetem Denken beruht, sondern auf Zufall und Opportunismus. Evolution ist deÀnitionsgemäß keine Revolution. Sie wirkt innerhalb des Systems und nutzt das, was sie vorÀndet. Eines der aktuellsten Forschungsgebiete ist heute die evolutionäre Entwicklungsbiologie, nach dem englischen evolutionary developmental biology kurz Evo-Devo genannt. Manchmal spricht man auch von Devo-Evo oder DE für developmental evolution („Evolution der Entwicklung“). Wie man sie auch nennen mag, ihr Ziel ist die Untersuchung der Frage, wie die Evolution für Veränderungen im Wachstum der Embryonen sorgt. Der Wechsel von Beinen zu Flügeln erfordert keine ganz neue Genausstattung, sondern nur Veränderungen in der Steuerung weniger Gene, die das Wachstum anregen oder hemmen. Diese Gene produzieren Wachstumsfaktoren und Signalsubstanzen, chemische Verbindungen, die den Zellen eines wachsenden Embryos verschiedene Anweisungen erteilen. Werden solche Gene zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein- und ausgeschaltet, können sie für drastische Veränderungen der Körperform sorgen. Das Ganze ähnelt ein wenig dem Remix alter Schallplattenaufnahmen. Angenommen, eine Band spielt mit Banjo, Gitarre und Mandoline She’ll Be Coming ’Round the Mountain. In der

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ursprünglichen Aufnahme ist das Banjo das Hauptinstrument; wenn wir also nur die Gitarre und die Mandoline hören wollen, müssen wir den Banjokanal ganz leise stellen. So betrachtet, ist ein Vogel nur eine neue Aufnahme einer alten Melodie. Die Melodie der Dinosaurier und die alten genetischen Informationen sind noch vorhanden, klingen aber ein wenig moderner. Auf meinem Schreibtisch im Museum of the Rockies steht ein Hühnerskelett. Schon seit Jahrzehnten habe ich es überall, wo ich arbeite, griffbereit: Es sieht wie ein Dinosaurier aus, und ich umgebe mich gern mit Dinosaurierskeletten. Manchmal sehe ich es an, drehe es hin und her und denke: Ich müsste nur diese Knochen ein wenig anders wachsen lassen und sie hierhin oder dorthin drehen, dann hätte ich ein Dinosaurierskelett. In den letzten Jahren beschäftige ich mich immer öfter intensiv mit dem Hühnerskelett. Dabei denke ich immer weniger an die Knochen und immer mehr an die molekularen Vorgänge, die diese Knochen wachsen lassen. Je mehr ich über Evo-Devo erfahren habe und je häuÀger ich das Hühnerskelett betrachte, desto vernünftiger erscheint mir diese Idee. Das Skelett war anfangs ein Embryo, eine einzige Zelle, die sich teilte und zu vielen Zellen wurde, die sich dann zu unterschiedlichen Zelltypen differenzierten. Von der DNA ausgehende chemische Signale lenkten es von einem Weg, der zu einem Dinosaurier (und nicht zu einem Vogel) geführt hätte, ab, aber höchstwahrscheinlich enthielt dieser Embryo noch das gesamte Rohmaterial, sämtliche genetischen Informationen, die zur Entwicklung eines Dinosauriers gebraucht werden. Wie schafft man es, so fragte ich mich, dieses Wachstum erneut umzulenken, sodass das Lebewesen am Ende wie ein Dinosaurier aussieht? Im Experiment ist es bereits gelungen, einem Huhn Zähne wachsen zu lassen. Andere Wissenschaftler wandelten

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Hühnerembryonen mit chemischen Methoden so ab, dass sich bei ihnen die unterschiedlichen Schnabelformen der berühmten Darwin-Finken entwickelten. Nachdem sich in meinem Kopf der Gedanke festgesetzt hatte, dass es möglich sein müsste, Wachstum umzulenken, unterhielt ich mich mit Hans Larsson von der McGill University und anderen Wissenschaftlern, die sowohl die Sprache als auch die Theorien und Methoden der Paläontologie und Molekularbiologie beherrschten. Larsson arbeitete bereits daran, die Evolution mit experimentellen Atavismen, wie er sie nannte, besser zu verstehen. Er wollte Lebewesen dazu veranlassen, urtümliche Merkmale zu entwickeln. Um es kurz zu machen: Ich konnte Larsson gewinnen, den Hühner-Dinosaurier-Express zumindest auf einem Teil seiner Strecke zu lenken. Bisher hat er noch keinen Dinosaurier gezüchtet, und keiner der Embryonen in seinen Experimenten wird aus dem Ei schlüpfen. Aber seine Forschungsarbeiten und mein Tagtraum von einem hühnergroßen Dinosaurier mit Zähnen, Schwanz und Vorderbeinen anstelle der Flügel passen gut zusammen. Deshalb unterstützte ich Forschungsarbeiten, mit denen der Hühnerembryo dazu veranlasst werden soll, seinen inneren Schwanz auszuprägen. Larsson entdeckte am Schwanzwachstum bereits verschiedene Aspekte, die diesen Vorgang mit den ganz grundlegenden, ersten Wachstumssignalen aller Wirbeltiere einschließlich des Menschen verknüpfen. Die Arbeiten könnten also unerwarteten Nutzen für einige besonders häuÀge, verheerende angeborene Fehlbildungen bringen, bei denen das frühe Wachstum des Rückenmarks beeinträchtigt ist. Wie sich der Schnabel eines Vogels durch Veränderung eines einzelnen Gens abwandeln lässt, haben Wissenschaftler bereits gezeigt. Wenn Larsson Erfolg hat, wird er nachwei-

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sen, wie sich der Schwanz des Dinosauriers in das Pygostyl des Huhnes verwandelt hat und wie man ein Huhn mit einem Schwanz anstelle dieses Schwanzstummels züchten kann. Außerdem wird er damit die Fundamente für zukünftige Forschungsarbeiten legen, die letztlich vielleicht dazu führen, dass ein lebender Beleg für die Funktionsweise der Evolution aus einem Ei schlüpft. Zu wissen, wie man die Evolution zurückdrehen kann, wäre von ungeheurem wissenschaftlichen Wert. Man könnte damit überzeugend nachweisen, dass zwischen den molekularen Veränderungen der Entwicklungsprozesse und den großen, entwicklungsgeschichtlichen Veränderungen der Körperform ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Schon heute wissen wir aufgrund der Fossilfunde eine Menge über die Evolution verschiedener Körperbaupläne. Ebenso kennen wir insbesondere bei TauÁiegen ganz bestimmte Veränderungen der DNA, die im Labor für erkennbare Veränderungen der Körperform sorgen. Aber wenn es darum geht, solche molekularen Veränderungen mit dem großen Wandel in der Geschichte des Lebendigen zu verknüpfen, wie er sich im Verlust eines Schwanzes manifestiert, stehen wir noch ganz am Anfang. Bisher ist noch aus keinem Hühnerei ein Dinosaurier geschlüpft, der kein Vogel wäre. Ob es irgendwann einmal geschehen wird, weiß ich nicht. Dieses Buch berichtet davon, wie ich mir ein solches Ziel setzte, wie das Unternehmen voranschreitet, wie andere Wissenschaftler und ich auf unterschiedliche Weise versucht haben, die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, wie wir mit Spitzhacke und Schaufel anÀngen, wie wir später zu Computertomografen und Massenspektrometern übergingen und wie wir mittlerweile im embryologischen Labor angekommen sind.

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Die Geschichte beginnt mit einer altmodischen Fossilsuche – mit dem Suchen, dem Entdecken und immer neuen Grabungen. Insbesondere von zwei Ausgrabungen wird dabei die Rede sein, in denen es um das gleiche Skelett von Tyrannosaurus rex ging. Entdeckt wurde das kostbare Fossil, das den Spitznamen B. rex erhielt, im Ödland im Osten des US-Bundesstaats Montana. Die zweite, dieses Mal mikroskopische „Ausgrabung“ fand innerhalb eines der fossilen Knochen statt; dabei entdeckte Mary Schweitzer offensichtlich fossile Überreste von Blutgefäßen, die 68 Millionen Jahre alt und noch heute biegsam sind, fossile Überreste roter Blutzellen und Knochenzellen sowie Proteinmoleküle oder Molekülbruchstücke mit unveränderter chemischer Struktur. Irgendwann ist aber bei der Untersuchung von Dinosauriern und damit auch in meiner Geschichte ein Punkt erreicht, an dem man mit fossilen Knochen nicht mehr weiterkommt. Um noch mehr über die Evolution der Dinosaurier zu erfahren, muss man die Gene heutiger Lebewesen betrachten. An dieser Stelle macht unsere Geschichte eine ebenso scharfe Wendung wie der wachsende Hühnerschwanz, der irgendwann das Wachstum einstellt und sich in etwas anderes verwandelt. Jetzt berichtet sie darüber, warum wir wissen, dass der Ablauf der Evolution in den Genen der modernen Dinosaurier – der Vögel – festgeschrieben ist; sie handelt davon, wie wir ein Hühnerei, das sonst vielleicht zu einem Omelett oder Egg McMufÀn geworden wäre, dazu veranlassen können, sich zu einem Dinosaurier zu entwickeln, den jeder als solchen erkennt. Wenn es uns gelingt – und dass das eher früher als später der Fall sein wird, bezweiÁe ich nicht –, haben wir einen weiteren Schritt in der langen Reihe der Versuche vollzogen, die Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen. Dinosaurier

Einleitung

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wurden erstmals 1854, fünf Jahre vor dem Erscheinen von Darwins Entstehung der Arten, im Kristallpalast im englischen Sydenham ausgestellt. Es war ein bahnbrechendes Ereignis, obwohl die Tiere falsch aufgebaut waren: Sie standen nicht auf allen Vieren, sondern auf den Hinterbeinen. Im Laufe der Zeit gelangte man zu einer immer höher entwickelten, zutreffenderen Rekonstruktion der Dinosaurier. In den Museen änderte man ihre Körperhaltung, und zahlreiche weitere neue Erkenntnisse kamen hinzu: Viele Dinosaurier waren Warmblüter; nicht Vögel, sondern Dinosaurier waren die ersten geÀederten Tiere; manche Dinosaurier lebten in Kolonien zusammen und sorgten im Nest für ihre Jungen, und viele von ihnen waren viel klüger und beweglicher, als man es sich jemals vorgestellt hatte. Man hat naturgetreue bewegliche Dinosaurier gebaut und die inneren Hohlräume ihres Schädels dreidimensional rekonstruiert. Es gibt Theorien über Farbe, Lautäußerungen und Verhalten der Dinosaurier. Und jetzt können wir daran gehen, einen lebenden Dinosaurier herzustellen. Manchen Menschen wird dieses Projekt wie ein vermessener Versuch vorkommen, in das Leben selbst einzugreifen; andere werden es als unmögliches Vorhaben verhöhnen, und wieder andere werden darin mehr Selbstdarstellung als Wissenschaft sehen. Auf alle diese Kritikpunkte habe ich letztlich keine Antwort, denn die Antwort zu geben, obliegt nicht mir. Ich habe durchaus meine Ideen, meine Bedenken, meine eigenen Fragen zu dem Nutzen und den Problemen eines solchen Projekts, aber in der Geschichte, die ich erzählen möchte, geht es wie immer in der Wissenschaft mehr um Fragen als um Antworten, und mein Buch soll weder ein Rezept noch eine Vorlesung sein. Wenn wir so weit kommen, dass ein Dinosaurier aus dem Ei schlüpfen könnte, stehen wir vor einer Entscheidung, die

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nicht nur ein paar Wissenschaftler im Labor, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. Vor allem aber ist dieses Buch die Einladung zu einer Abenteuerreise. Ich kann etwas darüber sagen, wie sie beginnt – was ihr Ende angeht, haben wir alle ein Wort mitzureden.

1 Hell Creek Zeit, Raum und Grabungen in der Vergangenheit „Die Wissenschaft“, fuhr der Zeitreisende nach einer Pause fort, die zum besseren Verständnis des Vorhergesagten beitragen sollte, „die Wissenschaft weiß sehr wohl, dass Zeit eigentlich nur eine Form von Raum ist.“ H. G. Wells, Die Zeitmaschine (Übersetzt von A. Reney; München: dtv, 1996)

Um nach Hell Creek zu gelangen, fährt man von Bozeman nach Osten. Und von der Gegenwart in die Vergangenheit. Bozeman ist ganz und gar in der Gegenwart verankert. Noch vor 25 Jahren war es eine verschlafene Universitätsstadt, wo man in einer Bar Videopoker oder Pool spielen konnte, während die Rodeomannschaft der Montana State University am Nachbartisch feierte. Es gab Coffeeshops, Fast-FoodLokale und einen schleichenden Trend zu vegetarischer Ernährung, aber dem Lifestyle an den Küsten hinkte man ein ganzes Stück hinterher. Das alles hat sich geändert. Noch 1980 hatte Bozeman knapp über 20 000 Einwohner. Heute sind es 38 000. Die Flüsse in der Umgebung – Gallatin, Madison und Yellowstone – ziehen Angeltouristen an, das Paradise Valley hat einen besonderen Reiz für die Hollywoodprominenz, und die

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Ausläufer der Rocky Mountains sind mit den Ferienhäusern wohlhabender Bürger aus Los Angeles übersät. Die ersten dieser Einwanderer, unter ihnen Peter Fonda und Ted Turner, wirken schon fast wie Einheimische. Die Haute Couture mag an der Ost- und Westküste zu Hause sein, aber wenn es um Outdoormode geht – um die Frage, welche Mountainbikes, Laufschuhe und Trekkingsandalen gerade angesagt sind –, steht Bozeman an vorderster Front. In diese Kleinstadt gerät man nicht zufällig. Sie ist eine Bestimmung. Den Neubürgern von Montana kann man keinen Vorwurf daraus machen, dass sie hierher kommen. Sie lassen sich von Flüssen und Gebirge anlocken, vom big sky im Osten der Rockies und den üppigen Tannenwäldern westlich davon. Und von den Angelmöglichkeiten. Aus Sicht des Paläontologen sind die Veränderungen, die daraus erwachsen, so etwas wie eine Ablagerung. Bei geologischen Formationen kann man zwei Typen unterscheiden: Die einen sind durch Ablagerung entstanden, die anderen durch Erosion. Die beiden Extreme sind das Flussdelta, das durch Ablagerung von Schlamm neues Land entstehen lässt, und der Bergabhang, der durch Wind und Regen ständig abgetragen wird. Geschichte ist nach meiner Auffassung stets durch Ablagerung geprägt: Ein Ereignis folgt auf das andere, Sprachen und Kulturen wandeln sich, Schicht um Schicht kommt zum Erfahrungsschatz der Menschen hinzu. In Bozeman Àndet die kulturelle Ablagerung mit einem hohen, immer noch zunehmenden Tempo statt. Das angesagte Getränk in Montana ist heute der Espresso. Ich würde darauf wetten, dass man einen dreifachen Latte Macchiato mit Sahne in der Gegend von Bozeman heute leichter bekommt als an der Upper West Side von Manhattan, zumindest dann, wenn man dazu nicht aus dem Auto aussteigen

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möchte. Bei uns gibt es Drive-in-Espressobuden, an denen Pick-ups und Prius-Limousinen in der Warteschlange stehen. Latte Macchiato ist der Cowboy-Kaffee des 21. Jahrhunderts. Bozeman liegt östlich der Rocky Mountains im Vorgebirge. Im Süden der Stadt beÀnden sich die tiefen, von Tannen gesäumten Schluchten des Gallatin River und der YellowstoneNationalpark mit seinen Bisons und Elchen. Nach Westen durchschneidet der Madison River weite landwirtschaftliche Flächen. Der Fluss ist im Juli von kleinen Booten übersät, die von Angelführern gesteuert werden; es sind häuÀg akademisch gebildete junge Leute aus dem Nordosten der Vereinigten Staaten, die im Sommer in Montana und im Winter in Argentinien die Religion und das Geschäft des Forellenfangs praktizieren. Nordwestlich von Bozeman beÀndet sich das Reservat der Blackfeet-Indianer und dahinter der Glacier-Nationalpark mit der Straße, die nach Westen über die Wasserscheide des Kontinents führt. Nordöstlich liegt die high line, eine Kette von Ortschaften an der Eisenbahnlinie, die südlich der kanadischen Grenze verläuft; sie tragen Namen wie Cut Bank und Shelby – und in Shelby bin ich aufgewachsen. Alle diese Routen haben ihre Reize, aber für eine Zeitreise empfehle ich den Weg nach Osten. Wir nehmen die Route 90, eine moderne, vierspurige Autobahn. Sie verläuft parallel zum Yellowstone River, der in früheren Zeiten selbst ein wichtiger Verkehrsweg war. Auf rund 250 Kilometern hat uns noch das 21. Jahrhundert im Griff, aber dann verlassen wir die Autobahn bei Billings, mit rund 100 000 Menschen die größte Stadt des Bundesstaats. Jetzt fahren wir auf der Route 87 nach Norden. Die Áache, zweispurige Straße führt durch Acker- und Weideland zu einer Kreuzung, an deren südöstlicher Ecke eine riesige Rastanlage für Lastwagenfahrer steht. Von hier können

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wir entlang der Route 200 bis zum hitzeÁirrenden Horizont blicken. Dort liegt die Vergangenheit. Die nächste Ortschaft heißt Winnett. Sie ist mit noch nicht einmal 200 Einwohnern sehr klein und von der Straße aus kaum zu sehen. Außerdem liegt sie so weit im nahezu menschenleeren Westen der Great Plains (Großen Ebenen), dass hier noch nicht einmal Filialen der allgemein bekannten großen Fast-Food-Ketten anzutreffen sind. Satellitenschüsseln sind allerdings allgegenwärtig. Und noch vor wenigen Jahren konnte man auf der Zufahrtsstraße zum Dorf kleine Schilder sehen, die auf eine Anti-Drogen-Kampagne an den Highschools hinwiesen – eine unglückselige Erinnerung daran, wie das moderne Leben auch in den Weiten der wirtschaftlich zurückgebliebenen Ebenen des Mittleren Westens Einzug gehalten hatte. „Veilchen sind blau, Rosen sind rot. Probierst du Meth, bist du bald tot.“ Zwischen dem Wohlstand von Bozeman und der wirtschaftlichen Situation im Osten Montanas klafft eine beträchtliche Lücke. Insgesamt leben in dem Bundesstaat nach der Volkszählung des Jahres 2000 mehr als 14 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – eine Tatsache, in der sich unter anderem die trostlose Situation mehrerer großer Indianerreservate widerspiegelt. Im Kreis Gallatin, zu dem auch Bozeman gehört, lag die Quote bei 12,8 Prozent – im Kreis GarÀeld, in dem sich keinerlei Reservate beÀnden, bei 21,5 Prozent. Von Winnett verläuft die Straße nach Osten mehr als 120 Kilometer durch offene Landschaft. Ortschaften gibt es nicht. Man sieht nur wenige andere Autos und Lastwagen. Überlandleitungen sind nicht überall zu sehen. Die Straße zieht sich geradewegs bis zum Horizont. Selbst wenn man 130 Stundenkilometer fährt, spürt man die gewaltigen Entfernungen und

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die Leere. In einem Auto mit vollem Tank kann das ein erhebendes Gefühl sein. Zu Fuß ist es bedrückend. Selbst heute erscheint die Weite endlos. Wie wirkte sie wohl vor 100 oder 200 Jahren? Die Straße durchquert die Missouri Breaks, jene erodierten, öden Landstriche, durch die auch Captain Meriwether Lewis und William Clark auf ihrer berühmten Expedition von St. Louis zur PaziÀkküste in den Jahren 1804 bis 1806 reisten. Sitting Bull kannte diese Landschaft, und es gab sie schon, als die ersten Menschen aus Asien nach Nordamerika einwanderten und mit der Jagd auf Mastodons begannen. Nun ja, zumindest sah sie ähnlich aus. Die Kurzgrasprärie hat sich verändert. Der Wüsten-Beifuß, unentbehrlich in alten WesternÀlmen, ist allgegenwärtig – eine Folge der Überweidung durch Rinder und Schafe, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann. Als die Büffel noch zu Millionen in den Great Plains lebten, war die Landschaft trocken und nur dünn mit PÁanzen bewachsen. Aber das Kurzgras herrschte vor. Es war immer eine unwirtliche Landschaft, in der er sich nie Indianer niederließen, um Landwirtschaft zu betreiben. Sie ernährte aber zahlreiche Tiere, auch wenn es die gewaltigen Büffelherden zu der Zeit, als die ersten Menschen hier auf die Jagd gingen, noch nicht in dieser Form gab. Nach einer Theorie entwickelten sich die Büffel und die Great Plains parallel, als die ersten Amerikaner die Prärie in Brand setzten, um die offene Landschaft zu erhalten. Mit dem Musselshell River überqueren wir die Grenze zum Kreis GarÀeld. Jetzt fallen uns immer öfter freiliegende Felsformationen auf, viele davon rund 65 Millionen Jahre alt. Wir werden zu Bewohnern mehrerer Zeitabschnitte. Wir beÀnden uns in der Gegenwart, scheinen aber zum Beginn des 20. Jahrhunderts oder auch in das 18. oder 17. Jahrhundert zu reisen. Und um uns herum offenbart sich in der verwitterten Erde die entfernte Vergangenheit, die wir nun erforschen können.

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Die Hell-Creek-Formation Die Felsen der Hell-Creek-Formation, wie die Geologen sie nennen, sind schon von der Straße aus zu sehen. Der Name wurde 1907 von Barnum Brown geprägt, einem Paläontologen des American Museum of Natural History, der damit Gesteinsschichten in der Nähe von Hell Creek bezeichnete. Es handelt sich um eine Mischung aus Sand- und Schluffstein, die in Montana, Wyoming, North und South Dakota freiliegt. Die Dicke oder Mächtigkeit ihrer Gesteinsschichten schwankt zwischen 170 Metern im Kreis GarÀeld, wo Brown sie zum ersten Mal beschrieb, und 40 Metern im Kreis McCone in Montana. In der Formation spiegelt sich nach verschiedenen Interpretationen ein Zeitraum zwischen 1,3 und 2,5 Millionen Jahren wider. Es sind nicht irgendwelche Jahrmillionen. Das Sediment der Gesteinsschichten wurde am Ende des Dinosaurierzeitalters abgelagert. Die Hell-Creek-Formation ist wahrscheinlich weltweit die beste Lagerstätte für Landlebewesen vom Ende der Kreidezeit (das heißt der Zeit vor 210 bis 65 Millionen Jahren); sie reicht bis unmittelbar zu dem Massenaussterben, das 35 Prozent aller biologischen Arten hinwegfegte, darunter auch die Dinosaurier. Das Ende der Kreidezeit ist in großen Teilen des Kreises GarÀeld zu erkennen: Dort beÀndet sich am oberen Ende der Hell-Creek-Formation eine dunkle Linie in dem ansonsten hellen Gestein. Die Linie besteht aus Kohle und wurde unmittelbar nach dem Massenaussterben abgelagert; sie markiert an dieser Stelle den Anfang der Fort-Union-Formation. Das zumindest besagt die Faustregel. An anderen Stellen auf der Erde ist das Ende der Kreidezeit sehr speziÀsch und eindeutig durch chemische Markierungen gekennzeichnet. Im Osten

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von Montana dagegen sind diese chemischen Markierungen nicht überall vorhanden, und deshalb konnte man den Zeitpunkt, zu dem die Kreidezeit endete und das Massenaussterben stattfand, bis heute nicht genau feststellen. Dennoch erinnert die dunkle Linie, die von manchen Fachleuten als Z-Kohle bezeichnet wird, nachdrücklich an die senkrechte Repräsentation der fernen Vergangenheit. Die abstrakten Angaben über Jahrmillionen sind vielleicht nur schwer zu begreifen, aber das unterschiedlich gefärbte Gestein, in dem sich die quälend langsame Ansammlung von Schlamm aus Hochwasser führenden Flüssen, Sand von Stränden oder verweste, in Kohle verwandelte PÁanzen widerspiegeln, kann man sehen und anfassen. In der Formation gibt es eine Fülle von Indizien für urzeitliche Lebensformen. Hier, in diesem Gestein, liegen Dinosaurier wie die Fossilien von Tyrannosaurus, die Barnum Brown 1902 entdeckte – dass es sich um T. rex handelte, wusste er damals allerdings noch nicht. Sogar der Name T. rex wurde erst später geprägt. Es gibt dort, an der Grenze zwischen North und South Dakota, große Lagerstätten mit Knochen von Entenschnabel-Dinosauriern der Gattung Edontosaurus, die offenbar alle in einer großen Flutwelle des Áachen Binnenmeers, das damals die Mitte des Kontinents bedeckte, ums Leben kamen. Ebenso Àndet man zahlreiche andere Dinosaurier vom Ende der Kreidezeit, beispielsweise Triceratops und die Pachycephalosaurier mit ihrem knochengepanzerten Kopf. Danach Àndet man keine mehr. Auch dies gilt für die ganze Welt. Aber die Ablagerung von Sedimenten, die sich in Gestein verwandelten, setzte sich in diesem Teil Nordamerikas fort. In solchen Gesteinsformationen aus späterer Zeit Àndet man auch eine Fülle von Fossilien, die andere Übergänge aus der

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Geschichte des Lebendigen belegen, so unter anderem den Aufstieg der Säugetiere. Es gibt Fossilien von Vögeln. Aber die „normalen“ Dinosaurier waren für alle Zeiten verschwunden, eingeschlossen in Formationen aus der fernen Vergangenheit, während auf unserem Planeten weiterhin Gestein aufgeschichtet wurde, Berge erodierten und Kontinente sich verschoben. Am Kreis GarÀeld ist ungewöhnlich, dass man dort ein ganz bestimmtes Kapitel aus der Geschichte des Lebendigen so deutlich erkennt. Das 65 Millionen Jahre alte Gestein der Hell-Creek-Formation liegt an der OberÁäche frei und steht für weitere Ausgrabungen zur Verfügung. Die Formation hat bereits ganze Eisenbahnwaggons voller Fossilien geliefert, darunter die Tyrannosaurus-Skelette des American Museum of Natural History und der Smithsonian Institution, aber natürlich auch das fossile Skelett von T. rex, das den Ausgangspunkt unserer Geschichte bildet. Wir gaben ihm den Spitznamen B. rex – das B steht für seinen Entdecker Bob Harmon. Im Kreis GarÀeld liegt sich der am besten bekannte und erforschte Abschnitt der Hell-Creek-Formation. In diesem Teil Montanas ist der Himmel noch weiter als anderswo, sofern das überhaupt möglich ist. Hier zeugt nur eine dünne Schicht kultureller Ablagerungen von den modernen Amerikanern oder überhaupt von Menschen, die während der letzten rund 13 000 Jahre durch das Gebiet kamen. Der Kreis hat eine Fläche von mehr als 12 000 Quadratkilometern. Damit ist er ungefähr so groß wie der US-Bundesstaat Connecticut, aber er hat nur 1 200 Einwohner, die man nicht ohne Weiteres Àndet. Bei einer Bevölkerungsdichte wie im Kreis GarÀeld – ein Mensch auf zehn Quadratkilometer – hätte die Halbinsel Manhattan ganze fünf Einwohner.

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Jordan, die einzige Ortschaft des Kreises, hat eine Bevölkerung von 350 Menschen, die weiter schrumpft; hier kommt man an, wenn man die 120 Kilometer von Winnett gefahren ist. Unter Fossiliensammlern und Anglern ist Jordan bekannt: Es ist die letzte Station vor der Weiterreise zu ihrem Ziel, bei der sie sich häuÀg der gleichen unbefestigten Straße in Richtung des Hell Creek State Park bedienen. Die Angler haben es auf die Zander im Fort Peck Lake abgesehen. Die Landschaft rund um den Stausee gehört zur Hell-Creek-Formation und liefert Fossilien von Säugetieren, Reptilien, Schalentieren und PÁanzen, aber auch von Dinosauriern. Fast jeder, der einmal in Jordan war, erinnert sich an die Hell-Creek-Bar. Dort gibt es eisgekühltes Bier, Hähnchen mit Kartoffeln und einen langen, hölzernen Tresen, an dem sich Rancher, Fossiliensammler, Angler und manchmal auch Journalisten treffen. Jordan kommt in den Medien häuÀger vor, als man es bei einer Ortschaft dieser Größe erwarten sollte. Das liegt unter anderem an den Dinosaurierfossilien. Das Dorf ist unter Geologen, Paläontologen und ihrem Publikum spätestens seit den Tagen von Barnum Brown bekannt. Aber auch in neuerer Zeit gab es Gründe für eine gewisse Berühmtheit, und nicht alle davon sind angenehm. Im Jahr 1996 war Jordan der Schauplatz eines kleinen Aufstands gegen die Vereinigten Staaten; er ging von den Freemen aus, einer militanten Gruppe rassistischer Weißer, die sich auf Bankbetrug spezialisiert hatten. Die Gruppenmitglieder waren Anhänger einer Glaubensrichtung namens Christian Identity, nach deren Ansicht die Weißen von Adam und Eva abstammen, Juden und Farbige dagegen von Satan und Eva. Sie erkannten die Vereinigten Staaten nicht an und gründeten ein eigenes Bankensystem, das im Wesentlichen aus einem computergestützten System zur Urkundenfälschung bestand

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und ihnen nach Behördenangaben insgesamt fast zwei Millionen Dollar einbrachte. Unter Führung von LeRoy Schweitzer veranstalteten die Freemen Kurse zur Fälschung von Bankpapieren; sie machten gegenüber den Behörden sogenannte „Zurückbehaltungsrechte“ geltend, wollten die Verwaltung des Kreises ausschließlich weißen Männern übertragen und kämpften gegen die internationale Bankenverschwörung, hinter der natürlich die Juden steckten. Im Sommer 1996 hatten sie sich im Kreis GarÀeld alle ihre Nachbarn zu Feinden gemacht; dort, in der Nähe von Jordan, hatten sie sich auf der rund drei Quadratkilometer großen Clark Ranch niedergelassen. Nachdem man mehrere Rädelsführer, die sich nicht auf der Ranch befanden, festgenommen hatte, kam das FBI nach Jordan. Die Stürmung eines Extremistenlagers hätte böse enden können, aber drei Jahre zuvor, bei einer Razzia auf dem Anwesen der Sekte Branch Davidian im texanischen Waco, waren 70 Menschen ums Leben gekommen, und die Erinnerung daran war noch so frisch, dass dieses Mal eine lange, gewaltlose Belagerung folgte; sie dauerte 81 Tage. Über die Vorfälle wurde immer wieder in den Nachrichten berichtet, es gab aber nur ein Todesopfer: Ein FBI-Beamter starb bei einem Autounfall, als er in der Region von einer unbefestigten Straße abkam. Die Belagerung endete ohne dramatische Auseinandersetzungen. Am Ende verließen alle Freemen das Anwesen, und viele von ihnen wurden verhaftet. Einige störten ihre Prozesse, indem sie die Autorität der Gerichte anfochten. Man warf ihnen verschiedene Verbrechen vor, darunter Bankbetrug, Postfälschung und bewaffnete Überfälle. Acht Männer wurden zu Gefängnisstrafen zwischen zwölf und 18 Jahren verurteilt. Bei anderen

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waren die Strafen milder; nur LeRoy Schweitzer, der Anführer, wurde zu 22,5 Jahren verurteilt und sitzt noch heute im Gefängnis. Die Pattsituation mit den Freemen riss in zahlreichen Familien, zwischen Brüdern und Schwestern oder Eltern und Kindern, schmerzliche Gräben auf. Viele Menschen, die in und um Jordan zu Hause waren, hielten die Gruppe für eine Religionsgemeinschaft. Das alles spielte sich ab, bevor der Bundesstaat Montana die Grabungen an der Hell-CreekFormation in Auftrag gab, aber auch unser Forschungsteam war von den Ereignissen betroffen; das Gleiche galt für viele andere Bewohner des Staates, deren Freunde, Nachbarn oder Angehörige sich aus irgendeinem Grund zu den Freemen hingezogen fühlten. Die in der Einleitung bereits erwähnte Mary Schweitzer, die die Untersuchung des fossilen Knochengewebes von B. rex leitete, war eine angeheiratete Verwandte des Gruppenanführers LeRoy Schweitzer: Dieser ist der Bruder ihres Ex-Ehemanns. Auch in anderer Hinsicht war es für Montana ein schwieriger Sommer. In einer Hütte in Lincoln, auf der Westseite der Rocky Mountains, wurde Ted Kaczynski aufgespürt, der berüchtigte „Unabomber“. Seine Festnahme erregte in den Medien sogar noch mehr Aufmerksamkeit als die der Freemen. Er hatte Briefbomben an Menschen geschickt, die nach seiner Ansicht dazu beigetragen hatten, die moderne Gesellschaft durch Technik zugrunde zu richten. Im Laufe von ungefähr 20 Jahren hatte er drei Menschen ermordet und 22 weitere verletzt. IdentiÀziert wurde er schließlich von seinem Bruder, und wie sich herausstellte, war er Akademiker: Er hatte in Mathematik promoviert, sich dann aber immer weiter von der Gesellschaft entfernt und auf einen gewalttätigen Kreuzzug begeben.

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Die Politik mit dem Land in Verbindung zu bringen, ist ein altes rhetorisches Mittel, und häuÀg ist es falsch. Die Freemen hatten in der Bevölkerung rund um Jordan keinerlei Rückhalt; das lag unter anderem daran, dass sie keiner ehrlichen Arbeit nachgingen. Es stimmt aber, dass der Osten Montanas selbst in einem Bundesstaat, der durch extreme Landschaften, extremes Wetter und eine extreme Geschichte geprägt ist, etwas Besonderes bleibt. Und während das Leben in anderen Teilen des Staates immer einfacher wird, scheint es im Kreis GarÀeld immer schwieriger zu werden. Das Land kann unwirtlich bis zur Trostlosigkeit sein. Im Sommer glüht das Sedimentgestein bei über 45 Grad Hitze, und es wird überlebenswichtig, täglich vier bis acht Liter Wasser zu sich zu nehmen. Im Winter heult der Wind bei minus 50 Grad. Prinzipiell mag das Ende der Natur gekommen sein, aber in einer Region, in der selbst Handys häuÀg keinen Empfang mehr haben, haben die alten Gefahren ihre Macht noch nicht verloren. Die Nordgrenze des Kreises bildet der Missouri River in Form des 215 Kilometer langen Fort Peck Lake, der reich an Fischen ist und bei Dürre häuÀg stark schrumpft. Der See entstand durch den Bau des Fort Peck Dam, den man in der Zeit der Weltwirtschaftskrise zwischen 1933 und 1937 errichtete, um Strom zu erzeugen und Arbeitsplätze zu schaffen. Am Bau des Staudamms arbeiteten 10 000 Menschen mit, die unmittelbar jenseits der Grenze im Kreis McCone wohnten. Seit Fertigstellung des Dammes hat kein Anlass mehr eine derart große Zahl von Menschen in diesen Teil Montanas gezogen. Die erdgeschichtliche Vergangenheit, so scheint es, behält hier ebenso die Oberhand gegenüber den Angelegenheiten der Menschen, wie das Wetter alle philosophischen Überlegungen über unseren Planeten unter sich begraben kann. Die

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ältesten landwirtschaftlichen Anwesen sind in der Gegend erst wenige Generationen alt. Man hat den Eindruck, als hätten die Menschen in der Ödnis nur unzureichend Fuß gefasst. Die Fossiliensammler der großen Museen aus New York und Washington, die ungefähr gleichzeitig mit den Siedlern eintrafen, landeten gewissermaßen einen Volltreffer: Sie füllten die Säle der naturhistorischen Ausstellungen mit ihren Entdeckungen. Die Rancher trafen es nicht ganz so gut. Aber von den Indianern bis zu den Freemen ist es eine sehr dürftige Geschichte. Es ist keine geeignete Umgebung für Ablagerungen, ganz gleich, ob es sich dabei um die Kultur der Menschen oder um Gestein handelt. Die Einöde erodiert, die Menschen verlassen sie. Was bleibt, ist nur die Vergangenheit. Ungefähr 4 000 Quadratkilometer des Kreises GarÀeld nimmt das Schutzgebiet Charles M. Russell National Wildlife Refuge (CMR) ein. Der Rest ist eine Mischung aus öffentlichen Flächen, die vom Bureau of Land Management – einer Bundesbehörde – verwaltet werden, und privaten landwirtschaftlichen Betrieben. Alles ist Ödland oder badlands, wie man hier sagt, kreuz und quer überzogen von einem Netz unbefestigter Straßen. Sie bringen eine gewisse Ordnung in eine Landschaft, die ansonsten völlig trostlos wirken würde. Sie kann allerdings sehr schön sein, wenn tiefe Schatten und blendendes Licht die geometrische Anordnung der Gräben und Felsen in Stücke zerlegen. Sie ist rau und ungehobelt; weder Menschen noch die Natur haben sie auf Hochglanz poliert. Begibt man sich von Jordan aus auf die Suche nach Fossilien, fährt man über Schotterstraßen oder unbefestigte Wege. Man richtet ein Lager ein und stattet es mit allen Annehmlichkeiten aus, die unser modernes Zeitalter zu bieten hat. Elektronik ist einfacher als eine Wasserinstallation. Man kann eine Satellitenschüssel aufbauen und hat einen Breitbandzugang zum

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Internet. Man kann aus dem Lager sogar unmittelbar ins Web berichten. Aber Außentoiletten sind die Regel. Wenn man das Lager zur Erkundung oder zum Graben verlässt, lässt man das stille Örtchen hinter sich. BeÀndet man sich dann im Freiland und holt den Oberschenkelknochen eines Tyrannosaurus ans Licht, hat man sich viele Millionen Jahre in die Vergangenheit begeben. Mit trockenem Hals und verschwitztem Hemd, ohne Schatten und ohne Wasser, steht man in der Gegenwart. Fossilien und geologische Verhältnisse aber zeigen, dass man sich eigentlich in der Kreidezeit beÀndet, in einem sumpÀgen Flussdelta an der Küste eines Áachen Meeres, das den nordamerikanischen Kontinent von der Arktis bis zum Golf von Mexiko in zwei Teile zerschnitt. Das alles ist im Gestein zu sehen. Dass man auf diese Weise in der Vergangenheit der Erde lesen kann, ist ein Wunder, das uns vielfach selbstverständlich erscheint. Wir sprechen mit leichter Hand von der Kreide- oder Jurazeit, beschreiben die Tiere, die damals lebten, oder die Umwelt, das Wetter, die Temperatur und die Anordnung der Kontinente. Aber dass wir derart in die Vergangenheit blicken und sie mit einem gewissen Maß an Sicherheit zumindest in groben Zügen rekonstruieren können, ist in Wirklichkeit ein Wunder, das weit über die Erzählungen jeder Religion hinausgeht. Heute vervielfachen wir das Wunder: Wir fügen die Geschichten hinzu, die uns die molekularen Fossilien erzählen, und lesen die Evolutionsgeschichte des Lebendigen, die in der DNA heutiger Tiere niedergeschrieben ist. Was wir dabei Ànden, vermittelt uns ein neues Verständnis für die Vergangenheit, und es eröffnet neue Wege, um sie zu rekonstruieren. Und wie seit mindestens einem Jahrhundert, so kam auch hier

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einer der erstaunlichsten Funde aus der Hell-Creek-Formation im Kreis GarÀeld.

Die Dinosaurier Wenn wir verstehen wollen, welche Rolle die Hell-CreekFormation für die Geschichte des Lebendigen auf der Erde spielt, müssen wir uns noch ein wenig weiter in die Vergangenheit begeben – vielleicht nicht bis zur Entstehung unseres Planeten vor viereinhalb Milliarden Jahren, aber zumindest bis zum Beginn des Dinosaurierzeitalters. Als alle Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel ausstarben, hatte diese außergewöhnliche Tiergruppe bereits eine höchst erfolgreiche Zeit hinter sich. Die gesamte Geschichte des Lebendigen hängt zusammen, und deshalb ist es eigentlich seltsam, an einer bestimmten Stelle in sie einzutreten. In der Triaszeit vor 225 Millionen Jahren, als die Dinosaurier entstanden, waren die großen Entwicklungen in der Evolution des Lebendigen bereits abgeschlossen. Erste Spuren von Leben erschienen vor rund 3,8 Milliarden Jahren auf der BildÁäche, aber die ersten primitiven Tiere mit weichem Körper gab es erst vor etwa 650 Millionen Jahren. Wenig später, in der Zeit des Kambrium, nahm die Formenvielfalt der Tiere gewaltig zu: Sie füllten jetzt die Meere mit kriechenden, schwimmenden, energiegeladenen Organismen. Dann entwickelten sich die Wirbeltiere einschließlich der Fische. Vor etwa 360 Millionen Jahren besiedelten Insekten und andere Tiere erstmals das trockene Land. Jetzt entstanden die ersten Vierbeiner. Wirbeltiere mit vier Beinen stehen uns

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nahe und sollten uns lieb sein, denn schließlich sind auch wir nichts anderes als Vierbeiner. Wir sind eine Variation des Vierbeinerthemas, das die natürliche Selektion schon seit mehreren Hundert Millionen Jahren singt. Wir reichen vielleicht nicht an das hohe Alter der Quallen, die Vielfalt der Insekten oder die Biomasse der Bakterien heran, aber wir können eine gewisse Zufriedenheit aus der Tatsache schöpfen, dass dieser grundlegende Körperbauplan so erfolgreich war. Eine der erfolgreichsten Variationen sind die Reptilien, und unter ihnen sind die viel geliebten Dinosaurier unbestreitbar besonders denkwürdig. Wir können kein einzelnes Fossil vorzeigen und behaupten: Das hier ist der Vorfahre der Dinosaurier. Seit der Entwicklung des bekannten, leicht verständlichen Schemas vom „Stammbaum des Lebens“, das so viele Lehrbücher und Zeitschriftenartikel ziert, hat sich in der Evolutionsbiologie ein Wandel bei der Einteilung der Tiere in Gruppen und den Kenntnissen über ihre Abstammung von Vorläuferformen vollzogen. Nach „dem“ Vorfahren suchen die Biologen heute nicht mehr. Stattdessen konzentrieren sie sich auf gemeinsame Merkmale, die eine Gruppe kennzeichnen, und auf neue Merkmale, die im Laufe der Evolution auftauchen und dann eine neue Gruppe deÀnieren. Solche neuen Eigenschaften bezeichnet man als abgeleitete Merkmale. Die Gruppe nennt man Klade. Ein Diagramm, das den Ablauf der Evolution mithilfe der Klade nachzeichnet, heißt Kladogramm. Es ähnelt ein wenig dem alten Stammbaum: Ganz am Anfang stehen einzellige Lebewesen, die Fische tauchen vor den Amphibien auf und die wiederum vor den Reptilien. Die Menschen bilden natürlich einen Ast, der erst sehr spät von unseren Vorläufern, den Säugetieren und Primaten, abzweigt.

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Jack Horner blickt auf das Ödland bei Jordan in Montana. Die Grenze, die das Ende der Dinosaurier (mit Ausnahme der Vögel) kennzeichnet und den oberen Rand der Hell-Creek-Formation bildet, ist links von der Mitte als dunkle Linie auf ungefähr zwei Dritteln der Höhe des Berges zu erkennen. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Ein Kladogramm macht aber keine genauen Aussagen über die Abstammung einer Spezies oder Gattung. Es zeigt beispielsweise, dass aus den Wirbeltieren neue Kladen hervorgegangen sind, die alle die gemeinsamen Eigenschaften der Wirbeltiere und zusätzlich einige neue, abgeleitete Merkmale besitzen. Unter anderem haben alle Wirbeltiere ein Rückgrat. Eine Klade wie die Säugetiere, die aus den Wirbeltieren hervorgegangen ist, hat ebenfalls das Rückgrat und den übrigen Bauplan der Wirbeltiere mit Augen und Mund am Vorderende sowie einem Verdauungssystem, das von vorn nach hinten verläuft, und anderen Einzelheiten. Die Säugetiere besitzen aber auch abgeleitete Merkmale, die sie nicht mit anderen Wirbeltieren gemeinsam haben, beispielsweise die Brustdrüsen und das Fell. Bei genauer Betrachtung

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des Skeletts erkennt man auch, dass die Vorfahren der Säugetiere sich von den Reptilien abgespalten haben, bevor sich die Dinosaurier entwickelten. Säugetiere und Dinosaurier erschienen ungefähr zur gleichen Zeit auf der BildÁäche. Nach übereinstimmender Ansicht der Fachleute ging die Entwicklung aller Dinosaurier von einem gemeinsamen Ausgangspunkt aus. Die Dinosaurier selbst bilden zwei Gruppen: die Ornithischia („Vogelbecken-Dinosaurier“) und die Saurischia („Echsenbecken-Dinosaurier“), die sich im Aufbau des Beckenknochens unterscheiden. Beide haben aber einen gemeinsamen Vorfahren, der ebenfalls ein Dinosaurier war. Um welches Tier es sich dabei im Einzelnen handelte und welche Formen die unmittelbaren Vorläufer der Dinosaurier waren, wissen wir nicht mit Sicherheit; man kann aber annehmen, dass es sich um eine ähnliche Art wie Lagosuchus handelte, ein Reptil, das noch nicht einmal einen Meter lang war und auf den Hinterbeinen ging. Auch die ersten Dinosaurier waren Zweibeiner; die bekannten vierbeinigen Formen wie Triceratops und Brontosaurus (Apatosaurus) sind spätere Produkte der Evolution. Die Dinosaurier verschwanden durch ein Massenaussterben, und möglicherweise war ein Massenaussterben auch der Ausgangspunkt ihrer Entwicklung. In der Triaszeit gab es zwei solche Ereignisse: Das erste fand vor rund 245 Millionen Jahren statt und wurde wahrscheinlich durch einen Asteroideneinschlag ausgelöst, das zweite vor 205 Millionen Jahren. Nach dem ersten verschwanden viele Vorfahren der Säugetiere und Dinosaurier, sodass sich für die übrigen einige gute Gelegenheiten boten. Daraufhin übernahmen die Dinosaurier die Vorherrschaft. Die Säugetiere blieben 145 Millionen Jahre lang im Hintergrund, bis das nächste Massenaussterben die Dinosaurier hinwegfegte und wiederum eine Fülle unbesetzter ökologischer Nischen entstehen ließ.

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Die Phase der Erdgeschichte, in der die Dinosaurier entstanden, war für Landtiere in gewissem Sinn ganz allgemein eine gute Zeit: Damals bildeten alle heutigen Kontinente eine zusammenhängende Landmasse namens Pangäa. Zuvor hatten sich die Kontinente in unterschiedlichen Kombinationen immer wieder verschoben, und in einer früheren Zeit bildeten sie bereits einmal einen Superkontinent, der als Gondwana bezeichnet wird. Dieser spaltete sich auf, und das Gleiche geschah später auch mit Pangäa. Während der Evolution der Dinosaurier bewegten sich die Kontinente weiterhin. Im Laufe der nachfolgenden 140 Millionen Jahre tauchten zahlreiche Dinosaurierarten auf und verschwanden wieder; so entstanden die vielen Formen, die in fossiler Form erhalten geblieben sind, darunter riesige Sauropoden wie Apatosaurus, Fleischfresser wie Allosaurus und T. rex, pÁanzenfressende Dinosaurier mit Entenschnabel, kleine Formen wie Protoceratops, die in Kolonien lebten und Nester bauten, bewegliche kleine Jäger wie Deinonychus und Velociraptor. Auf diesem Weg entwickelten sich irgendwann auch die Vögel. Ganz am Ende der Kreidezeit – in der Phase, die im Gestein von Hell Creek erhalten geblieben ist – hatten sich die Antarktis, Australien und Südamerika bereits von der großen Landmasse gelöst und waren nicht mehr mit anderen Kontinenten verbunden. Afrika hing aber noch mit Europa zusammen, und im Norden bestanden Landbrücken zwischen Nordamerika, Europa und Asien. Die Sauropoden waren bereits verschwunden, und Tyrannosaurus rex gehörte zu den dominierenden Landtieren. Dinosaurier mit Entenschnabel gab es in großer Zahl, und das Gleiche galt für Triceratops, Pachycephalosaurus und andere Arten. In der späten Kreidezeit wuchsen die nordamerikanischen Gebirge in die Höhe. Der Gebirgszug, den wir heute als

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Rocky Mountains bezeichnen, wurde nahezu ebenso schnell durch Erosion abgetragen, wie er in die Höhe stieg, und die von ihm abÁießenden Flüsse und Bäche trugen während großer Überschwemmungen das Sediment in die Ebenen, wo es die Dinosaurierknochen unter sich begrub und konservierte. Die Flüsse und Bäche des heutigen Montana mündeten in das Binnenmeer, das sich im Laufe der Jahrmillionen immer wieder ausdehnte und zusammenzog. Ganz am Ende der Kreidezeit, als die Sedimente von Hell Creek abgelagert wurden, hatte sich das Meer bereits zurückgezogen, und der Abschnitt der Formation im Kreis GarÀeld, dem die Paläontologen so viele Fossilien verdanken, war ein Flussdelta mit gewundenen Mündungsarmen; es lag nahe bei der Küste des Binnenmeers und bot sowohl land- als auch wasserbewohnenden Tieren einen Lebensraum. Die Vegetation war dicht und vielgestaltig; sie bestand aus Farnen, Nadelgehölzen und Bäumen mit Blüten. Diese PÁanzen kennt man sowohl aufgrund der Fossilien als auch aus der mikroskopischen Analyse von Pollenkörnern im Gestein. Dinosaurierherden ernährten sich von der üppigen PÁanzenwelt und wurden ihrerseits von Rudeln kleinerer, Áeischfressender Dinosaurier wie Troodon gejagt. In dem Binnenmeer schwammen die echsenähnlichen, räuberischen Mosasaurier und die Plesiosaurier mit ihrem langen Hals. Weichtiere gab es sowohl in den Meeren als auch in Teichen und Flüssen, die darüber hinaus Fische, Amphibien, Krokodile und Schildkröten beherbergten; alle diese Tiergruppen überlebten und gediehen weiterhin, als die Dinosaurier verschwanden. Es gab Land-, Küsten- und Meeresvögel sowie zahlreiche Säugetiere, primitive Verwandte der heutigen, eierlegenden Schnabeltiere und Ameisenbären sowie Beuteltiere und Plazentasäugetiere. Manche von ihnen liefen an den Bäumen auf und ab wie

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Eichhörnchen. Andere waren am Erdboden zu Hause und lebten möglicherweise in selbstgebauten Höhlen. Während diese Lebewesen in ihrer tropischen Umwelt fraßen, töteten und getötet wurden, trat eines Tages ein Meteor mit einem Durchmesser von zehn bis 15 Kilometern in die Erdatmosphäre ein. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 32 Kilometern je Sekunde raste er in der Nähe der Halbinsel Yucatán ins Meer. Der Einschlagwinkel betrug etwa 30 Grad. Der Meteor verdampfte, ebenso alles, was sich in seiner Nähe befand. Einer Schätzung zufolge wurden mehr als 200 000 Kubikkilometer Trümmermaterial in die Atmosphäre geschleudert. Die freigesetzte Energie wurde auf 100 Millionen Megatonnen geschätzt. Zum Vergleich: Die HiroshimaBombe hatte eine Sprengkraft von ungefähr 15 Kilotonnen. Mit anderen Worten: Beim Einschlag des Meteoriten auf der Erde wurde so viel Energie frei, als würden 6,6 Milliarden Hiroshima-Bomben gleichzeitig gezündet. Die Folge war eine globale Katastrophe. Ihre Auswirkungen im Einzelnen nachzuzeichnen, ist jedoch schwierig. Der Meteoriteneinschlag fällt zeitlich mit einem Massenaussterben zusammen, das 35 Prozent aller biologischen Arten auf der Erde vernichtete, darunter auch alle Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel. Für kurze Zeit war sogar die Grundlage der Ökologie in den Weltmeeren – die Lebensgemeinschaft der Mikroorganismen, welche die Energie aus dem Sonnenlicht einfangen – stark beeinträchtigt. Belege für dieses Ereignis wurden erstmals 1980 veröffentlicht. Der Geologe Walter Alvarez hatte in Italien untersucht, wie schnell sich kosmischer Staub in geologischen Schichtungen ansammelt; er wollte sie damit unabhängig von Fossilien oder anderen Methoden datieren. Im Rahmen seiner Arbeiten stellte er fest, dass an der Grenze zwischen Kreidezeit und

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Tertiär (der sogenannten K/T-Grenze) viel mehr Iridium vorhanden war als in allen anderen Schichten. Er befand sich dabei in der Nähe der Stadt Gubbio, und in dem Gestein, das er untersuchte, war die K/T-Grenze durch eine Tonschicht gekennzeichnet. Darunter lagen Fossilien kreidezeitlicher Mikroorganismen. Über ihr fand er Fossilien ganz anderer Mikroorganismen, die ins Tertiär gehörten. Die gleiche Grenze ist auch in anderen Gesteinsformationen auf der ganzen Welt zu erkennen; schon seit langem wusste man, dass sie das große Aussterben der Dinosaurier und vieler anderer Lebensformen kennzeichnet. Es gab in der Erdgeschichte noch mindestens zwei andere Ereignisse des Massenaussterbens: das eine am Ende der Triaszeit vor rund 205 Millionen Jahren, das andere, nach heutiger Kenntnis größte überhaupt, am Ende des Perm vor 250 Millionen Jahren. Am Ende des Perm verschwanden 95 Prozent aller vorhandenen biologischen Arten von der BildÁäche. Wie wichtig das Massenaussterben für die Evolution war, wissen Paläontologen und Evolutionsbiologen erst seit wenigen Jahren. Diese Ereignisse führten auf der ganzen Welt nicht nur zu Chaos und Zerstörung, sondern sie schufen auch neue Möglichkeiten. Anschließend entwickelten sich sehr schnell neue Lebensformen und besetzten in der Umwelt die Nischen, die durch die Katastrophe frei geworden waren. Erklärungen für das Massenaussterben zu Ànden, war jedoch nicht einfach. Über das Aussterben der Dinosaurier wurde endlos diskutiert. Deshalb war die Entdeckung der höchst ungewöhnlichen Iridiumkonzentration genau am Ende eines Massenaussterbens höchst faszinierend. Ein Ereignis, das als Ursache einer solchen Konzentration infrage kommt, ist der Einschlag eines Asteroiden auf der Erde. Iridium kommt in Asteroiden häuÀg vor, in der Erdkruste dagegen ist es selten.

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Ein ausreichend großer Himmelskörper – Alvarez schätzte seinen Durchmesser auf zehn Kilometer – war eine plausible Erklärung. Er arbeitete damals zusammen mit seinem Vater, dem Physiker und Nobelpreisträger Luis Alvarez, sowie den beiden Geochemikern Helen Michel und Frank Asaro; alle waren an der University of California in Berkeley tätig. Michel und Asaro hatten auch an zwei anderen Stellen, in Dänemark und Neuseeland, eine hohe Iridiumkonzentration genau am Ende der Kreidezeit gefunden. Nun setzte eine große wissenschaftliche Diskussion ein, die sich auch fortsetzte, als man in vielen anderen Tonschichten gleichen Alters ebenfalls die hohe Iridiumkonzentration fand, so unter anderem in manchen Teilen der Hell-Creek-Formation. Bis heute ist aber in vielen Fällen rätselhaft, warum manche Tiere ausstarben und andere nicht. Eine Zeit lang stellte sich auch die Frage nach dem Beleg für einen solchen Einschlag. Ein derart einschneidendes Ereignis musste Spuren hinterlassen haben. Erst 1990 fand man in Gesteinsbohrkernen aus dem Boden des Golfes von Mexiko charakteristische Quarzkristalle des Typs, der durch einen Asteroideneinschlag entstehen kann. Die Stelle lag unter Wasser, war aber nicht weit von der Ortschaft Chicxulub entfernt, die man zehn Jahre zuvor als mögliche Einschlagstelle ausgemacht hatte. Die erste Behauptung erregte noch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit, der „geschockte Quarz“ dagegen sehr wohl. Dann kamen weitere Indizien hinzu: Ablagerungen von Glas in Haiti und vom Wind verwehter Sand aus dem Krater in Montana. Welche Auswirkungen der Asteroid im Einzelnen auf die globale Umwelt hatte, wissen wir nicht; für die Mechanismen des Aussterbens gibt es nach wie vor Erklärungen im ÜberÁuss, aber eines ist klar: Unmittelbar nach einem

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Asteroideneinschlag von buchstäblich unvorstellbaren Ausmaßen starben weltweit zahlreiche biologische Arten aus. Und wenn man das fossile Schlachtfeld oder die Iridiumschicht sowie die terrestrische Lebenswelt davor und danach sehen will, gibt es keinen besseren Ort als die Hell-Creek-Formation. Vor eineinhalb Jahren konnten Astronomen die mutmaßliche Herkunft des Meteoriten von Chicxulub ausmachen: Vor 160 Millionen Jahren ereignete sich im Asteroidengürtel in einer Gruppe von Asteroiden, die als Baptistina-Familie bekannt ist, eine Kollision. Wie in den Nachrichten über die Entdeckung mehrfach erwähnt wurde, würde das bedeuten, dass der Asteroid von Chicxulub schon 100 Millionen Jahre vor dem Einschlag, in der Mitte der Jurazeit, seinen Weg einschlug. Jeder Mensch, der im Zusammenhang mit der Zukunft des Menschengeschlechts auch nur einen Hauch von Pessimismus empÀndet, muss ein gewisses Mitgefühl für die Lebewesen des Ökosystems von Hell Creek aufbringen: Sie hatten keine Ahnung, dass viele von ihnen ein für alle Mal verschwinden würden. Natürlich sollten manche von ihnen – beispielsweise die Säugetiere – erst danach ihre große Chance bekommen. Sie waren klein und konnten möglicherweise unterschiedliche Nahrung nutzen, darunter auch die Überreste der ausgestorbenen Lebewesen; außerdem waren sie nicht ausschließlich von den Photosynthese betreibenden PÁanzen abhängig, denen es eine Zeit lang offenbar ebenfalls nicht gut ging. Eine durch Katastrophen angetriebene Evolution ist nicht das, was Darwin sich ausgemalt hatte. Wie viele Wissenschaftler vor und nach ihm, so stellte er sich vor, dass die natürliche Selektion ganz allmählich wirkt: Sie sorgt dafür, dass die Eigenschaften von Tieren, die mehr Nachkommen hervorbringen, erhalten bleiben. Das Gleiche geschieht natürlich auch während einer Katastrophe, aber jetzt geht es nicht

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um die Feinabstimmung von Merkmalen, die sich am besten für bestimmte ökologische Nischen eignen. Eine Zeit lang kommt das Chaos denjenigen Lebewesen zugute, die unter einem breiten Spektrum unterschiedlicher Umweltbedingungen zurechtkommen; Selektion, wie Darwin sie sich vorstellte, Àndet dabei am Anfang kaum statt, während der Erholung des geschädigten Planeten bleibt auch viel Spielraum für weniger geeignete Lebewesen – vorausgesetzt, sie sind ökologisch nicht allzu wählerisch. Ein gutes Beispiel ist das Aussterben am Ende des Perm. Vor dem Ereignis, bei dem ungefähr 95 Prozent aller biologischen Arten vernichtet wurden, gingen viele Veränderungen in Verhalten oder Körperbau, die durch Mutationen der Gene verursacht wurden, verloren: Die Lebewesen hatten sich im Laufe ihrer Evolution so entwickelt, dass sie ganz bestimmte Nischen nutzen konnten, und allzu große Abweichungen hätten in den meisten Fällen ihre Eignung für diese Nischen vermindert. Nach dem Massensterben dagegen war eine Verfeinerung bei der Nutzung bestimmter Umweltbedingungen unbedeutend im Vergleich zu schneller FortpÁanzung und der Fähigkeit, jedes und alles zu fressen. Je mehr Nischen durch das Aussterben frei wurden, desto stärker begünstigte die Welt alle möglichen Mutationen. Plötzlich war die Natur zu einer Art Wildem Westen geworden: Sie schaute bei weitem nicht mehr so genau hin, wen sie willkommen hieß. Sie war Neuland, ganz ähnlich wie der Westen Nordamerikas zu der Zeit, als er von den Amerikanern europäischer Abstammung erobert wurde. Dort waren die Sitten und Gebräuche vielgestaltiger als im Osten oder in England. Verhaltensweisen, die in einer Gesellschaft mit ihren verschiedenen Schichten und besetzten ökologischen Nischen nicht toleriert worden wären, nahm man hier einfach

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hin; nachdem man die ursprünglichen Bewohner losgeworden war, bot das Land alle möglichen Gelegenheiten. Im Westen Nordamerikas herrschte eine große gesellschaftliche Flexibilität. Nach einem Massenaussterben nahm die Flexibilität in der Evolution ebenfalls erheblich zu. Das Massensterben an der K/T-Grenze vernichtete 35 Prozent der vorhandenen biologischen Arten; damit war es im Vergleich zu der Katastrophe am Ende der Permzeit nur ein geringfügiger Einschnitt. In der Wissenschaft herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass ein Asteroideneinschlag die wichtigste Ursache dieses Massensterbens war. Und ein solcher Einschlag hat eine derart unglaubliche Zerstörungskraft, dass er die Zeit davor und danach verschleiert. In Wirklichkeit ist aber gerade die Phase vor dem Einschlag besonders faszinierend. Zehn Millionen Jahre vor der Katastrophe erreichte die Formenvielfalt der Dinosaurier ihren Höhepunkt. Damals wurde im heutigen Montana die JudithRiver-Formation abgelagert, die eine besonders große Zahl unterschiedlicher Arten enthält. In der zehn Millionen Jahre jüngeren Hell-Creek-Formation Àndet man zwar viele Fossilien, aber diese gehören zu wesentlich weniger Arten. Und je genauer man die Fossilien untersucht, desto weniger Arten kann man unterscheiden. Manche Arten aus der Hell-Creek-Formation sind in jüngster Zeit ein zweites Mal ausgestorben, dieses Mal aus paläontologischen Gründen. Mit den wachsenden Kenntnissen über das Wachstum der Dinosaurier stellt man immer wieder fest, dass es sich bei manchen Funden, die früher verschiedenen Arten zugeordnet wurden, in Wirklichkeit um unterschiedlich alte Individuen derselben Spezies handelt. Dracorex, Pachycephalosaurus und Stygimoloch, die man alle in der Hell-Creek-Formation gefunden hatte, galten früher als unterschiedliche Arten

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von Dinosauriern mit kuppelförmigem Schädel. Heute wissen wir, dass Dracorex und Stygimoloch in Wirklichkeit Jugendstadien von Pachycephalosaurus sind. Viele andere Arten wurden nicht anders eingeordnet, sondern sie verschwanden tatsächlich. Der größte Rückgang der Artenvielfalt in der 140 Millionen Jahre langen Geschichte der Dinosaurier ereignete sich in den zehn Millionen Jahren vor dem Einschlag des Meteors. Irgendeine Ursache machte bereits vielen Dinosaurierarten den Garaus, bevor der Meteor ihnen den Todesstoß versetzte. Dieser Vorgang interessiert mich stärker als das Massenaussterben selbst; vielleicht liegt es daran, dass der Mechanismus unbekannt und sehr schwer zu verstehen ist. Ein Asteroideneinschlag ist im Kern eine einfache Angelegenheit. HerauszuÀnden, welche Verheerungen er im Einzelnen anrichtete, mag eine schwierige Aufgabe sein, aber dass er die Welt ins Chaos stürzte, liegt auf der Hand. Dagegen haben wir keine Ahnung, warum viele Dinosaurierarten in den zehn Millionen Jahren vor dem großen Aussterben so rapide verschwanden. Solche unbeantworteten Fragen verstärken nur das Gefühl des Staunens, das man empÀndet, wenn man in der HellCreek-Formation steht und die Kohle sieht, die das Ende der Kreidezeit kennzeichnet. Rundherum erkennt man Elemente einer fossilen Momentaufnahme der Welt unmittelbar vor einer großen Katastrophe. Wenn man nach Fossilien gräbt, entdeckt man nicht nur neue Arten. Jedes Fossil ist ein Pixel in jenem immer genaueren Bild, das wir uns von dem Augenblick vor dem großen Aussterben machen können. Das ist der Zeitrahmen, in dem man sich im Kreis GarÀeld beÀndet: der Augenblick vor dem Ende. Oder aber man besetzt die Gegenwart, zumindest die Gegenwart im Kreis GarÀeld, wo sie sicher ein wenig anders

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aussieht als beispielsweise in Berkeley, New York oder Washington. Glücklicherweise bilden das zeitlose Gefühl der Weidelandschaften von GarÀeld, die geringe Bevölkerungsdichte, die nächtliche Ruhe und der weite, offene Himmel einen gewissen Puffer gegenüber der zeitlichen Kluft, sodass es sich nicht ganz so seltsam anfühlt, wenn man die Erdzeitalter überbrückt. Eines aber bietet das Gestein im Kreis GarÀeld nicht: einen Eindruck davon, was zwischen damals und heute geschah. Das Leben ging in diesem Abschnitt der ErdoberÁäche mit dem großen Aussterben nicht zu Ende. Volle 65 Prozent aller Arten überlebten, manchen ging es sogar besonders gut, und viele neue entstanden. Spuren dieser Ereignisse haben sich hier aber nicht erhalten. Die Ablagerungen setzen sich nach der K/T-Grenze noch einige Millionen Jahre lang fort. Ein Teil dieses Zeitraums hat sich in den Ablagerungen in und um Jordan erhalten; sie ähneln stark denen der Hell-Creek-Formation, nur sind sie nicht grau, sondern hellbraun, sie enthalten mehr Kohle, und sie deuten darauf hin, dass die Gegend sumpÀger war als vor dem Massensterben. Das Paläozän dauerte weitere zehn Millionen Jahre und ist im Ödland des Kreises GarÀeld zum Teil ebenfalls zu erkennen. Dann aber ist Schluss. Das Leben ging in dem Gebiet weiter, aber Sedimentgestein aus der fraglichen Zeit gibt es hier nicht. Die ErdoberÁäche ist ein Flickenteppich, in dem Gestein aus verschiedenen Zeiten offen liegt; sie ähnelt einer Leinwand, die viele Male übermalt wurde, wobei die einzelnen Bilder an verschiedenen Stellen durchschimmern, weil die Farbe dicker ist oder hier und da von neugierigen Kunsthistorikern abgekratzt wurde. Wenn wir uns eine Vorstellung davon verschaffen wollen, welchen Weg diese Region der Erde von damals bis heute einschlug, müssen wir uns anderen Fossilfunden zuwenden.

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Davon gibt es viele. Schon um des Zusammenhangs willen lohnt es, innezuhalten und einige Lücken zu füllen.

Von den Dinosauriern bis heute Was spielte sich seit jener Zeit in Nordamerika ab? Die Antwort: nahezu alles, was man sich vorstellen kann. Der Kontinent und die ganze Welt erlebten geologische und klimatische Umwälzungen. Die Säugetiere entwickelten sich zu immer größerer Vielfalt, und dabei entstanden auch Formen, die uns heute exotisch erscheinen. Mit ihren vielen Arten und Verhaltensweisen reichten sie an die Dinosaurier heran, auch wenn diese in der Berichterstattung meist den größeren Raum einnehmen; das liegt vielleicht daran, dass es auch heute so viele Säugetiere gibt, nicht zuletzt die Menschen. Man ist leicht versucht, in den Säugetieren armselige Nachfolger der Dinosaurier zu sehen; dabei sollte man aber bedenken, dass es sie bereits während des gesamten Dinosaurierzeitalters gab. Nur eines änderte sich, nachdem alle Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel ausgestorben waren: Die Säugetiere wurden zu den beherrschenden Landtieren, die sie heute noch sind. Der Meteoriteneinschlag war eine Krise, die aber für das Leben auf der Erde insgesamt beherrschbar blieb. Und was das Gestein angeht, auf dem wir alle leben: Die Rocky Mountains stiegen weiterhin in die Höhe, andere Gebirgszüge erhoben sich im amerikanischen Westen, und in der Mitte Nordamerikas verschwanden Meere, um später wieder aufzutauchen. Als die Auseinanderentwicklung der Säugetiere begann, herrschten auf den heutigen Hochebenen im Osten Montanas die Lebensbedingungen eines Dschungels. Die Entstehung

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dieser Lebewesen und die Entwicklung ihrer ungeheuren Formenvielfalt machen den Verlauf der Evolution ebenso augenfällig deutlich wie das Dinosaurierzeitalter oder die Evolution der Vögel, die mit der explosionsartigen Vermehrung der Säugetierarten zusammenÀel. Bei den Säugetieren entstanden alle möglichen Formen und Größen, und das in vertrauten Kombinationen: sehr große PÁanzenfresser wie die Uinatheren; Raubtiere, die Fleisch mit den Zähnen zerteilen konnten; kleine Tiere, die Mäusen oder Spitzmäusen ähnelten; schnelle Tiere (Hirsche, Antilopen und ihresgleichen) und langsame Tiere (die Faultiere). Alle diese höchst unterschiedlichen Lebewesen besaßen in verschiedenen Abwandlungen den Grundbauplan der Säugetiere. Alle hatten ein Fell und vier Gliedmaßen mit jeweils fünf Fingern an Händen und Füßen sowie ein Herz, eine Lunge und ein Gehirn. Das Gehirn war durch jene uralte Schädelstruktur geschützt, die es schon gab, bevor irgendjemand an ein Fell dachte. Dass Größenveränderungen sich schnell abspielen können, begreift man sofort: eine abweichende Wachstumsregulation, ein paar Gene, die zu unterschiedlichen Zeiten ein- oder ausgeschaltet werden und mehr oder weniger Regulationsproteine produzieren, und schon fängt das winzige Säugetier an zu brüllen oder zu bellen. Mit der Größe änderte sich zwangsläuÀg auch die Körperform. Mit der Ernährung veränderten sich die Zähne. Je nachdem, welche Nahrung verfügbar war, veränderten sich Verdauungsorgane und Stoffwechsel. Aber während der gesamten 65 Millionen Jahre war der Grundbauplan der Säugetiere immer zu erkennen. Diese Zeit ist zu lang, um jede einzelne Veränderung nachverfolgen zu können, die sich im Inneren des Kontinents oder weltweit abspielte, als sich bei einem Ast der Säugetiere – den Primaten – ein immer größeres Gehirn und neue Verhaltens-

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weisen entwickelten. Die ersten Homininen erschienen nach dem derzeitigen Kenntnisstand vor rund sechs Millionen Jahren auf der BildÁäche, also kurz nach dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen, der vermutlich vor sechs bis acht Millionen Jahren lebte. Die Abfolge der menschenähnlichen Formen, die schließlich zum Menschen führte, ist lang und nicht vollständig geklärt. Wir wissen aber, dass körperlich und verhaltensmäßig moderne Menschen erst vor ungefähr 50 000 Jahren erstmals Afrika verließen. Danach verbreiteten sie sich schnell über die ganze Welt. Wann die ersten Menschen nach Amerika kamen, ist ein wenig umstritten. Die ältesten zweifelsfreien Belege für ihre Einwanderung sprechen dafür, dass der bis dahin menschenleere Kontinent vor etwas mehr als 13 000 Jahren besiedelt wurde. Diese sogenannten Clovis-Menschen jagten Mammuts und andere große Säugetiere mit charakteristischen steinernen Speerspitzen. Die ersten derartigen Spitzen wurden bei Clovis in New Mexico gefunden. Möglicherweise wanderten die Menschen aber auch schon früher ein: Funde von manchen Stellen, beispielsweise aus Monte Verde in Chile, wurden auf ein Alter von über 14 000 Jahren datiert und liefern Anhaltspunkte für eine sesshafte, nichtnomadische Lebensweise. Dies würde die Vermutung nahelegen, dass Menschen bereits vor den Jägern von Clovis aus Asien in die Neue Welt eingewandert waren. Die erste Kultur, die in Nordamerika an vielen Stellen vertreten ist, ist aber die der Clovis-Jäger; sie verbreiteten sich schnell über den Kontinent. Zur Zeit ihrer Einwanderung zogen sich gerade die letzten Gletscher zurück, und wo sich heute die Beringstraße beÀndet, existierte zu jener Zeit eine passierbare Landbrücke aus Asien. Sollten andere Menschen schon früher nach Nord- und Südamerika gekommen sein,

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hinterließen sie in der Umwelt keine Spuren, die wir bereits gefunden hätten. Die Clovis-Menschen trafen auf Tiere, die vor ihnen noch nie ein Mensch gesehen hatte: die letzten großen Säugetiere der Eiszeit. Mammuts und Mastodons waren weit verbreitet. In geringerer Zahl dürfte es auch riesige Kurzschnauzenbären gegeben haben, die größer waren als Grizzlys. Langhornbisons lebten in großer Zahl, und auch einige Faultiere hatten ebenso überlebt wie Tapire, eine riesige Biberart, Pferde und andere Tiere. Sie alle – die eiszeitliche Megafauna – verschwanden sehr schnell, und zwar genau zu der Zeit, als die Clovis-Menschen jagend nach Osten und Süden zogen. Eine Zeit lang galten diese Jäger als menschliches Gegenstück zum Einschlag eines Chicxulub-Meteors, als zerstörerische Welle, die in östlicher Richtung über den Kontinent hinwegfegte und auf eine seltsame Weise die Einwanderung der Europäer von Osten nach Westen viele Jahrtausende später vorwegnahm. Einer neueren Ansicht zufolge spielte auch der Klimawandel für das Aussterben eine Rolle. Tim Flannery vertritt in seinem ausgezeichneten Buch The Eternal Frontier 1 nach wie vor die Ansicht, die Clovis-Menschen hätten die großen Säugetiere sehr schnell ausgerottet; er weist darauf hin, dass man keine Kunstwerke dieser Menschen gefunden hat und dass sie vermutlich in einfacheren Unterkünften lebten als die älteren asiatischen Kulturen, von denen sie abstammten. Flannery äußert die Vermutung, sie hätten ihre gesamte Arbeit in die schönen, tödlichen Clovis-Steinspitzen gesteckt. Nach seiner Schätzung gelang es ihnen in weniger als 300 Jahren, die großen eiszeitlichen Säugetiere in Nordamerika auszurotten. 1 Ewige Pioniere: Eine Naturgeschichte Nordamerikas und seiner Bewohner in fünf Akten. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2007 (Anm. d. Übers.).

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Ob er Recht hat oder nicht, eines ist klar: In der Zeit vor 13 000 Jahren, als die Clovis-Menschen einwanderten, veränderten sich für die Tiere Nordamerikas die ökologischen Verhältnisse. Aus Asien wanderten Braunbären und Elche ein. Die Grauwölfe, eine weltweit verbreitete arktische Spezies, traten an die Stelle der größeren Art Canis dirus. Immer stärker boten die Hochebenen das Bild, das wir heute noch kennen. Durch das Klima dürfte sich die Vegetation allerdings verändert haben, und die großen Herden der kleineren Kurzhornbisons erschienen erst auf der BildÁäche, als die Langhornbüffel ausgestorben waren. Manchen Befunden zufolge wurden sie vor 12 000 Jahren in großer Zahl in den Tod getrieben, als die modernen Bisons aus Alaska einwanderten. Nach Flannerys Vermutung könnten die ersten amerikanischen Ureinwohner zur Entstehung der riesigen Bisonherden beigetragen haben, mit denen es die Europäer später zu tun bekamen: Sie bedienten sich des Feuers und schufen damit die Prärien, die das Wachstum von Millionen dieser Tiere begünstigten. Das Ödland der Hell-Creek-Formation im Kreis GarÀeld sah geologisch für die Clovis-Menschen genauso aus wie für uns. Sie mussten sich mit der gleichen unwirtlichen Umwelt auseinandersetzen wie wir, wenn wir Fossilien suchen. Aber die Welt um sie herum war ganz anders. Die Bisons hatten sich seit 10 000 Jahren vermehrt, und die Kulturen der Jäger, die auf die Tiere angewiesen waren, hatten die Hochebenen erreicht. Einen bemerkenswerten Fund machte man in der Nähe der Ortschaft Wilsall etwa 65 Kilometer nordöstlich von Bozeman: eine aufsehenerregende Ansammlung 11 000 Jahre alter Clovis-Steinspitzen, die offenbar zusammen mit einem Kind von ungefähr 18 Monaten bestattet worden waren. An der gleichen Stelle – sie wird nach den Eigentümern

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des Grundstücks als Anzick-Fundstätte bezeichnet – entdeckte man die Knochen eines zweiten, sechs bis acht Jahre alten Kindes. Dieses Kind jedoch starb der Radiokarbondatierung zufolge ungefähr 2 000 Jahre später. Zu jener Zeit wandelten sich die Kulturen, aber das ging im Vergleich zu den hektischen Veränderungen unserer Zeit langsam vonstatten. Von New York, Los Angeles oder auch Bozeman aus betrachtet, wirken 2 000 Jahre in der Steinzeit wie eine verträumte, unbewegliche Phase, in der das Land scheinbar ewig gleich war. In einem Lager im Ödland ist das gleiche Gefühl des Verlorenseins in einer Zeit, die sich in geologischem Tempo vorwärts bewegt, geradezu mit den Händen zu greifen. Aber dann, gegen Abend, holt man die Laptops heraus, und die Satellitenschüssel verbindet uns mit der Außenwelt, ihrem Tempo und der damit verbundenen Ungeduld. Was hätte ein Clovis-Jäger damit anfangen können – nicht mit unseren Apparaten, sondern mit unserem Gefühl, selbst Verzögerungen von wenigen Sekundenbruchteilen nicht ertragen zu können? Über Jahrtausende hinweg waren die Menschen, die in Montana auf die Jagd gingen und Steine bearbeiteten, zu Fuß unterwegs. Sie trieben die Büffel über Felskanten in den Tod und richteten an der Stelle, an die sie gestürzt waren, ein Lager zum Zerlegen ein. In Montana und anderen Regionen der Hochebenen gibt es Felsklippen, an deren Fuß eine Ansammlung von Büffelknochen darauf hinweist, dass die gleiche Stelle über Hunderte oder sogar Tausende von Jahren hinweg dazu diente, Bisons in den Tod zu treiben. Das alles änderte sich, als die Europäer kamen: zuerst die Spanier mit ihren Pferden, später Franzosen und Engländer, die in den heutigen Vereinigten Staaten und Kanada nach Westen drängten. Im Jahr 1492 war der Kontinent

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bevölkerungsreich und von vielen Indianergruppen mit unterschiedlicher Sprache und Kultur besiedelt. Viele von ihnen waren Bauern; das galt allerdings nicht für die Blackfeet sowie später für die Sioux und Crow in Montana. Nachdem die Spanier das Pferd eingeführt hatten, veränderte sich das Leben auf den großen Ebenen. Jetzt entstand die allgemein bekannte Indianerkultur mit reitenden Kriegern in rafÀnierter Kleidung. Coronado besuchte 1541 die WichitaIndianer. Im 17. Jahrhundert brachten Pelzjäger den Stämmen im Osten erstmals Gewehre mit. Während die Weißen immer weiter nach Westen vordrangen, wanderten die vertriebenen Indianerstämme mit ihren neuen Waffen in die gleiche Richtung. Der Historiker Alvin Josephy schreibt: „In den 1740er Jahren verfügten nahezu alle Indianerstämme im östlichen und westlichen Teil der großen Ebenen und im Norden bis zu den Flussniederungen des Saskatchewan River in Kanada über Pferde.“ Ende des 18. Jahrhunderts, so Josephy weiter, also zu der Zeit, als Lewis und Clark das Innere des Kontinents bereisten, erlebte die aus Filmen bekannte Kultur der großen Ebenen ihre Blütezeit mit kriegerischem Kopfschmuck, Speeren, Reiterkunststücken und transportablen Tipidörfern. Diese Indianer waren keine Bauern, sondern Jäger und Kämpfer. Die westlichsten landwirtschaftlichen Siedlungen waren Dörfer am Ufer des Missouri in North und South Dakota. Lewis und Clark kamen im Frühjahr 1805 ins heutige Montana. Im Herbst 1804 hatten sie mit ihrer Expedition in einem Dorf der Mandan im heutigen North Dakota Station gemacht. Die Mandan waren Landwirte und KauÁeute. Im Frühjahr 1805 verließen die beiden das Indianerdorf. Mit Sacajawea, der Frau des frankokanadischen Pelzjägers Toussaint Charbonneau, fuhren sie mit sechs Kanus und zwei Einbäumen den

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Missouri hinauf. Stephen Ambrose schreibt in Undaunted Courage, seinem Buch über die Expedition von Lewis und Clark: „Nach achttägiger Reise passierte die Expedition den am weitesten stromaufwärts gelegenen Punkt am Missouri, den Weiße nach Lewis’ Kenntnis zuvor bereits erreicht hatten.“ Ihre weitere Reise, unter anderem auch durch die öde Landschaft im heutigen Kreis GarÀeld, verlief ohne besondere Vorkommnisse. Nördlich des Flusses lag das Gebiet der Blackfeet, die sie aber nicht zu Gesicht bekamen. Über das Land südlich davon schrieb Lewis am 17. Mai, wenige Tage bevor die Gruppe an den Musselshell River kam: „Die große Zahl breiter, völlig trockener Flussbetten, die wir täglich überqueren, lässt auf eine nur schlecht bewässerte Landschaft schließen. Ich fürchte, genauso verhält es sich mit dem Land, das wir während der letzten 15 oder 20 Tage durchquert haben.“ In demselben Eintrag erwähnt er auch, Clark sei fast von einer Klapperschlange gebissen worden, womit er eines der herausragenden Merkmale dieser Landschaft benennt. Zwei Tage später berichtete Clark in seinem Tagebuch über eine der vielen Begegnungen mit einem Grizzlybären – den sie wie üblich töteten – und über eine gewalttätige Auseinandersetzung mit einem weniger berechenbaren Feind. „Der Hund von Captain Lewis wurde schlimm von einem verwundeten Biber gebissen und wäre fast verblutet.“ Dieser Vorfall wurde von Historikern kaum kommentiert, aber er spricht für die Entschlossenheit der Biber. Die Expedition hielt sich in der Region und in den weiter westlich gelegenen Missouri Breaks nicht lange auf. Ihr weiterer Weg führte sie an den Oberlauf des Missouri, quer durch die Rocky Mountains und dann zum PaziÀk. Auf dem Rückweg im Jahr 1806 trennten sich Clark und Lewis. Clark und seine Leute fuhren den Yellowstone River entlang und kamen in den Süden des Hell-Creek-Gebiets.

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Die Expedition von Lewis und Clark kennzeichnet einen weiteren wichtigen Schritt im Vordringen der europäischen Amerikaner. Mit ihrer Reise als solcher richteten sie zwar kaum Schaden an, aber sie waren nur die Speerspitze; hinter ihnen kam die Vorhut der Besiedelung durch Weiße: Trapper und KauÁeute. Der Trapper Jim Bridger, der für sein wildes, zupackendes Wesen bekannt war und zum Namenspatron der des Schutzgebietes Bridger Wilderness in Montana wurde, drang nicht mit dem reinen Unternehmergeist, den die Amerikaner so hoch schätzen, in völlig unbekanntes Territorium vor. Er sah das Gebiet vielmehr erstmals als Mitglied der staatlich Ànanzierten Expedition von Lewis und Clark. In den nachfolgenden Jahrzehnten hielten sich nur wenige Indianer oder Weiße lange in der Ödnis im Osten Montanas auf, es sei denn, sie wollten Büffel jagen. Und das Ausmaß eines regelrechten Gemetzels erreichte die Büffeljagd erst, als nach dem Bürgerkrieg die Eisenbahn gebaut wurde. Während der Indianerkriege trug die Regierung tatkräftig dazu bei, den Westen unter die Knute der Zivilisation zu bringen. Die berühmteste Schlacht im Feldzug gegen die ursprünglichen Bewohner des Westens war vermutlich die am Little Big Horn; sie fand am 26. Juni 1876 statt, acht Tage vor dem 100. Jahrestag der Unabhängigkeit. Wie zumindest früher jedes amerikanische Schulkind wusste, siegten in dieser Schlacht die Indianer, die aber in dem Krieg insgesamt auf verlorenem Posten standen. Das Little Big Horn liegt südwestlich des Kreises GarÀeld. In seinem kürzlich erschienenen Buch Hell Creek, Montana: America’s Key to the Prehistoric Past berichtet der Wissenschaftler Lowell Dingus vom American Museum of Natural History, wie Sitting Bull und 400 weitere Indianer nach der Schlacht von Colonel Nelson A. Miles verfolgt wurden. Der Oberst blieb Sitting Bull im Herbst 1876 quer durch die Wüste von

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Hell Creek auf den Fersen, wobei er sich mit widrigem Gelände und dem bevorstehenden Winter auseinandersetzen musste. Im November lagen die Temperaturen bereits bei minus 40 Grad. Sitting Bull fühlte sich offensichtlich von der Hell-CreekRegion angezogen, weil es dort gute Jagdgründe gab. Die Büffel waren dort noch zu Hause und ernährten sich von dem kurzen Gras der westlichen Prärie. Am Ende jedoch hatten sowohl Sitting Bull als auch die Büffel nichts mehr zu lachen. Der Indianer entkam Miles und Áoh über die Grenze nach Kanada. Im Jahr 1881 kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück und zog mit Buffalo Bill Cody umher. Am 15. Dezember 1890 schließlich wurde er in den Badlands von North Dakota von Indianerpolizisten getötet, die ihn festnehmen sollten, weil er das Reservat von Standing Rock verlassen hatte. Zwei Wochen später tötete die Armee bei Wounded Knee mehr als 170 Sioux, darunter viele Frauen und Kinder. Auch die Büffel, auf die sowohl die Sioux als auch viele andere Indianer im Mittleren Westen angewiesen waren, gab es nicht mehr. Die meisten von ihnen wurden natürlich wegen ihres Felles und ihres Fleisches von Jägern getötet, nachdem die Eisenbahnlinien sich durch die Prärie zogen. Diese kommerzielle Jagd wurde politisch von einigen Generälen und anderen unterstützt, die zu Recht damit rechneten, dass die Indianer ohne Büffel keinen Widerstand mehr leisten konnten. Außerdem brachte sie viel Geld. Einige der letzten verbliebenen Bisons im Ödland des späteren Kreises GarÀeld wurden im Namen der Wissenschaft getötet. William T. Hornaday war 1886 im Gebiet von Hell Creek unterwegs, um eine ausreichende Zahl von Bisons für eine Ausstellung der Smithsonian Institution zu beschaffen, bevor die Tiere völlig ausstarben und keine lebenden Exemplare

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mehr zu bekommen waren. Hornaday hatte wissenschaftliche Motive und ging nur widerwillig auf die Jagd; er bemühte sich nachdrücklich darum, die Büffel vor dem endgültigen Aussterben zu bewahren. Andererseits tötete er aber die erforderliche Zahl von Tieren, und als die Ausstellung in Washington eröffnet wurde, erfreute sie sich großer Beliebtheit. In anderen Fällen wurden die Bisons, die zu jener Zeit kurz vor dem Aussterben standen, weder wegen ihres Fleisches noch wegen ihres Felles oder aus wissenschaftlichen Gründen getötet, sondern einzig und allein aus sportlichen Motiven. Jäger, die zum Vergnügen und wegen der Trophäen auf die Jagd gingen, schimpften über die kommerziellen Jäger, während sie gleichzeitig hektisch die Bisons töteten, bevor keine mehr übrig waren. Die Bisons starben nie völlig aus, waren aber kurz davor. Die heute noch lebenden Exemplare stellen einen weiteren Versuch dar, die Vergangenheit wieder auÁeben zu lassen. Das ist in diesem Fall einfacher als die Neuerschaffung von Dinosauriern, aber auch hier gab es zahlreiche Pannen. Noch heute repräsentieren einige reinrassige Herden die DNA der Bisons, die 1491 auf den Ebenen des Mittleren Westens lebten. In vielen anderen Fällen jedoch handelt es sich um Tiere, die in dem Versuch, ihre Zahl wieder zu vermehren, mit Rindern gekreuzt wurden. Sind sie echte Bisons? Ihr Fleisch schmeckt sicher gut, aber sowohl für wissenschaftliche Untersuchungen als auch um der emotionalen Befriedigung willen – man will wissen, dass man Tiere der gleichen Abstammungslinie vor sich hat, die von den amerikanischen Ureinwohnern schon vor Jahrtausenden für den Büffelsprung genutzt wurde – braucht man die reinrassigen Nachkommen. Nachdem die Büffel verschwunden und die Indianer besiegt waren, erlebte der Osten von Montana eine kurze, untypische

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Periode des Aufschwungs. Über sie berichtet K. Ross Toole in seinem Buch Montana: An Uncommon Land. Von 1880 bis 1886 herrschte ein relativ mildes Klima, und die Rinderherden wurden auf den großen, freien Flächen fett. Der Winter 1886/87 war anders. Wie Toole berichtet, erlitten die Rinderzüchter in diesem „harten Winter“ katastrophale Verluste: Manche Herden wurden um 75 bis 80 Prozent dezimiert. „Im Januar war es bitterkalt“, schreibt er. „Es bestand die Hoffnung, dass der Februar das Tauwetter bringen würde.“ Aber „die Temperaturen in Glendive“, das unmittelbar östlich des Kreises GarÀeld liegt, „betrugen vom 1. bis 12. Februar durchschnittlich minus 40 Grad“. Im März dann, nachdem der heiße „Chinook“-Wind eingesetzt hatte, „lagen in jedem Graben, in jeder Schlucht, entlang der Flussbetten und verstreut über die glatte Ebene die verwesenden Kadaver von Tausenden und Abertausenden Rindern“. Die weiten, offenen Flächen verschwanden, als Rancher sich ansiedelten und die Rinder- und Schafzucht in der Form praktizierten, die hier noch heute üblich ist. Der Kreis GarÀeld erholte sich in den 1890er Jahren und nahm zum Teil seinen heutigen Charakter an; nur der Missouri war natürlich noch nicht gestaut, der Fort Peck Lake existierte noch nicht, und das Charles M. Russell National Wildlife Refuge war noch nicht eingerichtet.

Die Grabungen beginnen Die ersten Amerikaner europäischer Abstammung in den Westen, um Fossilien zu suchen. In Montana war Ferdinand Hayden einer der ersten Sammler. Er fand 1854 in der Judith-River-Formation einen Zahn eines Entenschnabel-Dinosauriers

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aus der späten Kreidezeit. Zu jener Zeit tobten die Indianerkriege, und nach einem historischen Bericht über die ersten Paläontologen nahm Hayden einen Indianernamen an, der auf die damaligen Gefahren der paläontologischen Forschung hinwies: „der Mann, der im Laufen Steine aufsammelt“. Fossilien waren den Indianern aber wohl bekannt; wenn Hayden diesen Namen trug, muss es sich bei den Steinen, die er aufsammelte, also nicht unbedingt um alte Knochen gehandelt haben. Die Skelette von Dinosauriern, Säugetieren, Reptilien und anderen Lebewesen wurden schon in den gesamten 13 000 Jahren, seit die ersten Amerikaner den Kontinent besiedelten, durch Verwitterung freigelegt. Auch diese ersten Amerikaner hatten natürlich Fossilien gefunden und ihre eigenen Interpretationen dazu abgegeben: Die Knochen von Mastodons, Mosasauriern und Pterosauriern fanden Eingang in Legenden über Donnertiere und Wasserungeheuer. Da man Muschelschalen und andere Überreste von Meereslebewesen an Stellen entdeckt hatte, die früher am Boden des Binnenmeers lagen, waren viele Indianerstämme überzeugt, dass ihr Land früher einmal unter Wasser gelegen hatte. Wie die Paläontologen, die nach ihnen kamen, so hatten auch sie die Vergangenheit im Geist rekonstruiert. Zu den ersten Sammlern in der Region des Kreises GarÀeld gehörte Barnum Brown vom American Museum of Natural History, der Mann, der auch die Hell-Creek-Formation identiÀzierte und ihr ihren Namen gab. Er kam kurz nach Arthur Jordan, einem ungewöhnlich unternehmungslustigen Mann, der als Junge aus Schottland eingewandert war und 1899 die Ortschaft Jordan, die ursprünglich nur eine Poststation war, gegründet hatte. Brown wurde 1902 zur Erkundung in die Region von Hell Creek geschickt. Sein Auftraggeber war Henry FairÀeld

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Osborn, der Paläontologe, der 1908 Präsident des Museums wurde und es während seiner Fossiliensammler-Blütezeit leitete. Der Auftrag eröffnete für Brown die Aussicht, zu einem der erfolgreichsten und bekanntesten Sammler von Dinosaurierfossilien zu werden. Er hatte zuvor bereits in Wyoming nach Fossilien gesucht und von Hornaday erfahren, dass solche Überreste auch in den Badlands nicht weit von Jordan durch Verwitterung freigelegt worden waren. Auf seiner ersten Reise fand er die Fossilien eines unbekannten Dinosauriers, den Osborn auf den Namen Tyrannosaurus taufte. Im Jahr 1908 entdeckte er ein vollständigeres Exemplar, zu dem auch ein gut erhaltener Schädel gehörte. Seither lockte die Hell-Creek-Formation ständig alle möglichen wissenschaftlichen und kommerziellen Fossiliensammler an, und im Laufe der Jahre hat man dort zahlreiche Überreste von Tyrannosaurus und anderen Dinosauriern gefunden. Sie wurden in drei Bundesstaaten von Paläontologen aus den gesamten Vereinigten Staaten untersucht. Die Gründe – das freiliegende, verwitterte Ödland – habe ich bereits beschrieben. Je karger eine Landschaft ist, desto mehr wird sie von Wasser und Wind erodiert. Je stärker sie aber zerstückelt und zerschnitten ist, desto mehr Fossiliensammler lockt sie an, denn diese sind darauf angewiesen, dass der Planet sich für uns öffnet. Wir können nur das freilegen, was die Kräfte der Natur bereits an die OberÁäche gebracht haben. Wie viele andere vor uns, so näherte sich also auch unser Team vom Museum of the Rockies dem Gestein der HellCreek-Formation. Die Formation ist zwar für ihren Reichtum an Fossilien von T. rex bekannt, aber diese Eigenschaft war nicht das, was uns anfangs angelockt hatte – auch wenn es sich später auszahlte. Wir wählten die Hell-Creek-Formation, weil

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sie nicht nur viele Fossilien enthält, sondern auch Fossilien vieler verschiedener Arten. An anderen Fundstätten entdeckt man immer wieder das Gleiche, beispielsweise viele Dinosaurier mit Entenschnabel. In Hell Creek dagegen kann man ein breites Spektrum von Dinosauriern, anderen Reptilien, Säugetieren und PÁanzen Ànden. Mit unseren geplanten Grabungen wollten wir eine Momentaufnahme dieses Ökosystems an einer ganz bestimmten Stelle herstellen und uns dabei auf einen möglichst engen Zeitrahmen konzentrieren. Kein Biologe würde annehmen, dass man ein Lebewesen verstehen kann, wenn man es isoliert betrachtet. Seine Lebensumstände, seine Nahrungsquellen, natürliche Feinde und unzählige andere Faktoren in seiner Umwelt haben EinÁuss darauf, wie es lebt und wie seine Evolution verläuft. Ein Blutegel lässt sich nicht erklären, wenn man nichts über seine Umwelt und die Tiere weiß, von denen er sich ernährt. Nicht weit von Choteau, in der Two-Medicine-Formation, hatten wir Ende der 1970er Jahre die ersten Nistplätze von Dinosauriern gefunden; es war uns gelungen, erstaunlich genau nachzuzeichnen, wie eine Nistsaison vor vielen Millionen Jahren ablief. Eine solche Genauigkeit würden wir in der Hell-CreekFormation nicht erzielen können, aber wir hofften auf Fossilfunde von vielen Dinosaurierarten sowie zahlreicher anderer Tiere (darunter Schildkröten und Weichtiere), PÁanzen und Pollen. Ich nahm ein Dutzend Kollegen mit, die an verschiedenen Instituten leitende Stellungen bekleideten, unter ihnen Bill Clemens aus Berkeley, der sich mit Säugetieren befasst; Joe Hartman aus North Dakota, dessen Spezialgebiet Muscheln und Schnecken sind; und Mark Goodwin, ebenfalls aus Berkeley, der sich als Paläontologe wie ich auf

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Dinosaurier spezialisiert hat. Außerdem fand ich private Geldgeber für die vor uns liegenden, voraussichtlich kostspieligen Jahre. Die Gruppe umfasste Geologen, Studenten, Botaniker und die Biochemikerin Mary Schweitzer. Alle arbeiteten unabhängig voneinander mit der gleichen Zielsetzung. Im Sommer waren wir mit bis zu 50 Personen im Freiland unterwegs, um das Gelände zu erkunden und die Funde auszugraben. Mit ihrer Katalogisierung und Analyse sind wir noch heute beschäftigt. Wir waren also darauf eingerichtet, nach ganz unterschiedlichen Fossilien zu suchen, und tatsächlich entdeckten wir eine ganze Reihe von Arten; die Formation ist aber so reich an Überresten von T. rex, dass wir allein im Jahr 2000 insgesamt fünf Funde machten. Der für unsere Forschung interessanteste Fund war am schwierigsten aus dem Boden zu holen. Am Morgen des 28. Juni machte sich Bob Harmon, der in Montana geboren ist und meine Grabungsmannschaft leitete, zur Erkundung auf den Weg. Mit dem Boot fuhr er zu einem Außenlager, um von dort rund zweieinhalb Kilometer zu Fuß zu gehen und nach guten Fundstätten zu suchen. Zur Mittagsrast ließ er sich an einer Felsklippe nieder. Nachdem er gegessen hatte, blickte er seitlich an der Klippe in die Höhe und sah dort etwas, das ein freiliegender fossiler Knochen zu sein schien. Daraufhin kletterte er zu einem sechs Meter hohen Felsvorsprung, aber an den Knochen kam er nicht heran; also begab er sich wieder zum Fuß der Klippe und ging zu dem Außenlager am Ufer des Stausees zurück. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte die Klippe noch einmal aufgesucht und dabei einen Doktoranden mitgenommen. Aber Bob holte keinen Doktoranden, sondern einen Klappstuhl. Mit ihm kletterte er wieder auf die sechs Meter hohe Klippe. Auf dem Felsvorsprung stapelte er ein

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paar Steine auf, stellte den Klappstuhl darauf, stieg auf den Stuhl und machte Fotos. Dabei entdeckte er noch zwei weitere Knochen. Das waren insgesamt drei, und nach meiner Faustregel ließen drei unterschiedliche Knochen von dem offensichtlich gleichen Tier den Schluss zu, dass dieses an Ort und Stelle gestorben und konserviert worden war. Die meisten Knochen werden im Laufe der Jahrmillionen durch Wind, Regen und Wasserläufe weit verstreut. Findet man drei von ihnen an der gleichen Stelle, so ist dies ein sicheres Zeichen, dass unter der OberÁäche noch mehr Überreste desselben Tieres liegen. Das Problem bestand in diesem Fall darin, dass die Hinweise auf das Skelett sich in einem Felsen befanden, der von dem sechs Meter hohen Vorsprung, auf den Bob geklettert war, noch weitere zwölf Meter in die Höhe stieg. Ich wollte mehr sehen, aber meine Knie versagen bei solchen Kletterpartien schon seit langer Zeit den Dienst. Also nahm ich Nels Peterson mit, einen Ingenieurstudenten und Bergsteiger. In seiner Begleitung waren noch mehrere andere Kletterer. Sie richteten oberhalb der Klippe eine Sicherungsstation ein und ließen sich von dort hinunter. Dann folgten kleine Bohrhämmer, und die Kletterer gingen an die Arbeit. Es war der Beginn einer Tätigkeit, die sich als jahrelange Knochenarbeit entpuppen sollte. Bei weiteren Aufenthalten an der Klippe fanden wir schließlich beide Hinterbeine, beide Oberschenkelknochen, eine Elle, eine Speiche, ein Stück des Unterkiefers und mehrere weitere Knochen. Am Ende besaßen wir mehr als 50 Prozent des Skeletts. Es war ein Tyrannosaurus, und wie ich bereits erwähnt habe, tauften wir ihnen zu Ehren von Bob auf den Namen B. rex. Dieses Skelett entführte uns weiter in die Vergangenheit als jedes andere. Damit meine ich nicht die Zeit, sondern

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Genauigkeit und Umfang unserer Kenntnisse. Mit seinen 68 Millionen Jahren ist es zwar auch das älteste Skelett von T. rex, aber das Zeitalter der Dinosaurier reicht mehr als 300 Millionen Jahren weit zurück, der Ursprung des Lebens sogar mehr als drei Milliarden. Viele Fossilien sind älter als B. rex, aber nur wenige wurden so eingehend untersucht. Es begann mit der Ausgrabung, die damals auf uns wirkte wie der Bau – oder vielleicht besser der Abriss – der Pyramiden. Wir – und damit meine ich sie – brauchten drei Jahre, um die Knochen freizulegen – drei Jahre, viele Doktoranden und zahlreiche große und kleine Bohrhämmer. Nachdem wir die Knochen vor uns hatten, war die Arbeit noch bei weitem nicht abgeschlossen. Die Fossilien mussten in Gips gehüllt werden, und da die Fundstätte so schwer zugänglich war, mussten die riesigen, in Gips gehüllten Brocken mit dem Hubschrauber abtransportiert werden. Der Oberschenkelknochen war sogar dafür zu groß, weshalb wir ihn in zwei Teile zerlegten. Diese zunächst nebensächliche Tatsache wurde für uns zum Anlass, das Gewebe im Inneren des Knochens genauer zu untersuchen.

2 Es ist ein Mädchen! Ein Schwangerschaftstest für T. rex Mithilfe der Mikroskope ist nichts so klein, dass es unseren Untersuchungen entgehen könnte; deshalb wird dort eine neue Welt für unser Wissen entdeckt. Robert Hooke

Als wir die Gipshülle des Oberschenkels von B. rex in zwei Stücke brachen, legten wir im Inneren des Fossils sehr gut erhaltenes Gewebe frei, das sich über 68 Millionen Jahre hinweg erhalten hatte. So lange war es her, seit B. rex, ein Tyrannosaurus-Weibchen, sich durch das üppige Dickicht und die Wälder eines von mehreren gewundenen Flüssen gespeisten Deltas bewegt hatte. Sie war aus dem Ei geschlüpft und 16 bis 20 Jahre herangewachsen, bevor sie die Geschlechtsreife erlangte und sich paarte. Ob es sich um ihre erste Paarung handelte, wissen wir nicht. Vielleicht starb sie, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Vielleicht hatte sie aber auch zuvor bereits ein Gelege versorgt, bis die Jungen aus den Eiern schlüpften. Aus heutiger Sicht mag es schmerzlich erscheinen, dass B. rex nahezu am Ende der 140 Millionen Jahre langen Herrschaft der Dinosaurier lebte, als wäre sie die Letzte ihrer Abstammungslinie. Aber nahe am Ende stand sie nur nach erdgeschichtlichen Zeitmaßstäben.

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Bis zum Abschluss der Kreidezeit sollten noch drei Millionen Jahre vergehen. Ihre Todesursache kennen wir nicht, aber wir wissen, dass sie schnell im Sediment begraben wurde: Große Teile des Skeletts sind gut erhalten; unter anderem war der Oberschenkelknochen in tonnenschwerem Gestein eingeschlossen, das wir mit Presslufthämmern entfernen mussten. Auch in der Gipshülle befand sich der Oberschenkelknochen noch in Resten des umgebenden Gesteins. Als wir die Hülle zweiteilten, war der Knochen noch nicht mit chemischen Konservierungsmitteln imprägniert, wie man dies üblicherweise bei Fossilienfunden macht, die den Elementen ausgesetzt waren, damit sie zumindest ihre äußere Form nicht weiter verlieren. Aber wenn man den Knochen vor weiteren Schäden durch Wasser und Wetter schützt, erschwert man damit möglicherweise seine Analyse im Labor: Das Konservierungsmittel kann in das Material eindringen und gerade die Substanzen verändern, für die man sich interessiert. Wie so oft in der Wissenschaft, spielte auch hier das Glück eine gewisse Rolle. Das Schicksal meinte es schlecht mit denen, die den Gipsmantel zweiteilen musste, und gut mit Mary Schweitzer, die davon proÀtierte. Ich bin durchaus bereit, Fossilien zu zerbrechen oder Dünnschnitte davon herzustellen, die man unter dem Mikroskop betrachten kann. Ich bin auch dafür, eine gewisse Menge Fossilmaterial zu pulverisieren, um es dann chemisch zu analysieren. Aber wenn wir diesen Oberschenkelknochen von B. rex nicht vor Ort hätten zweiteilen müssen, hätten wir es wahrscheinlich auch im Museum nicht getan. B. rex war ein großartiger, in anstrengender Arbeit sichergestellter Fund. Mary brauchte für ihre Arbeit gut erhaltene fossile Knochen, die nicht chemisch behandelt waren, und hoffte wie ich auf neue Erkenntnisse. Ich bin mir aber

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nicht sicher, ob sie sich gerade diesen Oberschenkelknochen ausgesucht hätte. Aber die Notwendigkeit kann der Forschung ebenso neues Material liefern wie ErÀndungen. Als wir das Innere des Oberschenkelknochens sahen und seinen Geruch bemerkten – Fossilien aus der Hell-Creek-Formation haben in der Regel einen starken Duft, der von dem erhalten gebliebenen organischen Material ausgeht –, war uns sofort klar, dass es sich um ein hervorragendes Forschungsobjekt für Mary handelte. Also packten wir die Stücke des Oberschenkelknochens von T. rex ein, und Mary nahm sie mit an die North Carolina State University, wo sie ihr erstes Semester als Assistenzprofessorin antreten wollte. Zuvor hatte sie zehn Jahre lang an dem Museum gearbeitet und Forschungen betrieben; dabei hatte sie sich eingehend mit dem mikroskopischen Aufbau fossilen Knochengewebes beschäftigt, und gerade jetzt, als wir im August von der Freilandsaison zurückkehrten, verließ sie uns. Mary nahm die Bruchstücke sofort in ihre Obhut. „Ich habe die Kiste gepackt und mit nach Raleigh genommen“, sagte sie. „Als wir dort ankamen, fragte meine technische Assistentin Jen [ Jennifer Wittmeyer], ohne die ich völlig hilÁos gewesen wäre: ‚Was willst Du als Erstes machen?‘ Ich erwiderte, ich hätte mit dem Knochen von T. rex etwas vor. Also haben wir das erste Knochenstück aus der Kiste geholt, und ich habe festgestellt: ‚Du liebe Güte, das ist ein Mädchen, und sie ist schwanger.‘ Ich habe das Knochenstück in die Hand genommen und umgedreht. Die innere OberÁäche war mit Röhrenknochenmark überzogen. Das ist ein FortpÁanzungsgewebe, das nur bei Vögeln vorkommt. Vögel unterliegen wegen ihrer sehr dünnen Knochen, die eine Anpassung an das Fliegen sind, gewissen Beschränkungen und produzieren kalkhaltige Eierschalen.“

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Die Skelettknochen sind also sehr leicht und können nur wenig Calcium liefern, aber die Vögel brauchen das Calcium für die Eierschalen. „Deshalb hat sich bei ihnen ein FortpÁanzungsgewebe entwickelt, das mit dem ersten Östrogenschub, der auch den Eisprung auslöst, eingelagert wird.“ Das Röhrenknochenmark wird schnell aufgebaut, enthält zahlreiche Blutgefäße und sieht wie eine schwammige, poröse Masse aus. Da Vögel eigentlich Dinosaurier sind und da auch T. rex zu der Dinosaurierfamilie gehört, auf die man die Abstammung der Vögel zurückführt, erschien es durchaus plausibel, dass sie Röhrenknochenmark besaßen. Die Paläontologen hatten schon lange darauf gehofft, Röhrenknochenmark bei Dinosaurierfossilien zu Ànden, aber bisher war es ihnen noch nicht gelungen. Wenn Mary mit ihrer ersten Einschätzung Recht hatte, war das nicht nur wissenschaftlich von großer Bedeutung, sondern auch eine Wonne für uns alle, die wir Dinosaurier lieben: ein Tyrannosaurus-Mädchen!

Die zweite Grabung Damit begann die zweite Ausgrabung von B. rex. Die erste war nach dem herkömmlichen Verfahren erfolgt: Wir wühlten im Gestein und legten die fossilen Knochen frei. Die zweite Ausgrabung könnte, wenn sie häuÀger angewandt wird, einen Wendepunkt der Paläontologie darstellen: Wir drangen nicht mit Zahnarztbohrer und Zahnbürste in das Fossil vor, sondern mit den Hilfsmitteln der chemischen und physikalischen Analyse. Unsere derzeitigen Kenntnisse über Dinosaurier und andere ausgestorbene Tieren sind zum größten Teil die Früchte von Ausgrabungen nach der ersten Methode. Ich be-

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werte dieses Wissen keineswegs gering. In Wirklichkeit kann man seinen Wert nicht hoch genug einschätzen. Die traditionelle Paläontologie hat ein Bild der Evolution auf der Erde gezeichnet. Die großen Skelette, die sich über uns in den Museumssälen erheben, sind spektakulär; sie sind aber nur Einzelbefunde im großen Wissensschatz. Ebenso wichtig sind Fossilien, an denen man erkennt, wie sich die Kieferknochen entwickelt haben, wann sich ein Zeh bewegte oder wann eine Schädelöffnung auftauchte: Mit ihrer Hilfe kann man nicht nur die Vergangenheit nachzeichnen, sondern auch den Ablauf der Evolution und letztlich die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie verläuft. Heute verfügen wir aber auch über neue Mittel, um die Vergangenheit nachzuzeichnen, und manche Paläontologen wenden sie an; sie setzen sich allerdings nicht so schnell durch, wie es vielleicht möglich wäre. Schon 1956 berichtete Philip Abelson über Aminosäuren in Fossilien, die mehr als eine Million Jahre alt waren. In den 1960er und 1970er Jahren machten andere Wissenschaftler deutlich, wie wichtig die Molekularbiologie für die Erforschung der Vergangenheit ist. Bruce Runnegar von der University of California in Los Angeles fasste die neue Sichtweise 1985 auf einer Tagung mit folgenden Worten zusammen: „Ich stehe auf dem ganzheitlichen Standpunkt, dass die Paläontologie sich mit der Geschichte der Biosphäre beschäftigt; deshalb sollten Paläontologen sich aller verfügbaren Informationsquellen bedienen, um die Evolution des Lebens und ihre Auswirkungen auf unseren Planeten zu verstehen. So betrachtet, sind die Fortschritte der jüngsten Zeit auf dem Gebiet der Molekularbiologie für die heutigen Paläontologen ebenso wichtig, wie es die vergleichende Anatomie für Owen und Cuvier war.“

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Aber Veränderungen herbeizuführen, ist nicht einfach. Die Fachgebiete der Wissenschaft sind keine Rennboote, sondern Ozeanriesen, die nur ganz langsam einen neuen Kurs einschlagen können. Das gilt für die Erforschung von Dinosauriern ebenso wie für alles andere. Außerdem stößt man, wenn man eine neue Richtung einschlagen will, auf beträchtliche Hindernisse. Zunächst einmal sind die Dinosaurierfossilien so alt, dass die Aufgabe, biologisches Material aus ihnen zu gewinnen, eine große Herausforderung darstellt. Natürlich graben wir immer noch Knochen aus, und das ist auch notwendig. Wir müssen aber auch tief ins Innere der Knochen blicken: in ihre chemische Zusammensetzung. Ein erster Schritt besteht darin, unser Blickfeld enger und tiefer zu fokussieren – wir betrachten mikroskopische Eigenschaften wie den inneren Aufbau der Knochen und analysieren dann im nächsten Schritt die Moleküle des Fossils. Mary gehört zu den Pionieren dieses Forschungsgebiets, und ich selbst als unverbesserlicher Ausgräber stelle auch ihre Arbeiten gern in einen ähnlichen Rahmen. Auch sie gräbt, aber der fossile Knochen ist für sie das Gleiche wie für uns der Tonstein der Hell-Creek-Formation, und bei den Fossilien, die sie ans Licht holt, handelt es sich nicht um Oberschenkel- oder Schädelknochen, sondern um Gewebe, Zellen und Moleküle; den Anfang machen dabei die Proteine, und eines Tages ist vielleicht sogar die DNA an der Reihe. Als Mary das Bruchstück des Oberschenkelknochens von B. rex in die Hand nahm und erklärte, der Dinosaurier sei ein schwangeres Weibchen, arbeitete sie bereits seit mehr als zehn Jahren auf diesem Neuland der paläontologischen Forschung. Ihr Weg in die wissenschaftliche Forschung war nicht geradlinig vom College bis zur Promotion verlaufen. Im Jahr 1989, als sie zum ersten Mal eine meiner Vorlesungen an der

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Montana State University besuchte, hatte sie gerade ein Ausbildungsprogramm in naturwissenschaftlicher Didaktik hinter sich gebracht. Sie war verheiratet, hatte drei Kinder und arbeitete als Lehrerin. „Das Lehrerexamen habe ich mitten im Jahr gemacht. Ich ging gern zur Schule, und als ich sah, dass Jack eine Vorlesung hielt, sagte ich zu ihm: ‚Da würde ich gern zuhören.‘ “ Also schrieb sie sich für einen Studiengang über Evolution ein. Aus ihrer Sicht war es eine zweischneidige Erfahrung. „Am Ende habe ich unglaublich hart gearbeitet, ohne dass es sich akademisch ausgezahlt hätte“, sagt sie. „Ich habe ein C bekommen1, aber das war nach meiner Einschätzung nicht gerecht. Dennoch war ich fasziniert, und zwar ganz und gar. Mir wurde klar, dass es für die Verbindung zwischen Dinosauriern und Vögeln, für die Evolution, für alle diese Dinge viel mehr Belege gibt, als ein Laie auch nur ansatzweise verstehen kann. Als ich mich näher damit beschäftigte, veränderten sich meine Denkweise und meine ganze Weltanschauung.“ Als sie in die Vorlesung kam, war sie Junge-Erde-Kreationistin gewesen: Sie hatte geglaubt, die Erde sei vor ein paar Jahrtausenden erschaffen worden. Diese Ansicht vertrat sie mehr oder weniger mangels besserer Alternativen. Viele ihrer Freunde waren ebenfalls Junge-Erde-Kreationisten, und obwohl sie in den Grundlagen der Biologie und anderer Naturwissenschaften recht gut Bescheid wusste, hatte sie sich noch nicht mit Evolutionsbiologie beschäftigt und kaum Gedanken auf das Thema verwendet. „Wie viele Junge-Erde-Kreationisten verstand ich die Beweise nicht“, sagt sie. „Als mir klar wurde, wie stichhaltig die Daten und Belege sind, musste ich meine Meinung überdenken.“ 1

Im US-Ausbildungssystem ist A die beste, F die schlechteste Note (Anm. d. Übers.).

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Wenn von dem KonÁikt zwischen Naturwissenschaft und Religion die Rede ist, muss ich jedes Mal an Mary denken. Sie ist ein Mensch mit einem starken religiösen Glauben und erklärt, dieser sei nur stärker geworden, als sie mehr über Naturwissenschaft erfuhr. Es ist ein sehr persönlicher Glaube, auf den sie in Unterhaltungen nicht von selbst zu sprechen kommt, aber wenn man sie fragt, redet sie sehr offen und deutlich darüber. Die stichhaltigen Belege für die Evolution und eine mehrere Milliarden Jahre alte Erde sind nach ihren Worten ganz etwas anderes als ethische Werte oder der Glaube an Gott. Als sie mit dem Studium der Paläontologie begann, kam sie aus einem Umfeld, in dem man annahm, dass „die Leute sich mit Evolution beschäftigen, weil sie Gott und seinen Geboten aus dem Weg gehen wollen“. Nun aber erkannte sie, dass Naturwissenschaft eine genau deÀnierte Methode zum Sammeln und Auswerten von Befunden ist. „Wenn ich mit den christlichen Gruppen rede oder Unterricht in meiner Klasse gebe, erkläre ich immer, dass Naturwissenschaft etwas ganz Ähnliches ist wie Fußball. Es gibt bestimmte Regeln, an die sich alle halten. Die Junge-Erde-Kreationisten spielen auf dem gleichen Spielfeld Basketball. Das ist nicht schön.“ Die entscheidende Frage lautet immer: Wird eine Schlussfolgerung oder Hypothese durch die Daten gestützt oder nicht? Das ist in ihren Augen etwas ganz anderes als die Dinge aus anderen Gebieten, „von denen ich weiß, dass sie wahr sind“, wie beispielsweise Glaube oder Moral. Ihr gedanklicher Ansatz passt gut zu meiner Methode, Naturwissenschaft zu unterrichten, ganz gleich, ob ich es mit Doktoranden oder mit Studienanfängern, die im Hauptfach Kunstgeschichte studieren, zu tun habe. Ich präsentiere ihnen keine Weltanschauung und kein System von Antworten, sondern einen Vorgang, eine Methode. Eine Diskussion über das

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Alter der Erde würde beispielsweise nicht mit den Antworten beginnen, sondern mit der Frage, wie man zu einer Antwort gelangt, und mit den einfachen Regeln, die der naturwissenschaftlichen Suche nach Antworten zugrunde liegen. Niemand unter den Studierenden in meinen Vorlesungen muss irgendetwas glauben, was ich oder jemand anderes sagt. Aber wenn wir Naturwissenschaft betreiben wollen, müssen wir uns mit Befunden auseinandersetzen. Nachdem Mary diese erste Vorlesung hinter sich gebracht hatte, arbeitete sie als Freiwillige in unserem Labor am Museum of the Rockies. Dabei interessierte sie sich nach und nach für manche Arbeiten immer stärker. „Ich hatte so viele Fragen“, sagt sie. Nachdem sie ungefähr eineinhalb Jahre lang Fossilien präpariert und alle im Labor mit Fragen gelöchert hatte, war eines klar: Ihr Interesse an Dinosauriern und Paläontologie würde sich allein durch ein solches freiwilliges Praktikum nicht befriedigen lassen. Schließlich sagte ich: „Mary, Sie müssen weiterstudieren. Finden Sie es selbst heraus. Hören Sie nicht immer nur anderen zu.“ Sie befolgte meinen Rat. Nach vier Jahren hatte sie einen Doktortitel, obwohl sie gleichzeitig arbeitete, unterrichtete und ihre Kinder großzog. Im Laufe der Arbeiten an ihrer Dissertation wirbelte sie in der düsteren Rumpelkammer der Dinosaurierforschung zum ersten, aber nicht zum letzten Mal eine Menge Staub auf. Das Thema ihrer Forschungsarbeiten, ja sogar das ganze Fachgebiet, auf das sie sich spezialisieren wollte, war Gegenstand von Zufall und Notwendigkeit. Sie beschäftigte sich mit der Feinstruktur der Knochen, weil sie dazu nicht für die zwei Monate, die eine Freilandsaison ansonsten dauert, Heim und Kinder verlassen musste. Es war eine gute Wahl. Die mikroskopische Untersuchung vorzeitlicher, fossiler Knochen – die Paläohistologie – war innerhalb der Paläontologie ein sehr

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vielversprechendes Forschungsgebiet. Sie beinhaltete das Potenzial für neue Erkenntnisse, die viel bedeutsamer waren als die Entdeckung eines neuen Triceratops-Skeletts oder auch einer ganz neuen Art, womit sie im Freiland hätte rechnen können. Im vergangenen Jahrhundert, als man im Westen Nordamerikas, in China und in anderen Regionen der Welt die großen Dinosaurierskelette entdeckte, war die Paläontologie weitgehend ein Sammlerspiel. Sie bezog ihre Romantik daraus, dass man neue Arten fand und öffentlich ausstellte. Noch heute Àndet die Entdeckung der größten, der kleinsten oder der neuesten Dinosaurierart mit Sicherheit den Weg in die Schlagzeilen. Damit will ich das Sammeln von Fossilien keineswegs schlechtmachen. Es ist die Grundlage für die gesamte Wissenschaft der Paläontologie und der Weg, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren. Die gefundenen Fossilien wurden auf vielerlei Weise genutzt; am wichtigsten war, dass man mit ihrer Hilfe den Verlauf der Evolution über Millionen von Jahren hinweg nachzeichnen konnte. Wenn wir uns von oben nach unten in die ferne Vergangenheit vorarbeiten, können wir herausÀnden, welche Dinosaurier zuerst da waren und welche später kamen. Wir erkennen, wie die Merkmale einer Tierart in späteren Epochen bei Nachkommen auftauchen, die sich mit neuen Eigenschaften – sogenannten abgeleiteten Merkmalen – von ihren Vorfahren abgespalten haben. Auf diese Weise konnte man die 160 Millionen Jahre lange Evolution der Dinosaurier an der Kante eines Oberschenkelknochens ablesen, an der Schrägstellung des Beckenknochens, der Länge der Hinterextremitäten, der Form von Schädel und Zähnen, den Fingern und Zehen, der Schädelwölbung oder dem als Waffe verwendeten Schwanz. Die Dinosaurier wurden

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vermessen und analysiert, und man unterteilte sie in Vogelbecken- und Echsenbecken-Dinosaurier mit ihren Untergruppen. Im Herbst 2006 zählten der Paläontologe Peter Dodson von der University of Pennsylvania und der Statistiker Steve Wang aus Swarthmore 527 bekannte Dinosauriergattungen, und diese repräsentieren ihren Berechnungen zufolge ungefähr 30 Prozent der Gattungen, die tatsächlich gelebt haben. Damit sind Dinosaurier gemeint, die keine Vögel waren. Viele dieser Gattungen, so die Vermutung der beiden Autoren, wird man niemals Ànden, weil sie nicht als Fossilien erhalten geblieben sind. Die Fossilfunde sind letztlich nur eine Stichprobe der Lebewesen, die es in der Vergangenheit gab. Zu einem Fossil zu werden, ist gar nicht einfach. Das Lebewesen muss in einer Umwelt sterben, in der es recht schnell begraben wird, und diese Bestattung muss von Dauer sein. Das Fossil muss von Sediment eingeschlossen werden und sich unter dem EinÁuss von Zeit und hohem Druck in Stein verwandeln. Der Stein muss geologische Veränderungen überstehen, die ihn umwandeln und das darin eingeschlossene Fossil zerstören können. Und wenn das Fossil schließlich gefunden und analysiert werden soll, müssen die langsamen geologischen Prozesse den Stein und den darin eingeschlossenen Schatz an die OberÁäche befördern, wo die Elemente das Geschenk auspacken können. Und dann muss noch jemand wie ich es Ànden, bevor die gleichen Elemente das Fossil zerstören. Fossilien waren immer selten und kostbar. Erst in jüngster Zeit wurde es allgemein üblich, sie aufzuschneiden oder in Stücke zu schlagen, um mikroskopische und chemische Untersuchungen vorzunehmen. Anfang der 1980er Jahre fuhr ich nach Paris, um zu lernen, wie man aus fossilen Knochen dünne, polierte Scheiben herstellt, die eine mikroskopische

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Untersuchung ihres inneren Aufbaus ermöglichen. Die Reise war kein getarnter Urlaub. Ich war kein Feinschmecker und hatte nicht das Bestreben, die Arbeiten der großen französischen Köche kennenzulernen. Wenn ich mir das Ziel hätte aussuchen können, ich hätte mich wahrscheinlich für eine trostlose, erodierte, fossilienreiche Region in der Mongolei entschieden. Damals wie heute waren Dinosaurier für mich Arbeit, Hobby und Leidenschaft. Ich hätte die Herstellung und Untersuchung von Dünnschnitten gern in meiner Nähe gelernt, wenn ich jemanden gefunden hätte, bei dem ich arbeiten konnte. Aber die Paläohistologie war ein sehr kleines Fachgebiet, und Armand de Ricqlès an der Sorbonne war für mich der bestmögliche Lehrer und Mentor.

Die Knochen und ihr Innenleben Die Paläohistologie – die Untersuchung sehr alten Gewebes und in meinem Fall insbesondere der Mikrostruktur von Dinosaurierknochen – erlebte ihren Aufschwung in den 1980er Jahren. Damals setzte sich in der Wissenschaft die Erkenntnis durch, dass viele Dinosaurier Warmblüter waren. Eines der wichtigsten Argumente, die dafür sprachen, waren die sogenannten Havers-Kanäle, kleine Hohlräume in den Knochen, in denen die Blutgefäße verlaufen. Manche Dinosaurierknochen waren voll von solchen Kanälen, das heißt, sie waren gut durchblutet – ein charakteristisches Merkmal der schnell wachsenden Knochen von Vögeln und Säugetieren. Die kaltblütigen Reptilien wachsen auf andere Weise, und ihre Knochen sehen auch anders aus. Allmählich erinnerten die Dinosaurier immer stärker an Straußenvögel und immer weniger an Alligatoren.

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Auch andere Befunde sprachen dafür, dass viele Dinosaurier im Gegensatz zu anderen Reptilien Warmblüter waren. Ihre Populationsstruktur, beispielsweise das Verhältnis von Räubern zu Beutetieren, sowie die BrutpÁege ließen darauf schließen, dass die Dinosaurier den am Boden nistenden Vögeln stärker ähnelten als allen heute lebenden Reptilien. Anfang der 1990er Jahre, als Mary ihre Examensarbeit schrieb, bedienten wir uns bereits neuer Methoden. Mit der ComputertomograÀe konnten wir den inneren Aufbau von Fossilien sichtbar machen, ohne sie zu beschädigen. Das Rasterelektronenmikroskop zeigte uns die kleinsten Einzelheiten. Mary erlernte und nutzte diese und andere Methoden, und die Dinosaurierpaläontologie hatte sich bereits so stark gewandelt, dass sie für ihre Arbeiten nicht mehr nach Paris reisen musste. Sie arbeitete mit Kollegen aus Fachgebieten außerhalb der Paläontologie in Montana und anderenorts zusammen. Und natürlich kam ihr die explosionsartig wachsende Leistungsfähigkeit der Computer zugute, die auf alle Bereiche der Naturwissenschaft tiefgreifende Auswirkungen hatte. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass die meisten von uns Anfang der 1980er Jahre noch keine E-Mails kannten; der Siegeszug der Personalcomputer begann gerade erst, und vom World Wide Web war noch keine Rede. In Paris hatten wir keine Handys. Im Sommer, bei der Freilandarbeit, hatten wir überhaupt kein Telefon. Stattdessen mussten wir uns der altertümlichen Technologie der Walkie-Talkies bedienen. Im Rahmen ihrer Dissertation wollte Mary die tragenden Knochen einiger großer, aufrecht gehender Dinosaurier genauer untersuchen. Aus Arbeiten an einem 1990 gefundenen Exemplar von T. rex zog sie den Schluss, dass das Gewebe solcher stark belasteter Knochen anders aussehen musste als das von Skelettteilen, die kein Gewicht zu tragen hatten. Diese

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Hypothese wollte sie überprüfen. Dass sie schließlich eine andere Richtung einschlug, war ein glücklicher Zufall, auch wenn es für sie anfangs nicht so aussah. Um die Knochen zu untersuchen, stellte sie Dünnschnitte her, die sie im Mikroskop betrachten konnte. Aber Knochen – selbst die Knochen moderner Tiere – sind kein einfaches Arbeitsmaterial. Besonders schwierig wird es mit fossilen Knochen, die zum Teil aus Gestein, zum Teil aus erhaltenem Knochenmaterial, zum Teil aber auch aus wer weiß was bestehen. Deshalb hatte sie zunächst Probleme, geeignete Schnitte herzustellen. „Ich hatte eine Bekannte im tiermedizinischen Institut. Sie war Knochenhistologin und half mir bei einem Problem, das bei der Herstellung der Dünnschnitte auftrat.“ Gerade zu der Zeit, als die Bekannte zusammen mit Mary an den Dinosaurierdünnschnitten arbeitete, fuhr sie zu einer Tagung für Tierärzte und hielt dort einen Vortrag über die Knochenhistologie heutiger Tiere. Unter den auf Objektträgern montierten Dünnschnitten, die sie auf eine Leinwand projizierte, war auch ein Exemplar von T. rex, Museum of the Rockies, Fundstück 555 oder kurz MOR 555. Während der Diskussion im Anschluss an den Vortrag wurde sie gefragt, welches der älteste Knochen sei, mit dem sie gearbeitet hatte. „Interessante Frage“, erwiderte sie und zeigte das Bild des Oberschenkelknochens von T. rex. Nach dem Ende der Veranstaltung kam jemand aus dem Publikum auf das Podium und fragte: „Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie in diesem Dinosaurierknochen rote Blutzellen haben?“ Wie es weiterging, erzählt Mary: „Sobald Gail zurück war, rief sie mich an. Sie bat mich, zu ihr zu kommen und mir die Sache anzusehen. Ich dachte bei mir: Auf Gottes ganzer wei-

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ter Welt wird niemand glauben, dass es sich hier um Blutzellen handelt.“ Aber genau so sahen sie aus, und sie waren es auch. Außerdem befanden sie sich in den Havers-Kanälen, wo sie hingehörten. In einem gewissen Sinn war es eine unbequeme Entdeckung, aber eine Entdeckung war es tatsächlich. Die Behauptung, man habe mehr als 60 Millionen Jahre alte fossile rote Blutzellen entdeckt, würde heftig angegriffen werden. Und Mary, die den Ehrgeiz hatte, mit einem angemessenen Forschungsprojekt ihr Examen zu machen, musste die Entdeckung beweisen oder widerlegen und ihre Befunde dann in aller Öffentlichkeit verteidigen. Einer solch großen Aufmerksamkeit fühlte sie sich noch nicht gewachsen. Es war ein wenig so, als sollte ein Provinzfußballer plötzlich im Olympiastadion spielen, obwohl er sich seiner Dribblingkünste noch nicht sicher ist. Sie hatte für ihre Dissertation ein gutes, sicheres Projekt, das sie sofort in Angriff nehmen konnte; es war solide Arbeit, würde sie aber nicht sofort ins Rampenlicht rücken. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit eine höchst umstrittene Behauptung aufzustellen, war das Letzte, was sie sich wünschte – und es ist das Letzte, was viele Doktoranden sich wünschen. Schon wenn ein anerkannter Wissenschaftler über Reste roter Blutzellen in Dinosaurierknochen berichten würde, hätte er es schwer, seinen Befund zu verteidigen. Eine Doktorarbeit, die einen solchen außergewöhnlichen Befund enthielt, würde mit Sicherheit eine gewisse negative Aufmerksamkeit erregen. Deshalb zögerte Mary, mir von den mutmaßlichen Überresten roter Blutzellen zu erzählen. Sie wollte langsam und sorgfältig vorgehen und alle ihre Gedanken ordnen, bevor sie sich an mich wandte und mit mir über den potenziellen Fund sprach. Aber ein anderer Doktorand, der die Gewebeproben gesehen

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hatte, erzählte mir davon. Daraufhin rief ich Mary an, um mit ihr darüber zu reden. Nach Marys Erinnerung war ich wütend. Sie hatte den Eindruck, als würde ich sie ins Kreuzverhör nehmen, damit sie mir diese höchst verdächtige „Entdeckung“ erläuterte. Sie legte sehr präzise dar, welche Befunde sie in der Hand hatte. Ihrer eigenen Ansicht zufolge hatte sie keinen Beweis, dass es sich tatsächlich um rote Blutzellen handelte. Allerdings deuteten viele Anhaltspunkte in diese Richtung. Nach einem langen Gespräch schlug ich vor, sie solle im Rahmen ihrer Dissertation die Hypothese aufstellen, dass es sich um fossile rote Blutzellen handelte, und dann alles daransetzen, sie zu widerlegen. Bei Fossilien von Wirbeltieren, die man in der Paläontologie Àndet, handelt es sich in der großen Mehrzahl der Fälle um die härtesten Teile der Tiere: um Knochen, Zähne oder Hörner. Man hat aber auch Abdrücke von Muskeln, Haut und inneren Organen im Gestein gefunden, und das manchmal in einem bemerkenswert guten Zustand. Über einen Fall wurde 1998 in der Fachzeitschrift Nature berichtet. Der Artikel erschien nach Marys Arbeiten über die mutmaßlichen roten Blutzellen in MOR 555, aber er ist bemerkenswert, weil das Untersuchungsobjekt ungewöhnlich gut erhalten war. Es handelte sich um einen kleinen Dinosaurier aus der Gruppe der Theropoden, den man in Süditalien in Sedimenten aus der frühen Kreidezeit gefunden hatte. In einem Bericht aus dem Jahr 1993 wurde er bereits als erster in Italien gefundener Dinosaurier bezeichnet. Das Skelett, das als Scipionyx samniticus eingeordnet wurde, ist von der Nasen- bis zur Schwanzspitze – oder, wie es in der Wissenschaftssprache heißt, „von der Spitze der Prämaxilla bis zur letzten (neunten) erhaltenen Vertebra caudalis“ – noch nicht einmal 25 Zentimeter lang. Es scheint fast komplett zu

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sein, und die inneren Organe, insbesondere der Darm, sind vollständig zu erkennen. Der Darm und die mutmaßliche Leber wurden 1998 in Nature von Cristiano Dal Sasso und Marco Signore beschrieben. Die Autoren gelangten zu dem Schluss, dass der Sauerstoffmangel in den Kalksteinablagerungen einer Lagune für die Erhaltung der inneren Organe gesorgt hatte. Dieses Fossil bietet selbst im trockenen Umfeld einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift ein bewegendes Bild; vielleicht liegt es an seiner geringen Größe, vielleicht auch daran, dass es so vollständig und hervorragend erhalten ist. Angesichts der traditionellen Rekonstruktionen in den Museen ist man manchmal versucht, sich die Dinosaurier nur als Skelette und nicht als Lebewesen aus Fleisch und Blut vorzustellen. Dieses fossile Skelett jedoch, das so groß wie eine kleine Echse und dennoch eindeutig ein Dinosaurier mit erkennbaren inneren Organen ist, wirkt wie ein lebendiges, vollständiges Tier. Natürlich lebt es nicht, aber es ist so vollständig gegenwärtig, dass man kaum begreift, wie viele Zigmillionen Jahre es vor seiner Entdeckung im Kalkstein lag. Natürlich gibt es viele verschiedenartige Fossilien, unter anderem auch Abdrücke weicher PÁanzen. Und es gibt Mikrofossilien, Spuren mikroskopisch kleiner Lebewesen, die im Gestein eingeschlossen sind. Manchen Behauptungen zufolge weisen fossile Belege auf Lebensformen aus der Zeit vor dreieinhalb Milliarden Jahren hin, diese Befunde sind aber nicht allgemein anerkannt. Es handelt sich dabei nicht um Gewebe oder Zellen, sondern um Abdrücke im Gestein. Dann sind da die Koprolithen. Eine faszinierende Studie leitete Karen Chin von der University of Colorado. Der Bericht wurde erst nach Marys Untersuchungen an den roten Blutzellen veröffentlicht, und Mary arbeitete dabei sogar an der IdentiÀzierung des fossilen Gewebes mit. Karens

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Untersuchungsgegenstand war ein Koprolith – ein versteinertes Stück von Exkrementen –, der offensichtlich von einem Tyrannosaurus stammte. Koprolithen sind selten. Dieser war besonders ungewöhnlich, weil er offensichtlich unverdautes Muskelgewebe eines Tieres enthielt, das der Áeischfressende Dinosaurier verzehrt hatte. Das war nun wirklich eine Rarität. In der Einleitung zu ihrem Artikel über die Koprolithen nannte Chin etwas mehr als ein Dutzend Beispiele für Fossilien von Muskeln, Haut oder anderem Gewebe, das so gut erhalten war, dass man seine mikroskopische Struktur eindeutig erkennen konnte. Über Muskelgewebe in Koprolithen wurde vor Chins Entdeckung nur in zwei sehr alten Artikeln aus den Jahren 1903 und 1935 berichtet, ohne dass die Entdeckungen mit Fotos dokumentiert worden wären. Der Koprolith wurde in der kanadischen Provinz Alberta in Gestein gefunden, das man auf die Kreidezeit datieren konnte. Er lag bereits so lange in seiner fossilen, versteinerten Form an der OberÁäche, dass ein paar Flechten darauf gewachsen waren. Dennoch war er sofort zu erkennen. Er war ungefähr 60 Zentimeter lang und 15 Zentimeter breit – rund sechs Liter Dinosaurierexkrement. Nach seiner unebenen Unterseite zu schließen, war er offensichtlich „in zähÁüssigem Zustand auf unebenem Untergrund abgelegt worden“. In der Regel ist die Sprache der Wissenschaft so abstrakt, dass man keine Ahnung hat, wovon die Autoren eigentlich reden. Diese Beschreibung war eine lebhaft formulierte Ausnahme. Wie gesagt: Die Arbeit erschien später als Marys Bericht über die fossilen Überreste roter Blutzellen. Sie gehörte eigentlich nicht in ihren Arbeitszusammenhang, machte aber deutlich, welch beherrschende Stellung die Fossilien von Knochen einnehmen und wie spannend es ist, wenn man etwas anderes

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Àndet. Auch vor Marys Veröffentlichung war bereits über mutmaßliche fossile rote Blutzellen berichtet worden, allerdings nur in wenigen Fällen. Einen Fund hatte man in einem 2 000 Jahre alten Menschenknochen gemacht. Im Jahr 1939 sprach ein Bericht von Überresten roter Blutzellen, die man in einer mehrere Zigmillionen Jahre alten Echse gefunden hatte. Wenn jemand zu jener Zeit schon einmal Reste von roten Blutzellen in einem Dinosaurierknochen entdeckt hatte, wusste ich nichts davon, und auch bis heute ist mir nichts Derartiges bekannt. Auch auf etwas anderes sollte ich hinweisen: Die Fossilien als rote Blutzellen zu bezeichnen, ist eine verkürzte Ausdrucksweise, die ein wenig in die Irre führen könnte, ganz ähnlich wie wenn man einen fossilen Dinosaurieroberschenkel als Knochen bezeichnet. Er ist kein Knochen in dem gleichen Sinn wie der Oberschenkelknochen einer kürzlich verstorbenen Kuh. Die Mineralstoffe in den Dinosaurierknochen wurden durch andere ersetzt, chemische Veränderungen haben stattgefunden. Wenn Mary tatsächlich die Überreste roter Blutzellen vor sich hatte, enthielten sie nur noch einen kleinen Teil der ursprünglichen chemischen Bausteine und einen Teil der Struktur; andere Teile hätten sich jedoch ein für alle Mal verändert. Aber das machte die Entdeckung vorzeitlicher roter Blutzellen nicht weniger ungewöhnlich. Schließlich überleben aus naheliegenden Gründen in der Regel nur die harten Teile von Tieren. Fleisch verwest. Es wird von großen und kleinen Tieren gefressen. Jedes Lebewesen, das auf der OberÁäche liegen bleibt, wird sehr schnell bis auf das Skelett abgenagt. Und auch wenn ein totes Tier im Boden begraben wird, lassen Insekten, Würmer, Mikroorganismen und chemische Zersetzung in der Regel nichts außer den Knochen übrig. Allen gelegentlichen Berichten über zellähnliche Strukturen in manchen Fossilien zum Trotz war es ein abschreckender Gedanke, im Rahmen

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einer Doktorarbeit die Entdeckung fossiler roter Blutzellen bekannt zu geben. Auf dem Fachartikel, der aus Marys Dissertation hervorging, stand ich als einer der Mitautoren (eine übliche Rolle für Doktorväter oder vorgesetzte Wissenschaftler). Darin behauptete sie schließlich nur, in den Fossilien seien Hämverbindungen enthalten, das heißt Teile von Hämoglobinmolekülen; sie seien ein Anhaltspunkt, dass in dem Knochen früher auch vollständige Hämoglobinmoleküle vorhanden waren oder vielleicht noch heute sind. Hämoglobin ist ein Protein, das den roten Blutzellen die Fähigkeit verleiht, Sauerstoff in die Muskeln zu transportieren. Eine zusätzliche Gabe von Hämoglobin ist gemeint, wenn davon die Rede ist, die Radfahrer bei der Tour de France hätten sich des verbotenen sogenannten Blutdopings bedient. Dass Mary sich vor allem auf das Hämoglobin und seine Abbauprodukte konzentrierte, hatte einen einfachen Grund: Diese Substanzen lassen sich mit seit Langem eingeführten Methoden nachweisen. Der Befund sprach für Überreste roter Blutzellen, aber er setzte nicht voraus, dass wir genau feststellten, welcher Teil der Zellstrukturen sich erhalten hatte und wie weit die Fossilbildung fortgeschritten war. Bruchstücke von Hämoglobinmolekülen hatte man auch zuvor schon in Knochen mit einem Alter von einigen Tausend Jahren gefunden, und Blutreste kennt man auch von Steinwerkzeugen, die bis zu 100 000 Jahre alt sind.

Chemische Spuren Auch andere Entdeckungen ließen es vernünftig erschienen, in sehr alten Knochen nach Hämoglobin und anderen erhaltenen Proteinmolekülen zu suchen. Seit den 1970er Jahren hatte

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man Aminosäuresequenzen – Molekülketten, aus denen Proteine bestehen – in 80 Millionen Jahre alten Weichtiergehäusen und in Dinosaurierknochen aus der Zeit vor 150 Millionen Jahren gefunden. Neuere biochemische Untersuchungen an Fossilien führten dann zur Entdeckung des Knochenproteins Osteocalcin in Dinosaurierknochen. Um das Hämoglobin nachzuweisen, mussten wir verschiedene Verfahren einsetzen, die man in der Paläontologie bis dahin kaum angewandt hatte, beispielsweise die FlüssigkeitschromatograÀe und Kernresonanzspektroskopie. Nachdem wir in den Knochen – nicht aber in dem umgebenden Sandstein – die chemischen und physikalischen Spuren von Hämoglobin gefunden hatten, suchte Mary nach biologischen Anhaltspunkten und schickte einen Extrakt des fossilen Materials an ein anderes Institut. Ratten, denen dieser Extrakt gespritzt wurde, produzierten Antikörper – und zwar Antikörper gegen Vogelhämoglobin. Mit anderen Worten: Ihr Immunsystem erkannte eine körperfremde Struktur und erzeugte daraufhin maßgeschneiderte Waffen – die Antikörper –, um die eingedrungene Substanz anzugreifen und unschädlich zu machen. Antikörper werden sehr häuÀg zu Testzwecken verwendet, und so konnte man feststellen, dass sie in diesem Fall auch gegen das Hämoglobin von Vögeln wirkten – aber nicht gegen das von Säugetieren oder Reptilien. Der Befund stand völlig im Einklang mit der Vorstellung, dass der Dinosaurierknochen Bruchstücke von Dinosaurier-Hämoglobinmolekülen enthielt; eine Verunreinigung durch Menschen oder andere Säugetiere, die im Labor oder vor der Entdeckung des Knochens stattgefunden haben könnte, war damit ausgeschlossen. Offensichtlich waren Hämoglobin oder seine Abbauprodukte auch nach 68 Millionen Jahren noch vorhanden.

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Alles sprach also dafür, dass alte Moleküle aus roten Blutzellen erhalten geblieben waren. Handelte es sich bei den Strukturen, die Mary beobachtet hatte, auch um Reste der Blutzellen selbst? Dies war die beste Erklärung, zu der wir gelangen konnten. Sie wurde aber als vorläuÀge Schlussfolgerung formuliert und war offen für alle Einwände, die andere Wissenschaftler vielleicht vorbringen würden. Eigentlich waren viele Befunde mit der Vorstellung zu vereinbaren, dass es sich bei den im Mikroskop beobachteten Strukturen um rote Blutzellen handelte, aber die Indizien reichten nicht aus, um sie deÀnitiv als solche zu bezeichnen. „Ich konnte es nicht widerlegen“, sagte Mary, „aber beweisen konnte ich es auch nicht. Derzeit weiß ich noch nicht, worum es sich bei diesen Dingern handelt, und vielleicht werden wir es nie erfahren. Aber die Forschung hat mich zu einer neuen Denkweise gebracht: Ich stelle mir Fossilien jetzt nicht mehr nur als Fossilien vor. Ich behandle sie nicht wie Fossilien, sondern genauso wie Knochen aus unserer Zeit.“ Die Reaktionen waren heftig. Leider kam das größte Interesse aus den Reihen der Kreationisten. Ihnen geÀel der Gedanke, dass Knochen noch Überreste roter Blutzellen enthielten. Ihr Argument: Da wir bis dahin geglaubt hatten, solche Dinge könnten nicht erhalten bleiben, und sie nun dennoch in erhaltener Form fanden, müsse dies bedeuten, dass unsere Datierung falsch war. Sie übergingen die gesammelten Erkenntnisse aus Geologie, radiometrischer Datierung und zahlreichen anderen Befunden, durch die eindeutig klar war, dass unser Fehler nicht beim Alter der Fossilien gelegen hatte, sondern bei den Vermutungen über die Erhaltung weichen Gewebes. Die Hauptlast der Angriffe hatte Mary zu tragen. Sie vertritt im Rückblick die Ansicht, dass die Schuld zum Teil bei

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der Wissenschaft selbst lag: Wir hatten uns die überkommene Weisheit zu eigen gemacht, biologisches Material wie Hämoglobin oder rote Blutzellen könne nicht in fossiler Form erhalten bleiben. Wir wussten nicht, was wir zu wissen glaubten. Das kommt in der Wissenschaft häuÀg vor: Sie ist keine Ansammlung von Antworten, sondern ein Prozess des Fragens, aus dem sich immer neue Fragen ergeben. Wissen ist immer etwas VorläuÀges. Dabei werden frühere Antworten in der Regel nicht über Bord geworfen, sondern sie erweisen sich als unvollständig oder nicht so allgemein anwendbar, wie es anfangs den Anschein hatte. Unsere Erkenntnisse darüber, wie Fleisch und Knochen zerfallen, hatte man durch Beobachtung und Experimente gewonnen. Was mit einem toten Tier geschieht, das auf einem Acker oder auf der Straße liegen bleibt, weiß jeder. In der Wüste sehen wir ausgetrocknete Schädel, im Wald zerfallende Hirschknochen. Jedes Lebewesen stirbt, und alles zerfällt und wird zersetzt. In der Wissenschaft hat man versucht, diesen Vorgang quantitativ zu erfassen; dazu wurden Tierkadaver ins Freie gelegt, und dann verfolgte man ganz genau, wie sie verwesten. „Es gibt die Body Farms“, sagt Mary, „Institute, in denen der Abbau von Gewebe untersucht wird. Wir wissen, wie lange das unter verschiedenen Umweltbedingungen dauert.“ Die gleichen Prozesse hat man im Labor auch auf Zellebene nachgezeichnet. „Wir wissen, wie lange es dauert, bis Membranen sich auÁösen. Wir wissen, wie lange es dauert, bis der Zellkern verschwindet. Wir kennen sogar die zelluläre Kinetik. Wir wissen, welche Enzyme dabei mitwirken. Wir wissen, wie sie untereinander in Wechselbeziehung treten. Wir wissen, wie Zellen abgebaut werden. Wir wissen, wie Proteine abgebaut werden. Wir wissen, wie Gewebe abgebaut wird. Wir wissen es. Naja, man weiß es. Ich allein bin nicht so schlau.“

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Gegenstand aller dieser Untersuchungen waren aber Muskeln, Haut und andere weiche Organe. Keine Knochen. „Niemand, der ganz richtig im Kopf ist, arbeitet mit Knochen. Knochen sind nervig. Mit ihnen zu arbeiten, ist wirklich schwierig.“ Deshalb, so Mary, stützen sich alle Vorstellungen darüber, wie große und kleine Lebewesen zerfallen, nicht auf Knochen. „Sie berücksichtigen nicht die Mikroumwelt in den Knochen. Wenn man eine Zelle oder ein Gewebe in eine mineralische Umgebung bringt, ändert sich alles. Die Angriffsfähigkeit von Enzymen ändert sich, Mikroben können nicht mehr so leicht eindringen und fressen … Aber das sieht sich niemand genauer an, weil die Arbeit mit Knochen eine Qual ist. Andererseits sind Knochen das Einzige, was wir von den Dinosauriern haben. Deshalb untersuche ich sie.“ Die erste Frage, der Mary und Jen nachgingen, war die nach dem Geschlecht. Mary hatte es mit einem ganz bestimmten Knochen zu tun, der bei Vögeln während der Produktion der calciumhaltigen Eierschalen entsteht. Wegen der engen Verwandtschaft zwischen Vögeln und Dinosauriern hatten die Paläontologen prophezeit, dass man dieses Gewebe auch bei Dinosauriern Ànden würde, was bis zu diesem Zeitpunkt aber nicht geschehen ist. Mary und Jen verglichen den Knochen von B. rex mit denen von Straußenvögeln; dabei bedienten sie sich wiederum sowohl des Rasterelektronenmikroskops als auch des Lichtmikroskops. Es handelte sich eindeutig um den gleichen Knochen, und damit ließ sich eine klare Schlussfolgerung ableiten. Das Fossil hatte die gleiche Mikrostruktur wie das Röhrenknochenmark, das sehr schnell gebildet wird. „Es ist sehr stark von Blutgefäßen durchsetzt“, stellte Mary fest. „Wenn man die Architektur, die Mikrostruktur eines Knochens auf der Ebene der Proteine aufklären will, besteht eine Standard-

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methode der modernen Wissenschaft darin, die Mineralien zu entfernen. Also habe ich zu Jen gesagt: ‚Wir müssen den Knochen mit Säure behandeln, aber lass ihn nicht zu lange darin liegen. Wie alle anderen glaubte ich, wenn man aus Dinosaurierknochen die Mineralstoffe entfernt, würde nichts übrig bleiben, weil organische Moleküle sich natürlich nicht erhalten haben.“ Demnach hätte man den Knochen nur kurz in die Säure tauchen müssen, um ihn zu reinigen.

Sproing! „Als Jen die Säurebehandlung beenden wollte, nahm sie den Knochen und legte ihn in Wasser. Da machte es sproing.“ Es war kein großes Knochenstück. Jen hatte einen kleinen Brocken unter dem Präpariermikroskop mit einer feinen Pinzette aus dem Säurebad genommen. Mary wollte es mit eigenen Augen sehen. „Es hat sich gebogen, verdreht und gefaltet. So etwas Bizarres hatte ich noch nie gesehen. Ich konnte es einfach nicht glauben und bat Jen, das Ganze zu wiederholen. Sie nahm das zweite Stück, und wieder machte es sproing.“ Das Material verhielt sich wie Kollagen, aber um ein bestimmtes Protein wie Kollagen zu identiÀzieren, braucht man GaschromatograÀe, Massenspektrometrie und auch biologische Tests. Es war ein ganz eigenes Forschungsprojekt. Also schob Mary ihre Vermutung zunächst einmal beiseite und beschäftigte sich mit einem anderen Knochenstück. Hier handelte es sich nicht um das FortpÁanzungsgewebe, das B. rex zu etwas Besonderem machte, sondern um die Knochenkernschicht, die alle Dinosaurier und sämtliche vierbeinigen Wirbeltiere besitzen. Jen bereitete das Säurebad für die neuen Proben vor und beobachtete, wie die Behandlung voranging.

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Nachdem sie das von Mineralien befreite Material mit destilliertem Wasser gewaschen hatte, fand sie unter dem Präpariermikroskop kleine Objekte, die aussahen wie Bruchstücke von sehr, sehr kleinen Röhren. Wenn sie nach einem Stück dieses Materials griff, war zu erkennen, wie es sich unter dem Mikroskop hin und her bewegte. Es war biegsam – eine Art biegsame, durchsichtige Röhren aus der Zeit vor 68 Millionen Jahren. Jen berichtete Mary, was sie gesehen hatte: „Du wirst es nicht glauben, aber ich vermute, wir haben Blutgefäße vor uns.“ Darauf erwiderte Mary: „Stimmt, das glaube ich nicht. Das wird niemand glauben. Darüber können wir nicht sprechen.“ Es folgten drei schlaÁose Wochen. Immer und immer wieder mussten sie die Experimente wiederholen. Als sie das Material weiter mit Säure behandelten und wuschen, stellte sich heraus, dass die Áexiblen Blutgefäße transparent waren. Im weiteren Verlauf ihrer Arbeiten verglich Jen das Material von T. rex mit entmineralisierten Straußenknochen. Strauße und Emus gehören heute zu den primitiven Vögeln und sind vermutlich mit den Dinosauriern geringfügig enger verwandt als alle anderen. In dem Straußenknochen fand sie Blutgefäße des gleichen Typs. Außerdem enthielten sowohl die Dinosaurier- als auch die Straußenblutgefäße kleine, runde, rote Gebilde. Beim Dinosaurier hatten manche dieser Strukturen in der Mitte eine dunkle Stelle, die stark nach einem Zellkern aussah. Bei näherer Betrachtung mit dem Rasterelektronenmikroskop zeigten sich ebenfalls starke Ähnlichkeiten zwischen Dinosaurier- und Straußenknochen. Zwischen den Fasern in der Knochenmatrix des Dinosauriers fanden Jen und Mary etwas noch Überraschenderes: die unverkennbaren Umrisse von Osteocyten, jener Zellen, die einen Knochen wachsen lassen.

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Diese Zellen scheiden die Mineralstoffe aus, aus denen das harte Gerüst (Matrix) des Knochens besteht. Sie selbst liegen innerhalb der Strukturen, die sie aufbauen. Woher kommt die Energie, die sie für ihre Tätigkeit und zum Abtransport von Abfallsubstanzen brauchen? Die Zellen besitzen unübersehbare Fortsätze, die Filipodien, die vom eigentlichen Körper des einzelnen Osteocyten ausgehen und mit den Filipodien anderer Osteocyten verbunden sind. Sie bilden ein Netzwerk, das Nährstoffe heran- und Abfallstoffe abtransportiert. „Das Ganze ähnelt einer Eimerkette“, sagt Mary. Nachdem Mary zum ersten Mal mit diesem Material gearbeitet hatte, rief sie mich an und erklärte, sie habe Osteocyten gefunden. Ich nahm an, sie meinte damit die Hohlräume, in denen sich die Osteocyten befunden hatten, wie ich es bereits vermutet hatte. „Nein, Jack, wir haben tatsächlich die Zellen, einschließlich Filipodien und Zellkern.“ „Mary, die bekloppten Kreationisten werden begeistert sein.“ „Jack, das ist dein Dinosaurier.“ Um die Befunde weiter zu überprüfen, wandte Mary die gleichen Verfahren – Demineralisierung, Licht- und Elektronenmikroskopie – auf zwei weitere Exemplare von Tyrannosaurus und einen Hadrosaurier (einen Dinosaurier mit Entenschnabel) an. In allen Funden entdeckte sie zusammen mit Jen Blutgefäße und Strukturen, die wie Osteocyten aussahen. Die Blutgefäße waren aber nicht in allen Fällen biegsam und durchsichtig. Manche sahen zwar ganz ähnlich aus wie die von B. rex, andere waren aber auch harte, kristalline Strukturen. Dass diese mikroskopischen Überreste von Blutgefäßen erhalten geblieben waren und vielleicht eine Art Áexible Fossilien bildeten, in denen die ursprünglichen Bausteine der

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Blutgefäße durch andere chemische Substanzen ersetzt waren, konnte man sich nur schwer vorstellen. Aber noch schwieriger war es, sich auszumalen, worum es sich bei den mutmaßlichen Blutgefäßen sonst noch handeln könnte. Die Entdeckung der durchsichtigen Blutgefäße und die Aufklärung des Geschlechts von B. rex wurden am 25. März und 3. Juni 2005, im Abstand von nur zwei Monaten, in dem Fachblatt Science veröffentlicht. Unter den Koautoren waren Mary, ihre technische Assistentin und ich. Zwei Fragen, die in den Artikeln nicht beantwortet wurden, lauteten: Wie kann es im Einzelnen dazu kommen, dass

Durchsichtige Gefäße in einem 68 Millionen Jahre alten fossilen Knochen aus dem Skelett von B. rex. Der Knochen wurde vom Kalk befreit, das Präparat ist 40-fach vergrößert. Die dunklen, runden Gebilde sehen ähnlich aus wie die roten Blutzellen in einem Straußenknochen, der auf die gleiche Weise behandelt wurde. (© Mary Schweitzer)

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ein Blutgefäß nach so vielen Millionen Jahren noch Áexibel ist? Wie war es erhalten geblieben? Das wissen wir nicht. Die Forschungsarbeiten zur Beantwortung dieser Fragen laufen noch. Mit Sicherheit handelt es sich nicht um unversehrte, unveränderte Blutgefäße. Sie sind zu Fossilien geworden und dennoch biegsam geblieben. So scheint es jedenfalls bisher. Neue Befunde werden in der Wissenschaft immer erst dann anerkannt, wenn andere Wissenschaftler sie nachvollzogen haben; dies ist bisher mit Marys Entdeckungen nicht geschehen. Sie selbst gesteht es als Erste ein: Nach allem, was wir heute wissen, scheint es sich um Blutgefäße zu handeln, aber es könnten sich durchaus gegenteilige Befunde ergeben. Sie hat sogar eingeräumt, dass sie selbst an ihren Befunden zweifelte und dass sie deshalb zusammen mit Jen auch in anderen modernen und fossilen Knochen nach ähnlichem Material gesucht hat. „Angefangen haben wir mit einem Hühnchen, das wir im Lebensmittelladen gekauft hatten. Dann haben wir uns in die Vergangenheit bis zu Knochen aus der Triaszeit vorgearbeitet.“ Dabei stellte sich heraus, dass das Áexible Material, das nach Blutgefäßen aussah, „erstaunlich verbreitet“ ist. „Das“, so erklärte sie, „macht mich wirklich nervös.“ Warum kommt es so häuÀg vor? Auch diese Frage ist noch nicht beantwortet, aber andere Erklärungen sind nach ihren Worten auch nicht überzeugender. Im Jahr 2006 zeigte der unabhängige Dinosaurierexperte Tom Kay auf der Tagung der Society for Vertebrate Paleontology (Gesellschaft für Wirbeltierpaläontologie) ein Poster, in dem er die Ansicht vertrat, sie habe BioÀlme gefunden. „Tom vermutet, dass es sich um BioÀlme aus Mikroorganismen handelt. Ich bin aber nicht sicher, ob ich ihm das

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abkaufen soll, denn wir haben Material aus verschiedenen systematischen Gruppen, von verschiedenen Kontinenten, aus verschiedenen Sedimentumfeldern und aus ganz verschiedenen Zeiten untersucht; dennoch sehen die Blutgefäße alle gleich aus. Es gibt eine Menge Gründe, warum es sich bei dem Material nicht um BioÀlme handeln kann. Erstens hat Tom nicht nachgewiesen, dass BioÀlme im Knochen heranwachsen können oder dass sie biegsame Röhren bilden. Wenn es sich um moderne BioÀlme handelt, sind sie durch Zellkörper deÀniert, und die hat er nicht nachgewiesen. BioÀlme sind ziemlich dünn und wachsen gewissermaßen stückweise, weil sie an die Grenzen der Nährstoffversorgung stoßen. Niemand hat jemals nachgewiesen, dass sie in dem Ausmaß, das wir beobachtet haben, untereinander verbundene Röhren bilden. Außerdem sind BioÀlme in ihrer Konsistenz ziemlich einheitlich, während wir Unterschiede in der Beschaffenheit der Osteocyten-Filipodien und der Knochenmatrix, in die sie sich erstrecken, nachweisen konnten. Er stellt also unsere Hypothese infrage. Das ist großartig, und ich begrüße es; er hat aber zur Unterstützung seiner Alternativhypothese keine Daten vorgelegt, die stichhaltiger wären als meine. Es wurden auch andere Einwände vorgebracht, aber bisher erkennen weder Mary noch ich irgendeine Kritik, die Hand und Fuß hat und die Idee, dass es sich um Überreste von Blutgefäßen handelt, infrage stellen könnte. Als Nächstes musste sie in ihren Forschungsarbeiten einen wesentlich größeren Schritt vollziehen: Sie musste sich mit dem offenkundig vorhandenen Kollagen auseinandersetzen. Das war in mancherlei Hinsicht noch wichtiger als die früheren Befunde, denn jetzt ging es um das Wesen der Proteine und um die Frage, welche Aufschlüsse sie über die

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verschiedenen biologischen Arten und ihre Evolution liefern können. Damit mussten wir bei der zweiten Ausgrabung von B. rex noch eine Ebene tiefer vordringen und weiter in das komplizierte Fachgebiet der molekularen Paläobiologie eintauchen.

3 Auch Moleküle sind Fossilien Biologische Geheimnisse in uralten Knochen Miracles from Molecules are dawning every day, Discoveries for Happiness in a fab-u-lous array! A never ending search in on by men who dare and plan: Making modern miracles from molecules for man! 1 Miracles from Molecules, Themensong von Adventure Thru Inner Space, Attraktion im Disneyland von 1967 bis 1985

Jurassic Park erschien 1993 und wurde sofort zum Erfolg. Der Film spielte mehr Geld ein als jeder andere vor ihm – weltweit waren es mehr als 600 Millionen Euro. Die Handlung stützte sich auf den gleichnamigen Roman von Michael Crichton, der 1990 erschienen war. Im Buch wie im Film werden Dinosaurier geklont, nachdem man vorzeitliche Saurier-DNA entdeckt hat. Es ist eine klassische Science-Fiction-Geschichte. Crichton ging von echter Wissenschaft aus und trieb sie über ihre derzeitigen Grenzen hinaus in den Bereich der Mythen und Märchen, sodass eine äußerst reizvolle Handlung entstand. 1 Wunder aus Molekülen, ein ums andre Mal, Entdeckungen, die glücklich machen, in fabelhafter Zahl! Immer auf der Suche sind sie, die es wagen und es planen, Wunder aus Molekülen schaffen, Wunder, die wir ahnen.

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Ungeheuer aus einer unvorstellbar weit entfernten Vergangenheit, die wieder lebendig und gefährlich werden. Eine Mücke hatte bei einem Dinosaurier Blut gesaugt und war dann in Bernstein eingeschlossen worden. In dem Bernstein war nicht nur das Insekt erhalten geblieben, sondern auch die Dinosaurier-DNA in seinem Darm. Wissenschaftler schleusen diese alte DNA in eine Froscheizelle ein. Im Jahr 1993 hatte man Frösche im Kaulquappenstadium tatsächlich geklont, andere Wirbeltiere aber noch nicht. Die Vorgehensweise war also plausibel. In dem Roman üben die Dinosauriergene ihre Wirkung aus, und aus der Eizelle wächst ein richtiger Dinosaurier heran. Buch und Film waren in mancher Hinsicht weitblickend. Das erste Säugetier, ein Schaf namens Dolly, wurde 1997 geklont. Seither gelang das Gleiche bei einer ganzen Reihe von Säugetieren und auch bei einem Fisch (einem Karpfen), aber zu der Zeit, als dieses Buch entstand, gab es noch keine geklonten Reptilien oder Vögel. Ich glaube nicht, dass Crichton den großen Aufschwung des Klonens voraussah; diesen Weitblick hatten nur wenige Wissenschaftler. Aber das Klonen war und ist ein Lieblingsthema der Science-Fiction. In anderer Hinsicht war das Buch charakteristisch für seine Zeit: Es spiegelte ein ganz bestimmtes Stadium in der Revolution von Molekularbiologie und Computertechnik wider. Im Jahr 1990, als Jurassic Park in Buchform erschien, nahm man gerade das Humangenomprojekt in Angriff. Erstmals wollte man alle Gene kartieren, die an der Entstehung eines Menschen mitwirken. Angesichts des wissenschaftlichen Kenntnisstands handelte es sich um ein naheliegendes Projekt. Dennoch war es von atemberaubendem Ehrgeiz; die Vorstellung, man könne sämtliche Anweisungen zur Herstellung eines Menschen zusammenstellen, war – und ist bis heute –

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schockierend. Mit Sicherheit würde kein Wissenschaftler behaupten, dass die Gene allein einen Menschen ausmachen. Gene unterliegen immer den EinÁüssen der Umwelt. Außerdem gab und gibt es in der DNA lange Abschnitte, die keine bekannte Funktion erfüllen, und die Frage, wie Gene reguliert werden, hat seit jener Zeit immer stärker an Bedeutung gewonnen. Damals jedoch hatte die Vorherrschaft der Gene ihren Höhepunkt erreicht. Das erste Genom eines Vielzellers – des millimetergroßen Fadenwurms Caenorhabditis elegans – war 1998 vollständig entschlüsselt. Das TauÁiegengenom folgte 2000. Im gleichen Jahr wurde auch ein erster Entwurf des menschlichen Genoms veröffentlicht, und eine fertige, eigentlich aber nicht ganz vollständige Version wurde 2003 vorgestellt. Das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn man nicht zuvor die DNA entdeckt und dann chemische Verfahren zu ihrer Analyse und Sequenzbestimmung entwickelt hätte; nicht zuletzt brauchte man Computer, um die mit biochemischen Methoden gewonnenen Informationen zu verarbeiten und zu interpretieren. Die Möglichkeit, längere DNA-Abschnitte zu lesen, sie mit anderen DNA-Abschnitten zu vergleichen, Gene herauszusuchen und die charakteristischen Kennzeichen einzelner Arten zu identiÀzieren, veränderte nicht nur die biologische Untersuchung lebender Tiere, sondern die gesamte biologische Forschung. Das schließt auch die Wissenschaft von der Geschichte des Lebendigen ein: Einerseits war es nun nützlicher, wenn man in fossilen Knochen Spuren biologischer Moleküle fand, und andererseits eröffnete sich in den Genomen der heutigen Lebewesen eine ganz neue Quelle für Informationen über die Vergangenheit. Ein Genom sagt nicht alles über ein Lebewesen aus. Große Teile der DNA gehören nach der üblichen DeÀnition nicht zur Kategorie der Gene: Sie sind keine

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abgegrenzten DNA-Abschnitte mit dem Code sowie den Anfangs- und Endsignalen zur Herstellung von RNA, die ihrerseits in Proteinmoleküle umgeschrieben werden. Dennoch kann man aus einem Genom eine Menge ablesen, und beim Stand der molekularbiologischen Kenntnisse jener Zeit war es völlig plausibel, dass Crichton sich für diese und keine andere Methode zur Erschaffung eines Dinosauriers entschied. DNA aus alter Zeit schien zumindest für einen Roman ein guter Tipp zu sein. Und manchmal macht es die Wissenschaft sogar der Science-Fiction nach. Im Jahr 1994, vier Jahre nach Veröffentlichung des Romans und ein Jahr nachdem der Film Jurassic Park in die Kinos kam, berichtete Scott Woodward von der Brigham Young University über die Gewinnung von DNA aus 80 Millionen Jahre alten Bruchstücken von Dinosaurierknochen, die man in einer Kohlegrube in Utah gefunden hatte. Der Bericht war eine ziemliche Überraschung. Crichton brachte die Dinosaurier-DNA in Jurassic Park im Darm einer Mücke unter, die unversehrt in ausgehärtetem Baumharz – Bernstein – eingeschlossen war; das erschien weitaus glaubwürdiger als der Gedanke, man könne Dinosaurier-DNA aus fossilen Knochen gewinnen, die seit Jahrmillionen im Gestein begraben waren. Woodward argumentierte, die von ihm gefundenen Fossilien seien in der Kohlegrube aus irgendeinem Grund vor den biochemischen Reaktionen und anderen EinÁüssen, die DNA normalerweise zerfallen lassen, geschützt gewesen. Biologische Verbindungen waren teilweise durch Mineralstoffe ersetzt worden. Wie Woodward aber weiter berichtete, waren bei lichtmikroskopischer Untersuchung die Knochenzellen und möglicherweise sogar die Zellkerne zu erkennen. Unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen, mit denen eine Verunreinigung der Knochen durch menschliche DNA

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verhindert werden sollte (die, wie in der US-amerikanischen Fernsehserie CSI – Den Tätern auf der Spur gezeigt, auch an Tassen oder Zigarettenkippen kleben kann), zerstießen Woodward und seine Kollegen sehr kleine Knochenstücke zu Pulver und wandten dann das vielleicht wichtigste Verfahren der molekularbiologischen Revolution an: die Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR). Mit ihr kann man DNA-Abschnitte hunderttausendfach vermehren und noch winzigste DNA-Spuren nachweisen. Für die Entdeckung des dafür notwendigen Enzyms erhielt der Wissenschaftler Kary Mullis den Nobelpreis. Mullis, der heute im Süden Kaliforniens lebt, ist vielleicht der einzige Wissenschaftler, der das Surfen mindestens ebenso ernst nimmt wie die Forschung. Tatsächlich ist er so unkonventionell, wie seine Methode unersetzlich ist. Er hat über seine eigenen Experimente mit Drogen sowie über Begegnungen mit Außerirdischen geschrieben und ist davon überzeugt, dass das menschliche Immunschwächevirus HIV nicht die Ursache von AIDS ist. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er wirklich alles glaubt, was er sagt. Ich kenne ihn persönlich und habe den Eindruck, dass er gern Diskussionen provoziert. Grundlage der PCR ist ein Enzym, das Mullis bei Bakterien aus heißen Quellen im Yellowstone-Nationalpark entdeckte. Die Bakterienart heißt Thermus aquaticus, und das Enzym wird als Taq-Polymerase bezeichnet. Es ist so nützlich, weil es aus einem Lebewesen stammt, das aufgrund seiner Evolution hohe Temperaturen verträgt. Deshalb bleibt auch die TaqPolymerase bei hohen Temperaturen stabil. Zur Vorbereitung für die Polymerasekettenreaktion erwärmt man DNA so stark, dass die beiden Stränge, aus denen das Molekül besteht, sich trennen. Kleinere, als Primer bezeichnete Moleküle, heften sich an einen DNA-Abschnitt, für

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den sie konstruiert wurden, und dienen dort als Markierung: Sie geben an, wo das Polymeraseenzym mit dem Kopieren beginnen soll. Der markierte DNA-Abschnitt wird also verdoppelt, und die beiden Einzelstränge werden wieder zur Doppelhelix. Nun erhitzt man die Lösung erneut, sodass die beiden Helices sich wiederum trennen und vier Stränge bilden; durch die Polymerase entstehen nun vier Doppelhelices, und beim nächsten Erhitzen werden daraus acht Einzelstränge. Lässt man immer wieder den Zyklus mit Erhitzen und Abkühlen ablaufen, wird der gewünschte DNA-Abschnitt jedes Mal verdoppelt. Die Zahl der Moleküle nimmt also in einer geometrischen Reihe zu – 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128. Auf diese Weise gelangt man nach wenigen Stunden zu mehr als einer Million Kopien des gewünschten Gens. Damit steht so viel DNA zur Verfügung, dass man sie sequenzieren, das heißt den Code lesen kann. Mit leistungsfähigen Computern kann man die mittels biochemischer Reaktionen gesammelten Informationen verarbeiten und so die Sequenz der Nucleotide im Gen ermitteln. Mit diesem Verfahren vervielfältigte Woodward die DNA aus seinen fossilen Knochenbruchstücken. Er gelangte zu dem Schluss, dass die DNA nicht von heutigen Vögeln, Säugetieren oder Reptilien stammen konnte. Außerdem handelte es sich nach seinen Angaben auch nicht um Verunreinigungen mit der DNA von Bakterien oder Menschen. Deshalb war er überzeugt, dass er aus den kreidezeitlichen Dinosaurierknochen tatsächlich DNA gewonnen hatte. Oder, wie er es in einer vorsichtigen Formulierung am Ende seines wissenschaftlichen Berichts erläuterte: „Die Gewinnung von DNA aus gut erhaltenen Knochen aus der Kreidezeit erscheint möglich.“ Die Reaktion war die wissenschaftliche Entsprechung zu dem Geschrei auf der Reservebank nach einem ungerechtfer-

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tigt gegebenen Elfmeter. In der gleichen Fachzeitschrift, die seinen ersten Bericht veröffentlicht hatte, erschienen mehrere kritische Aufsätze. Die Autoren hatten die von Woodward präsentierten Daten neu analysiert, insbesondere die Behauptung, die DNA-Fragmente könnten nicht von Säugetieren stammen. Eine dieser Antworten schrieb Mary Schweitzer zusammen mit Blair Hedges von der Pennsylvania State University, weitere kamen von Wissenschaftlern in den Vereinigten Staaten, Deutschland und den Niederlanden. Alle Kritiker gelangten zu einem Schluss, der auch mich überzeugte: Bei den DNA-Proben, die Woodward vervielfältigt hatte, konnte es sich durchaus um Säugetier-DNA handeln, und wenn Säugetier-DNA vorhanden war, musste die Probe entweder vorzeitliche oder moderne Verunreinigungen enthalten. Die bei weitem plausibelste Erklärung für seine Befunde war nach Ansicht der Kritiker die Tatsache, dass es bei der Handhabung der Proben durchaus zu einer Kontamination mit menschlicher DNA kommen konnte. Die Befunde wurden nie bestätigt, und man hat später nie wieder DNA in derart alten Fossilien gefunden. Aus anderen ausgestorbenen Tieren hat man allerdings DNA gewonnen, beispielsweise aus Mammuts, die im Permafrost eingefroren waren, und aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus Neandertalern. Aber Gewebe, das in Eis eingefroren war oder wie die Neandertaler höchstens einige Zigtausend Jahre alt ist, lässt sich überhaupt nicht mit einem 80 Millionen Jahre alten Fossil vergleichen. Ein besonders schwieriges Problem sind Verunreinigungen, wenn man die DNA der Neandertaler sequenzieren will, denn die sind sehr eng mit uns verwandt. Sie gehörten ebenfalls zur Gattung Homo und waren entweder eine andere Spezies oder aber eine Unterart; deshalb wäre ihre DNA nur sehr schwer von der moderner Menschen

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zu unterscheiden. Man braucht nur daran zu denken, dass selbst das Schimpansengenom zu mindestens 98 Prozent dem Genom des Menschen gleicht. Das Neandertalergenom ist dem unseren aller Wahrscheinlichkeit nach noch viel, viel ähnlicher. Die allgegenwärtige Möglichkeit einer Verunreinigung auszuschließen, ist also äußerst schwierig. Und wenn es um Schimpansen geht, haben wir zumindest eine Vorstellung von den Unterschieden. Bei den Neandertalern wissen wir nicht einmal, wo in der DNA die Unterschiede liegen. Gerade als dieses Buch in Druck ging, wurde die Sequenzierung des vollständigen Mammutgenoms bekannt gegeben. Dieses Genom konnte man rekonstruieren, weil gefrorenes Gewebe erhalten geblieben war und weil die Sequenzierungstechnik große Fortschritte gemacht hatte. DNA aus sehr alten Quellen wird in Bruchstücken gewonnen, mit denen man dann die neuartigen Sequenzierapparate füttert. Diese wurden erst im Laufe der letzten zehn Jahre entwickelt und erlauben die Vermehrung und Sequenzierung kürzerer DNA-Fragmente, die früher nutzlos gewesen wären. Da die Computerleistung zunimmt und immer billiger wird, rechnet man auch hier mit schnellen weiteren Verbesserungen. Mit zukünftigen Generationen solcher Apparaturen werden die Kosten für die Sequenzierung des gesamten Genoms eines Individuums rapide sinken. Schon das Genom von James Watson wurde zu einem Preis von nur zwei Millionen Dollar sequenziert; das gesamte Humangenomprojekt, mit dem die erste vollständige Sequenz eines menschlichen Genoms aufgeklärt wurde, hatte noch drei Milliarden Dollar gekostet. Auch die Kosten für die Sequenzierung der Gene gingen rapide zurück; die Dienstleistung wurde 2008 für 350 000 Dollar angeboten und von einem Unternehmen zweimal verkauft. Wissenschaftler und noch mehr vielleicht Unternehmer freuen sich auf den Tag,

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an dem jedermann sich das eigene Genom für etwa 1 000 Dollar sequenzieren lassen kann. Wenn derart preisgünstige Methoden für die Kartierung des Genoms zur Verfügung stehen, werden viele Menschen ihr gesamtes genetisches Material sequenzieren lassen. Die meisten von ihnen werden zweifellos enttäuscht sein, weil die Sequenz so wenig aussagt und weil mit den Erkenntnissen kaum etwas anzufangen ist. Eigenschaften wie Intelligenz oder sportliche Fähigkeiten wurden bisher nicht mit bestimmten Genkombinationen in Verbindung gebracht, die zukünftige Eltern ihren Kindern vielleicht mitgeben wollen. Vielleicht ist das auch ganz gut so. Durch Eugenik, die Selektion bestimmter Merkmale, werden unerwünschte Eigenschaften zwangsläuÀg abgewertet. Mit einigen dieser Themen setzt sich der 1997 erschienene Science-Fiction-Film Gattaca mit Ethan Hawke auseinander. Er zeichnet eine Welt, in der alle gesund sind und niemand mehr „Defekte“ aufweist, jedenfalls niemand, der gut verdient. Die auf natürlichem Wege entstandenen Kinder, deren Gene durch die altmodischen Zufallsprozesse bei der Vereinigung von Samen- und Eizellen kombiniert werden, verrichten nur noch niedere Arbeiten. Die Sequenzierung ganzer Genome ist ein leistungsfähiges Hilfsmittel, und niemand weiß, wozu man es in Zukunft gebrauchen kann. Bisher jedoch hat es die Tyrannei der Zeit, die nach wie vor die biochemischen Eigenschaften von Fossilien zerstört, zwar infrage gestellt, aber noch nicht besiegt. Je weiter man in die Vergangenheit vordringt, desto weniger DNA steht zur Verfügung. Nach einer alten Faustregel lag die Grenze für die Wiedergewinnung von DNA bei etwa 100 000 Jahren; in diesem Zeitraum führen die chemischen Vorgänge, durch die Knochen zu Fossilien werden, nach und nach zum Abbau der DNA-Moleküle.

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Sollte man jemals DNA-Fragmente aus Fossilien gewinnen, die aus einer sehr fernen Vergangenheit stammen, wären sie selbst dann wertvoll, wenn es sich nur um winzige Stückchen handelt. Vor einigen Jahren schrieb Mary einen Artikel über die potenzielle zukünftige Entwicklung der Paläontologie, und dabei konzentrierte sie sich auf die Analyse molekularer Fossilien. Sie schrieb: „Wenn man aus dem ungewöhnlich gut erhaltenen Knochengewebe eines Velociraptor ein DNA-Fragment von 200 Basenpaaren (beispielsweise das Hämoglobingen) mit 40 aufschlussreichen Stellen gewinnen könnte, wäre es möglich, den betreffenden Genabschnitt mit den entsprechenden Abschnitten der heutigen Krokodile und Vögel zu vergleichen.“ Dies könnte dazu beitragen, den Verlauf der Evolution nachzuzeichnen. Man könnte kleine Genabschnitte eines Dinosauriers mit kleinen Genabschnitten von Vögeln oder Krokodilen vergleichen. Anhand des Umfangs der Veränderungen in den jeweiligen Fragmenten ließe sich dann zweifelsfrei feststellen, mit welcher Geschwindigkeit sich genetische Veränderungen während der Evolution abspielen. Bei den von Woodward gefundenen Molekülen handelte es sich vermutlich nicht um Dinosaurier-DNA; sehr alte DNA aus einer Zeit vor mehr als einer Million Jahren zu Ànden, könnte sich sogar als ein zwar faszinierendes, aber unerreichbares Ziel erweisen. In einem gewissen Sinn war Woodward aber dennoch auf der richtigen Spur: Wie mittlerweile viele Wissenschaftler festgestellt haben, können biologische Moleküle länger erhalten bleiben, als man früher geglaubt hatte, und damit eröffnet sich ein neuer Zugang zur Vergangenheit. DNA von Dinosauriern hat man bisher zwar nicht gefunden, aber man hat mit den neuen Verfahren andere Moleküle entdeckt, die tatsächlich die Erdzeitalter überlebt haben.

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Entdeckung fossiler Moleküle Erst seit ungefähr 50 Jahren suchen Wissenschaftler ernsthaft nach biochemischen Verbindungen aus sehr alter Zeit. Einer der ersten war der Physiker Philip Abelson, der mit seinen Gedanken über die Urananreicherung zur Entwicklung der Atombombe beitrug, nach dem Krieg aber in die Biologie und dort in das neue Forschungsgebiet der Biophysik wechselte. Als er mit seinen Arbeiten begann, war er am Institut für Erdmagnetismus der Carnegie Institution tätig, später wurde er an der gleichen Institution Direktor des Instituts für Geophysik. Im Jahr 1965 schrieb er in der Zeitschrift ScientiÀc American: „Bis vor Kurzem glaubte man, harte Körperteile könnten wenig oder gar keine Aufschlüsse über die chemischen Eigenschaften ausgestorbener Lebewesen liefern.“ Er berichtete jedoch, man habe „in bis zu 300 Millionen Jahre alten Fossilien organisches Material gefunden“. In den 150 Millionen Jahre alten fossilen Wirbeln eines Stegosaurus entdeckte er ein halbes Dutzend verschiedener Aminosäuren. Außerdem berichtete er über Arbeiten, mit denen man die potenzielle Lebensdauer der einzelnen Aminosäuren ermitteln wollte. Er maß den schnellen Abbau von Alanin bei 450 Grad und schrieb, man könne auf diese Befunde eine allgemein bekannte, häuÀg benutzte Formel anwenden; demnach würde Alanin bei Raumtemperatur mehrere Milliarden Jahre überleben. Im weiteren Verlauf fand er Aminosäuren in fossilen Überresten von Pferden, Muscheln, Schnecken, Dinosauriern und Fischen. Der Artikel von 1965 forderte mehr Forschungsarbeiten in diesem neuen Wissenschaftsgebiet. Fortschritte stellten sich aber nur langsam ein. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre stand die gesamte biologische Wissenschaft im Schatten der explosionsartig zunehmenden DNA-Forschung, die 1953

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nach der Entdeckung der DNA-Struktur durch Watson und Crick begonnen hatte. Dort kam die Forschung so schnell voran, dass man schon Anfang der 1970er Jahre mit den Genen heutiger Lebensformen experimentierte, und die rekombinante DNA, wie man sie damals nannte – heute sprechen wir von Gentechnik – wurde vom Gegenstand der ScienceFiction zur wissenschaftlichen Tatsache. Noch heute gibt es hitzige Diskussionen um gentechnisch veränderte Lebensmittel und um die Frage, welche Form der vorgeburtlichen genetischen Auswahl oder sogar Abwandlung von Embryonen ethisch vertretbar ist. Wissenschaftler sahen das neue Zeitalter kommen und entschlossen sich, nicht auf den Gesetzgeber zu warten, sondern die durch die Molekulargenetik aufgeworfenen ethischen Probleme selbst zu erörtern. Im Jahr 1975 trafen sich Molekularbiologen im kalifornischen Monterey zu der ersten Konferenz zu Risiken der Gentechnologie, der Asilomar Conference on Recombinant DNA. Dort diskutierten sie, welche Gefahren sich ergeben können, wenn man DNA verschiedener Lebewesen zusammensetzt. Die anwesenden Biologen und Vertreter anderer Fachrichtungen einigten sich auf verschiedene Sicherheitsmaßnahmen, beispielsweise auf Sicherheitslabore für riskante Arbeiten und auch auf biologische Vorsichtsmaßnahmen: So wollte man im Labor nur Bakterien und andere Lebewesen verwenden, die in freier Wildbahn nicht existieren können, weil sie auf die besonderen Bedingungen in einer künstlichen Umgebung angewiesen sind. Während also an der vordersten Front der biologischen Forschung über die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten diskutiert wurde, blieben Dinosaurierforscher und andere Paläontologen im Wesentlichen beim Sammeln von Steinen und Knochen; gewisse Fortschritte gab es aber auch

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bei der Gewinnung chemischer Substanzen aus alter Zeit. Im Jahr 1974 entdeckte man Proteine in 70 Millionen Jahre alten Muschelschalen. Später fand man Aminosäuren in fossilen Knochen. Man entwickelte neue Verfahren, die sich die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems zunutze machten, und identiÀzierte mit ihrer Hilfe in Fossilien biologisches Material. Zunächst wurde Kollagen nachgewiesen, später folgten Albumin und andere Proteine. Hämoglobin fand man in archäologischem Material, alten Knochen und alten Werkzeugen. Wie bereits erwähnt, berichtete Mary 1999 über möglicherweise vorhandenes Hämoglobin im ersten Dinosaurierknochen, den sie untersucht hatte. Die Kreationisten behaupteten zwar, sie habe tatsächlich rote Blutzellen gefunden, in Wirklichkeit berichteten Mary und ich aber in unserem Fachartikel nur über Merkmale, die aussahen, als könne es sich um fossile rote Blutzellen handeln. Außerdem nannten wir chemische Anhaltspunkte für Hämoglobin, die aber nicht eindeutig waren. Für einige meiner Paläontologenkollegen und mich wurde allmählich klar, dass in unserer Arbeit ein Wandel eintreten musste. Die sommerliche Freilandarbeit, die uns immer so viel Spaß machte und bei der wir die Vergangenheit ans Licht brachten, brauchten wir nicht aufzugeben, aber wir mussten neue Hilfsmittel hinzunehmen. Und das Präpariermikroskop, mit dem wir die Einzelheiten der Knochenstruktur sehen konnten, reichte nicht mehr. Wir mussten uns bis hinunter auf die Ebene der Moleküle begeben, und zwar sowohl bei den Fossilien als auch bei lebenden Organismen. In den 1980er Jahren berechnete man in der Molekularbiologie bereits anhand der Unterschiede von Genen lebender Organismen die Evolutionsgeschwindigkeit und datierte mit ihrer Hilfe einzelne Ereignisse in der Evolution. Damit hatte sich eine völlig neue Kategorie von Befunden entwickelt, die mit der Untersuchung

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der Fossilien, die durch Verwitterung aus der Erde freigelegt worden waren, konkurrierte oder sie ergänzte. Ganz offensichtlich steckte in den Molekülen eine ungeheure Menge an Informationen über die Evolution, und wenn die Paläontologie weiterhin Hand und Fuß haben wollte, musste sie sich auf diese neue Welt einstellen. Abelson startete seinen Versuchsballon 1965. Zwanzig Jahre später, 1985, erhob Bruce Runnegar von der University of California in Los Angeles in einem Vortrag auf einer Tagung der britischen Paleontological Association eine ganz ähnliche Forderung nach einem Wandel in der Paläontologie. Und nach noch einmal zwei Jahrzehnten – genauer gesagt, nach 22 Jahren – forderten Kevin J. Peterson aus Dartmouth, Roger E. Summons vom Massachusetts Institute of Technology und Philip C. Donoghue von der Universität Bristol wiederum einen Wandel, wobei sie Runnegars alten Vortrag zitierten. Das Schwergewicht lag natürlich jedes Mal an einer anderen Stelle. Heute geht es vor allem darum, einen Zusammenhang zwischen der Embryonalentwicklung und den Gesetzmäßigkeiten der Evolution herzustellen; dies ist das Wesentliche an der „Evo-Devo“, das ich in der Einleitung bereits kurz beschrieben habe. Die Autoren erwähnten aber auch die Möglichkeit, DNA aus alter Zeit zu Ànden und mit ihrer Hilfe die Evolution nachzuzeichnen. Die Grenze für eine realistische Aussicht auf die Gewinnung von DNA verlegten sie in die Zeit vor einigen Tausend Jahren; die ferne Vergangenheit würde damit wegen der Instabilität der DNA im Wesentlichen unerreichbar bleiben. Sie zeigten einen realistischen Weg auf, um ohne die Hilfe der DNA in die ferne Vergangenheit vorzudringen: Man sucht nach Proteinen, die sich seit vielen Millionen Jahren erhalten haben. Damit zollten sie ausdrücklich den Unter-

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suchungen des vorzeitlichen Kollagens durch Mary und ihre Kollegen Tribut. Mary und ihre technische Assistentin Jennifer Wittmeyer habe ich im letzten Kapitel bereits vorgestellt und dabei erwähnt, wie elastisch die mikroskopisch kleinen Überreste eines 68 Millionen Jahre alten fossilen Knochens waren, nachdem sie die Mineralstoffe mit einer schwachen Säure entfernt hatten. Die beiden dachten sofort an Kollagen. Es war bereits darüber berichtet worden, dass dieses Protein in vorzeitlichen Fossilien vorkommt, deshalb erschien der Gedanke plausibel. Als von dem Gestein, in dem das Fossil eingebettet gewesen war, und von den in den Knochen selbst eingewanderten Mineralstoffen nichts mehr übrig war, konnte man die Reste mit einer feinen Pinzette unter dem Mikroskop verbiegen und verdrehen. Kollagenspritzen gehören heute zum Grundrepertoire der kosmetischen Chirurgie. Liest man die Werbung und die Versprechungen über den Nutzen dieser oder jener Kollagenbehandlung, so kann man die Behauptung, es handele sich um eine Wundersubstanz, zwischen den Zeilen fast mit den Händen greifen. Nun, auch wenn Kollagen vielleicht keine Wunder wirkt, so ist es doch eine erstaunliche Substanz. Es ist das häuÀgste Protein der Tiere. Bei Säugetieren macht es 20 bis 25 Prozent der gesamten Proteinmenge aus. Kollagen ist ein wichtiger Baustein der Knochen und der Hauptbestandteil des Bindegewebes von Wirbeltieren. Es ist buchstäblich die Substanz, die unser Skelett zusammenhält. Die Bedeutung der Proteine für den tierischen Organismus kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Kollagen beispielsweise ist ein Strukturbestandteil. Andere Proteine transportieren Nährstoffe, Sauerstoff und Stoffwechselabfallprodukte durch den gesamten Organismus. Außerdem fördern sie alle möglichen biochemischen Reaktionen, regulieren das

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Wachstum und andere Prozesse, und erfüllen im Immunsystem wichtige Aufgaben. Auch Antikörper sind Proteine. Proteine bestehen aus kleineren Molekülen – den Aminosäuren –, die ihrerseits aus Kohlenstoff-, Stickstoff-, Wasserstoffund Sauerstoffatomen zusammengesetzt sind. In manchen Aminosäuren ist auch Schwefel enthalten. Die Proteine sind aber nicht nur von großer Bedeutung für den Stoffwechsel, sondern sie stellen auch in codierter Form ein Abbild mancher Teile der DNA eines Tieres dar. Den Code kennen wir – es ist die Sprache der Gene. Der in der DNA enthaltene genetische Code wird in der Regel mit den vier Buchstaben G A T C wiedergegeben. Die Buchstaben stehen für Guanin, Adenin, Thymin und Cytosin, chemische Substanzen, die als Basen bezeichnet werden. Jeder DNA-Strang ist eine Kette aus Basen, die sich mit einer zweiten derartigen Kette zu der berühmten Doppelhelix zusammenlagert, weil die Basen sich miteinander verbinden. Diese Verbindungen sind genau festgelegt: G paart sich immer mit C und A immer mit T. Gene sind unterschiedlich lang, und da die Basen demnach in unterschiedlicher Anzahl und Reihenfolge verkettet sein können, ist die Zahl der Basensequenzen, die ein Gen ausmachen, prinzipiell nahezu unbegrenzt. Die Gene – DNAAbschnitte mit unterschiedlicher Anzahl und Reihenfolge der Basen – enthalten die Anweisungen für die vielen, vielen Proteinmoleküle, die in einem Lebewesen vorkommen. Der Mechanismus, durch den diese Anweisungen abgelesen und umgesetzt werden, ist in jedem Oberstufenschulbuch beschrieben. Zu verdanken haben wir dies mehreren Nobelpreisträgern, die den ganzen Vorgang aufklärten. Die beiden Stränge der DNA-Spirale trennen sich ein Stück weit, und einer von ihnen wird von einem zelleigenen biochemischen

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Apparat abgelesen; dabei entsteht sein Spiegelbild, das aber nicht aus DNA besteht, sondern aus Ribonucleinsäure (RNA), einem ganz ähnlichen Molekül. In der RNA ist der Platz des Thymins durch eine andere Base besetzt, das Uracil (U). Anschließend wird das RNA-Molekül von den Ribosomen abgelesen, kleinen zelleigenen „Maschinen“, welche die Abfolge aus G, C, A und U in eine von den Genen festgelegte Sequenz aus 20 verschiedenen Aminosäuren umwandeln. Dabei legen jeweils drei Basen eine Aminosäure fest. Eine solche genetische Informationsübertragung, die in der Zelle bei der Produktion eines Proteins in einer Richtung abläuft, kann man heute auch rückwärts vollziehen. Dazu braucht man in der Regel komplizierte Apparaturen und Verfahren wie die Massenspektrometrie. Die Zusammensetzung einer Substanz lässt sich ermitteln, indem man die Anteile des Stickstoffs und anderer Elemente im Gewebe misst. Dabei hat jedes Protein ein charakteristisches ProÀl. Außerdem hat jedes Proteinmolekül eine charakteristische Form, die für seine Funktion in den chemischen Abläufen im Organismus von Bedeutung ist.

Kollagen Kollagen besteht aus großen, sehr kräftigen Molekülen. Sie bilden Fibrillen, die wie in einem Seil umeinander gewunden sind und im Gewebe liegen. Diese langen Seilmoleküle sind sehr zugfest und werden in Knochen, Sehnen und Knorpel genutzt – also in Gewebe, das einerseits widerstandsfähig und andererseits ein wenig biegsam sein muss. Kollagen ist aber auch zu einem der wichtigsten biochemischen Fossilien geworden. Dass es Jahrmillionen überdauern

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kann, hatte man bereits nachgewiesen, bevor Mary mit ihren Arbeiten begann. Man kann es – was allerdings schwierig ist – aus fossilen Knochen gewinnen und dann die Aminosäuresequenz der jeweiligen Kollagenform ermitteln. Substanzen wie Kollagen entwickeln sich im Laufe ihrer Evolution ebenso weiter wie die Form der Gliedmaßen, die Zahl der Zehen oder die Länge eines Vogelschnabels. Vogelkollagen unterscheidet sich geringfügig vom Kollagen der Säugetiere. Und auch innerhalb der einzelnen Gruppen wie Vögel oder Säugetiere kann das Kollagen sich wandeln. Wenn man die Sequenzunterschiede verschiedener Kollagenmoleküle identiÀziert und dann analysiert, wie viel Zeit für die Veränderungen erforderlich war, hat man einen neuen Zeitmaßstab für den entwicklungsgeschichtlichen Wandel. Wie die Form der Zähne, die unter Umständen den Wechsel von einer Säugetierart zur anderen kennzeichnet, so kann man eines Tages vielleicht auch Veränderungen des Kollagens mit dem Übergang von den Dinosauriern zu den Vögeln in Verbindung bringen. Oder aber die Ähnlichkeit von Vogel- und Dinosaurierkollagen wird zu einem weiteren Beleg für die enge entwicklungsgeschichtliche Verbindung zwischen diesen beiden Gruppen. Als die Geochemiker ihre Aufmerksamkeit neben dem Gestein auch auf Fossilien richteten, stellten sie etwas Interessantes fest: Genau wie uraltes Gestein, das die fossilen Knochen von Tieren enthält, enthalten die fossilen Knochen ihrerseits mikroskopisch kleine Spuren ihrer Vergangenheit. Einige Geochemiker stellten deshalb dem Namen ihres Fachgebiets die Vorsilbe Bio- voran und begannen innerhalb der Fossilien auf ähnliche Weise zu suchen, wie die meisten meiner Kollegen und ich in der Hell-Creek- oder Two-Medicines-Formation suchen. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete Peggy Ostrom von der Michigan State University. „Auch Moleküle sind Fossi-

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lien“, sagt sie, was sie als Feststellung und gleichzeitig als Herausforderung meint. „Sie können lange Zeiträume überdauern. Sie haben eine Form und eine Größe. Wie die Knochen sind sie sehr schön. Sie haben eine Form, und sie haben eine Funktion.“ Außerdem können sie uns eine Fülle von Informationen über die Geschichte des Lebendigen liefern. Peggy Ostrom hat sich mit einem anderen Protein beschäftigt: dem Osteocalcin, einem Baustein der Knochen. Unter anderem wählte sie es aus, weil es mit nur 49 Aminosäuren sehr klein ist. Außerdem kommt es nur bei Wirbeltieren vor, man braucht sich also um Verunreinigungen durch Bakterien oder Pilze keine Sorgen zu machen. Vor einigen Jahren erklärte Peggy bei einer Tagung der American Association for the Advancement of Science, wie sie vorgeht, wenn sie in fossilen Knochen uraltes Osteocalcin nachweisen will. Ihr Ausgangsmaterial ist eine Knochenprobe von ungefähr 20 Milligramm. Mit chemischen Methoden entzieht sie zunächst der mineralischen Matrix die biochemischen Substanzen, die sie dann kristallisieren lässt. Im nächsten Schritt werden mit einem Massenspektrometer unterschiedliche Proteine nachgewiesen. Es gibt verschiedene Arten der Massenspektrometrie; obwohl das Verfahren im Fernsehen häuÀg erwähnt wird, ist es nach wie vor von einer magischen Aura umgeben. Man nimmt einen Krümel von irgendetwas, steckt ihn in eine Maschine und weiß sofort, wer den Colonel Mustard umgebracht hat, weil sich auf den Handschuhen des Butlers noch Cyankalispuren befanden. Die Wirklichkeit ist weniger magisch, aber ebenso staunenswert. Die Technik mag im Einzelnen kompliziert sein, das Grundprinzip der Methode ist aber sehr einfach. Alle Elemente, beispielsweise Wasserstoff, Sauerstoff, Gold oder Kupfer, bestehen aus unterschiedlichen Kombinationen

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von Protonen, Neutronen und Elektronen und haben deshalb jeweils eine charakteristische Masse. Auch Moleküle, die solche Atome in unterschiedlicher Kombination enthalten, haben unterschiedliche Massen. Bei der Massenspektrometrie wird eine Substanz verdampft, und die Gasmoleküle beschießt man mit Elektronen, sodass sie in ihre Atome zerlegt werden. Die Atome werden dabei ionisiert und haben nun eine positive elektrische Ladung. Ein Detektor trennt die unterschiedlich schweren Atome, und mit Computerhilfe gewinnt man aus den Daten eine GraÀk, in der die Zusammensetzung der untersuchten Substanz aus den verschiedenen Elementen dargestellt ist. Jedes Molekül hat eine charakteristische derartige „Signatur“, und selbst verschiedene Formen (Isotope) der Atome lassen unterschiedliche Signaturen entstehen. Peggy Ostrom und ihre Kollegen untersuchten mithilfe der Massenspektrometrie mehrere Proben von 55 000 Jahre alten Bisonknochen, die im Permafrost erhalten geblieben waren. Dabei fanden sie Hinweise auf Osteocalcin. Dann zerlegten sie das vermutlich gefundene Protein mit Enzymen in seine Einzelteile, um so einen „Fingerabdruck“ der Aminosäuren herzustellen. Dies gelang sehr detailliert, und Peggy konnte im Osteocalcin des Bisons eine einzige Aminosäure nachweisen, die im Vergleich zur modernen Kuh verändert war. Bei der fünften der insgesamt 49 Aminosäuren in der Molekülkette handelte es sich beim Bison um Tryptophan, bei modernen Rindern um Glycin. Peggys Arbeitsgruppe sequenzierte auch das Osteocalcin aus fossilen Knochen einer ausgestorbenen Pferdeart, die man in der Juniper Cave, einer Höhle in Wyoming, gefunden hatte. Dieses Pferd mit dem wissenschaftlichen Namen Equus scotti wurde auf ein Alter von 42 000 Jahren datiert. Beim Vergleich der fossilen Moleküle mit denen heutiger Pferde und Zebras

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stellte sich heraus, dass sich die Osteocalcinmoleküle bei den Pferden nicht verändert haben; der Vergleich zwischen modernen Pferden und Zebras zeigte sogar, dass das Molekül sich im Laufe der letzten Million Jahre nicht gewandelt hat. Bisher hat Peggy sich eine halbe Million Jahre in die Vergangenheit vorgearbeitet und Osteocalcin auch in Fossilien von Moschusochsen gefunden. Fossile Moleküle sind nach ihren Worten „genau wie Knochen wunderschön, nur dass man sie nicht sehen kann“. Und sie fährt fort: „Diese vorzeitlichen Proteine ermöglichen uns einen Blick in die Vergangenheit. Wir können jetzt eine genetische Zeitreise unternehmen. Statt nur heutige Lebewesen zu betrachten und herauszuÀnden, wie sie verwandt sind, können wir in die Vergangenheit vordringen und uns tatsächlich die echten Moleküle ansehen“ – Moleküle, die Tausende oder sogar Hunderttausende von Jahren alt sind. Aber wie steht es mit 68 Millionen Jahren? So weit wollte Mary mit ihren fossilen Bruchstücken von B. rex in die Vergangenheit reisen. Vor einer halben Million Jahre wimmelte es in Nordamerika von Säugetieren; manche von ihnen würden wir heute nicht mehr erkennen, andere dagegen, beispielsweise der Bison, würden uns vertraut erscheinen. Menschen im biologisch-systematischen Sinn, das heißt Arten der Gattung Homo, gab es seit mindestens einer Million Jahren. Der Homo erectus, der bereits Steinwerkzeuge benutzte und möglicherweise das Feuer beherrschte, hatte sich von Afrika nach Asien und Europa ausgebreitet. Auch einen Hominiden, der als archaischer Homo sapiens bezeichnet wurde, gab es bereits; er stand anatomisch irgendwo zwischen dem Homo erectus und den Jetztmenschen, die vor rund 200 000 Jahren zum ersten Mal auf der BildÁäche erschienen. Nach der Zeit der fossilen Moschusochsen sollten noch mehrere Hunderttausend Jahre vergehen, bevor Menschen,

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die auch in ihrem Verhalten modern waren, Afrika verließen (dies geschah vor rund 50 000 Jahren), den gesamten Erdball besiedelten und schließlich anÀngen, Fossilien ihrer eigenen Vorfahren auszugraben. Dennoch sind 500 000 Jahre, so unvorstellbar uns dieser Zeitraum auch erscheinen mag, erdgeschichtlich nur eine relativ kurze Zeit: Sie führen uns in eine Epoche, in der das Leben auf unserem Planeten und die Szenerie uns zumindest verständlich erscheinen.

In die ferne Vergangenheit Nun wollte Mary den Sprung in die ferne Vergangenheit vollziehen. Die Untersuchung fossiler Knochen wird mit zunehmendem Alter in jeder Hinsicht schwieriger. Welche Ergebnisse erhält man, wenn die Probe verunreinigt ist, wenn die Untersuchungsverfahren fehlerhaft oder die Befunde nicht schlüssig sind? Wenn man es mit winzigen Mengen sehr alter fossiler Knochen zu tun hat, sind Untersuchungsergebnisse häuÀg bei Weitem nicht so eindeutig wie bei der Analyse modernen Materials. Dieses Problem wird umso größer, je weiter man in die Vergangenheit vordringt. Als Mary sich an die Untersuchung des Kollagens machte, ging sie das Problem auf mehreren Ebenen mit unterschiedlichen Methoden an: mit dem Raster-, Transmissions- und Rasterkraftelektronenmikroskop, mit Massenspektrometrie und immunologischen Tests. Zusammen mit ihrem Kollegen John M. Asara von der Harvard Medical School nutzte sie alle diese Methoden zur Untersuchung der Substanz, die anfangs wie Kollagen ausgesehen hatte. Dass so viele verschiedene Methoden notwendig waren, lag unter anderem daran, dass der fossile Knochen nur eine sehr

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geringe Menge organischen Materials enthielt. Der Nachweis der Proteinspuren war alles andere als einfach, und immer drohten Verunreinigungen oder Fehlinterpretationen. Deshalb mussten alle Untersuchungsverfahren genutzt und alle nur denkbaren Befunde gesammelt werden. Mit dem Rasterelektronenmikroskop in Verbindung mit Röntgenbeugungsstudien suchte Mary nach Anhaltspunkten dafür, dass es sich bei der Substanz um Kollagen handelte. Dann stellte sie die gleichen Untersuchungen mit dem Transmissionselektronenmikroskop an, aber dazu sind Proben mit einer Dicke von nur 70 Nanometern erforderlich. Das Transmissionselektronenmikroskop, so Mary, „setzt voraus, dass unsere Schnitte dünn genug sind und Elektronen sie vollständig durchdringen können. Nur dann werden die Elektronen von einer Seite zur anderen transportiert, und man erhält eine unglaublich hohe AuÁösung. Über das Kollagen, das wichtigste Protein der Knochen, wissen wir unter anderem, dass es Querstreifen aufweist. Das hat mit seinem molekularen Aufbau zu tun. Man sieht Streifen, die sich in Abschnitten von 67 Nanometern wiederholen. Das ist ein charakteristisches Kennzeichen von Kollagen. Wenn man ein faseriges Material mit 67 Nanometer breiten Streifen hat, handelt es sich um Kollagen.“ Mit dem Transmissionselektronenmikroskop kann man Moleküle noch genauer untersuchen, wenn man eine sogenannte Elementaranalyse vornimmt. Mit dem Rasterelektronenmikroskop Àndet man unter anderem heraus, dass ein Dinosaurierknochen neben anderen Spurenelementen auch Calcium und Phosphat enthält. „Dann wissen wir: Ja, es ist eine Carbonatverbindung“, sagt Mary. „Mit der Elementaranalyse, die das Transmissionselektronenmikroskop möglich macht, kann ich sagen: Es handelt sich

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um hundertprozentiges Fluorapatit. Oder ich kann sagen: Es ist Hydroxyapatit. Ich kann sogar feststellen, ob es sich um Hydroxyapatit mit biologischer Herkunft handelt.“ Mary bedient sich auch der Rasterkraftelektronenmikroskopie. Dabei kann man die Sonde des Mikroskops buchstäblich auf das Material bewegen und seine Elastizität quantitativ ermitteln. „Wir können sehen, wie biegsam das Material ist, um es dann mit modernen Knochen zu vergleichen; damit erfahren wir, wie viel von der ursprünglichen Funktion noch erhalten ist.“ Für Experimente mit der Gaschromatographie brauchte man wiederum andere Experten. Die Gerätschaften, mit denen Mary an der North Carolina State University arbeitet – ein Gaschromatograf, der mit einem Massenspektrometer gekoppelt ist –, stehen in einem eigenen Raum, und allein die genaue Einstellung erfordert einen halben Tag. Insgesamt setzt die Untersuchung einer Substanz die Verbindung zweier ganz unterschiedlicher Wissensgebiete voraus: einerseits Kenntnisse über neueste Computertechnik, andererseits aber auch Fähigkeiten, mit denen ein Alchimist im mittelalterlichen Europa vertraut gewesen wäre. Zu den Arbeiten, die auch ein Druide hätte verrichten können, gehört die Vorbereitung der Probe. Am Anfang steht eine geringe Menge Fossilpulver, das in Marys Labor hergestellt wurde. Man bringt es in einen kleinen offenen Behälter aus Zinn, der ungefähr halb so groß ist wie ein kleines Kaugummi und mit seiner Form an eine Sauciere erinnert. Dieses „Boot“ wird dicht verschlossen, und den so entstandenen Gegenstand von der Größe eines kleinen Papierkügelchens, dessen Gewicht man genau ermittelt hat, lässt man in die Öffnung des Chromatografen fallen. Dort schießt die Temperatur dann auf rund 900 Grad in die Höhe, die Substanz wird in ihre

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Atome zerlegt, und die Elemente gehen in den gasförmigen Zustand über. Die Gase werden durch Filter gesaugt, und dabei wandern unterschiedlich große Moleküle mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Sensoren messen, in welchen Mengen die verschiedenen Elemente vorkommen, und dabei ermittelt man die Mengenverhältnisse von Kohlenstoff und Stickstoff. An ihnen kann man ablesen, ob in der Probe ein Protein enthalten war. Damit hat man zwar keinen Beweis, dass dieses Mengenverhältnis tatsächlich auf ein Protein zurückzuführen ist, aber zumindest kann man Mengenverhältnisse messen, welche die Gegenwart eines Proteins ausschließen. Darüber hinaus sind weitere Untersuchungen notwendig, unter anderem immunologische Tests. Die Immunologie gehört zu den am weitesten entwickelten modernen Hilfsmitteln, wenn man herausÀnden will, welche Proteine in einer Substanz enthalten sind. Grundlage des Verfahrens ist die verblüffende Fähigkeit des Immunsystems, auf alle Formen körperfremder Substanzen – die Antigene – zu reagieren und sehr schnell maßgeschneiderte Abwehrmoleküle, die Antikörper, zu produzieren. In den Zellen des Immunsystems werden Gene hin und her geschoben wie die Karten in einem Kartenspiel, sodass sich am Ende immer wieder ein anderes Blatt ergibt – nur ist das Blatt in diesem Fall ein Molekül mit einer ganz bestimmten Form. Auf der OberÁäche jedes körperfremden Moleküls gibt es Bereiche, an die ein Protein nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip andocken kann. Jedes Mal, wenn eine Fremdsubstanz – ob Staub, Viren oder Bakterien – in den Organismus eindringt, stoßen die Immunzellen wie kleine Fabriken unterschiedlich geformte Antikörper aus. „Man könnte in den Organismus sogar Material vom Mars injizieren, das noch kein Mensch je gesehen hat, und doch

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würde das Immunsystem mit seiner großen Flexibilität sofort speziÀsche Anti-Mars-Antikörper herstellen. Wir nehmen also unser Dinosauriergewebe, dem wir die Mineralstoffe entzogen haben. Wir betten es ein, schneiden es in sehr dünne Scheiben und behandeln es dann mit einem Antikörper, der sich gegen Vogelkollagen richtet … Wenn der Antikörper eine Molekülstruktur erkennt, bindet er daran. Dann nehmen wir einen zweiten Antikörper, der den ersten erkennt, und dieser zweite wurde mit einer Fluoreszenzmarkierung gekoppelt. Nun legen wir den Dünnschnitt unter ein Fluoreszenzmikroskop; wenn etwas auÁeuchtet, ist das Protein vorhanden, bleibt alles dunkel, fehlt es.“ Im April 2007 berichteten Mary und sechs andere Wissenschaftler, unter ihnen auch John M. Asara und ich, in der Fachzeitschrift Science über die Entdeckung von Kollagen bei B. rex. Mary beschrieb mehrere Indizienketten, die in die gleiche Richtung deuteten, darunter Elektronenmikroskopie, Tests mit Antikörpern und Massenspektrometrie. In der gleichen Ausgabe der Zeitschrift berichtete Asara zusammen mit Mary und drei anderen Wissenschaftlern über Proteinsequenzen aus Mastodons und T. rex. Solche Informationen liefern wertvolle Aufschlüsse über entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge. An den Sequenzen war die erwartete Ähnlichkeit mit dem Kollagen der Vögel zu erkennen. Mary ging auch den umgekehrten Weg: Sie benutzte Material aus alten Dinosaurier- und Mammutfossilien, um Antikörper herzustellen. Dazu injiziert man beispielsweise Material aus einem Dinosaurierknochen in ein Kaninchen; dann stellt sich heraus, ob die Probe noch so gut erhalten ist, dass sie die Produktion von Antikörpern in Gang setzt. Anschließend untersucht man, welche Bestandteile moderner Knochen von diesen Antikörpern erkannt und gebunden werden. Erkennen

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die Dinosaurierantikörper beispielsweise das Kollagen von Hühnern, so ist dies ein stichhaltiges Indiz, dass in dem 65 Millionen Jahre alten Dinosaurierknochen noch Kollagen enthalten ist, das stark dem entsprechenden Protein von Hühnern ähnelt. Dieser Befund blieb nicht unwidersprochen. Im Januar 2008 äußerten Mike Buckley von der Universität im englischen York sowie ungefähr zwei Dutzend weitere Wissenschaftler, unter ihnen auch Peggy Ostrom, Kritik an dem Bericht. Insbesondere im Fall von T. rex reichten die Belege nach ihrer Ansicht nicht für die Schlussfolgerung, dass tatsächlich Kollagen erhalten geblieben und sequenziert worden war. Was die Untersuchungen am Mastodon anging, hielten sie die Befunde jedoch für überzeugend. Das lag unter anderem daran, dass es nach ihrer Lesart der Befunde so aussah, als hätten sich bei dem fossilen Mastodon in relativ kurzer Zeit mehr Veränderungen abgespielt als bei dem Fossil von T. rex in 68 Millionen Jahren. Außerdem zeigten die Sequenzbruchstücke, die T. rex zugeordnet wurden, nach ihrer Ansicht eine Ähnlichkeit mit Amphibienproteinen, und das erschien völlig unplausibel. Asara und Mary schrieben in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift eine Erwiderung und gaben zusätzliche technische Erläuterungen ab. Sie nannten viele verschiedenartige Belege, wonach das Kollagen erhalten geblieben war, und betonten, eine Verunreinigung mit Amphibienproteinen sei äußerst unwahrscheinlich: Amphibien sind in der Region von Hell Creek nicht zu Hause, und auch in den Labors, in denen man die Substanzen untersucht hatte, gab es keine solchen Tiere. In ihrer Antwort auf die Kritik wiesen Asara und Mary darauf hin, dass die Proben noch nicht in anderen Labors untersucht worden waren, weil es nur so wenige davon gibt. Wenn sie genug Material hätten, so schrieben sie, würden sie

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es in Zukunft auch anderen Instituten anbieten. Gleichzeitig bezeichneten sie aber ihre Untersuchungen und die Belege, das Kollagen erhalten geblieben war, noch einmal für gut begründet. Solche Diskussionen sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Naturwissenschaft. Mary ist wie ich überzeugt, dass alles für das Kollagen aus B. rex spricht, aber ich wäre enttäuscht und besorgt, wenn es keine energische Kritik an den Befunden gäbe. Im April 2008 veröffentlichten Chris Organ von der Harvard University und mehrere andere Autoren, unter ihnen auch Mary und Asara, die Fortsetzung zu ihren ersten Artikeln: Jetzt analysierten sie die Sequenzen des Kollagens von T. rex und Mastodon. Chris ist einer meiner früheren Studenten. Der extrovertierte, ausgezeichnete Doktorand hatte in Bozeman seine Dissertation über die Biomechanik des Dinosaurierschwanzes geschrieben – das heißt über die Frage, welche Mechanismen seiner Bewegung zugrunde liegen. Als Postdoc hatte er sich in Harvard stärker der Molekularbiologie zugewandt und sich mit dem Kollagen beschäftigt. Diese Arbeiten führten erwartungsgemäß zu dem Befund, dass T. rex eng mit Hühnern und weitläuÀg mit Alligatoren verwandt ist. Diese Erkenntnisse sind viel weniger eindeutig, als es den Anschein hat. Befunde sind nur in seltenen Fällen klar und einfach. Es wäre schön, wenn wir einfach ein Stück Kollagen aus einem fossilen Knochen entnehmen könnten, um dann zu sagen: „Da haben wir’s.“ Aber so ist es nicht: Wir müssen mit den fossilen Knochen viele Untersuchungen vornehmen, mit denen sich ausschließen lässt, dass andere Proteine vorhanden sind, oder mit denen man das Kollagen unmittelbar nachweisen kann. Die Ergebnisse der Untersuchungen interpretieren wir, und solche Interpretationen werden stets zum Gegenstand

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von Veränderungen und Diskussionen. Nur eines können wir nach unseren vielen Untersuchungen sagen: Bisher lassen sich die Befunde am besten damit erklären, dass Proteinbruchstücke über mehrere Zigmillionen Jahre hinweg überlebt haben. Es ist eine Art Startschuss für eine wissenschaftliche Diskussion. Wenn wir Glück haben, wird sie dazu führen, dass andere Wissenschaftler weitere Experimente anstellen und damit entweder unsere Befunde bestätigen oder stichhaltige Belege gewinnen, denen zufolge wir Unrecht haben. Eine Frage ist immer dann gut, wenn wir bei unseren Bemühungen um ihre Beantwortung neues Wissen gewinnen. Können Proteinmoleküle über 68 Millionen Jahre hinweg in ihrer ursprünglichen Form und in einem derart guten Zustand überleben, dass wir sie sequenzieren können? Das wollen wir herausÀnden. Eine gute Frage ist nicht immer jene, die am tiefsten schürft. Es ist vielmehr diejenige, die wir auch beantworten können. Warum gibt es etwas und nicht nichts? Darauf habe ich keine Antwort, und ich weiß auch nicht, auf welchem Weg man zu einer Antwort gelangen sollte. Ob Proteinmoleküle über 68 Millionen Jahre hinweg erhalten werden können, ist eine gute Frage; wir haben darauf eine vorläuÀge Antwort, und die wirft weitere Fragen auf. Welchen Anteil des Proteins können wir entschlüsseln? Wie können wir mehr derartige Fossilien Ànden? Wie bleibt ein Molekül so lange erhalten? Warum Proteine und nicht die DNA? Können wir andere Proteine Ànden? Können wir Proteine verschiedener ausgestorbener Tiere Ànden? „Ich glaube, je genauer wir diese Knochenmatrix – und irgendwann auch die Blutgefäße und Zellen, mit denen ich mich als Nächstes beschäftigen möchte – untersuchen, desto mehr Erkenntnisse gewinnen wir über den Ablauf der Fossilbildung, über Abbauprozesse, über molekulare Alterung.

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Daraus ergibt sich eine Fülle von Folgerungen, die ich für höchst faszinierend halte.“ Marys Befunde haben die Arbeitsweise der Freilandpaläontologie verändert und werden nach meiner Überzeugung in Zukunft noch größere Auswirkungen auf das gesamte Fachgebiet haben. Früher haben wir nur die Knochen gesammelt und uns mit ihrer Form und Struktur beschäftigt, mit der makroskopischen Morphologie der Tiere vergangener Zeiten. Um den Verfall unserer Funde zu verhindern, wurden sie stets sofort mit Konservierungsmitteln überzogen. Es war ein wenig so, als würde man die Knochen anstreichen wie ein hölzernes Boot, das man vor den Elementen schützen will. Auf diese Weise kann man alte Fossilien gut vor dem weiteren Verfall bewahren. Aber wie Farbe, so dringt auch das Konservierungsmittel in die trockenen Fossilien ein, die es begierig aufnehmen. In fossilen Knochen, die auf diese Weise mit neuen Chemikalien durchtränkt sind, kann man nicht mehr nach Spuren biochemischer Moleküle aus der Zeit vor vielen Millionen Jahren suchen. Mittlerweile suchen Arbeitsgruppen des Museum of the Rockies in jeder sommerlichen Freilandsaison nach Fossilien, die so tief im Gestein begraben waren, dass eine Erhaltung biologischer Moleküle plausibel erscheint. Und jedes Mal sorgen wir dafür, dass Mary sie sofort in die Hände bekommt. Letztes Jahr gruben wir den Beinknochen eines Brachylophosaurus (eines Dinosauriers mit Entenschnabel) aus und schickten Proben davon an Mary. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass in den Proben schon in der kurzen Zeit, bis sie in North Carolina ankamen, ein gewisser Zerfall eingesetzt hatte. Um die Zeit des Abbaus zu verkürzen, mussten wir also das Labor an die Fundstätte verlegen.

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Marys mobiles Labor beÀndet sich im Laderaum eines Sattelschleppers. Finanziert wurde es vom geologischen Institut der North Carolina State University. Ursprünglich hatte das Labor der Armee gehört, die es zur Schadstoffbeseitigung einsetzte und auch den Transport nach Montana bezahlte. Es verfügt über einen Dieselgenerator, Brennstoff- und Wassertanks, einen Büroraum und ein Badezimmer. Der Bau des Labors hatte die Armee eine halbe Million Dollar gekostet. Wir hatten es nach Bozeman in unser Museum gebracht und weitere 25 000 Dollar in den Umbau gesteckt. Dabei war unter anderem ein Reinraumlabor entstanden, in dem wir weiches Gewebe isolieren konnten. Es gibt einen Luftabzug, mehrere Mikroskope, ein Reinwassersystem und andere Analysegeräte. Irgendwann wollen wir auch noch ein Rasterelektronenmikroskop einbauen. In dem Labor gewannen wir letzten Sommer einige großartige neue Befunde. Mary verfügt mittlerweile über schönes Material aus der Judith-River-Formation, das aus der späten Kreidezeit stammt und einige Millionen Jahre älter ist als die Funde aus der Hell-Creek-Formation. Einige der neuen Funde Àndet Mary sehr spannend. „Wir haben eine Menge großartige Stücke“, sagt sie, „und lernen gerade viel Neues darüber, wie man Knochen im Freiland am besten behandelt. Jetzt können wir zum ersten Mal auch Zähne untersuchen, und die sind wirklich interessant.“ Warum werden Fossilien im Laufe der Zeit abgebaut, und woran liegt es, wenn der Abbau langsamer oder schneller vonstatten geht? Das sind wichtige Fragen. Wie Mary betont, können Erkenntnisse über die Alterung der Moleküle uns auch neue Aufschlüsse über den Alterungsprozess bei lebenden Tieren verschaffen. Und wohl nichts ist für uns interessanter als die Tatsache, dass wir selbst älter werden. Neue

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Erkenntnisse über die molekulare Alterung sind auch für unsere Suche nach Leben auf anderen Planeten von Bedeutung. Wenn wir wissen, wie, mit welcher Geschwindigkeit und unter welchen Bedingungen Moleküle zerfallen, haben wir eine bessere Vorstellung davon, wonach wir auf dem Mars, auf dem Titan oder jenseits davon suchen sollen. Eine Fülle neuer Erkenntnisse liefern solche Befunde über die Evolution. Derzeit schätzt man die Geschwindigkeit des entwicklungsgeschichtlichen Wandels und die Zeitpunkte, zu denen es in der Geschichte des Lebendigen zu Verzweigungen der Abstammungslinien kam, anhand der Struktur der Knochen ab, also an ihrer makroskopischen Morphologie. Außerdem ermittelt man durch Vergleich der Gene heutiger Lebewesen das Ausmaß der Unterschiede zwischen den Arten oder Gattungen. Aufgrund solcher Informationen kann man die Geschwindigkeit der Evolution abschätzen und Evolutionsereignisse in der Vergangenheit datieren. Mit Erkenntnissen über die Proteinsequenzen aus vorzeitlichen Lebewesen könnten wir unmittelbar in die ferne Vergangenheit eintauchen und unsere Vorstellungen über die Evolution überprüfen. Sowohl mit der Grabung in Dinosaurierknochen als auch mit den Bruchstücken von Kollagen und anderen Biomolekülen kommt man jedoch nur bis an einen gewissen Punkt. Dort sind wir vielleicht noch nicht angelangt, aber irgendwann haben wir nur noch Staub in der Hand und fragen uns, wo wir als Nächstes graben sollen. Die Antwort: in den Genen der heutigen Tiere, denn dort Ànden wir einen Bericht über die Evolution. In unserem Zusammenhang liegt der wichtigste derartige Bericht in den Genen der einzigen heute noch verbliebenen Dinosaurier: der Vögel.

4 Dinosaurier unter uns Hühner und andere Vettern von T. rex Nach Aussage unserer führenden Wissenschaftler bin ich bisher nicht ausgestorben, und sie müssen es ja wissen. Nun ja, es nützt nichts, deswegen zu weinen. Will Cuppy, How to Become Extinct

Jeden Tag in der Frühe machen die Dinosaurier einen Heidenlärm. Ich höre genau, wie sie vor meinem Schlafzimmerfenster ihren Morgenchor anstimmen. Wenn ich das Haus verlasse, sind sie überall. Ich sehe sie in den Parks, sie treiben sich auf den Parkplätzen der Einkaufszentren herum, aber auch in der Prärie, an Flüssen, am Meer und in New York, wo sie in erstaunlicher Zahl zu Hause sind. HäuÀg Ànde ich sie auch auf meinem Teller, in feinen Restaurants ebenso wie in FastFood-Läden. Natürlich spreche ich von Dinosauriern aus der Gruppe der Vögel: von Grasmücken, Spatzen, Katzenvögeln, Kuhstärlingen, Rotkehlchen, Pirolen, Möwen, Geiern, Eisvögeln, Schnepfen, Falken, Tauben und Hühnern, Milliarden von Hühnern. In diesem Buch habe ich bisher fast immer behauptet, die Dinosaurier seien gar nicht ausgestorben, und Vögel seien Dinosaurier, die von Theropoden – den Verwandten von

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T. rex – abstammen und in ihrem Genom ein großes Arsenal von Dinosauriergenen tragen. In dieser Frage sind sich die Wissenschaftler heute einig, aber das war nicht immer so. Da die Verbindung von Vögeln und Dinosauriern – sowohl das, was wir bereits darüber wissen, als auch das, was wir hoffentlich noch entdecken werden – im Mittelpunkt meiner Geschichte steht, lohnt es sich, noch einmal einen Schritt vor die Grabungen zu gehen und innezuhalten, bevor wir uns mit der Laborarbeit beschäftigen. Zunächst wollen wir ein wenig entwicklungsgeschichtliche Vogelbeobachtung betreiben. Auch unsere Kenntnisse über die Verwandtschaft zwischen Blauhäher und Velociraptor, zwischen Huhn und T. rex, haben sich entwickelt. Die Evolution der Vögel und ihre Erforschung geben eine gute Geschichte in der Geschichte ab. Dass zwischen Dinosauriern und Vögeln ein Zusammenhang besteht, weiß man schon sehr lange. Die Dinosaurier sind Reptilien, und die Vögel stammen eindeutig von Reptilien ab, aber welche Reptilien im Einzelnen ihre Vorfahren waren und wie und wann es zu der Abspaltung kam, war immer ein faszinierendes Rätsel. Die heutigen Vögel faszinieren uns wie kaum eine andere Tiergruppe auf der Erde. Sie sind schön, sie sind klug, und sie leben unmittelbar unter uns. Im Gegensatz zu nahezu allen anderen wilden Tieren, die wir gern beobachten würden, verstecken die Vögel sich nicht vor uns. Rotkehlchen hüpfen über unseren Rasen, Möwen jagen hinter unseren Booten her oder versammeln sich an Stränden, auf Müllkippen und den Parkplätzen von Fast-Food-Restaurants. Rotschwanzbussarde sitzen, unbeeindruckt vom Verkehr, am Straßenrand. Wenn Vögel gejagt werden, sind sie misstrauisch, aber viele andere begleiten uns so oft, dass sie uns genauso vertraut sind wie Bäume, Blumen und Sonnenlicht.

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Außerdem können sie Áiegen. Das ist ihre eindrucksvollste, faszinierendste Eigenschaft. Sie Áiegen. Vögel lassen sich vom Wind tragen und steigen mit dem Auftrieb in die Höhe, als wäre die Luft fester Boden oder Meerwasser. Dies schafft zwischen ihnen und den anderen Dinosauriern intuitiv eine gewaltige Kluft, und es erscheint einfach seltsam, sie mit vorzeitlichen Tieren in Verbindung zu bringen, die in unserer Vorstellung häuÀg durch die Sümpfe der Kreidezeit stapften oder auf prähistorischen Ebenen herumstreiften. Wie kommen wir darauf, dass die Vögel eigentlich Dinosaurier sind? Woher wissen wir, dass sie zu den Reptilien gehören? Wie erfahren wir etwas über ihr entwicklungsgeschichtliches Erbe? Oder kurz gefragt: Woher kommen die Vögel? Die Antworten Ànden wir nicht in den Sedimenten von Hell Creek. Zu der Zeit, als B. rex sich im Schatten der Rocky Mountains im kreidezeitlichen Flussdelta herumtrieb, waren Himmel, Land und Meer bereits überall von Vögeln besiedelt. Manche von ihnen würden uns heute seltsam erscheinen. Tauchvögel, einen bis eineinhalb Meter lang, mit Zähnen, winzigen Vordergliedmaßen und kurzem Schwanz gingen in dem Binnenmeer auf Fischfang. Gesellschaft hatten sie von erkennbaren Vorfahren der heutigen Vögel, darunter Wattvögel, Papageien, Sturmvögel und andere Arten, die Áiegen und tauchen konnten. Unter allen diesen Vögeln und Dinosauriern waren auch die Alvarezsauriden, die man früher für sehr primitive Vögel hielt, während viele Fachleute in ihnen heute vogelähnliche Dinosaurier sehen. Die Schwierigkeiten, die wir heute mit der Zuordnung der Alvarezsauriden zu einer bestimmten Kategorie haben, machten ihnen selbst sicher keine Sorgen: Sie liefen herum und Àngen kleine Säugetiere oder andere Beute. Ein weiterer Vogel aus der späten Kreidezeit

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war Ichthyornis. Er war ungefähr 30 Zentimeter lang, konnte tauchen, besaß Zähne und hatte auch Flügel, die lang genug zum Fliegen waren. Bis bei den Vögeln die große Auseinanderentwicklung einsetzte, die zu den zahlreichen, vielgestaltigen Formen unserer Zeit führte, dauerte es nach dem Verschwinden der anderen Dinosaurier noch einmal zehn Millionen Jahre. Aber als die Dinosaurier auftauchten, war die Gruppe der Vögel schon alt. Um ihre Ursprünge zu Ànden, müssen wir noch viel tiefer in die Vergangenheit vordringen. Als Vorfahren der Vögel wurden zahlreiche Tiergruppen genannt, darunter Schildkröten, Pterosaurier und andere vorzeitliche Reptilien. Wie Luis Chiappe in GloriÀed Dinosaurs: The Origin and Early Evolution of Birds vertraten gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Wissenschaftler – zuerst Karl Gegenbaur in Deutschland, später auch Thomas Huxley in England und Edwin Drinker Cope in den Vereinigten Staaten – die Ansicht, dass die Vögel von Dinosauriern abstammen. Dann wurden andere Reptilien zu beliebteren Kandidaten für die Urahnen der Vögel. Immerhin schienen Vögel sich doch stark von Dinosauriern zu unterscheiden. Die Dinosaurier hielt man für kaltblütige, schwerfällige, langsam dahinstapfende Reptilien mit kleinem Gehirn. Vögel dagegen sind lebendig, schnell und in der Regel mit offenkundiger Schläue ausgestattet. Sie produzieren Körperwärme. Vögel sind auch in den kältesten Regionen der Erde zu Hause, und zwar gerade deshalb, weil sie über eine so hoch entwickelte Temperaturregulation verfügen. Die Arktis ist von Eulen und Falken bevölkert. In der Antarktis gedeihen Raubmöwen und Pinguine. Die kleinen Seeschwalben wandern jedes Jahr von einem Pol zum anderen – eine der längsten Tierwanderungen auf unserem Planeten. Bernd Heinrich, der in den Wäldern

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von Maine die Rabenvögel erforscht hat, schrieb anschauliche Berichte über das Goldkronen-Goldhähnchen, das im Hinblick auf seinen Energiehaushalt immer am Rande des Abgrunds lebt. Der winzige Vogel überlebt in den nordamerikanischen Nadelwäldern den Winter, in dem er tagsüber ständig frisst; damit verschafft er sich gerade so viele Kalorien, dass er die Nacht überleben kann. Um Energie zu sparen, verfällt er dabei in eine Art Starre. Das Goldkronen-Goldhähnchen passt ganz und gar nicht zu dem Bild der schwerfälligen, kaltblütigen Dinosaurier, das unsere Vorstellungen über Jahrzehnte hinweg und bis in die 1970er Jahre hinein beherrschte. Aber mit zunehmenden Kenntnissen über die Vögel wandelte sich auch unsere Vorstellung von den Dinosauriern. Einer der Wissenschaftler, die unser Bild von beiden Tiergruppen veränderten, war der inzwischen verstorbene John Ostrom, einer der großen Paläontologen des 20. Jahrhunderts. Zwei Entdeckungen waren von entscheidender Bedeutung.

Ein neues Bild von Dinosauriern Im Jahr 1964 entdeckte Ostrom, der am Peabody Museum der Yale University arbeitete, an einer Fundstätte in der Cloverly-Formation nicht weit von Bridger in Montana einige ungewöhnliche Knochen. Die Stelle, die unter dem Namen Shrine bekannt wurde, liegt südlich von Billings ungefähr auf halbem Weg zur Grenze nach Wyoming. Ihr Alter wurde auf 120 Millionen Jahren datiert, das heißt, sie stammt aus der frühen Kreidezeit. Dort hatte Barnum Brown vom American Museum of Natural History in den 1930er Jahren bereits einmal Ausgrabungen vorgenommen.

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In den Jahren nach seiner Entdeckung, und insbesondere in der Freilandsaison 1967, fanden Ostrom und seine Mitarbeiter mehr als 1 000 fossile Knochen, die mindestens drei Exemplare einer neuen Dinosaurierart repräsentierten. Als die Zahl der Fossilfunde nachließ und das Gestein, das man entfernen musste, immer härter und dicker wurde, stellten die Wissenschaftler ihre Arbeiten ein. Ostrom taufte den Dinosaurier auf den Namen Deinonychus antirrhopus (wörtlich „ausbalancierte schreckliche Klaue“); damit spielte er auf die beiden auffälligsten Merkmale an: einen langen, steifen Schwanz und gebogene, tödliche Klauen an den beiden Hinterfüßen. In einem 1969 erschienenen Fachaufsatz gab er Deinonychus seinen Namen und beschrieb ihn als schnell, schlau, mit mörderischen Klauen. Ostrom zufolge war er wendig, wild und klug genug, um in der Gruppe auf die Jagd zu gehen. Mit seinem Stoffwechsel konnte er auch längere Anstrengungen durchstehen. Ostrom vermutete, dass er ein Warmblüter war, das heißt, er konnte wie Vögel und Säugetiere seine Körpertemperatur unabhängig von der Temperatur der Umgebung regulieren. Reptilien wie Schildkröten, Eidechsen und Alligatoren sind darauf angewiesen, von der Umgebungstemperatur aufgewärmt zu werden; sinkt diese, sind sie hilÁos. Das zumindest war in einfacher Form die allgemein anerkannte wissenschaftliche Lehrmeinung jener Zeit: Reptilien, so glaubte man, können ihre Körpertemperatur grundsätzlich nicht in nennenswertem Umfang unabhängig regulieren. Die Dinosaurier waren zweifellos Reptilien, aber in dieses Bild passten sie nicht. Mit Deinonychus setzte Ostrom hinsichtlich unserer Kenntnisse über die Dinosaurier eine Revolution in Gang, von der auch ich mitgerissen wurde. Ich konnte sogar dazu beitragen, unter anderem durch die Entdeckung von Nistplätzen ganzer

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Dinosaurierkolonien; auch sie ließen darauf schließen, dass die Dinosaurier völlig andere Tiere waren, als man es sich bis dahin ausgemalt hatte. Ostrom ging die Verbindung zwischen Dinosauriern und Vögeln von beiden Seiten her an. Kurz nach der Entdeckung von Deinonychus machte er einen weiteren interessanten Fund, dieses Mal in einem Museum. Er fand ein falsch eingeordnetes Exemplar des berühmten Urvogels Archaeopteryx lithographica, von dem es einige der berühmtesten Fossilien überhaupt gibt; sie sind in feinkörnigen Kalkstein eingeschlossen und sehen aus wie meisterhafte Radierungen. Den Namen lithographica trägt das Fossil genau deshalb: Es stammt aus deutschen Kalksteinsedimenten, die auch ein hervorragendes Material für die LithograÀe liefern. Das erste fossile Skelett von Archaeopteryx wurde 1861 gefunden. Nach der Beschreibung von Chiappe zeigt es „einen mit Zähnen ausgestatteten Vogel von der Größe einer Krähe mit kräftigen Klauen an den Händen und einem langen Knochenschwanz“. Bei seiner Entdeckung war es der älteste, primitivste Vogel, den man kannte – und ist es bis heute. Jenes erste Exemplar wurde an das British Museum of Natural History verkauft und beÀndet sich noch heute dort. Der nahezu vollständige Skelettabdruck eines vergleichbaren Archaeopteryx-Fossils wurde 1877 in einem anderen Steinbruch nicht weit von der Ortschaft Solnhofen gefunden, in der man das Londoner Fossil entdeckte. Archaeopteryx ähnelt in vielerlei Hinsicht einem Dinosaurier. Aber natürlich hat er auch ein üppiges GeÀeder, das ihn sofort als Vogel kennzeichnet. Hätte man zu jener Zeit schon gewusst, dass andere Fossilien, bei denen es sich eindeutig um Dinosaurier handelt, ebenfalls Federn besitzen, wäre die KlassiÀkation vielleicht nicht so eindeutig gewesen: Archaeopteryx unterschei-

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det sich in vielen Merkmalen von den heutigen Vögeln, nicht zuletzt durch den langen Schwanz und die Zähne. Sein Schädel ist der eines Reptils. Das ganze Tier ist ein Mischwesen: langer Schwanz, aber nicht so lang wie bei den Vorfahren; eine primitive Wirbelsäule, aber nicht so primitiv wie bei den früheren Dinosauriern; und Klauen an den Enden der Flügel. Dennoch war es eindeutig ein Vogel oder eine Übergangsform zwischen Vögeln und Reptilien. Heute wird er als Vogel eingeordnet und ist das älteste bekannte Vogelfossil, aber nicht der erste Vogel aller Zeiten. Bei der Untersuchung und Auswertung von Vogelfossilien stellte sich heraus, dass es die Gruppe schon zu viel früheren Zeiten gegeben haben muss. Ostrom machte seine Entdeckung, als er die Entstehung der Flugfähigkeit erforschte. Im Rahmen seiner Arbeiten wollte er im niederländischen Teyler-Museum nun ein Exemplar eines Pterodactylus untersuchen. Was er dabei erlebte, beschreibt Pat Shipman in ihrem Buch Taking Wing: Als man ihm die Steinplatte brachte, in der das Fossil eingebettet war, „trug er die Platte hinüber zum Fenster, wo das Licht besser war. Im nächsten Augenblick Àel das Sonnenlicht schräg auf die Platte und machte die Abdrücke von Federn sichtbar“. Jetzt wusste er sofort, was er vor sich hatte. Das Fossil von Archaeopteryx, das man fälschlich als Pterodactylus klassiÀziert hatte, erinnerte ihn nachdrücklich daran, wie eng Dinosaurier und Vögel verwandt sind. Shipman schreibt: „Aufgrund dieser zweiteiligen Entdeckung ging Ostrom daran, Huxleys Hypothese von der Entstehung der Vögel aus Dinosauriern wiederzubeleben. Vögel, so argumentierte er mit der Leidenschaft eines frisch Bekehrten, ähneln den kleinen Dinosauriern aus der Gruppe der Theropoden so stark, dass man einen ungeÀederten früheren Vogel leicht für einen solchen Dinosaurier halten könnte.“

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Ich lernte John Ostrom 1978 kennen. Er kam nach Princeton, wo ich als Präparator arbeitete, um mit meinem Chef Don Baird über Fußabdrücke im Connecticut Valley zu sprechen. Bob Makela und ich hatten bereits die ersten Fossilien von Dinosaurierbabys mit Entenschnabel gefunden, was für die Dinosaurierforschung eine ungeheure Überraschung war: Sehr junge Dinosaurier hatte man zuvor fast nie entdeckt, und ihre Seltenheit war ein beunruhigendes Rätsel. Ostrom kam in dem Labor vorbei, in dem ich arbeitete, und machte Bemerkungen über die geringe Größe der jungen Dinosaurier. Wir unterhielten uns über Entenschnabel-Dinosaurier und ihre Schädel; dabei ging es insbesondere um die Frage, ob die Schädelknochen sich bewegten, wenn die Tiere fraßen. Die Schädel von Vögeln und Eidechsen haben diese Eigenschaft, die man auch als Schädelkinese bezeichnet. John hatte geschrieben, der Schädel der Entenschnabel-Dinosaurier sei wie der von Krokodilen und Alligatoren unbeweglich, ich aber hatte auf einer Tagung einige Befunde präsentiert, wonach diese Tiere in Wirklichkeit wie Vögel und Eidechsen einen beweglichen Schädel haben. Im Laufe der Jahre wurden John und ich Freunde, und 1995 lud ich ihn ein, mit der Arbeitsgruppe des Museum of the Rockies ins Freiland nach Montana zu fahren und sich dort anzusehen, was wir mit seiner Deinonychus-Fundstätte gemacht hatten. Ich interessierte mich seit 1993 für die Lebensgeschichte von Dinosauriern und insbesondere für die Frage, ob sie in sozialen Gruppen zusammengelebt hatten. An allen anderen untersuchten Fundstätten hatten wir pÁanzenfressende Dinosaurier gefunden, also die Beutetiere. Mit Johns Genehmigung beauftragte ich eine Freilandmannschaft, den „Shrine“ wieder zu öffnen. Zu diesem Zweck mussten wir mit Presslufthämmern, Spitzhacken und Stemmeisen mehrere

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Hundert Tonnen hartes Gestein wegräumen. Letztendlich fanden wir nur sehr wenige Knochen, und John entschied, die Stätte nicht weiter zu untersuchen. Die Mannschaft fand zwar wichtige Fossilien, die zu besseren Kenntnissen über das wahre Aussehen des Deinonychus-Schädels beitrugen, aber das hatte einen hohen Preis. Über das Sozialverhalten von Deinonychus lieferte der Steinbruch so gut wie keine Aufschlüsse. Wie viele Vertreter der früheren Paläontologengeneration, so war auch John ein Gentleman mit großartigen Umgangsformen. Wir waren zwar Freunde geworden, und er hatte mir wegen meiner Arbeit sowie eines meiner früheren Bücher mit dem Titel Digging Dinosaurs – es handelte von der Entdeckung der Skelette junger Entenschnabel-Dinosaurier – große Komplimente gemacht, aber für mich war er immer noch ein großer Wissenschaftler, eine Inspiration und eine maßgebliche Gestalt der Paläontologie. Deshalb fühlte ich mich sehr geehrt, als ich ihn zu der Stätte seiner vielleicht bekanntesten Entdeckung führen konnte. Das Ganze hatte aber auch einen bitteren Beigeschmack, denn er war schon älter und kaum noch in der Lage, eine der zufriedenstellendsten Tätigkeiten jedes Dinosaurierforschers auszuführen: das Erkunden, die Ausgrabung, die Zeitreise mit Schaufel, Spitzhacke und Presslufthammer. Solche Gedanken gingen auch ihm durch den Kopf. Nach der Besichtigung, als John unsere Ausgrabungen gesehen hatte, erklärte er mir, er werde vermutlich nicht mehr zur Freilandarbeit zurückkehren. Dann gab er mir seinen Hut. Ich kann zwar nicht behaupten, dass Hüte für einen Paläontologen so kostbar sind wie für einen Texaner, aber manchmal sind sie so etwas wie ein besonderes Kennzeichen oder ein Talisman. Man stelle sich nur einen Indiana Jones ohne Gewehrkugeln, Nazis und Spezialeffekte vor. Ausgrabungen Ànden niemals im Schatten statt. Wo die Erosion das Gestein

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freigelegt hat, scheint zwangsläuÀg die Sonne; da kann ein Hut – der absolut unentbehrlich ist – sich mit Erinnerungen verbinden und eine besondere Bedeutung erlangen. John Ostroms Hut hängt an der Wand meines Arbeitszimmers, und dort wird er auch bleiben. Der große alte Mann starb ein paar Jahre später; die Nachricht erreichte uns, als wir gerade im Freiland waren. Die ganze Mannschaft war erschüttert.

Die Abstammung der Vögel John entdeckte nicht nur einen ungewöhnlichen Dinosaurier, sondern er entwickelte auch eine umfassende Argumentation zugunsten der Vorstellung, dass die Vögel von Dinosauriern abstammen. Im Jahr 1975 fasste er in einem Fachartikel andere Ansichten zusammen und präsentierte seine eigenen Überlegungen einschließlich der Befunde, die dafür sprachen. Zu Beginn wies er darauf hin, dass die Vorstellung, Vögel seien Nachkommen der Reptilien, schon seit langem im Umlauf war. Er schrieb: „Im Laufe der Jahre wurden mehrere verschiedene Reptiliengruppen vorgeschlagen, aber seit mindestens 50 Jahren wurde der Ursprung der Vögel nach übereinstimmender Ansicht in eine Gruppe primitiver Archosaurier-Reptilien aus der Triaszeit verlegt: zu den Thecodontia.“ Die Thecodontia waren die Vorläufer von Krokodilen, Pterosauriern und Dinosauriern. Sie waren Landtiere und Nachkommen einiger riesiger Amphibien, die sich entwickelten, nachdem die Tiere das Land besiedelt hatten und eine immer größere Formenvielfalt hervorbrachten. John präsentierte eine gründliche, detaillierte Analyse aller verfügbaren Archaeopteryx-Fossilien und vertrat die Ansicht, dieser fossile Vogel sei den Theropoden und insbesondere den grazilen,

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wendigen, räuberischen Coelurosauriern wie Deinonychus so ähnlich, dass die Abstammungslinie der Vögel ohne Weiteres zu erkennen sei. Er erwähnte Ähnlichkeiten von Wirbeln, Vordergliedmaßen, Beckenknochen, Hinterextremitäten und den Knochen des Schultergürtels. Außerdem widerlegte er die Vorstellung, das Fehlen von Schlüsselbeinen bei den Theropoden müsse bedeuten, dass sie nicht die Vögel hervorgebracht haben könnten, bei denen das rechte und linke Schlüsselbein zum Gabelbein verschmolzen sind. John wies darauf hin, dass man tatsächlich bei mehreren Dinosauriern Schlüsselbeine gefunden hatte, und selbst wenn das nicht der Fall wäre, sind negative Befunde niemals schlüssig. Angesichts der geringen Zahl der vorhandenen Fossilien beweist das Fehlen eines Merkmals nur, dass wir bisher noch kein entsprechendes Fossil gefunden haben oder dass es uns nicht aufgefallen ist. Er gelangte zu dem Schluss, Archaeopteryx werde nur durch zwei Merkmale zum Vogel: die Federn und das Gabelbein. Dass Archaeopteryx Áiegen konnte, glaubte er nicht; er äußerte stattdessen die Vermutung, die Federn seien in der Evolution zum Zweck der Wärmeisolation entstanden, und sagte voraus, auch andere Dinosaurier könnten Federn besessen haben. Ohne diese beiden Merkmale hätte man das Skelett als Theropoden klassiÀziert. An dieser Stelle ist es angebracht, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie man eigentlich zu einer solchen KlassiÀkation kommt. Als John seine Arbeit veröffentlichte, zeichnete er die Abstammung nach. Diese eigentlich recht einfache Vorgehensweise führt zu Evolutionsstammbäumen, die stark den allgemein bekannten Familienstammbäumen ähneln. Statt Eltern, Großeltern und Urgroßeltern trägt man Vorläuferarten oder -gattungen und „Urgroßelternarten“ oder „-gattungen“

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ein. Familienstammbaum und Stammesgeschichte zeichnen gleichermaßen die tatsächliche Abstammung nach: Sie geben an, wer der Vater des Vetters Fred war oder welche Dinosauriergattung die ersten Vögel hervorbrachte. Das Prinzip der Diagramme ist in beiden Fällen das gleiche. Diese Vorgehensweise wurde nach und nach von der Kladistik abgelöst, der eine ganz andere und sogar revolutionäre Denkweise über die Vergangenheit zugrunde liegt. Mit der Kladistik geht man im Gegensatz zur Familiengeschichte nicht auf die Suche nach Vorfahren, sondern man sieht sich an, wie sich die Merkmale der Lebewesen in langen Zeiträumen verändert haben. Die Suche nach einem bestimmten Vorfahren einer biologischen Art oder Gattung wird aufgegeben. Stattdessen zeichnet man den entwicklungsgeschichtlichen Wandel nach, indem man nach neuen Eigenschaften sucht, beispielsweise nach Federn, Haaren oder dem aufrechten Gang. Ein kladistisches Diagramm, auch Kladogramm genannt, geht von sehr großen Gruppen aus, die ganz grundlegende Merkmale gemeinsam haben. An Stellen, an denen sich neue Merkmale entwickeln, zweigen Äste ab. In solchen Fällen spricht man von abgeleiteten Merkmalen, weil sie sich von einem grundlegenden, primitiveren Zustand ableiten. Die Wirbeltiere zum Beispiel sind eine sehr große Klade, zu der alle Tiere mit einem Rückgrat gehören. Innerhalb dieser Gruppe beÀnden sich die Säugetiere, die ein Rückgrat haben, außerdem aber auch abgeleitete Merkmale wie Haare und Brustdrüsen besitzen, die nur den Säugetieren gemeinsam sind. Da die Vielfalt des Lebens zunimmt und immer neue Eigenschaften auf der BildÁäche erscheinen, kann man die Evolution von den größten bis zu den kleinsten Kladen nachzeichnen. Zwischen dieser Vorgehensweise und älteren Ansätzen bestehen vielschichtige, tiefgreifende Unterschiede. Man sucht

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beispielsweise nicht mehr nach einem einzelnen Vorfahren der Vögel, sondern nach Merkmalen, die die Vögel mit anderen Gruppen – zum Beispiel den Dinosauriern – gemeinsam haben, und solchen, die bei ihnen neu sind. Auf der Grundlage bestimmter Merkmale sinnvolle Gruppen oder Kladen zusammenzustellen, erfordert ein gerüttelt Maß an Urteilsvermögen. Aber bei genauer Untersuchung älterer und neuerer Merkmale lässt sich die KlassiÀkation der Vögel als Dinosaurier nicht mehr vermeiden. Manche Merkmale beispielsweise, die in unserer Vorstellung ausschließlich bei Vögeln vorkommen, wie das Gabelbein, Federn, hohle Knochen und längliche Eier, sind auch bei Dinosauriern zu Ànden und haben sich bei ihnen erstmals entwickelt. Es gibt noch viele weitere gemeinsame Merkmale, die meisten davon sind allerdings nur auf den zweiten Blick zu erkennen wie die Form des Handgelenkknochens, der es den Vögel ermöglicht, die Flügel seitlich am Körper zusammenzufalten. Wollten wir mit unseren Armen eine ähnliche Bewegung ausführen, müssten wir in der Lage sein, das Handgelenk seitlich statt nach vorn und hinten abzuknicken. Wenn man die Evolution auf diese Weise nachzeichnet, deuten gemeinsame Merkmale wie Federn oder eine besondere Form des Handgelenkknochens auf einen gemeinsamen Vorfahren hin. Natürlich sind solche Gemeinsamkeiten in vielen Fällen so umfassend, dass sie keine besonders nützlichen Aufschlüsse liefern. Alle Lebewesen, die Zellen mit einem Zellkern besitzen, haben einen gemeinsamen Vorfahren, aber ein Merkmal, das Ameisen, Falken und Korallen gemeinsam ist, liefert uns kaum Informationen über die Evolution. Haben Gruppen eine große Zahl von Merkmalen gemeinsam, bedeutet das, dass ihr gemeinsamer Vorfahre in nicht allzu ferner Vergangenheit gelebt hat. Vögel haben nahezu alle

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bereits erwähnten Merkmale mit einer Dinosauriergruppe namens Dromaesauridae gemeinsam. Zwischen ihnen überhaupt Unterschiede zu Ànden, ist schwierig. Darüber hinaus haben die Vögel mit den Dinosauriern wesentlich mehr Merkmale gemeinsam als mit anderen Gruppen, beispielsweise den Archosauriern, die ebenfalls als Vorfahren diskutiert wurden; deshalb ordnen wir sie in die Klade der Dinosaurier ein. Aber die Kladistik ist nur ein Hilfsmittel, ein Gedankengebäude, mit dem man Fossilien in Kategorien einteilen kann. Die eigentliche Quelle für Informationen und manchmal auch für Begeisterung sind die Fossilien selbst. In den letzten 15 Jahren sorgte eine Reihe neuer Entdeckungen einheimischer und ausländischer Paläontologen in China für große Aufregung im Zusammenhang mit der Abstammung der Vögel und dem Wesen der Dinosaurier.

Gefiederte Dinosaurier Mitte der 1990er Jahre wurde in China eines der am besten erhaltenen Dinosaurierskelette aller Zeiten gefunden. Es befand sich in Sedimenten aus der Kreidezeit, die ungewöhnlich viele Funde aller möglichen Lebensformen lieferten. Die Wissenschaftler Pei-Ji Chen, Shi-ming Dong und Shuo-nan Zhen berichteten 1997 in dem Fachblatt Nature über die Entdeckung zweier hühnergroßer Dinosaurierskelette. Sie hatten den längsten Schwanz, dem man jemals bei einem Theropoden gefunden hatte, und einen sehr großen, kräftigen ersten Finger, der vielleicht zum Töten von Beutetieren diente. Die Fossilien waren so erstaunlich gut erhalten, dass man in einem davon sogar innere Organe, die letzte Mahlzeit und zwei kurz vor der Ablage stehende Eier fand.

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Am bemerkenswertesten aber war der Erhaltungszustand von Haut und Filamenten, in denen die Wissenschaftler Federn erkannten. Der Dinosaurier (den man anfangs für einen Vogel hielt) wurde auf den Namen Sinosauropteryx prima getauft. Er ähnelte stark dem Dinosaurier Compsognathus, den man ganz zu Anfang für einen Vorfahren der Vögel gehalten hatte. Sinosauropteryx war ein Coerulosaurier – damit gehörte er zu einer Dinosauriergruppe, die den Vögeln sehr nahe steht und sie nach der heutigen Vorstellung sogar einschließt. In der gleichen geologischen Formation in der nordostchinesischen Provinz Liaoning, in der man Sinosauropteryx entdeckt hatte, fand man wenig später zwei Theropoden mit eindeutig erkennbaren Federn. Die Entdecker der beiden Dinosaurier waren die chinesischen Paläontologen Ji Qiang und Ji Shun-An, der Kanadier Philip J. Currie vom Royal Tyrrell Museum in Alberta und der US-Amerikaner Mark Norell vom American Museum of Natural History in New York. Diese Dinosaurier, die auf die Namen Protarchaeopteryx und Caudipteryx getauft wurden, hatten ganz ähnlich wie heutige Vögel sowohl Daunen als auch längere, verzweigte Federn. Mit diesen Funden Àelen die Federn als charakteristisches Merkmal der Vögel weg. Die beiden Dinosaurier wurden in die Gruppe der Maniraptora eingeordnet, aus der nach heutiger Kenntnis die Vögel hervorgingen. Weitere Entdeckungen folgten, darunter geÀederte Vertreter der Dromaesauridae, einer anderen Gruppe von Theropoden. Zu den erstaunlichsten Funden gehörte Microraptor, ein rund ein Meter langer Dinosaurier mit Federn an allen vier Gliedmaßen: Seine Hinterfüße waren offensichtlich so angepasst, dass er damit auf Ästen sitzen konnte. Alles deutet darauf hin, dass er auf Bäumen lebte und den GleitÁug beherrschte. Damit spricht er stark für die Vorstellung, dass sich die Flugfähigkeit bei Dinosauriern

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entwickelte, die auf Bäumen zu Hause waren. Über den Fund berichtete Xu Xing im Jahr 2003. Die gleiche Ausgabe von Nature, in der 2003 über Microraptor berichtet wurde, enthielt auch einen Artikel des Ornithologen und Evolutionsbiologen Richard Prum von der Yale University. Darin erklärte er die Frage nach dem Ursprung der Dinosaurier für beantwortet. „Die Vögel sind eine Abstammungslinie von Dinosauriern und am engsten mit Dromaeosauriern und Troodontiden verwandt.“ Da Microraptor als Dinosaurier offensichtlich zum GleitÁug in der Lage war, so Prum weiter, „bleiben keine wichtigen Merkmale mehr, die ausschließlich bei Vögeln vorkommen – vielleicht mit Ausnahme des Fluges aus eigener Kraft.“ Damit sind wir wieder bei unserem ursprünglichen, übergeordneten Ziel: der Konstruktion eines Dinosauriers. Wie Prum schreibt, ist der Flug aus eigener Kraft das einzige Merkmal, das ausschließlich die Vögel besitzen; demnach ist eines ganz klar: Wenn man dafür sorgt, dass ein Vogel als Nicht-VogelDinosaurier aufwächst, überschreitet man nur eine schmale Grenzlinie, die sich mit wachsenden Kenntnissen immer stärker verwischt. Ein kleiner Theropode, der kein Vogel ist, aber Federn besitzt, würde sich im Aufbau seines Skeletts nur geringfügig von einem geÀederten Vogel-Dinosaurier unterscheiden. Konkret gesagt, ist ganz klar, was ich gern sehen würde: einen geÀederten, auf zwei Beinen laufenden Theropoden mit Schwanz, Zähnen und brauchbaren Klauen an den Vordergliedmaßen. Ich könnte es auch anders formulieren. Ich möchte ein Huhn so aufwachsen lassen, dass wir nicht unterscheiden können, ob es sich bei diesem Dinosaurier um einen Vogel handelt oder nicht. Das würde sicher bedeuten, dass wir das Videoband der Evolution zurückspulen.

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Ein Einwand gegen diese Version von der Evolution der Dinosaurier lautet: Die Fossilien der geÀederten Theropoden sind nicht älter als Archaeopteryx, der erste Vogel; demnach ist es nicht plausibel, sie zu Vorfahren zu ernennen. Natürlich waren gerade diese Dinosaurier nicht die Vorfahren eines Lebewesens, das genauso alt ist wie sie selbst, aber darum geht es auch nicht. Manche geÀederten Theropoden zeigen primitive Merkmale, die deutlich machen, dass ihre Gruppe sich früher entwickelte als die Vögel. Klarer wird dies vielleicht am Beispiel des allgemein beliebten Schnabeltiers mit seinem Entenschnabel. Das Schnabeltier ist ein Liebling der Kinder, der Evolutionsbiologen und aller anderen, die gern das Wort Kloakentier in die Diskussion werfen. Die Kloakentiere sind eine sehr alte Gruppe von Säugetieren und legen Eier. Es gibt heute nur zwei Arten von ihnen: das Schnabeltier und den Ameisenigel. Beide sind in Australien zu Hause. Sie sind die Seltsamsten unter den Seltsamen, denn in Australien gibt es im Gegensatz zu allen anderen Kontinenten keine einheimischen Plazentasäugetiere mit Ausnahme der Menschen. Kängurus, Koalas und alle anderen sind Beuteltiere, deren winzige Junge ihre Entwicklung in einem Hautbeutel fortsetzen, bis sie weit genug herangewachsen sind und der Außenwelt die Stirn bieten können. Plazentasäugetiere dagegen, zu denen auch wir gehören, bringen recht weit entwickelte Junge zur Welt, die auch außerhalb des mütterlichen Organismus überleben. Mit dem Schnabeltieren verhält es sich wiederum anders. Ogden Nash, der unter den Dichtern gewissermaßen einen eigenen Zweig der Evolution besetzt, schrieb einmal: „Ich liebe das Schnabeltier, weil es so ungewöhnlich ist.“ Es hat einen Schnabel, der mehr oder weniger wie der einer Ente aussieht, und legt Eier; andererseits hat es aber Brustdrüsen, allerdings

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keine Zitzen. Nachdem die Jungen aus dem Ei geschlüpft sind, müssen sie die Milch der Mutter von der dünnen Haut über den Brustdrüsen ablecken. Zu allem ÜberÁuss produziert das Schnabeltier auch noch ein Gift, das es über Sporne an seinen Beinen abgibt. Es wirkt ein wenig wie eine Kreuzung zwischen einem Säugetier und einem Reptil; wie nicht anders zu erwarten, Àndet man auch in seinem Genom sowohl Merkmale von Reptilien als auch solche von Säugetieren. Die meisten Menschen lieben das Schnabeltier aus den gleichen Gründen wie Ogden Nash, aber es ist auch für die Evolutionsforschung von großer Bedeutung: Nach heutiger Kenntnis hatten die ersten Säugetiere vermutlich manche Eigenschaften von Reptilien; beispielsweise legten sie Eier. Das Schnabeltier besitzt also primitive Merkmale, die bei anderen Säugetieren im weiteren Verlauf der Evolution verloren gingen. Aber Evolution beschränkt sich nicht auf eine Abstammungslinie. Zur gleichen Zeit, als sich Säugetiere mit „abgeleiteten“ Merkmalen wie den Brustwarzen entwickelten und andere, die dem Schnabeltier ähnelten, allmählich verschwanden, blieb das Schnabeltier selbst erhalten. Auch einzellige Lebensformen verschwanden nicht und stellten ihre Evolution nicht ein, als die vielzelligen Tiere auf der BildÁäche erschienen und eine immer größere Formenvielfalt entwickelten. Wenn wir also heute Fossilien analysieren, suchen wir einerseits nach primitiven und andererseits nach abgeleiteten oder neuartigen Merkmalen. Solche neuartigen Merkmale erscheinen natürlich erst zu späteren Zeitpunkten auf der BildÁäche. Außerdem sind unsere Kenntnisse in ständiger Veränderung und Weiterentwicklung begriffen. Früher hielt man die Federn für ein abgeleitetes Merkmal, an dem man die Vögel erkennen kann. Das gilt heute nicht mehr, denn mittlerweile kennen wir Dinosaurier, die keine Vögel waren

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und dennoch Federn besaßen. In China hat man eine ganze Reihe solcher Fossilien gefunden. Der Evolutionsweg der Vögel sieht nach heutiger Kenntnis folgendermaßen aus: In der Triaszeit, vor etwa 225 Millionen Jahren, tauchten die ersten Dinosaurier auf. Sie entwickelten sich aus der Reptiliengruppe der Thecodonten und entwickelten sich zu zwei Gruppen auseinander, den Vogelbecken- und den Echsenbecken-Dinosauriern (Ornithischia und Saurischia). Die Terminologie führt hier ein wenig in die Irre: Ornithischia und Saurischia werden zwar nach der Form ihrer Beckenknochen benannt, die Vögel gingen aber aus der Abstammungslinie der Echsenbecken-Dinosaurier hervor. Diese spaltete sich wiederum in zwei Gruppen auf: die Sauropoden, zu denen beispielsweise die großen, pÁanzenfressenden Brontosaurier gehörten, und die Áeischfressende Dinosauriergruppe der Theropoden. Die Vögel sind Theropoden; welcher Vertreter dieser Gruppe der Urahn war, wissen wir zwar nicht, aber es muss sich um ein kleines, schnelles, kluges, Áeischfressendes Tier gehandelt haben. Die plausibelste Vermutung besagt, dass die Vögel aus primitiven Coelurosauriern hervorgingen, deren erste Vertreter man aus der frühen Jurazeit vor 175 bis 200 Millionen Jahren kennt. Der älteste bekannte Vogel ist jedoch Archaeopteryx, und der entwickelte sich vor rund 150 Millionen Jahren. Danach können wir mehrere Schritte der Vogelevolution verfolgen. Die heutigen Vögel erschienen vor etwa 55 Millionen Jahren auf der BildÁäche, und innerhalb dieser Gruppe entstanden die Hühnervögel vor ungefähr 45 Millionen Jahren. Die Domestizierung des Bankivahuhns Gallus gallus, aus dem unser Haushuhn hervorging, begann offenbar vor ungefähr 5 000 Jahren. Was dabei bemerkenswert ist: In seinem Genom, das rund 50 Millionen Jahre von seinen Theropodenvorfahren entfernt

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ist, liegt noch die Information für die Entwicklung eines Dinosauriers. Ich habe bereits erwähnt, wie drei Wissenschaftler, unter ihnen Kevin Peterson aus Dartmouth, in jüngster Zeit einen Wandel der Paläontologie gefordert haben. In ihrem Aufruf fassten sie den Fortschritt bis zur Verschmelzung von Paläontologie und Molekularbiologie zusammen, und dann wiesen sie den Weg zu einer noch viel stärkeren Vermischung der beiden Fachgebiete in der neuen Disziplin der molekularen Paläontologie. Peterson und seine Kollegen wiesen darauf hin, dass die Genome der heutigen Tiere ein riesiges Arsenal molekularer Fossilien enthalten und dass wir „heute sowohl technisch als auch methodisch in der Lage sind, diese molekularen Fossilien nicht nur zu erforschen, sondern auch in Einklang mit den geologischen Fossilien zu bringen“. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit ihnen übereinstimme, aber eines ist dabei für mich besonders interessant: die Ansicht, es müsse eine VerÁechtung oder Verschmelzung der Methoden und Kenntnisse aus Molekularbiologie und Paläontologie stattÀnden. Keines der beiden Fachgebiete kommt ohne das andere aus. Die Fähigkeiten der Molekularbiologen und Kenntnisse über die genetische Mechanismen sind ebenso notwendig wie Kenntnisse über die Fossilien, über den gesamten Verlauf der Evolution und über die KlassiÀkation der Lebensformen. Das alles ist sicher richtig. Vielleicht ist es Voreingenommenheit, wenn es für mich den Anschein hat, als würde die Paläontologie die Bühne vorbereiten und die Fragen möglich machen, die man dann mit Kenntnissen und Methoden der Molekularbiologie beantworten kann. Wenn es um Dinosaurier und Vögel geht, stimmt das sicher. In den Vögeln Ànden wir die molekularen Fossilien, durch die wir mehr über die Dinosaurier und ihre Evolution in Erfahrung bringen können.

5 Woher kommen die Babys? Vorfahren im Ei Die Frage nach der Entwicklung ist die Frage nach dem Leben selbst: Wie wird aus einer einzigen Zelle, dem befruchteten Ei, ein vollständiges Lebewesen, zum Beispiel ein Mensch? Lewis Wolpert, Regisseure des Lebens1

Im Jahr 2004 wurde eine Karte des Hühnergenoms veröffentlicht, genauer gesagt des Genoms des Bankivahuhns (Gallus gallus), das der Urahn der Haushühner ist. Vorausgegangen war die Kartierung mehrerer anderer Genome, darunter natürlich auch unseres eigenen. Deshalb erregte das Hühnergenom in der Öffentlichkeit keine große Aufmerksamkeit. Es war aber das erste Vogelgenom, und es wurde sofort mit den Genomen des Menschen und anderer Lebewesen verglichen, weil man neue Erkenntnisse über ihre unterschiedlichen Evolutionswege gewinnen wollte. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Säugetieren und Menschen lebte vor etwa 310 Millionen Jahren, die Gruppen entwickelten sich also über einen sehr langen Zeitraum getrennt.

1 Orig. The Triumph of the Embryo, Übersetzung von S. Vogel. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1993.

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Tatsächlich fand man auch eine Reihe faszinierender Unterschiede. Einer der wichtigsten besteht darin, dass das Hühnergenom nur ein Drittel der Größe unseres eigenen Genoms hat, das 20 000 bis 25 000 Gene enthält. Hühner besitzen auch viel weniger wiederholte DNA-Sequenzen. Beim Menschen gibt es aus nach wie vor ungeklärten Gründen lange DNAAbschnitte, die als „Schrott“ bezeichnet wurden, weil man sie für funktionsunfähige Überbleibsel hielt. Heute glaubt man eher, dass große Teile davon nützlich sind; worin dieser Nutzen besteht, werden wir hoffentlich erfahren, wenn wir die bei der ursprünglichen Genomanalyse ausgelassenen Details kartieren. In jedem Fall nutzen Vögel aber ihre DNA ökonomischer. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es bei ihnen außerdem eine spezialisierte Gengruppe für das Keratin, das Protein von Schnabel und Federn. Andere, lange DNA-Abschnitte sind bei Hühnern und Menschen gleich, aber manche von ihnen haben unbekannte Funktionen. Vergleiche waren in der Naturwissenschaft immer eine der wichtigsten Methoden, und zur Erforschung der Biologie des Menschen war auch die Untersuchung anderer Lebewesen, die sich leichter beobachten lassen, von großer Bedeutung. Die Genomkartierung ist bei Hühnern und Menschen gleichermaßen einfach, aber Genanalysen sind nur eine von vielen Möglichkeiten, mit denen Molekularbiologen die Eigenschaften heutiger Tiere erforschen und so den Evolutionsverlauf aufklären. Ein anderes sehr wichtiges Verfahren war die Untersuchung der Embryonalentwicklung; mit ihr versuchte man das große Geheimnis zu lüften, wie das befruchtete Ei – eine einzige Zelle – zu einem ausgewachsenen Organismus heranwächst. Heute gehen wir der Frage nach, wie dieser Prozess von den Genen gesteuert wird und in welchem Verhältnis er zu Evolu-

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tion steht, aber die Embryonalentwicklung als solche ist schon seit der Antike ein Gegenstand der Forschung. Als Vater der Embryologie oder vielleicht sogar der ganzen Biologie gilt Aristoteles. Im Jahr 345 v. Chr. beobachtete er, wie sich der Hühnerembryo im Ei entwickelt. Soweit wir wissen, war er damit der Erste, der experimentelle Embryologie betrieb. Rom Harré – Wissenschaftsphilosoph, produktiver populärwissenschaftlicher Autor, langjähriger Professor an der Universität Oxford und heute als Dozent in Georgetown tätig – untersuchte in seinem 1981 erschienenen Buch Great ScientiÀc Experiments die hippokratischen Schriften des antiken Philosophen, in denen Aristoteles ein von einem unbekannten Autor vorgeschlagenes Experiment ausführt: „In dem Werk Über die Natur des Säuglings“, so schreibt Harré, „wird eine Untersuchung in detaillierten Begriffen beschrieben. ‚Man nehme mindestens 20 Eier und lege sie zum Brüten unter mindestens zwei Hennen. Dann entnehme man während der Brutzeit vom zweiten bis zum letzten Tag, an dem die Küken schlüpfen, jeweils ein Ei, öffne und untersuche es.‘ “ Aristoteles befolgte offenbar den Vorschlag aus dem Brief. (Der unbekannte Autor, der das Experiment vorschlug, führte es offenbar selbst nie durch.) Aristoteles berichtete in seiner Historia Animalium über die Ergebnisse und schuf damit eine Quelle, auf die andere mehr als ein Jahrtausend lang zurückgriffen. Er beschrieb die ersten Spuren des Embryos nach drei Tagen, die Entwicklung des Dotters, die ersten Anhaltspunkte für ein Herz, das nach seinen Worten „aussieht wie ein BlutÁeck im Eiweiß. Dieser Fleck schlägt und bewegt sich, als sei er mit Leben ausgestattet.“ Aristoteles’ Blick für Details und seine klaren Formulierungen wirken auch auf den modernen Lehrer bemerkenswert. „Wenn das Ei nun zehn Tage alt ist, sind das Küken und alle

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seine Teile deutlich zu erkennen. Der Kopf ist noch größer als der übrige Körper, und die Augen sind größer als der Kopf, aber noch bar jeder Sehfähigkeit.“ Er setzte seine Beobachtungen auch nach dem Schlüpfen fort und stellte dabei fest: „Wenn man das Küken zehn Tage nach dem Schlüpfen aufschneidet, ist ein kleiner Überrest des Dotters in Verbindung mit dem Darm noch vorhanden.“ Aristoteles war nicht von nutzlosem Interesse getrieben, und er hatte auch keine besondere Vorliebe für Hühner. Dem Briefschreiber, der sich das Experiment ursprünglich ausgedacht hatte, ging es um die Entwicklung des Menschen; das Hühnerei war ein Hilfsmittel, an dem man das Wachstum des Embryos beobachten konnte, wobei man davon ausging, dass die Entwicklung menschlicher Embryonen diesem Vorgang in manchen Aspekten gleicht. Außerdem war das Wachstum eines Lebewesens für die alten Griechen wie für uns eines der tiefsten biologischen Geheimnisse. Umfassend gestellt, ist die alte Kinderfrage nach wie vor eine wissenschaftliche Fragestellung, die unsere volle Aufmerksamkeit fordert: Woher kommen die Babys? Die unterschiedlichen Antworten auf diese Frage lassen sich mit zwei Denkschulen in Verbindung bringen, die auf die Zeit der alten Griechen zurückgehen und noch heute einen gewissen Widerhall Ànden. Die eine ging von Präformation aus, die andere von Epigenese. Nach der Präformationstheorie ist der Organismus in den Eltern in irgendeiner verkleinerten Form bereits vorhanden. Dort Àndet sich bereits alles, was für die ausgewachsene Form gebraucht wird. In der Epigenese dagegen wird das Rohmaterial des neuen Lebewesens während seiner Entwicklung geformt und verändert. Danach entsteht die Natur eines Individuums im Großen und Ganzen während seines Wachstums.

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Die Vorstellung, im Ei sei ein kleiner Mensch oder auch ein Huhn bereits vorhanden, ist nach unserer modernen Vorstellung übermäßig vereinfacht; die dahinter stehende philosophische Meinungsverschiedenheit gibt es aber nach wie vor. Sind individuelles Verhalten und Persönlichkeit eines Menschen in allen Einzelheiten im genetischen Code festgeschrieben? Das wäre eine Form von Präformation. Dann könnte man ein Homosexuellengen oder ein Verbrechergen in sich tragen. Ähneln die Gene dagegen eher den Noten eines Musikstücks, ohne dass aber Tempo, Orchesterbesetzung oder auch nur das Instrument vorgegeben sind, würde die Entwicklung eher der Epigenese entsprechen. Die Hormone der Mutter könnten sich dann auf die Entwicklung des Gehirns oder der Geschlechtsorgane auswirken, und die Ernährung der Mutter oder Medikamente könnten die Entwicklung des Embryos unterstützen oder beeinträchtigen. Der Gedanke, dass es einem Embryo nützt, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Mozart hört, macht es ganz deutlich: Auch die Theorie der Epigenese hat in unserer modernen Welt nach wie vor Konjunktur. Derzeit lässt die Wissenschaft gerade eine Phase hinter sich, in der Gene so viel Aufmerksamkeit auf sich zogen, dass offensichtlich nahezu alle Forscher die Biologie aus einer modernen präformationistischen Perspektive betrachteten. Heute sieht es so aus, als würden die Gene uns bei Weitem nicht die ganze Geschichte erzählen. Neuere Forschungsarbeiten lassen kleine chemische Vorgänge erkennen, die sich auf die Expression der Gene und die Entwicklung des Embryos auswirken – und diese Vorgänge werden nicht durch die Gene selbst festgelegt. Es ist eine neue Art von Epigenese – Zusammenhänge mit Mozart wurden allerdings bisher nicht nachgewiesen.

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Lassen wir tiefschürfende philosophische Fragen nach dem eigentlichen Wesen eines neuen Individuums einmal beiseite: Über die Vorgänge als solche haben wir in den letzten beiden Jahrhunderten und insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfassende Kenntnisse gewonnen; wir wissen einiges darüber, wie das Wachstum des Embryos koordiniert wird und welche EinÁüsse über die erstaunliche Entfaltung der Form bestimmen, die wir während des Wachstums einer Fliege, einer Maus oder eines menschlichen Embryos beobachten. Dieses Wissen gibt uns im Zusammenhang mit unseren Kenntnissen über die Genetik Anlass zu dem Gedanken, dass wir den Entwicklungsverlauf eines Embryos auch verändern könnten, sodass er stärker nach Art seiner Vorfahren heranwächst. Dass wir so weit gekommen sind, verdanken wir unseren Kenntnissen über die Struktur der DNA und den genetischen Code, aber diese Kenntnisse haben unser Denken auch in mancherlei Hinsicht in die falsche Richtung gelenkt. Wir wissen, dass manche Sequenzen in der Erbinformation für die Produktion von Proteinen sorgen und dass diese Proteine über verschiedene Aspekte eines wachsenden Organismus entscheidend bestimmen. Wir wissen, dass die Augen blau sein werden, wenn bestimmte Gene vorhanden sind. Andere sorgen für braune Augen. Bei der TauÁiege gibt es Gene für gerunzelte Flügel, glatte Flügel und keine Flügel. Wir kennen Krankheiten, die durch eine Veränderung in einem einzigen Gen verursacht werden. Und wir kennen heute auch Gene, die das Risiko, bestimmte Krankheiten zu bekommen, ansteigen lassen. Vielfach ähneln solche Kenntnisse allerdings dem Wissen, dass es eine Explosion geben wird, wenn man zwei Chemikalien mischt. Aber nach welchem Mechanismus läuft die

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Explosion ab? Was bestimmt über ihre Kraft und ihre Richtung? Welche chemischen Vorgänge stehen dahinter? Nun, an dieser Stelle wird die Sache wunderbar kompliziert. Im Laufe der letzten 25 Jahre hat die Wissenschaft der Embryologie große Fortschritte gemacht; das Ziel besteht letztlich darin, das gesamte „Programm“ für die Entwicklung eines Organismus von der befruchteten Eizelle an nachzuzeichnen. Oder anders ausgedrückt: Man will jede Wirkung eines Gens und jede Wirkung auf ein Gen erfassen, die zu Wachstum und Entwicklung beiträgt. Dann hätte man „die Anweisungen“ für die Herstellung eines Wurmes oder einer Fliege. Andererseits wurden die Kenntnisse über Gene, ihre Wirkungen und ihre Steuerung in den letzten 20 Jahren auch auf die Erforschung der Evolution angewandt. So entstand das Fachgebiet der evolutionären Entwicklungsbiologie oder kurz Evo-Devo. Vor dem Hintergrund solcher Kenntnisse bedarf es nur noch eines geringen Anstoßes, und wir können erkennen, ob wir das Band der Evolution vom Huhn bis zum Dinosaurier zurückspulen können.

Der Embryo in der Evolution Schon seit langer Zeit interessiert man sich für die Zusammenhänge zwischen dem Wachstum des Embryos – der Ontogenie – und der Entwicklungsgeschichte eines Lebewesens, das heißt seiner Phylogenie. Mit dieser Verbindung beschäftigte sich der verstorbene Stephen Jay Gould in Ontogeny and Phylogeny, einem seiner ersten Bücher, das 1977 erschien. Damals wuchs gerade erst die Erkenntnis, wie wichtig Regulationsgene für die Entwicklung sind. Die Aussage, die im Mittelpunkt von Goulds Buch steht, kennt jeder, der sich schon einmal mit

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der Geschichte der Evolutionstheorie beschäftigt hat; für die meisten anderen mag sie sich allerdings wie wissenschaftlichzweideutiges Gerede anhören. Gemeint ist die berühmte Behauptung von Ernst Haeckel, der sich als einer der Ersten mit der Bedeutung der Embryonalentwicklung für die Form eines Organismus beschäftigte: „Die Ontogenie ist eine Wiederholung der Phylogenie.“ Nach Haeckels Ansicht kann man während der Embryonalentwicklung eines Individuums zusehen, wie sich die Evolutionsgeschichte der entsprechenden Spezies wiederholt. Oder genauer gesagt: Der Embryo durchläuft die Erwachsenenstadien seiner Vorfahren und lässt damit im Zeitraffer den Verlauf der Evolution erkennen, durch die er entstanden ist. Es war intuitiv ein reizvoller Gedanke, denn wie man ohne Weiteres erkennt, durchläuft beispielsweise ein menschlicher Embryo mehrere Stadien, in denen er wie einige unserer ältesten Vorfahren aussieht – wie Fische und Amphibien. Er hat Merkmale, die an Kiemen und einen Schwanz erinnern. Dies ist aber ein viel zu stark vereinfachter Gedanke, und zu der Zeit, als Gould sein Buch schrieb, hatte man ihn im Wesentlichen verworfen. Gould jedoch stellte die Aussage in ihren historischen Zusammenhang. Er vertrat mehr als einmal die Ansicht, dass Fehler in der Wissenschaft häuÀg ebenso nützlich und aufschlussreich sind wie richtige Gedanken und manchmal diese sogar übertreffen. Die Vorstellung von der Rekapitulation hielt er für einen Fehler, der inhaltsreicher und interessanter ist als seine Widerlegung. Obwohl Haeckel Unrecht hatte, machte er mit seinen Ideen auf einen wichtigen Zusammenhang zwischen Embryonalentwicklung und Evolution aufmerksam, den Wissenschaftler damals schon aufgegriffen, dann aber mehr oder weniger verworfen hatten, was zu einer Verarmung der Evolutionstheorie führte.

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Zum einen, so Gould, können Veränderungen im zeitlichen Ablauf der Embryonalentwicklung einen drastischen Wandel in der Evolution bewirken, insbesondere wenn verschiedene Aspekte der Entwicklung nach unterschiedlichen Zeitplänen ablaufen. So komme es beispielsweise in der Evolution zu einer Veränderung, wenn sich der Entwicklungsweg zur Geschlechtsreife beschleunigt, während das Wachstum in allen anderen Aspekten sein ursprüngliches Tempo beibehält. Wenn Frösche schon als Kaulquappen geschlechtsreif würden und nie das Stadium des ausgewachsenen Frosches erreichten, wäre damit eine neue Spezies ausgewachsener Kaulquappen entstanden, und das wäre in der Evolution ein dramatischer Schritt. Etwas Ähnliches, so schrieb Gould weiter, hat sich bei den Menschen abgespielt. In unserer Entwicklung, die sich weit über das Embryonalstadium hinaus fortsetzt, dauert das Jugendstadium wesentlich länger als bei unseren Primatenvorfahren. Deshalb beÀnden wir uns bei Erreichen der Geschlechtsreife körperlich noch in einem urtümlichen, jugendlichen Zustand. Auch unsere geistige Beweglichkeit, die uns lebenslanges Lernen ermöglicht, könnte eine jugendliche Eigenschaft sein, die uns bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Gould erkannte, dass Veränderungen in der Regulation der Genexpression von zentraler Bedeutung sind, wenn wir die Mechanismen des entwicklungsgeschichtlichen Wandels verstehen wollen. Über „die wachsende Diskussion über die Bedeutung von Veränderungen der Genregulation für die Evolution“ sagte er: „Ich sage voraus, dass diese Debatte zum wichtigsten Thema in der Evolutionsbiologie der 1980er Jahre werden wird.“ Dann fuhr er fort: „Außerdem glaube ich, dass Kenntnisse über die Genregulation im Mittelpunkt jeder Annäherung zwischen Molekular- und Evolutionsbio-

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logie stehen müssen; wenn es überhaupt zu einer Synthese dieser beiden Fachgebiete kommt, wird das mit Sicherheit auf dem gemeinsamen Gebiet der Entwicklungsbiologie geschehen.“ Mit der Entwicklung von Evo-Devo fand diese Synthese tatsächlich statt. Nicht alle Fachgebiete der Wissenschaft brauchen Spitznamen, aber dieses, das von manchen auch Devo-Evo genannt wird, war unbedingt auf eine Vereinfachung der vollständigen Bezeichnung evolutionary developmental biology („evolutionäre Entwicklungsbiologie“) oder developmental evolutionary biology („entwicklungsorientierte Evolutionsbiologie“) angewiesen. Aber dass man das Band der Evolution zurückspulen würde, sah Gould nicht voraus. Wie bereits erwähnt, schrieb er, man könne dieses Band nicht rückwärts laufen lassen und bei einem erneuten Abspielen zu dem gleichen Ergebnis gelangen; allerdings hatte er dabei auch keine Laborexperimente im Auge. Zu den Pionieren der Evo-Devo gehört Sean Carroll von der University of Wisconsin-Madison, der das Fachgebiet auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hat. Er bescheinigt Gould eine ungeheure Weitsicht. Wie er außerdem betont, waren zwar die Struktur der DNA, der Aufbau der Gene und das Wesen genetischer Veränderungen in Populationen in den 1970er Jahren bereits gut untersucht, die Evolution der äußeren Form von Lebewesen hatte man aber noch nicht aufgeklärt. Das, so schrieb er, lag vor allem daran, dass in der Embryologie selbst die Kenntnisse fehlten. „Wie können wir bei der Beantwortung von Fragen vorankommen, in denen es um die Evolution der Form geht, wenn wir keine wissenschaftlichen Kenntnisse darüber besitzen, wie die Form überhaupt entsteht?“

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Um deutlich zu machen, wie neu der Wandel noch ist, schrieb er: „In den 1970er Jahren hatte man noch kein einziges Gen irgendeines Tieres charakterisiert, das Auswirkungen auf den Körperbau und die Evolution hat. Neue Erkenntnisse über die Evolution erforderten bahnbrechende neue Befunde in der Embryologie.“ Diese bahnbrechenden Befunde sind zum größten Teil einer Gruppe von Wissenschaftlern zu verdanken, die unter sich selbst und auch bei Kollegen in verwandten Fachgebieten als Fliegenleute bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Wie es in der Naturwissenschaft häuÀg geschieht, deÀnierten sie sich anhand der Lebewesen, die sie untersuchten. In diesem Falle handelte es sich dabei um die Versuchstiere, die im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt vieler genetischer Forschungsarbeiten standen: TauÁiegen der Spezies Drosophila melanogaster. Die experimentelle Biologie und insbesondere das Fachgebiet, das sich mit dem Zusammenwirken von Genen, Vererbung und Entwicklung beschäftigt, gliedert sich in mehrere Teilgebiete, deren Vertreter mit diesem oder jenem „Tiermodell“ arbeiten. Eines davon ist Drosophila, ein anderes der Wurm Caenorhabditis elegans, ein drittes das Huhn. Die Maus ist als Tiermodell sehr nützlich zur Erprobung von Medikamenten und zur Herstellung sogenannter Knockout-Stämme, denen dieses oder jenes Gen fehlt. Mithilfe solcher Mäuse konnten Wissenschaftler beispielsweise Fettsucht, Krebs und Diabetes erzeugen, ja sogar Störungen, die der Schizophrenie oder der Alzheimer-Krankheit ähneln. Alle diese sogenannten Modellorganismen lassen sich im Labor relativ einfach züchten und vermehren sich so schnell, dass man Experimente planen kann, mit denen sich die Auswirkungen genetischer Veränderungen nicht erst nach Jahren oder Jahrzehnten, sondern schon nach einigen Wochen oder Monaten zeigen.

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Bestimmte Tiere werden zu Labormodellen, weil man durch zahlreiche Untersuchungen schon Kenntnisse über sie gewonnen hat und weil die Wissenschaftler auf frühere Arbeiten aufbauen können. Wenn man Glück hat, gelangt man so zu tiefgreifenden, umfassenden Kenntnissen über ein System, die man dann auf andere Systeme anwenden kann. Allerdings kam bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kaum jemand auf die Idee, dass Würmer und Fliegen den Menschen in Genen und Aufbau so ähnlich sind, wie sich seither herausgestellt hat. Dr. Thomas Hunt Morgan von der Columbia University baute auf Drosophila seine Berufslaufbahn auf. Er erforschte an den Fliegen die einfachen Regeln der Mendel’schen Vererbung und trug so dazu bei, dass man mehr über das Wachstum eines Embryos in Erfahrung bringen konnte. Dabei entdeckte man die wichtigsten Regulationsgene, die andere Gene einund ausschalten und so darüber bestimmen, welchen Gesetzmäßigkeiten die Entwicklung vom Ei bis zur ausgewachsenen Fliege unterliegt. Diese Kenntnisse wurden so detailliert weiterentwickelt, dass sie heute ganze Bibliotheken füllen. Die Sichtweise für die Embryonalentwicklung, die sie vermitteln, stellte die zu jener Zeit üblichen Ansichten über die Evolution infrage, und es zeigte sich, dass sie auch eine schockierende Bedeutung für die Biologie des Menschen und sogar für unser Verhalten haben. Heute stehen die Gene im Mittelpunkt von Vererbungsund Evolutionsforschung. Dass in der DNA die Information enthalten ist, durch die eine Fliege, ein Wurm oder ein Mensch entstehen kann, war von Anfang an klar. Die Gene werden in RNA umgeschrieben, einen einzelnen Molekülstrang, der ein Spiegelbild der genetischen Information enthält; dieses Molekül durchläuft dann in der Zelle den Apparat zur Herstellung der Proteine. Wie ich bereits im Zusammenhang mit Mary

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Schweitzers Suche nach vorzeitlichen Molekülen erläutert habe, sind Proteine für alle Abläufe im Organismus verantwortlich. Ein Organismus wird von Proteinen aus Proteinen aufgebaut; die Gründe kennt bisher niemand. Klar war auch, dass Mutationen in der DNA das Mittel sind, das Veränderungen in den Proteinen und damit auch in den äußeren Merkmalen eines Organismus herbeiführt. Zu jener Zeit, lange bevor man ganze Genome kannte und miteinander vergleichen konnte, beschäftigten sich Populationsgenetiker und Evolutionsbiologen mit der Vorstellung, dass die Ansammlung kleiner Veränderungen (Mikroevolution) zu großen Veränderungen der Arten und Gattungen sowie zum Wandel der äußeren Form eines Lebewesens (Makroevolution) führt. Entsprechend glaubte man, die Gene von Würmern und Menschen, von Fliegen und Mäusen müssten sich stark unterscheiden. Homologe Gene, das heißt solche, die in verschiedenen Lebewesen die gleichen Aufgaben erfüllen, galten als selten. Carroll schreibt: „Je größer der äußere Unterschied zwischen Tieren ist, desto weniger (oder gar nichts) hat die Entwicklung zweier Tiere auf der Ebene der Gene gemeinsam.“ Ernst Mayr, einer der Architekten der „Modernen Synthese“, meinte dazu: „Die Suche nach homologen Genen ist nutzlos, es sei denn, es handelt sich um sehr enge Verwandte.“ Das war damals die Ansicht der meisten Experten, und bevor man die Entwicklung des Fliegenembryos genauer erforschte, erschien sie auch plausibel. Die Fliegenforschung zeigte dann zunächst einmal, wie die Entwicklung überhaupt abläuft – schon das eine weitreichende, schwierige wissenschaftliche Frage; und zweitens brachte sie Licht in den Ablauf der Makroevolution: Sie lieferte Aufschlüsse darüber, wie die verschiedenen Tiere ursprünglich auf der BildÁäche

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erschienen und wie sie sich später zu neuen Formen weiterentwickelten. Solche großen, sichtbaren Veränderungen entstehen nicht durch die Ansammlung zahlreicher winziger Abweichungen, sondern die Evolution funktioniert offenbar wie ein Bausatz mit vielen ähnlichen Teilen. Auf die Richtung der Evolution wirken sich diejenigen Gene am stärksten aus, die über Veränderungen von Größe, Form, Zahl und Lage der grundlegenden Körperteile bestimmen, aber auch darüber, wann, wo und wie diese Teile zusammengefügt werden. Evolution und Embryonalentwicklung lassen sich zwar nicht trennen, aber die Themen sind so komplex, dass man sie Stück für Stück behandeln muss. Man kann sich fast nicht vorstellen, wie schwierig es ist, die Entwicklung einer einzelnen Zelle zu einer Fliege, einem Frosch, einem Pony oder einem Huhn aufzuklären, von einem Menschen ganz zu schweigen. Sehr eindringlich schilderte Scott Gilbert das Problem – und zwar ausgerechnet in einem Lehrbuch. Er schrieb über Wilhelm Roux, einen Mitbegründer der experimentellen Embryologie, der 1894 ein Manifest verfasste. In Roux’ Augen, so berichtet Gilbert, war die Aufklärung der Ursachen der Embryonalentwicklung „das größte Problem, an dessen Lösung sich der menschliche Geist jemals versucht hat“. Und das lag Roux zufolge daran, „dass jede neue Ursache, die man für gesichert hält, nur neue Fragen nach der Ursache dieser Ursache aufwirft“.

Obergene Es reichte, damit ein theoretischer Physiker das Fachgebiet wechselte. Und die Fliege lieferte die Antworten. Eines der ersten Fliegengene, dessen Mutation sich für die Entwicklung

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als höchst bedeutsam erwies, trägt den Namen Bithorax. Ist es mutiert, sehen die HinterÁügel aus wie VorderÁügel. Andere kamen schnell hinzu. „Eine recht spektakuläre Mutante namens Antennapedia sorgt dafür, dass sich am Kopf Beine anstelle der Antennen entwickeln“, schrieb Carroll. Man entdeckte eine ganze Reihe derartiger Gene, die nun als homöotische Gene bezeichnet wurden. Ihre Mutation hat in allen Fällen zur Folge, dass ein Körperteil sich in einen anderen verwandelt: Antennen in Beine wie bei Antennapedia oder Hinter- in VorderÁügel wie bei Bithorax. Weiterhin ist an diesen Genen charakteristisch, dass sie jeweils auf Körper„module“ wirken – auf Bausteine, die in Größe, Form oder Zahl unterschiedlich sind und dem Lebewesen jeweils eine andere äußere Gestalt verleihen. Eine Fliege oder ein anderes Insekt hat dann unterschiedlich viele Flügel oder Beine, die aber alle aus den gleichen, sich wiederholenden Grundelementen bestehen. Es handelt sich also offenkundig um sehr wirksame Gene, die über den gesamten Körperbau der Fliege bestimmen – und wie sich herausstellte, nicht nur der Fliege. Es sind die Obergene der Evo-Devo. Es gibt acht solche Gene, die zwei Gruppen bilden: den Antennapedia- und den Bithorax-Komplex, fünf Gene für die vordere Hälfte der Fliege und drei für die hintere. Carroll schreibt: „Noch provokativer ist, dass die Anordnung der Gene in diesen beiden Gruppen genau der Anordnung der von ihnen beeinÁussten Körperteile entspricht.“ Mit anderen Worten: Die Gene liegen auf dem Chromosom in der gleichen Reihenfolge hintereinander wie die Körperteile der Fliege, über die sie bestimmen. Die Gene haben einen als Homöobox bezeichneten DNA-Abschnitt gemeinsam und werden deshalb auch Homöobox- oder kurz HOX-Gene genannt. Die Homöobox enthält in jedem derartigen Gen die

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Information für einen Proteinabschnitt, der dafür sorgt, dass das Protein sich an andere Gene anheften und sie ein- oder ausschalten kann. Ähnliche Homöobox-Abschnitte fand man in Genen und Proteinen von Fröschen, Vögeln und Säugetieren; im gesamten Tierreich dienen also HOX-Gene und die zugehörigen Proteine als genetische Schalter, die während der Entwicklung des Embryos wirksam werden. Die HOX-Gene sind die Koordinationszentren der Embryonalentwicklung. Und sie sind sich so ähnlich, dass sie sich offensichtlich über mehr als 500 Millionen Jahre der Evolution hinweg kaum verändert haben. So weit in die Vergangenheit muss man vordringen, wenn man den gemeinsamen Vorfahren von TauÁiegen und Säugetieren Ànden will. Ganz offensichtlich handelt es sich um „Obergene“, die für das Leben unentbehrlich sind. In den 1980er und 1990er Jahren fand man weitere übergeordnete Steuerungsgene, die für den Aufbau lebenswichtiger Organe wie Extremitäten oder Herz verantwortlich sind. Wieder andere Gene steuern das Wachstum. Alle diese Gene bilden den „genetischen Werkzeugkasten“ und wirken auf ähnliche Weise: Sie produzieren Transkriptionsfaktoren, Proteine, die andere Gene ein- oder ausschalten. Außerdem wandern ihre Proteinprodukte in andere Zellen und setzen dort Genaktivierungsprozesse in Gang, durch die sich das Verhalten, die Bewegungen, das Entwicklungsstadium und die Wachstumsgeschwindigkeit der Zellen verändern. Wie diese Steuerungsmechanismen ineinandergreifen, ist bisher nicht vollständig geklärt; es hat sich herausgestellt, dass manche DNA-Abschnitte kleine RNA-Stücke produzieren, die nie in Protein umgeschrieben werden. Auch diese sogenannte Mikro-RNA schaltet Gene ein und aus; diese Gene produzieren dann wiederum RNA oder Proteine, die andere Gene steuern, und so weiter. Es gibt schwindelerregend

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viele Kombinationsmöglichkeiten, aber wenn man jede Anweisung, jede Genaktivierung und jeden chemischen Vorgang mit Reihenfolge und Ort in ein Diagramm eintragen könnte, hätte man alle Anweisungen für den Aufbau eines Wurmes oder einer Fliege. Sonic Hedgehog zum Beispiel ist der Name eines Gens und seines zugehörigen Proteins. Bei diesem Protein handelt es sich um einen Transkriptionsfaktor, der das Wachstum beeinÁusst. Wenn man Sonic Hedgehog in einem Embryo während der Entwicklung hinzufügt oder hemmt, ohne das Gen als solches zu verändern, schaltet man das Wachstum einer Vorderextremität oder eines Schwanzes ein oder aus. Der seltsame Name entspringt dem Humor einer Arbeitsgruppe von TauÁiegengenetikern. Eine Form des Gens sorgt dafür, dass TauÁiegenembryonen mit Stacheln besetzt sind, sodass sie aussehen wie ein Igel (hedgehog). Der Name Sonic Hedgehog geht auf eine ComicÀgur zurück. Andere derartige Gene tragen Namen wie Groucho, Smurf oder Death Executioner Blc-2. Eine der wichtigsten Familien von Wachstumsfaktoren, die man in Embryonen während ihrer Entwicklung beobachtet, sind die knochenmorphogenetischen Proteine (bone morphogenetic proteins, BMP). Verschiedene BMP-Typen, die mit Zahlen bezeichnet werden, steuern Gene, die ihrerseits für das Wachstum der Knochenzellen sorgen. Aber welcher Steuerung unterliegt das Steuerungsgen? Carroll beschreibt es so: „Es gibt getrennte Schalter für die Expression von BMP5 in Rippen, Extremitäten, Fingerspitzen, Außenohr, Innenohr, Wirbeln, Schilddrüsenknorpeln, Nasennebenhöhlen, Brustbein und anderen Körperteilen.“ Jeder Schalter enthält andere DNA-Sequenzen, an die andere Proteine binden. „Ein durchschnittlich großer Schalter

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ist in der Regel einige Hundert Basenpaare lang. Innerhalb dieses Abschnitts gibt es zwischen einem halben Dutzend und 20 oder mehr charakteristische Sequenzen für unterschiedliche Proteine.“ Carroll nennt auch eine Schätzung für die Zahl der Kombinationen, die mit 500 DNA-bindenden Proteinen möglich sind, wenn diese paarweise oder in größerer Zahl zusammenwirken und dann die Sequenzen in den Schaltern aktivieren. Es gibt „12 500 000 verschiedene Dreierkombinationen und mehr als sechs Milliarden Kombinationen von vier Elementen.“ Was vielleicht noch faszinierender ist: „Es gibt im Embryo keinen ‚Baumeister‘ “, wie Lewis Wolpert in Regisseure des Lebens (S. 188) schrieb. Die Zellen „reden“ miteinander. „Es gibt keine zentrale Steuerung, sondern eine Vielzahl selbstbestimmter Regionen.“ Und da jeweils ein Ereignis über das nächste bestimmt, so Wolpert weiter, „gibt es keine speziÀschen Gene für ‚Arme‘ oder ‚Beine‘, sondern es ist vielmehr so, dass bestimmte Gene während der Entstehung der Gliedmaßen aktiv werden. Die Komplexität der Entwicklung beruht auf einer Kaskade von Wirkungen.“ Stellen wir uns die Entwicklung eines Embryos einmal als eine Symphonie ohne Dirigenten vor. Der Klang der Fagotte lässt die Pauke aktiv werden. Dass die Fagotte aktiv werden, liegt an den Violinen, aber je nachdem, was, wann und wie laut die Violinen spielen, stimmen auch die Fagotte eine andere Melodie an, was sich wiederum auf die Pauke auswirkt. Spielt die Pauke lange genug, schweigen die Violinen irgendwann. In der Embryologie hat man alle Wachstumsstadien von Fliegen, Hühnern und anderen Tieren genau beobachtet. Man konnte nachzeichnen, wohin die Zellen wandern, die zu Gehirn oder Leber werden und welche chemischen Substanzen in den Zellen vorhanden sind, wenn diese sich vermehren

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oder verändern. Man hat das Wachstum der Extremitäten eingehend untersucht und festgehalten, wann die Knospen, die zu den Fingern werden, zum ersten Mal auftauchen, wie viele von ihnen heranwachsen und wie viele nicht. Ebenso hat man beobachtet, wie Zellen absterben, während die von ihnen anfangs mitgeprägten Formen weiter heranwachsen. Wie dabei klar wurde, ist dies der Weg, auf dem sich die Form der Tiere im Laufe der Evolution wandelt. Eine Mutation in einem Ober- oder Signalgen, aber auch eine Veränderung in einem oder mehreren Schaltern lassen beispielsweise die Finger im Flügel einer Fledermaus länger werden und sorgen dafür, dass die Flughäute heranwachsen. Neue Formen entstehen nicht aufgrund einer neuen Genausstattung, die neue, detaillierte Anweisungen für einen Flügel anstelle eines Beines geben würde, sondern aufgrund einer veränderten Regulation im ganzen System der Schalter und Rückkopplungsschleifen. Die natürliche Selektion, wie Charles Darwin sie sich vorstellte, ist nach wie vor die wirksamste, am besten geklärte Kraft in der Natur. Sie wählt aus oder „selektioniert“. Manche Veränderungen der Entwicklungsvorgänge sind nützlich, andere erweisen sich als tödlich. Aber auf dem Evolutionsweg vom Dinosaurier zum Falken entwickelt sich keine ganz neue Ausstattung mit Falkengenen für Schnabel, Flügel und Augen. Stattdessen verändern sich die Anweisungen für Gliedmaßen, Federn, Augen und Schwanz, sodass die gleichen Bausteine des Wirbeltierorganismus auf neue Weise zusammengesetzt werden. Im Mittelpunkt der Hoffnung, entwicklungsbiologische Kenntnisse auf die Evolution anzuwenden und in unserem Zusammenhang einen Sieg über die Barriere des Aussterbens hinweg zu Ànden, steht der Zusammenhang zwischen Mikround Makroevolution. Wenn wir die Entwicklung, die man bis

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auf die einzelnen Gene und ihre Proteinprodukte zurückverfolgt hat, mit der makroskopischen Anatomie der Fossilien in Verbindung bringen können, eröffnet sich eine ganz neue Ebene von Erkenntnissen über die Evolution des Körperbaus. Diese Arbeiten beÀnden sich noch im Anfangsstadium, aber es gibt bereits einige gute Beispiele.

So wachsen Federn Federn sind ein Merkmal, das sowohl für Vögel als auch für andere Dinosaurier von großer Bedeutung ist. Dies wurde von Richard O. Prum (Yale University) und mehreren Kollegen auf elegante, zufriedenstellende Weise im Einzelnen nachgewiesen. Noch interessanter werden ihre Arbeiten durch die Tatsache, dass man früher mangels einschlägiger Befunde aus Genetik und Entwicklungsbiologie bereits eine Theorie über die Evolution der Federn entwickelt hatte, die zunächst sinnvoll erschien, sich aber dann als unhaltbar erwies. Wie Prum und Alan H. Bush im März 2003 in der Zeitschrift ScientiÀc American schrieben, entstanden die Federn nach diesem Szenario aus Schuppen, die sich zunächst verlängerten, dann ausgefranste Kanten bekamen und schließlich mit Haken und Vertiefungen versehene Federstrahlen hervorbrachten. Um zu verstehen, warum es so nicht gewesen sein kann, müssen wir zunächst einmal den Aufbau dieser hübschen Federn, die im Wind Áattern oder unsere Kopfkissen Áauschig machen, etwas genauer betrachten. Eine Feder ist im Wesentlichen ein langes, verzweigtes Rohr. Die Verzweigungen haben wieder Verzweigungen, die ihrerseits erneut Äste tragen; bei diesen letzten kleinen, astförmigen Verlängerungen handelt

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es sich allerdings um Haken oder Bogenstrahlen, welche die Feder zusammenhalten. Es gibt zweierlei Federtypen: zum einen die Federn von Blauhäher oder Taube, die man auf dem Boden Ànden kann, oder auch die Truthahnfedern, die man kauft, wenn man mit dem Fliegenköder auf Forellenfang geht; zum anderen die Federn, die man in großer Zahl als Daunen in Schlafsack, Steppdecke oder Wintermantel. Der erste Typ wird als Konturfedern bezeichnet, der zweite als Daunenfedern. Die Konturfedern haben den beschriebenen, verzweigten Aufbau, bei den Daunenfedern dagegen ist die Hauptachse sehr kurz, und die Feder besteht aus einem Gewirr kleiner Äste, die durch Haken verbunden sind; so entsteht das luftgefüllte GeÁecht, das den Vogel – und auch uns Menschen im Schlafsack oder in der Winterjacke – warm hält. Um zu verstehen, was Federn sind und wie sie sich in der Evolution entwickelt haben, musste man als Erstes ihr Wachstum während der Embryonalentwicklung mikroskopisch nachvollziehen. Federn wachsen aus der Epidermis heraus, der äußeren Hautschicht des Embryos. Diese Haut verdickt sich an mehreren Stellen und bildet dann ein Rohr; um dieses Rohr herum bildet ein Zylinder aus Zellen den Follikel. Dieser bringt Zellen hervor, die Keratin, die Substanz von Fingernägeln und Haaren, produzieren. Die neuen Zellen am unteren Ende des Follikels schieben die darüber liegenden, älteren Zellen in die Höhe; so entsteht, wie Prum schreibt, „schließlich die gesamte Feder in einer rafÀnierten ChoreograÀe, die eines der Wunder der Natur ist“. Ein Aspekt des Wachstums ist tatsächlich von einer geradezu wundersamen Komplexität. Während das Rohr heranwächst, spielt sich am „Kragen“ etwas ab, jenem Teil des Follikels, in dem die keratinproduzierenden Zellen entstehen

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und den mittleren, hohlen Federschaft aus der Haut nach außen schieben. Der Kragen bringt an dem zentralen Schaft spiralförmig wachsende Kanten hervor, die während des weiteren Wachstums der Feder zu den Hauptästen werden. An diesen bilden sich dann die Hakenstrahlen. Das alles geschieht gleichzeitig und vermittelt so eine Ahnung davon, auf welch geheimnisvolle, rätselhafte Weise ein Organismus aus einer einzigen Zelle zu einem komplexen Lebewesen heranwächst: Eine Vielzahl von Zellen bilden ungeheuer viele, komplizierte Muster, die alle genau zum richtigen Zeitpunkt auftauchen und an den richtigen Ort dirigiert werden. Für diesen koordinierten Wandel ist die Feder nur ein kleines Beispiel. Prum und andere Kollegen waren der Ansicht, man könne am Ablauf dieser Entwicklung auch sehen, wie Federn in der Evolution entstanden sind. Dabei müssen zuerst primitive Strukturen entstanden sein, wie man sie in den frühen Stadien der Federentwicklung erkennt. Es muss Tiere gegeben haben, die ausschließlich solche röhrenförmigen Strukturen besaßen. Erst später entstanden dann die Federn, mit denen die Vögel Áiegen konnten. Mit anderen Worten: Die Evolution der Federn lief wie das embryonale Federwachstum in Form einzelner Schritte ab. Dabei musste jeder Schritt beendet sein, bevor der nächste beginnen konnte. Jeder Schritt hing von den vorherigen Entwicklungen ab. Das Endprodukt – die Federn, mit denen Falken und Schwalben Áiegen können – war erst lange nach der anfänglichen Evolution der Federn vorhanden. Und da diese ersten Federn in keinerlei Zusammenhang mit dem Fliegen standen, müssen sie sich in der Evolution aus einem anderen Grund gebildet haben. Die Feder gehört zu jenen Merkmalen, an denen die Kreationisten lange Zeit die Unmöglichkeit der Evolution nachweisen wollten. Wie, so fragten sie, konnten

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sich Federn – die ja im Gegensatz zu einem längeren Arm oder einem dickeren Schädel eine echte Neuentwicklung darstellen – eigenständig entwickeln, um dann plötzlich das Fliegen zu ermöglichen? Wie das möglich war und sich tatsächlich abspielte, konnten Prum und Kollegen exakt nachweisen. Zunächst entwickelten sich Merkmale, die einem Zweck dienten, und als darauf dann weitere Merkmale aufbauten, veränderten sie sich zu den Gebilden, die wir heute beobachten. In der Evolution entwickelten sich als Erstes einfache Röhren oder Hohlzylinder und später kleine Spitzen, die auf der Außenseite der Röhren kleine Büschel bildeten. Im nächsten Stadium wurden die Federn zu Röhren mit Ästen, die von den Spitzen besetzt waren. Dann kam ein weiterer Schritt: Die Spitzen veränderten ihre Form und wurden zu Haken, mit denen die Feder so zusammengehalten werden kann, dass sie sich wie ein einziges Stück anfühlt, Wasser abweist und dem Luftwiderstand standhält. Nachdem die Hakenstrahlen entstanden waren, konnte die Veränderung stattÀnden, die das echte Fliegen ermöglichte: Die Feder nahm eine asymmetrische Form an: Sie war auf einer Seite des zentralen Hohlzylinders größer. Zusammen mit John F. Fallon und Matthew Harris von der University of Wisconsin-Madison brachte Prum weiteres Licht in die Entwicklungsvorgänge: Mit besonderen Verfahren beobachtete er, welche Gene in den einzelnen Entwicklungsstadien aktiv sind und wo sich diese aktiven Gene in der wachsenden Feder beÀnden. Dabei fanden die Wissenschaftler zwei bereits allgemein bekannte Gene und die zugehörigen Proteine: Sonic Hedgehog und das knochenmorphogenetische Protein BMP2; beide waren an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlicher Konzentration vorhanden. Sonic Hedgehog regt das Wachstum an, BMP2 sorgt für die

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Differenzierung neuer Zelltypen. Außerdem schränkt BMP2 auch die Vermehrung der Zellen ein. Anfangs tauchten die beiden Proteine an der Stelle auf, an der sich die Federwurzel bildete, später auch an den Kanten, die sich in die ersten Verzweigungen verwandelten. Beide Proteine steuerten das Wachstum der Feder, und zwar in einzelnen Stadien, genau wie Prum und seine Kollegen es vermutet hatten. Dabei ist jedes Stadium nur möglich, weil ihm ein anderes vorausgegangen ist. Ohne den Federkeim könnte es weder Kanten noch Verzweigungen oder Haken geben. Das allgemeine Bild, das sie bei der Entwicklung beobachten konnten, gilt nach ihrer Vermutung auch für die Evolution: Zuerst ist der mittlere Schaft da, der Hohlzylinder. Dann folgen die weichen Büschel. Am Ende schließlich entwickeln sich die Kanten, gegliederte Verzweigungen und Haken, aus denen moderne Federn bestehen – Federn, wie man sie bei einem Star ebenso Àndet wie bei Archaeopteryx. Wer also in einer kalten Nacht unter eine warme Daunendecke kriecht, bedient sich dabei der Ergebnisse von Jahrmillionen der Evolution, wirksam geworden durch zwei Gene und die von ihnen codierten Proteine: Sonic Hedgehog und knochenmorphogenetisches Protein. Damit war klar, dass die Entwicklung schrittweise abläuft, aber um den Entwicklungsprozess mit der Evolution in Verbindung zu bringen, waren weitere Befunde erforderlich. Manche davon waren in Form der vielgestaltigen Federn heutiger Vögel ohne Weiteres verfügbar. Jedes Evolutionsstadium der Federentwicklung kann man an irgendeinem heute lebenden Vogel beobachten. Prum dachte sich also keine Strukturen aus, die bis dahin nicht bekannt gewesen wären. Alle von ihm postulierten Federtypen tauchen in irgendeinem Stadium bei einem Vogel auf.

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Keiner ihrer Befunde sprach gegen die Hypothese. Aber auch keiner war ein Beweis. In historischen Wissenschaften wie der Paläontologie oder der molekularen Evolutionsbiologie sind Beweise natürlich oftmals nicht auf die gleiche Weise zu führen wie beispielsweise in einem physikalischen Experiment. Aber man kann Voraussagen machen und dann Belege anführen, die entweder dafür oder dagegen sprechen. Als Prum und seine Kollegen den Ablauf der Evolution beschrieben, sagten sie eigentlich voraus, dass manche ausgestorbenen Lebewesen primitive Federn, bloße Hohlzylinder oder Daunenfedern besaßen und dass diese früher gelebt haben müssen als Archaeopteryx. Dann kam ihnen die Paläontologie mit den bereits beschriebenen geÀederten Dinosauriern zu Hilfe, die man in den 1990er Jahren in China entdeckte. Sie entsprachen genau dem, was man erwartet hatte. Prum schreibt: „Der erste geÀederte Dinosaurier, der dort 1997 gefunden wurde, war ein hühnergroßer Coelurosaurier (Sinusauropteryx); aus seiner Haut ragten kleine, röhrenförmige und möglicherweise verzweigte Strukturen heraus.“ Später entdeckte man andere Dinosaurier mit Konturfedern. Die Formenvielfalt der Federn, darunter auch die einfache, Áauschige Sorte, die in Prums Schema dem zweiten Stadium der Federevolution entsprach, und die Tatsache, dass alle zu Dinosauriern gehörten, sprachen nochmals für seine Vorstellungen von der Evolution der Federn. In seiner Begeisterung ließ Prum sich in seinem Artikel in ScientiÀc American zu einer anspruchsvollen Aussage hinreißen: „Diese Fossilien schlagen ein neues Kapitel in der Geschichte der Haut von Wirbeltieren auf.“ Das stimmt allerdings. Damit wurden die Vögel zu einer Untergruppe der Dinosaurier, genauer gesagt der Theropoden. Die Dinosaurier

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bekamen Federn; möglicherweise war sogar T. rex damit ausgestattet. Die Vorstellung, dass Federn in der Evolution aus Schuppen entstanden sind, war mehr oder weniger widerlegt. Schuppen wachsen nicht als Zylinder heran, sondern haben ein erkennbares Oben und Unten. Außerdem wurde klar, dass Federn sich ursprünglich nicht zum Zweck des Fliegens entwickelten. Warum sie in der Evolution entstanden, wissen wir nicht, und wir können auch nicht sagen, wann das geschah. Außerdem hat sich herausgestellt, dass wir vermutlich nie wissen werden, wann die Evolution der Vögel begann. Evolution ist in Wirklichkeit immer ein Kontinuum, scharfe Abgrenzungen gibt es nicht. Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Übergang von den Theropoden-Dinosauriern zu den Vogel-Dinosauriern. Heute wird darüber diskutiert, ob es sich bei manchen der chinesischen Dinosaurier um Vögel handelt. Mit seinen Untersuchungen an Federn demonstrierte und formulierte Prum, welche Richtung Paläontologie und Evolutionsbiologie einschlagen müssen: Es ist die gleiche, für die auch andere sich schon ausgesprochen hatten. Er gelangt zu dem Schluss: „Die Federn sind ein Musterbeispiel dafür, wie man die Entstehung von Neuerungen in der Evolution am besten studiert: Man konzentriert sich darauf, die wirklich neuen Merkmale zu verstehen, und geht der Frage nach, wie sie sich während der Embryonalentwicklung heutiger Lebewesen bilden.“ Dies bezeichnet er sogar als „neues Paradigma der Evolutionsbiologie“, das nach seiner Auffassung sehr fruchtbar sein wird. An den Schluss seiner Ausführungen stellt er ein verzeihliches Wortspiel: „Lassen wir unserem Geist Flügel wachsen.“

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Von der Hand zum Flügel Ein weiteres Beispiel dafür, wie man aus Beobachtungen an der Embryonalentwicklung Rückschlüsse auf den Ablauf der Evolution ziehen kann, hat mit den Händen der Vögel zu tun. Hans Larsson vom Redpath Museum der McGill University, Günter Wagner an der Yale University und andere beschäftigten sich mit einer Fragestellung, die auf den ersten Blick naheliegend erscheint, bei genauerem Hinsehen aber zahlreiche undurchsichtige Wendungen nimmt. Mit Sicherheit bestehen einige Parallelen zwischen der Entwicklung eines Embryos und der Evolutionsvergangenheit der Lebewesen. Man ist leicht versucht, wie in der Vergangenheit eine einfache Geschichte über einen Evolutionsprozess zu erzählen, der dem sichtbaren Weg der Embryonalentwicklung folgt. Aber wie rechtfertigt man eine solche Schlussfolgerung? Was zählt als Beleg? Welche logischen und experimentellen Regeln weisen dem Wissenschaftler den Weg, wenn er die Evolution der Federn oder der Hände von Vögeln nachzeichnen will? In der Laborforschung fällt die Antwort leicht. Es ist die alte naturwissenschaftliche Methode: Man stellt eine Hypothese auf und überprüft sie dann mithilfe von Experimenten. Sie muss falsiÀzierbar sein, damit man sie widerlegen kann. Bei der Mikroevolution, den Veränderungen einzelner Gene, die wir beobachten können, klappt das. Man kann beispielsweise die Hypothese aufstellen, dass unter Bakterien, die man in eine Umgebung mit Amoxicillin bringt, nur die Amoxicillin-resistenten Individuen überleben und sich fortpÁanzen werden. Die Bakterienpopulation macht eine Evolution durch, bis sie

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von diesem Antibiotikum nicht mehr angegriffen wird. Ein solches Experiment Àndet derzeit tatsächlich in den Ohren amerikanischer Kleinkinder statt. Durch die Apotheken des ganzen Landes Áießt ein Strom von rosafarbenem, Áüssigem Amoxicillin, und die Bakterien, die für die Mittelohrentzündung verantwortlich sind, werden immer zäher und widerstandsfähiger. Wir können zweifellos die Gene Ànden, die für die Resistenz der Bakterien verantwortlich sind, und so die Evolution nachweisen, während sie sich ereignet. Makroevolution dagegen Àndet in langen Zeiträumen statt. Die Frage, wie die Vögel sich entwickelten, woher die Säugetiere stammen und wie die Primaten auf der BildÁäche erschienen, müssen mit Methoden der historischen Forschung untersucht werden. Hier herrscht eine geringfügig andere wissenschaftliche Logik. In der Naturwissenschaft gibt es natürlich keinen Beweis wie in der Mathematik. Man kann beweisen, dass etwas nicht stimmt. Und man kann Belege sammeln, die für eine Theorie sprechen, bis diese Theorie stichhaltig und gut begründet ist. Aber jede Theorie ist immer offen für neue Belege und neue theoretische Ansätze. Larsson nutzte zwei Gedanken als philosophische Grundlage für seinen Versuch, den Ablauf der Evolution mithilfe von Stadien der Embryonalentwicklung zu verstehen. Der eine ist das Prinzip der forensischen Indizien. Wie der Leichenbeschauer, der durch Untersuchung der Leiche die Todesursache feststellt, können Wissenschaftler den Verlauf der Evolution ableiten, indem sie sich die Fossilfunde ansehen. Darüber hinaus steht ein zweiter wichtiger Gedanke im Mittelpunkt der Überlegungen, mit denen Verbindungen zwischen Veränderungen der Embryonalentwicklung und evolutionsbedingten Veränderungen des Körperbaus hergestellt

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werden. Er besagt: Wenn man einen Vorgang in der Entwicklung, eine Veränderung im Wachstum des Embryos, mit einem Evolutionsereignis – der Veränderung im Körperbau eines ausgewachsenen Tieres, die sich in entwicklungsgeschichtlichen Zeiträumen abspielt – in Verbindung bringen will, müssen beide Ereignisse von vergleichbarer Komplexität sein. Es muss eine Art Symmetrie geben. An den Fossilfunden können wir beobachten, wie Dinosaurier, die keine Vögel waren, Vogel-Dinosaurier hervorbrachten und wie diese, die Vögel, ihre weitere Evolution durchmachten. Auf diesem Weg wurde die Hand, die ursprünglich fünf Finger hatte, zu einer mit drei Fingern, die immer länger wurden und den Flügel bildeten. Die Entwicklung des Flügels können wir auch bei einem heranwachsenden Hühnerembryo beobachten. Wollen wir nun die Laborbefunde mit den Beobachtungen an den Fossilien in Zusammenhang bringen, brauchen wir dazu eindeutige wissenschaftliche Regeln; wir müssen wissen, was als wissenschaftlicher Beweis gilt, wenn wir eine Verbindung zwischen Entwicklung und Evolution herstellen wollen. Bei der Symmetrie, die nach Larssons Ansicht zwischen den beiden Ereignissen herrschen muss, handelt es sich nicht um die Supersymmetrie der theoretischen Physik, wonach es für jedes subatomare Teilchen einen „Superpartner“ gibt; dies erfordert Squarks, Selektronen und Sprotonen, und alle haben offensichtlich mit der dunklen Materie zu tun, die anscheinend den größten Teil des Universums ausmacht. Nein. Die Evolutionstheorie mag hier und da kompliziert sein, aber sie reicht in ihrer Komplexität bisher bei Weitem nicht an die theoretische Physik heran. Die Symmetrie, von der Larsson spricht, ist eine Symmetrie zwischen Ursache und Wirkung. Hier gilt das Prinzip, dass die

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Ursache ebenso komplex sein muss wie die Wirkung. In der Praxis bedeutet das: Wenn man eine Veränderung der Embryonalentwicklung beobachtet und glaubt, dass sie die Ursache eines Evolutionsereignisses ist, muss das Ereignis in der Entwicklung mindestens ebenso komplex sein wie das Ereignis in der Evolution. Vor dem Hintergrund dieses Prinzips kann man eine Idee formulieren, eine Hypothese darüber, wie eine Ursache zu einer Wirkung führt. Und man kann sie im Labor überprüfen, indem man eine Voraussage trifft. Um noch einmal auf das Beispiel mit der Hand des Vogels zurückzukommen: Es gab Diskussionen um die Frage, wie aus den fünf Fingern der frühen Dinosaurier die drei Finger der späteren Dinosaurier und später die drei Finger der Vögel wurden. Als die ersten Tiere mit vier Extremitäten auf der BildÁäche erschienen, war die Evolution von Händen (und Füßen) noch in vollem Gang. Acanthostega, ein früherer Vierbeiner, hatte an den Hintergliedmaßen sieben und an den „Händen“ der Vorderextremitäten acht Finger. Später wurde die Zahl der Finger und Zehen immer geringer, bis der Standardkörperbauplan der Vierbeiner bei fünf Fingern angelangt war. Manche dieser Finger wurden im weiteren Verlauf bei verschiedenen Tieren zurückgebildet oder gingen völlig verloren, aber wenn die Hand im Rahmen der Embryonalentwicklung heranwächst, kann man immer die Ansätze zu fünf Fingern erkennen. Veränderungen im Ablauf der Entwicklung führten dann bei manchen Dinosauriern und bei Vögeln zu Händen mit drei Fingern, die bei den Vögeln allerdings verlängert sind und ihre Form so verändert haben, dass daraus Flügel wurden. Während der Embryonalentwicklung kann man die Extremitätenknospen beobachten. Bei manchen Tieren kann man

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zusehen, wie sie auftauchen und dann wieder verschwinden. Bei Vögeln hatte man bis vor Kurzem nur vier Knospen erkannt. Um welche Finger es sich dabei nach den Konventionen der Embryologie handelte, war ein Rätsel. Die Finger werden vom Daumen bis zum kleinen Finger mit den römischen Zahlen von I bis V gekennzeichnet. Die kleinen Dinosaurier aus der Gruppe der Theropoden, unter ihnen die Coelurosaurier, aus denen die Vögel hervorgingen, hatten Hände mit drei Fingern, die als Finger I bis III bezeichnet wurden. Auch Vögel haben eine Art dreiÀngerige Hände, die Fingerknochen gehören allerdings zu den Flügeln. Bei ihnen scheint es sich aber nach den Beobachtungen der Embryologen nun um die Finger II bis IV zu handeln. Wenn die Vögel von Dinosauriern abstammen, ist eine solche Anordnung nicht plausibel. Manche Kritiker der Vorstellung, dass Vögel eigentlich Dinosaurier sind, vertraten deshalb die Ansicht, die Diskrepanz bei den Fingern zeige trotz aller anderen überwältigenden Belege, dass die Vögel keine Nachkommen der Dinosaurier sein können. Aber ein einziger widersprüchlicher Beleg macht eine größere Theorie, die durch die verschiedensten Untersuchungen an Fossilfunden gestützt wird, nicht sofort zunichte. Selbst wenn also das Rätsel der Finger ungelöst bleibt, ist die Abstammung von den Dinosauriern nach wie vor das plausibelste Modell für die Evolution der Vögel. Dennoch schrie das Rätsel nach einer Lösung. Hans Larsson und Günter Wagner, ein Kollege an der Yale University, arbeiteten sowohl gemeinsam als auch unabhängig voneinander an der Frage der Finger. Die Antwort, zu der sie schließlich gelangten, löste nicht nur das Problem, sondern sie zeigte auch, wie man die Ereignisse von Embryonalentwicklung und Evolution in Verbindung bringen kann.

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Im Wesentlichen gingen sie von dem Gedanken aus, dass die Embryonalentwicklung der Hand in mehreren Stadien abläuft, zu denen es symmetrische Evolutionsereignisse gibt. In der Embryonalentwicklung entsteht zuerst das Autopodienfeld, eine Zone mit Zellen, die sich zu den Ansätzen einer Hand organisieren. Als Zweites wachsen dann die Finger, und im dritten Stadium differenzieren sie sich zu unterschiedlicher Form und Größe. Vergleichbare Stadien konnte Larsson auch in der Evolution ausmachen. Er zeichnete eine Symmetrie zwischen Entwicklungs- und Evolutionsereignissen nach. Das Evolutionsereignis, das in seinen Augen die Parallele zur Organisation der Zellen und der Entstehung einer Hand in der Entwicklung darstellt, ist das Auftauchen einer Fischgruppe, die als Tetrapodomorpha bezeichnet wird. Sie waren die unmittelbaren Vorläufer der Tiere, die aus dem Wasser an Land gingen. Sie hatten vier Flossen, die aussahen, als „wollten“ sie gewissermaßen zu Gliedmaßen werden. Der nächste Entwicklungsschritt ist das Wachstum der Finger, und das Parallelereignis in der Evolution ist das Auftauchen Àngerähnlicher Strukturen bei diesen Fischen, die an den Enden ihrer Flossen eine Art verunstaltete, handähnliche Paddel trugen. Es gibt aber in der Entwicklung noch ein drittes Stadium, in dem die heranwachsenden Finger eine eigene Identität erlangen, das heißt eine charakteristische Struktur. In der Evolution war dieses Stadium mit dem Auftauchen vierbeiniger Lebewesen erreicht, die in der Mitte zwischen Fischen und Amphibien standen. Das waren Vierbeiner wie Acanthostega mit sieben Fingern an den Hinter- und acht an den Vorderextremitäten. Die Finger waren in ihrem Aufbau unterschiedlich und deshalb leicht zu unterscheiden.

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Acanthostega konnte vermutlich im seichten, küstennahen Wasser besser laufen als an Land. Auch Ichthyostega, ein weiterer Vierbeiner, war ein Bewohner des Áachen Wassers, der sich aber auch an Land fortbewegen konnte. Er hatte an den Hintergliedmaßen sieben Finger mit erkennbarer, unterschiedlicher Form. Erst kürzlich wurde Tiktaalik entdeckt, ein Fisch mit vier Extremitäten, der viele Merkmale späterer Vierbeiner besitzt und manchmal als „Fischapode“ bezeichnet wird. Am Ende besiedelten die vierbeinigen Tiere das Land, und die Zahl der Finger pendelte sich bei fünf ein. Alle Formen, die wir heute beobachten, von Flügeln und Hufen bis zu den Händen der Konzertpianistin, entstanden in der Evolution aus den fünfÀngerigen Händen und Füßen unserer unbeholfenen Vorfahren. Sowohl in der Embryonalentwicklung als auch in der Evolution baut jedes Stadium auf dem vorherigen auf, genau wie beim Wachstum und der Evolution der Federn, mit denen Richard Prum sich beschäftigte. Das Wachstum der Finger beginnt, bevor sie eine unterschiedliche Form und Größe annehmen. Nur weil ein Finger an der Stelle zu wachsen beginnt, wo man mit dem ersten Finger rechnet, muss das nicht zwangsläuÀg bedeuten, dass er auch zum ersten Finger wird. Dies mag zwar der normale Entwicklungsverlauf sein, aber man kann ihn im Experiment abwandeln, und er könnte sich auch in der Evolution verändert haben. Angenommen, die Anlage für den zweiten Finger taucht auf, aber die Reihenfolge der HOX-Gene sowie der SonicHedgehog- und BMP-Proteine, die ihn normalerweise zum zweiten Finger machen würden, ist verändert. Dann könnte die gleiche Knospe auch zum ersten Finger werden. Demnach liegt die Vermutung nahe, dass der Vogelembryo während seiner Entwicklung zunächst den Weg zu den

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Fingern II, III und IV einschlägt, am Ende aber die Finger I, II und III besitzt. Diskussionen über die Embryonalentwicklung werden häuÀg so kompliziert, dass man ihnen kaum noch folgen kann; kurz gesagt würde dies bedeuten, dass der Evolutionsweg von den Dinosauriern zu den Vögeln klarer zu erkennen ist. Wenn sich aber in der Embryonalentwicklung eine solche Veränderung abgespielt hat, müsste sich in der Entwicklung auch eine fünfte Anlage zeigen, und das an der richtigen Stelle. Eine solche fünfte Knospe konnte man lange Zeit nicht nachweisen; erst kürzlich wurde sie von Larsson sowie zwei weiteren Arbeitsgruppen beobachtet und beschrieben. Die anderen Gruppen nutzten verschiedene Verfahren, die zwar Vermutungen nahelegten, aber keine so eindeutigen Ergebnisse lieferten wie Larssons Arbeiten; er konnte die Zusammenballung der Zellen, die sich zu den Knospen entwickelten, und dann den weiteren Weg zu den Fingern nachzeichnen. Anschließend wertete er zusammen mit Günter Wagner seine Befunde aus. Die beiden gelangten zu der stichhaltig begründeten Ansicht, dass das Wachstum im Hühnerembryo mit den Fingeranlagen II, III und IV beginnt, die sich dann aber zu den Fingern I, II und III entwickeln. Die Bedeutung ihrer Arbeiten geht weit über den Einzelfall der Finger von Vögeln hinaus. Ihr experimentelles Verfahren lässt sich allgemein auf Fragen der Makroevolution anwenden – was auch Richard Prum und andere taten – und eröffnet damit einen neuen, wissenschaftlich strengeren Weg zur Aufklärung der Vergangenheit. Die Paläontologie hat uns mit den Ausgrabungen großartige Lebewesen aus früheren Zeiten geschenkt. Sie hat das Rohmaterial für Analysen geliefert und damit die Möglichkeit geschaffen, entwicklungsgeschichtlichen Wandel in großem und kleinem Maßstab nachzuvoll-

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ziehen. Aber sie konnte keine Aufschlüsse über den Mechanismus liefern. Der Mechanismus der Evolution, molekulare Veränderungen von DNA und Genregulation, wurde im Labor erforscht, aber dabei musste man sich auf kleine Veränderungen beschränken. Die evolutionäre Entwicklungsbiologie führte beide Wege zusammen und liefert uns allen ein neues Ergebnis: einheitliche, detaillierte Kenntnisse über den Ablauf der Evolution. Die Laborarbeit kann man noch einen Schritt weiter treiben, und auch den haben sowohl Larsson als auch einige andere Wissenschaftler bereits in Angriff genommen: Man schafft einen Atavismus. Man kann den Verlauf der Entwicklung so beeinÁussen, dass man damit die Evolution sehr wohl zurückdreht. Wenn wir beispielsweise die Entwicklung von Federn oder Fingern aufgeklärt haben und eine Hypothese darüber aufstellen, wie es in der Evolution zu Veränderungen dieses Ablaufs gekommen ist, können wir diese Hypothese überprüfen. Wir können den Entwicklungsverlauf durch Eingriffe auf molekularer Ebene so gestalten, wie er nach unserer Vermutung vor dem evolutionsbedingten Wechsel aussah. Wir greifen in die Entwicklungsanweisungen ein, die der Embryo enthält, und beobachten dann, ob sich der Zustand der Vorfahren wiederherstellen lässt. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass man einfach einen Effekt erzeugt, der wie ein älterer Zustand aussieht, in Wirklichkeit aber auf einem anderen Weg zu einem vordergründig ähnlichen Ergebnis geführt hat; damit hätte man die Evolution nicht zurückgeschraubt. Es gibt Möglichkeiten, sich vor solchen Ergebnissen zu schützen, doch dies ist ein undurchsichtiger, bisher noch kaum untersuchter Bereich. Aber wenn man einen Evolutionsweg zurückdrehen kann, sollte es dennoch prinzipiell möglich sein, dass Gleiche auch mit anderen

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zu tun. Wenn es bei einem Merkmal möglich ist, warum dann nicht bei mehreren? Warum sollte man ein Huhn nicht zu einem Dinosaurier machen? Über Evolution, über die Frage ob man sie in den Schulen unterrichten sollte, und über das abstrakte Wesen von Wissenschaft und wissenschaftlichen Belegen kann man ewig diskutieren. Aber genau wie ein Bild, das mehr sagt als 1 000 Worte, so könnte nach meiner Überzeugung ein lebender Dinosaurier auch 1 000 Gerichtsverfahren überÁüssig machen, weil er bei Schulkindern einfach ein Bauchgefühl erzeugt.

6 Der unterhaltsame Vogel Das schrumpfende Rückgrat Die meisten Arten machen ihre eigene Evolution durch und gestalten sie dabei. Das entspricht den Absichten der Natur. Dies alles ist ganz natürlich und organisch und im Einklang mit geheimnisvollen Zyklen im Kosmos, der glaubt, dass nur jahrmillionenlanges frustrierendes Herumprobieren einer Spezies eine moralische Ader und manchmal auch ein Rückgrat verleihen kann. Terry Pratchett

Hans Larsson kann schnell gehen und schnell reden. Man muss schon Àt sein, wenn man auf den Hügeln im Umkreis der McGill University in Montreal mit ihm mithalten will, ganz zu schweigen von den abgelegenen Inseln in der kanadischen Arktis, auf denen er im Rahmen seiner sommerlichen Freilandarbeit nach Fossilien sucht. Er spricht, wie er geht: In eleganten, schnellen Schritten kommt er von der Wissenschaftsphilosophie über genetische Sonden zu dem reichhaltigen kreidezeitlichen Ökosystem, das er in Alberta, an einer anderen Fundstelle, untersucht. Wie viele Paläontologen, so war auch Larsson seit seiner Kindheit auf Dinosaurier Àxiert. Seine geistigen Interessen sind aber ungewöhnlich breit gestreut. Genau wie mit einem langsamen Tempo beim Gehen, so ist er auch ungeduldig mit

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den Beschränkungen der traditionellen Paläontologie. Er gehört zu den führenden Vertretern jenes neuen Fachgebiets, in dem Paläontologie und Molekularbiologie verschmelzen, weil man sich darum bemüht, wichtige Veränderungen in der Evolution – die Entstehung neuer Arten, neuer Merkmale, neuer Formen und Strukturen, neuer Baupläne von Tieren – mit Veränderungen einzelner Gene und ihrer Regulation in Zusammenhang zu bringen. Zu seiner derzeitigen Mischung der Forschungsgebiete kam er, weil es ihn nicht mehr zufriedenstellte, nur Fossilien zu sammeln, sie in Kategorien einzuteilen und daraus Rückschlüsse über die Evolution zu ziehen. „Ursprünglich hat die Dinosaurierpaläontologie für mich ihren Zauber verloren, weil ihre Aussagen nicht überprüfbar waren. Eigentlich waren es nur Geschichten und Szenarien. Jeder konnte mit Mama und Hund dazukommen und mitmachen. Man muss aber wissenschaftlich streng sein. Und es muss möglich sein, die Dinge zu überprüfen und über die Grenzen der Fachgebiete hinaus weiterzuentwickeln. Deshalb fand ich es sehr befriedigend, auch die experimentelle Embryologie und ökologische Ansätze hinzuzunehmen.“ Wer daran geht, die traditionelle wissenschaftliche Vorgehensweise infrage zu stellen, Brücken zwischen den Fachgebieten zu schlagen und neue Fragen auf neue Weise zu stellen, ist ein Forscher nach meinem Geschmack. Die in der Paläontologie entwickelten Vorstellungen mithilfe der Embryologie zu überprüfen, scheint mir ein wichtiger Bestandteil der zukünftigen Evolutionsforschung zu sein. Und bei Larssons Untersuchungen stand der Übergang von den Dinosauriern zu den Vögeln im Mittelpunkt. Noch faszinierender jedoch Ànde ich etwas anderes: Er hat auch vor, die experimentelle Embryologie voranzubringen, indem er ruhende Gene wieder

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aktiviert oder die Regulation aktiver Gene verändert, um so urtümliche Merkmale, die in der Evolution verloren gegangen sind, wieder zum Vorschein zu bringen. Ein weiterer Teil seines wissenschaftlichen Ansatzes, der ebenfalls dem Wunsch nach einer strengeren paläontologischen Wissenschaft entsprang, war die Beschäftigung mit der Wissenschaftsphilosophie, mit dem Wesen von Beweis, Beleg und Experiment. Solche Überlegungen stellen experimentelle Wissenschaftler und Freilandpaläontologen nur selten an, aber auch sie sind ein Aspekt seiner Weigerung, sich mit dem Status quo abzuÀnden. Larsson will die Paläontologie nicht nur mit Laborexperimenten besser überprüfbar machen, sondern auch deÀnieren, was Überprüfbarkeit eigentlich ist und was ein Experiment ausmacht. Ich beschäftige mich schon seit rund 40 Jahren intensiv mit Dinosaurierforschung, aber in dieser Zeit hat sich das, was mich am meisten befriedigt, verändert. Anfangs ging es darum, neue Fossilien zu Ànden. Als Nächstes wollte ich die Paläontologie verändern und dafür sorgen, dass neue Forschungsmethoden angewandt werden. In den letzten paar Jahren ging es mir vor allem um die Lehre. Heute bereitet es mir die größte Freude, wenn ich zusehen kann, wie Doktoranden, die schlauer sind als ich, alte Ideen über den Haufen werfen und Neuland betreten. Jeder Lehrer hat die Hoffnung, dass er seinen Schülern etwas vermitteln kann. Dieses Etwas ist für mich nicht Spezialwissen oder technische Fachkunde. Wenn es um die Geschicklichkeit im Labor und die molekularbiologischen Kenntnisse geht, überÁügeln meine Doktoranden mich schnell. Meine Absichten ähneln eher denen eines Oberschullehrers, der seine Klasse kurz zuvor mit den Theorien eines Georges Cuvier bekannt gemacht hat, jenes Genies, dessen Berufslaufbahn

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sich vom 18. bis ins 19. Jahrhundert erstreckte. Cuvier war der erste Paläontologe und bewies, dass das Aussterben ein reales Phänomen ist. Er hatte aber keine Vorstellung davon, wie neue Arten entstehen. Nach seiner Theorie war die Erde unglaublich alt und blieb im Wesentlichen immer gleich; nur gelegentlich führten katastrophale Veränderungen oder Revolutionen zum Aussterben. Die Wirklichkeit – den allmählichen geologischen Wandel, der die Erde geformt hat – erkannte er nicht. Der Lehrer stellte Cuviers Ideen gegenüber seinen Schülern als fest gefügtes, stichhaltig bewiesenes wissenschaftliches Gedankengebäude dar. Manche Schüler waren anderer Ansicht, aber er drängte sie in der Diskussion an die Wand und konnte mit seinen besseren Kenntnissen und seiner Position als Lehrer schließlich alle mit Ausnahme eines einzigen Schülers überzeugen. Als es so weit war, vollzog er plötzlich eine Kehrtwendung und eröffnete seiner Klasse, Cuviers Ideen seien in Wirklichkeit falsch. Er gratulierte dem Schüler, der als Einziger an seiner Ansicht festgehalten hatte, wandte sich dann wieder an die Klasse und warnte sie, niemals etwas zu glauben, nur weil ein Lehrer es als wahr bezeichnet hatte. Genau das will ein guter Lehrer auf jedem wissenschaftlichen Niveau und auch auf jedem anderen Fachgebiet seinen Studenten vermitteln. Larsson ist nicht mein Student. Im Gegenteil: Wenn es um Entwicklungs- und Molekularbiologie geht, könnte ich von ihm viel lernen. Aber er verfügt genau über jenen beweglichen, unruhigen Geist, den jeder Lehrer sich bei seinen Studenten wünscht und den jedes Fachgebiet der Wissenschaft braucht, um lebendig zu bleiben. Außerdem besitzt er die unschätzbar wertvolle Fähigkeit, verschiedene Fachgebiete zu vereinigen, vom Sammeln und Analysieren von Fossilien zu

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Laborexperimenten zu springen und dann auch noch philosophische Untersuchungen darüber anzustellen, wie die Wissenschaft bei ihrer Erforschung der Vergangenheit vorgehen sollte. Ein physikalisches oder chemisches Experiment kann man im Labor anstellen und so lange wiederholen, bis der wissenschaftliche Beweis nach allen Maßstäben erbracht ist. Die Geschichte des Lebendigen ist schwerer fassbar. Wir haben die Fossilien. Wir haben die Entwicklungsbiologie. Wir haben die Molekularbiologie. Alle diese Gebiete vereinigen sich heute, wenn wir in der evolutionären Entwicklungsbiologie die Geschichte des Lebendigen nachzeichnen. Zusammen mit einigen Kollegen wie Günter Wagner von der Yale University kümmert sich Larsson darum, in der Evo-Devo ein allgemein anerkanntes System logischer Parameter für die Formulierung und Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen zu entwickeln. In einem neuen, attraktiven Fachgebiet ist man leicht geneigt, Gedankensprünge über die tatsächlich bekannten Tatsachen hinaus zu vollziehen. Dass jede Veränderung, die ein Tier in der Evolution durchmacht, auf eine Veränderung in der Embryonalentwicklung zurückgehen muss, ist so klar, dass man versucht ist, sofort Verbindungen zwischen allen Punkten herzustellen: Man verbindet einzelne Veränderungen von Entwicklung und Genetik mit Veränderungen bei den Fossilfunden. Aber der Gedanke, mithilfe der Embryologie neue Aufschlüsse über die Evolution zu gewinnen, war in den letzten 200 Jahren einmal mehr und einmal weniger beliebt. Unter anderem liegt das daran, dass ein wissenschaftliches Fachgebiet nur dann vorankommen kann, wenn allgemeine Einigkeit darüber besteht, wie man Befunde beurteilt und welche logischen Schritte notwendig sind, um eine Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen.

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Das Sammeln und Katalogisieren fossiler Knochen, das seit jeher die Hauptbeschäftigung der Wirbeltierpaläontologie darstellt, war im Wesentlichen eine historische Wissenschaft: Man sammelte Informationen und suchte darin nach Gesetzmäßigkeiten. Manche Schlussfolgerungen konnte man überprüfen, aber Experimente standen eigentlich nicht im Mittelpunkt. Stattdessen zog man beispielsweise aus der Entdeckung von Dinosauriereiern und jungen Dinosauriern im trockenen Hochland von Montana den Schluss, dass Dinosaurier ein solches Gelände als Nistplatz bevorzugten. Man konnte vorhersagen, dass man in ähnlichen Formationen auf der ganzen Welt ebenfalls Junge und Eier Ànden würde, in feuchteren Regionen dagegen nicht. Dies war ein eigennütziges Beispiel: Die Voraussage, dass man an solchen Orten weitere Eier und Junge Ànden würde, stammte von mir. Aber auch sie hat mehr mit Geschichte als mit Chemie zu tun. Und auch ich habe ein gerüttelt Maß an Hypothesen aufgestellt, die sich als falsch erwiesen haben. Die Laborwissenschaft und insbesondere die Erforschung der Mikroevolution liefen auf ganz andere Weise ab. Man kann beispielsweise die Vermutung haben, dass ein bestimmter Wachstumsfaktor bei Vierbeinern für die Ausbildung der Hände von großer Bedeutung ist. Dann stellt man vielleicht die Hypothese auf, dass die Hand sich nicht entwickelt, wenn das zugehörige Gen fehlt oder nicht funktioniert. Bei Mäusen kann man ein solches Gen künstlich ausschalten. Die Tiere werden gentechnisch so verändert, dass das Gen fehlt oder nicht mehr aktiv ist, und dann beobachtet man, was sich während der Entwicklung des Embryos abspielt. Entwickelt sich die Hand normal, ist die Hypothese widerlegt. Geschieht das nicht, hat man ein stichhaltiges Indiz, dass das fragliche Gen tatsächlich die vermutete Funktion erfüllt.

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Wenn es um Fliegen oder Würmer geht, sind solche Hypothesen und Experimente relativ einfach. Die genetischen Systeme sind nicht so kompliziert, und die Generationszeiten sind kürzer. Unter solchen Umständen kann man alle möglichen Hypothesen über die Evolution überprüfen. Aber dabei geht es immer nur um kleine Veränderungen. Wie steht es mit einem großen Wandel der Form, bei dem etwas Neues auftaucht, das es zuvor in der Evolution nicht gegeben hat – beispielsweise Gliedmaßen, Haare, Federn oder das Säugen der Jungen? Nun, auch das lässt sich im Labor mit wissenschaftlicher Strenge untersuchen; dazu hält man an der Vorstellung von Symmetrie fest, mit deren Hilfe Larsson die Evolution und Entwicklung der Wirbeltierhand nachzeichnete und mit der Prum die Evolution und Entwicklung der Federn aufklärte.

Die Evolution wird zurückgespult Es gibt aber noch einen anderen Weg zur Überprüfung, und den hat man bisher kaum ausprobiert: Man kann das Videoband der Evolution immer wieder ablaufen lassen und dabei unsere Fähigkeiten zu Eingriffen in die Entwicklung von Hühnerembryonen (oder Embryonen anderer Tiere) nutzen, um die Evolution umzukehren. Dieser weitreichende Fortschritt im Spektrum der Experimente, mit denen man die Evolutionstheorie überprüfen kann, gründet sich ausschließlich auf die Fortschritte der evolutionären Entwicklungsbiologie. Nur weil wir die Zusammenhänge zwischen Entwicklungs- und Evolutionsvorgängen herstellen können und nur weil wir anhand der Fossilien den Weg der Evolution sowie an Embryonen den Weg der Entwicklung in allen Einzelheiten beobachten

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können, sind wir in der Lage, Verbindungen zwischen beiden herzustellen. Wie wichtig genaue Kenntnisse über die Embryonalentwicklung für die Aufklärung der Evolution sind, kann man kaum hoch genug einschätzen. Heute sind wir in der Lage, die Entwicklungswege genau nachzuzeichnen, und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmäßigkeiten, nach denen Zellen sich organisieren und differenzieren, sondern auch im Hinblick auf die Gene, die aktiviert werden: Wir können feststellen, wann welche Wachstums- und Signalfaktoren in den verschiedenen Bereichen des Embryos vorhanden sind und wann sie dort welche Konzentration erreichen. Mit verschiedenen Methoden können wir feststellen, welche Proteine das Wachstum und die Entwicklung steuern, um so das gesamte Wachstumsprogramm eines Organismus aufzuklären und aufzuschreiben. Wenn es um einen Menschen geht, ist dieses Programm von ungeheurer Komplexität, aber im Prinzip könnten wir uns die Informationen beschaffen, und wir verfügen über die Computerleistung, mit der wir die bruchstückhaft gewonnenen Informationen strukturieren und in ein großes Bild einfügen können. Realistisch betrachtet, sind wir von einer solchen Errungenschaft natürlich noch weit entfernt. Sehen wir uns einmal an, welche Fortschritte man mit C. elegans gemacht hat, dem ersten vielzelligen Organismus, dessen Genom vollständig kartiert wurde. Seine Entwicklung wurde Zelle für Zelle nachgezeichnet. Mit anderen Worten: Man kann heute (abgesehen von den Keimdrüsen) jede Zelle im Körper des Wurmes von der befruchteten Eizelle bis zum vollständig ausgewachsenen Tier verfolgen. Was wir aber noch nicht kennen, sind die zugehörigen Anweisungen dafür, wann jedes einzelne Gen eingeschaltet wird oder welche Wachstumsfaktoren und Sig-

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nalsubstanzen an den verschiedenen Stellen während der einzelnen Entwicklungsstadien vorhanden sind und in welcher Konzentration. Man hat zwar das Genom kartiert, das heißt aber nicht, dass man jedes einzelne Gen kennen würde. Man kennt die Sequenz aller DNA-Abschnitte, aber aus diesen Daten herauszulesen, bei welchen Sequenzen es sich um Gene handelt und welche Funktion sie haben, ist noch einmal ganz etwas anderes. Schon die Beantwortung dieser Fragen ist eine ungeheure Herausforderung. Es ist aber vorstellbar, dass man eines Tages eine wirklich vollständige Bauanleitung für die C. elegans-Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum ausgewachsenen Tier zusammenstellen kann. Eine solche vollständige Anleitung ist allerdings nicht notwendig, wenn man die Evolution noch einmal ablaufen lassen will. Betrachten wir als Beispiel noch einmal die Vögel: Das Fehlen des Schwanzes, der Unterschied zwischen Flügeln und Greifarmen sowie das Fehlen der Zähne sind geringfügige entwicklungsgeschichtliche Veränderungen des grundlegenden Dinosaurierbauplans. Stellen wir uns den Dinosaurierbauplan einmal als Grundriss eines Hauses vor; dann machen wir vielleicht aus einem Flachdach ein Pultdach. Oder wir denken an die technische Entwicklung der Autos, denn diese weist durchaus Parallelen zur Evolution der Lebewesen auf. Wir können vierrädrige Konstruktionen wie einen einfachen Bollerwagen mit den ersten Vierbeinern vergleichen, die an Land gingen; die Fülle der verschiedenen motorisierten Fahrzeuge in unserer modernen Welt entspricht dagegen der Fülle der Reptilien, Amphibien und Säugetiere. Die Vögel werden dabei als Dinosaurier zu den Reptilien gerechnet und sind dort vielleicht die Sportwagen. Bei genauerem Hinsehen hinkt der Vergleich natürlich. Was dabei aber deutlich wird: Die technische Entwicklung von einer Corvette zum Modell T

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zurückzuverfolgen, ist bei Weitem nicht so kompliziert, wie den Weg bis zur ErÀndung des Rades zurückzulegen. Zutreffender wäre der Vergleich vielleicht, wenn wir den Herstellungsprozess verändern: Beispielsweise lassen wir die Benzineinspritzung weg, und die Karosserie bekommt eine andere Form. Das Fahrgestell dagegen würde mehr oder weniger gleich bleiben. Natürlich ist die Embryonalentwicklung komplizierter als die Herstellung eines Autos. Autos machen keine echte Evolution durch. Sie setzen sich nicht, ausgehend von einem Teil, selbst zusammen. Außerdem stehen uns detaillierte Herstellungsanleitungen für Autos mit und ohne Benzineinspritzung zur Verfügung. Aber angenommen, wir hätten einen ebenso detaillierten Entwicklungsplan für den Flügel oder Schwanz von Hühnern: Warum sollten wir dann den Entwicklungsprozess nicht zurückdrehen und die Signale auslösen, die Greifarme oder einen langen Schwanz entstehen lassen? Wenn wir Evolutionsprozesse, wie sie beispielsweise zu Federn oder der Veränderung der Finger geführt haben, erst einmal genau nachzeichnen können, könnten wir den betreffenden Abschnitt der Entwicklung auch ein zweites Mal ablaufen lassen: Die Veränderung des Entwicklungswegs wäre dabei ein Mittel, mit dem sich der Wahrheitsgehalt unseres mutmaßlichen Evolutionswegs überprüfen ließe. Damit hätten wir endlich ein echtes experimentelles Verfahren zur Aufklärung der Makroevolution. Warum also sollten wir nicht einen Dinosaurier züchten? Zumindest kam mir dieser Gedanke in den Sinn. Sieht man über die vielen Details einmal hinweg, liegt die Idee wirklich nahe: Die Embryonalentwicklung hat sich nur geringfügig verändert, weil zeitliche Abfolge und Konzentration von Wachstumsfaktoren und Signalsubstanzen ein wenig angepasst wur-

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den, und das führte zur Evolution von Vögeln aus anderen Dinosauriern; entsprechend müsste es möglich sein, diese Veränderungen in der Embryonalentwicklung rückgängig zu machen und so einen Dinosaurier entstehen zu lassen. So kam ich auf die Idee, aus einem Hühnerembryo einen Dinosaurier zu züchten. Ich unterhielt mich mit verschiedenen Wissenschaftlern über das Projekt. Einige von ihnen arbeiteten in unabhängigen Instituten in Asien und waren sofort bereit mitzumachen. Doch es gab ein Problem Ànanzieller Natur. Um das ganze Projekt auf einmal zu verwirklichen, hätte ich Millionen gebraucht, und für die Paläontologie vergibt die National Science Foundation (eine der größten US-amerikanischen Forschungsförderungsinstitutionen) keine Mittel in dieser Größenordnung. Außerdem passte meine Idee nicht ganz in die üblichen wissenschaftlichen Kategorien. Millionen aufzuwenden, um ein Huhn in einen Dinosaurier zu verwandeln, war nicht gerade ein politisch populäres wissenschaftliches Vorhaben. Es war höchst spekulativ und weckte möglicherweise Ängste, das Leben könne sich auf grundlegende Weise verändern. Ganz zu schweigen von der Frage, ob es dem Huhn gegenüber fair war. Manche derartigen Bedenken verstehe ich, aber um ehrlich zu sein: In einigen Fällen waren sie eher politisch als ethisch motiviert. An Mäusen betreiben wir schon seit langer Zeit Gentechnik. Wir schalten dieses oder jenes Gen aus und erzeugen auf diese Weise übergewichtige, kranke oder verrückte Mäuse. Keines dieser Tiere würde außerhalb des Laborumfelds überleben, denn die meisten derartigen „Knockout-Mäuse“ sind schwer behindert. Um eine Invasion fetter, haarloser oder schizophrener Mäuse brauchen wir uns also keine Sorgen zu machen. Die ethischen Prinzipien sind aber

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die gleichen. Da Knockout-Mäuse für die genetische Grundlagenforschung und für die Erforschung von Krankheiten so wichtig sind, herrscht in der Gesellschaft allgemein Einigkeit, dass sich solche Forschungsarbeiten lohnen. Natürlich sind nicht alle dieser Ansicht. Es gibt eine große Tierschutzbewegung, und manche ihrer Vertreter sprechen sich grundsätzlich gegen jede Art von Tierversuchen aus. Doch bisher sind sie nur eine Minderheit. Angenommen, es würde gelingen, tatsächlich einen vollständigen Dinosaurier zu züchten, den ich im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags auf einer Tagung präsentieren könnte. Dann stellt sich natürlich die Frage, ob die Gefahr besteht, dass solche Tiere in Freiheit gelangen. Würde der Jurassic Park dann Wirklichkeit werden? Nun, es ist vorstellbar, dass ein Tier Áieht, aber dann hätte es im besten Fall die gleichen Überlebenschancen wie ein einsames Huhn. Es könnte sich sicher nicht fortpÁanzen, denn es geht hier ja nur um Veränderungen im Wachstum des Embryos, nicht aber um Abwandlungen der Gene. Das Tier, das äußerlich ein Dinosaurier ist, hätte immer noch ein Hühnergenom. Könnte es sich durch irgendeinen wundersamen Zufall mit einer Henne oder einem Hahn paaren – je nachdem, welches Geschlecht es selbst hat –, käme dabei nur ein altmodisches Huhn heraus. Würde es sterben, könnten wir es füllen und braten. Es würde wie HähnchenÁeisch schmecken. Eine andere Frage wäre die, ob man dem Tier gegenüber grausam ist. Ich möchte nicht behaupten, dass praktisch jedes Leben besser wäre als das der Milliarden Hühner, die pro Jahr gegessen werden, oder zumindest würde ich dies nicht als logische Verteidigung anführen. Aber wenn wir alles richtig machen, haben wir kein Karnevalsmonster, sondern ein Tier mit funktionsfähigem Schwanz, funktionsfähigen Vorderextremi-

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täten und nutzbaren Zähnen. Falls irgendetwas darauf hindeutet, dass der Huhn-Dinosaurier Schmerzen hat, würden wir das Experiment nicht fortsetzen. Das würde bedeuten, dass wir das Huhn töten müssten, aber wenn wir die gesellschaftliche Entscheidung treffen, dass das Töten eines Huhnes unmoralisch ist, müssten wir nicht nur das Experiment aufgeben, sondern es müsste sich noch viel mehr verändern. Sofern das Huhn also nicht unbemerkt seelischen Kummer über sein Aussehen als Dinosaurier empÀndet, würde ich die Ansicht vertreten, dass wir mit dem Experiment keine Grausamkeit gegenüber dem Huhn begehen. Aber ohnehin versuchte ich nicht, Larsson davon zu überzeugen, dass er einen Dinosaurier züchtet. Ich habe zwar dieses Ziel im Kopf und möchte irgendwann auch Wissenschaftler drängen oder beschwatzen, damit sie in dieser Richtung weiterarbeiten, aber zuvor müssen wir noch viele, viele kleine Schritte hinter uns bringen. Und jeder einzelne davon ist schon schwierig genug. Larsson untersuchte bereits, wie der Schwanz bei den Vögeln im Laufe der Evolution zunächst immer kürzer wurde und dann völlig verschwand. Deshalb dachte ich: Na gut, warum soll man das Ganze nicht auch aus der anderen Richtung betrachten? Angenommen, wir würden in die Vergangenheit vordringen und den Schwanz wiederherstellen, was würden wir dann als Nächstes tun? Ich steuerte ungefähr 40 000 Dollar aus eigener Tasche als Bezahlung für einen Postdoc bei, der an dieser Fragestellung arbeiten sollte. Larsson setzt seine Forschungsarbeiten mittlerweile allein fort. Was ihm an dem Projekt so reizvoll erschien, war die Aussicht, die Paläobiologie ein Stück weiter in Richtung einer strengen Laborwissenschaft voranzubringen und die EvoDevo durch Schaffung experimenteller Atavismen weiterzu-

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entwickeln. Als Atavismus bezeichnet man in der Evolutionsbiologie ein altertümliches Merkmal, das während eines ansonsten normalen Embryonalwachstums auftritt. Menschen beispielsweise werden manchmal – allerdings nur selten – tatsächlich mit einem Schwanz geboren. Dabei scheint es sich um einen Atavismus zu handeln, aber es stellt sich immer die Frage, ob das Merkmal einfach ein Defekt oder aber eine mutierte Form ist, die in ihrem Aufbau unseren Vorstellungen von einem Schwanz entspricht. Oder tragen wir noch die genetische Information für dieses Merkmal in uns, und es tritt wieder auf, weil die Umwelt für eine veränderte Genregulation gesorgt hat? Die medizinische Fachliteratur beschreibt sowohl echte Schwänze mit Muskeln, Nerven und Blutgefäßen als auch Pseudoschwänze, die nur äußerlich wie ein Schwanz aussehen. Alle diese Gebilde sind nur wenige Zentimeter lang und entstehen offensichtlich selbst dann, wenn sie Muskeln und Nerven enthalten, durch Entwicklungsstörungen. Es handelt sich nicht um den langen Schwanz, den wir uns bei den Primatenvorfahren von Schimpansen oder Menschen vorstellen.

Hühner mit Zähnen Einen experimentellen Atavismus würde man absichtlich erzeugen. Das würde geschehen, wenn man durch Eingriffe in die Entwicklung des Embryos dafür sorgt, dass ein altertümliches Merkmal entsteht. Einige Versuche, so etwas zu Wege zu bringen, gab es bereits. Man hat Hühnerembryonen erzeugt, denen Zähne wachsen. In einem Fall wurde Mausgewebe transplantiert, das dann die Zähne hervorbrachte – hier handelte es sich also nicht um einen echten Atavismus, denn

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solche Zähne hätte ein urtümlicher Vogel oder Dinosaurier nicht besessen. Das Experiment zeigte aber, dass das Gewebe, aus dem sich der Unterkiefer entwickelt, auch im Huhn auf Signale für das Wachstum von Zähnen anspricht. In einem anderen Experiment dagegen veränderte man die jeweils aktiven Wachstumsfaktoren, und nun entstanden Zähne in einem Huhn, ohne dass man irgendwelches Gewebe verpÁanzt hätte. Die Zähne entsprachen denen der Archosaurier, jener Gruppe, zu der Vögel, andere Dinosaurier und Krokodile gehören. Wenn der Bericht zutrifft, haben die beteiligten Wissenschaftler damit einen echten experimentellen Atavismus erzeugt. „Dahinter steht ein interessanter Gedanke“, so Larsson. „Ein historisches Ereignis, beispielsweise eine Veränderung in der Evolution, unterliegt nicht nur bestimmten Entwicklungsprinzipien, sondern Spuren der fraglichen Entwicklungsveränderung oder ModiÀkation sollten auch an den späteren Formen noch erkennbar sein.“ Solche Spuren würde man in den molekularbiologischen Abläufen während der Entwicklung Ànden, beispielsweise wenn das Wachstum des Embryos in einer Richtung zum Stillstand kommt und sich dann in einer anderen Richtung fortsetzt. Die Ursache für diesen Wechsel kann man Ànden, wenn man die Konzentrationsveränderungen der verschiedenen Proteine (Wachstumsfaktoren oder Signalsubstanzen) misst, die die Entwicklung fördern und steuern. Das Verschwinden des Schwanzes sieht nach einem markanten Augenblick in der Evolution aus, der seine Spuren in der Embryonalentwicklung hinterlassen haben muss. Primitive Vögel wie Archaeopteryx besaßen noch einen Schwanz, bei den modernen Vögeln ist er verloren gegangen. Man kann mit Fug und Recht annehmen, dass dies auf eine einfache Veränderung zurückzuführen ist – das Wachstumsprogramm, das den

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Schwanz entstehen ließ, wurde abgeschaltet. Nun braucht man nur den chemischen Schalter zu Ànden; dann kann man ihn während der Embryonalentwicklung in die andere Richtung umlegen, und das Ergebnis wäre ein Vogel mit Schwanz. Bevor Larsson versuchte, einen solchen Atavismus zu erzeugen, hatte er bereits Untersuchungen an der Schwanzentwicklung angestellt, und dabei war er auf mehrere überraschende Befunde gestoßen. Wie man an den Fossilfunden ablesen kann, wurde der lange Schwanz bei den Vögeln zunächst durch einen kürzeren Schwanz abgelöst, der schließlich ganz verschwand. Im Hühnerembryo Àndet man einen kurzen Schwanz mit wenigen Wirbeln, der anfangs zu wachsen beginnt, irgendwann aber nicht mehr größer wird. Allerdings hat man den Schwanz in der Embryologie noch nicht genauer untersucht. „Die Fachliteratur über die Entwicklung des Schwanzes ist bei Weitem nicht so umfangreich wie die über die Extremitätenentwicklung“, sagt Larsson. „Das liegt daran, dass diese Struktur regelmäßig unterschätzt wird und dass Menschen keinen langen Schwanz haben.“ Nun ist es nicht so, dass wir als Spezies gegenüber anderen biologischen Arten keine Neugier empÀnden würden. Das beste Gegenbeispiel ist die Tatsache, das wir Dinosaurier so faszinierend Ànden. Aber Geld und Aufmerksamkeit Áießen in der Regel in die Bereiche der embryologischen Forschung, von denen man sich medizinische Anwendungsmöglichkeiten verspricht. Um beispielsweise eine Entwicklungsstörung aufzuklären, die bei der Geburt zu einer katastrophalen Fehlbildung des Rückenmarks führt, werden wir wahrscheinlich mehr Energie und Geld aufwenden als für die Beantwortung der Frage, was es mit dem Schwanzwachstum auf sich hat. Allerdings stellt sich heraus, dass beide Fragen gar nicht so weit auseinander liegen.

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Schon ganz zu Beginn seiner Untersuchung am Vogelschwanz stieß Larsson auf eine Reihe von Merkwürdigkeiten. Erstens – und das war keine große Überraschung – besaßen die Hühnerembryonen zu Anfang keinen kurzen Schwanz. Hühner und andere heutige Vögel haben zwar nur fünf Schwanzwirbel sowie das Pygostyl, beim Embryo waren aber zunächst die Anlagen für 18 Wirbel zu erkennen – und das alles in einem Embryo von ungefähr zweieinhalb Zentimeter Durchmesser. „Diese Embryonen haben also eigentlich einen ziemlich langen Schwanz“, so Larsson. Das Wachstum des Schwanzes beginnt im Embryo und setzt sich auf gut erkennbare Weise fort, „wobei am Ende immer mehr Wirbelanlagen hinzukommen“. Dann stellte er jedoch fest, „dass alles in einem bestimmten Entwicklungsstadium ganz plötzlich zum Stillstand kommt“. Das Wachstum des Notochords, das in der Evolution der Wirbelsäule vorausging und während der Entwicklung aller Wirbeltierembryonen zur Organisation des Wirbelsäulenwachstums beiträgt, wurde unterbrochen. Statt weiterhin von vorn nach hinten zu wachsen und damit das Wachstum der Wirbelsäule zu steuern, sahen die Zellen an der wachsenden Spitze des Notochords „irgendwann aus, als würden sie zerfallen“. „Es kommt zum Stillstand, die Organisation geht verloren, und es vollzieht eine Wende um 90 Grad.“ Das war die eigentliche Überraschung. Das Schwanzwachstum ähnelt zumindest auf den ersten Blick dem Wachstum der Extremitäten, und dort gibt es an der Wachstumsspitze eine Gruppe von Zellen, die für Organisation und Lenkung des Wachstums eine entscheidende Rolle spielt; außerdem produzieren diese Zellen auch einen großen Teil der Proteine, die das Wachstum überhaupt erst in Gang setzen. „Etwas Ähnliches gibt es offenbar auch im Schwanz der Vögel“, sagt Larsson. „Von Mäusen und ZebraÀschen kannte

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man es schon.“ Dagegen fehlte es bei dem afrikanischen Krallenfrosch Xenopus, einem weiteren beliebten Wirbeltier und dem – natürlich nur aus menschlicher Sicht – vielleicht hässlichsten aller Labortiere. „Bei Xenopus, der ja ein Frosch ist, läuft das Ganze offenbar ein wenig anders ab.“ Frösche, so scheint es, wachsen nach eigenen Regeln heran. Larsson hatte also herausgefunden, dass die ventrale ektodermale Kante – die Zellgruppe, die das Wachstum anführt – im wachsenden Hühnerembryo irgendwann zerfällt, sodass das Wachstum des Schwanzes zum Stillstand kommt. Unmittelbar nachdem dort das Wachstum eingestellt wurde, beginnt aber ganz in der Nähe die Entwicklung eines zweiten, ähnlichen Wachstumsbereichs, und das Notochord – das Gerüst, an dem Wirbelsäule und Schwanz sich entwickeln – macht eine Biegung von 90 Grad. „Es hält an, zerfällt und vollzieht dann eine Wendung um 90 Grad in Richtung der neuen Struktur, die zuvor völlig unbekannt war.“ So etwas hatte noch niemand beobachtet. „An dieser Stelle, an der das Notochord abbiegt, kondensieren die Zellen an der Spitze, bilden Knorpel und später auch Knochen. Damit beginnt die Entwicklung des Pygostyls. Auch davon hatte man noch nichts gehört. Es war nur bei Lachsen bekannt, und Lachse haben kein Pygostyl, außerdem sind sie keine engen Verwandten der Vögel. Lachse und Vögel bedienen sich also gleichermaßen dieses sehr ungewöhnlichen Kunstgriffs, das Ende des Notochords verknöchern zu lassen. So etwas gibt es sonst nirgendwo. Es könnte eine Methode sein, um das Wachstum des Schwanzes wirklich zum Stillstand zu bringen.“ Diese Befunde stellten den bis dahin anerkannten Evolutionsstammbaum, die Stammesgeschichte von Vögeln und Dinosauriern, infrage: Phil Currie, der heute an der University

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of Alberta arbeitet, hatte im Jahr 2000 bei einem Dinosaurier ein Gebilde beschrieben, das wie ein Pygostyl aussah. Der Dinosaurier gehörte zur Gruppe der Oviraptoroiden und war demnach ein Verwandter der Vögel, aber nicht ihr direkter Vorfahre. Entweder hat sich das Pygostyl also in verschiedenen Abstammungslinien zweimal entwickelt, oder wir müssen über die Einzelheiten der Abstammungslinie von Dinosauriern und Vögeln noch einmal ganz neu nachdenken. Mit diesen Erkenntnissen über die Entwicklung des Schwanzes gingen Larsson und sein Postdoc im Winter 2007 daran, den Schwanz eines Hühnerembryos zum Wachsen zu bringen. In meinen Augen war das der Anfang der Dinosaurierzucht, obwohl sie eigentlich ein anderes Ziel verfolgten. Aber es war der erste Versuch, einen Hühnerembryo in dieser Richtung abzuwandeln. Zunächst schnitten sie die wachsende Schwanzspitze in einem bestimmten Stadium ab und verpÁanzten sie mit feinem Wolframdraht an einen Schwanz, der sich bereits in einem späteren Entwicklungsstadium bestand. Damit wollten sie herausÀnden, ob die Wachstumsfaktoren, die während des frühen Wachstumsstadiums wirksam sind, die Haltesignale im Stadium 29 unwirksam machen können. (In der Wissenschaft ist man übereingekommen, die Entwicklung in 46 Schritte einzuteilen, die nach ihren ErÀndern, Dr. Hamburger und Dr. Hamilton, als Hamburger-Hamilton-Stadien bezeichnet werden. Insgesamt erstrecken sich die 46 Schritte über 21 Tage.) Man kann damit rechnen, dass die verpÁanzte Spitze eines wachsenden Schwanzes auch einen älteren Schwanz dazu veranlasst, sein Wachstum fortsetzen. Wenn der Versuch tatsächlich die erwünschte Wirkung zeigte, gäbe es zwei naheliegende Kandidaten für die Signalsubstanzen: Sonic Hedgehog und die Fibroblasten-Wachstumsfaktoren. Der nächste Schritt

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bestand dann darin, vor dem Stadium 29 durch Mikroinjektion oder mikroskopisch kleine Glasperlen Retinsäure zuzusetzen, die bekanntermaßen die Ausschüttung des Sonic-HedgehogProteins anregt – alles in der Hoffnung, dass das Wachstum sich fortsetzen würde. In beiden Fällen, bei der Transplantation wie beim Zusatz von Retinsäure, könnte man, wenn der Schwanz weiterwachsen würde, mithilfe chemischer Sonden herausÀnden, welche Gene exprimiert wurden und welche anderen Wachstumsfaktoren vorhanden waren. Die Sonden sind so gestaltet, dass man damit die Messenger-RNA Àndet, welche die Anweisungen für die Herstellung der Wachstumsfaktoren und Signalsubstanzen enthält. Messenger-RNA lässt sich leichter nachweisen als die Wachstumsfaktoren selbst, die Proteine sind. Wir wissen beispielsweise, welche Messenger-RNA-Sequenz das Sonic-Hedgehog-Protein codiert, und können deshalb ein spiegelbildliches RNA-Molekül, die sogenannte AntiSinn-RNA, an die gesuchte RNA-Sequenz andocken lassen. Larsson und sein Postdoc verpÁanzten Schwanzspitzen aus den Stadien 22 bis 24 auf solche im Stadium 27 bis 29 und auch vom Stadium 17 bis 19 auf das Stadium 22 bis 24. Dabei verbrauchten sie natürlich eine ganze Menge Embryonen, aber einen anderen Weg, um solche Experimente zu machen, gibt es nicht. Und in einer Welt, in der die Menschen sowohl Eier als auch Hühner essen, sind befruchtete Hühnereier in nahezu unbegrenzter Zahl zu beschaffen. Die Transplantation führte nicht dazu, dass das Schwanzwachstum sich fortsetzte. Die Schwänze stellten nach wie vor das Wachstum ein. Vielleicht lag es daran, dass die Entfernung der Spitze eine so starke Verletzung darstellte, dass das Wachstum schon durch die physische Schädigung beeinträchtigt wurde, oder vielleicht gibt es an der Schwanzspitze

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eine Gruppe von Zellen, die ein Organisationszentrum bildet; entfernt man sie, hat auch die Transplantation einer anderen Spitze keine Wirkung mehr. Dagegen hatte die Retinsäure durchaus eine Wirkung. Der Schwanz wuchs weiter, und zusätzliche Wirbel wurden angelegt, allerdings nicht so, dass es für das Experiment sinnvoll war. Die Retinsäure, so erläutert Larsson, „trieb das Wachstum bis zur Obergrenze der normalen Entwicklung voran. Sie hatte also eine gewisse Wirkung, sorgte aber nicht dafür, dass der Kreislauf durchbrochen wurde“. Aber selbst wenn ein vollständiger Schwanz herangewachsen wäre, hätte Larsson damit noch keinen Beweis gehabt, dass tatsächlich ein urtümliches Entwicklungsmuster reaktiviert wurde. Es hätte auch eine Art Fehlbildung sein können: Wie ihm jetzt klar wurde, verfügte er nicht über ausreichende Kenntnisse darüber, wie der Schwanz während der normalen Entwicklung heranwächst und zum Pygostyl wird. Er erkannte, dass der Schwanz ein wesentlich komplexeres System ist, als er sich vorgestellt hatte; wenn er nur halbwegs verstehen wollte, wie dieser Körperteil wächst, musste er mehr über die normale Entwicklung von Schwanz und Pygostyl im Hühnerembryo in Erfahrung bringen. Die ersten Anzeichen für ein Wachstum waren ermutigend. Er war ganz offensichtlich auf der richtigen Spur, aber zunächst musste er noch viel mehr wissen, damit er nicht etwas erzeugte, das zwar wie ein längerer Schwanz aussah, in Wirklichkeit aber nur ein Kunstgriff war – der Trick eines Embryologen, der herausgefunden hatte, wie man das Wachstum fördert, ohne aber damit einen urtümlichen Entwicklungsweg wieder belebt zu haben. Angenommen, man könnte den Embryo zu unterschiedlichen Zeiten mit jeweils anderen Wachstumsfaktoren behandeln und so einen Weg Ànden, um einen Schwanz in voller

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Länge heranwachsen zu lassen. Solange er den normalen Entwicklungsweg nicht in allen Einzelheiten kannte und genau erklären konnte, in welchen Schritt er eingegriffen hatte und warum es sich dabei wahrscheinlich um die Veränderung in der Evolution handelte, die zum Fehlen des Schwanzes geführt hatte, hätte er nicht mehr geschaffen als eine Zirkusattraktion. Er formulierte es so: „Es bestand die Gefahr, dass wir nur eine Art neuer Anatomie erzeugen. Ich wollte aber sicher sein, dass wir genau das gleiche System manipulieren, das auch unter normalen Umständen wirksam ist.“ Es war also klar, welche Fallstricke lauerten. Um ein Extrembeispiel zu nennen: Wenn schwangere Frauen Thalidomid (Contergan) einnehmen, werden Babys mit kurzen, Áossenähnlichen Gliedmaßen geboren. Aber die Behauptung, es würde sich hier um Atavismen handeln – also um die Rückkehr zu einem früheren Vorfahren –, wäre lächerlich. Ebenso töricht wäre es, wenn wir im Fall des Hühnerschwanzes voreilig glauben würden, wir hätten Evolution im Rückwärtsgang vor uns. Das Ziel sind vielmehr Veränderungen in demselben System, das sich auch während der Evolution verändert hat. Wenn die „Schrotschussmethode“ funktioniert hätte und der Schwanz mit allen 18 Wirbeln herangewachsen wäre, hätte Larsson die genetischen und chemischen Vorgänge während dieser Veränderung als Ausgangspunkt wählen können, um zu den genetischem Grundlagen der Schwanzentwicklung vorzudringen. Hätte er dagegen an den Extremitäten experimentiert und den Flügel zu einem Vorderbein gemacht, hätte er sich auch an die wissenschaftliche Literatur halten können, in der es eine Fülle von Informationen über die Entstehung der Gliedmaßen gibt. Dort hätte er genügend Befunde sammeln können, um das grundlegende System der Genaktivierung während des Extremitätenwachstums nachzuzeichnen,

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und er hätte gewusst, ob eine Veränderung im Wachstum der Extremitäten auf eine Abwandlung jenes grundlegenden Systems zurückzuführen war; dann wäre sie möglicherweise auch in der Evolution von Bedeutung gewesen. Wenn nicht, hätte er einfach einen groben Weg gefunden, um die Entwicklung vom Kurs abzubringen.

Der Schwanz, die große Unbekannte Wie Larsson feststellen musste, gab es aber in der Grundlagenforschung keine Erkenntnisse über das Wachstum des Schwanzes. Man hatte sich zwar mit der Frage beschäftigt, wie dieses Wachstum in Gang kommt, aber nicht mit seiner Fortsetzung und mit den Genen, die es in Gang halten. Er musste also bei Null anfangen und Grundlagenforschung betreiben. Für die meisten genau untersuchten Übergänge in der Evolution – beispielsweise für die Eroberung des trockenen Landes durch Meerestiere – spielt der Schwanz keine Rolle als charakteristisches Kennzeichen. Den Extremitäten hat man eine Menge Aufmerksamkeit geschenkt, aber, wie Larsson erläutert, die Entwicklung des Schwanzes ist eigentlich komplizierter als das Wachstum der Extremitäten und für die Entwicklung insgesamt möglicherweise von noch größerer Bedeutung. „Grundsätzlich ist der Schwanz ein wenig komplizierter als ein Flügel oder ein Bein, weil er viel mehr Strukturen umfasst. Extremitäten sind nur Beutel voller Zellen, die vom Rumpf nach außen wachsen und dabei Skelettstrukturen, Muskeln, Nerven und Blutgefäße mitbringen. Das war’s aber dann auch schon. Im Schwanz ist das alles auch enthalten, darüber hinaus aber noch einiges andere, wodurch er sich völlig von den

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Gliedmaßen unterscheidet. Entscheidend ist, dass er einen Teil des Zentralnervensystems enthält. Zweitens enthält er das Notochord, eine ganz grundlegende Struktur der Chordatiere. Alle Chordatiere haben ein Notochord, und das ist ein weiteres Signalzentrum. Notochord, Zentralnervensystem und das umgebende Mesoderm setzen eine Art Kreislauf in Gang, der dazu beiträgt, die Segmentierung und Polarität von vorn nach hinten zu erzeugen.“ Damit spricht er den fundamentalsten Wachstumsprozess überhaupt an, den Vorgang, durch den vorn und hinten festgelegt werden. Es könnte sich herausstellen, dass das ganze System des Schwanzwachstums für die Entwicklungsbiologie von grundsätzlicher Bedeutung ist. „Genau betrachtet, sind Zentralnervensystem, Notochord und axiale Musterbildung grundlegende Elemente der Entwicklung von Tieren. Auf dieser Ebene der Entwicklung kennt man mehr Defekte als auf allen anderen in der Entwicklungshierarchie.“ Durch solche Fragen wurde Larsson auf einen grundlegenden Aspekt der Entwicklung aufmerksam, der bisher noch nicht im Einzelnen untersucht wurde. „Wir sind dabei, ein ganz neues Entwicklungssystem zu erforschen, das von grundsätzlicher Bedeutung sein dürfte: Es hat mit der von vorn nach hinten verlaufenden Körperachse zu tun und macht sie länger oder kürzer. Der Mechanismus, der ihn vorantreibt oder die Entwicklung auf dieser Ebene steuert, dürfte also von sehr, sehr weitreichender Bedeutung sein.“ Warum haben wir beispielsweise so viele Wirbel? Wie alle Aspekte im Körperbau der Tiere, so hat auch dieser sicher nicht mit Planung zu tun. Wir beobachten vielmehr Veränderungen vorhandener Systeme; die Evolution kann man verstehen, wenn man frühere Systeme betrachtet und herausÀndet, wie sie sich weiterentwickelt haben.

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Wenn die grundlegenden Vorgänge bei der Entwicklung des Schwanzes aufgeklärt sind, kann man solche Fragen stellen, Hypothesen formulieren und sie im Labor überprüfen, indem man in das normale Entwicklungsprogramm eingreift. Larsson bemüht sich darum, zur fundamentalen Ebene der Genregulation vorzudringen. Die Wirbel leiten sich von Körpersegmenten ab, die als Somiten bezeichnet werden. Die Frage, wie jeder einzelne Somit aufgebaut wird und wie seine Grenzen festgelegt werden, wurde eingehend untersucht, und es gibt dazu eine Fülle von Erkenntnissen. Larsson möchte nun wissen, wie die Maschine zur Erzeugung der Somiten angeworfen wird. Wenn sich diese Schlüsselfrage durch Aufklärung des vollständigen Entwicklungssystems beantworten lässt, können sich die Arbeiten wieder der Evolutionsbiologie zuwenden. Hat man den Schalter gefunden, der das Wachstum des Schwanzes auf der Ebene der Somiten ein- und ausschaltet, kann man die Gene sequenzieren, den ganzen Prozess nachzeichnen und dann, so seine Hoffnung, „genau herausÀnden, was sich auf molekularer Ebene bei Tieren unterschiedlicher Länge verändert – beispielsweise bei Alligatoren und Vögeln“. Dies wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Aufklärung der molekularen Grundlagen größerer entwicklungsgeschichtlicher Wandlungen, die sich auf der Ebene des ganzen Skeletts im Laufe von Jahrmillionen abspielen. Ähnliche Untersuchungen hatte zuvor noch nie jemand in Angriff genommen. Der Ausgangspunkt waren natürlich Fossilien und die paläontologische Frage nach Vögeln und Dinosauriern. Unter dem Gesichtspunkt der interdisziplinären Wissenschaft kann man daraus etwas Interessantes lernen. Der Paläontologe sagt: Warum kann man einen Hühnerembryo nicht so manipulieren,

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dass er zu einem Nicht-Vogel-Dinosaurier heranwächst? So schwer kann das doch nicht sein. Schließlich handelt es sich bei beiden Tieren um Dinosaurier. Ihr Skelett ist sehr ähnlich gebaut. Betrachtet man das große Bild, zeigen beide nur kleine Abweichungen eines Grundbauplans, und solche Abweichungen sind nach den Erkenntnissen der Evo-Devo nicht auf eine ganz neue Genausstattung, sondern auf Veränderungen in der Genregulation zurückzuführen. Die Frage, wie das Wachstum von Extremitäten, Zähnen oder Schwanz reguliert wird, sollte sich also sehr einfach beantworten lassen. Darum bemüht sich Larsson; er geht zunächst davon aus, das es so schwierig nicht sein kann, und siehe da, plötzlich zeigt sich eine große Lücke in unseren Kenntnissen über die Entwicklung der Wirbeltiere. Wir wissen einfach nicht, was auf molekularer Ebene das Wachstum des Schwanzes in Gang setzt – einen Vorgang, den man mit Fug und Recht als zentralen Bestandteil der Wirbeltierentwicklung bezeichnen kann. Ich weiß, dass auch Larsson dieser Ansicht ist. Wie andere Wissenschaftler, die sich für eine stärkere Betonung fachübergreifender Arbeiten einsetzen, so glaube auch ich, dass es über den offenkundigen Nutzen der Molekularbiologie für die Paläontologie hinaus von Nutzen ist, wenn Fossilienexperten Hand in Hand mit Laborforschern arbeiten. Die Fossilfunde liefern Aufschlüsse darüber, wie die Evolution des Lebendigen abgelaufen ist, und sie werfen Fragen auf, die sich im Labor beantworten lassen. Die Molekularbiologie beschäftigt sich traditionell mit allen Einzelheiten noch der kleinsten Veränderungen. Die Fossiliensammler kennen das große Bild der Evolution. Für uns ist es ein schöner Gedanke, dass wir uns wieder unter das Dach der biologischen Wissenschaft begeben, der wir jahrzehntelang die kalte Schulter gezeigt hatten.

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Aber der Plan, einen Dinosaurier zu züchten, wird noch durch einen weiteren Stolperstein behindert und verzögert. Derzeit entwickelt Larsson ein Modell für den grundlegenden Mechanismus des Schwanzwachstums. Im Rahmen dieser Arbeiten markiert er Zellen im wachsenden Schwanz des Embryos durch Mikroinjektion von Farbstoffen und verfolgt dann den Weg der Zellen, während der Schwanz sich zum Pygostyl entwickelt. Er muss wissen, wie sich die Wachstumsund Organisationszonen im wachsenden Embryo bewegen. Außerdem muss er erklären, welche biochemischen Vorgänge sich während des Wachstums abspielen. Deshalb messen seine Studenten während des normalen Schwanzwachstums alle vier bis sechs Stunden die Konzentration von Sonic Hedgehog. Außerdem bemühen sie sich darum, Proteine einer weiteren Familie nachzuweisen; zu dieser Gruppe, die als Wnt bezeichnet wird, gehören auch das berühmte Protein Wingless (Wg) und sein zugehöriges Gen (Gene und die von ihnen codierten Proteine tragen häuÀg den gleichen Namen). Die Wnt-Proteine sind Signalfaktoren, die an der Wachstumssteuerung mitwirken. Sie wurden ursprünglich bei TauÁiegen nachgewiesen, aber wie viele wichtige Signalsubstanzen sind sie, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, bei allen möglichen Tieren von großer Bedeutung. Bei Wirbeltieren ist der Wnt-Signalweg, wie er genannt wird, während des Wachstums der Extremitäten und zahlreicher anderer Körperregionen aktiv. Bei seinen Bemühungen, zu verschiedenen Zeitpunkten des Schwanzwachstums die aktiven Gene zu identiÀzieren, kommt ihm ein wichtiger Umstand zu Hilfe: Auch wenn man dem Schwanz selbst bisher vielleicht nicht die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt hat, wurde die Entwicklung des Hühnerembryos als Ganzes äußerst gründlich erforscht.

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Wissenschaftler, die sich mit anderen Aspekten dieses Vorgangs beschäftigen, färben den Embryo in verschiedenen Wachstumsstadien und weisen damit die Aktivität der gesuchten Gene nach. Sie interessieren sich vielleicht für Schädel, Rippen, Vorder- oder Hintergliedmaßen, aber ein Hühnerembryo ist klein, und der Versuch, die Untersuchung auf einen winzigen Bereich zu beschränken, wäre sinnlos. Wenn man also die Genaktivität mithilfe von Farbstoffen nachweist, färbt man stets den gesamten Embryo. Wissenschaftler, die sich für die Extremitäten interessieren, sehen sich die Ergebnisse der Färbung im Schwanz nicht in allen Einzelheiten an, aber sie bewahren die Bilder ihrer gefärbten Embryonen auf. Larsson und seine Studenten durchforsteten nun die Literatur und fanden dabei Anhaltspunkte dafür, welche Gene während des Schwanzwachstums aktiv sind. Wenn sie die entscheidenden Gene und ihre Proteinprodukte identiÀziert haben, können sie deren Aktivität in einzelnen Abschnitten des heranwachsenden Schwanzes genauer unter die Lupe nehmen. Wenn dann die Aktivität von Sonic Hedgehog und den Genen der Wnt-Familie sowie ihre dreidimensionale Lokalisierung in 104 bis 156 Stadien des Schwanzwachstums genau erfasst sind (die Arbeiten werden von einem Postdoc und mehreren unabhängig voneinander arbeitenden Doktoranden durchgeführt), wollen die Wissenschaftler alle Bilder in einen Computer eingegeben und ein digitales, dreidimensionales Modell des wachsenden Schwanzes konstruieren. „Dann können wir tatsächlich einige dieser Gene benennen und uns genau überlegen, welche davon wir eingehender untersuchen wollen.“ Wenn es soweit ist, kann eigentlich der erste Schritt zur Zucht eines Dinosauriers unternommen werden: Man Àndet das Gen oder die Gene, die das normale Schwanzwachstum

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zum Stillstand bringen und das Pygostyl entstehen lassen. Angesichts der Schwierigkeiten erscheint es vielleicht wie eine Ironie des Schicksals, dass Larsson sich den Schwanz ausgesucht hat, weil er glaubte, ein Atavismus sei hier leichter zu erzeugen als beim Flügel. In Wirklichkeit ist das Wachstum des Schwanzes zwar sehr kompliziert, die Aktivität, die den Wachstumsprozess zum Stehen bringt, dürfte jedoch recht einfach sein; damit eine Vorderextremität zum Flügel wird, müssen dagegen verschiedene Gene zu vielen verschiedenen, genau festgelegten Zeitpunkten ein- und ausgeschaltet werden. Larsson stellt einen Vergleich an: „Es ist wie bei einem Autoschlüssel. Man dreht den Schlüssel um, und der Motor läuft und produziert alle möglichen Bewegungen und Geräusche. Wenn man den Schlüssel zurückdreht, bleibt er stehen. Und der Schlüssel ist im Vergleich zum übrigen Auto relativ einfach. Ich glaube, mit einem ähnlichen System haben wir es auch hier zu tun. Jedenfalls hoffe ich das.“ Und was den Dinosaurier, selbst den im Ei, angeht, sagt Larsson: „Das Experiment, das ich mir in meinen nächtlichen Träumen manchmal vorstelle, sieht ungefähr so aus: Im Ei entwickelt sich ein einziger Embryo mit mehreren Injektionsstellen und vielerlei Molekülen, Proteinen, Morpholinos und Ähnlichem, mit dem wir für eine richtige Feinabstimmung der Genregulation sorgen können. Wir können also in verschiedenen Entwicklungsstadien verschiedene Substanzen in verschiedene Teile des Embryos injizieren. Wenn wir das zum richtigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle tun, sollte es gelingen, die Morphologie in vielfacher Hinsicht zu manipulieren – bei Federn, Flügeln, Zähnen und Schwanz. Es würde ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, die einzelnen Systeme in allen Einzelheiten aufzuklären, wie wir es jetzt

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beim Schwanz tun. Andere tun das Gleiche aus medizinischen Gründen mit den Extremitäten. Wieder andere arbeiten an den Zähnen der Säugetiere und so weiter; anschließend können wir uns einfach hinsetzen und mit allen Dingen gleichzeitig herumspielen – so etwas hat noch nie jemand gemacht.“ Letztlich würde das Ziel darin bestehen, den Embryo auf den Entwicklungsweg zu bringen, den er als eine Art sehr früher Coelurosaurier eingeschlagen hätte. Wenn die klassischen Gene des Hühnerembryos, deren zugehörige Proteine für Leben und Wachstum so entscheidend sind, stark denen eines Dinosauriervorfahren ähneln und wenn die Veränderungen, die sich im Laufe von über 150 Millionen Jahre abgespielt haben, nahezu ausschließlich die Regulation dieser klassischen Gene betreffen, können wir das alte Regulationsmuster wiederÀnden. Metaphern sind manchmal gefährlich, aber wir können uns die Entwicklung eines Embryos wie eine Geschichte vorstellen, als Abfolge von Ereignissen, von denen jedes einzelne darüber bestimmt, welches Ereignis als Nächstes möglich ist. Wie in einem Roman, so hat auch in der Geschichte des Lebendigen jedes Ereignis seine Konsequenzen für die weitere Geschichte. Im wirklichen Leben wissen wir nicht, welche Konsequenzen eine Entscheidung hat. Wird eine Verabredung zur Eheschließung führen? Werden wir die neue Stelle bekommen? Werden wir uns an einem Sandwich mit GeÁügelsalat eine Lebensmittelvergiftung holen? Mit dem Embryo können wir die Geschichte immer und immer wieder ablaufen lassen, wobei wir im Hinblick auf die Genregulation jeweils andere Entscheidungen treffen, das heißt, wir spielen das Band der Entwicklung immer wieder ab. Dazu müssen wir den Embryo nicht mit neuen Genen ausstatten, sondern nur die Produktion der Wachstumsfaktoren und anderer Substanzen an-

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passen, die über die Entwicklung bestimmen. Wenn wir das tun, wird deutlich werden, was sich während der Evolution verändert haben muss und wie die alten Regulationsmuster ausgesehen haben. Mit solchen Arbeiten verschaffen wir uns ungeheuer große neue Erkenntnisse über die Grundlagen von Biologie, Embryonalentwicklung und Evolution. Außerdem unternehmen wir damit den ersten Schritt zur Zucht eines Dinosauriers.

7 Evolution rückwärts Experimente mit dem Aussterben Weit über 90 Prozent aller Arten, die auf diesem Planeten gelebt haben – jemals gelebt haben – gibt es nicht mehr. Sie sind ausgestorben. Nicht alle haben wir getötet. Sie sind einfach verschwunden. So macht es die Natur. Heute verschwinden jeden Tag etwa 25 weitere Arten. Und damit meine ich: Sie verschwinden unabhängig davon, wie wir uns verhalten. Ganz gleich, wie wir uns auf diesem Planeten benehmen, 25 Arten, die heute noch da sind, werden morgen weg sein. Lassen wir sie in Würde gehen. Lassen wir die Natur in Ruhe. George Carlin

Mittlerweile habe ich hoffentlich überzeugend dargelegt, dass es möglich ist, von einem Hühnerembryo auszugehen und dann ein Tier aus dem Ei schlüpfen zu lassen, das wie ein Dinosaurier aussieht. Werden wir damit wirklich ein ausgestorbenes Tier wieder zum Leben erwecken? Sagen Schwanz, Klauen und Zähne überzeugend aus, dass wir ein solches Tier vor dem Aussterben gerettet haben? Nein. Mithilfe der Spuren, die im Laufe der Evolution in der Hühner-DNA zurückgeblieben sind, hätten wir die Evolution zurückgespult. Aber damit hätten wir nur Merkmale der Vorfahren wieder belebt, nicht jedoch die Vorfahren selbst. Eine verlorene Spezies oder Gattung könnten wir eigentlich

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nur dann neu erschaffen, wenn wir ihr vollständiges Genom kennen würden. Wären wir eines Tages an diesem Punkt angelangt, würden philosophische Diskussionen um die Frage ausbrechen, ob wir wirklich ein Tier aus der fernen Vergangenheit zurückholen können. Unsere Kenntnisse hätten immer Lücken, und da wir das ursprüngliche Tier nie gesehen haben, könnten wir niemals völlig sicher sein. Aber wir hätten ein Tier geschaffen, das nach allen unseren Befunden seinem ausgestorbenen Vorgänger gleichen würde. Dass so etwas mit Tieren aus der fernen Vergangenheit gelingt, ist unwahrscheinlich. Das hat praktische Gründe: Wir können uns weder vom Genom des ursprünglichen Tieres noch von anderen EinÁüssen auf seine Entwicklung ein vollständiges Bild machen. Aber je näher wir dem Ziel kommen, experimentelle Atavismen zu erzeugen, desto stärker nähern wir uns einer solchen Leistung an, und desto mehr bringen wir über die Evolution in Erfahrung – was das eigentliche Ziel ist. Dass wir versuchen, die Evolution zurückzuspulen, hat letztlich einen einzigen Grund: Wir wollen in Erfahrung bringen, wie die Evolution abläuft. Wir machen es wie ein Teenager, der ein altes Auto auseinandernimmt, um in Erfahrung zu bringen, wie es funktioniert. Auf kürzere Sicht können wir der Wiedererschaffung einer ausgestorbenen Spezies sicher ein Stück näher kommen, aber möglicherweise wäre es eine inhaltsleere Leistung. Ein gutes Beispiel ist der Elfenbeinspecht. Er war in den Vereinigten Staaten und Kanada der größte Specht und starb nach allgemeiner Ansicht vor ungefähr 50 Jahren aus; allerdings wurde später mehrfach über Sichtungen berichtet, einmal sogar am 3. Juni 2005 in der Fachzeitschrift Science. Als in jenem Sommer über die Sichtung berichtet wurde und der Artikel über den Elfenbeinspecht an die Presse ging,

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war ich zusammen mit meinem Koautor Jim Gorman gerade mit den Planungen für dieses Buch beschäftigt. Er wurde mitten in unseren Gesprächen angerufen und musste nach Alabama Áiegen, um über den Specht zu schreiben. Später wurde der Bericht in Science vielfach kritisiert: Die Skeptiker erklärten, es könne sich um einen Helmspecht gehandelt haben, und bis jetzt konnte der Fortbestand des Elfenbeinspechts nicht stichhaltig bewiesen werden – weder durch scharfe Foto- oder Videoaufnahmen noch durch DNA-Analysen. Zur gleichen Gattung (Campephilus) wie der Elfenbeinspecht gehören auch andere Spechte, beispielsweise der in Südamerika heimische Magellanspecht (Campephilus magellanicus). Der Magellanspecht stammt nicht vom Elfenbeinspecht ab, aber beide haben einen gemeinsamen Vorfahren, der nach Evolutionsmaßstäben erst vor relativ kurzer Zeit lebte. Wenn wir die Embryonalentwicklung von Campephilus sorgfältig dokumentieren würden, könnten wir möglicherweise einen Weg Ànden, um einen magellanicus-Embryo so heranzuzüchten, dass er am Ende von einem Elfenbeinspecht nicht zu unterscheiden ist. Ob man so etwas will, ist eine andere Frage. Ich weiß nicht, welche Aufschlüsse man in diesem Fall gewinnen könnte, denn die Unterschiede sind nur geringfügig, und der wieder erschaffene Elfenbeinspecht könnte nicht seinesgleichen hervorbringen. Man könnte auch das Genom des Elfenbeinspechts aus den in Museen aufbewahrten Häuten gewinnen, sequenzieren und mit dem von magellanicus vergleichen. Findet man dabei offenkundige Unterschiede, könnte man vielleicht das Genom verändern. Aber selbst wenn wir in der Lage wären, einen Vogel zu schaffen, der von dem alten Elfenbeinspecht nicht zu unterscheiden ist, wäre er trotzdem immer nur eine Kopie. Das liegt insbesondere daran, dass wir nach wie vor den Traum haben,

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einen lebenden Elfenbeinspecht zu Ànden – wäre er doch der Beweis, dass wir noch Abstand davon nehmen könnten, eine wunderschöne Art in den Untergang zu treiben. Für die Wissenschaft, den Naturschutz und unser Gespür für unseren Planeten geht es weniger um den Vogel selbst als vielmehr um die Auwälder, in denen er zu Hause war. Ohne sie wäre die Wiedererschaffung des Vogels das Gleiche, als würde man Tiger erschaffen, obwohl es keinen Dschungel mehr gibt. Auch andere Experimente bieten gute Aussichten auf Erfolg. Vermutlich könnte man den Embryo eines Haushuhns dazu veranlassen, zu Gallus gallus heranzuwachsen, dem wilden Bankivahuhn, das sein Urahn war. Und wenn die Wölfe verschwinden würden, stünde uns in den Haushunden ein großes Genreservoir zur Verfügung. Die Handhabung von Säugetierembryonen ist allerdings recht schwierig. Aber immerhin haben wir das Hundegenom, und das Wolfsgenom können wir heute, da die Spezies noch lebt, vollständig erfassen. Das alles wären sehr, sehr kleine Triumphe einer Form von Reverse Engineering. Zwischen einem sibirischen Husky und einem Wolf bestehen selbst für das ungeübte Auge keine allzu großen Unterschiede in Aussehen und Verhalten. Man würde also nur Veränderungen der Mikroevolution rückgängig machen. Das ungeübte Auge erkennt auch zwischen dem einen und dem anderen Specht möglicherweise überhaupt keinen Unterschied. Und Verhaltensweisen wieder zu erschaffen, wäre besonders schwierig, denn sie hängen zweifellos nicht nur vom genetischen Erbe, sondern auch von der Umwelt ab. Im Gegensatz zu solchen Experimenten verspricht aber mein Vorhaben – oder, so würde manch einer vielleicht sagen, mein Feldzug – großen Nutzen für Grundlagenforschung und an-

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gewandte Wissenschaft. Wenn wir die Uhr von den Hühnern zu den Dinosauriern zurückdrehen könnten, stünde uns eine Methode zur Verfügung, mit der wir die großen Veränderungen der Makroevolution analysieren und mit Veränderungen in der Steuerung von Genen in Verbindung bringen könnten. Die Erkenntnisse, die wir durch Eingriffe in die Embryonalentwicklung und insbesondere in das Wachstum des Rückenmarks gewinnen, könnten sich in der medizinischen Praxis als äußerst nützlich erweisen. Mit unseren Versuchen, einen Dinosaurier neu zu erschaffen, können wir nicht auf eine bestimmte Art abzielen. Das wäre ein zu eng gefasstes Ziel. Auch dies ist ein Zusammenhang zwischen Abstand und Zeit: Je weiter ein Ziel entfernt ist, desto größer wird der Bereich, auf den man beim Schießen zielen muss. Und je weiter man in die Vergangenheit vordringt, desto größer ist das Ziel, das man vielleicht trifft. Die Forschung muss also auf eine größere stammesgeschichtliche Einheit abzielen, vielleicht auf eine Gattung oder Familie. Je mehr Zeit vergangen ist, desto weniger Information besitzen wir über die ausgestorbenen Tiere. Wenn wir in der fernen Vergangenheit ankommen, haben wir es mit Tieren zu tun, die wir uns auf der Grundlage begrenzter Informationen in unserer Fantasie ausmalen. Manche Arten wurden ausschließlich aufgrund eines einzigen Zahnes benannt. Und selbst wenn man über ein relativ vollständiges Skelett verfügt, kann man in vielerlei Hinsicht nur raten. Vielleicht sollte ich es etwas anders formulieren: Wir müssen auf der Grundlage des Evolutionszusammenhangs und anderer Informationen eine Hypothese formulieren. Welche Hautfarbe hatte das Tier? Wie bewegte es sich? Hier haben wir nur evidenzbasierte Hypothesen, oder man könnte auch sagen: einigermaßen plausible Vermutungen.

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Was wir mit einer gewissen Sicherheit ins Auge fassen können, sind die Merkmale, die wir von den Fossilien kennen: Größe und Bau von Skelett, Zähnen, Muskulatur und in manchen Fällen auch der Haut. Wir können vernünftige Schlussfolgerungen über Bewegung und Ernährung ziehen, und auch über manche Aspekte des Verhaltens können wir einigermaßen begründet spekulieren. Manche anderen Verhaltensweisen jedoch könnten wir nur beobachten, wenn wir ganze Dinosaurierherden einschließlich ihrer natürlichen Feinde und ihrer Umwelt vor uns hätten. Mit anderen Worten: wenn es einen Jurassic Park gäbe. Das werde ich nicht mehr erleben. Und vermutlich lohnt es sich auch nicht, ein solches Ziel anzustreben. Wie viel wir letztlich erreichen werden, lässt sich unmöglich voraussagen. Mit Sicherheit werden die Grenzen von Wissen und Fähigkeiten immer weiter hinausgeschoben. Aber als Gegengewicht zur wissenschaftlichen Fähigkeit müssen prosaische Fragen nach Geld und Nützlichkeit beantwortet werden, und wir müssen tief greifende Diskussionen über ethische und gesellschaftliche Verantwortung führen. Ich habe keinen Zweifel, dass wir meine Vorschläge eines Tages in die Tat umsetzen werden: Wir werden Zähne, einen Schwanz und Vorderextremitäten mit Klauen erzeugen. Es wird nicht einfach werden, und vielleicht scheitert es zunächst an der Finanzierung, aber irgendwann wird es geschehen, und ich bin auch überzeugt, dass es sich lohnt. Außerdem werden wir nach meiner Überzeugung auch die Federn eines Huhnes so abwandeln können, dass sie primitiver gebaut sind. Ich prophezeie, dass wir an einem Embryo eine ganze Reihe von Veränderungen vornehmen können, sodass das daraus entstehende Tier aus dem Ei schlüpft, eine normale Lebensdauer

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hat und ohne Schwierigkeiten frisst, sich bewegt und in jeder Hinsicht funktioniert. Alles Weitere bleibt abzuwarten. Wenn die Biologen das Programm für die Entwicklung der Vierbeiner in immer mehr Einzelheiten aufklären, werden nach meiner Überzeugung immer mehr Hindernisse, die dem Nachbau ausgestorbener Lebensformen heute noch entgegenstehen, wegfallen. Schon jetzt können wir das Wachstum der Extremitäten durch viele kleine Eingriffe beeinÁussen, indem wir Wachstumsfaktoren an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten hinzufügen oder unterdrücken. Möglicherweise Ànden wir aber auch noch Signale höherer Ordnung, die in der Entwicklung eine ganze Kaskade von Veränderungen in Gang setzen, sodass wir beispielsweise die Anweisungen für das Wachstum der Vordergliedmaßen nicht mehr Stück für Stück anpassen müssen. Damit sich statt eines Flügels eine Hand entwickelt, sind dann vielleicht weniger Veränderungen notwendig, als wir uns heute vorstellen. Über die physiologischen Eigenschaften längst ausgestorbener Tiere werden wir vielleicht nie etwas erfahren. Über die Anordnung der inneren Organe können wir anhand der heutigen Vögel gewisse Rückschlüsse ziehen, aber ich bezweiÁe, dass wir jemals genau wissen werden, wie das Innere eines T. rex aussah. Je mehr wir uns jedoch darum bemühen, das Band der Evolution zurückzuspulen und nochmals ablaufen zu lassen, desto mehr werden wir darüber erfahren, wie Tiere aufgebaut werden, wie sie wachsen. Anhaltspunkte liefern beispielsweise die Verdauungssysteme heutiger Vögel mit unterschiedlicher Ernährungsweise. Dieses Wissen über die Unterschiede bei den heutigen Vögeln und die zunehmenden Kenntnisse von der Ernährung ausgestorbener Tiere liefern

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uns ein immer genaueres Bild der Verdauungssysteme vorzeitlicher Arten.

Sollen wir es tun? Unsere wachsenden Möglichkeiten, die Evolution umzukehren und auf unserer Zeitreise mehr Kenntnisse in Sachen Embryonalentwicklung zu gewinnen, geben keine Antwort auf die politische und ethische Frage, ob man so etwas tun sollte. Um solche Themen angemessen diskutieren zu können, muss man über Nutzen und Risiken nachdenken und sich fragen, welche Herausforderungen derartige Experimente an unsere Ethik stellen. Schafft man es, dass ein Hühnerembryo einige Merkmale von Dinosauriern entwickelt, könnte dieses Projekt die Fantasie der Öffentlichkeit fesseln, denn es wäre ein Beweis für die Evolution, der die Nichtwissenschaftler auch dann anspricht, wenn sie sich für die Einzelheiten von Genomen und Embryonen nicht interessieren. Alles, was die Tatsache der Evolution und ihren Rang als Grundgedanke der modernen Biologie in der Öffentlichkeit bekannt macht, ist wichtig. Alles, was den Nebel der Verwirrung um Wissenschaft und Religion lichtet, wäre ungeheuer positiv. An der Montana State University leite ich den Kurs „Ursprünge“. Dabei handelt es sich nicht um ein Paläontologieseminar für Studenten, die sich auf irgendeine Form der Evolutionsforschung spezialisiert haben. In diesem Kurs unterrichten auch ein Theologe und ein Kosmologe. Manche unserer Studenten bereiten sich auf eine Wissenschaftlerlaufbahn vor, andere tun das nicht. Manche lassen keine religiösen Überzeugungen erkennen, andere machen

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deutlich, dass sie Christen sind, die Bibel aber nicht wörtlich nehmen. Manchmal sind auch Junge-Erde-Kreationisten darunter. Mein didaktischer Ansatz in dem Kurs ist der gleiche, wie wenn ich allgemeine Wissenschaft unterrichte. Ich lehre, aber ich unterstütze oder fordere nicht, dass irgendjemand die anerkannten Kenntnisse der Evolutionstheorie auswendig lernt und mir vorbetet. Stattdessen hoffe ich immer, vermitteln zu können, dass Naturwissenschaft eine Denkweise ist, die nicht zwangsläuÀg in KonÁikt mit dem religiösen oder spirituellen Denken geraten muss. Manchmal wird gesagt, der Unterschied zwischen der Naturwissenschaft auf der einen Seite und Religion oder Philosophie auf der anderen bestehe darin, welche Fragen man stellt. Nützlicher ist es nach meiner Überzeugung, sich anzusehen, welche Antworten auf eine bestimmte Frage gegeben werden. In der Wissenschaft formuliert man Antworten, die auch widerlegt werden können – falsiÀzierbare Hypothesen. Warum fällt ein Stein, den man in die Luft wirft, zu Boden? Auf diese Frage gibt es eine Antwort – oder eigentlich viele Antworten. Die überprüfbaren Antworten, die sich widerlegen lassen, sind naturwissenschaftlich. Stellt man die Vermutung an, dass es eine physikalische Kraft namens Gravitation gibt, die auf eine bestimmte Weise wirkt, kann man diese Antwort überprüfen. Wenn ich erkläre, dass alle Dinge zur Erde gezogen werden, hört sich dies zunächst recht plausibel an; denken wir dann aber über den Mond, die Sonne und die Sterne nach, fragen wir uns, warum sie nicht zur Erde stürzen. Man kann die Antwort also widerlegen, oder sie ist zumindest unvollständig. Wenn ich behaupte, der Stein fällt zu Boden, weil sein Geist in sein Heim zurückkehren möchte, habe ich eine spirituelle Antwort gegeben, die nicht überprüft oder widerlegt

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werden kann. Diese Antwort liegt also nicht im Bereich der Naturwissenschaft. Theologen und Philosophen verfügen vielleicht über Wege, um sich damit auseinanderzusetzen, ich aber nicht. Wenn tatsächlich ein Dinosaurier-Huhn aus einem Ei schlüpfen würde, hätte das unter anderem den Nutzen, dass die Tatsache der Evolution auf erschreckend lebhafte Weise belegt wäre – nicht durch ein Gedankenexperiment, sondern durch eine greifbare Demonstration. Das Lebewesen wäre ein Fleisch und Blut gewordener Beweis, der auch diejenigen mit Sicherheit nicht überzeugen würde, die sich nicht überzeugen lassen wollen. Aber er würde Diskussionen und Nachdenken auslösen. Und besonders gut an dem Gedanken, die Realität der Evolution mit einem als Dinosaurier entwickelten Huhn zu belegen gefällt mir, dass es mehr ist als nur ein Gedanke. Es ist ein experimentelles Ergebnis. Und es wirft weitere Fragen auf. Was ist das für ein Tier? Wie haben Sie das gemacht? Ist es eine Zirkuskuriosität oder ein Trick? Was hat es zu bedeuten? Ohne eine Position festzuklopfen oder einen verbalen KonÁikt vom Zaun zu brechen, würde das Tier eine Diskussion in Gang setzen, an deren Ende die Mechanismen der Evolution und ihre Spuren in den Genen der heutigen Tiere stehen müssten. Und noch nachdrücklicher als ein Fossil würde es eine Erklärung verlangen. Aber einen Nachweis zu erbringen, der sich für einen kurzen Fernsehbeitrag eignet, ist kein ausreichender Grund für wissenschaftliche Experimente. Um die Frage „Wie haben Sie das gemacht?“ zu beantworten, müssen wir noch viele weitere Kenntnisse gewinnen. Und wir müssten die Molekularbiologie mit der Makroevolution verbinden. Wir würden uns auf einen entscheidenden Abschnitt in der Evolution der Wirbeltiere – den Übergang von den übrigen Dinosauriern zu den

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Vögeln – konzentrieren und ihn auf molekulare Veränderungen in den Embryonalzellen zurückführen. Ein solcher Nachweis wäre von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Wenn wir wissen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die Wachstumsfaktoren und Signalsubstanzen freigesetzt werden, können wir daraus auch ablesen, welche Gene einund ausgeschaltet werden; damit können wir ein Flussdiagramm für das Wachstum des Dinosaurierschwanzes erstellen und darin eintragen, welche Veränderungen zum Wachstum eines Pygostyls führen. Der wissenschaftliche Wert läge nicht in der vordergründigen Präsentation eines dinosaurierähnlichen Huhnes. Je mehr derartige Merkmale wir dingfest machen können, desto mehr Einzelheiten wissen wir auch über die molekularen Veränderungen, die in der Makroevolution die Ursache von Formveränderungen sind. Hier liegt der Kernpunkt der Aussichten, die sich durch die evolutionäre Entwicklungsbiologie eröffnen: Man kann zeigen, wie molekulare Veränderungen sich auf jene großen, offenkundigen Veränderungen im Körperbau von Tieren auswirken, die wir in der Paläontologie schon immer nachgezeichnet haben. Wir können beobachten, wie Dinosaurier in den Fossilfunden auftauchen, sich über 140 Millionen Jahre hinweg zu einer erstaunlichen Formen- und Größenvielfalt auseinanderentwickeln und schließlich im Wesentlichen verschwinden, wobei sie nur eine Linie von Nachkommen hinterlassen: die Vögel. Mit der Embryonalentwicklung zu experimentieren, um entwicklungsgeschichtliche Veränderungen rückgängig zu machen und atavistische Merkmale zu erzeugen, ist nur der logische nächste Schritt: Hier werden die Kenntnisse der Evo-Devo angewandt, um Hypothesen im Labor zu überprüfen. Man könnte hier von Revo-Devo sprechen.

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Grundlagenforschung ist der Kern der Naturwissenschaft. Ich möchte den Wert der Bemühungen, Wissen um seiner selbst willen zu sammeln, nicht zu gering schätzen. Dinosaurier untersucht man nicht, wenn man vorrangig das Ziel verfolgt, praktische Kenntnisse voranzubringen. Dennoch ist auch dies ein Teil der Wissenschaft, und die Gesamtgesellschaft fragt zu Recht, welcher Nutzen aus der Forschung erwächst. Besonders wichtig ist diese Frage, wenn staatliche Mittel in die Forschung Áießen, aber auch dann, wenn es um Forschung geht, die bei manchen Menschen ein ungutes Gefühl aufkommen lässt – was mit Sicherheit der Fall ist, wenn man in die Embryonalentwicklung – und sei es auch nur die von Hühnern – eingreift. Die Paläontologie der Wirbeltiere scheint von den Alltagsproblemen der modernen Welt so weit entfernt zu sein, als würde sie völlig losgelöst von der übrigen Gesellschaft existieren. Sie hat einen großen Unterhaltungswert und bietet immer wieder Anlass zum Staunen – davon zeugen nicht zuletzt die beliebten Dinosauriersäle der Museen. Aber wenn ich gemein sein will und außer Acht lasse, dass neue Erkenntnisse alle möglichen nicht vorhersagbaren EinÁüsse auf unser Leben haben können, könnte ich fragen: Wozu ist das gut? Die Wirbeltierpaläontologie hat einen äußerst nützlichen und für uns als Wirbeltiere sehr bedeutsamen Aspekt. Der Bauplan der Wirbeltiere ist so Áexibel, dass er Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, den Aufstieg und Abbau von Gebirgen sowie das Bombardement der Erde mit Kometen und Asteroiden überstanden hat. Und diesen Bauplan teilen wir mit Dinosauriern, Hühnern und unzähligen anderen Tieren. Auch die grundlegenden Aspekte des Embryonalwachstums haben wir mit allen anderen Wirbeltieren gemeinsam. Deshalb sollte es uns nicht wundern, dass Paläontologen an medizinischen

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Fakultäten Anatomie unterrichten und dass es andererseits Anatomen gibt, die eine Leidenschaft für Fossilien haben. Aus dieser Gemeinsamkeit des Lebendigen und in diesem Fall aus der speziÀschen Verwandtschaft mit vierbeinigen Wirbeltieren ergibt sich eine wichtige Folgerung: Was wir über das Wachstum irgendeines Wirbeltierembryos in Erfahrung bringen, ist auch von Bedeutung für die Entwicklung ungeborener Kinder. Für Larsson beispielsweise wurden die Forschungsarbeiten am Schwanz zum Anlass, sich auch mit dem Rückenmark und dem Notochord zu beschäftigen: Er untersuchte, wie man ihr Wachstum beeinträchtigen oder in eine andere Richtung lenken kann. Dies ist für die Medizin eindeutig von Nutzen, denn Rückenmarkschäden gehören zu den häuÀgsten und schrecklichsten Geburtsfehlern. Wenn wir mehr über die Wachstumsfaktoren in Erfahrung bringen, die das Neuralrohr zu einer Fortsetzung seiner Entwicklung veranlassen, könnten solche Kenntnisse zur Verhütung von Geburtsfehlern beitragen. Menschen haben keinen Schwanz. Aber wir haben ein Rückenmark, dessen Wachstum und Entwicklung mit der des Schwanzes gekoppelt sind. Bei der Krankheit Spina biÀda zum Beispiel kann eine unvollständige Entwicklung des Rückenmarks dazu führen, dass ein Kind mit schmerzhaften und manchmal tödlichen Geburtsfehlern zur Welt kommt. In den 1980er Jahren stellte sich durch wissenschaftliche Untersuchungen heraus, dass Folsäure bei ungeborenen Kindern für die Entwicklung des Rückenmarks von großer Bedeutung ist. Diese Entdeckung machte man einerseits durch die Analyse der Ernährung schwangerer Frauen und der HäuÀgkeit von Geburtsfehlern wie Spina biÀda, andererseits aber auch durch Tierversuche. Mit der einfachen Maßnahme, die Nahrung schwangerer Frauen mit Folsäure anzureichern, werden heute unzählige

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derartige Geburtsfehler verhindert. Larsson betreibt Grundlagenforschung an der Embryonalentwicklung, und zwar auf einer so grundsätzlichen Ebene, dass seine Befunde sich wahrscheinlich auch über Hühner und Dinosaurier hinaus anwenden lassen. Die Aussichten, mit Erfolg einen Dinosaurier zu züchten, stehen recht gut – ganz gleich, was am Ende dabei herauskommt: Durch solche Forschungsarbeiten ergibt sich ein großer Nutzen für die Grundlagenforschung wie auch für die angewandte Wissenschaft. Ich möchte es hier noch einmal wiederholen: Das Endergebnis, der Dinosaurier, ist eigentlich nicht das Ziel der Forschung. Er ist nur ein Objekt, ein Mittel zum Zweck. Letztlich zielt die Forschung darauf ab, unsere Kenntnisse über Evolution und Embryonalentwicklung sowie über die Zusammenhänge zwischen beiden zu verstehen. Dabei lernen wir aus Fehlern ebenso viel wie aus Erfolgen. Ein Beispiel sind Larssons Erkenntnisse über die Zahl der Wirbel im Hühnerschwanz bei Beginn seines Wachstums: Er weiß jetzt, wie das Programm des Schwanzwachstums unterbrochen und dann in eine andere Richtung gelenkt wird, und allein deshalb hat sich der Aufwand gelohnt. Wenn es ihm oder jemand anderem irgendwann gelingt, einen Dinosaurier neu zu erschaffen: großartig. Wenn nicht, hat sich die Mühe nach meiner festen Überzeugung allein dadurch gelohnt, dass wir auf unserem Weg vieles gelernt haben. Die Erkenntnisse, die man bei den Versuchen zur Erschaffung eines Dinosauriers gewinnen kann, sind also für Grundlagenforschung und angewandte Wissenschaft von großem potenziellem Nutzen; damit ist die Frage, ob man solche Arbeiten in Angriff nehmen sollte, schon zum größten Teil beantwortet. Es gibt aber auch noch andere Überlegungen. Ist es ethisch vertretbar, mit dem Lebendigen herumzuspie-

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len und so in die Vergangenheit vorzudringen? Ist es grausam gegenüber dem Versuchstier? Ist es gefährlich für uns oder unsere Umwelt? Ich kann nicht alle diese Fragen beantworten, denn Moral und Ethik sind ein ganz eigenes Gebiet. Es würde mir nicht behagen, diese oder jene Handlung als richtig oder falsch zu bezeichnen. Ich kann nur eines tun: das von mir vorgeschlagene Experiment in den Zusammenhang der allgemein üblichen wissenschaftlichen Praxis und des gesunden Menschenverstands stellen. Nach meiner Überzeugung bringt das Experiment die wissenschaftlichen Kenntnisse voran, ohne wirklich neue ethische Fragen aufzuwerfen. Es liegt vollständig im Rahmen der heute in der Wissenschaft allgemein anerkannten Forschung – Tierschutz und die grundlegende Opposition gegen alle Tierversuche sind Themen für ein anderes Buch oder vielleicht auch für mehrere Bücher. Dies sind Überlegungen, die nicht nur die gesamte Wissenschaft betreffen, sondern auch die Landwirtschaft, die Ernährung mit tierischen Lebensmitteln, die Haltung von Haustieren, das Betreiben von Zoos, die Ethik von Landwirtschaft und Landnutzung, das Bevölkerungswachstum und die Frage, was eigentlich einen Menschen mit juristischen Rechten und gesetzlichem Schutz ausmacht. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren, aber ich habe auf solche Fragen keine Antworten und bin auch darin nicht sonderlich fachkundig. Ich möchte nur eines erklären: Der von mir vorgeschlagene Versuch, einen Dinosaurier herzustellen, entspricht der allgemeinen Praxis von Naturwissenschaft und medizinischer Forschung. Im Hinblick auf die umfassenderen Fragen nimmt er keine solche Sonderstellung ein, dass er hier einer eigenständigen Diskussion bedarf. Das mag sich extrem anhören, aber nach meiner Überzeugung ist es so.

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Larsson plant Arbeiten mit Embryonen, von denen keiner aus dem Ei schlüpfen wird. Experimente mit Hühnerembryonen fallen an seiner Universität und an den meisten anderen Forschungseinrichtungen nicht unter die Gesetze, die für Versuchstiere gelten. Manche Menschen haben Bedenken gegen alle derartigen Experimente, ganz gleich, wie sie ausgeführt werden oder welchen Nutzen sie versprechen, aber das ist eine umfassendere ethisch-philosophische Diskussion. Experimente an Hühnerembryonen sind allgemein akzeptiert, und nach meiner Überzeugung gehen wir zu Recht davon aus, dass wir dem Embryo keine Schmerzen zufügen. Und wenn es darum geht, dass der Embryo oder auch ein ausgewachsenes Huhn am Ende getötet wird, so erleben Milliarden Hühner jeden Tag weitaus größere Entrechtung und Würdelosigkeit. Arbeiten mit einem Ei, aus dem kein Küken schlüpft, und auch die humane Tötung eines ausgewachsenen Huhnes werden in der Gesellschaft allgemein als legitim angesehen, selbst wenn der Nutzen nur in einer Mahlzeit besteht. In unserem Fall ist der potenzielle Nutzen weitaus größer. Bisher ist niemand so weit, einen Embryo im Rahmen eines solchen Experiments aus dem Ei schlüpfen zu lassen. Sollten wir irgendwann planen, ein voll ausgebildetes, dinosaurierähnliches Huhn schlüpfen zu lassen, wird das Experiment in den Zuständigkeitsbereich der Ethikkommissionen fallen, die über den Tierschutz wachen. Meiner Meinung nach wäre es keine Grausamkeit, ein Huhn mit Armen und Klauen anstelle der Flügel sowie mit Zähnen und einem Schwanz auszustatten. Wenn solche atavistischen Strukturen nicht ordnungsgemäß wachsen oder so missgebildet sind, dass sie dem Tier Schmerzen verursachen, wäre das Experiment eindeutig fehlgeschlagen, denn es ging ja gerade darum, keine Monstrositäten, sondern funktionierende atavistische Merkmale zu schaffen.

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Es gibt Forschungsprogramme, die tatsächlich zur Schaffung einer Art monströser Tiere führen. Um Erkrankungen des Menschen und insbesondere ihre genetischen Ursachen aufzuklären, hat man viele gentechnisch veränderte Mausstämme erzeugt, bei denen ein oder mehrere Gene ausgeschaltet wurden. Manche derartigen Knockout-Mäuse sind übergewichtig, zuckerkrank, unbehaart oder leiden an einer Krankheit, die der Schizophrenie ähnelt. Andere bekommen sehr leicht Krebs oder andere genetisch bedingte Krankheiten. In diesen Fällen sind wir bereit, Mäuse leiden zu lassen, weil es ein unverzichtbarer Teil eines nützlichen Experiments ist. Es gibt zwar eine Fülle von Beispielen, wie Menschen grausam handeln können, aber mit unserem gesunden Menschenverstand erkennen wir auch, wann wir mit Grausamkeit konfrontiert werden. Die Kommissionen, die an Universitäten über Tierversuche wachen, urteilen zwar nach juristischen Richtlinien, im Wesentlichen verfolgen sie aber das Ziel, den Tieren unnötige Schmerzen zu ersparen und den Wert eines Experiments zu beurteilen, wenn dabei einem Tier Leid zugefügt wird. Insgesamt war unsere Gesellschaft früher sogar bereit, mit unseren engsten Verwandten – den Schimpansen – zu experimentieren, wenn der potenzielle Nutzen groß genug war und beispielsweise in der Bekämpfung von AIDS bestand. In dieser Hinsicht hat sich die Haltung mittlerweile geändert, aber solche Entscheidungen müssen von der Gesellschaft als Ganzer getroffen werden. Ein Experiment, in dem sich ein ausgewachsenes Huhn als Dinosaurier aus der Gruppe der Theropoden entwickelt, wäre nur dann ein Erfolg, wenn das Tier sich wohlfühlt und gut funktioniert. Das aber dürfte nicht so einfach sein, denn damit ein langer Schwanz funktionsfähig ist, müsste man vermutlich auch andere Veränderungen vornehmen, beispielsweise beim Aufbau

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von Knochen und Muskeln oder bei der Halslänge. Was Klauen und Zähne angeht, so müsste der Hühner-Dinosaurier seine Vordergliedmaßen auch benutzen können. Sie müssten vollständig heranwachsen mit von den richtigen Stellen im Gehirn gesteuerten Nerven und Muskeln. Auch die Zähne müssten funktionsfähig sein und dürften die Ernährung des Huhnes nicht beeinträchtigen. Bankivahühner, die wilden Urahnen aller Haushühner, die sich mit diesen auch heute noch paaren können, ernähren sich vorwiegend von Insekten, Samen und wirbellosen Tieren. Haushühner fressen fast alles, auch Würmer, Salat, Früchte und Körner. Solange die Zähne die Ernährung, wie heutige Hühner sie zu sich nehmen, nicht stören, geht es dem Tier gut. Diese Ernährung könnte man mit anderen Nahrungsmitteln ergänzen, beispielsweise mit Würmern und Heuschrecken, bei deren Verzehr die Zähne möglicherweise besonders nützlich sind.

Ist es gefährlich? Zahlreiche weitere Einwände haben nichts mit der Gesundheit oder den Lebensbedingungen des Huhnosaurus (Chickenosaurus), wie wir ihn vielleicht nennen würden, zu tun. Die Angst betrifft vielmehr die Umwelt und potenzielle Gefahren für das heikle ökologische Gleichgewicht unseres Planeten. Viele Menschen haben beispielsweise Angst vor gentechnisch veränderten NutzpÁanzen oder Lebensmitteln. Ich schätze die Gefahr, dass der Verzehr gentechnisch veränderter Lebensmittel zu Schäden führt, sehr gering ein. Natürlich besteht immer eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass etwas Neues bei manchen Menschen allergische Reaktionen auslöst. Davon abgesehen jedoch scheint der Nährwert von Mais oder Fleisch

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der gleiche zu sein. Genetische Abwandlungen Ànden auch bei der herkömmlichen Züchtung statt, ebenso beim Veredeln und bei Kreuzungen, wie sie bei der Entwicklung neuer PÁanzen- und Samensorten vorgenommen werden. Bei der herkömmlichen PÁanzenzüchtung werden natürlich keine Gene von einer Spezies auf die andere übertragen, doch auch hier besteht das Potenzial für gewisse Überraschungen. Aber ich komme von meinem eigentlichen Thema, dem Huhnosaurus, ab. Solange der Embryo nicht schlüpft, gelangt er auch nicht in die Umwelt. Wenn man ihn schlüpfen lässt und wenn das Tier aus irgendeinem Grund entkommt, bestünde das Problem nur darin, dass der Huhnosaurus herausÀnden muss, wie er überleben kann. Für die Umwelt oder für die Milliarden Hühner auf der Welt wäre er keine Gefahr, denn wie ich bereits erwähnt habe, wurde seine Genausstattung nicht verändert. Durch Manipulation der Wachstumsfaktoren und Signalsubstanzen würden wir Gene zu verschiedenen Zeitpunkten während der Entwicklung ein- und ausschalten, die Gene selbst wandeln sich dabei aber nicht. Genetisch betrachtet wäre der Huhnosaurus nach wie vor ein Huhn. Und wenn es ihm irgendwie gelingen würde, sich mit einem Huhn zu paaren, wären die Nachkommen ebenfalls Hühner. Denken wir einmal an den Größenunterschied zwischen manchen Einwanderergruppen und ihren Kindern. Bessere Ernährung während der Schwangerschaft und Kindheit führen zu einer Größenzunahme. Genetische Veränderungen haben dabei nicht stattgefunden. Dem Kind stand während des Wachstums einfach mehr „Brennstoff“ zur Verfügung, und obwohl es die gleichen Gene trug wie seine kleineren Eltern, wurde es größer. Ein weniger angenehmes, aber ebenso aufschlussreiches Beispiel sind Kinder, die wegen einer Suchterkrankung der

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Mutter bereits heroin- oder kokainsüchtig auf die Welt kommen. Wenn ein solches Baby heranwächst, trägt es keine neuen Suchtgene, die es weitergeben könnte. Genauso harmlos wäre auch der Huhnosaurus. Wenn wir mit unseren Kenntnissen über Embryologie und Evolution so weit kommen, dass wir wissen, durch welche DNA-Veränderungen wir in das Wachstumsprogramm eingreifen können, könnten wir auch Tiere erschaffen, die ihre Merkmale an die Nachkommen weitergeben. Dies würde eine ganze Reihe neuer potenzieller Probleme aufwerfen. Dass Huhnosaurier in einer Umwelt, in der es von Waschbären, Opossums, Katzen, Hunden, Kojoten, Füchsen, Fischen, Schlangen, Ratten und Menschen wimmelt, die Oberhand erlangen können, ist unwahrscheinlich. Dennoch ist eine Veränderung der Gene, wie man es bei den Knockout-Mäusen getan hat, nicht Gegenstand meines Vorschlags. Genveränderungen würden tatsächlich die Möglichkeit eines Jurassic Park einschließlich aller damit verbundenen Probleme eröffnen; vermutlich würden aber auch dann keine wilden Raptoren durch die Küchen im Süden Kaliforniens streifen. Wichtiger wäre die Frage, ob solche Tiere in der Umwelt lebensfähig wären, wenn sie entkommen. Als eingeschleppte Spezies könnten sie das ökologische Gleichgewicht stören. Ein ausgestorbenes Tier oder eine vernünftige Nachbildung davon zu erzeugen, ist das eine. Etwas ganz anderes wäre es, wenn man die ganze Art oder eine ähnliche einschließlich ihrer Fähigkeit, sich fortzupÁanzen und in freier Wildbahn zu verbreiten, wieder zum Leben erwecken würde. Der kürzlich verstorbene hervorragende Kabarettist und Gesellschaftskritiker George Carlin sprach in einer großartigen Nummer über bedrohte Arten und Aussterben. Seine Pointe, die er viel besser zum Ausdruck bringen konnte als ich, lautete: Bedrohte

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Arten zu retten, ist nur ein weiteres Beispiel für die Arroganz der Menschen und ihrer Eingriffe in die Natur. Er wies darauf hin, das weit über 90 Prozent aller Arten, die jemals gelebt haben, heute nicht mehr existieren. „Sie sind verschwunden“, sagte er, „lassen wir sie gehen.“ Und schließlich stellt sich die Frage, wohin uns solche Forschungsarbeiten führen. Wenn wir gelernt haben, wie man das Wachstum eines Hühnerembryos in eine neue Richtung lenkt, können wir diese Fähigkeit auch ausweiten. Mit Hühnern lässt sich natürlich viel einfacher arbeiten als mit Säugetieren, weil die Embryonen groß und in einem bequemen Behälter eingeschlossen sind. Man kann sie bebrüten und wachsen lassen, während man Glasperlen zufügt oder Retinsäure injiziert. Aber solche Verfahren lassen sich auch weiterentwickeln, und je erfolgreicher sie sind, desto häuÀger wird man sie einsetzen. Was wir dabei lernen, können wir beispielsweise nutzen, um das Leid von Kindern zu mildern, die mit Rückenmarksdefekten geboren werden. Irgendwann sind wir vielleicht in der Lage, in das Wachstum des Embryos einzugreifen, Probleme zu beheben und dafür zu sorgen, dass das Wachstum sich ordnungsgemäß fortsetzt. Andererseits herrscht in der Öffentlichkeit keine Einigkeit darüber, was als Geburtsfehler anzusehen ist. So sprechen verschiedene Forschungsergebnisse für die Idee, dass die sexuelle Orientierung eine genetische Grundlage hat und/oder während der Schwangerschaft durch die Hormone der Mutter beeinÁusst wird. Für solche Hypothesen gibt es einige Indizien, gut begründete Theorien sind sie nicht. Wenn man aber tatsächlich nachweisen kann, dass die sexuelle Orientierung bei manchen Tieren ganz oder teilweise von der Gegenwart eines Hormons während der Schwangerschaft abhängt, könnten manche Eltern vielleicht versucht sein, den Hormonspiegel

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während der Schwangerschaft zu testen und zu verändern, um so die sexuelle Orientierung des Kindes zu beeinÁussen. Auch andere Eingriffe erscheinen verlockend, beispielsweise wenn es darum geht, die Intelligenz oder sportlichen Fähigkeiten zu verbessern. Gentechnik wäre das nicht. Aus ethischer Sicht könnte man argumentieren, es sei nichts anderes, als Folsäure zu verabreichen oder durch andere Eingriffe eine Fehlbildung des Neuralrohrs zu verhindern. In der Gesellschaft besteht allgemein Einigkeit darüber, dass Babys möglichst gesund sein und keine Schmerzen leiden sollten, aber über andere Eingriffe wird verbittert gestritten. Wollen wir in einer Welt leben, in der Mütter durch entsprechende Behandlung während der Schwangerschaft die Intelligenz ihrer Kinder steigern oder ganz nach Wunsch darüber bestimmen können, ob ihr Sohn schwul wird oder nicht? Solche Gedanken mögen an den Haaren herbeigezogen erscheinen, aber genetische Tests an Embryonen werden heute im Rahmen der künstlichen Befruchtung bereits vorgenommen; meist überprüft man damit, ob der Embryo an einer bekannten genetisch bedingten Krankheit leidet, beispielsweise dem Tay-Sachs-Syndrom mit seinen starken geistigen und körperlichen Behinderungen. Einige kleinwüchsige Eltern wollten mit der gleichen Methode dafür sorgen, dass ihre Kinder ebenfalls kleinwüchsig werden, und taube Eltern wollten, dass ihre Kinder ebenfalls taub sind. Bisher verbietet kein Gesetz das Embryonen-Screening auf andere Merkmale, und man kann sich nur schwer vorstellen, wie man einer Frau gesetzlich verbieten wollte, ihren Hormonspiegel während der Schwangerschaft neu einzustellen. Welche Eingriffe ich selbst sinnvoll Ànde, kann ich erklären, aber die Entscheidung liegt nicht bei mir. Sie muss von der Gesellschaft insgesamt getroffen werden. Andere Wissenschaftler

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und ich können nur entscheiden, ob wir diese oder jene Forschungsrichtung weiter verfolgen wollen, weil wir dabei viele neue Kenntnisse gewinnen können. Solche Kenntnisse können dann zu leistungsfähigen Hilfsmitteln werden, die sich zum Guten wie zum Schlechten nutzen lassen. Wenn es um Wissen geht, bin ich kompromisslos: Meine Arbeit besteht darin, etwas herauszuÀnden und zu lernen, und meine Maxime lautet: Wir sollten so viel wie möglich darüber in Erfahrung bringen, wie die Welt funktioniert. Ich halte nicht inne und sage: Könnte ich mit meiner Forschung etwas herausÀnden, das sich missbrauchen lässt und dann mehr Schaden als Nutzen bringt? Nein, ich folge meinem Instinkt und will wissen, was interessant ist. Wenn es um die Frage geht, wie das Wissen genutzt wird, bin ich ein Bürger wie jeder andere auch. Den Versuch, einen Dinosaurier zu züchten, werden andere unternehmen. Aber ich möchte das Projekt unterstützen und mich dafür einsetzen, so gut ich kann. Wenn dieses Buch zum Anlass für Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten und ernsthafte Überlegungen wird – großartig. Wenn es hilft, die Forschung weiterzubringen – noch besser. Vor meinem geistigen Auge taucht immer wieder ein ganz bestimmtes Bild auf. Ich halte entsetzlich viele Vorträge. Dabei lese ich nicht von einem Manuskript ab, sondern zeige lieber Dias, jeweils passend zu dem Thema, über das ich sprechen möchte. Dann brauche ich meinen Text nicht auswendig zu lernen oder formell zu gestalten, sondern kann den Plauderton beibehalten, was ich am angenehmsten Ànde. In dem Bild, das ich vor mir sehe, trete ich mit einem Dinosaurier an der Hundeleine auf das Podium. Er ist klein, aber immerhin größer als ein Huhn. Nehmen wir an, er hat ungefähr die Größe eines Truthahns oder irgendwann die eines Emus. Dieser Dinosaurier, Huhnosaurier, Truthahnosaurier,

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Dinohahn oder emugroße Dinosaurier (der vielleicht einen Maulkorb trägt oder von mehreren Wärtern geführt wird) ist besser als jedes Dia. Es würde sich nicht um eine Vorlesung handeln, sondern um einen öffentlichen wissenschaftlichen Vortrag, bei dem alle möglichen Fragen gestellt und Kritikpunkte geäußert werden: Wie haben Sie das gemacht? Wie fühlt sich seine Haut an? Hat er Zähne? Was frisst er? Wie nah ist er überhaupt mit den Dinosauriern verwandt? Daraus würde sich zwangsläuÀg eine Diskussion über das Wesen der Dinosaurier ergeben, über Vögel, über Evolution und Embryonalentwicklung, über den Zusammenhang zwischen der Molekularbiologie und den großen Veränderungen in der Evolution, über die Frage, woher wir dieses oder jenes wissen und ob unser Tun überhaupt gerechtfertigt ist. Es wäre etwas Ähnliches wie dieses Buch, nur in Gesprächsform. Es wäre für mich der schönste Vortrag, den ich mir vorstellen kann. Ich gebe nicht gern Antworten. Das lag mir noch nie. Fragen gefallen mir besser. Ich stelle sie gern, bemühe mich, zu Antworten zu gelangen, versuche herauszuÀnden, worum es in der Frage eigentlich geht und welche neuen Fragen daraus erwachsen. Für ein solches Ereignis müsste ich überhaupt keinen Vortrag vorbereiten. Mein gesamter geplanter Text würde aus einer einzigen Frage bestehen, und daraus würde sich alles andere ergeben. Ich würde an den vorderen Rand des Podiums treten, auf das Tier an der Hundeleine zeigen, ins Publikum blicken und fragen: „Kann mir jemand sagen, was das hier ist?“

Anhang

Das Chickenosaurus-Skelett

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Die beiden Skelette auf diesen Seiten machen auf den ersten Blick deutlich, dass es sich um ähnliche Tiere handelt. Um bei beiden zwei Beine, einen langen Hals, einen langen Schwanz und einen Brustkorb zu erkennen, bedarf es keiner wissenschaftlichen Kenntnisse. Nun, sie gehören auch zur gleichen Tiergruppe: Die linke Abbildung zeigt Saurornitholestes, einen kleinen, in Nordamerika gefundenen Theropoden aus der Kreidezeit, die rechte Chickenosaurus, einen kleinen Dinosaurier der Zukunft, der bisher nur in der Fantasie existiert. Wie ich im Buch immer wieder erläutert habe, sind Vögel eigentlich Dinosaurier, und das zeigen diese Bilder deutlicher als tausend Worte. Saurornitholestes ist nach unseren derzeitigen Kenntnissen gezeichnet. Chickenosaurus ist eine grobe Skizze des Tieres, das wir nach meiner Überzeugung schon in naher Zukunft aus einem Hühnerei heranzüchten können. Bei ihm wurde ein Hühnerskelett mit einem Schwanz und Dinosaurierarmen ausgestattet. (© Phil Wilson)

Anhang

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Die Arme von Chickenosaurus sehen eindeutig anders aus als Hühnerflügel und würden voraussetzen, dass die Vorderextremitäten beim Embryo ganz anders heranwachsen. Der Schwanz würde entstehen, wenn man in die Anweisungen eingreift, die das Wachstum der Wirbelsäule zum Stillstand bringen. Solche Veränderungen würden Chickenosaurus natürlich nicht zu einem genauen Ebenbild von Saurornitholestes machen. Unterschiede bestehen im Bau von Becken und Brustkorb, im Schädel und anderen Körperteilen. Aber die Skelette zeigen deutlich die Ähnlichkeiten und den geringen Abstand zwischen beiden Tieren; beides wird wegen des vertrauten Äußeren der Hühner und unserer hergebrachten Vorstellungen von Dinosauriern leicht übersehen. (© Phil Wilson)

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Kapitel 7 Resko, John A., Perkins, Anne, Roselli, Charles E., Fitzgerald, James A., Choate, Jerome V. A., Stormshak, Fredrick (1996). Endocrine Correlates of Partner Preference Behavior in Rams. Biology of Reproduction 55, 120–26.

Danksagungen

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die harte Arbeit und das Engagement zahlreicher Menschen, allen voran meiner früheren Doktorandin Dr. Mary Schweitzer, meines Kollegen Dr. Hans Larsson und meines früheren Doktoranden Chris Organ. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Weitere Paläontologenkollegen, mit denen ich in den letzten Jahren häuÀg zusammengearbeitet habe, sind Mark Goodwin und Kevin Padian, beide aus Berkeley; auch ihnen bin ich sehr dankbar. Darüber hinaus danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Pat Leiggi, Bob Harmon, Carrie Ancell, Ellen Lamm, Jamie Jette und Linda Roberts; meinen früheren und jetzigen Doktorandinnen und Doktoranden; und den vielen Freiwilligen, die ihre Sommerferien opferten, um Dinosaurierfunde wie „B. rex“ auszugraben. Ich danke Nathan Myhrvold, der die Ausgrabung von B. rex zum größten Teil Ànanzierte und einen Teil der Mittel für unser mobiles Labor zur Verfügung stellte. Weiter danke ich allen anderen Geldgebern, insbesondere Tom und Stacey Seibel, Klein und Karen Gilhousen, Gerry Ohrstrom, Bea Taylor, der Familie Paul Prager, Caterine Reynolds, George Lucas und den Familien Sands. Mein besonderer Dank gilt Jim Gorman, der meinen Wissenschaftlerjargon so beredt in Lite-

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ratur verwandelte. Und schließlich danke ich meiner Freundin Carlye Cook, die mich daran erinnerte, dass Wissenschaft – insbesondere Wissenschaft, wie sie in diesem Buch beschrieben wird – die VerpÁichtung hat, sich in einer für Laien verständlichen Sprache gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären. Jim und ich danken unserer Agentin Kris Dahl und unserem Lektor Stephen Morrow für ihre großartige Mitarbeit an dem Buch; weiter danken wir Oceana Gottlieb, die ein großartiges Umschlagbild kreierte; Craig Schneider, dem Copyeditor; und Juliana Gilroy, der Herstellungsleiterin. Sie alle trugen mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit zur Entstehung dieses Buches bei. – Jack Horner

Zuallererst möchte ich meiner Frau Kate danken. Sie hatte die schwierigste Aufgabe, die man sich vorstellen kann: Sie wohnte mit mir unter einem Dach, während ich alle verfügbaren und manche nicht verfügbaren Minuten für die Arbeit an diesem Buch verwendete. Ihre Unterstützung war ebenso von unschätzbarem Wert wie die Geduld meines Sohnes Patrick mit der Tag-, Nacht- und Wochenendarbeit seines Vaters. Meine Töchter Madeleine und Celia brauchten nicht mit mir in einem Haus zu wohnen, aber auch sie ermutigten mich aus der Ferne. Und meine Eltern waren wie immer begeistert von mir. Ich danke auch Freunden und Mitarbeitern, die mich ermutigten, mich anzustrengen und das Buch fertig zu stellen oder mich zumindest nicht mehr darüber zu beklagen. Und schließlich danke ich Jack für unsere faszinierenden Recherchen, für seine aufgeschlossenen, fantasievollen Gedanken, für seine Bemühungen um dieses Buch und um mich während seiner Entstehung. Danke. – Jim Gorman

Index

A Abelson, P. 69, 107, 110 Acanthostega 180, 182f Adenin 112 AIDS 101, 235 Alanin 107 Allosaurus 37 Alvarez, L. 41 Alvarez, W. 39 Alvarezsauriden 131 Alzheimer-Krankheit 161 Ambrose, S. 54 Ameisenbären 38 Ameisenigel 146 American Museum of Natural History 26 Aminosäuren 69, 107, 109, 112f, 116 Aminosäuresequenzen 85 Amoxicillin 177f Amphibien 34, 38 Antennapedia 165 Anti-Sinn-RNA 206

Antigene 121 Antikörper 85, 112, 121f Anzick-Fundstätte 52 Apatosaurus 36f Archaeopteryx 135f, 139f, 146, 174f, 201 Archosaurier 139 Aristoteles 11, 153 Arktis 132 Artenvielfalt 45 Asara, J. M. 118, 122 Asaro, F. 41 Asilomar Conference 108 Asteroiden 40 Asteroideneinschlag 36, 42, 45 Atavismus 14, 185, 200, 202, 208, 215, 220 Atome 116 Außentoiletten 32 Aussterben 40, 219f Auto 215, 196, 220 Autopodienfeld 182 axiale Musterbildung 210

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B B. rex 16, 26, 29, 63–66, 68, 70, 88f, 92, 95, 117, 122, 124, 131 Baird, D 137 Bankivahuhn 148, 151, 222, 236 Baptistina-Familie 42 Baseball 4 Basen 112 Bernstein 8 Beuteltiere 38, 146 BioÀlme 93f Biophysik 107 Bison 51, 56f, 116 Bithorax 165 Blackfeet-Indianer 21, 53 Blauhäher 130 Blc-2 167 Blutdoping 84 Blutgefäße 90, 92–94 Blutzellen 16, 78–80, 82–84, 86f, 109 BMP2 173 BMP5 167 Body Farms 87 bone morphogenetic proteins, BMP 167, 183 Boston Red Sox 3 Bozeman 21 Brachylophosaurus 126 Braunbären 51 Bridger, J. 55 Brontosaurier 148 Brontosaurus 36 Brown, B. 24f, 27, 59f, 133

Brustdrüsen 35 Buck, F. 5 Buckley, M. 123 Buckner, B. 3 Büffel 23, 56 Burgess-Schiefer 1 Bush, A. H. 170 C Caenorhabditis elegans 99, 161, 194f Calcium 68 Campephilus 221 Canis dirus 51 Carlin, G. 219, 238 Carroll, S. 160 Caudipteryx 144 Charbonneau, T. 53 Charles M. Russell National Wildlife Refuge 31 Chen, P.-J. 143 Chiappe, L. 132 Chicxulub 41f, 50 Chinook 58 Chin, K. 81 Chordatiere 210 Christen 227 Christian Identity 27 Clark, W. 23, 53–55 Clemens, B. 61 Cloverly-Formation 133 Clovis-Menschen 49–51 Cody, B. 56 Coelurosaurier 140, 175, 181, 216

Index

Compsognathus 144 ComputertomograÀe 7, 77 Contergan 208 Cope, E. D. 132 Coronado, F. V. 53 Crichton, M. 97 Crichton, W. 100 Crick, F. 108 Crow 53 CSI – Den Tätern auf der Spur 101 Cuppy, W. 129 Currie, P. J. 144, 204 Cuvier, G. 189 Cytosin 112 D Dal Sasso, C. 81 Darwin, C. 17, 169 Darwin-Finken 14 Daunenfedern 171 Death Executioner 167 Deinonychus 37, 137f, 140 Deinonychus antirrhopus 134 Devo-Evo 12 Diabetes 161 Differenzierung 174 Dingus, L. 55 Dinohahn 242 Dinosaurier 5–9, 11, 13–16, 24f, 33–47, 61f, 64, 68, 71, 73f, 77, 81, 91, 129f, 143f, 148, 175, 180, 186f, 192, 195–198, 205, 212f, 215, 219, 223, 232, 241 Dinosaurier-DNA 100, 106 Dinosaurier-Huhn 228

263

DNA 8–11, 15, 32, 70, 98–108, 110, 112f, 125, 152, 160, 162f, 185, 195 Dodson, P. 75 Dolly 98 Dong, S.-M. 143 Donoghue, P. C. 110 Doppelhelix 102, 112 Dracorex 44f Dromaesauridae 143f Drosophila melanogaster 161 dunkle Materie 179 E Echsenbecken-Dinosaurier 36, 148 Edontosaurus 25 Eierschalen 68 Elche 51 Elektronen 116, 119 Elementaranalyse 119 Elemente 121 Elfenbeinspecht 220–222 Embryo 156–164, 207, 215f, 224, 234 Embryologie 168, 188, 191, 238 Embryonalentwicklung 110, 152f, 158f, 162, 164, 166, 171, 176–178, 180–184, 194, 196, 221, 223, 226, 232 Embryonalzellen 229 Embryonen 3f, 11f, 193, 203, 234, 240 Embryonen-Screening 240

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Emus 90 Entenschnabel 37 Entenschnabel-Dinosaurier 25, 58, 137 Entwicklungsbiologie 191, 193, 210 Epidermis 171 Epigenese 154f Equus scotti 116 Erosion 38, 138 Ethik 226, 233 Eugenik 105 Evo-Devo 12f, 110, 157, 160, 165, 191, 199, 212, 229 Evolution 9f, 15, 69, 71f, 109f, 128, 147, 160, 164, 169f, 172, 180f, 183, 193, 196, 208, 219f, 226, 232, 238 evolutionäre Entwicklungsbiologie 185 Evolutionsbiologie 211 Extremitäten 169, 209, 214, 225 Extremitätenknospen 180 F FairÀeld, H. 59 Fallon, J. F. 173 Faraday, M. 1 FBI 28 Federn 3, 140, 142, 144, 170–176 Federwurzel 174 Fell 35

Fettsucht 161 Fibroblasten-Wachstumsfaktoren 205 Filipodien 91 Finger 11, 180–183 Fische 33, 38 Flannery, T. 50 Fliegen 173 Fliegenforschung 163 Flossen 182 Flügel 177, 179 Flugfähigkeit 144 Fluorapatit 120 Fluoreszenzmarkierung 122 FlüssigkeitschromatograÀe 85 Follikel 171 Folsäure 231 Fonda, P. 20 Formation 38 Fort-Union-Formation 24 Fort Peck Lake 27, 30 Fossilien 6, 31, 74f, 80, 93, 110, 114, 178f, 189, 211, 224 Freemen 27–31 G Gabelbein 140 Gallatin River 21 Gallus gallus 148, 151, 222 GarÀeld 22–24, 26, 28, 38, 45, 51, 54, 58 Gaschromatographie 89, 120 Gattaca 105

Index

Geburtsfehler 231, 239 Gegenbaur, K. 132 Gehirn 48 Gene 12, 99, 112, 128, 155–157, 162, 168, 173, 188f, 194f, 214f genetischer Code 112, 155 Genexpression 159 Genom 8, 99, 105, 194f, 220 Genomanalyse 152 Genregulation 185, 211 Geschlechtsreife 159 geschockter Quarz 41 Gilbert, S. 164 Glacier-Nationalpark 21 Gliedmaßen 168 Goldkronen-Goldhähnchen 133 Gondwana 37 Goodwin, M. 61 Gorman, J. 221 Gould, S. J. 1, 5, 157 Grabungen 6 Grauwölfe 51 Gravitation 227 Grizzlybären 50, 54 Groucho 167 Grundlagenforschung 230 Guanin 112 Gubbio 40 H Hadrosaurier 91 Haeckel, E. 158 Hakenstrahlen 172f

265

Halslänge 236 Hamburger-Hamilton-Stadien 205 Hämoglobin 84f, 87, 109 Hand 177, 179f, 182 Handgelenk 142 Harmon, B. 26, 62 Harré, R. 153 Harris, M. 173 Hartman, J. 61 Haushühner 151 Havers-Kanäle 76, 79 Hawke, E. 105 Hayden, F. 58f Hedges, B. 103 Heinrich, B. 132 Hell-Creek-Formation 24–64, 67, 70, 127 Hell Creek 19 Helmspecht 221 HIV 101 Homininen 49 Homo 103 Homo erectus 117 homologe Gene 163 Homöobox 165f homöotische Gene 165 Homo sapiens 2, 117 Hooke, R. 65 Hormone 155, 239 Hornaday, W. T. 56f Horner, J. 35 HOX-Gene 165f, 183

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Huhn 130, 161, 186, 198f Huhn-Dinosaurier 199 Hühnerembryo 11, 197, 200, 202f, 214, 219, 226 Hühnergenom 151f Huhnosaurus 236f, 241 Humangenomprojekt 104 Hüte 138 Huxley, T. 132 Hydroxyapatit 120 I Ichthyornis 132 Ichthyostega 183 Immunologie 121 Immunsystem 122 Intelligenz 240 Internet 32 Iridium 40, 41 Isotope 116 J Jordan 27f, 30 Josephy, A. 53 Judith-River-Formation 44, 58, 127 Junge-Erde-Kreationisten 71f, 227 Juniper Cave 116 Jurassic Park 8, 97f, 100 K K/T-Grenze 40, 44, 46 Kaczynski, T. 29 Kambrium 33

Katastrophen 42 Kaulquappe 2 Kay, T. 93 Keratin 152, 171 Kernresonanzspektroskopie 85 Klades 34f Kladistik 141, 143 Kladogramm 34f, 141 Kloakentiere 146 Klonen 98 Knochen 70, 76–86, 88, 99–128, 192 Knochenmatrix 125 knochenmorphogenetische Protein 167, 174 Knochenzellen 16 Knockout-Mäuse 197f, 235 Knockout-Stämme 161 Knorpel 113 Kohlenstoff 121 Kollagen 89, 94, 109, 111, 113–119, 123f Konturfedern 171 Koprolithen 82 Körperachse 210 Körperbaupläne 10, 15 Körperform 48 Körperteile 164 Körpertemperatur 134 Krallenfrosch 204 Kreationisten 86, 91, 109, 172 Krebs 161 Kreidezeit 24f, 37–39, 45, 59, 66, 127

Index

Krokodile 38 Kurzgras 23 Kurzhornbison 51 Kurzschnauzenbären 50 L Lagosuchus 36 Langhornbisons 50 Larsson, H. 14, 177f, 181, 184, 187, 199, 209, 232 Lewis, M. 23, 53–55 Little Big Horn 55 M Madison River 21 Magellanspecht 221 Makela, B. 137 Makroevolution 163, 169, 178, 184, 223, 228 Mammut 49f, 104 Massenaussterben 2, 36, 39, 40, 44f Massenspektrometrie 89, 115f, 118 Massensterben 46 Mastodon 23, 50, 59, 122–124 Maus 161 Mäuse 197 Mayr, E. 163 McCone 24 Mesoderm 210 Messenger-RNA 206 Meteor 39, 45 Meteoriteneinschlag 39 Michel, H. 41

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Microraptor 144f Mikro-RNA 166 Mikroevolution 163, 177, 192, 222 Mikrofossilien 81 Mikroinjektion 206, 213 Mikroorganismen 39, 93 Miles, N. A. 55 Mineralstoffe 89 Missouri Breaks 23 Missouri River 30 Molekularbiologie 149, 190, 228 Moleküle 116 Montana 16, 20f Montana State University 19 Monte Verde 49 MOR 555 80 Moral 233 Morgan, T. H. 162 Morpholinos 215 Morphologie 128 Mosasaurier 59 Mullis, K. 101 Musselshell River 23 Mutationen 43, 163f N Nash, O. 147 natürliche Selektion 34, 169 Naturschutz 222 Naturwissenschaft 72f, 227 Neandertaler 103f Neutronen 116 New York Mets 3 Nordamerika 47

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Evolution rückwärts

Norell, M. 144 Notochord 203f, 210, 231 O Obergene 164–170 ökologische Nischen 43 Ontogenie 157f Organ, C. 124 Organisationszonen 213 Ornithischia 36, 148 Osborn, H. F. 60 Osteocalcin 115–117 Osteocyten 90f, 94 Ostrom, J. 133, 137, 139 Ostrom, P. 114–116, 123 Oviraptoroiden 205 P Pachycephalosaurier 25 Pachycephalosaurus 37, 44f Paläobiologie 199 Paläohistologie 76 Paläontologen 5, 20, 40, 187, 211 Paläontologie 14, 69, 72–74, 85, 110, 149, 175, 184, 188f, 197, 229f Pangäa 37 Paradise Valley 19 Perm 40, 43 Permafrost 116 Peterson, K. J. 110, 149 Peterson, N. 63 Pferd 53 Philosophie 227 Phylogenie 157f

Plazentasäugetiere 38, 146 Plesiosaurier 38 Polymerasekettenreaktion 101 Präformationstheorie 154 Pratchett, T. 187 Primaten 2, 34, 178 Protarchaeopteryx 144 Proteine 8, 16, 70, 85, 87, 109, 112, 125, 174, 194 Protoceratops 37 Protonen 116 Prum, R. O. 145, 170 Pterodactylus 136 Pterosaurier 59, 132 Pygostyl 12, 15, 203–205, 207, 213, 215, 229 Q Qiang, J. 144 R Rasterelektronenmikroskop 77, 90, 119, 127 Rasterkraftelektronenmikroskop 118 Regulation 188 Regulationsgene 157, 162 Rekapitulation 158 Religion 72, 226f Reptilien 34, 134, 139 Resistenz 178 Retinsäure 206f, 239 Reverse Engineering 7 Revo-Devo 229

Index

Ribosomen 113 Ricqlès, A. de 76 Risiken 226 RNA 100, 113, 162 RNA-Viren 10 Rocky Mountains 38 Röhrenknochenmark 67f Röntgenbeugungsstudien 119 Roux, W. 164 Rückenmark 14, 223, 231, 239 Rückgrat 10, 35, 187–217 Runnegar, B. 69, 110 S Sacajawea 53 Säugetiere 26, 34–36, 38, 47, 48, 178 Säugetierembryonen 222 Saurier-DNA 97 Saurischia 36, 148 Sauropoden 37 Schädel 137 Schädelkinese 137 Schildkröten 38, 132 Schimpansen 49, 104 Schizophrenie 161, 235 Schlüssel-Schloss-Prinzip 121 Schlüsselbein 140 Schnabel 14 Schnabeltier 38, 146f Schuppen 170, 176 Schwanz 2, 4f, 14f, 200, 209, 219 Schwanzfedern 2 Schwanzwirbel 203 Schweitzer, L. 28f

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Schweitzer, M. 16, 29, 62, 66, 162 Scipionyx samniticus 80 Sehnen 113 Selektion 43 Selektronen 179 Shipman, P. 136 Shun-An, J. 144 Signalfaktoren 194, 213 Signalsubstanzen 12, 201, 229 Signore, M. 81 Sinosauropteryx prima 144 Sinusauropteryx 175 Sioux 53, 56 Sitting Bull 23, 55f Skelett 36 Smithsonian Institution 26 Smurf 167 Somiten 211 Sonic Hedgehog 167, 173f, 183, 205f, 214 Spechte 221 Spina biÀda 231 Sprotonen 179 Squarks 179 Stammbaum 34 Stammesgeschichte 141 Stegosaurus 107 Stickstoff 121 Strauße 90 Stygimoloch 44f Summons, R. E. 110 Supersymmetrie 179 Symmetrie 179

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Evolution rückwärts

T T. rex 9, 16, 37, 62, 64f, 67f, 77f, 90, 122–124, 130, 176, 225 Taq-Polymerase 101 TauÁiege 15, 99, 156, 161, 167 Tay-Sachs-Syndrom 240 Tertiär 40 Tetrapodomorpha 182 Thecodontia 139 Thermus aquaticus 101 Theropoden 80, 129, 140, 143f, 146, 148, 175f, 235 Thymin 112 Tierschutz 233 Tiktaalik 183 Toole, K. R. 58 Transkriptionsfaktoren 166f Transmissionselektronenmikroskop 119 Triaszeit 33, 36, 40, 139, 148 Triceratops 25, 36f Triceratops-Skelett 74 Troodon 38 Troodontiden 145 Tryptophan 116 Turner, T. 20 Two-Medicine-Formation 61, 114 Tyrannosaurus 25f, 32, 37, 60, 63, 82, 91 U Unabomber 29 Uinatheren 48

Uracil 113 Urvogel 4 V Velociraptor 37, 106, 130 ventrale ektodermale Kante 204 Vögel 2, 17, 37, 39, 47, 68, 71, 128, 129–149, 178, 195, 229 Vogel-Dinosaurier 145 Vogelbecken-Dinosaurier 36, 148 Vorfahren 34 W Wachstumsfaktoren 12, 167, 194, 201, 207, 216, 225, 229, 231, 237 Wagner, G. 177, 181, 184 Wang, S. 75 Warmblüter 17, 77 Watson, J. 104, 108 Weichtiere 38 Wells, H. G. 19 Wichita-Indianer 53 Wilsall 51 Wingless 213 Winnett 22 Wirbelsäule 203f Wirbeltiere 33, 35 Wirbeltierpaläontologie 230 Wittmeyer, J. 67, 111 Wnt 213f Wölfe 222 Wolpert, L. 151, 168

Index

Woodward, S. 100, 103, 106 Wounded Knee 56 Wüsten-Beifuß 23 X Xing, X. 145 Xenopus 204 Y Yellowstone-Nationalpark 21 Yellowstone River 21

Z Z-Kohle 25 Zähne 200–209 Zeitmaschine 2 zelluläre Kinetik 87 Zhen, S.-N. 143

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