Auf Den Spuren Idealistischen Denkens: Die Vorlesungen Karl Leonhard Reinholds Im Verhaltnis Zu Seinen Werken Und Zu Immanuel Kants Philosophie (Anamnesis, 3) (German Edition) 382884846X, 9783828848467

Karl Leonhard Reinhold gilt als bedeutendster Interpret wie Verbreiter der Kantischen Philosophie, und die Popularitat I

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German Pages 268 [269] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Vorwort der Autorin
A Prolog
B Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants von 1786 bis 1792
1. Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie in seinen Merkur-Briefen zum Ersten Band der Briefe über die Kantische Philosophie von 1790
1.1 Zur Struktur des aufklärerischen Zeitgeistes unter Kantischer Vorgabe
1.2 Auswertung der Briefe I und II hinsichtlich des Aufsatzes »Ueber den Geist unsres Zeitalters in Teutschland« von 1790
1.3 Exzerption der Briefe III–XI in Bezug auf die ursprünglichen »Briefe« von 1786/87
1.4 Darstellung zentraler Inhalte des Briefes XII hinsichtlich des Aufsatzes »Skizze einer Theogonie des blinden Glaubens« von 1786
1.5 Abschließende Interpretation des Ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie
2. Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie von Karl Leonhard Reinhold aus dem Jahr 1792
2.1 Zur kontextuellen Entstehung und Einordnung sowie zur Vorrede
2.2 Auswertung des Ersten Briefes hinsichtlich des Aufsatzes „Ehrenrettung der neuesten Philosophie“
2.3 Erörterung der Briefe II und III hinsichtlich des Aufsatzes „Ehrenrettung des Naturrechts“
2.4 Erörterung der Briefe IV und V hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung des positiven Rechts«
2.5 Auswertung des Sechsten Briefes hinsichtlich des „Beytrags zur genaueren Bestimmung der Grundbegriffe der Moral und des Naturrechts. Als Beylage zu dem Dialog der Weltbürger.“
2.6 Exzerption der neuen Briefe VII–IX
2.7 Auswertung des Zehnten Briefes hinsichtlich des Aufsatzes „Ueber die Grundwahrheiten der Moralität und ihr Verhältniß zur Grundwahrheit der Religion“
2.8 Exzerption des neuen Briefes XI
2.9 Erörterung des Zwölften Briefes hinsichtlich der Aufsätze „Die drey Stände. Ein Dialog“ sowie „Die Weltbürger. Zur Fortsetzung des Dialogs, die drey Stände, im vorigen Monatsstück“
3. Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände der Briefe über die Kantische Philosophie
4. Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds in Bezug auf die Schrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens von 1791
4.1 Reinholds Weg zur Elementarphilosophie
4.2 Erläuterungen zu essentiellen Resultaten der Fundamentschrift
4.3 Diskussion und Ausblick zum Fundament Reinholds
5 Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften – „Logik und Metaphysik“ sowie „Darstellung der Kritik der reinen Vernunft“
5.1 Eingliederung in den zeitlichen Zusammenhang sowie einleitende Gedanken zur Schrift
5.2 Erörterung und Interpretation zu den Nachschriften „Logik und Metaphysik“
5.3 Erörterung und Interpretation zur Nachschrift „Darstellung der Kritik der reinen Vernunft“
6. Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds zu zeitgleichen Veröffentlichungen und Kant selbst
C Epilog
D Literaturverzeichnis
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Auf Den Spuren Idealistischen Denkens: Die Vorlesungen Karl Leonhard Reinholds Im Verhaltnis Zu Seinen Werken Und Zu Immanuel Kants Philosophie (Anamnesis, 3) (German Edition)
 382884846X, 9783828848467

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α ANAMNESIS

Band 3

Franziska Götschl

Auf den Spuren idealistischen Denkens

Tectum

Die Vorlesungen Karl Leonhard Reinholds im Verhältnis zu seinen Werken und zu Immanuel Kants Philosophie

α ANAMNESIS

Herausgegeben von Christoph Asmuth und Christoph Binkelmann

α ANAMNESIS

Band 3

Franziska Götschl

Auf den Spuren idealistischen Denkens

Die Vorlesungen Karl Leonhard Reinholds im Verhältnis zu seinen Werken und zu Immanuel Kants Philosophie

Tectum Verlag

Franziska Götschl Auf den Spuren idealistischen Denkens Die Vorlesungen Karl Leonhard Reinholds im Verhältnis zu seinen Werken und zu Immanuel Kants Philosophie Anamnesis, Bd. 3 © Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023 ePDF 978-3-8288-7965-2 ISSN 2748-4351 (Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4846-7 im Tectum Verlag erschienen.) Zgl.: Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2022 Originaltitel: Die Vorlesungen Karl Leonhard Reinholds im Verhältnis zu seinen Werken und zu Immanuel Kants Philosophie Gemälde auf Seite VII: Astrid Götschl, Der Weg zur Kathedrale, 2012, 70 × 30 cm Gesamtverantwortung für Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet www.tectum-verlag.de Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Meiner Mama Astrid, ohne deren Rückhalt Vieles unerreicht und überdies unerreichbar geblieben wäre

Vorwort der Herausgeber

Die Geschichte der Philosophie folgt nicht einer wie auch immer gearteten Notwendigkeit. Viele der heute als Klassiker gehandelten und in den Kanon der philosophischen Literatur eingereihten Autoren verdanken diesen Ruhm fast zufällig zu nennenden situativen oder personalen Konstellationen ihrer eigenen Zeit. Dies gilt auch und gerade für Immanuel Kant und dessen bahnbrechendes Werk, die Kritik der reinen Vernunft, die nach ihrem Erscheinen im Jahre 1781 zunächst kaum Rezeption und noch weniger Verständnis erfuhr. Erst der Vermittlungsleistung von Karl Leonhard Reinhold hatte es Kant zu verdanken, dass sein Denken einer größeren und breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Die Verfasserin stellt dem vorliegenden Buch daher die provokante Frage voran, »ob es ohne Reinhold heute Kant geben würde« (S. 2). Der aus Wien stammende, im Zeichen der Gegenreformation von Jesuiten und Barnabiten zum Priester ausgebildete Reinhold fand im Zuge seiner Übersiedlung nach Deutschland in Kant einen Denker, der seine eigene aufklärerische Haltung, die er unter dem Einfluss der Freimaurer und entgegen seinen früheren Überzeugungen erworben hatte, theoretisch rechtfertigen und in einem Vernunftglauben zu begründen half. Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie, von denen Teile bereits 1786/87 veröffentlicht waren, die dann in zwei Bänden 1790 und 1792 erschienen, dokumentieren eine erste Form der Auseinandersetzung mit Kant. Zwei weitere Formen entstehen fast zeitgleich, nämlich Reinholds Schriften zu seiner eigenen Elementarphilosophie sowie seine als Professor in Jena gehaltenen Vorlesungen. Um Reinholds Vermittlungsleistung umfassend zu verstehen und zu würdigen, bedarf es einer Berücksichtigung dieser drei Auseinandersetzungsformen. Das vorliegende Buch unternimmt diesen in der Forschung bislang Desiderat gebliebenen Versuch, indem es das Verhältnis Reinholds zu Kant in den unterschiedlichsten Facetten und zeitlichen Entwicklungsstufen gründlich nachzeichnet und darin auch die Ablösung Reinholds vom kantischen Kritizismus hin zu seiner eigenen philosophischen Position deutlich macht. In letzter Hinsicht trägt die Darstellung bei zu einem entwicklungsgeschichtlichen Verständnis IX

Vorwort der Herausgeber

nicht nur von Reinholds eigenem Denken, sondern auch von der durch Reinhold ebenfalls mitverantworteten philosophischen Bewegung des Deutschen Idealismus. Vor allem die erstmalige gründliche Miteinbeziehung von zwei erst 2015 in den Gesammelten Schriften veröffentlichten Nachschriften von Vorlesungen Reinholds zu »Logik und Metaphysik« sowie zu Kants Kritik der reinen Vernunft gewährt einen Einblick, wie Reinhold zur Verbreitung der kantischen Philosophie unter den Jenenser Studierenden beigetragen hat, die von überall her nach Jena kamen, um Kant durch Reinhold zu verstehen. Sie verbreiteten später ihrerseits das vermittelte Kant-Bild mündlich, in Schriften oder vom Katheder herab in ganz Europa. Reinhold bereitete so auch in Jena das Milieu vor für seine geistigen Nachfolger. Als 1794 der junge Philosoph Johann Gottlieb Fichte dort auf Reinhold folgte, der seinerseits eine – besser bezahlte – Professur in Kiel angenommen hatte, bekennt jener, er sei »innig überzeugt, daß nach dem genialischen Geiste Kants der Philosophie kein höheres Geschenk gemacht werden konnte, als durch den systematischen Geist Reinholds«.1 Nach Fichtes Weggang wird freilich Friedrich Wilhelm Joseph Schelling dort zusammen mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein negativeres Reinhold-Bild vermitteln, indem er diesem »philosophische Imbecillität«2 vorwirft und gesteht: »Dieser Reinhold aber ist mir von jeher ein langweiliger Geselle gewesen, so daß, mit ihm mich einzulassen, oder ihn zu meinen Gegnern zu rechnen, mich immer viel Ueberwindung gekostet hat.«3 Sicherlich setzt hier, mit Schelling und Hegel, bereits eine Verschleierung der Verdienste Reinholds als Kant-Vermittler ein, die bis heute nachwirkt und somit auch Reinholds Einflüsse auf unser heutiges Kant-Verständnis verdeckt. So müßig es auch ist zu spekulieren, ob ohne die Vermittlung durch Reinhold die Philosophie Kants heute genauso populär wäre oder nicht, so sicher ist, dass die Philosophiegeschichte seit 1 2 3

J.G. Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. I 2. Hg. von Hans Jacob und Reinhard Lauth. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965. S. 110. F.W.J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I 10. Hg. von Manfred Durner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009. S. 113. F.W.J. Schelling: Ueber das absolute Identitäts-System und sein Verhältniß zu dem neuesten (Reinholdischen) Dualismus. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I 11,1. Hg. von Manfred Durner und Ives Radrizzani. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017. S. 95. X

Vorwort der Herausgeber

Kant anders verlaufen wäre ohne Reinhold. Das vorliegende Buch trägt so umfassend und detailreich wie keine andere Studie bislang dazu bei, dieses Verdienst Reinholds wieder aus den Schatten Schellings, Hegels und vieler anderer in das rechte Licht zu rücken. Die Herausgeber

XI

Vorwort der Autorin

Die vorliegende Arbeit widmet sich der etwas ungleichen Beziehung zwischen dem berühmten wie seinerzeit berüchtigten, philosophischen Aufklärer Immanuel Kant und dessen anfänglichen Bewunderer Karl Leonhard Reinhold, welcher die erste und insgesamt zugleich umfangreichste Rezeption desselben bewirkt hat. In einem ersten Schritt soll den Leserinnen und Lesern der Erste Band der Reinholdschen Briefe über die Kantische Philosophie – 1790 als Konglomerat herausgegeben – nähergebracht und so das grundständige, philosophische Grundpfeiler betreffende Verhältnis zwischen Immanuel Kant und Karl Leonhard Reinhold beleuchtet werden, welches ersterem einen höheren Bekanntheitsgrad seiner aufklärerischen Schriften eröffnete und letzteren zu seiner eigenständigen Elementarphilosophie führen sollte. Inhaltlich bezieht sie sich, wie der Titel bereits verrät, auf die Briefe über die Kantische Philosophie, Band Eins, welche zunächst innerhalb der Zeitschrift Der Teutsche Merkur, herausgegeben von Reinholds Schwiegervater Christoph Martin Wieland, zwischen 1786 und 1787 veröffentlicht und 1790 zusammengefasst mit obigem Namen in Auflage gebracht wurden. Notwendig mit einzubeziehen wird sodann der Zweite Band der Briefe über die Kantische Philosophie von 1792 sein, dessen essentielle Inhalte, zentrale Themen und Kantische Schnittstellen im direkten Anschluss als zweiter Punkt der Abhandlung betrachtet und analysiert werden sollen. Hierin ergründen sich sodann die Ideen, welche Reinhold zu seiner Rezeption anregten und diesen über deren Grenzen hinausführen sollten, während Kant für ihn zunächst wie eine Art »Erleuchtung« oder »Lichtgestalt« zu erscheinen vermochte. Im sich nahtlos anschließenden, dritten Teil der Arbeit wird das Verhältnis von Reinhold und Kant insgesamt in Bezug auf die Briefe I und II, welche beide an dieser Stelle Eingang finden, beleuchtet, wobei vor allem die Unterschiede innerhalb der Briefe II offenbar werden, da gerade diese Reinhold zu eigenen Denkansätzen geleitet haben. Es wird zu zeigen sein, welche Inhalte Reinhold von Kant übernahm und welche XIII

Vorwort der Autorin

er umzudenken anregte, bevor auf die eigenständige Elementarphilosophie Reinholds im darauffolgenden Teil dieser Schrift Bezug genommen wird. Ebendiese wird durch Reifung eigener Gedanken und Theorien Reinholds innerhalb der im Jahre 1791 veröffentlichten Schrift Über das Fundament des philosophischen Wissens entwickelt, in welcher Reinhold sich von den Kantischen Motiven und Inhalten abwendet, um sein eigenes Fundament einer Elementarphilosophie zu erschaffen, welches für ihn einzig und allein von Vollständigkeit zu zeugen vermag. Die sogenannte Fundamentschrift soll im vierten Teil vorliegender Arbeit inhaltlich dargestellt und etwaige Unterschiede zur Kantischen Philosophie, welche essentiell zu Reinholds weiterer Entwicklung beigetragen haben, beleuchtet werden. Im fünften Schritt werden die Vorlesungsnachschriften zur Kritik der reinen Vernunft, vorgetragen ab dem Wintersemester 1788/894, ins Auge gefasst. Hierin liegen einige Hinweise für die Verknüpfung von Kantischer Transzendentalphilosophie und Reinholds eigener Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. In diesen Vorlesungen nämlich beleuchtet Reinhold die Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants genauer, um gleichzeitig und mit einem fließenden Übergang jeweils auch dasjenige anzuführen, was jenem an dessen Gedankengut weiterzuführen notwendig schien. Hier wird sodann durch eigene Theorien und Gedankengänge der Verfasserin aufzuzeigen sein, welche Inhalte Reinhold von Kant entnahm, welche er für seine Zwecke abänderte und warum genau er das an einigen Stellen tat. Ziel wird es sein, eine interessante Gegenüberstellung der Reinholdschen Ausführungen im Vergleich zum konkreten Inhalt der kritischen Schriften Kants, vor allem der KrV und KpV, die sich direkt auf die Vorlesungsnachschriften zur KrV beziehen, darzustellen. Die Verfasserin wird darum bemüht sein aufzuzeigen, wie sich die Vorlesungsnachschrift(en) Reinholds zu seinen gleichzeitigen Veröffentlichungen sowie zu Kant selbst verhalten. Die sechste und damit letzte Etappe vorliegender Arbeit besteht in einer umfangreichen Auswertung bzw. Interpretation sämtlicher Inhalte der zugrundeliegenden Werke, vor allem in Bezug auf Unterschiede zur Kantischen Lehre bzw. dessen einschlägigen Werken sowie Argu4

Die für diese Arbeit vorliegende Nachschrift (Kalman) stammt relativ sicher aus dem Wintersemester 1792/93. Vgl. hierzu Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Reinhold, Vorlesungsnachschriften, 2015, X. XIV

Vorwort der Autorin

menten. In Eigenforschung versucht die Verfasserin hierin ein Bild zu konstruieren, welches den Leser an das Ende des 18. Jahrhunderts reisen lassen soll, um das Thema mit dem Geiste der Aufklärung verbinden und dessen Problematiken in der Zeit einordnen zu können. Reinhold soll als eigenständiger Philosoph dargestellt werden, der Kant zwar bis zu einem gewissen Grad verehrte, aber auch unter den Fittichen des großen Meisters selbst zu reifen begann. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 von der philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Ich danke den Professoren, die sich an der Disputation beteiligt haben, den Herren Friedrich Vollhardt und Wilhelm Vossenkuhl. Letztem gilt mein besonderer Dank für das Zweitgutachten zu meiner Arbeit. Mein Doktorvater, Prof. Wilhelm G. Jacobs, hat mich auf das Thema der Arbeit aufmerksam gemacht und deren Entstehen mit stetem Interesse und Aufmerksamkeit begleitet. Ihm gilt mein ganz besonderer Dank. Franziska Götschl

XV

Inhalt

Vorwort der Herausgeber 

IX

Vorwort der Autorin 

XIII

A Prolog 

1

B Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants von 1786 bis 1792 

3

1.

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie in seinen Merkur-Briefen zum Ersten Band der Briefe über die Kantische Philosophie von 1790  1.1

Zur Struktur des aufklärerischen Zeitgeistes unter Kantischer Vorgabe 

3 4

1.2 Auswertung der Briefe I und II hinsichtlich des Aufsatzes »Ueber den Geist unsres Zeitalters in Teutschland« von 1790 7 1.3 Exzerption der Briefe III–XI in Bezug auf die ursprünglichen »Briefe« von 1786/87 

2.

11

1.4 Darstellung zentraler Inhalte des Briefes XII hinsichtlich des Aufsatzes »Skizze einer Theogonie des blinden Glaubens« von 1786 

29

1.5 Abschließende Interpretation des Ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie 

32

Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie von Karl Leonhard Reinhold aus dem Jahr 1792 

35

2.1 Zur kontextuellen Entstehung und Einordnung sowie zur Vorrede 

35

2.2 Auswertung des Ersten Briefes hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung der neuesten Philosophie« 

38

2.3 Erörterung der Briefe II und III hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung des Naturrechts«

43

2.4 Erörterung der Briefe IV und V hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung des positiven Rechts« 

55

XVII

Inhalt

2.5 Auswertung des Sechsten Briefes in Bezug auf den »Beytrag zur genaueren Bestimmung der Grundbegriffe der Moral und des Naturrechts. Als Beylage zu dem Dialog der Weltbürger.« 68 2.6 Exzerption der neuen Briefe VII–IX 

79

2.7 Auswertung des Zehnten Briefes hinsichtlich des Aufsatzes »Ueber die Grundwahrheiten der Moralität und ihr Verhältniß zur Grundwahrheit der Religion«  96

3.

2.8 Exzerption des neuen Briefes XI 

101

2.9 Erörterung des Zwölften Briefes hinsichtlich der Aufsätze »Die drey Stände. Ein Dialog« sowie »Die Weltbürger. Zur Fortsetzung des Dialogs, die drey Stände, im vorigen Monatsstück« 

106

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände der Briefe über die Kantische Philosophie

4. Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds in Bezug auf die Schrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens von 1791 

5

6.

113

134

4.1 Reinholds Weg zur Elementarphilosophie

135

4.2 Erläuterungen zu essentiellen Resultaten der Fundamentschrift 

138

4.3 Diskussion und Ausblick zum Fundament Reinholds 

158

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften – »Logik und Metaphysik« sowie »Darstellung der Kritik der reinen Vernunft« 

175

5.1 Eingliederung in den zeitlichen Zusammenhang sowie einleitende Gedanken zur Schrift 

176

5.2 Erörterung und Interpretation zu den Nachschriften »Logik und Metaphysik« 

178

5.3 Erörterung und Interpretation zur Nachschrift »Darstellung der Kritik der reinen Vernunft« 

205

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds zu zeitgleichen Veröffentlichungen und Kant selbst 

227

C Epilog 

243

D Literaturverzeichnis 

245

XVIII

A Prolog

Karl Leonhard Reinhold wird in unserer heutigen Zeit nicht unbedingt zu den berühmten Philosophen, deren Werke in Erinnerung bleiben und deren Erkenntnisse gelobt werden, gezählt, obgleich seine Rolle innerhalb der philosophiehistorischen Entwicklung hochgeschätzt werden muss. Mit seinen Schriften, welche die Werke und Denkansätze seines Illuminators Immanuel Kant etwaigen Interessierten zugänglich gemacht haben, eröffnet er ein großes Spektrum denkerischen Schaffens zu Ehren seines Lehrmeisters, geht aber auch über dessen Ansätze hinaus. Überdies beleuchten seine Vorlesungen, welche eifrig gehört und nachgeschrieben worden sind, eine neue Perspektive auf diesen Denker. Der Wirkungskreis Reinholds ist zwar als umfangreich zu bezeichnen, doch wird er von damaligen Zeitgenossen oftmals eher gerügt als gerühmt – gerade weil früh der Eindruck entstanden ist, dass Reinhold als Nachbeter der Kantischen Philosophie und nicht als Philosoph mit eigenem Systemvorhaben auftritt. Andere Philosophen der damaligen Zeit sind insofern bemüht gewesen, seine Ansätze und Gedanken dem Erdboden gleich zu machen, da Reinhold in ihren Augen gar nicht den Anspruch gehabt hat, als Philosoph Geltung zu erlangen, obgleich das nicht der Realität entspricht. Dadurch ist ihm bis heute nie die Achtung und Anerkennung zuteilgeworden, welche er durchaus verdient gehabt hätte. Er muss demgemäß als Denker innerhalb der philosophiehistorischen Entwicklung angesehen werden, der sich für ein allgemeines Verständnis der Werke Kants, welche damals als dunkel und undurchsichtig gegolten haben, aufopfert – was auch dazu führt, dass seine eigenen Theorien nur wenig Beachtung finden, da Reinhold sich vor seiner Elementarphilosophie lediglich mit denjenigen seines Vorbildes auseinandergesetzt hat. Diese Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie ist einerseits als Segen zu werten, sofern Reinhold dadurch aus seiner Glaubenskrise herausgefunden und eine neue Religion kennengelernt hat, deren Grundlagen in der Moral und der Sittlichkeit gelegen sind. Andererseits aber ist die umfangreiche Exzerption Kants auch als Fluch zu werten, sofern Reinhold dadurch den Ruf eines Echos erhalten hat. Denn seine eigene 1

Prolog

Theorie des Vorstellungsvermögens basiert grundsätzlich auf der Philosophie seines Illuminators und stellt einige essentielle wie fundamentale Bezüge her. Ohne Kant hätte es also keinen Reinhold gegeben. Die grundsätzliche Frage lautet allerdings, ob es ohne Reinhold heute Kant geben würde. Denn gerade das Hauptwerk des Königsbergers ist – als die erste Auflage 1781 erschien – als verschlossen und geheimnisvoll erachtet worden, weil es den meisten Gelehrten und Denkern zur damaligen Zeit nicht einleuchtend gewesen ist, was Kant von sich gibt und meint. Es hat also jemanden gebraucht, der sich dessen annimmt und der Öffentlichkeit eine Möglichkeit eröffnet, dieses Werk zu begreifen, wenn auch nur in seinen Grundfesten, nicht hinsichtlich aller Einzelheiten. Ob er diese Aufgabe gemeistert hat, wird sich im Laufe der vorliegenden Arbeit erschließen lassen. Auch mithilfe seiner Vorlesungen – vor allem zur Darstellung der Kritik der reinen Vernunft – hat Reinhold sodann eine große Wirkung erzielt. Indem er nämlich die Theorie seines Vorbildes seinen Studenten eröffnet hat, welche nach Jena geströmt waren, um ihn zu sehen und seinen Ausführungen zu lauschen, hat er es Kant ermöglicht, in den Köpfen derjenigen Denker zu bleiben, die gerade erst beginnen, Philosophie als solche sowie vor allem den Kritizismus zu verstehen. So hat der große Philosoph Kant mithilfe von Reinhold eine Berühmtheit erlangt, welche bis heute vorherrschend ist, da jeder, der sich heute mit Philosophie beschäftigt, die Kantischen Werke zur Hand nimmt. Doch wie genau ist das Verhältnis zwischen Reinholds Publikationen und den Vorlesungen zu erachten, welche er zielgerichtet an der Universität Jena gehalten hat? Und wie verhalten sich die Reinholdschen Schriften und Vorlesungen zu Kant selbst? Diese und weitere Fragen gilt es innerhalb der vorliegenden Arbeit zu beantworten, um letztlich ein Bild zeichnen zu können, welches alle Faktoren der Schaffensperiode Reinholds in sich trägt und einen Leitfaden für sein Vorgehen sowie seine Ziele und Absichten an die Hand gibt. Was sich daraus ergibt und wie alle diese Faktoren zusammenwirken, wird sich am Ende der vorliegenden Schrift ergeben. Vorab sei lediglich gesagt, dass Reinhold um einiges interessanter und bedeutsamer eingeschätzt werden muss, als es damals wie heute der Fall ist – insofern soll diese Arbeit Abhilfe schaffen und Reinhold in ein solches Licht rücken, welches seine Gedanken und Ansätze widerspiegelt sowie seiner Rolle im Idealismus gerecht wird. 2

B Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants von 1786 bis 1792

Die Darlegung etwaiger zentraler Punkte der fruchtbaren philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants soll als Ziel der vorliegenden Arbeit gelten, um letztlich aufzuzeigen, dass die Wirkung Kants über die Jahrhunderte hinaus ohne das Zutun Reinholds nicht in diesem Ausmaß möglich gewesen wäre und dieser zudem gelernt hat, seine eigenen Standpunkte in Form einer Elementarphilosophie zu vertreten. Solche Tatsachen machen Reinhold zu einem notwendigen Vorreiter der Auslegung Kantischer Argumente und Beweisführungen. Zunächst werden hierzu die beiden Bände der Briefe über die Kantische Philosophie, gefolgt von der Schrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens sowie die Vorlesungsnachschriften zur Kritik der reinen Vernunft darzustellen und zu interpretieren sein, welche erst im Jahr 2015 herausgegeben wurden, um letztlich ein Bild zu kreieren, welches sowohl Kant als auch Reinhold in ein nie zuvor ersehenes Licht zu tauchen vermag.

1.

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie in seinen Merkur-Briefen zum Ersten Band der Briefe über die Kantische Philosophie von 1790

In diesem ersten Teil vorliegender Abhandlung wird zunächst ein Einblick in den Ersten Band der Briefe über die Kantische Philosophie gegeben, sofern die einzelnen Briefe nacheinander beleuchtet und deren essentielle Denkansätze dargestellt werden. Die Autorin wird darum bemüht sein, Reinhold in seiner Rolle als Entwickler einer Struktur des damaligen Zeitgeistes unter Kantischer Vorgabe zu etablieren. Zudem sollen Gemeinsamkeiten, vor allem aber Hinweise auf Unterschiede Kantischer wie Reinholdscher Gedanken ausgelegt werden. Damit wird sodann der Weg des letzteren zu eigenen Gedanken und Theorien hin verdeutlicht. 3

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Zu Beginn nun ist kurz zu erläutern, dass die Briefe über die Kantische Philosophie, Band Eins insgesamt ein Konglomerat etwaiger Briefe aus der von Christoph Martin Wieland herausgegebenen Zeitschrift Der Teutsche Merkur darstellen, welche ursprünglich hauptsächlich zwischen August 1786 und September 1787 als Artikel gedruckt wurden. Lediglich die Vorrede sowie Teile des ersten und zweiten Briefes sind erst zwischen März und April 1790 mit Bezug auf den Aufsatz Ueber den Geist unsres Zeitalters in Teutschland hinzugetreten. Der Text des finalen zwölften Briefes dagegen entstand gemäß dem 1786 verfassten Aufsatzes Skizze einer Theogonie des blinden Glaubens. Insofern werden ebendiese Bereiche, welche sich sowohl zeitlich als auch textlich jeweils voneinander abheben, in separaten Kapiteln der vorliegenden Arbeit abgehandelt werden. 1.1

Zur Struktur des aufklärerischen Zeitgeistes unter Kantischer Vorgabe

Der große Aufklärer Immanuel Kant stellt für Karl Leonhard Reinhold zur damaligen Zeit denjenigen Menschen dar, den die meisten Gelehrten seiner Zeit nicht zu verstehen in der Lage waren, daher versuchte er, einen leichter zugänglichen Zusammenhang in Form einer Art »Erleuchtung« oder »Lichtgestalt« näherzubringen. Dadurch soll letztlich der sogenannte Zeitgeist in Bezug auf dasjenige, was die Menschheit entbehrt bzw. worüber stete Uneinigkeit zu herrschen vermag, in einem breiteren Rahmen ausgelegt werden. Mit diesem Unterfangen stand Reinhold für die Stärken der Kantischen Argumente ein, entwickelte sie an bestimmten Stellen jedoch auch zu seinen Zwecken fort. Insofern wird die Kantische Vernunftkritik in einen Zusammenhang eingebettet, der den menschlichen Bedürfnissen und Fragen zu Moral und Religion entspringt. Das Zeitgeschehen wie auch Denken der damaligen Zeit brachten Reinhold dazu, einen gewissen Mangel wahrzunehmen, welcher lediglich durch Kantische Argumente behoben werden konnte – wichtig war ihm hierbei vor allem, die Kantische Philosophie in die Geschichte der Menschheit einzubinden. Als Verkünder und Fortbildner derselben weist Reinhold auf Defizite wie auch Bedürfnisse seiner Zeit hin. Bereits in dessen Kindheit war durch die Erziehungsmaßnahmen eines streng christlichen Vaters Religion gewissermaßen zur einzig bedeutenden Angelegenheit geworden. Er hatte seinen Glauben verloren, weil seine 4

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

religiösen und philosophischen Anschauungen sowie geistigen Ziele nicht in Einklang mit den Berufspflichten und Anschauungen des Klosters, in das er eingetreten war, zu bringen waren. Insofern verstand er die Kantische Philosophie als eine solche, die Missverständnisse in Bezug auf den Gebrauch der Vernunft aufklären und ihm eine Anweisung verschaffen sollte, durch die er seine eigenen Ziele erlangen konnte. Reinholds Ziel ist es vor allem, die Aufklärung – getragen von Kantischen Grundsätzen – voranzubringen sowie ihm darüber hinaus Gedanken an eine Revolution vorschweben. »Diesbezüglich befasste er sich aus einem vernunftkritischen Standpunkt heraus mit politischen wie kulturellen Fehlentwicklungen im damaligen, protestantischen Deutschland und insbesondere mit Mängeln, welche durch bisher profilierte Aufklärungsströmungen in den Bereichen Metaphysik, Theologie, Moral, Naturrecht und Ästhetik zu verantworten waren; sein Bestreben, einseitige & unproduktive Thesen dieser Strömungen mit der Kantischen Lehre zu konfrontieren, welche sich durch eine neugewonnene Klarheit in Grundsatzfragen sowie Fähigkeit der Vermittlung zwischen streitigen Positionen auszuzeichnen vermag, ist markant und seine diesbezüglichen Ansprüche keineswegs gering.«5 Die Kantischen Prinzipien sollen für Religion, Psychologie und ähnliche Disziplinen genutzt werden, um so die bereits ausgedienten Wissenssysteme nach Kantischem Maßstab abzuändern. Hierdurch wird letztlich eine durch Kant initiierte, jedoch eigens aufgestellte Philosophie zu erlangen in Sichtweite gerückt. Das Ziel, welches zum Ende hin erreicht werden soll, ist das sogenannte »Evangelium der reinen Vernunft« – die letzte Epoche im Geiste Kants, welche gleichbedeutend mit der Erwartung eines neuen Zeitalters ist. Dafür bedarf es nun eines Laien wie Reinhold, der in die Angelegenheit einsteigt und selbst keiner philosophischen Partei angehört, da keiner der etablierten Philosophen Kant zuvor richtig verstanden habe. So ist er in der Lage, Kant letztlich richtig auszulegen und seine Ziele zu erreichen. Reinhold erklärt in einem Schreiben an Christian Gottlob Voigt vom November 1786, dass er etwaige Kantische Resultate nach äußeren und 5

Bondeli, Einleitung/Kommentar zu den Briefen I, in: Reinhold, Briefe I, 2007, VII. 5

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

inneren Gründen unterscheiden werde – insofern seien die aufschlussreichsten Argumente der KrV anzuführen, nämlich einerseits aus dem damaligen Zustand der Philosophie sowie den Bedürfnissen der Zeit und andererseits aus der Kantischen Philosophie selbst heraus, um essentielle Bestandteile darzustellen. Die Kritik der reinen Vernunft nämlich sei dafür verantwortlich, sämtliche Ungereimtheiten hinsichtlich eines Gebrauchs der Vernunft im Bereich der Religion aufzulösen. Da zudem kein Philosoph Kant bis dato richtig verstanden habe, schließt Reinhold, dass es unabdingbar sei, Kant auf neue Art und Weise, nämlich unabhängig von jeder philosophischen Strömung, auszulegen. Allein der Titel Briefe über die Kantische Philosophie lässt erwarten, dass es im Geiste Kants vor allem um die Ankündigung einer Revolution der Philosophie geht, wobei es hinsichtlich des gegenwärtigen Zustandes der Wissenschaften um einen obersten Grundsatz von Recht und Moral sowie deren Leitprinzipien zu tun sein wird. Nun veranschaulichen die Briefe I ein fiktives Gespräch zwischen Reinhold und seinem lernwilligen Freund, welcher sich durch aufrichtiges Eigeninteresse an der Philosophie auszeichnet und sich gerne zu Resultaten und Vorteilen der Kantischen Philosophie bekehren lässt. Der Ausgangspunkt liegt in der von Kummer geprägten Erkenntnis des fiktiven Freundes, dass der Zustand der wissenschaftlichen Kultur durch Streben nach etwas Handgreiflichem angegeben wird, das immer weiterwächst. Außerdem ist die Religion einem erbitterten Kampf zwischen Aberglauben und Unglauben ausgesetzt, was als verwerflich einzuschätzen ist und durch Kantische Gedanken abgeändert werden soll. Darüber hinaus wird jede Schrift, die neue Ideen generiert, verkannt und widerlegt, sodass die wenigen Selbstdenker stets nur gegeneinander arbeiten. Nach Reinholds Überzeugung liegt die Hauptquelle dieser Torheit im inneren Zustand der Philosophie selbst, dadurch dass ein Defizit sicherer Prinzipien vorherrschend ist. »[S]o blieb mir […] nichts anders übrig, als der Versuch, […] auf einige der wesentlichsten Bedürfnisse der bisherigen Philosophie aufmerksam zu machen; und da ich eine Neue kennen gelernt habe, die diese Bedürfnisse zu befriedigen verspricht, […] zum Studium derselben einzuladen, aufzumuntern, und vorzubereiten.«

6

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

Hier also wird eine Hinwendung zu Kantischen Argumenten postuliert – die neue Form der Philosophie, welche nun alle Steine aus dem Weg zu räumen vermag, soll folglich bezüglich ihrer wichtigsten Resultate und Aspekte dargestellt werden. Der erste Band der Briefe wird sich insofern unter anderem mit den bisherigen Vorstellungen zu Sittlichkeit und Freiheit auseinandersetzen, um sie mit denjenigen Resultaten zu vergleichen, welche die Kantische Philosophie über diese Gegenstände aussagt. 1.2 Auswertung der Briefe I und II hinsichtlich des Aufsatzes »Ueber den Geist unsres Zeitalters in Teutschland« von 1790 Der Erste Brief präsentiert zu Beginn die Aufklärung Deutschlands in dessen protestantischem Teil als Hauptproblem – seitdem der eigenständige Gebrauch von Vernunft in Religionsangelegenheiten »den Reitz einer verbothenen Frucht zu verlieren anfängt, tritt an die Stelle des vorigen Eifers für die Rechte der Vernunft eine Gleichgültigkeit ein, die […] mit einem allgemeinen Mißtrauen zu enden droht.« Das Thema des freien Vernunftgebrauchs ist es auch, das für Reinhold – hier durchaus in völliger Übereinstimmung mit Kant6– an der aufklärerischen Bewegung zunächst das entscheidende Kriterium sein muss. Laut Reinhold ist die Metaphysik, von Kant als »Königin aller Wissenschaften« betitelt, übergangen worden, sofern sie sich den Gegnern von Religion und Moral hingibt. Denn sie geht weiter, als sie es tun sollte und beansprucht Grundsätze, neben denen zweifelsfrei weder Priestertum noch Despotismus bestehen können. Es müsse eine solche Form der Freiheit erreicht werden, die nur dann einzudämmen sei, wenn sie nicht mit der Freiheit eines anderen Menschen konform gehe; Kant erläutert zudem, dass diese Beschränkung mit dem Allgemeinwohl verträglich sei, insofern der »Transzendentalen Dialektik« der KrV zufolge bei einer solchen Gegebenheit die Glückseligkeit von selbst folgt. Folglich beschreibt Reinhold sein Vorgehen:

6

Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1968, AA VIII, 33–42. 7

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

»Ich werde die […] Zeichen unsrer Zeit, die alle in so ferne in Eine Klasse gehören als sie Religion betreffen, mit andern Erscheinungen zu vergleichen haben, die mit eben so vielem Rechte Zeichen unsrer Zeit heißen können, aber freylich in andere Klassen gehören; mit einem Worte, ich werde [die] Schilderung des Zustandes unsrer Aufklärung in Religionssachen mit einem Gemählde erwiedern müssen, das keinen weniger umfassenden Gegenstand hat als – den Geist unsres Zeitalters.«7 Der Kern des Ersten Briefes beinhaltet eine Übersicht derjenigen Phänomene, welche den damals vorherrschenden Zustand etwaiger denkender Kräfte zu bezeichnen vermögen – das auffälligste Merkmal des Zeitgeistes nämlich besteht in einem Beben aller bekannten Systeme und Theorien, wodurch einerseits neue Formen kreiert und andererseits beständige bestärkt werden sollen. Denn weder die alten noch die neuen können als vollkommen befriedigend gelten. Um festzustellen, wie diese Erschütterung auf sämtlichen Gebieten zustande gekommen ist und was aus ihr folgen muss, bedarf es einer Betrachtung, die alle hierauf bezogenen Perspektiven zu vereinen in der Lage ist. Eine Gesetzlichkeit zur Beschreibung des Ausmaßes dieser Erschütterung lässt sich in Bezug auf denjenigen Beitrag bestimmen, welchen die Vernunft daran hat – insofern sollte einleuchten, dass der Ausgangspunkt alles Bebens innerhalb der Metaphysik liegt – und das schon deswegen, weil ihr nicht nur die Fähigkeit, sondern darüber hinaus auch der Name einer Wissenschaft von Spiritualisten bzw. Idealisten, Materialisten, dogmatischen Skeptikern und Supernaturalisten streitig gemacht wird. Obgleich wohl keiner unter diesen auch nur ansatzweise dazu in der Lage gewesen sei, die Ansprüche seiner eigenen Partei zu erfüllen, gehöre es zum Schicksal der Metaphysik, dass immer mehr Philosophen aus den unterschiedlichen Parteien auftreten, welche diese als nutzlos oder sogar schädlich anerkennen. Bei der Erschütterung aller anderen Wissenschaften kommt es darauf an, wie nah bzw. fern diese dem Gebiet der Metaphysik seien. Bis dato sind alle Versuche fehlgeschlagen, Einigkeit über die Grundsätze von Moral und Naturrecht zu erlangen, weil die Metaphysik als oberste aller Wissenschaften fungiert und daher wie ein Schutzschild über den anderen 7

Reinhold, Briefe I, 2007, Erster Brief, 9 f. 8

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

ruht. Die Naturwissenschaften gewinnen immer reichere Erkenntnisse, wohingegen weiterhin kein Beschluss über die Frage nach Recht und Pflicht eines »Menschen in diesem, und den Grund ihrer Erwartung in einem zukünftigen Leben« getroffen worden sei, da die Grundsätze fehlen. Nur dann, wenn allgemein geltende und vor allem oberste Grundsätze aufgestellt sind, könne es eine Rettung geben. »[I]ch meyne den unbestimmten, vieldeutigen, schwankenden Begriff von der Vernunft und ihrem Verhältnisse zur thierischen Natur. Da dieser Begriff den eigenthümlichen Charakter der Menschheit betrifft: so kann nur durch ihn der oberste Gesichtspunkt festgesetzt werden, durch welchen die innere Form der Geschichte der Menschheit überhaupt, und durch sie jeder besondern Geschichte möglich ist. […] Die Data […] können uns nur in unsrem Gemüthe und durch dasselbe gegeben seyn, und nur durch Zergliederung unsres bloßen Vorstellungsvermögens entdeckt werden.«8 Diese Gedanken werden von Reinhold im sich nun anschließenden, zweiten Brief weiterentwickelt, welcher gemeinsam mit dem ersten Brief demselben Aufsatz entlehnt ist. Zu Beginn desselben bekundet er, dass man sich auch über einen Grundbegriff des ästhetischen Vergnügens bzw. Geschmackes nur dahingehend einig geworden ist, dass der Mensch dieses nicht mit Tieren teilt, die bekanntermaßen keinerlei Vernunft besitzen. »Eben dieselbe Erschütterung, welche auf dem Gebieth der Metaphysik und Geschichte an allen angenommenen Principien des Wahren, und auf dem Gebiethe der Aesthetik an allen angenommenen Principien des Schönen erscheint: zeigt sich auch an allen angenommenen Principien des Guten, die auf den Feldern der Wissenschaften unserer Pflichten und Rechte in diesem, und des Grundes unsrer Hoffnungen in einem künftigen Leben in eben dem Verhältnisse schwankender geworden sind, als diese Felder geschicktere Bearbeiter gefunden haben. In wie ferne unsere Rechte und Pflichten in diesem und der Grund unsrer Hoffnungen in einem künftigen Leben in den ursprünglichen […] Anlagen unsrer Natur gegründet sind, machen sie den Gegenstand der Moral, des Naturrechts, und der reinen Philosophie 8

Reinhold, Briefe I, 2007, Erster Brief, 38 f. 9

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der Religion aus. In wie ferne sie aber durch Thatsachen der äußeren Erfahrung modificirt sind, werden sie zum Gegenstande der positiven Gesetzgebung, positiven Jurisprudenz, und positiven Theologie.« Schon immer wurde die Philosophie gemäß Reinhold als »Magd aller positiven Wissenschaften« betitelt, doch ist sie zeitlebens in Umbruch geraten. Der größte Teil ihrer Tätigkeiten wurde aufgrund angeblich gelungener Verwaltung dem Feld der Geschichte zugeteilt. Die Vernunft dagegen werde zwar grundsätzlich als oberste »Schiedsrichterinn in allen Angelegenheiten der Religion« angesehen, sie habe es jedoch gänzlich versäumt, wichtige Begriffe wie »Glauben« überhaupt zu bestimmen. Im Anschluss fährt Reinhold fort, solche Uneinigkeiten auf sämtliche wissenschaftliche Bereiche wie beispielsweise das Naturrecht oder die Moral zu übertragen, um festzustellen, dass innerhalb der Wissenschaften schon dort Differenzen auftreten, wo es um durchgängig bestimmte Grundbegriffe der einzelnen Disziplinen zu tun sei. Gerade bei Moralphilosophen sei nicht hinreichend geklärt, ob es überhaupt ein Sittengesetz gebe. Das eigentliche Problem besteht gemäß Reinhold nämlich darin, dass die Vernunft falsch gedacht werde und nur dann als gesichert gelten könne, wenn ihre Merkmale vollständig ausgebildet seien. Die Erschütterung der Moral äußert sich also »im Schwanken aller bisherigen Vorstellungsarten von Vernunft, Trieb nach Vergnügen und dem Verhältnis derselben« zueinander. Insofern wird eine Entwicklung notwendig, die lediglich durch eine Wissenschaft von statten gehen könne, welche auf einem allgemeingültigen Prinzip beruhe. »Die Lehrgebäude aller dieser Wissenschaften, die ihren Gegenständen nach auf unerschütterlichen Gründen fest stehen, bis an ihre Wölbungen und zwar so weit fortgeführt zu haben, daß das Bedürfnis der fehlenden Schlußsteine in die Augen fällt, ist ein Verdienst unsers Zeitalters […]. Mit einer letzten und heftigsten Erschütterung werden die einseitigen Meynungen der Philosophen über Gegenstände, über welche die Menschheit nicht immer bloß zu meynen bestimmt ist, dahin stürzen, um fest stehenden Grundsätzen Platz zu machen.« Insgesamt wird mit den ersten beiden Briefen ein Bezug zu Kant hinsichtlich der »Geschichte der reinen Vernunft« innerhalb der Methodenlehre der KrV hergestellt, insofern Kant diese in ein »System der Geschichte 10

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

der Menschheit« stellt. Denn nicht bloß für Reinhold, sondern auch für ihn selbst hat die Vergangenheit nichts als ein »Trümmerfeld gescheiterter Metaphysik« zu Tage gebracht. Daraus folgert Reinhold wiederum, dass die einzige Möglichkeit zur Überwindung der genannten Probleme in der Kritischen Philosophie Kants bestehe. Dadurch werde die Philosophie letztlich zu einer Wissenschaft. Wenn das Misstrauen zu einem Höhepunkt gelangt sei, komme die Zeit der Kritik, um alle philosophischen Strömungen, die als fehlerhaft einzustufen seien, aus dem Weg zu räumen. Damit werde der Vernunftglaube durch die Kritik gegen etwaige Einwände gesichert sein. Erst wenn jeder Mensch sittliche Ge- und Verbote einhalte, würde ein moralisches System der Glückseligkeit initiiert, in welchem das »höchste Gut« letztlich Bestand haben könne. 1.3 Exzerption der Briefe III–XI in Bezug auf die ursprünglichen »Briefe« von 1786/87 Im Verlauf der nun folgenden, ursprünglichen Briefe von 1786/87 wird Reinhold sich konkreten Inhalten Kantischer Resultate, insbesondere bezüglich des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, zuwenden und auf eine bis dahin noch unbekannte Weise über die neue Philosophie aus Königsberg debattieren. Das sollte Kant letztlich auch ein größeres Gehör schenken, was ihm zuvor durch die Undurchdringlichkeit seines Hauptwerkes, wie man meinte, verwehrt geblieben war. Reinhold nämlich wird sich als derjenige herausstellen, der das Feuer einer Aufklärung im Geiste einer Kantisch geprägten Revolution zu entfachen vermag. Es gibt nach Reinhold einen einvernehmlichen Grund, zu dem alle Erschütterungen zurückzuverfolgen seien, nämlich »das Missverständnis über die Grenzen des Vernunftvermögens in Rücksicht auf etwaige Angelegenheiten der Religion«, insbesondere zum Dasein Gottes. Daraus folge, dass alle bisher bestehenden Grundsätze innerhalb der Religionsphilosophie erschüttert worden seien – gerade weil die wissenschaftlichen Begriffe der Vernunft selbst sowohl unbestimmt als auch unvollständig geblieben seien. »Wir wollen ein- für allemal voraus setzen, daß es die Vernunft war, welche von der ersten Zeit ihrer Entwicklung an unaufhörlich diese Frage aufwarf. […] [Sie] habe diese Frage nicht nur aufwerfen kön11

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nen, sondern auch müssen. – Dies nun voraus gesetzt, so mußte es ihr unmöglich werden, bey ihren Versuchen diese große Frage zu beantworten […]. […] Allein so unvermeidlich es immer gewesen seyn mochte, und noch jetzt seyn mag, die Metaphysik über das Daseyn Gottes zu befragen: so wenig hat auch nur Eine der mehreren Antworten, die man bis jetzt von ihr erhalten hat, allgemeinen Eingang gefunden.« Aus der Tatsache, dass es noch keine solche Metaphysik gebe, folge allerdings nicht, dass es keine geben könne; denn die Fehler der einzelnen Parteien und der hieraus entsprungene Zweifel seien als Bedingungen für die Annahme der neuen Kantischen Metaphysik zu werten – ein dem Zeitgeist entlehntes Resultat. Philosophen müssten etwaige Abweichungen bei allgemeinen Grundsätzen als Gefahren für die Vernunft, Theologen dagegen als Gefahren für den Glauben bezeichnen. Für beide Parteien ist es daher ratsam, dem »kritischen Zweifel über die Möglichkeit einer allgemein befriedigenden Antwort Gehör zu schenken«. Es sei unumgänglich, »ein noch unbekanntes Gebieth der Vernunft, auf welchem die gedachten Bedingungen liegen müssen, vor allem kennen zu lernen. […] [M]an muß eine auf einem allgemein geltenden Princip fest stehende Antwort auf die Fragen ausfindig machen: ›Was ist überhaupt erkennbar? Was ist unter Erkenntnisvermögen zu verstehen? und worin besteht das eigenthümliche Geschäft der Vernunft beym Erkennen überhaupt?‹ […] Alle wesentlicheren Schicksale, die unsre spekulative Philosophie bis jetzt erfahren hat, mußten vorher gegangen seyn, ehe man daran denken konnte, jene Probleme in ihrem eigenthümlichen Sinne […] auch nur vor zu legen, geschweige dann aufzulösen. […] Es würde schon […] kein kleines Verdienst unsers Jahrhunderts seyn, DIESES Mißverständniß aus der Dunkelheit verworrener Begriffe hervor gezogen, und dadurch ein Problem herbey geführt zu haben, dessen Auflösung nichts geringeres als allgemeingültige Erste Grundsätze unsrer Pflichten und Rechte in diesem, – und einen allgemein gültigen Grund unsrer Erwartung für das zukünftige Leben hoffen läßt, das Ende aller philosophischen und theologischen Ketzereyen, und im Gebiethe der spekulativen Philosophie einen ewigen Frieden verspricht […].« 12

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

Die Erfüllung all seiner Hoffnungen und Erwartungen befinden sich für Reinhold in einem einzigen Buch, nämlich der Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants von 1781 bzw. 1787; dies wird vor allem durch die Anspielung auf einen ewigen Frieden verdeutlicht, da die KrV etwaige Differenzen durch einen solchen Frieden beenden könne. Insofern jenes Hauptwerk allerdings von den meisten seiner Inspizienten nicht verstanden oder aufgrund von Unwissen hämisch belächelt wurde, verkündet Reinhold, dass er persönlich es für das größte aller philosophischen Werke halte, weil er dadurch von jedem Zweifel befreit worden sei. Das Hauptresultat der ursprünglichen acht Briefe über die Kantische Philosophie erschöpft sich vor allem in »Kants Aufdeckung eines moralischen Erkenntnisgrundes der Religion bzw. in dessen moralischer Begründung vom Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele«. – Die Tatsache, dass Reinhold dies als Endergebnis der KrV herausstellt, ist als charakteristisch für das aufklärerische Interesse, dem mit dem ersten Teil der Briefe über die Kantische Philosophie nachgegangen wird, zu bezeichnen. Denn diese sollen vorrangig eben nicht als Interpretation oder Kommentar zur KrV verstanden werden. Zudem argumentiert Reinhold dafür, dass die »Grenzen des Vernunftvermögens in Rücksicht auf Angelegenheiten der Religion unbedingt zu beachten sind« und dass Fragen nach der Eigenart von Vernunft mit einem Wink auf Kants Kritik an spekulativen Begriffen und ihrer Neuetablierung beantwortet werden. Im vierten Brief beschäftigt sich Reinhold zusätzlich zu den Hauptresultaten der KrV auch mit einigen Kantischen Aussagen zur Glaubensfrage, vor allem zum moralischen Vernunftglauben. Diese sollen innerhalb der Briefe vier bis acht dargestellt werden. Eine Antwort auf die Frage nach dem Dasein Gottes fällt Reinhold gemäß überwiegend positiv aus, weshalb es sich bei diesem Urteil um einen Ausspruch des gesunden bzw. gemeinen Menschenverstandes handeln muss. Die Vernunft – von Sinnlichkeit und Verstand unterschieden – hat stets ihren Anteil daran gehabt. Um ihr Vermögen vollständig entfalten zu können, braucht es sowohl für die Vernunft als auch für die Überzeugung vom Dasein Gottes einer vorhergehenden Klärung von »Sinnlichkeit« und »Verstand«. Es wird deutlich, dass Sinnlichkeit bzw. das sinnliche Erfahren von etwas von außen gegeben werden muss. Die Kritische Philosophie zeigt, dass die Vorstellung Gottes nur in der ganz und gar unsinnlichen Form von Vernunft bestimmt sein kann. 13

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

»Sinnlichkeit ist demnach die Rezeptivität des Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, insofern es affiziert wird, Verstand dagegen die Spontaneität der Erkenntnis bzw. das Vermögen«, welches selbst Vorstellungen zu erzeugen in der Lage ist – denn »[o]hne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Die Vernunft, als höchste Instanz, bringt den Gehalt der sinnlichen Anschauung unter die oberste Einheit des Denkens und ist allgemein als »Vermögen der Prinzipien« zu beschreiben. Mit der Fortentwicklung der Kultur sei das Bedürfnis nach einer auf Vernunft basierenden Antwort auf die Frage nach dem Dasein Gottes immer akuter geworden. Innerhalb der KrV zeigt Kant, dass sich alle bisherigen Gottesbeweise aus spekulativer Vernunft als unzureichend herausstellen lassen, wodurch ersichtlich wird, dass der Begriff eines absoluten Wesens wie Gott ein »reiner Vernunftbegriff bzw. eine Idee« sein muss. – In der KpV wird sodann ausgeführt, dass »es […] moralisch nothwendig [ist], das Dasein Gottes anzunehmen.«9 Die Frage nach einem Erkenntnisgrund für das Dasein Gottes wurde bisher von den vier philosophischen Hauptparteien jener Zeit einerseits bejaht, andererseits verneint, weshalb sich diese gegeneinander aufgebracht haben. Keine der Parteien, weder dogmatischer Skeptizismus oder Supernaturalismus, noch Atheismus oder dogmatischer Theismus, seien in der Lage, eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Dasein Gottes zu geben. Lediglich die Kritische Philosophie Immanuel Kants kann hier Abhilfe schaffen. Reinhold entwickelt seit 1788 eine eigene, das Postulat zum Dasein Gottes betreffende Überlegung, obgleich er mit Kant die Meinung teilt, dass Gott als unbedingte Vorstellung niemals Gegenstand der Erkenntnis werden könne, nämlich die sogenannte »Vier-Parteien-Theorie«. In dieser sind vier Hauptsätze zur Frage nach dem Gottesdasein gegeben, die einander entgegengesetzt sind; dadurch ergeben sich drei Parteien, die jeweils einer widersprechen. »Kants Position ist aus dieser Sicht die fünfte, die Frage des

9

Kant, Kritik der praktischen Vernunft (im Folgenden lediglich: KpV), 1968, AA V 226, 333. 14

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

Daseins Gottes am vollständigsten analysierende und am befriedigendsten beantwortende Partei.« Die neue, Kantische Theorie der reinen Vernunft hat eine bestimmte Gottesidee aus der theoretischen Vernunft heraus generiert, welche auf allgemeingültigen Prinzipien beruht, und dadurch innerhalb der praktischen Vernunft begründet, dass das unbegreifliche Dasein des Gegenstandes dieser Idee angenommen werden muss. Ein Gottesdasein muss daher auch praktisch bzw. aus der Moral heraus erwiesen werden. »Die Kantische Antwort leitet die Ueberzeugung vom Daseyn Gottes aus der Vernunft HER, und zum Glauben HIN.« Die Anforderung, Wissen und Glauben von der Existenz Gottes zu erlangen, sei bis dato noch nie in Bezug auf die allgemeine Überzeugung dieser Idee dargestellt worden, weil das eben Kant vorbehalten gewesen sei. Die Kantische Philosophie vereine die verschiedenen Forderungen nach Wissen und Glauben und führe durch moralische Vernunft dazu, letzteren notwendig zu machen, dadurch er jede Prüfung zu bestehen vermag. Im anschließenden, fünften Brief wird zu Beginn der moralische Vernunftglauben bestätigt, dessen Gehalt und Sicherheit im Sittengesetz gelegen ist – hierdurch distanziert sich Reinhold nochmals präzise von der bisherigen Glaubensmetaphysik. Die Religion werde durch die Revolution unzureichender Beweise nun einen einzigen, allgemeingültigen Erkenntnisgrund erlangen, der auf die Vereinigung von Religion und Moral abzielt, welche auf Vernunft basiert. Jesus Christus selbst habe die Religion zur Grundlage einer neuen moralischen Kultur gemacht, welche für alle Bedürfnisse gleichermaßen dienlich sein solle – daher wird diese bedeutende Figur von Reinhold hier mit Kant verglichen: »Der eine vergab nun seinen Feinden, […] [u]m des himmlischen Vaters willen, der seine Sonne über die Guten und Bösen aufgehen läßt, […] und erfüllte damit eine Pflicht, von deren Daseyn sich noch vor kurzem so mancher Moralphilosoph nichts träumen ließ. Der andere hingegen, den seine Philosophie wirklich zur Ueberzeugung von dieser Pflicht geführt hatte, traf nun in seiner Religion […] den Beweggrund an, den er der Widerspenstigkeit seines Herzens entgegen setzen konnte. – Auf diese Weise bildete das Christenthum im eigentlichsten Verstande Weltbürger […]. Seine eigentliche Bestimmung war also […]: [D]ie moralischen Aussprüche der 15

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Vernunft theils für den Verstand des gemeinen Mannes zu versinnlichen, theils dem Denker ans Herz zu legen, und folglich der Vernunft bey der sittlichen Bildung der Menschheit wohltätig an die Hand zu gehen.« Um Religion und Moral wiederzuvereinigen, müsse ein Erkenntnisgrund festgesetzt und verbreitet werden; dieser solle sowohl der philosophierenden Vernunft als auch dem gemeinen Menschenverstand begreiflich sein. Ebenso wie Jesus damals von der Religion ausgegangen sei, müsse nun der Fokus auf Moral liegen. Der Philosophie müsse es um eine Herleitung des »Beweisgrundes« der verkannten Religion aus allgemeingültigen Grundsätzen der Moral zu tun sein – ebenso, wie das Christentum seine »Beweggründe« zur Verbreitung von Moral aus der Religion geschöpft habe. Damit die Philosophie Religion nachvollziehbar auf Moral gründen könne, bedürfe es erstens einer Herleitung des Überzeugungsgrundes für die Existenz Gottes aus den Leitlinien des Sittengesetzes sowie zweitens einer Demonstration dieses moralischen Erkenntnisgrundes. Hierfür ist es unerlässlich, die Bedeutungslosigkeit von metaphysischen Beweisen darzulegen, was vor Erscheinen der KrV schlicht nicht möglich gewesen ist. Erst, wenn das Erkenntnisvermögen als solches innerhalb der KrV untersucht worden sei, könne sich herausstellen, dass aus der theoretischen Vernunft die Unmöglichkeit etwaiger objektiver Beweise für und gegen die Existenz Gottes folge, sowie aus der praktischen Vernunft die Notwendigkeit eines moralischen Glaubens an diese Existenz erbracht werde. »Aus dem bisher gesagten glaube ich zwar ohne Bedenken folgern zu dürfen, daß das Interesse der Religion, und namentlich des Christenthums, mit dem Resultate der Kritik der Vernunft vollkommen übereinstimme.« Allein der Vernunftglaube baue auf Data auf, welche der reinen Vernunft zuzuordnen seien und Religion müsse stets vom »Standpunkt einer Vernunftmoral« aus eingesehen bzw. aufgezeigt werden. Der sich inhaltlich anschließende sechste Brief greift diese Gedanken wieder auf und entwickelt sie weiter. Er vergleicht den Kantischen Vernunftglauben mit dem metaphysischen bzw. hyperphysischen Überzeugungsgrund. Hierbei gibt Reinhold zunächst an, dass der von Kant entwickelte Grund der Erkenntnis vorteilhaft sei, weil er aus der Vernunft abgeleitet wurde und sich nicht auf (über-)natürliche Erfahrung beziehen dürfe. Die Theorie der reinen Religion beruhe auf den Lehr16

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

sätzen der Vernunft, wobei man über grundlegende Begriffe der Vernunftreligion hinsichtlich des Erkenntnisgrundes vom Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele streite. »So wird die christliche Welt durch die Sätze: Die Vernunft kann das Daseyn Gottes NUR glauben – und: Die Vernunft ALLEIN kann wahre Ueberzeugung von Daseyn Gottes gewähren, in zwey Partheyen getrennt, die sich unter einander über Aberglauben und Unglauben anklagen.«10 Insofern sei die bisherige Metaphysik lediglich »Aggregat unbestimmter Sätze«, welches der wesentlichen Bedingungen, zu einem System zu gereichen, entbehre. Es wird ersichtlich, dass Reinhold darauf hinaus will, ein System statt eines solchen Aggregates zu errichten, wodurch eine gewisse Differenz zu Kant entsteht. Aus der Kritik der reinen Vernunft lasse sich per se ein solcher Erster Grundsatz ableiten, welchen die Metaphysik bis dato nicht bereitzustellen vermochte. Es wird jedoch – im Gegensatz zu Kantischen Ausführungen – für einen ersten Grundsatz sowie ein einziges, alles umgreifendes System plädiert. An dieser Stelle wird zwar die Kantische Einteilung eines Systems der Metaphysik übernommen, welchem die »vier Hauptbestandteile Ontologie, rationale Physiologie, rationale Kosmologie sowie rationale Theologie« entsprechen, nicht aber die Grundidee. In Bezug auf ein System der Metaphysik »auf moralisch-praktischer Grundlage« bezieht sich Reinhold auf den Zusammenhang von theoretischen und praktischen Ideen, der systemrelevant sei, möchte insgesamt aber ein einziges Prinzip zur Darstellung des gesamten Sachverhalts vorlegen. Der Grund für einen Vernunftglauben sei also der »moralische Erkenntnisgrund Kants«, weil gerade dieser als unerschütterlich bezeichnet werden könne, seine Evidenz aus der praktischen Vernunft hernehme und ihm insofern kein theoretischer Beweis korrespondiere. Kant zufolge nämlich sind Vernunftbegriffe reine Ideen und können keinen Gegenstand in irgendeiner Erfahrung haben. Sie werden lediglich problematisch gedacht, um »regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen«. Objektive Realität trete nur ein, wenn diese Ideen als praktisch bzw. als »Postulate 10 Reinhold, Briefe I, 2007, Sechster Brief, 167 f. 17

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

der praktischen Vernunft« verstanden werden, da praktische Ideen als vom Sittengesetz abgeleitet zu charakterisieren sind. Eine reale Idee ist insofern als eine zu realisierende Idee zu begreifen und der Gegenstand derselben als ein solcher zum praktischen Nutzen. Durch Sittlichkeit werde der moralische Vernunftglaube initiiert, was den einzigen Sinn preisgebe, der für Gott in Frage komme. Die Grundlage eines »moralischen Erkenntnisgrundes der Religion« entspringe der Unterscheidung zwischen den drei Epochen – »historische« »philosophische« und »moralische Religion« – deren erste hin zur letzten als aufsteigend betrachtet werden kann. Gehe man von der moralischen Religion aus, würden die Postulate von der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele so begriffen, dass sie eine historische Entwicklungsphase zu absolvieren hätten, welche aus Wundern und Tradition bestehe, um schließlich durch die Kantische Philosophie ihre moralische Bedeutung zu erlangen. Lediglich das »Evangelium des reinen Herzens« sei in der Lage, alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, was sich in den folgenden Briefen noch erschließen lassen werde. In den sich anschließenden Briefen sieben und acht beschäftigt sich Reinhold sodann mit bisherigen »Grundwahrheiten« der Religion, die umgestürzt werden sollen, um das Kantische Resultat als »Probe von der höchst auffallenden Fruchtbarkeit des moralischen Erkenntnisgrundes« geltend zu machen – nämlich, dass es der theoretischen Vernunft unmöglich sei, die Unsterblichkeit der Seele und das Gottesdasein aufzuzeigen. Dagegen werde die Erwartung eines zukünftigen Lebens durch praktische Vernunft notwendig, in welchem Sittengesetz und Glückseligkeit in Einklang sind. Zusätzlich soll hinsichtlich der bisherigen Menschheitsgeschichte dem Verhältnis jener beiden Postulate zueinander nachgegangen werden. Der oberste Grundsatz der Religionsphilosophie müsse aus reiner Vernunft deduziert werden. Dadurch werde ersichtlich, dass sich die Vernunft selbst zwei Glaubensartikel vorschreibe, was auf dem »Gefühle des moralischen Bedürfnisses« beruhe. Reinhold bezieht sich hier auch auf die Kantische Annahme, dass der Vernunftglaube hinsichtlich der beiden Glaubenspostulate auf einem Bedürfnis der moralischen Vernunft fuße, welches sich gegen theoretische Beweise sowie die Meinung, dass der moralische Glaube an diese Glaubensartikel als Pflicht zu werten sei, richte. Der Glaube an einen Gott und eine künftige Welt seien nämlich untrennbar mit moralischer Überzeugung verknüpft. Trotzdem weicht Reinhold, wie 18

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

bereits angedeutet, in gewisser Weise vom Kantischen Fundament ab, insofern er einen einzigen, höchsten Grundsatz aufzustellen versucht, von dem alles Weitere abgeleitet werden soll bzw. kann. Über diesen ist bei Kant selbst allerdings nichts zu finden. Ob er einen solchen Ansatz befürwortet hätte, ist also mehr als fragwürdig, wird aber an späterer Stelle im Text genauer zu thematisieren sein. Kant hat innerhalb der Dialektik der KrV expliziert, dass etwaige theoretische Gottesbeweise unmöglich sind, was er beispielhaft am ontologischen, kosmologischen und theologischen Gottesbeweis festmacht und ebendiese als unzureichend enttarnt. Sein Fazit hierzu lautet, dass unser Bewusstsein zwar die Idee Gottes a priori generiert, nicht aber zu erkennen vermag, weil dieser Idee kein Sein zuerkannt werden kann – denn »Sein« kann stets nur durch sinnliche Wahrnehmung erfahren werden. Insofern ist es Kant zufolge zwar durchaus möglich, dass Gott existiert, dessen Existenz kann allerdings in keiner Weise und zu keiner Zeit tatsächlich bewiesen werden. Folglich deutet Reinhold den bisherigen Werdegang der Vernunft an, welcher als andauerndes Problem beschrieben wird, bevor eine Selbsterkenntnis der Vernunft erfolgt. »Die ersten Beschäftigungen der Philosophie mit der Religion betrafen die Eigenschaften der Gottheit und die Beschaffenheit des zukünftigen Lebens. Sie setzten also das Daseyn von beyden voraus. […] Allein so wie ihre Ueberzeugungen die Folge eines gefühlten, und auf unentwickelte Begriffe gegründeten Bedürfnisses war; so waren auch ihre Irrthümer über den Gegenstand ihrer Ueberzeugungen nicht nur möglich, sondern vor der Entwicklung jener Begriffe unvermeidlich. […] Die Entdeckungen, die man auf dem Wege der Vernunft über den Gegenstand des Glaubens gemacht hatte, wurden auf den Grund des Glaubens in eben dem Verhältnisse übertragen, als mit der Kultur des Geistes einerseits die Evidenz jener Entdeckungen, andererseits aber das Bedürfniß zugenommen hatte, sich über den Grund des Glaubens Rechenschaft zu geben. […] [So] schloß man von den Attributen der Gottheit in der Idee auf das Daseyn derselben im Objekte, unterschob den Gegenstand des Wissens dem Gegenstande des Glaubens, und glaubte von dem letztern bewiesen zu haben, was eigentlich nur von dem ersteren gelten konnte.« 19

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Anschauung, derer die Vernunftideen entbehren, müsse in jedem Fall mittels eines durch Vernunft selbst gegebenen Glaubens vertreten werden. Sonst gäbe es lediglich Wunder oder auch Geheimnisse, welche der Vernunft das Recht entziehen, sich bei religiöser Überzeugung als erste Fraktion äußern zu dürfen. Deshalb habe man sich am Begreiflichen orientiert, wodurch die »theologischen Ideen der reinen Vernunft« nahezu vollständig hin entwickelt worden seien und lediglich durch den Einfluss der KrV bereichert werden könnten. »Kant hat unwidersprechlich dargethan, daß der Begriff des Daseyns ursprünglich ein Stammbegriff des Verstandes ist, der ohne mögliche Anschauung im Raume […] und in der Zeit […] für unser Erkenntnisvermögen ohne Gegenstand ist.« Der Begriff vom Gottesdasein sei von Einigen »mit Ausschluss aller Anschauung«, von Anderen »mit Inbegriff der Anschauung« angenommen worden. Die KrV stehe zwischen beiden und zeige auf, dass die Idee eines unendlichen Wesens wie Gott nicht vom theologischen Vernunftbegriff zu trennen sei, der dem Begriff des erkennbaren Daseins in untrennbarer Anschauung widerspricht. Demzufolge könne die Unmöglichkeit der Anschauung nichts gegen »die Möglichkeit und Wirklichkeit des Gegenstandes dieser Idee an sich« und der Vernunftbegriff ohne Anschauung nichts für »die Wirklichkeit dieses Gegenstandes« belegen. Insofern könnten die Parteien lediglich »der praktischen Vernunft Gehör […] geben, die sie zu glauben nöthiget, was sie nicht begreifen können.« Diese Nötigung besteht Kant zufolge in einer moralischen Notwendigkeit, nur Sätze über die Existenz Gottes sowie zur Unsterblichkeit der Seele aus dem Sittengesetz heraus zu postulieren. Schlussendlich gebe es drei Elemente religiöser Überzeugung, nämlich den notwendigen Vernunftbegriff bzw. »die metaphysische Idee von Gott, die Unbegreiflichkeit des göttlichen Daseins« und die Grundlage für einen notwendigen, moralischen Glauben innerhalb der praktischen Vernunft. Diese Elemente helfen gemäß Reinhold dem Menschen dabei, an das schlechthin unerkennbare Dasein Gottes zu glauben, sofern dieser Glaube lediglich durch die Vernunft begründet werden könne. Der achte Brief nun, welcher sich bereits durch den Titel »Das Resultat der Kritik der Vernunft über das zukünftige Leben« inhaltlich direkt anzuschließen vermag, wiederholt zunächst, dass der oberste Grundsatz der Religionsphilosophie von Kant innerhalb der praktischen Vernunft verortet worden ist. Durch ihn werde die Erwartung eines künftigen Lebens und der »Glauben an das Daseyn eines höchsten Prinzips der sitt20

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

lichen und natürlichen Gesetze nothwendig«, da göttliche Gebote gerade deshalb als solche angesehen werden, weil sie für uns innerlich verbindlich sind, wie Kant es in der KrV auszudrücken vermag. Die Absicht dieses Briefes ist demnach darzulegen, dass der einzige Überzeugungsgrund das künftige Leben betreffend auch durch die Entwicklung des menschlichen Geistes initiiert werden könne, wovon abhänge, ob Religion auf Moral gegründet werden könne. Denn den beiden Postulaten komme ein innerlicher Zusammenhang zu, wodurch sich deren Sätze nahezu immer aufeinander beziehen ließen. »Die beyden Glaubensartikel der praktischen Vernunft sind durch ihre Natur, ihren Ursprung, und ihre Schicksale so innig vereinigt, daß sich fast alles, was in diesen Rücksichten von dem Einen gilt, auch auf den Anderen anwenden läßt.«11 In einem weiteren Schritt spaltet Reinhold das Interesse am Postulat vom künftigen Leben in sinnliches sowie moralisches und bekundet, dass diese beiden sich »wie Instinkt und Vernunft« bzw. wie sinnlicher Trieb und moralisches Interesse zueinander verhalten. Letzteres entstehe aufgrund der Notwendigkeit, »[…] welche die Vernunft in der ursprünglichen Einrichtung ihrer Natur antrifft, zum Behuf der moralischen Gesetzgebung eine Welt anzunehmen, in welcher Sittlichkeit und Glückseligkeit in der vollkommensten Harmonie stehen, und wo der Gegenstand der beyden vereinigten nothwendigen Triebe der menschlichen Natur, die durch vollkommenste Sittlichkeit bestimmte höchste Glückseligkeit, oder das höchste Gut des menschlichen Geistes, durch ein endloses Fortschreiten und Annähern erreichbar ist.« Nach Reinhold fordere das Sittengesetz unbedingte Achtung und gebe der Erwartung eines künftigen Lebens Notwendigkeit; durch diese könne geschlossen werden, ob die Fortdauer des Daseins Wirklichkeit werden könne. Zwar seien beide Arten von Interesse – sinnlich und moralisch – im menschlichen Vorstellungsvermögen gelegen und würden notwendig, doch müsse das moralische Gefühl als Element einer historischen Abstufung der Moral selbst vorausgehen. Moralisches Interesse an einem zukünftigen Leben könne erst dann tatsächlich erfasst 11

Reinhold, Briefe I, 2007, Achter Brief, 211 f. 21

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werden, wenn die Gottesidee »an der Morgendämmerung des moralischen Gefühls« begreiflich sei und die Menschen mehrere Erfahrungen bezüglich der Begriffspaare »Recht und Unrecht«, »gute und schlechte Handlungen« oder »Lohn und Strafe« gemacht hätten. Zuvor nämlich seien Segen und Fluch lediglich als Lohn bzw. Strafe eines unsichtbaren Richters begriffen worden, wodurch Gott den Menschen weitestgehend unzugänglich und fremd gewesen sei. Eine solche Erwartung von Lohn und Strafe habe jedoch nur Bestand, wenn auch wirklich ein Richter existiere, wodurch künftige Belohnungen oder Strafen als einzige Anhaltspunkte zu charakterisieren seien, unter denen man sich ein Fortleben nach dem Tod erklären könne. Der metaphysische Begriff entstand erst später. Durch diesen wurde schließlich die Überlegung, einen unsichtbaren, künftigen Richter anzunehmen, der erst nach dem Tod über das Eintreten in den Himmel oder die Hölle entscheidet, immer unumgänglicher. Es gehe demnach um den Begriff eines guten oder schlechten Schicksals nach dem Tod, das von einer gezielten Hinwendung zum Sittlichen – und zwar vor dem Tod – abhängig sei. »Die ersten Offenbarungen der Propheten sowohl, als die ersten Untersuchungen der Philosophen betrafen bloß die BESCHAFFENHEIT des zukünftigen Lebens. Sie setzen also die WIRKLICHKEIT desselben voraus. Diese Voraussetzung hatte keinen andern Grund, als die in der Form der praktischen Vernunft bestimmte Nothwendigkeit, zukünftige Belohnungen und Strafen anzunehmen. […] Allein, gleichwie die Beschäftigungen des menschlichen Geistes bey dieser wichtigen Angelegenheit mit der Voraussetzung der Wirklichkeit, und der Untersuchung der Beschaffenheit des zukünftigen Lebens BEGANNEN, eben so werden sie sich vermittelst der kritischen Philosophie mit der Ueberzeugung ENDIGEN, daß jene Beschaffenheit nur durch Vernunft denkbar, keineswegs durch Verstand und Sinnlichkeit erkennbar, und jene Voraussetzung eben so rechtmäßig als nothwendig seyn und bleiben müsse.« Schließlich müsse man der Vernunft zugestehen, sich hinsichtlich des künftigen Lebens als erste Fraktion äußern zu dürfen, denn die moralische Notwendigkeit könne nur dann neben einer von außen heran22

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

tretenden Nötigung Bestand haben, wenn der Grund für die Erkenntnis eines künftigen Lebens unmittelbar auf Moral gebaut werde. Der darauffolgende neunte Brief beschäftigt sich alsdann mit der Erörterung des metaphysischen Erkenntnisgrundes der Unsterblichkeit der Seele, der jedoch noch genauer differenziert werden müsse, und führt die zentralen Ideen des vorherigen fort. Für die moralische Religion sei eine Betrachtungsweise der Vernunftgründe unentbehrlich sowie der moralische Glaube ganz und gar auf diesen Gründen errichtet sein müsse. Denn, wie Kant schreibt, »[…] da ist es schlechterdings notwendig, daß etwas geschehen muß, nämlich, daß ich dem sittlichen Gesetze in allen Stücken Folge leiste. Der Zweck ist hier unumgänglich festgestellt, und es ist nur eine einzige Bedingung nach aller meiner Einsicht möglich, unter welcher dieser Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt, und dadurch praktische Gültigkeit habe, nämlich, daß ein Gott und eine künftige Welt sei: ich weiß auch ganz gewiss, daß niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit der Zwecke unter dem moralischen Gesetz führen. Da aber die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist […], so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben […].« Der Gebrauch jener »Idee der unausgedehnten Substanz des vorstellenden Wesens« bzw. »psychologischen Vernunftidee« solle geschützt und begünstigt werden, weil die religiösen Grundwahrheiten eines künftigen Lebens dadurch gegen Materialisten und Spiritualisten verteidigt würden. Die Vernunft mache »durch die notwendige Vorstellung einer unausgedehnten, vorstellenden Substanz lediglich deutlich, dass es unmöglich sei, das Subjekt einer Vorstellung als etwas anzunehmen, das sich nur durch den äußeren Sinn«, also durch Anschauung, darlegen lasse. Laut Kant hat die Einfachheit einer Seele bzw. des denkenden Ich per se »nichts mit Erkenntnis zu tun«, da sie unter keine Kategorie zu bringen ist. Allerdings kann sie »mit dem als psychologische Idee verstandenen Begriff der Einfachheit des denkenden Ich« verbunden werden. »Beyde Gegner [,Materialisten und Spiritualisten,] haben es alsdann mit der Seele als einem Dinge an sich zu thun; über dessen Natur […] ihr Streit ewig fortdauern muß.«12 12 Reinhold, Briefe I, 2007, Neunter Brief, 238 f. 23

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Der einzig richtige Sinn der psychologischen Vernunftidee ist im moralischen Erkenntnisgrund gelegen, wodurch der hinreichende Grund, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, in der praktischen Vernunft verankert sei. Ebendiese bedarf lediglich des Beweises von Seiten der theoretischen Vernunft, dass die Seele nicht zerstört werden könne und insofern vom Körper zu differenzieren sei. Kant schreibt in der KrV zur Seele als Vernunftbegriff: »Die Vernunfbegriffe sind, wie gesagt, bloße Ideen und haben freilich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung, aber bezeichnen darum doch nicht gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände. […] Die Seele sich als einfach denken, ist ganz wohl erlaubt, um nach dieser Idee eine vollständige und nothwendige Einheit aller Gemüthskräfte, ob man sie gleich nicht in concreto einsehen kann, zum Princip unserer Beurtheilung ihrer inneren Erscheinungen zu legen.«13 Leider sei der ausschlaggebende Unterschied zwischen Vorstellungen der Vernunft (Ideen), des Verstandes (Begriffe) sowie der Sinnlichkeit (Empfindungen bzw. Anschauungen) bis dato in Gänze verfehlt worden und die gesamte Sinnlichkeit nichts als eine falsche Vorstellung der Dinge. Insofern bezieht sich Reinhold in einem nächsten Schritt auf die Kantische Auffassung der transzendentalen Idealität, aus der sich ergebe, dass Raum und Zeit als Bedingungen der sinnlichen Anschauung zu charakterisieren seien und nicht als Dinge an sich selbst begriffen würden. Daraus ergebe sich sodann erstens, dass lediglich die Substanz als im Raum imaginabel und damit ausgedehnt dargestellt werden könne; zweitens, dass »das durch den inneren Sinn Anschauliche und […] Erkennbare« nur Vorstellung sein kann, sofern es sich um eine Empfindung handele; drittens, dass das »vorstellende Subjekt« nicht als Substanz erkennbar sei, weil es nicht besehen werden könne; viertens, dass das vorstellende Subjekt nicht als ausgedehnt eingeführt werden dürfe; fünftens, dass eben dasselbe »als Substanz nicht durch den Verstand, […] sondern lediglich durch Vernunft, im Selbstbewußtseyn vorgestellt werden könne«; sechstens, dass dieses nur dann einfach sein könne, wenn es durch Ver13 Kant, Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden lediglich: KrV; wenn nicht anders angegeben, jeweils nach Ausgabe B, AA III zitiert), 1968, A 771 / B 799, 503. 24

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

nunft imaginabel sei und siebentens, dass »das vorstellende Subjekt, als so genannte denkende Kraft, eben so wenig erkannt werden könne«. Wenn alle Ergebnisse korrekt seien, wäre der Streit für alle Zeit beigelegt. Dieser nämlich habe sich lediglich aufgetan, weil bestimmte Merkmale vorstellbarer Dinge auf Dinge an sich übertragen und damit missverstanden worden seien. Insofern sei klar, dass der »metaphysische Erkenntnisgrund« für ein künftiges Leben dem »moralischen« weichen müsse. Reinhold bezieht sich in seiner Darstellung auf die Ergebnisse jener beiden Paralogismen der KrV, dessen erster für den Bereich des Denkens besagt, dass das »denkende Ich« lediglich als begleitendes Bewusstsein aller Begriffe verstanden werden kann und dadurch »eine leere Vorstellung logischer Funktionen« ist. Dessen zweiter besagt, dass das »denkende Ich einfach, unkörperlich und unausgedehnt« ist. Folglich soll dargelegt werden, was notwendig »aus den Merkmalen der Substanz, des Einfachen und der Denkkraft« in Bezug auf eine »religiöse Grundwahrheit vom zukünftigen Leben« gefolgert werden müsse. Die gute Einwirkung von Religion auf Moral nehme Reinhold gemäß nun dadurch ab, dass die Aufklärung zunehme, wobei er hier von der seit Descartes vertretenen und bei Kant vorherrschenden Deutung des Seelenbegriffs als »cogito« oder »vorstellendes Subjekt« ausgehe. Ebendieses sei als reines Denken bzw. als Erkenntnis charakterisiert, »dass ich denke und als Denkender bin«. Dem »Ich«, welches ohne Prädikat auftrete und als »Etwas = x« von Kant beschrieben werde, könne weder Selbstanschauung noch eine Substanz zugeschrieben werden. Insofern stellt sich Reinhold gegen die Betrachtungsweise von Descartes, dass die Seele erkennbar sei und als Substanz, welche als Kategorie begriffen wird, auftreten könne. Außerdem soll damit hinsichtlich des Verhältnisses von Körper und Geist kundgetan werden, dass dieses ausschließlich durch den Kantischen Begriff des Erkenntnisvermögens widerspruchsfrei erläutert werde. Der nun folgende zehnte Brief soll herausstellen, dass durch die »Geschichte des psychologischen Vernunftbegriffs« eine Begründung für etwaige Verfälschungen gegeben werden könne. Reinhold gemäß gehören Betrachtungen zur Differenz von Seele und Körper zu den ältesten Fortentwicklungen des menschlichen Geistes und seien schon zu Beginn aller philosophischer Überlegung deutlich hervorgetreten. Durch das Auftreten der Vernunft müsse das »vorstellende Ich« von »jedem vorgestellten Gegenstand« (v. a. vom Körper) differenziert werden, da alle 25

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Vorstellungen in uns – als den inneren Sinn betreffend – dem »Ich« als Subjekt anhaften. Der Körper aber sei zu den Dingen des äußeren Sinns zu zählen, insofern er in der Anschauung gegeben sei. Vor aller philosophischer Betrachtung habe man noch keine Einigung darüber erzielt, worin ebendieser Unterschied zwischen dem »Ich« und dem »Körper« bestehe. Aus diesem Grund sei ein solcher zwar schlicht angenommen, nicht aber näher hinterfragt worden. Die »psychologische Idee« habe lange Zeit unvollendet unter der Anweisung des Vorstellungsvermögens hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Gestalt Bestand gehabt. Erst die KrV gibt darüber Aufschluss, dass das Subjekt der Prädikate des inneren Sinns niemals durch Prädikate des äußeren Sinns dargestellt werden könne. »Ungefähr wie die Lichtstrahlen den Körpern die Farben gaben, auch bevor sie Newton bey dieser wohlthätigen Wirkung ausgespäht hat: so haben die Gesetze unsers Vorstellungsvermögens, die durch die psychologische Idee ausgedrückt werden, die Unterscheidung zwischen Seele und Körper verursacht, auch bevor sie Kant in dieser Eigenschaft entdeckt hat. Und wie man vor Newton das Licht mißverstanden hat, […] so verkannte man vor Kant die Vernunft in ihrer psychologischen Idee, indem man die in der Beschaffenheit des Vorstellungsvermögens gegründeten Regeln […] auf die Substanz der Seele als Ding an sich übertrug, und der Vernunft nichts weiter einräumte, als das Vermögen, jene Regeln, die doch ganz ihr eigenes Werk sind, von dem Dinge an sich, als innere Beschaffenheit desselben, zu abstrahiren.«14 Durch die KrV sei letztlich eine Differenzierung zustande gekommen, die dem Verwechseln von Seele und Körper entgegengesetzt werden könne und damit aufzeigt, dass die auf Moral gebaute Hoffnung auf ein künftiges Leben nicht durch den Tod eines Menschen widerlegt werden kann. Das Bestreben des Briefes ist es, diese Unterscheidungen kundzugeben um aufzuzeigen, inwieweit die Ergebnisse der Kantischen Philosophie mit denjenigen der Geschichte derselben überhaupt zusammenzubringen sind.

14 Reinhold, Briefe I, 2007, Zehnter Brief, 266 f. 26

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

Der besagte Unterschied von Seele und Körper sei der Fantasie selbst überlassen worden, sofern unter einem Prädikat »nichts Beharrliches im Raume«, also kein Bild verstanden werden kann, wodurch das »vorstellende Subjekt« sich selbst anschauen hätte können – obgleich ein solches Bild zentral und unverzichtbar sei. Dasjenige der Seele werde demnach von der Fantasie selbst entwickelt, dasjenige des Körpers dagegen in der äußeren Anschauung gegeben. »So viel mußte sie den Forderungen der Vernunft einräumen, daß dieses Substratum unsichtbar seyn müßte, weil es von dem Leibe verschieden seyn sollte. […] Die Phantasie suchte und fand also an dem einzigen damals bekannten unsichtbaren Körper – der Luft – das verlangte Bild; und so wurde das Subjekt des Lebens (anima) zum unsichtbaren und nur durch seine Wirkungen erscheinenden Körper, zur luftartigen Substanz (spiritus).«15 Nachdem Reinhold die Geschichte der Idee eines Geistes hier nur schemenhaft umreißt, soll der sich anschließende, elfte Brief einen »Schlüssel zur rationalen Psychologie der Griechen« an die Hand geben und ebendiese Idee eines Geistes breiter auslegen. Er ist davon überzeugt, dass die Uneinigkeit über das Wesen des Vorstellungsvermögens bereits bei den alten Griechen vorhanden gewesen sei und sich bis in seine Zeit erstrecke. Im Großen und Ganzen hätten sogar die besten Schulen des antiken Griechenlands entweder den bedeutenden Unterschied der Elemente des Vorstellungsvermögens oder aber das ausschlaggebende Verhältnis derselben zueinander falsch interpretiert. Erst Kant habe ein missverstandenes Element des Vorstellungsvermögens entdeckt, die sogenannte »reine Sinnlichkeit«. Dieser Begriff sei von demjenigen der Substanz notwendig abzuspalten und dürfe selbst lediglich Merkmale enthalten, welche die »Sinnlichkeit als […] Bestandteil des bloßen Vorstellungsvermögens« bezeichnen. Es müsse aber Einigkeit darüber herrschen, dass Sinnlichkeit als Bestandteil des Vorstellungsvermögens zu werten sei.

15 Reinhold, Briefe I, 2007, Zehnter Brief, 271. 27

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

»Der Grundbegriff der Sinnlichkeit, den die Kritik der Vernunft aufstellt, bezeichnet die Sinnlichkeit als Bestandtheil des bloßen Vorstellungsvermögens, und folglich in einem Sinne, in welchem sie von keiner Parthey bestritten wird […]. Die Rechte des Sprachgebrauchs, der durch das Wort Sinnlichkeit bisher ein Vermögen des Gemüthes bezeichnet hat […] und die Ansprüche der philosophirenden Vernunft […] lassen sich sehr natürlich vereinigen; wenn man die Sittlichkeit in der ersten Bedeutung die Empirische, in der zweyten aber mit Kant die Reine nennt. […] Die reine Sinnlichkeit ist das Vermögen des Gemüthes, durch die Art, wie die Empfänglichkeit desselben afficirt wird, zu Vorstellungen zu gelangen, und unterscheidet sich wesentlich vom Verstande, oder dem Vermögen, durch die Art, wie die Thätigkeit des Gemüthes handelt, zu Vorstellungen zu gelangen. […] Diesem Resultate gemäß muß alles Erkennbare, in wie ferne es anschaulich werden soll, die Form der Anschauung im Gemüthe annehmen, und kann daher nicht als Ding an sich, sondern nur als Erscheinung erkannt werden; als Erscheinung des äußeren Sinnes, als etwas den Raum – als Erscheinung des inneren Sinnes, als etwas die Zeit erfüllendes; als Körper außer uns – und als Veränderung in uns.« Die Differenz zwischen Verstand und Sinnlichkeit sei bisher einerseits als zu gering, andererseits als zu groß dargestellt worden, weil man den »innern Sinn mit dem Verstande verwechselte« oder den »äußern Sinn vom Vorstellungsvermögen auf den Körper übertrug«. Die »sinnliche Anschauung« wird bei Kant mittels der Formen »Raum und Zeit« als »innere und äußere« sowie zudem als »reine sinnliche Anschauung« eingeführt, dadurch sich gemäß Reinhold ein förderlicher Zusammenhang von »Verstand und sinnlicher Anschauung« vorstellig machen lässt. Dadurch entstehe aufgrund der gemeinsamen Wesenszüge zwischen beiden eine Einheit als »nicht-empirisch[e] Erkenntnisbedingung«. »Von den weiteren Schicksalen dieser Idee, die bis auf die Zeiten des Descartes […] gleichwohl keine einzige neue wesentliche Bestimmung ihrer Merkmale erhielt, habe ich zu meiner gegenwärtigen Absicht nichts, dafür aber Einiges von ihrem Einflusse auf Religion und Moralität, der ein halbes Jahrtausend nach dem Plato so allgemein und so entscheidend geworden ist, in meinem nächsten Briefe zu sagen.« 28

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

1.4 Darstellung zentraler Inhalte des Briefes XII hinsichtlich des Aufsatzes »Skizze einer Theogonie des blinden Glaubens« von 1786 Der finale zwölfte Brief nun besteht zu einem Drittel aus einer bearbeiteten Fassung des Aufsatzes Skizze einer Theogonie des blinden Glaubens, wurde allerdings zum Großteil neu verfasst. Das Konzept, unter welchem Reinhold die Menschheitsgeschichte begreift, wird hier ähnlich wie im sechsten Brief als »allmählicher Uebergang aus der Herrschaft des bloßen Instinktes zur Selbstbeherrschung durch Vernunft« verwendet. Entscheidend ist auch, dass Reinhold zunehmend die »Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung durch Vernunft« fokussiert. »Auch bedarf es […] keines weiteren Beweises mehr, daß die moralischen Anlagen zu ihrer Entwicklung und höheren Ausbildung eben derselben unvollkommenen Einrichtungen und mißverstandenen Begebenheiten des bürgerlichen Lebens bedurften, die in Rücksicht auf das Gute an den Einen, und das Wahre an den Andern durch den unerkannten Einfluß jener Anlagen veranlaßt wurde; daß sich die Spuren der Moralität und Religion an politischen Gesetzen, und übernatürlichen Thatsachen äußern mussten; und daß daher das Positive an den Gesetzgebungen und Religionssystemen auch sogar in der Eigenschaft der Erkenntnißquelle der menschlichen Rechte und Pflichten in diesem, und des Grundes der Hoffnung für ein zukünftiges Leben eben so unentbehrlich als unvermeidlich war. […]«16 Das menschliche Interesse an sich werde ebenso lange unbegreiflich bleiben und die »Befriedigung der eigennützigen Triebe« für das einzige Objekt desselben gehalten, bis die praktische Vernunft sich »ihrer Selbsttätigkeit« bewusst sei. Insofern müsse das Problem »ewigen Friedens« und einer makellosen Staatsverfassung zuerst gelöst werden, um eine Moralkultur aller Bürger erreichen zu können. Eine solche Gesinnung aber werde sich erst entwickeln, wenn daraus für alle Menschen ein Vorteil entstehe. Dadurch werde eine oberste, rechtlich bedingte Regel hinsichtlich der staatlichen Gesetzgebung sowie in Bezug auf mora-

16 Reinhold, Briefe I, 2007, Zwölfter Brief, 332 f. 29

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

lische statt politische Triebfedern für Menschen im Sinne von Weltbürgern geschaffen. Reinhold bekundet, dass die Menschheitsgeschichte als Progress zu einer moralisch basierten, »politisch-rechtlichen Verfassung« der verschiedenen, zeitlich voneinander abzugrenzenden Staaten in sich sowie gegenseitig betitelt werden dürfe. Doch werde die »Erkenntniß des reinen Sittengesetzes« sowie einer Vernunftreligion erst nach einer gewissen Zeit eintreten. Der Polytheismus beschließe das periodische Ende der »politischen Kultur der Menschheit«, wohingegen durch das Christentum die »Periode der moralischen« Kultur initiiert werde. Jesus Christus nämlich habe als erster Mensch die Religion ihrem natürlichen Wesen nach errichtet, indem sie von der Politik abgesondert und direkt auf Moral bezogen worden sei. »In wie ferne also Christus die Religion mit reiner Moralität verknüpft hat, in so ferne hat er sie auf ihre zwey eigentlichen Grundwahrheiten zurückgeführt; nämlich auf die Ueberzeugung erstens vom Daseyn einer von der Welt verschiedenen und moralischgesinnten Ursache der Welt; zweytens von einem zukünftigen Leben, in welchem das äußere Schicksal der Menschen nach dem Maßstab ihrer Sittlichkeit bestimmt ist.« Dadurch, dass in der Epoche der »moralischen Kultur die christliche Tugend durch den Despotismus der Priester« verdrängt und das Sittengesetz derart verkannt worden sei, trete der Wunsch nach einem von der »moralischen Gesinnung verschiedenen Ueberzeugungsgrund« ein, nämlich Einblicken über etwaige Eigenschaften desselben sowohl innerhalb als auch außerhalb der Vernunft nachzugehen. Weil nun aber alle menschlichen Triebe innerhalb des Christentums für böse bzw. schlecht gehalten worden seien, habe dies lediglich einen anhaltenden Kampf zur Unterdrückung dieser Triebe bezweckt und die Menschen zu ewiger Buße verdammt, weil sie Angst vor einem künftigen Richter haben. Diese Furcht vor dem Übernatürlichen haben die Menschen durch Besänftigung mittels freiwilliger Gaben oder Schmerzen versucht loszuwerden. Da durch Gott unmittelbar alles bewirkt worden sei, was über die Natur hinausgehe und insofern als transzendent zu charakterisieren ist, sei seinem Willen schließlich lediglich dasjenige entsprechend, 30

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

was tatsächlich über die Natur hinausgehe und den Menschen Schmerz und Bemühungen zufüge. Der moralische Widerspruch zwischen Gott und Mensch sei vom Willen »auch auf die denkende Vernunft« übertragen worden, wodurch man der Vernunft und dem Willen lediglich durch Mysterien beistehen könne und ihre Renitenz gegen den unbegreiflichen Willen Gottes lediglich »durch blinden Glauben« in Schranken gewiesen werde. Insofern scheint für Reinhold das Ergebnis der Menschheitsgeschichte im stufenweisen »Uebergang aus der Herrschaft des bloßen Instinktes zur Selbstbeherrschung durch Vernunft« zu bestehen. Viel zu lange sei das »unentbehrliche Ideal der höchsten Vollkommenheit verdrängt« worden, welches nur durch »reine Vernunft« und das Erringen vernunftgeprägter Selbsterkenntnis erlangt werden könne. So wird endlich eine neue Epoche für die Menschheit beginnen, in welcher sich unendliche Macht und Güte »als reines Ideal der höchsten Vollkommenheit« zeige und zur »Grundregel« der Vernunft gereiche. Letztlich soll demnach eine politisch konnotierte Form der Moral auf den Weg gebracht werden, die sich auf vernünftige Einsichten und ein Allgemeininteresse beziehe. Dasjenige, was innerhalb der Gesetzgebungen bereits als positiv zu werten sei, müsse im Sinne dieser Moral abgeändert werden und eine »reine, moralische Lehre« solle diesem Positiven gegenüber mehr Geltung erlangen. Für eine solche moralische Religion komme gemäß Reinhold lediglich das anfängliche Christentum in Frage, nämlich die »Lehre und moralische Gesinnung Christi«. Die Lösung aller vorstelligen Probleme liege in der Errichtung eines »Evangelium[s] der reinen Vernunft«, welches alle vorherigen Irrtümer aufzulösen und die Willensfreiheit des Menschen überhaupt im Gegensatz zu einem göttlichen Willen zu behaupten vermöge. Damit sei die Verkündigung der Philosophie Kants mit der »Erwartung eines neuen Zeitalters« gleichzusetzen, wie Bondeli (2007) feststellt. »So stellt die Stärke der entwickelten Vernunft allein die Harmonie des Menschen mit der Gottheit wieder her, welche durch die Schwäche der unentwickelten Vernunft auf immer aufgehoben schien.«

31

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

1.5 Abschließende Interpretation des Ersten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie Allein der letzte Satz vorliegender Briefe über die Kantische Philosophie beschreibt, dass die menschliche Harmonie durch die Kraft jener entwickelten Vernunft, gestärkt mittels etwaiger Ansätze der Kantischen Philosophie, zu Tage treten kann. Abschließend sollen nun diesbezüglich und in Kürze die vorgetragenen Resultate interpretiert und hinsichtlich Kantischer Gedanken und dessen philosophischer Kernstrukturen ausgewertet werden. Augenscheinlich wird vor allem, dass Reinhold – als wohl erster Rezipient der Kantischen Philosophie – nicht lediglich die Abbildung und Ergänzung der Kantischen Philosophie, sondern vielmehr ein »Aufklärungsvorhaben« und die Vertretung einer bestimmten Art des Kantianismus vor Augen hatte, als er seine Briefe über die Kantische Philosophie verfasste. Dieses Aufklärungsziel entwickelte sich nach 1789 zusätzlich zu einem Revolutionsziel. Von den seiner Meinung nach wichtigsten Ergebnissen, die er einem möglichst breiten, gelehrten Publikum zugänglich machen wollte, begab er sich zu »noch unentdeckten Prämissen«, um den Ausbau der Kantischen Philosophie zu erwirken und diese hinsichtlich des bestehenden Verlangens nach einer Erneuerung zu illustrieren. Reinhold selbst tritt hier als gewisser Friedensstifter zwischen den sich ewig »streitenden philosophischen und religiösen Parteien« auf, indem er seine Resultate anzuwenden vermag. Auch gewinnt Reinhold eine »vertiefte Vorstellung von reiner, moralisch-vernünftiger christlicher Religion«, worauf Anwendungsbereiche wie »Geschichte, Ästhetik, Moral und Naturrecht« ausgelegt sind. Die umfangreiche Beschäftigung mit der Kritik der reinen Vernunft stellte für Reinhold zunächst die Erlösung aus seiner persönlichen Glaubenskrise dar, wobei er schon sehr früh eine Philosophie der praktischen Vernunft vertrat. Diese nützte dazu, etwaige Streitereien die Religion betreffend durch eine Vereinigung aufzuheben, wodurch es entscheidend werden sollte, die Prinzipien der Vernunft zu vereinigen. Die theoretische Vernunft nämlich kann den Grund für eine Erkenntnis Gottes nicht darstellen. Insofern ist lediglich die praktische Vernunft zur Grundlegung eines solchen Glaubens an Gott in der Lage. Die Kantischen Resultate werden nicht ausschließlich an die Bedürfnisse seines Zeitalters geknüpft, sondern auch und vor allem an Fragen der Religionsphilosophie. Die »Wiedervereinigung von Religion und 32

Reinholds erste Rezeption der kantischen Philosophie

Moral« setzt auf eine solche Art und Weise ein, dass Kant und Jesus Christus zu vergleichbaren Personen innerhalb der Geschichte des Geistes erhoben werden, da Reinhold in einer moralischen Religion Kantischen Zuschnitts die legitime Fortführung der Lehre Christi sieht. Wichtig ist hierbei vor allem, dass Reinhold die Philosophie Kants in Bezug auf Religion herausarbeitet. Dabei will er jedermann von seiner Vorstellung überzeugen, dass dies lediglich durch eine Begründung der Philosophie auf einem einzigen Prinzip zu leisten ist. Die Vorstellung deutet sich an dieser Stelle zwar nur an, es soll aber durchaus erwähnt sein, dass es fraglich ist, ob das auch Kant entspricht. Denn dieser beschreibt beispielsweise innerhalb der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft von 1790 die notwendige Einteilung der Philosophie in die theoretische bzw. spekulative und die praktische: »Unser gesammtes Erkenntnißvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend. Die Philosophie theilt sich nun auch diesem gemäß in die theoretische und die praktische.«17 Im Verlauf vorliegender Arbeit wird noch näher darauf einzugehen sein, wenn die Briefe II und darauffolgend die Fundamentschrift besprochen werden. Mit den Briefen sowie dem Versuch beginnt Reinholds Fortführung der Philosophie Kants hin »zu einer Philosophie des künftigen Wissenssystems«. Schon bald sollte Reinhold die Erkenntnis erlangen, dass es ebenso um eine Berichtigung des Kantischen Fundaments der Vernunftkritik zu tun ist, weil die »Vereinigungskraft der Kantischen Prinzipien« allein nicht hinreichend ist, um alle philosophischen Parteien zu versöhnen. Letztlich wurden durch Reinholds vorliegende Briefe einige der wichtigsten Resultate Kants aufgedeckt, wodurch auch Letzterer unmittelbar gewinnen musste. Die Vernunftkritik hätte sich augenscheinlich nicht in diesem Maße und auf ebendieselbe Weise entfalten können, wenn Karl Leonhard Reinhold es sich nicht zur Aufgabe gemacht hätte, das schwierige Studium der KrV zu beginnen. »Die Briefe über ihre Philosophie im Merkur haben die eindringlichste Sensation gemacht, und alle philosophischen Köpfe Teutschlands scheinen seit den Jacobischen Händeln, den Resultaten und diesen Briefen aus ihrer Gleichgültigkeit gegen alle specula17 Kant, Kritik der Urteilskraft (im Folgenden lediglich: KdU), 1968, AA V XVII, 174. 33

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

tive Philosophie, womit die Mendelsohnschen Morgenstunden so allgemein belächelt worden, zu der lebhafteten Theilnehmung für Sie […] aufgeweckt zu seyn.«18 Reinhold prägte die Diskussion über die Kantische und nachkantische Philosophie also vor allem dadurch, dass er eine Fortentwicklung derselben in Angriff nahm, die er jedoch auf dem Kantischen System selbst aufzubauen vermochte. Als Verkünder eines ewigen Friedens zwischen streitenden religiösen und philosophischen Parteien verweist er auf die Ankunft einer Philosophie, die den Bruch mit der verfälschten Wirklichkeit herbeiführen und mit gleichermaßen kritischem wie vereinigendem Geist die kommende Menschheitsepoche zu beglücken imstande sein wird.

18 Kant, Briefwechsel 1747–1788, 1968, AA X, 485 (aus dem Brief des Kant-Schülers Daniel Jenisch an seinen Lehrer vom 14. Mai 1787). 34

Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie

2.

Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie von Karl Leonhard Reinhold aus dem Jahr 1792

Der Zweite Band jener Briefe über die Kantische Philosophie greift die Motive des Ersten auf gewisse Weise wieder auf, führt diese jedoch mittels beachtlicher neuer Schwerpunktsetzungen präziser aus und soll insofern direkt im Anschluss an diesen erörtert werden. Vor allem wird es darum zu tun sein, etwaige Differenzen zwischen Reinhold und Kant darzulegen, um den Werdegang und die Entwicklung des Ersteren verstehen zu können. Im sich nahtlos anschließenden, dritten Teil vorliegender Arbeit wird eine Auswertung und Interpretation hinsichtlich etwaiger Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Philosophen innerhalb der Briefe I und II durchgeführt, um Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu schaffen. 2.1 Zur kontextuellen Entstehung und Einordnung sowie zur Vorrede Ebendieser Zweite Band der Briefe über die Kantische Philosophie19, welcher 1792 erschienen ist, vermag es, das Briefe-Projekt vom Frühjahr 1790 mit der Absicht einerseits, die essentiellsten Resultate der Kantischen Philosophie mittels eines fiktiven Gesprächs dem für Aufklärung offenen Publikum näherzubringen, sowie mit der Forderung andererseits, kulturelle Verhältnisse im damaligen Deutschland durch Kantische Prinzipien zu überdenken und zu erneuern, zu beenden.20 »Der deutsche Selbstdenker sieht sich gezwungen, seine Aufklärungsvision sozialpolitisch zu vertiefen und sein historisches und geographisches Blickfeld zu erweitern.«21 Alle deutschen Staaten sollen nach Reinhold – gemäß den revolutionären Vorgängen im Frankreich seiner Zeit – zur sogenannten bürgerlichen Epoche der Menschheit aufbrechen, allerdings mithilfe einer Kultur, welche durch philosophische Vernunft konstituiert wird, wofür Reinhold die historischen Weichen neu zu stellen ver-

19 Zukünftig lediglich verkürzt: Briefe II. 20 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, VII. 21 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, XLIII. 35

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

sucht.22 Hierbei ist jedoch auch anzumerken, dass etwa Mitte des Jahres 1792 in Frankreich wirtschaftliche Schwierigkeiten auftraten, welche die Gegner der Revolution nun gegen diese anführen konnten. Zwar haben sich sowohl die Persönlichkeit des Autors, aus dem sich ein erfahrener Systemphilosoph entwickelt hat, als auch diejenige des fiktiven Freundes, der mit Kants Schriften vertraut wurde und mit dem man nun beispielsweise über Fehldeutungen in der bisherigen Exegese der kritischen Philosophie sprechen kann, verändert, jedoch sind die Briefe II als Fortführung der bisherigen Bestrebungen anzusehen, Kantische Ergebnisse auf unterschiedliche Wissensgebiete anzuwenden, in denen man sich bis dato nicht über gemeinsame Ziele und Grundprinzipien verständigen hat können.23 Neue Schwerpunktsetzungen erfolgen insofern, als Moral und Recht in den Vordergrund rücken und Vorgaben Kants durch systematische wie auch historische Untersuchungen nun Vertiefung finden sowie die Begriffe »Naturrecht«, »Wille« und »Willensfreiheit« durch etwaige Erläuterungen komplettiert werden; hierdurch wird auch ersichtlich, dass die Kritik der praktischen Vernunft nun als neuer »Schlüsseltext« fungiert.24 Das Projekt der Briefe wird über alle Streitigkeiten hinaus also vor allem von einer allgemeinen, sich zum politischen, juristischen und kulturellen Zeitgeist äußernder Aufklärungsdiskussion getragen. Die Reinholdsche Kritik an Kant, welche seit 1790 in Bezug auf das Fundament der Elementarphilosophie nahegelegt worden ist, wird innerhalb der Briefe II analog und hinsichtlich einer Konstituierung dieses Systems der Philosophie weiterverfolgt, was sich vor allem im siebten und achten Brief manifestiert, in welchen es um die Begriffe »Wille« und »Willensfreiheit« geht – dazu aber an gegebener Stelle.25 Die Briefe II sind nun aus textgeschichtlicher Perspektive, ähnlich wie es bei den Briefen I der Fall war, als Erzeugnis einer Formierung älterer und jüngerer Texte anzusehen, was mit Um- und Überarbeitungen zusammenhängt.26 22 23 24 25 26

Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, VII. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, VII ff. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in Reinhold, Briefe II, 2008, IX. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, X. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold: Briefe II, 2008, XII f. Für die genaue Zuordnung der Briefe II zu ihrem jeweiligen textlichen Ursprung siehe Tabelle in: Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, XIII f. 36

Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie

»Auch in diesem zweyten Bande ist ein großer Theil des Inhalts in verschiedenen einzelnen Aufsätzen durch den teutschen Merkur zur vorläufigen Beurtheilung ausgestellt, und theils nach den auf diesem Wege erhaltenen Erinnerungen, theils nach eigenen späteren Einsichten bald berichtiget, bald ergänzt, bald völlig umgearbeitet worden.«27 Der Aufbau der Unterkapitel dieser Arbeit ist an die Einteilung der ursprünglichen Aufsätze geknüpft, dadurch mehrere Briefe gleichen textlichen Ursprungs in einem solchen Unterkapitel behandelt und erörtert werden. »In der Vorrede gibt Reinhold bekannt, welches philosophische Ziel er mit den Briefen II verfolgt und welche Wege er dabei einschlägt.«28 Hier ist bereits deutlich zu erkennen, dass er Philosophie anders aufzufassen vermag, als Kant dies tut – nämlich aus einem einzigen Prinzip, wie im Verlauf noch aufzuzeigen sein wird. Sein Ziel ist im Allgemeinen, das gesamte Fundament der neuen, auf Moral gründenden Philosophie aus einem Blickwinkel zu beleuchten, der von Kant selbst noch unzureichend dargetan worden ist; dazu wird nach einem vorausgehenden Umsturz etwaiger Missverständnisse über die Kantische Philosophie per se eine Auffassung von Sittlichkeit sowohl nach äußeren als auch nach inneren Richtungen gegeben.29 »Die [Äußeren] gehen der ausführlichen Darstellung dieses Begriffes, und der durch denselben bestimmten Principien der Moral und des Naturrechts […] vorher. Hier suche ich, durch die Erörterung des Widerstreits zwischen den bisherigen verschiedenen philosophischen Begriffen von Pflicht und Recht, und der Mißhelligkeit zwischen den Principien der moralischen und der bürgerlichen Gesetzgebung, wie auch den Wissenschaften des natürlichen und des positiven Rechts, das Bedürfniß eines bestimmteren Begriffes vom Sittengesetze sichtbar zu machen, und zu zeigen, daß durch den von Kant aufgestellten

27 Reinhold, Briefe II, 2008, Vorrede, XII. Die Seitenangaben entsprechen denjenigen der Originalausgabe Reinholds von 1792. 28 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LVII. 29 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LVII. 37

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Begriff die Mißverständnisse gehoben werden, welche jene Uneinigkeit vorzüglich veranlasset und begünstiget haben. Die INNEREN Prämissen dieses Begriffs, welche nach allem, was in den Kantischen Schriften zum Vortheile desselben geleistet ist, gleichwohl noch erst zu entdecken übrig waren (oder es noch immer sind), betreffen die eigenthümlichen Merkmale des Willens, in wie ferne die freye Handlung desselben sowohl von der Wirksamkeit der bloßen Vernunft, als von dem unwillkührlichen Begehren verschieden ist.«30 So müssen die verschiedenen moral- und rechtsphilosophischen Gruppierungen zunächst – wie schon bei den Briefen I – versöhnt werden, um sodann »Prämissen« des Begriffes der Sittlichkeit vollständig zu konkretisieren und diejenigen Resultate anzuführen, welche sich daraus für die Begriffe »Seele« und »Dasein Gottes« ergeben.31 Schließlich soll eine die Historie betreffende Untersuchung gegeben werden, in deren Mittelpunkt eine an Kantischen Leitlinien der praktischen Philosophie orientierte Geschichte der Moralphilosophie und ihrer Gegebenheiten liegt, was Reinhold selbst als Betrachtung über die äußere und innere Möglichkeit einer Übereinkunft bezüglich des Begriffes wie Objektes jener Philosophie der Moral bezeichnet.32 2.2 Auswertung des Ersten Briefes hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung der neuesten Philosophie« Der erste Brief nun beschäftigt sich dem Titel nach mit einigen Vorurteilen der Kantischen Philosophie allgemein gegenüber sowie mit Bestimmungen zu Wesen und Leistung der »neuen« Philosophie. »Haben Sie vergessen, lieber Freund, daß die Philosophie überhaupt, sie mochte auch was immer für einen Beynamen führen, unter den Priestern der Religion und der Gerechtigkeit nie viele Freunde gehabt hat? Fakta, und zwar lauter Fakta der äußern bald natürlichen, bald übernatürlichen Erfahrung, waren von jeher die einzige ächte Erkenntnißquelle, aus welcher die große und herrschende Parthey 30 Reinhold, Briefe II, 2008, Vorrede, V ff. 31 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LVII. 32 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LVII. 38

Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie

der sogenannten rechtgläubigen Gottes- und Rechtsgelehrten alle religiöse Ueberzeugung und alles Recht abgeleitet wissen wollte.«33 Dass lediglich Fakta der Erfahrung die einzige echte Erkenntnisquelle ausmachen sollen, wie es die sogenannten Gottes- und Rechtsgläubigen laut Reinhold verkünden, kann für Kant niemals Richtigkeit bei sich führen. Er bekundet dagegen, dass (philosophische) Fakten allein nicht hinreichend sein können, da nicht alles als gegeben hingenommen werden darf. Davon sind lediglich die sogenannten Fakta der reinen Vernunft ausgenommen, die Kant in der KpV näher beleuchtet: »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte. Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch alle Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht thun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest.«34 Alle bis dahin bestehenden, philosophischen Parteien tragen Schuld daran, dass ein weitläufiges Netz von Kantianern und Antikantianern entstanden ist, welche sich zu Fragen sowohl der theoretischen als auch der praktischen Vernunft äußern.35 Das Übel, womit die »Gesundheit des teutschen Geistes gegenwärtig angegriffen ist«36, bezeichnet Reinhold als Metaphysische Influenza, da die Reformation der Philosophie in Deutschland von der Kantischen Prüfung der Metaphysik ausgegangen ist. »Da es eben dieselben Symptomen sind, welche in den Augen der Gegner der neuen Philosophie eine neue Krankheit, in den Augen der Freunde aber die Krise und künftige Genesung von einer alten 33 34 35 36

Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 3. Kant, KpV, 1968, AA V 81 f., 47. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Briefe II, 2008, LVII f. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 7. 39

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ankündigen: so dürfte eine kurze Beleuchtung derselben […] einiges Interesse haben.«37 Kantianer und Antikantianer seien nicht imstande, sich untereinander zu verständigen bzw. zu einigen – und selbst ein Tyrann, welcher die eigene Willkür als obersten Grundsatz seiner Herrschaft legitimiert, sei nicht unmenschlicher als ein sogenannter Weltbürger, der durch Metaphysik reformiert werde, insofern dieser die Aphorismen der angeblich reinen Vernunft zu erzwingen verlange.38 Die geringe Anzahl jener mittels der neuen Philosophie hervorgebrachten Schriften hat gemäß Reinhold seit dem Erscheinen des Kritizismus kaum zugenommen, sowie bei etwa der Hälfte dieser Schriften quasi keinerlei Rücksichtnahme auf die Kantische Philosophie besteht.39 Gegen den Einspruch, dass eine Herabwürdigung der Erfahrung durch die Kantische Philosophie von statten gehe, könne erwidert werden, dass dieser lediglich von der Hälfte aller Feinde aufrecht erhalten werde, während die andere Hälfte bekunde, dass der Erfahrung durch die Kantische Philosophie zu viel zugestanden werde.40 Insofern ist die Erfahrung gemäß etwaiger Vorstellungsarten bisheriger philosophischer Parteien missverstanden worden, dadurch es nun eine gewisse Aufmerksamkeit benötigt, um sich letztlich selbst davon überzeugen zu können, dass tatsächlich ein Mangel hinsichtlich einer von allen Denkern geachteten und akzeptierten Bedeutung dieses Terminus bestehe.41 Die eben explizierte Auffassung über das unglückliche Los des Erfahrungsbegriffs kommt Reinholds eigener Sicht gleich, der wiederum spätestens seit 1790 davon überzeugt ist, bei Kant eine mehrdeutige bzw. unklare Verwendung des Erfahrungsbegriffs entdeckt zu haben; dies macht er innerhalb der Beyträge I sowie der Fundamentschrift deutlich – auf letztere wird in dieser Arbeit noch genauer eingegangen.42 Dargelegt wird hierbei, dass Kant »in unzulässiger Weise ein Faktum 37 38 39 40 41 42

Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 7. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 9 ff. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 13 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 15. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 15 f. Vgl. Bondeli, Kommentar 18 zum Ersten Brief, in: Reinhold: Briefe II, 2008, 317 sowie Reinhold: Briefe II, Erster Brief, 18 f. 40

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der Erfahrung vorausgesetzt und deshalb seinen Beweis synthetischer Urteile a priori in zirkulärer Weise geführt«43 hat – ein solches Faktum darf allerdings nicht einfach angenommen werden, ohne selbst bewiesen oder wenigstens hinterfragt worden zu sein. Für Kant ist Erfahrung allgemein betrachtet an sinnliche Daten gebunden, diese wiederum an Raum. Ein Erfahrungsbegriff entstammt »den Sinnen durch Vergleichung der Gegenstände der Erfahrung und erhält durch den Verstand bloß die Form der Allgemeinheit.«44 Wirkliche Erfahrung ist der Schlüssel zur Realität solcher Erfahrungsbegriffe und diese hängen wiederum von der Erfahrung selbst ab.45 »Das […] wichtigste Thema aller Philosophie überhaupt, läßt sich auf die Festsetzung der letzten und in dieser Eigenschaft allein zureichenden Gründe unsrer Pflichten und Rechte in diesem, und unsrer Hoffnung für das zukünftige Leben zurückführen.«46 Bisher sei, so fährt Reinhold nun fort, in jeder Philosophie dasjenige vorausgesetzt worden, was später durch Spekulation entwickelt worden sei.47 Der kritische Philosoph dagegen orientiere sich an der Analyse notwendiger und allgemeiner Gesetze der sogenannten vorstellenden Kraft, welche »er durch Reflexion über die zur innern Erfahrung gehörigen Tatsachen des Bewußtseyns kennt.«48 Die Darstellung eines gesamten Fundaments der Elementarphilosophie solle sich nicht durch Spekulation, sondern durch Genauigkeit, Bestimmtheit und Kürze auszeichnen, denn »[w]er das Lehrgebäude der neuesten Philosophie, ohne den vollendeten Plan des Ganzen zu kennen […] beurtheilen will, der hat freylich Stoff genug über die Trockenheit dieser Philosophie zu spotten.«49 An dieser Stelle zeigt sich zum ersten Mal eine deutliche Differenz zu Kant. In der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV nämlich wird ausgeführt, dass die Kritik der reinen bzw. spekulativen Vernunft lediglich 43 Bondeli, Kommentar 18 zum Ersten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 317. 44 Höffe [Hg.], Klassiker auslegen Band 17/18: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998, 71. 45 Vgl. Höffe [Hg.], Klassiker auslegen Band 17/18: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998, 71. 46 Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 24. 47 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 24. 48 Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 25. In der Merkur-Fassung fehlt die Rede von zu innerer Erfahrung gehörender Tatsachen des Bewusstseins. Siehe auch Kommentar 25 zum Ersten Brief. 49 Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 31 f. 41

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ein Traktat von der Methode und nicht etwa ein System der Wissenschaft selbst darzustellen vermag.50 »[A]ber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß [der Metaphysik] sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben.«51 Der Beginn der Methodenlehre der KrV zeigt zudem, dass eine transzendentale Methodenlehre formale Bedingungen eines vollkommenen Systems der reinen Vernunft bestimmt, nicht aber, wie Reinhold dies beschreibt, eine Darstellung des gesamten Fundaments der Elementarphilosophie gegeben wird.52 Dieser folgert also, dass die Kantischen Denkansätze, welche einen Umriss bzw. ein Traktat der Wissenschaft beschreiben, komplettiert werden müssen, was in der Elementarphilosophie präzisiert wird. Insofern hebt er sich von seinem Lehrmeister ab und gibt Einblicke in ein weitreichenderes System von Philosophie als Wissenschaft. Später wird noch genauer auf diese Differenz einzugehen sein, wenn auf Resultate innerhalb der Fundamentschrift hingewiesen und dieser Text besprochen wird. Es könne nicht damit gerechnet werden, dass unkundige Stimmen in dieser Debatte ihre Meinung vortragen, so lange noch kein mustergültiges System letzter Prinzipien zu Tage gebracht worden und man überdies damit beschäftigt sei, philosophische Grundsätze vor ihrer eigentlichen Entwicklung in Gebrauch zu nehmen.53 »Die Unentbehrlichkeit der Erfahrung, und die Wichtigkeit des Beytrags, den sie zur Anwendbarkeit philosophischer Principien zu liefern hat, kann durch nichts zu einer höhern Evidenz gebracht werden, als durch die streng wissenschaftliche Form jener Principien, in welcher allein der eigentliche Sinn und die Gränzen ihrer eigenen Gültigkeit vollständig sichtbar werden kann, und wodurch sichs ergiebt, daß ihr Gebrauch nicht weniger von der Menge und Beschaffenheit der Erfahrungen, als von dem wirklichen Besitze der Principien selbst, der nur in ihrem deutlichen Bewußtseyn besteht, abhängen müsse.«54

50 51 52 53 54

Vgl. Kant, KrV, 1968, B XXII, 15. Kant, KrV, 1968, B XXII f., 15. Vgl. Kant, KrV, 1968, A 707/B 735 f., 465. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 36 f. Reinhold, Briefe II, 2008, Erster Brief, 37. 42

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2.3 Erörterung der Briefe II und III hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung des Naturrechts« Im Folgenden widmet sich Reinhold nun der Sittlichkeit, um aufzuzeigen, welche Fragen zu deren Betrachtungsweise bislang ungeklärt wie auch strittig geblieben sind und wie die Kantische Philosophie dazu beitragen kann, Chaos und Unvereinbarkeiten zu überwinden.55 Das sollen nun die Briefe zwei bis fünf darlegen, wobei die Briefe zwei und drei dieselbe Textgrundlage aufweisen, nämlich den Aufsatz „Ehrenrettung des Naturrechts“, dessen ersten Teil Reinhold für den zweiten Brief relativ stark, den zweiten Teil für den dritten Brief außergewöhnlich stark überarbeitet sowie einzelne Teile hinzugefügt hat.56 Innerhalb des zweiten Briefes fällt vor allem ins Auge, dass die Termini »Recht und Unrecht« durch »Pflicht und Recht« ersetzt wurden, was als Anzeichen dafür zu sehen ist, dass Reinhold Moral und Naturrecht seit 1792 als unterschiedliche Bauwerke auf einem gemeinschaftlichen, einhelligen Fundament, nämlich dem des freien Willens, interpretiert.57 Entsprechend setzt der zweite Brief ein: »Nichts […] kann der Kantischen Philosophie zur Rechtfertigung ihrer mühsamen Untersuchungen über die letzten Principien des menschlichen Wissens, Begehrens und Wollens so sehr willkommen seyn, als die seit kurzem so laut und so oft geäußerten, sich gegenseitig widersprechenden Urtheile unserer Schriftsteller über den Charakter und Ursprung der Pflicht und des Rechtes.«58 Wichtig ist für Reinhold hierbei vor allem die Quelle von Pflicht und Recht, da die vernünftige Natur des Menschen zwar gewisse Ansprüche hat, aber auch Forderungen, ohne deren Voraussetzung lediglich Willkür der einzelnen Mitglieder eines Staates vorherrschen würde – eine Auffassung, die bei Kant im Mittelpunkt steht und als Grundlage des Rechts den vernünftigen Willen und nicht etwa eine Vorstellung von

55 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LIX f. 56 Vgl. Bondeli, Kommentar 32 zum Zweyten Brief sowie Kommentar 53 zum Dritten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 322 sowie 330. 57 Vgl. Bondeli, Kommentar 32 zum Zweyten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 322. 58 Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 38 ff. 43

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Macht oder Nutzen postuliert.59 Doch gerade dieser Grund unserer natürlichen Pflichten und Rechte sei so plausibel und gleichzeitig so geheimnisvoll, dass er weiterhin im Schatten verborgen bleibe.60 Das Dasein von Pflichten und Rechten zeigt sich gemäß Reinhold durch Gefühle, »die sich auch bey dem gemeinen Manne durch eine Richtigkeit seines Urtheils über Recht und Unrecht äußern […]«61. Deren Wirkursache sei jedoch aus dem Blickwinkel der philosophierenden Vernunft vor Entwicklung der KrV sehr weit entfernt, sodass sie selbst von den bedeutsamsten Denkern kaum wahrgenommen werden könne.62 Die Ausführungen zu dieser Wirkursache moralischer Gefühle entspringen Kantischen Äußerungen zum Verhältnis von moralischem Gefühl und Vernunft aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; dort wird das sogenannte moralische Gefühl der Achtung als ein aus dem Begriff der Vernunft selbst entsprungenes Gefühl charakterisiert.63 Gemäß den Ausführungen der KpV muss ebendieses Gefühl der Achtung als positive Konsequenz des Moralgesetzes angesehen werden, welches sich die Vernunft selbst zu geben in der Lage ist und das als intelligible Ursache betrachtet wird.64 »Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d. i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung und, indem es ihn sogar niederschlägt, d. i. demüthigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellectuellen Grund gewirkt wird, und die-

59 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 40 sowie Bondeli, Kommentar 38 zum Zweyten Brief, in: ebd., 324 f. 60 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 43. 61 Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 43. 62 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 43 f. 63 Vgl. Bondeli, Kommentar 41 zum Zweyten Brief, in: Reinhold: Briefe II, 2008, 326. 64 Vgl. Bondeli, Kommentar 41 zum Zweyten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 326. 44

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ses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Nothwendigkeit wir einsehen können.«65 Etwaige Schicksale des Naturrechts können aus dem Streit zwischen einer Deutlichkeit von Gefühlen und einer Undeutlichkeit von Begriffen bezüglich des Objektes dieser Wissenschaft heraus erläutert werden, dadurch sie selbst einer Ehrenrettung bedarf, wie Reinhold es auszudrücken vermag.66 Folglich soll nach umfassender Polemik gegenüber sämtlichen philosophischen Parteien nicht etwa ein gesicherter Begriff von Recht und Pflicht errichtet, wohl aber darauf verwiesen werden, dass die Kantischen Resultate nach Reinhold als ausführlich und unverzichtbar zu erachten sind.67 »Die einzig richtige Erklärungsart von dem sittlichen Gefühle, die meiner Ueberzeugung nach noch nicht gegeben ist, und die sich aus den Principien jeder bisherigen Philosophie nimmermehr geben läßt, müßte das Wahre, das in jeder andern bisher versuchten enthalten ist, in sich vereinigen, und das Falsche, das dieselbe unter einander in Wiederspruch setzte, ausschließen. Durch sie müßte einleuchtend werden, wie die philosophierende Vernunft zu den verschiedenen Hypothesen, womit sich dieselbe in ihren unter sich uneinigen Repräsentanten bisher beholfen hat, gelangen mußte, und warum keine derselben zur allgemeinen Befriedigung geschickt war. Durch sie endlich müßte sich einerseits die Uneigennützigkeit, Nothwendigkeit und Allgemeinheit des Grundes von dem Gefühl des Rechts und Unrechts, und mit derselben die Realität des Naturrechts gegen seine Gegner – andererseits aber das bisherige Nichtvorhandenseyn desselben als Wissenschaft gegen seine bisherigen Vertheidiger begreifen, erklären, erweisen lassen. Ich bin überzeugt, daß diese Erklärungsart aus den Principien der Kantischen Philosophie erfolgen müsse, und mit denselben von den Selbstdenkern künftiger Generationen allgemein anerkannt werden wird.«68

65 66 67 68

Kant, KpV, 1968, AA V 130, 73. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 44 ff. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 46. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 62 f. 45

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Um letztlich jedoch Gründe konstituieren zu können, welche die Kantische Theorie dem Ruf einer Hypothese zu entheben imstande sind, müsse eine neue Theorie sowohl des Begehrungsvermögens als auch des Willens vorhergehen, womit Reinhold offenkundig über seinen Illuminator hinausgeht.69 Diese Theorie wird sich jedoch zu einem großen Teil auf die Kritische Philosophie stützen, dadurch Licht in die Sache gebracht werden soll. Das lässt sich sodann am dritten Brief aufzeigen. Dieser entspricht einer äußerst starken Überarbeitung des zweiten Teils jenes Aufsatzes „Ehrenrettung des Naturrechts“, wobei zunächst derjenige Themenkomplex, welcher die Gründe des moralischen Gefühls betrifft, zu Tage tritt, um folglich zu etwaigen Definitionen von Begriffen wie beispielsweise »praktische Vernunft«, »Wille« oder »Naturrecht« zu gelangen, die der praktischen Philosophie Kants aus der KpV entlehnt sind.70 Dank der KpV ist nun erwiesen und insofern vorauszusetzen, dass »1) […] die Quelle der Moralität, der Bestimmungsgrund des Sittengesetzes, und folglich auch die wirkende Ursache des sittlichen Gefühls keineswegs in der Empfänglichkeit für Lust und Unlust, oder in dem Triebe nach Vergnügen zu finden sey […]. 2) […] das Sittengesetz sich dadurch unter allen wirklichen und möglichen Gesetzen auszeichne, daß es eine Vorschrift ist, die den Grund ihrer Nothwendigkeit in sich selber enthält, daher ohne alle fremde Sanktion Gesetz ist, und folglich lediglich um ihrer selbst willen befolgt werden kann. 3) […] die Quelle dieses Gesetzes allein in der selbstthätigen Natur der Vernunft anzutreffen sey, welche, in wie ferne sie dem Willen ein Gesetz giebt, das seine absolute Nothwendigkeit und Allgemeinheit nur durch sie allein erhält, und das nur durch Freyheit des Willens ausgeübt und übertreten werden kann, praktische Vernunft heißt.«71

69 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zweyter Brief, 63. 70 Vgl. Bondeli, Kommentar 53 zum Dritten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 330. 71 Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 64 f. 46

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Der Ursprung von Moralität bzw. des Sittengesetzes muss somit in der »selbstthätigen Natur der Vernunft«72 verankert sein – denn nur die Vernunft vermag es, alsdann ein Gesetz zu konstituieren, dem der Mensch als ein durch Freiheit und eigenen Willen bestimmtes Vernunftwesen nachkommen kann bzw. soll.73 Damit bezieht sich Reinhold maßgeblich auf die Kantische Ansicht über den einzigen legitimen Bestimmungsgrund der Sittlichkeit sowie auf das moralische Gefühl, welches diesem angemessen ist: »Da die Materie des praktischen Gesetzes […] niemals anders als empirisch gegeben werden kann, der freie Wille aber, als von empirischen […] Bedingungen unabhängig, dennoch bestimmbar sein muß: so muß ein freier Wille, unabhängig von der Materie des Gesetzes, dennoch einen Bestimmungsgrund in dem Gesetze antreffen. Es ist aber außer der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten. Also ist die gesetzgebende Form, so fern sie in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann.«74 Der Begriff der praktischen Vernunft müsse, so fährt Reinhold fort, einen gewissen Schatten für alle der KrV bis dahin noch nicht teilhaftig Gewordenen aufweisen, doch werde er seine Resultate im Fortgang illuminieren.75 »Ich verstehe unter Vernunft das Vermögen der Person zu den durch ihre übrigen Vermögen möglichen Wirkungen sich selbst Vorschriften (Regeln) zu geben.«76 Das Vermögen, zu Gegebenem Vorschriften zu entwickeln, nennt Reinhold nun theoretische Vernunft und das Vermögen, eine Vorschrift zu erteilen, deren Begründung in Selbsttätigkeit gelegen ist, praktische Vernunft; eine theoretische Vorschrift wird nur auf Grund eines Gegebenen zum Gesetz, weshalb sie ein Bedingtes sein muss, was wiederum bedeutet, dass dieses Gesetz ein Vernunftgesetz für etwas außerhalb der Vernunft

72 73 74 75 76

Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 65. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LX f. Kant, KpV, 1968, AA V 52, 29. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 65 f. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 66. 47

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selbst Gelegenes ist, als dessen höchster Grundsatz der Satz des Widerspruchs zu gelten hat.77 Dagegen werde eine praktische Vorschrift durch bloße Vernunft zu einem Gesetz und stelle damit ein unbedingtes Vernunftgesetz dar, welches als absolut notwendig charakterisiert werden müsse.78 »In wie ferne das praktische Gesetz in derjenigen Vorschrift besteht, deren Grund in der Selbstthätigkeit der Vernunft liegt, in so ferne heißt es ein Gesetz der Freyheit. In wie ferne das theoretische Gesetz in derjenigen Vorschrift besteht, deren Grund nicht in der bloßen Selbstthätigkeit der Vernunft, sondern außerhalb derselben gegeben ist, in so ferne heißt es ein Naturgesetz.«79 Handlungen der praktischen Vernunft äußern sich auf unveränderliche Weise in der unbedingten Gesetzgebung bzw. Autonomie der reinen (praktischen) Vernunft, welche Kant in der KpV dargelegt, nicht aber derart deutlich von der Autonomie des Willens abgehoben hat, wie Reinhold behauptet.80 »[…] [D]iese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können.«81 Regeln dagegen, welche die Vernunft dem bloßen Begehren vorschreibe, können für Reinhold nur theoretisch fungieren; sie werden durch den Trieb nach Vergnügen als notwendig erachtet und müssen als natürliche Gesetze des Begehrungsvermögens angesehen werden.82 Die Wirkungsart des praktischen Gesetzes sei allein im Wollen bzw. in der Handlung einer Person konstituiert, durch welche sich diese selbst zu bestimmen 77 78 79 80 81 82

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 66 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 68. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 68. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 68. Kant, KpV, 1968, AA V 59, 33. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 69. 48

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vermag – entweder zur Befriedigung oder aber Nichtbefriedigung eines Postulats, welches das Begehrungsvermögen betreffe; das Objekt des praktischen Vernunftgesetzes könne demnach nur das Wollen sein.83 Praktische Vernunft lege für die (Nicht-/)Befriedigung eines Begehrens nun ein Gesetz fest, welches nur mittels der uns als Menschen zuteilwerdenden Freiheit wahrgenommen werden könne; ebendieses Gesetz könne jedoch aufgrund dieser Freiheit übertreten werden.84 Dass das Sittengesetz nicht nur Freiheit der Selbstgesetzgebung impliziert, sondern auch eine vom Standpunkt des menschlichen Willens zu betrachtende Freiheit durch Unterwerfung ist, wird auch von Kant dargelegt: »Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angethan wird, verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz.«85 An dieser und den folgenden Stellen zeigt sich, dass Reinhold zwar in den Grundfesten der praktischen Philosophie Kants folgt, insgesamt aber eine neue Konzeption der Willensfreiheit vorstellt, sofern er anders als Kant zwischen praktischer Vernunft, welche notwendigerweise gebietet, stets auf Basis der Vernunft sowie gemäß dem kategorischen Imperativ zu handeln, und dem jeweils individuellem Willen unterscheidet. Für Kant selbst ist die praktische Vernunft mit dem Willen gleichzusetzen – ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetz dienen kann; dieser ist als freier Wille zu bezeichnen, der wiederum durch sein Vermögen, nach Grundsätzen sowie folglich praktischen Prinzipien a priori zu handeln, bestimmt ist.86 Reinhold dagegen differenziert, wie oben angedeutet, zwischen praktischer Vernunft und individuellem Willen, da er dem Menschen in seiner Freiheit eingesteht, sich bewusst bzw. auch bei einem Vernunftentscheid zum Guten oder Bösen und damit zur Nichtbefriedigung oder aber Befriedigung eines Begehrens entscheiden zu können.87 Darüber können wir nach Kant allerdings schlicht nichts wissen, wodurch sich eine deutliche Differenz bzw. ein Problem ergibt, welches an dieser Stelle lediglich genannt und erst an späterer Stelle erörtert werden kann und soll. 83 84 85 86 87

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 69. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 69 f. Kant, KpV, 1968, AA V 142 f., 80. Vgl. Kant, KpV, 1968, AA V 52 f., 29 f. Vgl. Bondeli, Kommentar 63 zum Dritten Brief, in Reinhold, Briefe II, 2008, 332. 49

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Für Reinhold ist praktische Vernunft also nicht der Wille, so wie selbst der reine Wille nicht die praktische Vernunft sein kann. Denn reines Wollen müsse als selbständige Bestimmung zur (Nicht-/) Befriedigung eines natürlichen Begehrens gemäß des praktischen Gesetzes charakterisiert werden; eine Handlung des reinen Willens sei stets gemäß dem Gesetz, sowie eine Handlung der praktischen Vernunft das bloße Gesetz im eigenen Bewusstsein errichte – dadurch sei diese als Handlung durch bloße Vernunft sowie jene als Handlung durch Willensfreiheit zu charakterisieren und insofern als reiner bzw. unreiner Wille zu bezeichnen.88 Reinhold definiert: »Sitten […] heißen die freywilligen Befriedigungen und Nichtbefriedigungen der Forderungen des Begehrungsvermögens. Das praktische Gesetz heißt Sittengesetz, in wie ferne ihm diese Befriedigungen und Nichtbefriedigungen untergeordnet sind, und Gesetz des reinen Willens, in wie ferne reines Wollen sein Objekt ist. Pflicht ist alles, was durch das Sittengesetz nothwendig, Recht, was durch dasselbe möglich, Unrecht, was durch dasselbe unmöglich ist. Das Bewußtseyn der Uebereinstimmung oder des Widerspruches einer Willenshandlung mit dem Sittengesetz kündiget sich dem Gefühlvermögen durch Vergnügen oder Mißvergnügen an, und hierin besteht das sittliche Gefühl. In wie ferne nun die Pflichtmäßigkeit oder Pflichtwidrigkeit, Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit, die sich durch das sittliche Gefühl ankündiget, von dem Sittengesetz abhängt, in so ferne ist die praktische Vernunft die wirkendende Ursache des sittlichen Gefühls. Das Naturrecht schränkt sich zwar auf das Recht, das durch Zwang durchgesetzt, und das Unrecht, das durch Zwang gehindert werden darf, ein, und beschäftiget sich folglich nur mit einer Art des Rechts, das aber eben darum, in wie ferne es unter die Gattung Recht gehört, durch das Sittengesetz bestimmt wird.«89 Das Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz wird auch bei Kant auf ähnliche Weise beschrieben, nämlich so, dass dieses das durch einen intellektuellen Grund »der Freiheit gewirkte positive, sich als Verbind-

88 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 70. 89 Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 70 f. 50

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lichkeit, Pflicht manifestierende sittliche Gefühl«90 darstellt, welches keinen empirischen Ursprung hat. Durch alle vorgenannten Tatsachen werde, wie Reinhold kundtut, jedoch nicht das praktische Gesetz selbst, sondern lediglich dessen Anwendung bestimmt; das Gefühl von Recht und Unrecht sei insofern nur als Konsequenz der praktischen Vernunft zu begreifen, das »seiner Quelle nach nothwendig und allgemein, seinem Objekte nach unveränderlich, seiner Natur nach uneigennützig und untrüglich […]«91 sein müsse. Als Effekt praktischer Vernunft werde von diesem Gefühl ausschließlich ein allgemeiner Gebrauch der Vernunft vorausgesetzt, den jeder Mensch innehat, da die praktische Vernunft ihr Gesetz nicht vor einer Anwendung desselben im menschlichen Bewusstsein annonciere; diese Wirkung werde sich erst einstellen, wenn die theoretische Vernunft selbst Anwendungsbeispiele ersinne, welche zur Anwendung des praktischen Gesetzes erforderlich seien und sich auf die Data äußerer und innerer Erfahrung stützen – erst dadurch kann ein freier Wille entstehen.92 Die Wirkursache des Gefühls von Recht und Unrecht müsse in einer sogenannten Triebfeder des menschlichen Geistes aufgesucht werden, welche, um ihre Selbsttätigkeit zu äußern, diejenige Erfahrung brauche, die sich nur innerhalb eines kulturellen Rahmens formen lasse sowie das Gesetz, welches durch das moralische Gefühl aufkomme, seinen Ursprung in der Vernunft selbst habe – in derjenigen Äußerung nämlich, in der sie lediglich von sich selbst abhängt, dadurch das Bewusstsein des praktischen Gesetzes stets wahr sei.93 Sittlichkeit wird von Reinhold als Erzeugnis der praktischen, notwendigerweise gebietenden Vernunft, sowie des freien Willens, welcher in jedem Einzelfall für oder wider das praktische Gesetz handeln kann, als das oberste und für jeden Menschen greifbare, lediglich durch sich selbst mögliche Gut charakterisiert.94 Einerseits klingt das Kantisch bzw. von Kant entlehnt, andererseits aber ist zu fragen, ob für Kant nicht die Willensbestimmung in der Maxime und eben keinesfalls in der jeweiligen Entscheidung liegt. Eine solche Maxime nämlich gilt für alle entsprechenden Fälle. 90 91 92 93 94

Vgl. Bondeli, Kommentar 67 zum Dritten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 334. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 72. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 72 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 74. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 76. 51

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»Das sittliche Gefühl ist Wirkung der handelnden, und in so ferne nur von sich selbst abhängenden und untrüglichen Vernunft; der Begriff hingegen ist die Wirkung der denkenden, und in so ferne von äußeren Umständen abhängenden, und daher nichts weniger als untrüglichen Vernunft; oder vielmehr, er ist so lange nicht das Werk der Vernunft, als er nicht durch bloße, reine, und in so ferne völlig entwickelte, sich selbst erkennende, ihr eigenthümliches Geschäft von dem Einflusse der übrigen Vermögen des Gemüthes unterscheidende Vernunft hervorgebracht ist.«95 Da Pflicht und Recht nach Reinhold der praktischen Vernunft entspringen, werden sie im menschlichen Bewusstsein ursprünglich durch Gefühle und nicht etwa durch Begriffe manifestiert, welche von allen Empfindungen, die auf physischen Eindrücken beruhen, zu unterscheiden sind und allein den praktischen Grund der Überzeugung für moralisches Gesetz und Naturrecht generieren.96 Hieraus lasse sich insgesamt begreifen, dass bis dato erstens »der im sittlichen Gefühl […] ursprüngliche Ueberzeugungsgrund von Pflicht und Recht, mit dem Grunde der Möglichkeit und Wirklichkeit dieser Objekte verwechselt, und das sittliche Gefühl, das nur Wirkung der sittlichen Triebfeder seyn kann, für diese Triebfeder selbst […] angenommen ist« 97; zweitens, dass fälschlicherweise behauptet werde, es lasse sich außer dem bloßen Gefühl kein Merkmal für Moral anführen und das sittliche Gefühl sei in Bezug auf seine Wirkursache nicht zu begreifen.98 Hier bleibt Reinhold ganz in Kants Spur. Drittens sei sodann ersichtlich, dass das Sittengesetz nicht in der Selbsttätigkeit der Vernunft, sondern im sogenannten leidenden Vermögen eines Menschen gegründet sein müsse, wenn der letztmögliche Grund des moralischen Gesetzes bloß in einer nebulösen Lust bzw. Unlust zu verorten wäre; denn durch diese wäre nicht nur das moralische Gesetz, sondern darüber hinaus jede sittliche Handlung selbst bestimmt sowie aus dem Entbehren von Lust bzw. Unlust eine unsittliche Handlung ent-

95 96 97 98

Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 77 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 81. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 82. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 82. 52

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stehen würde.99 Sofern sich eine Person hierbei leidend bzw. passiv verhalte, würde die Willensfreiheit als bloße Täuschung enttarnt werden.100 – »Wahr ist daher […], daß das sittliche Gefühl die ursprüngliche und natürliche Art und Weise ist, wie sich Pflicht und Recht im Bewußtseyn ankündigen: aber unwahr ist es, daß dieses Gefühl der u[r]sprüngliche Bestimmungsgrund sowohl des Sittengesetzes als des demselben gemäßen Wollens sey. Dieses wird durch Freyheit der Person, jenes durch die praktische Vernunft bestimmt.«101 Anschließend stellt Reinhold weitere Resultate heraus, welche durch die von ihm gegebene Erklärungsart begreiflich werden. Hierbei geht es ihm vor allem darum, die Legitimität etwaiger Anforderungen und Standpunkte der einzelnen philosophischen Parteien zu begutachten.102 Insofern wird aufgezeigt, wie andere Philosophen fälschlicherweise entweder das Wohlwollen, den Trieb nach Glückseligkeit oder aber die Vollkommenheit für ein notwendiges Objekt der vernünftigen, menschlichen Natur als eigentlichen Grund für eine Bestimmung von Pflicht und Recht gehalten haben.103 »Es ist eine unläugbare Thatsache, daß sich das Gefühl der Pflichtmäßigkeit und Pflichtwidrigkeit, Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit durch Vergnügen und Mißvergnügen ankündiget. Durch das sittliche Gefühl wird daher auch derjenige Trieb befriedigt und beschränkt, der, in wie ferne er Vergnügen überhaupt zum Objekt hat, eigennützig heißt. Als Lust und Unlust gehört also auch das sittliche Gefühl unter die Objekte des eigennützigen Triebes […].«104 Des Weiteren macht Reinhold begreiflich, wie man dazu gelangt sei, das Naturrecht von der Moral abzusondern, nämlich indem man 99 100 101 102 103

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 83. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 83 f. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 84. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXI. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 84 ff. Die jeweiligen Erklärungsarten sind vollständigkeitshalber dort nachzulesen, sofern an dieser Stelle nicht intensiv darauf eingegangen werden kann. 104 Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 86. 53

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geglaubt habe, dass Moralität nur auf die Pflicht des eigenen Gewissens beschränkt und der Ursprung des Naturrechts in einem eigennützigen Trieb angenommen werden müsse, welcher als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet werde.105 Zuletzt wird darauf verwiesen, dass der Missbrauch des eigentlichen Bestimmungsgrundes von Recht und Pflicht selbst von geachteten Philosophen fälschlicherweise für den einzig richtigen Gebrauch desselben gehalten werde.106 »Aus unserer Erklärungsart wird es endlich begreiflich, warum wir bis jetzt noch keine Moral und kein Naturrecht als Wissenschaft, d. h. als ein feststehendes, anerkanntes und einziges, aus allgemeingeltenden Grundsätzen bestehendes System aufzuweisen haben. Das moralische Gefühl […] wird zwar als Wirkung der praktischen Vernunft immer untrüglich, aber auch zugleich so lange unbegreiflich bleiben müssen, als nicht der eigenthümliche Charakter der Vernunft, dasjenige, was sie vom Verstande sowohl als von der Sinnlichkeit unterscheidet, und was ihr, als denkender und handelnder Vernunft, sowohl gemeinschaftlich, als in beyden Rücksichten ausschließend zukommt, völlig entdeckt, entwickelt, und auf allgemeingeltende Grundsätze zurückgeführt ist.«107 Erst wenn das Problem des moralischen Gesetzes und der Willensfreiheit, welche dieses Gesetz voraussetzt, gelöst sein wird, kann die Philosophie gemäß Reinhold über das Konglomerat einander widersprechender Ansätze zum einzig möglichen und wirklichen System erhoben sein, was sich aus seiner Sicht und für die damalige Zeit jedoch eher bezweifeln als begreifen lässt, dadurch es sodann der Kantischen Philosophie zur Auflösung bedarf.108

105 106 107 108

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 91. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 93. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 95 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Dritter Brief, 97 f. 54

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2.4 Erörterung der Briefe IV und V hinsichtlich des Aufsatzes »Ehrenrettung des positiven Rechts« Der vierte Brief beschäftigt sich mit dem Zerwürfnis zwischen moralischer und politischer Gesetzgebung sowie natürlicher und positiver Rechtswissenschaft. Im daran anknüpfenden, fünften Brief wird Reinhold diese Uneinigkeit wiederum zu einen versuchen, wie es schon bei den vorhergegangenen Briefen zwei und drei der Fall war. Der vierte nun entspricht, an mehreren Stellen stilistisch und inhaltlich geringfügig angepasst, dem ersten Teil des zugrundeliegenden Aufsatzes.109 Zunächst weist Reinhold auf den ebenso verkannten Zusammenhang wie Unterschied zwischen philosophischen und positiven Wissenschaften hin; wenn durch Unzufriedenheit und Geringschätzung, welche den Philosophen sowie Überschätzung, welche den Rechtsgelehrten in Bezug auf das positive Recht vorgeworfen wird, stets zwei gegensätzliche Parteien gegen die jeweils anderen beiden vorgehen, ruft das wiederum die Notwendigkeit einer Epoche auf den Plan, mit der ein besserer und damit schlechterdings richtiger Gebrauch von Grundsätzen zu Einigkeit führen soll.110 »Wenn diese Vorwürfe, die noch nie so laut und so allgemein als eben jetzt ertönt haben, gegründet sind: so war das Bedürfniß, die herrschenden Begriffe über diesen wichtigen, von zwey Partheyen gleich verkannten Gegenstand zu berichtigen, noch nie so dringend, und eine Revolution in diesen Begriffen, die für die Philosophie, Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Staatskunst die wohlthätigsten Folgen haben muß, noch nie so nahe, als gegenwärtig.«111 Reinhold lehnt eine Ableitung des Rechts von der Erfahrung grundsätzlich ab. In den folgenden Absätzen gibt er einige Beispiele über gegensätzliche Meinungen von Juristen und Philosophen, von denen erstere sich auf das unzweifelhafte Dasein von positiven Gesetzen berufen, welches den gesunden Menschenverstand verbürge und letztere genau wis109 Vgl. Bondeli, Kommentar 88 zum Vierten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 339. 110 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 98 ff. Zu bisherigen Äußerungen Reinholds über die vier Parteien, welche sich aus dem Verhältnis von natürlichem und positivem Recht ergeben, siehe: Reinhold, Briefe I, 2007, 50 ff. sowie 58 ff. 111 Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 100. 55

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sen, dass Menschen nicht dasjenige widerspiegeln, was positive Gesetze von ihnen verlangen.112 »Der Jurist […] meynt, eben darum, weil die positiven Gesetze, ihrer Natur nach, von dem freyen Willen der Unterthanen unabhängig wären, würde durch sie das Eigenthum, die öffentliche Ruhe, und das gemeine Beste überhaupt, sicher gestellt: während eben diese Gesetze, um der veränderten Beschaffenheit der Staatsbedürfnisse angemessen zu seyn, dem Willen der Obrigkeit unterworfen wären, und diese daher allein in einem Staate frey sein müßte. […] Der Philosoph behauptet, daß sich ohne jene ursprüngliche, unverlierbare persönliche Freyheit der menschlichen Natur kein Recht überhaupt denken lasse; daß die positiven Gesetze nur in so ferne rechtmäßig seyn und heißen können, als sie die Schutzwehre jener Freyheit sind […].«113 Die Rechtmäßigkeit bzw. das Recht als Vernunftmaßstab des geltenden Rechts per se wird spätestens seit 1790 von Reinhold zu einem wichtigen Begriff, um eine Definition von Recht generieren zu können; Rechtspositivisten verkennen ihm zufolge den autonom-vernünftigen Geltungssinn des Rechts, nämlich ebendiese Rechtmäßigkeit.114 Außenstehende seien sich längst einig darüber, dass die Meinung von Juristen und Philosophen eindeutige Mängel aufweise und Reinhold glaubt zu wissen, dass es beim Zustand von Philosophie, Rechts- und Staatswissenschaft auch den kundigsten Philosophen und Juristen an einem vollends bestimmten wie auch richtigen Begriff von positivem Recht mangele.115 Positive Rechtswissenschaft sei schon lange mittels eingehender Untersuchung und exaktem Gebrauch etwaiger historischer Quellen außerordentlich bereichert worden; da man allerdings der Geschichte wie der Erfahrung alle sowie der Philosophie keine Erkenntnis zusprechen wollte, sei der Anspruch jeglicher Tatsachen nur historisch bestimmt worden – »und so wurde ziemlich alles politisch wirkliche für moralisch möglich, das heißt, für rechtmäßig erklärt.«116 Es sei als Beschränktheit zu erachten, 112 113 114 115 116

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 103 ff. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 109 f. Vgl. Bondeli, Kommentar 99 zum Vierten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 342 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 111 ff. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 118. 56

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dass der menschliche Geist bei seiner Forschung stets das Allgemeine über das Besondere stelle und dieses damit aus dem Blickfeld rücke.117 Die allgemeine Richtigkeit des positiven Rechts wurde gemäß Reinhold bisweilen stets vorausgesetzt, ohne überhaupt je bewiesen worden zu sein, beispielsweise wenn behauptet wird, dass durch bestimmte positive Gesetze Leibeigenschaftsrechte festgesetzt seien, dadurch zwischen Recht und Leibeigenschaft kein Widerspruch vorstellig werde – positives Recht würde in diesem Sinne sodann als etwas gedacht, was beispielsweise die Leibeigenschaft rechtmäßig werden lässt, was wiederum nur verworfen werden kann.118 »Die Kenner und Pfleger des positiven Rechtes ersparten sich alle Zänkereyen über den Grundbegriff ihrer Wissenschaft, indem sie sich sorgfältig des Nachdenkens über denselben enthielten. […] Sie setzen denselben als etwas längst ausgemachtes und allgemein anerkanntes voraus. […] Das positive Recht ist ihnen ein Ding, dessen ursprüngliche Vorstellung sich durchaus nicht zergliedern läßt; […] ein bloßes Abstraktum aus den individuellen Vorstellungen von den besondern in der Welt feststehenden sogenannten Rechten. […] Vergebens würde man ihnen zu zeigen suchen, daß der Begriff vom Recht überhaupt, und folglich auch vom positiven Recht, weder einfach noch aus Erfahrungsbegriffen abstrahiert seyn könne; daß er durch Denkkraft aus vielen höheren Begriffen zusammengesetzt, und eben darum der Gefahr, durch Mangel oder Ueberfluß unrichtig gedacht zu werden, ausgesetzt sey [.]«119 Reinhold bekundet, dass das Recht keine Sache sei, die autonom und insofern getrennt vom menschlichen Geist existieren könne sowie eine Vorstellung von Recht die Rechtmäßigkeit einer beliebigen Handlung tatsächlich etablieren müsse; in der Wissenschaft komme es zudem mehr auf den Begriff einer Sache, durch den man etwas von dieser zu wissen erlange, als auf die Sache selbst an sowie von einem schlechterdings richtigen Begriff das Fatum derselben abhängig sei.120 Die Logik, welche bis117 118 119 120

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 119. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 120. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 121 ff. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 124 f. 57

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weilen in natürliche und künstliche Logik eingeteilt wurde, ist unentbehrlich für die Rechtswissenschaft – wobei hier bemerkt sein soll, dass die traditionelle Einteilung durch das Logikverständnis der Kantischen Philosophie und damit durch die Unterscheidung von formaler und transzendentaler Logik verdrängt wurde.121 Reinhold behauptet in Übereinstimmung mit Kant, Philosophen und Logiker würden nicht akzeptieren, dass die Logik einen bestimmten Inhalt herleite, dem kein Begriff zugrunde liege sowie, dass sie lediglich solche Regeln zu errichten in der Lage sei, nach welchen ein Begriff anderen Ursprungs abgeleitet werde.122 Bei der wissenschaftlichen Handhabung des positiven Rechts sei der Begriff ihres Objektes völlig übergangen und vergeblich nach einer Propädeutik Ausschau gehalten worden, die vor allem mit dem Begriff des positiven Rechts zu tun habe sowie den Unterschied und die Verknüpfung seines Gegenstandes mit dem Naturrecht entwickele – wie auch den Zusammenhang zwischen philosophischer und positiver Rechtswissenschaft beleuchte.123 Daher könne der Ursprung dieser Wissenschaft nur in der Philosophie gelegen sein und der von ihr entwickelte Inhalt des allgemeinen Begriffes müsse bestimmt werden, sodass feststehe, was zum Umfang des positiven Rechts gehöre und davon abweiche, sowie positive Juristen sich darum bemühen, herauszustellen, was wirklich in diesem Umfang enthalten sei, da beide Gruppen schlicht verschiedene Sichtweisen an den Tag legen und unterschiedlichen Fachbereichen zuzuordnen sind.124 »Allein, [w]as positiv heiße, und heißen könne, ohne daß der Begriff des Rechts, wenn er mit dem des Positiven verbunden wird, aufgehoben werde [,] – diese Frage kann eben so wenig als die Frage über das Recht überhaupt von dem positiven Juristen als solchen, muß schlechterdings durch Philosophie beantwortet werden. Ueber die eine sowohl als die andere Frage hat die Philosophie bisher allerley 121 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 125 sowie Bondeli, Kommentar 118 zum Vierten Brief, in: ebd., 347. Diese Abgrenzung hinderte allerdings nicht vor weiteren Streitigkeiten um das Recht der natürlichen Logik. 122 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 125 f sowie Kant, KrV, 1968, A 54/B 78, 76 f. und Bondeli, Kommentar 119 zum Vierten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 347. 123 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 126 f. 124 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 127 f. 58

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mehr oder weniger unbestimmte Antworten, aber keineswegs die durchgängig bestimmte und einzig mögliche aufgestellt; und sie kann dieselbe auch so lange nicht aufstellen, […] als ihre Anhänger […] die […] an sich selbst zur allgemeinen Befriedigung tauglichen Grundbegriffe von Recht und positivem Rechte entweder schon wirklich zu besitzen glauben, oder für etwas unmögliches halten. […] So lange aber diese Uneinigkeit dauert, […] so lange hat die Philosophie der Jurisprudenz nichts anzubieten, was diese als […] zuverlässige, ausgemachte, unfehlbare Grundlage gebrauchen könnte […]. […] Es fehlt aller bisherigen Philosophie an einem durchgängig bestimmten Begriff vom Recht überhaupt, und man kann, so lange der gegenwärtige Zustand der Philosophie dauert, auch nicht darüber einig werden, was zu einem solchen Begriff gehöre.«125 Demnach müssten sich Experten des positiven Rechts auch in Bezug auf das Naturrecht an die Resultate der philosophischen Rechtswissenschaft und philosophierenden Vernunft halten, dadurch für die Bestimmung des Rechtsbegriffs eine Erneuerung der Philosophie notwendig sei, welche mithilfe einer Auffindung allgemeingeltender Prinzipien sowie der Achtung vor diesen nun einer Anarchie bzw. Gesetzlosigkeit unter den Selbstdenkern trotzen könne – eine Reformation, »welche viel Kampf und davon unzertrennliche Staubwolken veranlassen muß, die sich nur mit der Zeit verlieren können.«126 In Rücksicht auf diese Thematik erklärt Reinhold, dass er selbst zwar noch keinen vollends bestimmten Begriff des positiven Rechts erzielt habe, im nun folgenden, fünften Brief aber zumindest Ansätze zu einer Differenzierung und Verknüpfung von positivem und natürlichem Recht geben werde.127 Bei diesem handelt es sich um eine dem Stil wie der Terminologie nach teils stark veränderte und erweiterte Fassung des zweiten Teils jenes Aufsatzes »Ehrenrettung des positiven Rechts«, wobei Reinholds Ambition, bisherige Resultate zum Verhältnis von eigennützigem und uneigennützigem Trieb in Bezug auf den Begriff des Rechts neu zu konkretisieren, ersichtlich wird.128 Durch die Kantische Philosophie nun 125 126 127 128

Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 130 ff. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 135. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Vierter Brief, 135. Vgl. Bondeli, Kommentar 122 zum Fünften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 348 f. 59

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soll künftige Einhelligkeit zwischen der moralischen und politischen Gesetzgebung sowie zwischen natürlicher und positiver Rechtswissenschaft vorherrschen. »Die Wirklichkeit des von unsrer bisherigen Philosophie theils geläugneten, theils verkannten uneigennützigen Triebes in der menschlichen Natur, und sein Verhältniß zu dem längst und allgemein anerkannten eigennützigen, ergiebt sich aus der durch Kant zuerst vorgenommenen Zergliederung der ursprünglichen, aller Erfahrung vorhergehenden und zum Grunde liegenden Vermögen des menschlichen Geistes. Allein da die Widersinnigkeit dieses uneigennützigen Triebes und er von ihm unzertrennlichen Freyheit für die meisten Philosophen unserer Zeit ausgemacht ist: so ist auch die ganze Kantische Philosophie in den Augen dieser Philosophen durch eben dasselbe Resultat widerlegt, welches ihr zur höchsten Empfehlung dienen sollte.«129 Eine solche Unterscheidung der Triebe scheint für Kant, dem dieses Ergebnis hier offensichtlich zugeschrieben wird, eher ungewöhnlich, zumal Reinhold von Ernst Platners Untersuchung hinsichtlich der (Un-/) Eigennützigkeit des Sympathiegefühls geprägt worden sein kann.130 An dieser Stelle, das sei kurz gesagt, tritt der Triebbegriff Reinholds zum ersten Mal deutlich in Erscheinung und findet Anwendung. Zu einem späteren Zeitpunkt wird noch genauer auf diesen Begriff einzugehen sein. Ein durchgängig bestimmter Begriff von Recht und Gerechtigkeit könne sich lediglich aus dem uneigennützigen Trieb sowie dessen Verbindung mit dem eigennützigen ergeben; wenn in der menschlichen Natur also neben dem instinktgeprägten eigennützigen Trieb ein uneigennütziger, welcher die Gesetzesmäßigkeit um ihrer selbst willen verteidige, existiere, so müsse das Rechtmäßige vom Nützlichen und dadurch überdies vom Gemeinnützigen unterschieden sowie letzteres nach gänzlich anderen Prinzipien als das Rechtmäßige beurteilt werden.131 In dieser Passage wird der Rechtsbegriff zum ersten Mal auf beträchtliche Art und Weise mit dem Begriff der Gerechtigkeit verknüpft, womit Rein129 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 136. 130 Vgl. Bondeli, Kommentar 123 zum Fünften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 349 sowie Platner, Philosophische Aphorismen, 1782, §§ 250 ff. 131 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 137 f. 60

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hold aussagen will, dass rechtmäßiges bzw. verbindliches Recht nur dort vorherrschend sein kann, wo das Recht auch wirklich rechtmäßig bzw. gerecht ist; mit dieser Äußerung wird sodann die Auffassung von Uneigennützigkeit bzw. Rechtmäßigkeit im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit im Allgemeinen angesehen, dadurch die Uneigennützigkeit vom Nützlichen überhaupt bzw. der Gemeinnützigkeit zu unterscheiden ist.132 Der Vernunft liege bei der Beurteilung des bloßen Rechts an der Forderung ihres eigentümlichen Triebes, bei derjenigen des Nutzens dagegen am Anspruch eines Triebes, welcher von ihrem unterschieden werden müsse, wobei sie im ersten Fall als »die für und durch sich selbst geschäftige, folglich als handelnde (praktische) – im zweyten hingegen nur als die für und durch den eigennützigen Trieb beschäftigte denkende (theoretische) Vernunft […]«133 wirke. Bei bloßem Recht werde die Vorschrift als Gesetz wiedergegeben, dem der eigennützige Trieb unterworfen sei, wohingegen bei bloßem Nutzen die Vorschrift durch eine Gesetzmäßigkeit vorstellig werde, welche lediglich durch den eigennützigen Trieb notwendig werden könne – diese Differenz »zwischen der Beherrschung des eigennützigen Triebes durch Sittlichkeit, und der Leitung desselben durch bloße Klugheit, ist in Rücksicht seiner Folgen (für die Glückseligkeit) […] auffallend« 134, insofern Sittlichkeit einen negativen und Klugheit einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden habe. »Die Uebereinstimmung unter den verschiedenen Forderungen des eigennützigen Triebes in der Person […] besteht […] in der Abwesenheit des Widerspruchs unter den Neigungen, und bringt nichts anderes als Zufriedenheit hervor.«135 Ebenso sei eine Übereinkunft zwischen den Postulaten des eigennützigen Triebes in einem oder aber allen Personen bzw. die Gemeinnützigkeit als lediglich negativ zu bewerten; diese müsse als fehlender Widerspruch zwischen privatem Interesse und allgemeinem Nutzen charakterisiert werden und erzeuge darüber hinaus bloß Unschädlichkeit eines Individuums für die jeweilige Gesellschaft sowie deren Sicherheit.136 Das negative Wohlbefinden trete sodann durch Klugheit ein, welche die Begebenheiten des eigennützigen Triebes dahin132 Vgl. Bondeli, Kommentare 125 sowie 127 zum Fünften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 349. 133 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 138 f. 134 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 139. 135 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 139. 136 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 139 f. 61

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gehend regele, dass dessen Gesetz genutzt werden könne und in Bezug auf das Sittengesetz vom uneigennützigen, hinsichtlich einer Regel der Anwendung jenes Gesetzes vom eigennützigen Triebe sowie dessen Gegenständen in der Erfahrung abhänge.137 »Daß ich keinem Menschen Schaden zufügen darf, ist ein Gesetz der Gerechtigkeit, das, von aller Erfahrung unabhängig, in meiner vernünftigen Natur gegründet ist. Worin aber der Schaden bestehe, und wie er vermieden werden könne, ist ein Ausspruch der Klugheit, welche die dazu gehörigen Data nur aus dem eigennützigen Triebe und der Erfahrung schöpfen kann. Hiedurch löset sich das Räthsel von selbst auf: wie alles Recht überhaupt von der Erfahrung unabhängig seyn könne, und gleichwohl kein besonderes Recht, dasselbe mag nun natürlich oder positiv heißen, ohne besondere Data der Erfahrung sich denken lasse [.] […] Der Unterschied zwischen dem natürlichen und positiven Rechte besteht daher keineswegs darin, daß das eine seinen Inhalt aus der bloßen Vernunft, das andere aus der Erfahrung herleitet; weil BEYDE nur das allgemeine Gesetz der Gerechtigkeit aus der bloßen Vernunft, die Regel der Anwendung dieses Gesetzes aber nur aus der Erfahrung ziehen können.«138 Bezüglich des Verhältnisses von natürlichem und positivem Recht wird hier angegeben, dass beiden Arten des Rechts gemäß Reinhold sowohl eine praktisch-vernünftige als auch eine empirische Seite zukomme, insofern das positive Recht (und nicht nur das natürliche) in Hinblick auf eine bereits vorherrschende oder geforderte Gerechtigkeit anzusehen sei.139 Aber worin besteht nun der Unterschied zwischen den beiden Rechten? Um diese Frage zu beantworten, wird Reinhold zuvor die Unterscheidung sowie Verknüpfung zwischen Moral und Naturrecht zu bestimmen versuchen, zumal beide stets dadurch differenziert worden seien, dass das Naturrecht auf Zwangspflichten und die Moral auf Gewissenspflichten begrenzt worden sei – da man den Ursprung von Pflicht im Allgemeinen verkannt habe, sei eine Moralität der Zwangs137 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 140 f. 138 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 141. 139 Vgl. Bondeli, Kommentar 129 zum Fünften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 350. 62

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pflichten beseitigt und das Naturrecht unzureichend von der Moral selbst unterschieden worden.140 Gemäß Reinhold sei zwischen Äußerungen des gesunden Menschenverstandes und einer philosophierenden (sich selbst durch Begriffe lenkenden) Vernunft zu differenzieren, wobei sich das Sittengesetz auf verschiedenen Ebenen abzeichne; Wohlwollen sei demnach als vernünftiges Gesetz der Gerechtigkeit zu charakterisieren, welches sich im menschlichen Bewusstsein als selbstloses bzw. uneigennütziges Gefühl abzeichne und zu den Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes gehöre, dadurch das Recht, welches einen Bezug zu Moral, Naturrecht und positiver Jurisprudenz aufweise, stets als das sittlich Mögliche verstanden werden müsse.141 Lediglich die (Un-/)Richtigkeit des Begriffes, welcher vom Zusammenhang zwischen Moral und Naturrecht handelt, sei erstens durch die (Un-/)Richtigkeit des Rechtsbegriffes, die moralische Möglichkeit sowie folglich durch den Moralitätsbegriff bedingt.142 Im folgenden Absatz legt Reinhold Kant nun Aussagen zu Freiheit und Moralität in den Mund, an denen er Zweifel hegt: »Nach der Vorstellungsart der Kantischen Philosophie besteht die Moralität in dem Verhältnisse einer Handlung des Willens zum Gesetz der praktischen Vernunft […]. Die Moralität hängt in so ferne ganz von der Freyheit […] des Willens ab, in wie ferne das praktische Gesetz durch diese Freyheit befolgt oder übertreten werden kann. In wie ferne der Wille frey ist, ist ihm das Befolgen und Uebertreten des Sittengesetzes gleich möglich; hierin besteht seine natürliche Freyheit, sein physisches Vermögen. In wie ferne der Wille unter dem Sittengesetze steht, ist ihm nur dasjenige möglich, was diesem Gesetze nicht widerspricht; hierin besteht seine moralische Freyheit, sein moralisches Vermögen, Recht. […] Was dem Gesetze nicht widerspricht, und noch dazu […] Nothwendig ist, heißt Pflicht. Was dem Gesetze nicht widerspricht, aber […] bloß möglich ist, […] heißt Recht in engerer Bedeutung [.] […] Dieses Recht ist die durchs Gesetz zugestandene und zugesicherte Freyheit des Willens, die moralische Freyheit im engern Sinne; ein Gut, das der natürlichen Freyheit weit 140 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 142. 141 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Briefe II, 2008, LXI f. 142 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 146. 63

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vorzuziehen, und neben der sittlichen Gesinnung das höchste und heiligste ist.«143 Freiheit bedeutet für Kant nie ein physisches Vermögen, sondern ist die Bestimmung der Vernunft durch sich selbst. Alles andere muss als Fremdbestimmung bezeichnet werden – demnach als Unfreiheit, worunter auch jede physische Bestimmung fällt. Der Begriff der Pflicht wird bei Kant im Vergleich zu dem hier dargestellten darüber hinaus als schlechterdings guter Wille expliziert, dessen Abhängigkeit vom Autonomieprinzip Verbindlichkeit genannt wird; die objektive Notwendigkeit eines Geschehens aus dieser Verbindlichkeit heraus müsse wiederum Pflicht genannt werden.144 Das Befolgen des Sittengesetzes wird darüber hinaus »bei Kant aber nicht im Sinne eines Verhältnisses von philosophischer Vernunft und gesundem Menschenverstand fortentwickelt. Und sie führt Kant deshalb auch nicht zu der für Reinhold typischen Auffassung, das Gesetz der moralischen Vernunft werde auf der Stufe unseres freien Willens oder unseres Selbstbewusstseins am adäquatesten im uneigennützigen Trieb ausgedrückt.«145 Hierin unterscheiden sich die beiden Denker erneut voneinander, sofern bei Kant eine Unterscheidung von eigennützigem und uneigennützigem Trieb nicht einmal ansatzweise angedeutet ist. Zweitens sei der richtige Begriff einer Verknüpfung von Moral, Naturrecht und positivem Recht durch einen bestimmten Begriff der Abgrenzung zwischen den einzelnen Gegenständen dieser Wissenschaften bedingt; Moral werde insofern als Lehre sittlicher Gesetzgebung sowie positive Jurisprudenz als diejenige positiver Legislation dargestellt.146 Das Naturrecht dagegen solle laut Reinhold ein solches Recht verkörpern, welches vom positiven und bloß sittlichen Gesetz zu differenzieren sei; »ein Recht, das zwar als solches durch das Sittengesetz, aber als Naturrecht […] vermittels 143 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 146 ff. 144 Vgl. Bondeli, Kommentar 137 zum Fünften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 353 sowie Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (im Folgenden lediglich: GMS), 1968, AA IV, 439. 145 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXIII. 146 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 148 f. 64

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der Dazwischenkunft der Natur, oder der physischen Nothwendigkeit, bestimmt wird.«147 Sofern bei jedem Menschen ein freier Wille zu verorten sei, stehe dieser lediglich unter dem Gesetz praktischer Vernunft, obwohl er hinsichtlich seines Begehrens auch den Naturgesetzen selbst unterworfen sein müsse – dadurch sei es ihm schlechterdings unmöglich, einen anderen Menschen lediglich nach den Gesetzen des Begehrens bzw. nach Naturgesetzen zu beurteilen.148 »Dieses Recht nun heißt Naturrecht, in wie ferne ich dasselbe durch [ein] übertretene[s] Sittengesetz erhalte, wodurch dieser in so ferne seine Unverletzlichkeit gegen mich verwirkt hat. – Es ist nicht Naturrecht, sondern Gewissensrecht, in wie ferne der Gebrauch desselben von dem Sittengesetz in meiner Person, von den Aussprüchen meines Gewissens abhängt. In der letztern Rücksicht gehört es in die Moral, und nur in der erstern macht es das Objekt der besondern Wissenschaft aus, welcher der Sprachgebrauch ausschließlich den Namen des Naturrechtes bestimmt hat. […] Auf diese Weise allein ist mir die Gerechtigkeit […] begreiflich geworden. Ich weiß nun erst, warum ich einen andern Menschen zu meinem bloßen Vortheile nicht zwingen darf, auch wenn ich ihn durch meine physischen Kräfte zwingen könnte; […] [i]ch begreife nun den höchst merkwürdigen, bisher so sehr verkannten Unterschied zwischen […] dem, was ich durch das Gesetz der Freyheit, dem ich mich selbst unterwerfe, darf und soll, und dem, was ich durch das Gesetz der Nothwendigkeit, dem ich durch mein unwillkührliches Begehren unterworfen bin – kann und muß.«149 In engerer Bedeutung umfasse das Naturrecht nur diejenigen Anwendungen des Grundgesetzes, welche aus bestimmten, allgemeinen Begriffen von Gesellschaft, Staat usw. abgeleitet werden können, wohingegen unter positivem Recht in engerer Bedeutung der Prototyp von Gesetzen verstanden werde, die tatsächlich als Begriffe von Pflichten und Rechten zugrunde liegen und dadurch stets als Anwendungen des Gesetzes der Gerechtigkeit gelten sollen, auch wenn es in der Realität nicht 147 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 151. 148 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 151 f. 149 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 153 ff. 65

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immer der Fall sei.150 Dieses Anliegen Reinholds, eine Unterscheidung zwischen gültigem Naturrecht sowie gültigem, positiven Recht herauszustellen, wird am Begriff der Sanktion festgemacht, dadurch beim positiven Recht im Gegensatz zum natürlichen stets eine doppelte Sanktion aus Sittengesetz und gesellschaftlicher Gewalt erfolgt; Kant bezeichnet innerhalb der Metaphysik der Sitten sodann diejenigen Gesetze, »zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden […], heißen positive Gesetze.«151 Gemeinnütziges erlange nach Reinhold eine gesetzliche Sanktion auf natürliche Weise durch den uneigennützigen Trieb oder aber auf künstliche Weise durch den eigennützigen, sowie die Gemeinnützigkeit eines positiven Gesetzes durch eigennützige Klugheit angegeben werde, sofern der allgemeine Nutzen unabhängig vom uneigennützigen Trieb und dem Gesetz praktischer Vernunft existiere.152 »Der eigennützige Trieb in der menschlichen Natur erwacht vor dem uneigennützigen: die Vernunft ist, als Klugheit, im Dienste des Instinktes geschäftig, bevor sie, als Wahrheit, zu gebiethen anfängt; und die politische Kultur des menschlichen Geistes geht der moralischen vorher. […] Allein mit der Ueberzeugung von der Gemeinnützigkeit dieser Gesetze erwachte […] das Gefühl [der] Gerechtigkeit.«153 Die sogenannte Gemeinschädlichkeit etwaiger durch positive Gesetze untersagte Handlungen nun halte den uneigennützigen Trieb in einem Menschen dazu an, diese Verbote als Gesetze zu etablieren, wobei zwischen bürgerlichen und (im engeren Sinne) politischen Gesetzen differenziert werden müsse, von denen erstere den Erhalt eines Staates lediglich durch Sicherheit seiner unterschiedlichen Komponenten bezwecken sowie letztere auf den Vorteil von einzelnen Menschen durch das Wohl eines Staates abzielen.154 Politische Prinzipien weisen mannigfaltige Ausnahmen, kritische Äußerungen und Revisionen auf, dadurch die 150 151 152 153 154

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 157. Bondeli, Kommentar 141 zum Fünften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 354. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 158 f. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 161. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 162 f. 66

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bürgerliche Wissenschaft des Rechts auf so offensichtliche Weise über der politischen gelegen sein müsse, dass eine Entscheidung zu etwaigen politischen Rechtsangelegenheiten, Unruhen oder Erneuerungen dem Zufall zu überlassen sei.155 Gerechtigkeitscharakter könne politischen Gesetzen nur dann zuteil werden, wenn die einzelnen Glieder des Staates zum Besten für alle Menschen und ohne Berücksichtigung persönlicher Vorteile agieren; da die Gemeinnützigkeit solcher Gesetze überdies mittels Klugheit erreicht werden müsse, diese allerdings wiederum auf Erfahrung gründe, so ergebe sich, dass dasselbe Gesetz unter bestimmten Umständen sowohl gemeinnützig als auch gemeinschädlich sein könne.156 »Der Einfluß der moralischen Gesinnung auf Staatsverfassung und Staatsverwaltung bleibt so lange dem Zufalle überlassen, als die Quelle der Gerechtigkeit theils ein völliges Geheimniß, theils unter den Selbstdenkern und Lenkern des Geistes der Nationen streitig ist. Die Vernunft räumt offenbar dem Zufalle zu viel ein, […] wenn sie nicht anzugeben weiß, was der Zufall, d. h. das von ihr ganz unabhängige Schicksal, was die Klugheit, und was die Weisheit beyzutragen haben; und wenn sie fortfährt, […] das Gesetz ihrer eigenen freyen Wirkung, ihrer Autonomie, sich aus den Gesetzen der Naturnothwendigkeit, des Zwangs, und des Instinktes zu erklären.«157 Natürliches und positives Recht sind demnach als Einheit zu begreifen, zumal nur jenes zu einem sachgerechten und wirksamen sowie dieses zu einem moralisch legitimen Recht werden kann, dadurch also beide Rechtsarten sowohl auf Vernunft als auch auf Erfahrung beruhen.

155 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 163 f. 156 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 171 f. 157 Reinhold, Briefe II, 2008, Fünfter Brief, 172 f. 67

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2.5 Auswertung des Sechsten Briefes in Bezug auf den »Beytrag zur genaueren Bestimmung der Grundbegriffe der Moral und des Naturrechts. Als Beylage zu dem Dialog der Weltbürger.« Nachdem im vorhergehenden Brief der Grundstein zu einer gewissen Einhelligkeit zwischen moralischer und politischer Gesetzgebung sowie zwischen natürlicher und positiver Rechtswissenschaft gelegt worden ist, soll im sich anschließenden, sechsten Brief die methodische Arbeit zum Begriff der Sittlichkeit sowie der Versuch einer neuen Darstellung etwaiger Grundbegriffe wie auch Grundsätze von Moral und Naturrecht unternommen werden.158 Hierbei wird deutlich, dass Reinhold Philosophie auf andere Art und Weise als System begreift, als Kant dies tut, nämlich indem Grundbegriffe und Grundsätze zwar auf Kantischer Basis, aber innerhalb eines neuen, gesamtsystematischen Rahmens entwickelt werden. Deutlicher wird diese Tatsache noch innerhalb der Fundamentschrift Reinholds zu Tage treten; sie sei an dieser Stelle lediglich erwähnt. Es handelt sich insgesamt um eine inhaltlich, stilistisch sowie terminologisch überarbeitete Fassung des zugrundeliegenden Aufsatzes von 1792, wobei deutliche Abwandlungen »durch die stärkere Gewichtung der Unterscheidung von Recht in weiterer und engerer Bedeutung« 159 ersichtlich sind. Alles, was sich bereits zum Verhältnis von Moral und Recht sowie zur Abgrenzung derselben vom Naturrecht abgezeichnet hat, wird hier in einer umfassenden »Darstellung der Grundbegriffe und Grundsätze der Moral und des Naturrechts« expliziert, die als Beisteuerung zu einem System praktischer Vernunft aufgefasst werden soll, welches demjenigen aus der Kantischen KpV Folge leistet und daher in seinen Grundzügen mit dieser Schrift sowie auch mit der Metaphysik der Sitten konform geht.160 Eintracht zwischen moralischer und positiver Gesetzgebung sowie zwischen den Lehren natürlicher und positiver Rechte sei nur insofern absehbar, als die philosophierende Vernunft Einigkeit über etwaige Grundbegriffe wie auch Grundsätze – das Naturrecht selbst betreffend – erlange und gänzlich bestimmte Begriffe sowie allgemeingeltende Grund158 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXV. 159 Vgl. Bondeli, Kommentar 149 zum Sechsten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 357. 160 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXV. 68

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sätze ableiten könne.161 Vorläufige Begriffe, welche innerhalb der kritischen Schriften entwickelt sind, gereichen nach Reinhold bisweilen nicht immer zu idealen und durchgängig bestimmten, dadurch die folgenden 42 Abschnitte zu Grundbegriffen von Moral und Naturrecht ausgearbeitet und als ausgemacht vorausgesetzt werden.162 Daran zeigt sich, wie zuvor erwähnt, etwas von Kant Abstrahierendes, sofern etwaige Grundbegriffe und Grundsätze, welche nachfolgend aufgestellt werden sollen, bei diesem als lediglich vorläufig bezeichnet werden können. Erst durch Reinhold werden solche Begriffe nun komplettiert und ausgearbeitet. Diese sollen nun gänzlich, jedoch in Kürze dargestellt werden, wobei chronologisch vorgegangen wird. Bei den Abschnitten 1) bis 7) handelt es sich um allgemeine Begriffe, die keinem speziellen Titel zuzuordnen sind. Allen darauffolgenden Punkten liegt ein solcher zugrunde, was anhand der anschließenden Tabelle expliziert werden soll. TITEL163

ABSCHNITTE

(kein Titel)

1)–7)

Sittlichkeit

8)–12)

Recht in weiterer Bedeutung

13)

Pflicht

14)

vollkommene und unvollkommene Pflicht

15)

Recht in engerer Bedeutung

16)–18)

vollkommenes und unvollkommenes Recht

19)

Gut und Gerecht

20)–22)

Pflichten und Rechte gegen uns selbst

23)

Pflichten und Rechte gegen Andere

24)–25)

Wohltätigkeit

26)164

Gerechtigkeit gegen Andere

28)–29)

Zwang, Zwangsrecht, Zwangspflicht

30)–35)

Gewissensrecht und Naturrecht

36)–42)

161 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 174. 162 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 179 ff. 163 Diese Tabelle ist in Eigenarbeit der Verfasserin entstanden. Die zugrundeliegenden Informationen beziehen sich sämtlich auf: Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 181 ff. 164 Abschnitt 27) fehlt merkwürdigerweise. 69

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Nach etwaigen inhaltlichen Explikationen folgen interpretatorische Erläuterungen zu allen Abschnitten in Zusammenhang zueinander sowie zum Vorhaben Reinholds, welches hierdurch verfolgt wird. Zunächst aber sollen erstere gegeben werden, wobei lediglich auf zentrale und entscheidende Resultate eingegangen werden kann. 1) Dem menschlichen Begehrungsvermögen sind zwei unterschiedliche wie fusionierte Triebe zu eigen, deren erster aus der Sinnlichkeit entspringt und das Vergnügen überhaupt als Gegenstand aufweist (Trieb nach Vergnügen) sowie deren letzter der Selbsttätigkeit entspringt und ein Gesetz etabliert, welches nur durch sich selbst notwendig sein kann (praktische Vernunft). Triebe sind diese dadurch, dass sie etwas instinktiv in die Tat umsetzen und eine absolut notwendige Handlungsweise innehaben. Sofern der Wille autonom handelt, ist er von den Trieben zu unterscheiden und muss als freies Vermögen angesehen werden.165 2) Unter dem eigennützigen Trieb, durch Lust oder Unlust veranlasst, soll dasjenige Streben verstanden werden, welches etwaigen Genuss als Gegenstand aufweist.166 3) Unter dem uneigennützigen Trieb kann lediglich die praktische Vernunft begriffen werden, da diese einen Trieb darstellt, »dessen Forderung ein Gesetz ist, dem alle freywilligen Befriedigungen des eigennützigen Triebes unterworfen sind.«167 4) Der Wille äußert sich in der Möglichkeit jedes Einzelnen, sich selbst für die (Nicht-/)Befriedigung eines Verlangens des eigennützigen Triebes zu entscheiden; das Wollen ist insofern Selbstbestimmung für bzw. gegen etwaige Postulate des uneigennützigen Triebes, um den eigennützigen zu befriedigen oder eben nicht.168 5) Begehren in engerer Bedeutung nennt sich die Forderung des eigennützigen Triebes »und ist als die Wirkung des sinnlichen […] Triebes (des Instinktes) nothwendig.«169

165 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 181 f. 166 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 182. 167 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 183. Weitere Erörterungen des Begriffes der Uneigennützigkeit von sittlichen Triebfedern folgen im siebten Brief. 168 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 183. 169 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 184. 70

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6) Der Anspruch des uneigennützigen Triebes wird reines Wollen genannt und muss als frei angesehen werden, insofern diese Art des Wollens die (Nicht-/)Befriedigung des eigennützigen Triebes angibt; als Gesetz der praktischen Vernunft ist dieses Postulat notwendig und dadurch vom reinen Wollen unterschieden.170 7) Freiheit des Willens besteht in dem Vermögen, sich selbst gemäß oder zuwider einer Anforderung des uneigennützigen Triebes zu bestimmen sowie darin, das Gesetz der reinen Selbsttätigkeit entweder einzuhalten oder aber zu missachten.171 8) Sittlichkeit bzw. Moralität in weiterer Bedeutung bezeichnet den Zusammenhang zwischen Forderungen des eigennützigen und uneigennützigen Triebes; in engerer Bedeutung (als moralische Güte definiert) zielt sie auf die bei einer Willenshandlung auftretende Subordination der Befriedigung des eigennützigen Triebes unter eine Forderung des uneigennützigen ab. Der Gegensatz zur Sittlichkeit ist sodann die Unsittlichkeit. Nur selbstbestimmte Handlungen können als sittlich oder unsittlich bezeichnet werden, da ohne Willensfreiheit keine Sittlichkeit erdenklich wäre.172 9) Das Sittengesetz kann folgendermaßen definiert werden: »Bey allen deinen Willenshandlungen sey die Befriedigung oder Nichtbefriedigung deines eigennützigen Triebes der Forderung des uneigennützigen untergeordnet.«173 Es zielt lediglich auf die Richtung bzw. Gesinnung des Willens ab, wobei die Materie dieses Gesetzes in der freiwilligen (Nicht-/)Befriedigung des eigennützigen Triebes Bestand hat sowie die Form eine um ihrer selbst willen ersonnene Gesetzmäßigkeit ebendieser (Nicht-/)Befriedigung darzustellen vermag.174 Als Gesetz des Wollens ist jenes auf die freie Selbstbestimmung des einzelnen Menschen angewiesen.175 Unter einer Maxime wird sodann diejenige Vorschrift zur (Nicht-/)Befriedigung des eigennützigen Triebes begriffen, die sich eine Person durch Freiheit selbst zu geben in der Lage ist, wenn die »Kantische Formel: Handle nach derjenigen Maxime, von

170 171 172 173 174 175

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 184. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 185. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 186. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 187. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 188. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 188. 71

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der du wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz würde, das Sittengesetz […] ausdrücken soll.«176 10) »Unterordnung […] [und] Beschränkung […] der freywilligen Befriedigungen des eigennützigen Triebes ist das Objekt des Sittengesetzes.«177 Beide Triebe sind dem Menschen zuzuordnen, wobei der uneigennützige den eigennützigen beschränken kann.178 11) »Der uneigennützige Trieb setzt der Beschränkung des eigennützigen in so fern Gränzen, als er um seiner selbst willen, in gewissen Fällen, Befriedigung desselben vorschreibt.«179 12) Eine moralische Beschränkung wird als positiv bezeichnet, wenn sie zu einer festgelegten Enthaltung, negativ, wenn sie zu einer festgesetzten Befriedigung führt.180 13) »Recht ist, was durch Freyheit des Willens vermittelst des Sittengesetzes möglich ist. Diese Gattung begreift […] zwey Arten […], dasjenige, was durch Freyheit vermittelst des Sittengesetzes […] nothwendig ist, und dasjenige, was [dadurch] […] bloß möglich ist.«181 Ersteres muss als Recht in engerer Bedeutung, letzteres dagegen als Pflicht betitelt werden.182 14) Die Notwendigkeit einer Begrenzung, welche dem uneigennützigen Trieb entspringt, wird Pflicht genannt – allerdings lediglich diejenige, welche die Befriedigung des uneigennützigen Triebes, vom freien Willen abhängig, als Gegenstand aufweist, da jede andere als Zwang bezeichnet werden muss.183 15) Eine Pflicht, die unmittelbar aus dem Sittengesetz abgeleitet wird und demnach notwendig ist, wird vollkommen genannt; eine unvollkommene Pflicht entsteht dagegen durch eine Voraussetzung des moralischen Gesetzes. Die grundlegendste Bedingung zur Anwendung desselben ist die Willensfreiheit, dadurch also alle Maximen, welche

176 177 178 179 180 181 182 183

Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 189. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 190 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 190 f. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 192. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 192. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 193. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 193. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 194. 72

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diese Freiheit durch Naturgesetze eingrenzen, eine Anwendung des Sittengesetzes undenkbar werden lassen.184 16) Recht im engeren Sinne bedeutet (als Gegenteil der Pflicht) dasjenige, was durch das Sittengesetz für den Willen möglich ist. Durch unbeschränkte Willensfreiheit darf eine bloß rechtmäßige Handlung unterlassen oder aber ausgeführt werden, weil das Recht, welches in der natürlichen Freiheit, die eine Maßregelung durch das Sittengesetz nach sich zieht, besteht, wiederum aus einem Gesetz erfolgt, wodurch der Wille ebendieser Freiheit überlassen wird.185 17) Als äußerlich (material) wird das Recht insofern bezeichnet, als die zugrundeliegende Handlung lediglich nicht unerlaubt ist, wohingegen das Recht als innerliches (formales) gilt, sofern eine Handlung des vernunftgeprägten Subjektes lediglich mittels eindringlicher Beachtung der allgemeinsten Pflicht möglich und gestattet ist.186 18) »Recht verhält sich zur Pflicht, wie Möglichkeit der Befriedigung zur Nothwendigkeit der Beschränkung des eigennützigen Triebes.«187 19) Dasjenige Recht, welches direkt aus dem Sittengesetz hervorgeht und in einer sich auf den Anspruch des uneigennützigen Triebes belaufenden Freiheit ufert, heißt vollkommen, dasjenige, welches sich aus dem Sittengesetz nur unter vom Gesetz verschiedenen Bedingungen vollzieht, dagegen unvollkommen.188 20) Gut im weiteren moralischen Sinn bezeichnet eine Willenshandlung, welche dem Sittengesetz entsprechend und daher auch rechtmäßig (nicht nur pflichtgemäß) ist.189 21) Gerecht ist diejenige Handlung des Willens, welche dem Recht durch Betätigung oder Enthalt von der Einschränkung desselben angemessen ist sowie dasjenige als gerecht bezeichnet wird, was durch vollkommene Pflicht angegeben ist, dadurch die Übereinkunft des Willens mit dem Sittengesetz Gerechtigkeit, das der Pflicht widersprechende Wollen dagegen Ungerechtigkeit heißt.190

184 185 186 187 188 189 190

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 195 ff. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 197 ff. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 199. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 200. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 202. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 205. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 205 f. 73

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22) Güte bezeichnet eine Übereinkunft des Willens mit dem Sittengesetz in etwaigen Anweisungen, welche nicht ohne eine andere Bedingung aus diesem abzuleiten sind.191 23) Die sogenannte negative Beschränkung des eigennützigen Triebes, welche dem Gesetz gemäß unumgänglich ist, nennt sich Gebot, die positive, welche durch dasselbe ausgeschlossen wird, Verbot – »Diese Gebothe, Verbothe und Rechte machen die Pflichten und Rechte gegen uns selbst aus.«192 24) Der eigene, uneigennützige Trieb ist in der Lage, den eigennützigen unmittelbar zu begrenzen, während derjenige eines anderen Menschen den unseren eigennützigen nur mittelbar (unter Zuhilfenahme des uneigennützigen in uns selbst) beschränkt.193 25) Die Pflicht gegenüber anderen benennt erstens eine Notwendigkeit, auf solche Handlungen zu verzichten, »durch welche der eigennützige Trieb gesetzeswidrig in uns befriediget und in Anderen beschränkt würde«194, als Verbote sowie zweitens die Notwendigkeit von gesetzeskonformen Tätigkeiten, »durch welche der eigennützige Trieb in uns beschränkt, in Anderen aber befriediget wird, [als] Gebothe.«195 26) Eine selbstbestimmte Begrenzung des eigennützigen Triebes in uns selbst zur Befriedigung ebendieses bei anderen Menschen wird als Wohltätigkeitshandlung bezeichnet. Wer nicht aus Achtung gegenüber einer anderen Person wohltätig ist, agiert nicht aus Pflicht.196 27) Dieser Abschnitt fehlt in der ursprünglichen Fassung von 1792 und entsprechend auch in der hier zugrundeliegenden Fassung von 2008. Hierfür wird allerdings kein Grund angeführt. 28) »Die moralische Unmöglichkeit, die Person eines Andern […] willkührlich den bloßen Forderungen des eigennützigen Triebes in uns unterzuordnen, ist unmittelbar Folge des Sittengesetzes; und daher ist die Enthaltung von einer solchen Unterordnung ohne Ausnahme durch das Sittengesetz nothwendig, d. h. vollkommene Pflicht.«197

191 192 193 194 195 196 197

Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 206. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 206 f. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 207. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 208. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 208. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 208 f. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 210. 74

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29) Die Unterwerfung des freien Willens unter ein anderes Gesetz als das praktische ist dem Sittengesetz selbst zuwider – »In wie ferne die Erfüllung der vollkommenen Pflicht gegen Andere in der Achtung und Schonung der Rechte Anderer besteht, heißt sie Gerechtigkeit gegen Andere.«198 30) Zwang ist als Begrenzung einer willkürlichen Befriedigung des eigennützigen Triebes aufzufassen, welche nicht vom Gesetz des uneigennützigen herrührt.199 31) Als ungerecht muss ein solcher Zwang gelten, welcher einer Person willkürlich durch eine andere zuteilwird, dadurch Gerechtigkeit im Verzicht auf Zwang sowie die vollkommene Pflicht in der Notwendigkeit eines Verzichtes auf freiwilligen Zwang Bestand hat.200 32) »Der Satz, der den Begriff der vollkommenen Pflicht ausdrückt, […] heißt: Du sollst keinen Menschen willkührlich zur bloßen Befriedigung deines eigennützigen Triebes zwingen.«201 33) »Das Sittengesetz, welches dem Andern es unmöglich macht, mich freywillig zur bloßen Befriedigung seines eigennützigen Triebes zu zwingen, macht es mir möglich, von ihm nicht gezwungen zu werden […].«202 34) »Rechtmäßig ist der Zwang nur dann […], wenn […] derselbe zur Zurücktreibung des unrechtmäßigen Zwanges gebraucht wird, und das Zwangsrecht ist die durch das Sittengesetz bestimmte Möglichkeit, unrechtmäßigen Zwang durch Zwang abzuhalten.«203 35) Vollkommene Pflicht muss stets als Zwangspflicht bezeichnet werden, sofern deren Übertretung ein Zwangsrecht gegenüber dem Opfer hervorbringt; alle Pflichten werden als Gewissenspflichten betitelt, wenn ihre Befolgung auf Basis der eigenen, willkürlichen Beurteilung vonstattengehen soll und insofern nicht forciert werden darf.204 36) Das Zwangsrecht kann innerlich oder äußerlich fungieren – innerlich, indem Zwang nicht durch Gewissenspflicht angeordnet oder untersagt sowie äußerlich, indem derselbe durch ein sogenanntes äußer198 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 210 f. 199 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 211. 200 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 211 f. 201 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 212 f. 202 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 213. 203 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 213. 204 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 213 f. 75

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liches Faktum in Form eines unrechtmäßigen Zwangs möglich gemacht wird; »[d]as Zwangsrecht hört erstens auf ein innerliches Recht zu seyn, wenn mir […] das Zurücktreiben des ungerechten Zwanges zur Gewissenspflicht wird. […] [Es] hört zweytens auf, ein inneres Recht zu seyn, wenn die Ausübung […] durch eine Gewissenspflicht aufgehoben wird.«205 37) »Die Strenge des Zwangsrechts besteht also in der äußerlichen Unverlierbarkeit, die demselben durch das Sittengesetz zugesichert ist […].«206 38) »Das innerliche Zwangsrecht ist ein Gewissensrecht und gehört in die Moral; das äußerliche strenge Zwangsrecht heißt das natürliche Recht, und macht das Objekt derjenigen Wissenschaft aus, für die der Name des Naturrechts […] bestimmt ist.«207 Unter dem Gesetz der Natur werden allgemeingeltende Regeln begriffen, die eine Notwendigkeit oder einen Zwang nach sich ziehen; als Mensch nun steht man allerdings auch unter dem Sittengesetz, weil jeder über einen freien Willen verfügt, dadurch man eine andere Person stets in Bezug auf beide Gesetzmäßigkeiten beurteilen muss.208 39) »Das natürliche Recht, oder das Naturrecht […] ist das sittliche Vermögen, andere Menschen nach bloßen Naturgesetzen zu behandeln, in wie ferne dasselbe von der unrechtmäßigen Behandlung nach diesen Gesetzen abhängt.«209 40) »Die Wissenschaft des Naturrechts schränkt sich daher nur auf das äußerliche strenge Zwangsrecht ein, und begreift die vollkommenen Pflichten nur in so ferne, als sich ihre Erfüllung erzwingen läßt.«210 41) Der grundlegende Satz des Naturrechts lautet folgendermaßen: »Du darfst denjenigen, der dich zur bloßen Befriedigung seines eigennützigen Triebes zwingt, durch Zwang abhalten.«211 42) »In wie ferne die positive Sanktion der bürgerlichen und politischen Gesetzgebung Zwang ist, […] in so ferne ist das Naturrecht das verbindende Mittelglied zwischen dem Gewissensrecht und dem positi205 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 214 f. 206 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 215 f. 207 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 216. 208 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 216. 209 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 217. 210 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 217. 211 Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 217. 76

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ven Recht, zwischen der sittlichen und der positiven Gesetzgebung.«212 Außerdem ist festzuhalten, dass nur strenge Rechtmäßigkeit von Moral abgeleitet werden kann und das Naturrecht sowohl von Moral als von positivem Recht zu differenzieren ist.213 Alle diese Bezeichnungen agieren operativ und sind in der Lage, Definitionen von Sittlichkeit und Recht aufzustellen, wobei über die Kantische Philosophie hinaus ein gesamtumfängliches, neues Konstrukt der Begriffe Moral und Recht entwickelt wird.214 Dadurch soll Klarheit in die Debatte um eine Unterscheidung zwischen natürlichem und positivem Recht sowie Recht und Moral entstehen.215 Erläuterungen zum Begriff des Rechts werden kundgetan, mittels derer ein sogenannter erster Grundsatz des Naturrechts konstituiert werden soll; Reinholds Erarbeitungen zu diesem Begriff gehen auf eine Differenzierung zwischen Recht in engerer (moralisch möglicher bzw. erlaubter) und weiterer (moralischer) Bedeutung zurück.216 Eine solche Bestimmung des Rechts geht nicht mit derjenigen Kants konform, insofern der Erlaubnisbegriff bei diesem nicht so viel Bedeutung erlangt wie bei jenem und Kant darüber hinaus nicht mit der Reinholdschen Differenzierung beider Begriffsdefinitionen von erlaubt zu Werke geht, wodurch sich ein konzeptioneller Unterschied hinsichtlich der Rechtsbegriffe beider Philosophen ergibt.217 »In Reinholds Bemühen, eine engere Bedeutung von Erlaubnis geltend zu machen, drückt sich die Idee aus, dem eigennützigen Trieb in gesetzmäßiger Form einen Spielraum zu gewähren. Diese Idee ist für Reinholds Rechtsbegriff genauso konstitutiv wie der Gedanke einer unter dem Sittengesetz stehenden Handlungsform. Recht ist die Gesetzmäßigkeit im Verhältnis der eigennützigen Triebe, die dadurch ihr Recht geltend machen. Bei Kant dagegen scheint die 212 213 214 215

Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 219. Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief, 220. Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXV. Vgl. Bondeli, The Conception of Enlightenment in Reinhold’s »Letters on the Kantanian Philosophy«, in: di Giovanni [Hg.], Studies in German Idealism, Volume 9: Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment, 2010, 49. 216 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXV f. 217 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXVI f. 77

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Idee des Gewährens von Spielräumen für den eigennützigen Trieb zwar nicht bedeutungslos zu sein, sie ist aber keinesfalls wesentlich für die definitorische Seite seines Rechtsverständnisses.«218 Zudem wird ein Pflichtbegriff an die Hand gegeben, der sich in vollkommene und unvollkommene Pflicht unterteilen lässt und nicht dem konventionellen entspricht.219 Das Verhältnis beider Arten von Pflicht »wird von der üblichen Verklammerung mit dem Verhältnis von Rechtspflichten einerseits und moralischen, Tugend- oder Liebespflichten andererseits gelöst, indem davon ausgegangen wird, dass auch moralische Pflichten vollkommene Pflichten sein können.«220 Innerhalb der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten definiert Kant den Willen als ein Vermögen, sich (gesetzeskonform) selbst zum Handeln zu bestimmen.221 Reinhold unterbreitet hier eine dem Kantischen Sittengesetz entlehnte Darstellung bzw. eine auf den kategorischen Imperativ abzielende Forderung, derjenigen Maxime gemäß zu agieren, von der man zugleich wollen kann, dass sie ein gemeingültiges Gesetz wird, sofern das moralische Gesetz, welches die Subordination des eigennützigen Triebes unter einen Anspruch des uneigennützigen festsetzt, als Konsequenz des praktischen Gesetzes auf den freien Willen charakterisiert wird.222 »Auf dieser Basis wird das praktische Gesetz genau dann zum Sittengesetz, wenn es den Menschen in seinem freien Willen dazu auffordert, Maximen zu wählen, die [diesem] […] konform sind.«223 Ebenso lässt sich die Differenz von – dem praktischen Gesetz zukommender – Materie und Form auf eine Kantische Aussage aus der KpV zurückführen, der gemäß praktische Prinzipien noch keine praktischen Gesetze sind; Reinhold zufolge können nur solche Prinzipien als praktische Gesetze gelten, die ein Subjekt und insofern die Form des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des menschlichen Willens aufweisen, nicht die-

218 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXVII. 219 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXVII. 220 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXVIII. 221 Vgl. Kant, GMS, 1968, AA IV, 427. 222 Vgl. Bondeli, Kommentar 166 zum Sechsten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 361 f. sowie Kant, GMS, 1968, AA IV, 400 und Kant, KpV, 1968, AA V 35, 19. 223 Bondeli, Kommentar 166 zum Sechsten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 361. 78

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jenigen, welchen ein Objekt und demnach die Materie als Grund ihrer Bestimmung zu eigen ist.224 Bereits der sechste Brief deutet in markanter Weise an, dass Reinhold Willensfreiheit anders aufzufassen vermag, als Kant es tut. Für diesen ist der Wille mit der praktischen Vernunft gleichzusetzen. Die Freiheit des Willens leitet einen Menschen stets zu gutem und richtigem Handeln, weil das in seinem Wesen verankert ist. Daher ist das Böse für Kant eine aktive Willensbestimmung gegen die Vernunft und damit Naturbestimmung. Für Reinhold dagegen ist Willensfreiheit genau diese bewusste und eigentümliche Entscheidung zum Guten oder Bösen. Er differenziert demnach zwischen praktischer Vernunft, welche vorschreibt, was man tun soll, und einem individuellen Willen, welcher allein die freie Entscheidung, sich zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Triebes hin zu bestimmen, trifft. Die Beleuchtung dieses Freiheitsbegriffs, auf den in den folgenden Briefen noch genauer einzugehen ist, unterliegt der Anforderung, das bis dato nicht hinreichend bestimmte Fundament des Kantischen Begriffs der Sittlichkeit vollständig zu erklären und durch eigene Theorien wie Begrifflichkeiten zu ergänzen.225 2.6 Exzerption der neuen Briefe VII–IX Im siebenten und achten Brief werden die Begriffe des Willens als freies Vermögen und der Willensfreiheit festgelegt sowie Definitionen zu den beiden grundlegenden menschlichen Trieben vorgetragen, wodurch Reinhold Bericht zu einigen strittigen Auslegungen – den Kantischen Begriff von moralischer Freiheit betreffend – erstattet und damit seine Neuerungen zu einem Fundament der praktischen Elementarphilosophie vorstellt.226 »Mit Recht […] fordern Sie mich zur Erhärtung der Behauptungen auf, die ich bey meiner neuen Darstellung der Grundbegriffe und Grundsätze der Moral und des Naturrechts als ausgemacht angenommen habe, und durch welche ich im menschlichen Begehrungsvermögen 224 Vgl. Bondeli, Kommentar 167 zum Sechsten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 361. 225 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 52. 226 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXIX f. 79

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einen wesentlichen Unterschied sowohl zwischen einem uneigennützigen und einem eigennützigen Triebe, als auch zwischen diesen beyden Trieben und dem Willen voraussetze; einen Unterschied, aus dem sich, wenn er einmal zugegeben ist, alle in jener Darstellung von mir aufgestellten Grund- | Lehr- und Folgesätze, […] zu Ihrer völligen Befriedigung ergeben. Es ist nicht zu läugnen, daß auch schon in der bisherigen Philosophie Verschiedenheiten zwischen diesen drey Vermögen des Gemüthes behauptet wurden.«227 Die Ursache dieser Unstimmigkeit liege in einer allen philosophischen Lagern zukommenden Fehldeutung, welche sich auf diejenigen Aspekte beziehe, die ohne weiteres Hinterfragen als gegeben hingenommen werden, sodass angeblich nichts mehr hinzuzufügen sei; daher müsse jeder philosophische Disput so lange bestehen, bis ein Unparteiischer die Parteien untereinander versöhne.228 Beide wegen des uneigennützigen Triebes aneinandergeratenen Lager teilen bis dato lediglich die Ansicht, dass Lust und Unlust sowohl als Triebfedern des unwillkürlichen als auch des willkürlichen Begehrens bzw. Wollens zu gelten haben – darüber haben, wie Reinhold beteuert, bereits die Anhänger der Stoa mit den Epikureern Einigkeit erlangt.229 Um diesen Streitpunkt aufzulösen, müsse man sich die unterschiedlichen Bedeutungen des eigennützigen und uneigennützigen Vergnügens klar machen, indem das Angenehme dem Nützlichen entgegengehalten, unter letzterem alles, was ein Vergnügungsmittel darstellt, begriffen und die Bedeutung des ersteren auf das Vergnügen an sich bzw. den Genuss beschränkt werde.230 Wird das Adjektiv wahrhaftig hinzugefügt, gereicht das Nützliche sodann zur Triebfeder etwaigen Begehrens als Mittel zur Erreichung von Glückseligkeit.231 Der Zwist über die Uneigennützigkeit von Triebfedern, welche die Sittlichkeit betreffen, habe sich aufgrund der näheren Definition des Vergnügens überhaupt verändert, sofern bloßes Vergnügen vom sogenannten Wohlgefallen differenziert worden sei, wovon ersteres nur mit dem vorstellenden Subjekt, letzteres mit dem vorgestellten Objekt verknüpft werden könne; bei ersterem imponiere das Objekt lediglich aufgrund des 227 Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 220 f. 228 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 221 f. 229 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 223. 230 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 225. 231 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 226. 80

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angenehmen Zustandes und der Ursprung des Wohlgefallens gründe im Genuss, bei letzterem gefalle das Objekt um seiner selbst willen, dadurch der Ursprung von Genuss wiederum im Wohlgefallen gründe.232 »Man hat noch sehr wenig für die Bestimmtheit dieses Begriffes gewonnen, wenn man sich nicht weiter darüber zu erklären weiß, als daß man durch denselben den Beyfall denken müsse, den der Verstand dem Objekte des Vergnügens giebt. […] Der Grund des Urtheils, durch welches einem Objekte das Prädikat Angenehm beygelegt wird, liegt in dem Vergnügen, das dem Urtheile vorhergeht, und durch welches sich die Uebereinstimmung des Objektes mit dem sinnlichen Triebe des Subjektes allein anzukündigen vermag […]. Der Grund des Urtheils, durch welches einem Objekte das Prädikat Sittlichgut beygelegt wird, darf also nicht in dem Vergnügen liegen, und dieses darf nicht dem Urtheile vorhergehen, sondern muß erst auf dasselbe und aus demselben erfolgen, wenn das sittliche Vergnügen uneigennützig seyn soll.«233 Sittliche Anlagen seien als der Wille selbst zu charakterisieren, weil die Sittlichkeit die Gesetzmäßigkeit des Wollens ausdrücke sowie sittliches Wohlgefallen als Urteil über die Gesetzmäßigkeit einer Handlung des Willens gelten müsse und das Prädikat Gut nur ebendiese Richtlinie repräsentieren könne; insofern sei sittliches Wohlgefallen in zwei Urteile über die Gesetzmäßigkeit etwaiger Willenshandlungen zu unterteilen – nämlich in diejenige, welche geschehen soll und diejenige, die bereits geschehen ist.234 Unter dem Gesetz des Willens könne lediglich eine Vorschrift der Vernunft begriffen werden, welche mittels des Vergnügens notwendig bzw. ein Gesetz für den Willen werde – vorausgesetzt, der Wille überhaupt müsse durch das Vergnügen festgelegt werden; sittliches Vergnügen sei insofern nicht bloß als Vergnügen per se zu charakterisieren, sondern eben auch als sittliches, welches mit dem Wohlgefallen verbunden sei und aus dem Vergnügen abgeleitet werde.235

232 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 231 f. 233 Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 232 f. 234 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 234 f. 235 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 239 f. 81

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Es ist, um weiter im Text voranzuschreiten, eine Tatsache in Bezug auf das Wollen, dass dabei erstens derjenige Trieb, welcher lediglich durch Lust und Unlust erweckt werden könne sowie zweitens auch die Vernunft auf besondere Art und Weise zugegen sei; darüber hinaus sei es als Tatsache des Bewusstseins beim Wollen zu bezeichnen, dass es auch ein unwillkürliches Begehren gebe, welches Entschluss genannt werde, dessen wir uns als charakteristische Handlung unseres Ich sowie als solche, wodurch wir die (Nicht-/)Befriedigung der Forderung eines Begehrens erlauben oder verweigern können, bewusst würden.236 Unter Wollen werde demnach begriffen, dass man sich selbst für die (Nicht-/)Befriedigung eines Begehrens oder eines Postulats des eigennützigen Triebes entscheidet, unter Begehren in engerer Bedeutung dagegen, durch Vergnügen eingenommen zu sein – Handlungen, welche in bloßem Begehren gründen, werden von Reinhold als instinktartig betitelt, wohingegen solche, deren Ursprung im Willen gelegen sei, vernünftig genannt werden.237 Eine unsittliche Handlung könne daher – wie jede sittliche – nicht ohne Vernunft gedacht werden, insofern von einem unwillkürlichen Begehren ausgegangen werden müsse, welches notwendigerweise vernünftig sei – beim Wollen nämlich entscheide sich eine Person selbst, d. h. autonom für die Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Postulats des eigennützigen Triebes, dadurch sie bei der Autonomie ihrer Vernunft entweder gesetzmäßig oder gesetzeswidrig und dadurch willkürlich handele.238 Ein willkürlicher Gebrauch der Vernunft müsse gedacht werden können sowie der Anteil der Vernunft bzw. das Charakteristikum einer Handlung des Willens, nämlich der Entschluss, sich in derjenigen Vorschrift erschöpfe, welche eine Person sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes auferlege und als Maxime des Willens bezeichnet werde.239 »In der Maxime ist Vernunft mit Willkühr; im Naturgesetz des Begehrens Vernunft mit dem Triebe nach Vergnügen vereinigt; im praktischen Gesetz ist Vernunft für sich allein geschäftig […]. Man kann […] den Willen als das Vermögen der Maximen, oder der 236 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 244 f. 237 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 246 f. 238 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 248 ff. 239 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 251 ff. 82

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willkührlichen Vorschriften zur Wirklichkeit der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes erklären. […] Die Forderungen der beyden Triebe […] heißen Triebfedern des Willens, in wie ferne sie bey den willkührlichen Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen des Begehrens beschäftiget sind. […] Die Forderung des eigennützigen Triebes sowohl als die des uneigennützigen können […] nur durch Maximen zu Triebfedern des Willens werden […]. Der Wille bestimmt sich seine Triebfeder selbst.«240 Die letzte Aussage lässt an eine Kantische Redensart denken, der zufolge lediglich das moralische Gesetz für sich selbst Triebfeder ist und jeder moralisch gut handelt, der dieses als seine Maxime wählt.241 Der Wille bestimme seine Art und Weise zu handeln selbst durch Maximen, wohingegen das vernünftige Denken an ein einziges Prinzip geknüpft sei, nämlich an das moralisch korrekte.242 Um abschließend die Frage der Uneigennützigkeit einer sittlichen sowie die Eigennützigkeit einer unsittlichen Triebfeder zu beantworten, sei anzuführen, dass der Bestimmungsgrund sowohl der sittlichen als auch der unsittlichen Handlung der persönlichen Willkür eines Menschen zugrunde liege und beide Triebe bei jedem Wollen als objektive Gründe des Willens existieren müssen.243 Der Wille bestimmt sich selbst durch Freiheit zu Eigennützigkeit oder Uneigennützigkeit, indem bei einer sittlichen Handlung der veranlassende Grund in der Gesetzmäßigkeit der praktischen Vernunft, bei der unsittlichen in einem Postulat des eigennützigen Triebes verankert sei.244 Unter sittlichem Vergnügen werde sodann dasjenige begriffen, was mit dem Gesetz sowie einem diesem gemäßen Entschluss als Folge in Verbindung stehe – denn bloß dadurch könne auch ein uneigennütziges, sittliches Vergnügen existieren, welches allein den guten Willen als Gegenstand sowie Freiheit als wirkende Ursache im Einklang mit praktischer Vernunft vorzuweisen habe.245 Mit seinen Begriffen und Definitionen zum Willen sowie zur Freiheit geht Reinhold deutlich über Kant hinaus, indem er den Willen als frei240 Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 253 ff. 241 Vgl. Bondeli, Kommentar 216 zum Siebenten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 372. 242 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 258. 243 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 259. 244 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 260. 245 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief, 261. 83

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es Vermögen auffasst, welches sich eigennützig oder uneigennützig selbst zu bestimmen imstande ist und nicht etwa den Willen mit dem praktischen Gesetz gleichsetzt. Das dem Menschen eigentümliche, moralische Bewusstsein ist als moralisches Gefühl und nicht etwa als unmittelbarer Ausdruck praktischer Vernunft zu charakterisieren, dadurch das Selbstgefühl der Freiheit zu einem Selbstbewusstsein abgewandelt wird, welches für sich genommen einen Grund zur Rechtfertigung des moralischen Gefühls generiert.246 Ob dieses Argument Reinholds Bestand haben kann, wird sich allerdings noch zeigen müssen. An dieser Stelle sei lediglich angedeutet, dass innerhalb der Wissenschaft durchaus auch Stimmen zu vernehmen sind, die gegen dieses vorgehen, was in einem späteren Teil der Arbeit noch ausgeführt werden soll. Im sich anschließenden und ebenfalls neu verfassten, achten Brief wird nun die Definition von Willensfreiheit, welche die Abgrenzung von praktischer Vernunft bzw. Sittengesetz und dem autonomen Vermögen des Willens darstellt, ausführlich erörtert, die Reinhold seit April 1792 unmissverständlich erkennbar macht.247 Zunächst betont Reinhold, dass sowohl die KrV als auch die KpV den Freiheitsbegriff lediglich anzukündigen imstande waren, aber noch keine präzise Erklärung hierzu liefern; erst die Unterscheidung von unwillkürlicher Forderung und willkürlicher Befriedigung mache dies möglich, indem der Wille als Vermögen gedacht werde, sich selbst entweder für die willkürliche Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Begehrensforderung zu entscheiden.248 Der Wille überhaupt bezeichne für Reinhold erstens das Vermögen, sich selbst zur (Nicht-/)Befriedigung eines Verlangens des eigennützigen Triebes zu positionieren, dadurch dieser sich nur in Bezug auf Freiheit denken lasse, welche in der Unabhängigkeit eines Menschen von der Nötigung jenes Verlangens bestehe; der sittliche bzw. reine Wille werde zweitens als Vermögen betitelt, sich selbst zur (Nicht-/)Befriedigung eines Anspruchs desselben Triebes gemäß des Postulats des praktischen Gesetzes zu positionieren, sofern sich Willensfrei-

246 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 2004, 240. 247 Vgl. Bondeli, Kommentar 218 zum Achten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 373. 248 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 262 f. 84

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heit nur dadurch denken lasse, dass das praktische Gesetz eine Vorschrift sei, welche ihre Legitimation durch bloße Vernunft zu erlangen vermag.249 »Die Kantischen Schriften haben den bestimmten Begriff, der das logische Wesen des Willens enthält, nur erst vorbereitet, keineswegs schon geliefert. […] Kants Aeußerungen von dem Willen sollten, seiner eigenen Absicht nach, immer nur eine gewisse Bestimmung des Willens, die mit andern zum Wesen desselben gehört, nie aber das Wesen selbst ausdrücken. Wenn er daher den Willen bald «Causalität der Vernunft,» bald «ein Vermögen nach Principien, oder nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln,» bald «ein Vermögen, etwas gemäß einer Idee hervorzubringen» nennt: so ist es seine Schuld nicht, wenn diese Redensarten […] von seinen Schülern zu Definitionen erhoben […] werden. […] [U]nd selbst beym Wollen kommen dreyerley Vorschriften der Vernunft: die Maxime, das praktische Gesetz, und das Naturgesetz des Begehrens; vor, bey deren jeder die Vernunft auf eine andere Weise Causalität hat. […] In der Kritik der praktischen Vernunft ist von dem empirischen Willen als dem sinnlich-pathologisch-afficierten die Rede.«250 Drittens bestimmt Reinhold die Willensfreiheit als Vermögen, sich selbst für die (Nicht-/)Befriedigung eines Begehrens zu entscheiden – entweder gemäß dem Sittengesetz oder gegen dasselbe, dadurch sie frei von etwaiger Nötigung durch Vernunft im praktischen Sinne bestehe.251 Im negativen Sinn werden also die drei genannten Arten von Unabhängigkeit der Willensfreiheit verstanden sowie diese im positiven Sinn das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkür (im Einklang mit dem Sittengesetz oder diesem entgegengesetzt) darstellen; sowohl ein reiner als auch ein unreiner Wille seien daher lediglich mögliche Handlungsweisen eines autonomen Willens – beide müssen der Natur der Freiheit untergeordnet werden, »die ohne die Eine von beyden denkbar zu seyn aufhört.«252 Damit geht Reinhold über ähnliche Erläuterungen zur Begrifflichkeit von nega249 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 264 ff. 250 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 268 f. Hierbei werden einige Textstellen aus der KpV und der GMS herangezogen, vgl. dazu ausführlich Bondeli, Kommentare 227–232, in ebd. 376 f. 251 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 271 f. 252 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 272. 85

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tiver und positiver Freiheit bei Kant hinaus, sofern negative Freiheit für diesen normalerweise im Freisein von sinnlichen Antrieben besteht wie positive Freiheit an die Grundprinzipien sittlicher Vernunft gekoppelt ist.253 Absolut frei sei der Wille, sofern er entweder als reiner oder unreiner Wille handele, wobei der reine Wille lediglich ein sittliches Wollen betreffen und für den sittlichen oder a priori bestimmbaren genutzt werden könne, der unreine Wille dagegen für den unsittlichen.254 »Der Wille hört auf frey zu seyn, wenn man denselben einseitig betrachtet, und […] man sich denselben entweder dem praktischen Gesetze oder dem Naturgesetze des Begehrens unterworfen denkt.«255 Somit ist auch die Aussage Kants, dass der Freiheitsbegriff erst durch ein Bewusstsein des Sittengesetzes existent werde sowie das Erkennen des unbedingt Praktischen von diesem Bewusstsein abhänge, um Freiheit wirklich verstehen zu können, erwiesenermaßen wahr.256 »Die Realität der Freyheit hängt vom Bewußtsein der Forderung sowohl des eigennützigen als des uneigennützigen Triebes, aber auch noch überdieses von dem Bewußtseyn des Vermögens ab, die Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des Eigennützigen entweder durch oder gegen die Forderung des uneigennützigen selbst zu bestimmen. Das eine ist das Bewußtseyn der veranlassenden Gründe, das andere das Bewußtseyn des durch sich selbst bestimmenden Grundes, der die veranlassenden zu bestimmenden erhebt; das eigentliche Bewußtseyn seines bloßen Selbstes, als handelnden Wesens. […] Durch die praktische Vernunft bestimmt die Person selbst, aber unwillkührlich, dem Willen sein Gesetz; durch die Selbstthätigkeit der Willkühr hingegen handelt sie diesem Gesetze gemäß oder zuwider. Diese ist der einzige subjektive, und durch sich selbst bestimmende Grund – jene gehört zugleich mit den Forderungen des Triebes nach Vergnügen zu den objektiven und an sich selbst bloß veranlassenden Gründen des Wollens.«257 253 Vgl. Bondeli, Kommentar 240 zum Achten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 378 f. sowie Kant, GMS, 1968, AA IV, 446. 254 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 273 ff. 255 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 275. 256 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 276 sowie Bondeli, Kommentar 245 zum Achten Brief, in: ebd., ebd., 380. 257 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 276 ff. 86

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Die Ursache einer freien Handlung sei die Freiheit selbst sowie der Vernunft als reeller Grund, Freiheit als absolute Ursache begreifen zu können, das Selbstbewusstsein zu eigen sei, wodurch eine Handlung als Tatsache annonciert werde.258 Entgegen dieser These Reinholds wird bei Kant die Freiheit – als intelligible Ursache von Wirkungen in der Erscheinung – als Begriff angesehen, der lediglich problematisch gültig ist sowie eine Wirklichkeit von moralischer Freiheit in Bezug auf das (als sogenanntes Faktum der Vernunft behauptete) moralische Gesetz eröffnet wird; dadurch ergibt sich eine Freiheit, »von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sich verbindend erkennen.«259 Das Vermögen von Maximen bzw. willkürlichen Vorschriften sei darüber hinaus gänzlich von der praktischen Vernunft sowie vom sinnlichen und unwillkürlichen Begehrungsvermögen als unabhängiges Grundvermögen des Gemütes zu unterscheiden, welches lediglich aus sich selbst abgeleitet werden könne und in der ursprünglichen Einrichtung des menschlichen Geistes gegeben sei.260 Im Folgenden möchte Reinhold sich zum Verhältnis des von ihm aufgestellten Begriffes vom freien Willen zu etwaigen Kantischen Resultaten äußern, bevor er noch einmal zu neuer Polemik übergeht, die das Verkennen der Begriffe Freiheit und Wille thematisiert. »Kant hat zu oft und zu ausdrücklich behauptet, daß er auch die unsittlichen Handlungen für freywillig anerkenne, als daß man dafür halten könnte, er habe die Freyheit bloß auf den reinen Willen eingeschränkt, das Positive derselben in der praktischen Vernunft aufgesucht, und den Willen für nichts als die Causalität der Vernunft beym Begehren angesehen wissen wollen. Gleichwohl konnte und mußte Er behaupten, daß sich die Freiheit des Willens (des unsittlichen wie des sittlichen) nicht nur ohne das Bewußtseyn des Sittengesetzes, sondern auch unter der Voraussetzung denken lasse, daß die Vernunft bey der sittlichen Gesetzgebung praktisch sey. […] Die Kritik der praktischen Vernunft hat den Charakter, der das Sittengesetz von allen andern Gesetzen unterscheidet, zuerst dadurch bestimmt 258 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 282 f. 259 Kommentar 254 zum Achten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 383. 260 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 283 f. 87

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angegeben, daß dasselbe die einzige Vorschrift sey, die […] durch bloße Vernunft als Gesetz aufgestellt werde […]. Kant hat in diesem Werke mit einer bewundernswürdigen Genauigkeit das Gesetz der Sittlichkeit, als das Gesetz des Willens, von dem Gesetze der Glückseligkeit, als dem Gesetze des durch theoretische Vernunft modificierten und ganz unwillkührlichen Begehrens, unterschieden. […] Das Gesetz der Sittlichkeit wird […] die autonomische, das Gesetz der Glückseligkeit die häteronomische Vorschrift der Vernunft genannt.«261 In diesem Abschnitt werden mehrere Ansätze Kants aus der KpV sowie der GMS dargestellt. Vor allem seine Reflexionen zum Verhältnis von freiem Willen und Gegenständen des Guten und Bösen bekräftigen die Ansicht, dass Kant den sittlichen wie auch den unsittlichen Willen als Formen des freien Willens betrachtet; diesem gemäß werden etwaige Vorstellungen des Guten oder Bösen nicht durch Empfindungen hervorgerufen, da gilt: »Das Gute oder Böse bedeutet aber jederzeit eine Beziehung auf den Willen, so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen«262. Es wird allerdings nicht unmissverständlich nahegebracht, ob der autonome Wille auch derjenige Wille ist, welcher als wählender zur Selbstgesetzgebung angehalten wird – Kant unterscheidet also gemäß Reinhold nicht zwischen Selbstgesetzgebung, die gewollt ist und einer solchen, »zu der wir als Wollende durch die praktische Vernunft vorerst aufgefordert werden.«263 Im Fortgang des Briefes erklärt Reinhold, dass Kant die Vernunft als praktisch bezeichnet, »weil und in wie ferne sie dem Willen eine Vorschrift lediglich durch sich selbst, nur um der bloßen Vorschrift willen, giebt«264; damit wird auf eine Implikation des Kantischen Begriffs von praktischer Vernunft verwiesen, welche gleichermaßen die Bedeutung eines Gesetzes, das um seiner selbst willen konstituiert wird, erlangt, dadurch vom sogenannten Geltungssinn des Gesetzes die Rede ist, der autonom vorgeht.265 Die Handlungsweise, woran praktische Vernunft 261 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 285 ff. 262 Kant, KpV, 1968, AA V 105, 60 (sowie Bondeli, Kommentar 256 zum Achten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 383 f.) 263 Bondeli, Kommentar 257 zum Achten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 384. 264 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 288. 265 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 288 sowie Bondeli, Kommentar 262 zum Achten Brief, in: ebd., ebd., 385. 88

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geknüpft sei, bestehe für Reinhold sodann darin, dass ein Mensch sich durch bloße Vernunft lediglich eine Vorschrift zu geben in der Lage sei, welche eine Vorschrift um der Vorschrift willen darstelle; nur eine solche könne tatsächlich zum Gegenstand des uneigennützigen Vergnügens gereichen.266 Innerhalb der letzten hier dargestellten Passagen verkennt Reinhold den Kantischen Begriff der Maxime. Laut der KpV nämlich werden unter Maximen subjektive, praktische Grundsätze verstanden, die eine allgemeine Bestimmung des Willens innehaben, welche einige praktische Regeln unter sich subsumiert und die Bedingung derselben zugleich lediglich als für den Willen des Subjekts gültig von diesem betrachtet wird – sind die Grundsätze dagegen objektiv, müssen sie für den Willen jedes Vernunftwesens gelten.267 »Denn eine Maxime ist für Kant nicht deshalb vernünftig, weil sie Gott in souveräner Macht gebietet, sondern Gott gebietet sie, weil sie und er selbst vernünftig sind.«268 Subjektive Maximen, welche die Vernunft stets in sich tragen und sich danach ausrichten, sind es also, was er vor Augen hat und zu explizieren versucht. Für Reinhold dagegen äußert sich eine Maxime eher als willkürliche Vorschrift, die zwar grundsätzlich zu vernunftgeprägtem Handeln führen kann und auch soll, aber bei der nicht nur vernünftige Gründe eine Rolle spielen, sondern auch immer die Selbstbestimmung eines Menschen, einen Trieb zu befriedigen oder eben nicht. »Allein […] die praktische Vernunft ist kein Wille, ob sie gleich wesentlich zum Willen gehört, und sich bey jedem eigentlichen Wollen äußert.«269 Die Handlung praktischer Vernunft sei nur unwillkürlich, diejenige des Willens dagegen willkürlich; der Mensch sei sich also bewusst, dass es gerade nicht darauf ankomme, zu sollen oder nicht zu sollen, sondern darauf, dass man dasjenige, was man soll oder nicht soll, tatsächlich auch will – dadurch befolge zwar ein und derselbe Mensch das moralische Gesetz, nicht aber dasselbe Vermögen in einem Menschen.270 Kant nun habe zuerst nahegelegt, dass die reine Vernunft bei der sittlichen

266 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 289. 267 Vgl. Kant, KpV, 1968, AA V 35, 19. 268 Höffe, Klassiker auslegen Band 26: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 2002, 12. 269 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 293. 270 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 293 f. 89

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Gesetzgebung selbst tätig werde und das hierdurch konstituierte Gesetz letztlich objektiver Bestimmungsgrund einer moralischen Handlung sei.271 »Freyheit des Willens, Willkühr und Moralität sind von einander unzertrennlich. Die Person kann sich nur in so ferne zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung der Forderung des eigennützigen Triebes durch sich selbst bestimmen, sie hat nur in so ferne Willen, als sie durch den uneigennützigen Trieb von den Forderungen des eigennützigen, und durch Willkühr von den Forderungen beyder unabhängig ist. In dieser zweyfachen Unabhängigkeit besteht die negative, und in der Willkühr, oder dem Vermögen sich für eine der beyden Forderungen selbst zu bestimmen, die positive Freyheit des Willens, die sich […] nie ohne […] Moralität denken läßt.«272 Im Großen und Ganzen versucht Reinhold in den Briefen sechs bis acht, eine neue Definition von Willensfreiheit an die Hand zu geben, welche Kant grundsätzlich zwar entwickelt hat, die aber nicht als deutlich und vollständig angesehen werden kann; für diesen steht der kategorische Imperativ stets im Mittelpunkt, sowie zwar betont wird, dass ein freier Wille nicht ohne den sittlichen gedacht werden kann, nicht aber, dass der freie Wille dadurch bereits hinreichend bestimmt ist – dahingegen stellt für jenen der freie bzw. autonome Wille zu allererst nicht denjenigen Willen dar, der sich selbst ein Gesetz gibt, sondern den, »der sich selbst für oder gegen das Gesetz und damit für oder gegen den kategorischen Imperativ entscheidet.«273 Kant ordnet Freiheit dem Intelligiblen und insofern dem eigentlichen Tun des Guten zu und erklärt spät, nämlich in seiner endgültigen Definition der Freiheit innerhalb der Metaphysik der Sitten von 1797, dass diejenige Freiheit, welche in der Willkür gelegen ist und auf Maximen abzielt, nicht als Wahl charakterisiert werden kann, da eine solche Wahlfreiheit den Effekt von moralischer Freiheit verfehlt – nur dort, wo man unabhängig von sinnlichen Bestimmungsgründen ist, kann nach Kant moralische Willkürfreiheit vorhanden sein.274 Für Reinhold dagegen ist der menschliche Wille stets 271 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 304. 272 Reinhold, Briefe II, 2008, Achter Brief, 307. 273 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXVI f. 274 Vgl. Bondeli, Freiheit im Anschluss an Kant. Zur Kant-Reinhold-Kontroverse und 90

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als frei zu bezeichnen – gleich, ob er sich zum Guten bzw. Sittlichen oder zum Bösen bzw. Unsittlichen bestimmt – sowie das Entscheiden für oder gegen das moralische Gesetz in den Mittelpunkt gerückt wird.275 Bei diesen beiden Entscheidungsmöglichkeiten ist lediglich ein anderes Motiv vorherrschend.276 Mit der Prioritätensetzung Kants bleibt die Freiheit der Wahl, welche auf das sittliche wie auch das unsittliche Handeln abzielt, unter ihrem tatsächlichen Wert; diese vermag Reinhold dagegen deutlich hervorzuheben.277 Im sich anschließenden und ebenfalls neu verfassten, neunten Brief werden analog zu vorherigen Inhalten Zusammenhänge der Auffassung Reinholds zur Willensfreiheit mit dem durch die Kritische Philosophie bereitgestellten Seelenbegriff beleuchtet.278 Reinhold hält es hierbei vor allem für notwendig zu klären, welche Folgen sich mit dem Begriff von Willensfreiheit für diejenigen der Seele und des Gottesdaseins ergeben, womit auf die bereits in den Briefen I angeführte Problematik zum moralischen Erkenntnisgrund von der Unsterblichkeit der Seele und dem Gottesdasein sowie zu Betrachtungen zum Begriff der Seele Bezug genommen wird.279 Sowohl der gemeine Verstand als auch die philosophierende Vernunft seien an Grundvermögen des menschlichen Geistes geknüpft, die jedoch durch undeutliche und unbestimmte Begriffe nicht korrekt aufgestellt werden konnten; dadurch sei die philosophierende Vernunft bis zur Kantischen Ära nicht in der Lage gewesen, einen deutlichen Begriff der Freiheit als Vermögen des Gemütes zu generieren.280 »Wenn ihren Folgen, in: Gerhard/Horstmann/Schumacher [Hg.], Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, 2001, 243 ff. 275 Vgl. Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, 2012, 125 ff. Weitere Explikationen Reinholds zu dessen Auffassung von Willensfreiheit wurden bereits zuvor gegeben und sollen lediglich nochmals kurz angedeutet werden. 276 Vgl. Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, 2012, 150. 277 Vgl. Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts, 2012, 151. 278 Vgl. hierzu vor allem die Briefe neun bis elf des Ersten Bandes der Briefe zur philosophischen Psychologie. 279 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, LXXVII f. 280 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 309 f. 91

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Sie […] meine Erklärung von der Freyheit des Willens als einem Grundvermögen des Gemüthes […] nicht unrichtig gefunden haben: so habe ich dieses […] auch dem Resultate der Kantischen Philosophie über den Begriff der Seele zu danken […].«281 Nachfolgend lässt Reinhold erneut Polemik gegenüber bisherigen, metaphysischen Systemen bezüglich der Unverträglichkeit ihres jeweiligen Begriffes von Freiheit verlauten.282 Die Freiheit aber sei lediglich ihrem Ursprung, nicht ihren Wirkungen nach undurchdringlich und als bloßes Grundvermögen des Gemütes nicht deduzierbar, da der Entstehungsgrund von Freiheit nicht begrifflich gefasst werden könne; von ihr aber müsse ein Begriff sowohl möglich als auch wirklich sein, weil durch sie ersichtlich werde, wie die ihr zukommenden Merkmale in einem Begriff kombiniert werden können, ohne sich gegenseitig aufzuheben.283 Reinhold wendet sich hier entschieden gegen die Behauptung Kants aus der Religionsschrift, dass Freiheit unbegreiflich hinsichtlich der Akzeptanz oder Ablehnung von Maximen ist und ein erster subjektiver Freiheitsgrund per se unerklärlich sein muss, obgleich Kant diesem wiederum Existenz zuspricht.284 Eine grundsätzliche Möglichkeit von Freiheit müsse sich durch philosophierende Vernunft beweisen lassen und dabei mit sich selbst einträchtig sein.285 Da sich der Wille zudem lediglich als Prädikat der Seele begreifen lasse, beanspruche ein Begriff des Willens auch einen Begriff der Seele als Subjekt desselben; sofern letzterer als metaphysisch angesehen werde, müsse auch ein solcher Seelenbegriff möglich sein, der mit dem Freiheitsbegriff in Einklang stehe.286 »Es hat zwar metaphysische Begriffe von der Seele gegeben […]; aber bis auf Kant hat es keinen einzigen gegeben, mit dem sich der richtige Begriff von der Freyheit vertragen hätte.«287 Mittels der Kritik der Vernunft seien die Irrtümer, welche dem Supernaturalismus entspringen, durch das Wahre – von Naturalisten missverstandene – aufgezeigt und ihre Ursprünge bestimmt worden.288 »Verträg281 Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 311. 282 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 312 ff. 283 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 315 f. 284 Vgl. Bondeli, Kommentar 286 zum Neunten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 391 sowie Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (gekürzt lediglich: Religionsschrift), 1968, AA VI, 21. 285 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 316. 286 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 316 f. 287 Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 317. 288 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 322. 92

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lich mit dem Begriff der Willensfreiheit kann […] nur ein metaphysischer Seelenbegriff Kantischen Zuschnitts sein, […] den es allerdings in sich und in seinem Verhältnis zu den kritisierten Positionen profilierter als bisher herauszustellen gilt.«289 Der Seelenbegriff sei darüber hinaus unter dem unrichtigen Merkmal eines Dinges an sich gedacht worden, obwohl sich allein die Substanz der Seele nicht als solches denken lassen könne, wenn ihr dadurch keine Charakteristika hinzugefügt werden sollen, mit denen die Willensfreiheit nicht in Einklang zu bringen sei.290 »Die naturalistischen Vorstellungsarten von der Seele sind durch die Eintheilung in die negativ- und positiv-dogmatischen, oder, welches dasselbe heißt, in die dogmatisch-skeptischen und dogmatisch-metaphysischen erschöpft. […] Die dogmatisch-metaphysischen Vorstellungsarten von der Seele, durch welche man die Substanz derselben in der Eigenschaft eines Dinges an sich erkannt zu haben wähnt, sind durch die Eintheilung in die materialistische und spiritualistische erschöpft.«291 Sowohl die Richtigstellung von metaphysischen Grundbegriffen durch Kant als auch die ausführlichere Betrachtung etwaiger Tatsachen, die von Erscheinungen des inneren und äußeren Sinnes herrühren, weisen auf eine gänzliche Revolution aller materialistischer Lehrgebäude hin.292 Die Kritik der reinen Vernunft habe das eigentümliche Gesetz aufgefunden und zu Tage gebracht, wodurch ersichtlich werde, dass sich die im Denken und Wollen manifestierenden Gesetze des sinnlichen Vorstellens und unwillkürlichen Begehrens lediglich als grundlegende Gesetze besonderer Vermögen begreifen lassen.293 Darüber hinaus ergebe sich, dass die Formen etwaiger Vorstellungsarten, nämlich der sinnlichen, verständigen und vernünftigen lediglich in der grundlegenden Ausstattung des Vorstellungsvermögens, welches vor der Erfahrung im Subjekt als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt liegen müsse, zu ermitteln sind.294

289 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXIX. 290 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 323 f. 291 Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 325 ff. 292 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 333. 293 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 334. 294 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 343. 93

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

»Hieraus, und aus dem von mir aufgestellten und erörterten Begriff des Willens ergibt sich, 1. 2.

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daß wir beym Wollen nur in so ferne von den Dingen außer uns abhängen, als das unwillkührliche und sinnliche Begehrungsvermögen dabey geschäftig ist. Daß wir beym Wollen keineswegs durch Dinge außer uns determiniert sind, in wie ferne die Vernunft dabey geschäftig ist, die ganz nach ihren eigenen von jenen Dingen unabhängigen Gesetzen wirksam ist. Daß die beym Wollen vorkommende Forderung des eigennützigen Triebes, des sinnlichen durch theoretische Vernunft modificierten Begehrens, theils durch die Dinge außer uns, theils durch die Gesetze der Denkkraft in uns determiniert werde. Daß die beym Wollen vorkommende Forderung des uneigennützigen Triebes, das absolut nothwendige Gesetz des Willens, durch bloße Vernunft, und folglich durchaus nicht durch Dinge außer uns determiniert sey. Daß das Determiniertwerden durch Dinge außer uns und durch Vernunft in uns beym Wollen nur dasjenige betreffe, was dabey unwillkührlich ist, die Forderungen des eigennützigen und des uneigennützigen Triebes. Daß das Willkührliche beym Wollen, die Selbstbestimmung zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung jener Forderungen, die von denselben unterschieden werden muß, sich durchaus nicht als ein Determiniertwerden, weder durch Dinge außer uns, noch durch Vernunft in uns, noch durch beyde zugleich denken lasse. Allein aus eben den Prämissen, aus welchen sich diese Resultate für den Begriff des freyen Willens ergeben, ergiebt sich auch derjenige Begriff von der Seele, der sich allein mit diesem Begriff von der Freyheit verträgt.295

Demzufolge könne die Seele bzw. das Subjekt der Sinnlichkeit, des Verstandes oder der Vernunft weder durch letztere noch durch erstere als Ding an sich erfasst werden; das Merkmal der Substanz könne dieser nur als einem vorgestellten Ding zugesprochen und lediglich durch Vorstellung 295 Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 344 f. 94

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zu einem Merkmal der Seele werden.296 Substantialität bezeichne insofern lediglich dasjenige Merkmal, welches in der Natur der Denkkraft gelegen sei und unter dem das an sich unvorstellbare Wesen der Seele als Subjekt des Gemütes begriffen werde.297 Die von Reinhold so betitelten Vermögen des Gemütes kündigen sich bloß durch unterschiedliche Zustände des Bewusstseins, wie z. B. Fühlen, Anschauen, Erkennen, usw. an und unter diesen werden die durch Auswirkungen ersichtlichen, ihren Ursprüngen gemäß allerdings unergründlichen Vermögen der Seele bzw. die Grundvermögen des Gemütes begriffen, zu denen auch der Wille sowie die Willensfreiheit als solche Vermögen gehören, welche sich selbst zur (Nicht-/)Befriedigung eines Begehrens positionieren – ein Grundvermögen, welches lediglich durch Tatsachen des Bewusstseins zu Tage trete und dessen Begriff mit demjenigen der Substanz konform gehe.298 Der KrV sei als weiteres Resultat zu entnehmen, dass das Merkmal der Ausdehnung bzw. des erfüllten Raumes nur den Erscheinungen des äußeren Sinnes als solchen beigelegt werden könne, dadurch die Seele sich nicht als ausgedehnte Substanz vorstellen lasse; die Merkmale von Substantialität und Einfachheit werden dieser darüber hinaus durch Gesetze der unterschiedlichen Grundvermögen des Gemütes zugeschrieben und aufgrund bereits bekannter Wirkungen derselben beigelegt.299 In moralischer Hinsicht essentielle Überzeugungen von Substantialität, Unkörperlichkeit und Freiheit der Seele hängen nicht etwa von einer übernatürlichen Offenbarung, sondern nur von natürlichen Tatsachen des Bewusstseins ab und beziehen sich auf naturgegebene Beschaffenheiten der menschlichen Seele, deren philosophische Erkenntnis lediglich durch eine schrittweise Ausbildung der Denkkraft erreichbar gewesen sei.300 »In den bisher nicht genug bestimmten, und größtentheils unrichtigen Begriffen von diesen Grundvermögen [des menschlichen Geistes] liegt die einzige Ursache, warum die philosophierende Vernunft bey der Rechenschaft, welche sie sich über die Ueberzeugungen von der Substanzialität, Einfachheit und Freyheit der Seele zu geben ver296 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 345 f. 297 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 346. 298 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 346 f. 299 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 348 f. 300 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 350. 95

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suchte, mit sich selbst bisher uneinig war, während der gemeine und gesunde Verstand, der die Seele von jeher vom Leib unterschied, und dieselbe in den Handlungen des Willens von jeher als frey dachte, seine Ueberzeugungen durch Gefühle aus Thatsachen des Bewußtseyns schöpfte, die er ohne Untersuchung ihrer Gründe annahm, und über welche er aus dem einfachen Grunde mit sich selbst einig blieb, weil er jener Untersuchung weder fähig noch bedürftig ist.«301 2.7 Auswertung des Zehnten Briefes hinsichtlich des Aufsatzes »Ueber die Grundwahrheiten der Moralität und ihr Verhältniß zur Grundwahrheit der Religion« Mit dem zehnten Brief zur Unverträglichkeit zwischen bisherigen philosophischen Überzeugungsgründen vom Dasein Gottes sowie zu richtigen Begriffen von der Freiheit und dem Gesetz des Willens liegt eine stilistisch wie terminologisch stark überarbeitete, teilweise um mehrere Seiten gekürzte sowie mit neuen Passagen versehene Fassung des zugrundeliegenden Aufsatzes vom März 1791 vor.302 Die Frage, welcher Gottesbegriff demjenigen der Willensfreiheit entspricht, soll beantwortet werden, dadurch Reinhold auf seine ausführlichen Darlegungen, u. a. im vierten Brief der Briefe I, rekurriert.303 Zunächst wird kundgetan, dass der Sittlichkeitsbegriff als freies und uneigennütziges Wollen einer Person um ihrer selbst willen betrachtet werden müsse und sowohl die sittliche wie auch unsittliche Handlung als Ausspruch der menschlichen Willensfreiheit zu gelten hat – eines Vermögens, welches »so allgemein aus Thatsachen durch das Selbstbewußtseyn bekannt ist, als dasselbe, durch die mißlungenen Versuche seine Möglichkeit zu erklären, in jeder bisherigen Philosophie verkannt wird […].«304 Als Personen grenzen wir uns von Dingen oder Sachen ab und bezeichnen durch den Namen Personalität ein selbständiges Sein, welches sich im Bewusstsein bloß durch die Selbsttätigkeit einer Handlung abzeichne; da wir uns ebenso einer Abhängigkeit unserer Persönlichkeit 301 Reinhold, Briefe II, 2008, Neunter Brief, 350 f. 302 Vgl. Bondeli, Kommentar 320 zum Zehnten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 401. 303 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXIX. 304 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 355. 96

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von etwaigen Dingen außer uns wie auch einer Unabhängigkeit, welche unsere Person ausmache, bewusst werden, sei die eigentliche Selbsttätigkeit nur auf ein Wollen im willkürlichen Gebrauch der Vernunft begrenzt.305 Durch diese uns als Menschen eigene Selbsttätigkeit seien wir im Stande, uns autonom ein moralisches Dasein zu verschaffen, dadurch lediglich Rang und Würde eines Menschen sichergestellt werden können; denn wir seien bloß imstande, uns durch das eigenständige Vermögen des Willens, welcher sich selbst bestimmt, als Personen – selbst als lasterhafte – zu denken, die sich der Freiheit als eines Faktums bewusst seien.306 »Alleine [die] Vernunft […] schwankt zwischen Anklagen und Entschuldigen, Billigen und Mißbilligen des Lasters hin und her, ohne je über ihre Unabhängigkeit […] mit sich selbst einig zu werden.«307 Der Einklang zwischen denkender und handelnder Vernunft, welche dem menschlichen Geist entspringe, sei auf einen richtigen Begriff von Willensfreiheit zurückzuführen und könne lediglich durch eine endgültige Entwicklung desselben aufgezeigt werden, woraus sich wiederum das Verhältnis der praktischen zur theoretischen Vernunft sowie dieser beiden vernunftspezifischen Wirkungsarten zur freien Handlung ergebe, welche das Wollen entweder zu einer Handlung gemäß des praktischen Gesetzes oder gegen dieses (durch Lust und Unlust) veranlasse.308 »Da sich das Sittengesetz nur als das Gesetz des Willens, der Wille aber nicht ohne den richtigen Begriff von der Freyheit richtig denken läßt; so enthält dieser Begriff die Ueberzeugung, welche der Wissenschaft des Sittengesetzes vorhergehen, und als Conditio sine qua non dieselbe begründen muß, die Grundwahrheit der MORAL, so wie die Ueberzeugung von der Freyheit als einer THATSACHE des Bewußtseyns jede sittliche und unsittliche Handlung begründet, und in so ferne die Grundwahrheit ist, von welcher als einer conditio sine qua non, die MORALITÄT abhängt. Alles, was daher den Gebrauch oder auch die Ueberzeugung von der Freyheit des Willens aufhebt, das hebt auch die Moralität, den eigenthümlichen Charakter der Menschheit, die Würde unserer Natur, die 305 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 355 f. 306 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 356 f. 307 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 357. 308 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 360 f. 97

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höchste Bedingung unserer Perfektibilität, die innere Quelle unserer Glückseligkeit auf, und macht alle Moral, Wissenschaft des Sittengesetzes unmöglich.«309 Dieser Blickwinkel, welcher die Begründung des moralischen Gesetzes durch einen korrekten Freiheitsbegriff postuliert, basiert zwar grundsätzlich auf einer Kantischen Aussage; von dieser weicht Reinhold jedoch insofern ab, als laut der KpV nur ein Seinsgrund von Freiheit und nicht etwa ein Begriff derselben als Fundament des moralischen Gesetzes dienlich sein kann; als begriffene Freiheit soll diese hinsichtlich eines korrekt aufgefassten Begriffs des moralischen Gesetzes bestimmt werden; damit nimmt Kant Bezug auf eine in diesem Gesetz selbst gelegene Kausalität.310 »Nur dann, und nur in so ferne als die Ueberzeugung vom Daseyn Gottes durch die von ihr völlig unabhängige Ueberzeugung von dem Sittengesetze bestimmt wird, liegt in der Grundwahrheit der Religion ein äußerer Grund […].«311 Dieser unterstütze die Anforderungen des uneigennützigen Triebes an den eigennützigen, hebe die Unabhängigkeit ebendieser Postulate vom Interesse des eigennützigen aber nicht auf, dadurch eine Überzeugung vom Gottesdasein nicht als Wissen, sondern als moralischer Glaube anzusehen sei, welcher stets bloß als Konsequenz und nicht als Ursprung sittlicher Gesinnung angesehen werden könne.312 »Das Interesse unsers Eigennutzes wird durch das Interesse am Gesetze, nicht dieses durch jenes aufgefordert; die Eigenliebe wird durch die Anhänglichkeit an der Pflicht, nicht diese durch jene in Bewegung gesetzt; wir hoffen und fürchten von Gott, weil wir seinen Willen achten, und achten diesen Willen, nicht weil wir hoffen und fürchten. […] In dem moralischen Glauben werden wir vom Daseyn Gottes nur durch unsre moralische Gesinnung überzeugt, und die Eigenschaft, unter welcher sich uns die Gottheit in demselben ankündiget, ist die von den Schranken der endlichen Natur getrennte Sittlichkeit […]. In wie ferne nun die vollkommenste Sittlichkeit das charakteristische Merkmal ist, unter welchem wir uns 309 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 361 f. 310 Vgl. Bondeli, Kommentar 333 zum Zehnten Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 404. 311 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 363. 312 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 363. 98

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die Gottheit denken, und dem wir alle anderen Beschaffenheiten derselben unterordnen müssen, in so ferne kündigt uns die Gottheit ihr Daseyn nur von derjenigen Seite an, von der sie allein einem endlichen, vernünftigen Wesen begreiflich seyn […] kann. […] Ist hingegen die Sittlichkeit […] nicht das eigenthümliche und Daseyn ankündigende Merkmal der Gottheit für uns, so tritt an die Stelle desselben das Merkmal einer Urkraft ein […].«313 In einer solchen Urkraft glaubte man bisweilen einen einleuchtenden Grund dafür aufgefunden zu haben, die Willensfreiheit schlicht als Täuschung bezeichnen zu dürfen, was verworfen werden muss und von Reinhold in den folgenden Abschnitten durch erneute Polemik ausgeführt wird.314 »Der uns durch unsre moralische Natur im Selbstbewußtseyn unsrer Freyheit geoffenbarte Charakter der Gottheit macht es möglich und nothwendig, uns die Zweckmäßigkeit der physischen Natur […] lediglich für die freywillige Wirkung der Selbstthätigkeit eines weisen Weltschöpfers anzusehen.«315 Darüber hinaus seien wir lediglich imstande, Gott und Natur durch diejenigen Handlungsweisen, die wir beiden zuzuschreiben vermögen, zu unterscheiden, sowie sich das einzige Verfahren, wodurch das Wirken Gottes vom Wirken der Natur differenziert werden könne, in einer absoluten Selbsttätigkeit äußere, welche wir lediglich durch das Selbstbewusstsein begreifen.316 »Durch die theoretische Vernunft und in derselben erkennen wir nur ein Vermögen, nach gedachten Gesetzen zu handeln; durch die praktische aber und in derselben ein Vermögen, die Gesetzmäßigkeit frey [und] […] bloß um ihrer selbst willen zu wollen.«317 Der Zweck des reinen Willens könne lediglich im durch Vernunft allein konstituierten Gesetz bestehen, welches Freiheit um des Gesetzes willen ausführe.318 Moralisches Wollen könne in keinem Fall abgelernt werden und dass Gesetzesmäßigkeit tatsächlich um ihrer selbst 313 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 364 f. 314 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 366. Reinhold bezieht sich mit seiner Polemik hierbei auf die philosophischen Parteien des Supernaturalismus und Naturalismus. 315 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 372. 316 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 372 f. 317 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 373. 318 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 374. 99

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gewollt werde, könne bloß mittels praktischer Vernunft sowie Freiheit begriffen werden, dadurch wir das Charakteristikum Gottes in uns selbst aufsuchen, welches uns sein Dasein annonciert.319 »Es muss zum einen ein moralischer Grund für das Dasein Gottes und ein diesem Grund korrespondierender sittlicher Gott in Vorschlag gebracht werden. Zum anderen muss dieser sittliche Gott mit uns als moralischem Wesen in Einklang stehen.«320 Unser autonomer Wille darf von ihm nicht beeinträchtigt werden, eher muss er ihn fördern.321 Gott solle nicht länger, wie bisher von Theologen bekundet, als Mysterium dargestellt werden, was zu einem Einkerkern der Vernunft geführt habe, um dadurch den sogenannten blinden Glauben zu mehren – ein Mysterium, welches angeblich nur durch göttliche Offenbarung bekannt werden könne.322 Der Überzeugungsgrund vom Gottesdasein müsse so lange als ein solches Mysterium gelten, bis sowohl Freiheit als auch Gesetz des Willens nicht mehr missverstanden und der Sittlichkeitsbegriff – durch theoretische Vernunft geleitet – nicht länger aus einem Trieb nach Vergnügen abgeleitet werde; ansonsten müsse die Gleichgültigkeit gegenüber der Religion weiterhin fortbestehen.323 Um die Sittlichkeit nun durch eindeutige Begriffe ihrer eigenen Triebfeder zur Weisheit zu erheben, bedürfe es einer neuen Philosophie, welche das Problem der Willensfreiheit streng wissenschaftlich aufzuheben vermag.324 »Durch jene Auflösung werden sich die Bedenklichkeiten, Zweifel und Einwürfe nach und nach von selbst verlieren, welche die theoretische Vernunft bey dem bisherigen Zustande der Philosophie den Aussprüchen der praktischen entgegen setzte. Mit ihnen werden auch die bisherigen Scheingründe für und wider das Daseyn Gottes aus dem Gebiethe der Philosophie verschwinden, und dem einzig wahren Ueberzeugungsgrunde Raum lassen, den der Selbstdenker in dem endlich auch durch seine theoretischen Principien völlig gerechtfertigten Bewußtseyn der Freyheit finden wird. Religiosität wird Folge der Moralität […]. Und es wird erfüllt werden in jenen Tagen, was in 319 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 374 f. 320 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXX. 321 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXX. 322 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 375 f. 323 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 377 f. 324 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 378 f. 100

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einem sehr bekannten, aber von den Supernaturalisten wie von den Naturalisten gleich verkannten Buche geschrieben steht: Selig sind die, welche reinen Herzens sind, denn sie werden Gott anschauen.«325 Mit dem Ende des zehnten Briefes werden die Ausführungen Reinholds zur Klärung der Frage, welcher metaphysische Seelen- bzw. Gottesbegriff mit demjenigen der Willensfreiheit vereinbar ist, geschlossen. In den beiden letzten Briefen tritt nun eine historische Art der Betrachtung zu Tage, mittels derer eine Analogie zum Reinholdschen Bemühen hinsichtlich einer Geschichte der rationalen Psychologie aus den Briefen I ersichtlich wird.326 2.8 Exzerption des neuen Briefes XI Im neu verfassten, eilften Brief macht Reinhold sodann Resultate aus vorangegangenen Briefen zum eigenständigen Vermögen des Willens sowie zur Willensfreiheit für eine historische Betrachtung der Moralphilosophie zugänglich; insgesamt sollen, wie der Titel bereits verrät, Grundlinien zur Geschichte der bisherigen Moralphilosophie überhaupt sowie insbesondere zur stoischen und epikureischen gezeichnet werden.327 Vergleichbar mit dem zehnten und elften Brief der Briefe I, innerhalb derer die Kantischen Begriffe von Erkenntnis und Vorstellung als Leitlinie zur Aufdeckung der griechischen Psychologie dienlich waren, schließt sich nun eine Enthüllung der moralischen Lehren der Griechen an, welche von der Willensfreiheit ausgeht; das korrekte »systematische Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit lässt sich Kant zufolge als Überwindung, aber auch neuartige Verbindung stoizistischer und epikureischer Einsichten verstehen.«328 Vom fiktiven Freund werde zurecht bemerkt, dass alle Arten der Vorstellung von Sittlichkeit lediglich als unterschiedliche Varianten des epi325 Reinhold, Briefe II, 2008, Zehnter Brief, 379 f. Mit dem sehr bekannten Buch ist die Bibel gemeint, das Zitat hierzu geht auf die Bergpredigt, Matthäus 5, 8 zurück. Vgl. hierzu: Bondeli, Kommentar 350 zum Zehnten Brief, in: ebd., 409. 326 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXXI. 327 Vgl. Bondeli, Kommentar 351 zum Eilften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 409. 328 Bondeli, Kommentar 351 zum Eilften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 409. Die epikureischen wie stoischen Eigentümlichkeiten sollen im Folgenden nur angerissen, nicht aber genau expliziert werden. 101

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kureischen oder aber stoischen Grundbegriffs zu charakterisieren seien und sich durch einen Vergleich derselben ein Ansatzpunkt ergebe, aus dem die Geschichte etwaiger Fortentwicklungen und Fehlschlüsse der über Sittlichkeit philosophierenden Vernunft als Ganzes begreiflich werde.329 Vorausgesetzt, die von Reinhold entwickelten Grundbegriffe von der Freiheit und dem Gesetz des Willens seien richtig, so liegen in ihnen die einzig möglichen Prinzipien eines wertneutralen Vergleichs zwischen Stoizismus und Epikureismus, wodurch auch die Begriffe selbst letztlich bestätigt würden.330 »Dem richtigen, aber bis jetzt noch ganz verkannten Begriffe von der Freyheit des Willens ist in der künftigen praktischen Philosophie eben dieselbe Funktion aufbehalten, die dem richtigen und bis jetzt nicht weniger verkannten Begriffe von der Vorstellung in der künftigen Philosophie überhaupt, und insbesondere in der theoretischen bevorsteht. […] Nicht jedes Mißverständniß, aber doch das vornehmste, welches die Empiriker und Rationalisten bisher entzweyt und den Skepticismus begründet hat, fällt durch denjenigen Begriff von Vorstellung hinweg, aus dem es sich ergiebt, daß die Vorstellungen weder aus der Erfahrung geschöpft noch auch angeboren seyn können. Nicht jedes Mißverständniß, aber doch das vornehmste, welches die Stoiker und Epikuräer bisher entzweyt und den Skepticismus in der Moral begründet hat, fällt durch denjenigen Begriff von der Freyheit des Willens hinweg, aus dem sich ergiebt, daß die sittlichen Handlungen weder durch Vernunft noch durch das Streben nach Vergnügen […] allein hervorgebracht werden können. Der philosophisch-bestimmte Begriff (der Grundbegriff) von der Sittlichkeit ist VOR dem philosophisch-bestimmten Begriffe von dem freyen Willen unmöglich, und dieser letztere setzt die von den Philosophen bisher allgemein vernachlässigte Unterscheidung der drey verschiedenen Thatsachen des Bewußtseyns voraus, die bey jeder eigentlichen Handlung des Willens vorkommen, nämlich: die Unterscheidung der unwillkührlichen Forderung des eigennützigen Triebes von der ebenfalls unwill-

329 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 381. 330 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 382. 102

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kührlichen Forderung des uneigennützigen, und dieser beyden von der willkührlichen Handlung des Entschlusses.«331 Die philosophisch-bestimmte Differenzierung dieser drei Tatsachen sei nur möglich, insofern sie als Äußerungen unterschiedlicher Vermögen des menschlichen Gemütes begriffen werden, »folglich als die Wirkungen erstens des durch theoretische Vernunft modificierten Triebes nach Vergnügen, zweytens der praktischen Vernunft, drittens der Freiheit, oder des Vermögens der Willkühr.«332 Durch die sogenannte Evidenz des Gefühls, welche im gemeinen Verstand gelegen und überdies wahr sei, werden Anforderungen des Gewissens von denen der Eigenliebe differenziert, nämlich dasjenige, was man tun soll oder darf von demjenigen, was zu tun gelüstet; dadurch sei Willensfreiheit klar von Gewissensaussprüchen sowie Antrieb durch Neigungen oder Begierden getrennt.333 Die philosophierende Vernunft verknüpft dagegen diese drei Tatsachen, bis ihre Begriffe absolut bestimmt seien; es werde so lange ein unrichtiger Begriff von Willensfreiheit generiert, bis die Vernunft imstande sei, diese als Grundvermögen des Gemütes von der Effizienz des eigennützigen wie uneigennützigen Triebes zu differenzieren – dies sei bei allen vorangegangenen Systemen der Fall gewesen, wie Reinhold betont.334 Freiheit könne entweder (stoisch) mit dem uneigennützigen oder (epikureisch) mit dem eigennützigen Trieb vertauscht werden, da beide Systeme kein Merkmal anzubieten haben, wodurch Wollen und unwillkürliches Begehren differenziert werden können.335 »In beyden wurde das bloß sinnliche instinktartige Begehren das unvernünftige Wollen genannt, während unter dem vernünftigen Wollen von dem Stoiker nichts als die Wirkung der praktischen Vernunft, und von dem Epikuräer nichts als die Wirkung des durch theoretische Vernunft modificierten Triebes nach Vergnügen verstanden wurde. […] Der richtige Begriff von dem vollständigen Objekte des sittlichen Willens, dem GANZEN Gute des Menschen […] ist nur durch einen richtigen Begriff vom Willen möglich, und war daher 331 Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 383 f. 332 Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 384 f. 333 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 385. 334 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 386. 335 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 387. 103

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

im Stoicismus sowohl als im Epikurismus unmöglich. Gleichwie dieses ganze Gut nur in der Befriedigung beyder Triebe der menschlichen Natur bestehen kann, so setzt der richtige Begriff von demselben einen Begriff vom Willen voraus, in welchem […] der eine sich ohne den andern [Trieb] nicht denken läßt, einen Begriff, an welchem es aller bisherigen Philosophie gefehlt hat. […].«336 Sofern der unmittelbare Gegenstand des moralischen Gesetzes in der Handlung des Willens bestehe, diese allerdings in der persönlichen Selbstbestimmung zur (Nicht-/)Befriedigung eines Postulates des eigennützigen Triebes gelegen sei, könne ebendieser Trieb einen bedeutsamen, positiven oder negativen Einfluss auf jenen Gegenstand nehmen – entweder im Zuge vollkommener oder unvollkommener Pflichten.337 Um nun einen korrekten Begriff von Glückseligkeit zu generieren, bedürfe es eines ebenso korrekten Begriffes der Sittlichkeit; ein solcher aber sei erst dann möglich, wenn das moralische Gesetz selbst nicht länger missverstanden werde.338 Aus dem korrekten Sittlichkeitsbegriff, in welchem die Materie des Gesetzes vom eigennützigen Trieb sowie die Form desselben vom uneigennützigen gegeben werde und die Freiheit selbst als Ursprung der Anwendung des moralischen Gesetzes gelte, ergebe sich sodann, dass dieses Gesetz selbst »diejenige Glückseligkeit zu suchen und zu bewirken gebiethet, […] welche in denjenigen Befriedigungen des eigennützigen Triebes besteht, die durch den uneigennützigen theils geboten, theils erlaubt sind.«339 Diese Darlegungen zum Begriff der Sittlichkeit zeugen von einer deutlichen Abweichung von den Kantischen Äußerungen, insofern nach Kant kein moralisches Gesetz vorhanden ist, welches aus Form, Materie und Freiheit, die eine ausübende Kraft vorweist, besteht; dagegen gilt es, ein Sittengesetz vorauszusetzen, das als Form zu begreifen ist, weil der reine Begriff des Sittengesetzes vereitelt würde, wenn die Materie ein ausschlaggebendes Moment dieses Gesetzes wäre – Moral ist nicht etwa als Anweisung aufzufassen, um Glückseligkeit zu erlangen, sofern diese Erlangung sowie Befriedigung des eigennützigen Triebes erst ausgehend von der Religion zur sittlichen 336 Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 387 ff. 337 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 396 f. 338 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 405 f. 339 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 407. 104

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Forderung werde.340 Glückseligkeit sei gemäß Reinhold kurz gesagt das von Stoikern und Epikureern gleichermaßen missverstandene vollständige Gut, welches als höchstes Gut betitelt werden könne, inwiefern es dasjenige Ziel der vereinigten, natürlichen Triebe des Menschen darzustellen vermag, welches lediglich durch eine Annäherung im Unendlichen erreicht werden könne.341 »Auf diese Weise hat das moralische Gefühl auch sogar zwischen den beyden einander am meisten entgegen gesetzten Vorstellungsarten – der dogmatisch-stoischen, und der skeptisch-epikurischen – ein Einverständniß über die Uneigennützigkeit des moralischen Vergnügens hervorgebracht, welches durch die Uneinigkeit der philosophierenden Vernunft mit sich selbst über die Sittlichkeit, als das Objekt dieses Vergnügens, nicht ganz gehindert und aufgehoben werden konnte, und dem es nur an dem richtigen Begriffe von der Freyheit des Willens mangelte, um selbst jener Uneinigkeit […] auf immer ein Ende zu machen.«342 Reinhold weicht von Kant darin ab, dass er die Freiheit der Willkür zwischen das moralische Gesetz und den sinnlichen Trieb setzt. Für Kant ist Freiheit dadurch möglich, dass das Sittengesetz an und durch sich selbst, nämlich als Faktum der Vernunft, erscheint und eben dadurch eine Alternative zum sinnlichen Naturtrieb eröffnet. Willkürfreiheit ist somit für Kant Folge des Sittengesetzes.

340 Vgl. Kommentar 373 zum Eilften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 416 f. sowie Kant, KpV, 1968, AA V 234 ff., 130 f. 341 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 407. 342 Reinhold, Briefe II, 2008, Eilfter Brief, 417. 105

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

2.9 Erörterung des Zwölften Briefes hinsichtlich der Aufsätze »Die drey Stände. Ein Dialog« sowie »Die Weltbürger. Zur Fortsetzung des Dialogs, die drey Stände, im vorigen Monatsstück« Der zwölfte Brief, innerhalb dessen dem Titel gemäß über die äußere Möglichkeit eines künftigen Einverständnisses über Prinzipien der Moralphilosophie debattiert wird, besteht aus einer revidierten Fassung der zugrundeliegenden Aufsätze, welche bis auf einen Teil des ersten Aufsatzes nur geringfügig stilistisch überarbeitet worden sind.343 Dieser genannte Teil inszeniert als einziger ein tatsächliches, wenn auch fiktives Gespräch zwischen Reinhold und seinem Freund, was dadurch gekennzeichnet ist, dass die Akteure abwechselnd sprechen und dadurch direkt aufeinander einzugehen imstande sind. Zunächst ist zu bemerken, dass innerhalb dieses Briefes zwei Teile vorhanden sind, in dessen ersten es um vorbereitende Anstalten der politischen Kultur sowie in dessen zweiten es um vorbereitende Anstalten der wissenschaftlichen und sittlichen Kultur zu tun sein wird. Der erste Teil geht zu Beginn einer Frage nach, welche vom fiktiven Freund Reinholds gestellt und von diesem sogleich beantwortet wird, nämlich, warum wir durch den vorherrschenden Überschuss an einem immer stärker werdenden Despotismus sowie eine sich daraus ergebende, allgemeine Anarchie nicht wieder zu barbarischen Zeiten gelangen.344 »Dafür bürget die gegenwärtige Kultur durch ihre Verbreitung über alle Kräfte und Fähigkeiten des menschlichen Geistes, über alle […] Angelegenheiten der Menschheit, und unter so vielen voneinander unabhängigen Nationen.«345 Die Kultur sei allerdings, wie folglich ausgeführt wird, scharfer Kritik und Polemik gegenüber den gegenwärtigen politischen Systemen und Werdegängen zu unterwerfen, da von Freiheit im tatsächlichen Sinne keine Rede sein könne, wo Unterdrückung und eine Ständegesellschaft vorherrschen.346 Um die Entwicklung von Ständen sowie der Gesellschaft an sich genauer zu verstehen, zeichnet Reinhold sodann eine Art Geschichte der Gesellschaft und deren gereiften Strukturen nach, auf die hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann. 343 Vgl. Kommentar 386 zum Zwölften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 420. 344 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 422. 345 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 422 f. 346 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 425 ff. 106

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Die Notwendigkeit der Natur habe dem Menschen eine gesetzesmäßige Abhängigkeit aufgezwungen, die lediglich mittels der Vernunft schrittweise in gesetzeskonforme Freiheit umgestaltet werden könne; selbst die Vernunft sei nur insofern dazu in der Lage, als sie sich derjenigen Erkenntnis ihrer selbst annähere, welche für die Selbstbeherrschung notwendig sei.347 »Der Mittelstand ist so lange unmündig, als er seine Freyheit nur durch Unterdrückung […] zu erringen weiß. Die Unabhängigkeit, die er kennt und sucht, ist dann nur die äußere, […] welche der Zufall […] giebt und nimmt.«348 Keiner der Stände innerhalb der damaligen Gesellschaft habe auch nur im Ansatz denjenigen Grad einer Kultur des Geistes und Herzens erlangt, den er aufzuweisen gehabt hätte, wenn er dem in etwaigen Regierungen und Konstitutionen gegründeten Despotismus mithilfe von Aufklärung und Veredelung der Gesetzgeber – und eben nicht durch Zwang – Abhilfe verschafft hätte.349 »Je mehr sich Sklavensinn und Zügellosigkeit, Aberglauben und Unglauben […] einander die Hände binden, desto mehr lösen sie sich gegenseitig die Zungen. […] [Ich] getraue mir zu behaupten, daß […] noch nie so viele bürgerliche Ordnung bey so wenig politischer Sklaverey über so viele von einander unabhängige Staaten Europa’s verbreitet war, als seitdem die Philosophen […] GEGEN die Freyheit des Willens bey den sittlichen Handlungen, als FÜR die Freyheit des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft gestritten haben. Ich gebe […] zu, daß wir noch lange keinen bestimmten Begriff von Freyheit haben, und daß auch unsre Selbstdenker vom ersten Range über denselben noch so bald nicht unter sich einig werden dürften. Allein ich behaupte, daß diese Repräsentanten der philosophierenden Vernunft durch den Gang, den ihre Untersuchungen seit einigen Jahren genommen haben, zu diesem großen Ziel unausbleiblich gelangen müssen. […] Je mehr sich die Vertheidiger des Naturalismus und Supernaturalismus, des Demokratismus und Aristokratismus u.s.w. einander in die Enge treiben, je mehr sie sich nöthigen, ihre Systeme neu zu begründen, […] desto gewisser und schneller wird die Grundlosigkeit aller bisherigen Systeme denjenigen Zuschauern 347 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 431 f. 348 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 433. 349 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 434. 107

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einleuchten, deren sittliches Gefühl ohnehin bey keinem derselben Befriedigung gefunden hat. Es giebt eine Klasse des Mittelstandes, die […] sich immer mehr derjenigen äußern Lage nähert, die der Sittlichkeit die günstigste ist, und den glücklichsten Standpunkt ausmacht, aus welchem sich die Angelegenheiten der Menschheit überschauen lassen. […] Mit Einem Worte, die Erzieherin der Menschheit scheint alles darauf angelegt zu haben, daß die weltbürgerliche Gesinnung, zu welcher sich in den übrigen Ständen nur selten ein außerordentlicher Genius empor schwingt, nach und nach die natürliche Sinnesart der Selbstdenker aus dem Mittelstande werden solle.«350 Im zweiten Teil des vorliegenden Briefes wird es nun anknüpfend um vorbereitende Anstalten wissenschaftlicher und sittlicher Kultur zu tun sein. Der fiktive Genosse tut kund, dass man bisher, unvermögend, der mit sich selbst entzweiten, philosophierenden Vernunft in ihrer Entwicklung zu letzten und obersten Grundsätzen nachzukommen, den sogenannten gemeinen Menschenverstand verherrliche und diesen mit dem gesunden vertausche.351 Reinhold selbst vermisst überdies den von ihm so betitelten Geist der selbsttätigen Vernunft bei Selbstdenkern, der als solcher zwar weder aus Gelehrsamkeit, noch aus Wissenschaft, Kunst oder allem gemeinschaftlich hervorgehe, sich aber zu einem großen Zweck, nämlich der Veredelung der Menschen beuge; »dieser Gott in uns ist es eben, der sich mir durch Gesinnung der Weltbürger ankündiget, und wodurch ich die Selbstdenker […] von der Menge, die jenen Namen mit Unrecht führt, auszuzeichnen wünsche.«352 Durch den Geist der wahren Allgemeinheit nun, welcher sich lediglich in der Gerechtigkeit abzeichne, sei der Weltbürgersinn von einem unechten philosophischen sowie einem sogenannten Christkatholischen Wohlwollen zu differenzieren.353 Pflicht sei einem Weltbürger vor allen anderen Dingen heilig sowie er seine Neigungen stets unter dieselbe ordne und das Gefühl von Recht und Unrecht, welches in dessen gesamter Art der Vorstellung wirke, das lebendigste für ihn darstelle.354 Überdies erkenne der Weltbürger gewisse Dogmen und politische Gesetze der Ungerechtigkeit, welche sich in einer Zeit 350 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 439 ff. 351 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 446 f. 352 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 452. 353 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 452 f. 354 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 453 f. 108

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der Unwissenheit abgezeichnet haben und anderen verborgen bleiben – sowie er nach der Quelle von Gerechtigkeit suche und die Wissenschaft derselben ihm von allen die wichtigste sei.355 Daraufhin betont der Freund allerdings, dass die Einhelligkeit der weltbürgerlichen Denkweise so lange zufällig und unzuverlässig in Bezug auf alle übrigen menschlichen Dinge sein müsse, bis ein hinreichender Grundbegriff von Sittlichkeit aufgefunden sei.356 »Ich bin von der bisherigen Unmündigkeit der philosophierenden Vernunft eben so sehr überzeugt, als davon, daß dieselbe aufhören muß, wenn es einst eine mündige Klasse der weltbürgerlich gesinnten Selbstdenker geben soll. Wir haben bis jetzt noch keine Philosophie, wenn man unter diesem Namen die Wissenschaft […] verstehen […] will […]. Mir ist die Philosophie in eigentlicher Bedeutung nichts andres, als die gemeinschaftliche Denkart der Weltbürger […]. Die Existenz dieser Philosophie setzt freylich eine allgemeine Revolution in den Begriffen voraus, durch welche alles, […] gegen […] die Quelle der Mißverständnisse, gesichert werden muß. Allein der Zustand der philosophierenden Vernunft wird für eben diese Revolution in dem Verhältnisse reifer, in welchem sich die weltbürgerlich gesinnten Selbstdenker in ihren Gesinnungen eben so sehr gegen einander annähern, als sie sich durch ihr Denkart von einander entfernen. […] Alles bisherige Philosophieren konnte, da man über keine allgemeingeltenden ersten Grundsätze einig war, in nichts anderm als im Aufsuchen der Gründe zu Ueberzeugungen bestehen, die schon da waren, ohne daß man wußte, wie man zu ihnen gelangt war.«357 In dieser Passage wird ein für das elementarphilosophische Konzept von 1792 grundlegendes, begründungsmethodisches Merkmal herangezogen, welches den philosophiehistorischen Zusammenhang näher beschreibt, insofern das Aufsuchen von Vernunftgründen, wozu die Philosophie bis dato verurteilt gewesen ist, lediglich eine Methode darstellt, welche jedes systematische Philosophieren miteinbeziehen muss –

355 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 455 f. 356 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 457 ff. 357 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 460 ff. 109

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

denn philosophieren aus Gründen setzt wiederum das Aufsuchen von Gründen voraus.358 In Zukunft werde man sich darauf einigen, dass es auf dem Gebiet der Erfahrung, welches natürliche Erscheinungen untersuche, für die Vernunft keine letzten Gründe geben könne; auf dem sogenannten reinen Gebiet der Vernunft dagegen müssen solche letzten Gründe sowie unter diesen ein oberstes Gesetz existieren, welches den unvergleichlichen Charakter der Vernunft ausmache; von diesem habe bislang allerdings das Bewusstsein gefehlt.359 Dieses Gesetz wird sodann als moralisches Gesetz betitelt, obgleich es von den alten Griechen bis zur vorherrschenden Zeit durch etwaige Begrifflichkeiten verkannt worden sei, da ein solches nicht vom sogenannten reinen Gebiet der Vernunft stamme.360 Beispielhaft folgt daraufhin Polemik gegenüber den antiken Philosophen Griechenlands aufgrund fehlerhaften Aufsuchens der Ursache eines sittlichen Gefühls, insofern jeder Begriff vom Sittengesetz, der nicht durchgängig bestimmt sei, entweder zum Mystizismus oder Libertinismus führe.361 »Mit ihrer künftigen Einhelligkeit über letzte Principien beginnt ewiger Frieden unter ihnen über das Eine was der Menschheit Noth, und worüber bloß zu meynen und zu streiten der Menschheit schimpflich ist, beginnt Philosophie als Wissenschaft und als natürliche Denkart der Weltbürger, beginnt ein Stand der Gesellschaft unter den Weisen und Guten, der auf keinem sinnlichen und eben darum auch vorübergehenden Interesse […] auf nichts Zufälligem und Veränderlichem, sondern lediglich auf dem wesentlichen Charakter der Menschheit, in der Quelle aller Einhelligkeit, in der reinen Vernunft gegründet seyn wird.«362 Reinhold geht hier erneut auf das Eine, was der Menschheit Noth ist, ein, was bereits aus den Briefen I bekannt ist. Darüber hinaus wird die politische Revolution in Frankreich, welche sich zur Zeit Reinholds abspielt, parallel zur philosophischen Revolution in Deutschland betrachtet. Die neu gewonnene, politische Freiheit des Nachbarstaates ist nicht sachdien358 Vgl. Kommentar 412 zum Zwölften Brief, in: Reinhold, Briefe II, 2008, 426. 359 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 467 f. 360 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 468. 361 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 469 f. 362 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 471. 110

Besprechung des Zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie

lich genutzt worden, wodurch ein Vakuum aufgetreten ist, welches zu Gewalt sowie Willkür hinsichtlich der Stände und Parteien geführt hat – grundsätzlich ist das Aufklärungsdenken und die damit verbundene, vernünftige Kultur aber als positive Wirkung anzusehen.363 Ein Heil wird allerdings erst von einer überzeugenden bzw. auf einem einzigen Prinzip beruhenden Philosophie erwartet. Reine Vernunft dürfe nicht als etwas Abstraktes, sondern müsse als Wirkliches in Form der einzig wahren Triebfeder von Selbstdenken und Selbstwollen angesehen werden; zudem könne es lediglich sittliche Handlungen durch Vernunft geben, was die Menschheit wiederum über die Existenz des Tieres zu stellen verlange und jener ein Gesetz gebe, durch welches der Pflicht und dem Recht eine Erhabenheit über jedwede Ausnahme zuteilwerde.364 Wenn der Sittlichkeitsbegriff bestimmt sei, werde diesem mittels des sittlichen Gefühls diejenige Evidenz zugrunde gelegt, »welche den Aussprüchen dieses Gefühls jederzeit und überall eigenthümlich ist […].«365 Durchgängig bestimmte Begriffe von Sittlichkeit und letzten Prinzipien werden lediglich einen einzigen Sinn aufweisen, wenn die philosophierende Vernunft ebensolche erworben habe – die Vernunft nämlich diene, wenn sie sich fremden Gesetzen beuge; das sei unumgänglich, so lange sie ihre eigenen Gesetze nicht oder bloß durch Gefühle bzw. Vorstellungen von den physischen Naturgesetzen differenziere.366 »Die Wissenschaft der letzten Principien […] wird, als Elementarphilosophie, die unentbehrlichste, aber auch die leichteste und gemeinste unter den eigentlichen Wissenschaften, diejenige werden, in welcher es kein Selbstdenker dem andern zuvor thun kann, und von welcher der letzte, der dieses Namens werth ist, genau so viel als der erste zu wissen vermag. Mysticismus und Libertinismus, Despotismus und Anarchie werden an den bisherigen unbestimmten und unrichtigen Grundbegriffen der mit sich selbst uneinigen und unmündigen Vernunft die einzige Schutzwehre verlieren, hinter welcher sie sich bisher gegen gut gesinnte Selbstdenker zu vertheidigen vermochten […]. 363 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXXV. 364 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 471 f. 365 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 472 f. 366 Vgl. Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 474 f. 111

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Aberglauben und Unglauben werden freylich nicht aus der Welt, aber gewiß aus der Denkart der weltbürgerlich gesinnten Selbstdenker verbannt seyn, in welcher sie bisher nur unter der Maske der Sittlichkeit Schutz fanden, und welche […] zwar nie allen Einfluß jener beyden Uebel, aber nach und nach die Herrschaft aufheben wird, in welche sich diese Ungeheuer bisher über die moralischen Angelegenheiten der Menschheit getheilt haben.«367 Die Philosophie soll zusammenfassend den Begriff von Willensfreiheit bestimmen und für den Bereich politischer Freiheit fruchtbar machen – vorausgesetzt, unter den Selbstdenkern besteht Konsens über philosophische Prinzipienfragen. Als Hauptaufgabe der gegenwärtigen wie auch zukünftigen Philosophie kann deshalb nur gelten, »ein gültiges und allgemein akzeptierbares Denkgebäude zu errichten.«368 Reinholds Elementarphilosophie, welche hierbei als Ansatz immer näher in den Fokus zu rücken vermag, soll im vierten Teil der vorliegenden Arbeit exemplarisch anhand der Fundamentschrift erläutert und dargestellt werden. Anschließend wird es im dritten Teil aber erst einmal um eine detaillierte Auswertung beider Bände der Briefe über die Kantische Philosophie zu tun sein.

367 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 479 f. 368 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, LXXXVI. 112

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

3. Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände der Briefe über die Kantische Philosophie369 Auf den folgenden Seiten soll es darum zu tun sein, eine detaillierte, wenngleich lediglich auf essentielle Aspekte abzielende Auswertung der beiden Bände der Briefe Reinholds zu geben. Hierzu werden diese einzeln sowie als Konglomerat Reinholdschen Schaffens betrachtet – stets in Bezug auf die Frage, wie sich die Veröffentlichungen der Briefe zur Kantischen Philosophie verhalten. In einem späteren Teil der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse mit den Kantvorlesungen Reinholds bzw. vor allem mit derjenigen zur KrV zu vergleichen sein. Insgesamt wird ersichtlich, dass Reinhold gerade nicht darauf aus gewesen ist, seine Elementarphilosophie, welche beispielsweise bereits innerhalb des Versuchs von 1789 verankert ist, gänzlich in die Briefe miteinzubeziehen und die Kantische Philosophie damit in gewisser Weise zu korrigieren, sondern darauf, die zu ihrer Zeit recht schwierigen Schriften Kants einer breiten Öffentlichkeit näherzubringen und darüber hinaus im Geiste des damaligen Zeitalters darzustellen. Vor allem innerhalb der Briefe I ist das deutlich zu spüren. Der Weg des Philosophen und Theologen Reinhold beginnt mit einem Aufklärungsgeist, welcher eine natürliche Religion der Vernunft gegenüber der klerikalen Orthodoxie geltend machen möchte.370 Ein erklärendes und aufklärendes Ziel wie auch der Wille, die Beweiskraft der Transzendentalphilosophie zu mehren, schwingt dabei mit.371 Reinhold repräsentiert eine Philosophie praktischer Vernunft, deren Hauptziel in der Aufhebung religiöser Auseinandersetzungen mithilfe der Kraft der Vereinigung von Prinzipien liegt; dadurch rückt die Vereinigungstendenz von Prinzipien der Vernunft in den Vordergrund.372 Reinhold 369 Etwaige Ausführungen, welche für diese abschließende Interpretation der Briefe Reinholds vorherigen Teilen der Arbeit entlehnt und nicht mit Fußnoten versehen wurden, sind an der betreffenden Stelle einzusehen. 370 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 37. 371 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 2008, 19 ff. 372 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 38. 113

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

beurteilt die Vernunftkritik von Beginn an »unter dem Desiderat einer durch philosophische Prinzipien zu stiftenden Vereinigung der Geister.«373 Außerdem ist er davon überzeugt, dass Kant danach strebt, durch allgemeine Prinzipien Klarheit zu gewinnen, um letztlich alle Parteien auf den Gebieten der Philosophie, Religion, Moral sowie des Rechts zu einen.374 Sie wird als diejenige Philosophie angesehen, welche die größten Probleme bezüglich einer »Möglichkeit des Wissens und der Begründung der Prinzipien einer aufgeklärten Kultur, d. h. die Probleme der Begründung unserer Rechte und Pflichten in diesem Leben sowie die Gründe unserer Hoffnung für ein zukünftiges Leben gelöst hat.«375 Doch erst eine Neubegründung etwaiger Ergebnisse der KrV wird letztlich allgemeingeltende und allgemeingültige Aufschlüsse über diese Gründe zu geben in der Lage sein.376 Reinhold gelangt also zu der Auffassung, dass es zusätzlich eine Verbesserung des Fundaments der Vernunftkritik Kants braucht, worauf im Detail einzugehen ist.377 Einige Stellen, vor allem in Bezug auf die Briefe II, zielen darauf ab, Kantische Motive zu präzisieren und Vorschläge über die Ansichten des großen Denkers hinaus zu geben. Als Anhänger Kants wird Reinhold zudem versuchen, dessen Kritiken zur Philosophie eines zukünftigen Systems etwaigen Wissens weiterzuentwickeln; daran wird deutlich, dass Reinhold viel mehr als nur Popularisator Kants gewesen ist, insofern er sich stets als selbstdenkender, nicht als nachbetender Kantianer gesehen hat.378 In erster Linie schafft es Reinhold allerdings, dieser neuen Philosophie, der Kantischen, die nötige Aufmerksamkeit teilhaftig werden zu lassen. Hätte sich Reinhold dieser Aufgabe nicht oder nicht in diesem Maße angenommen, wäre auch Kant wahrscheinlich nicht zu dem einflussreichsten Philosophen der Neuzeit erblüht, auf den bis heute noch 373 Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 41. 374 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 41. 375 Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 19. 376 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, Band 49, Abteilung II: Untersuchungen, 2004, 223. 377 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 41. 378 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 36 f. 114

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

nahezu jede Theorie zurückzuführen ist. Diese Behauptung kann zwar aufgrund der Menge an Faktoren, die darauf Einfluss haben, an dieser Stelle nicht bewiesen werden. Das ist auch nicht die Aufgabe vorliegender Arbeit, aber es sollte hier kurz erwähnt sein, dass die Verfasserin diese Auffassung durchaus teilt. Stellen, welche Differenzen zu Kant zeigen, sind es nun, die hier interessieren, um Unterschiede und wichtige Gemeinsamkeiten der beiden Denker klar definieren zu können. Dadurch soll ein Bild gezeichnet werden, welches Reinhold zum einen als Schüler Kants, zum anderen als dessen Fortentwickler ausweist, der nach Präzision strebt und seine eigenen Gedanken gekonnt in Kantische Prinzipien einbindet, ohne aufdringliche Korrekturen vornehmen oder sich selbst herausheben zu wollen. Denn dieser Philosoph hat bis jetzt nicht diejenige Aufmerksamkeit erhalten, die er für seine Leistung verdient gehabt hätte. Insofern soll im folgenden Textabschnitt das Augenmerk auf Unterschieden zwischen beiden Denkern liegen, dadurch Reinholds Ideen und Gedanken klar hervorzutreten vermögen, um schließlich aufzuzeigen, inwiefern die Kantvorlesungen und gleichzeitigen Veröffentlichungen desselben, zu denen eben zunächst die Briefe gehören, aufeinander bezogen werden können. Begonnen werden soll mit Ausführungen zu den Briefen I. Zunächst ist wiederholend auf die anfängliche, aufrichtige Hochachtung sowie Überzeugung hinzuweisen, welche die KrV als letzte Instanz im Aufklärungskonflikt zwischen Wissen und Glauben auszeichnet. – »Also kann man schließen, dass das kritische Ergebnis […] in Reinhold beruhigend und gleichzeitig besänftigend wirkte. Diese erste Phase der Rezeption der KrV kommt in den […] Briefen […] zum vollen Ausdruck.«379 Insgesamt ist hier eine starke Übereinstimmung mit Kant zu erkennen, da Reinhold diesen zu Beginn als eine Art Erleuchtung oder philosophische Lichtgestalt angesehen hat, ohne allerdings wirklich abhängig zu sein.380 Reinhold steht für die Stärken der Kritischen Philosophie ein und bettet sie in die Geschichte der Menschheit, obgleich es auch Ansatzpunkte gibt, die vom Lehrmeister abweichen.

379 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 25 f. 380 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 42. 115

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Ein Evangelium der reinen Vernunft für die Epoche der Menschheit – gleichbedeutend mit dem Beginn eines neuen, philosophischen Zeitalters – soll entstehen, indem Religion und Moral durch Kantische Prinzipien vereinigt und diese auf verschiedene Disziplinen angewendet werden. Das entscheidende Motiv Reinholds besteht nämlich im freien Gebrauch der Vernunft hinsichtlich etwaiger Religionsangelegenheiten, wobei die Vernunft selbst vor Kant bereit stets unrichtig gedacht worden ist.381 »Eine Vernunft-Religion auf moralischer Grundlage: das also war die Idee der Religion, die in Reinhold lebendig war, als er an das Studium der Kantischen Lehre ging […]. Weil die Kantische Lehre dies Problem mit den Mitteln eines weit ausgreifenden Systems auflöste, weil sie der moralischen Vernunftreligion ihre entwickelte Gestalt und die sichere wissenschaftliche Grundlage gab – darum sah Reinhold sich nach dem Bekanntwerden mit der kritischen Philosophie veranlaßt, selbst die schlimmsten Zeichen der Zeit [f ]ür zuverlässige Vorboten einer der weit aussehendsten und wohltätigsten Revolutionen anzusehen, die sich je in der gelehrten und moralischen Welt zugleich zugetragen habe[n].«382 Mit Kants Ideen, in der praktischen Philosophie dann den Postulaten – Forderungen der Vernunft – liegen überdies Bedingungen für einen ewigen Frieden innerhalb der Theologie vor.383 Die Kritik der Vernunft legt mit dem moralischen Erkenntnisgrund der Religion ein Grundgerüst bzw. einen grundsätzlichen Ansatzpunkt, wenngleich auch keinen ersten Grundsatz, an den Tag, welches als Fundament für das Vorhaben Reinholds, Philosophie in Gänze auf einem solchen aufzubauen, dienlich ist.384 Dieser erste Grundsatz des überarbeiteten Kantischen Systems wird sodann aber nicht in einem Satz, welcher sich auf den Grund der Erkenntnis von Moral stützt, sondern im Satz des Bewusst381 Vgl. Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 1958, 17. 382 Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, 1958, 20. 383 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 48. 384 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 48. 116

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

seins, den Reinhold in seiner Elementarphilosophie definiert, bestehen – »Nicht die reine Theologie, sondern die Vorstellungstheorie wird zum entscheidenden Baustein.«385 Im ersten Brief wird auf das eigene Projekt Reinholds einer Philosophie überhaupt bzw. Elementarphilosophie verwiesen, was darauf hindeutet, dass Kant allein nicht im Stande gewesen ist, einen ersten und obersten Grundsatz der Philosophie zu liefern. Dieser beschreibt sein philosophisches System auch nicht als alles umfassend und aus einem ersten Grundsatz abgeleitet, sondern lediglich als Umriss zu einem System der Metaphysik bzw. »die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft.«386 Innerhalb der Briefe II tritt das noch deutlicher in Erscheinung. Insgesamt hat Reinhold, anders als Kant, stets ein aufklärerisches Motiv vor Augen, welches aus seinem Interesse an einer neuartigen Form der Metaphysik, die als aufgeklärt zu gelten vermag, hervorgegangen ist.387 Er arbeitet die Bedeutung der Philosophie Kants hierbei vor allem für die Religion heraus. Seine Vorstellung ist, dass es nur möglich sei, jedermann von einer Vernunftreligion zu überzeugen, wenn Philosophie durch ein einziges Prinzip begründet werden kann. Ob Kant damit einverstanden gewesen wäre, lässt sich an dieser Stelle zwar nicht beweisen, ist aber mehr als fragwürdig. Faktisch sind innerhalb der Briefe I tatsächlich allerdings keine direkten Aussagen vorhanden, die klar explizieren würden, dass Reinhold deutlich über Kant hinausgehen oder ein Argument gegen denselben vorbringen möchte. Die erste und zweite Auflage der Briefe I unterscheiden sich darin voneinander, dass Reinhold sich bei letzterer im Jahre 1790 schon auf dem Höhepunkt seines philosophischen Schaffens befindet und trotzdem davon absieht, seine Elementarphilosophie, die, wie bereits erwähnt, innerhalb des Versuchs einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens dargestellt ist, in die Briefe miteinzuarbeiten.388 Insofern können die Briefe I durchaus als großartiger Versuch angesehen werden, die wesentlichen Errungenschaften Kants in Hinblick auf die Entwicklung 385 Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 49. 386 Kant, KrV, 1968, A 707 f./B 735 f., 465. 387 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 44. 388 Vgl. Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, 1958, 24. 117

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

der europäischen Kultur zu verstehen und ihre geistesgeschichtliche Notwendigkeit wie auch Geltung nachzuweisen.389 Faktische Differenzen müssen mehr oder weniger zwischen den Zeilen gelesen werden. Reinhold fühlt sich zwar berufen, »eine der Stimmen in der Wüste abzugeben, welche die Wege des zweyten Immanuel bereiten sollen«390, doch ist hier bereits angedeutet, dass er sich selbst gewissermaßen als dritten Immanuel und nicht etwa als Nachahmer oder Ebenbild des Originals verstanden wissen will. Deswegen wird die KrV auch daraufhin untersucht, wie die Differenzen zwischen den einzelnen Richtungen bzw. Parteien der Philosophie und Theologie beigelegt werden können391 – das Werk wird also hinterfragt und bezüglich derjenigen Aussagen, auf die Reinhold selbst hinausmöchte, interpretiert. Dass er dabei allerdings auch Theorien anführt, die über Kantische Grundlagen hinausgehen, zeigt sich bereits an der sogenannten »Vier-Parteien-Theorie«. Diese widerspricht dem Kritischen Fundament zwar nicht, geht aber insofern darüber hinaus, als sie schlicht einen neuen Ansatzpunkt darzustellen vermag, der bei Kant so noch nicht vorhanden gewesen ist. Darüber hinaus spielt Reinhold an einigen wenigen Stellen auf sein eigenes Projekt der Elementarphilosophie an, welche anders als die Kantische Kritik auf einen ersten Grundsatz gebaut und in sich vollständig sein soll, vom Satz des Bewusstseins ausgehend. Hier deutet sich zumindest an, dass Reinhold die Methode der Kantischen Philosophie für unzureichend erachtet. Kant nämlich geht von einem Faktum der Erfahrung aus, sucht nach den Bedingungen der Möglichkeiten derselben und stellt sie sodann auf. Bedingungen sind allerdings keine Prinzipien, aus denen etwas abzuleiten ist, da sie Möglichkeiten erklären – nicht aber Wirklichkeiten und damit von der Wirklichkeit nur einen Teil explizieren. Prinzipien dagegen sind Gründe und erklären daher entweder vollständig oder gar nicht. Letztere schweben auch Reinhold vor, der erste Grundsätze und damit Prinzipien zu suchen und aufzustellen verlangt. Hermann Krings expliziert im Einklang mit Kant in seinem Aufsatz Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied von Ursache und 389 Vgl. Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, 1958, 27. 390 Kim, Religion, Moral und Aufklärung (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), in: Europäische Hochschulschriften, Band 489, 1996, 183. 391 Vgl. Kim, Religion, Moral und Aufklärung, in: Europäische Hochschulschriften, Band 489, 1996, 188 f. 118

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

Bedingung, in welchem Aufschluss über die Charakteristik bzw. Eigenart der Metaphysik gegeben werden soll, dass es dieser eigentümlich ist, stets nach Bedingungen und eben nicht nach Prinzipien oder Ursachen zu fragen.392 Ihr Ziel ist darüber hinaus eine Begründung und sie antwortet auf die Frage, wie es möglich ist, dass dasjenige, was geschehen ist, auch tatsächlich passiert ist.393 »Kant charakterisiert diese Eigenart der Metaphysik dadurch, daß er sagt, die Vernunft suche zu jedem Bedingten das Unbedingte. […] Erstens: [Der Begriff des Unbedingten] kommt nicht in der Reihe der Bedingungen vor, sondern ist ein Grenzbegriff, durch den die ganze Reihe, einschließlich einer ersten Bedingung, als möglich gedacht wird. Zweitens ist die Einheit, die er begründet, nicht eine »Einheit möglicher Erfahrung« (KrV, B 363), sondern die Leistung einer Synthesis der Vernunft. […] Wenn wir den kantischen Gedanken aus seinen historischen Voraussetzungen lösen und ihn etwas erweitern, dann können diese Begriffe auch noch heute als Regeln dienen, denen gemäß wir vernünftigerweise nach den Bedingungen unserer Existenz fragen sollten.«394 Innerhalb der Metaphysik begründet die menschliche Vernunft dadurch, dass sie Vernunft ist, einen Zusammenhang dessen, was ansonsten zusammenhanglos verweilen müsste durch autonome und freie Selbsttätigkeit, wobei sich Autonomie und Verantwortung gegenseitig bedingen; Bedingungen sind demnach auch für Krings – entgegen der Reinholdschen Theorie, in welcher Prinzipien als fundamental angesehen werden – grundlegend, sofern sie alle Möglichkeiten widerspiegeln, die wirklich werden können, es aber nicht müssen.395 Dadurch wird noch einmal deutlich, dass Reinhold Metaphysik und Philosophie im All-

392 Vgl. Krings, Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied von Ursache und Bedingung, in: Philosophisches Jahrbuch, 92. Jahrgang 1985, 105. 393 Vgl. Krings, Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied von Ursache und Bedingung, in: Philosophisches Jahrbuch, 92. Jahrgang 1985, 105 f. 394 Krings, Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied von Ursache und Bedingung, in: Philosophisches Jahrbuch, 92. Jahrgang 1985, 106. 395 Vgl. Krings, Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied von Ursache und Bedingung, in: Philosophisches Jahrbuch, 92. Jahrgang 1985, 107. 119

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gemeinen schlicht auf eine andere Art und Weise zu begreifen vermag, als es bei Kant und, wie oben aufgezeigt, eben auch bei Krings der Fall ist. Im Folgenden wird es um Ausführungen zu den Briefen II gehen, vor allem in Bezug auf Unterschiede, welche sich zur Kantischen Lehre ergeben. Zunächst ist hierbei zu sagen, dass eine Theorie bzw. ein erster Grundsatz von Moral und Recht bzw. Naturrecht, basierend auf Kantischen Prinzipien, aufgestellt werden soll.396 Durch den Ausbau von Bauteilen der praktischen Elementarphilosophie sowie das Bestreben, ein Konzept von Willensfreiheit in den Mittelpunkt zu rücken, wird deutlich, dass ein zunehmender Konflikt mit dem Kantischen Blickwinkel bezüglich sittlicher Freiheit entsteht, insofern Reinhold sich im zweiten Band der Briefe klar über Prinzipien des Lehrmeisters – und das nicht nur in Bezug auf unterschiedliche Auffassungen von Willensfreiheit – erhebt.397 »Zum einen wird in aufklärungspragmatischer Absicht in die Parteienkämpfe zu Fragen der Moral und des Naturrechts eingegriffen, zum anderen eine nach Kantischen Leitgedanken abgefaßte Theorie der Moral und des Naturrechts sowie eine darauf aufbauende Theorie der Willensfreiheit aufgestellt.«398 Abweichungen, welche sich gegenüber der Kantischen Philosophie ergeben, sollen nun der Reihenfolge des Textes gemäß aufgezeigt werden. Schon in der Vorrede und im ersten Brief bekundet Reinhold, dass er das gesamte Fundament der neuen Moralphilosophie bzw. seiner Elementarphilosophie aus einem von Kant noch nicht erreichten Standpunkt aus beleuchten möchte. Kant betont dagegen innerhalb der KrV, dass diese lediglich zu einem Traktat von der Methode und nicht etwa zu einem System der Wissenschaft selbst gereichen kann. Sie vermag also einen Umriss zum System der Metaphysik bzw. die Bestimmung von formalen Bedingungen eines vollendeten Systems darzustellen, nicht aber das Sys396 Vgl. Bondeli, The Conception of Enlightenment in Reinhold’s »Letters on the Kantanian Philosophy«, in: Di Giovanni [Hg.], Studies in German Idealism, Volume 9, 2010, 49. 397 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 56. 398 Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kerstin/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 51. 120

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

tem in Gänze.399 Reinhold folgert daraus, dass er derjenige ist, der dieses System zur Vollständigkeit zu bringen hat, indem er Einheit in etwaigen philosophischen Debatten stiftet, die Kantische Philosophie, von deren Prinzipien er grundsätzlich überzeugt ist, den Menschen verständlich macht und darauf aufbauend seine Elementarphilosophie verkündet. Spätestens seit 1790 ist Reinhold der Überzeugung, dass bei Kant eine vieldeutige bzw. unscharfe Verwendung des Erfahrungsbegriffs vorliegt und er versucht nun, diesen zu präzisieren. Für jenen sind, wie bereits erwähnt, lediglich Fakta der Erfahrung als einzige echte Quelle von Erkenntnis dienlich, was für diesen wiederum nicht hinreichend wäre. Kant bestreitet, dass erfahrungsfreie Vernunft tatsächlich Wissen über Metaphysik generieren kann; was der etablierten Metaphysik als theoretische Leitlinie über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit dienlich war, sind diesem gemäß die sogenannten Postulate der praktischen Vernunft, also »notwendige Glaubensartikel, die sich aus dem rationalen Selbstverständnis von Personen ergeben, die unter moralischen Verpflichtungen stehen.«400 Die Kantische Philosophie soll innerhalb der Briefe II zwar auch, wie das bei den Briefen I der Fall gewesen ist, dem Ruf einer Hypothese enthoben und ihre Richtigkeit wie Notwendigkeit herausgestellt werden, doch setzt das wiederum eine neue Theorie des Begehrungsvermögens sowie des Willens voraus, die sich noch aufzeigen lassen wird. Innerhalb des dritten Briefes wird sodann eine neue Konzeption von Freiheit dargestellt, die zwischen praktischer Vernunft und individuellem Willen, sich als Mensch bewusst zum Guten oder Bösen und damit zur Nichtbefriedigung oder Befriedigung des eigennützigen Triebes zu entscheiden, differenziert. Reinhold möchte die Freiheit damit sowohl im vernünftigen Handeln als auch in demjenigen nach sinnlichen Trieben verorten; so ist sie ursprünglich charakterisiert als »das generische Vermögen zwischen Handlungsvorgaben von Seiten der Sinnlichkeit wie von Seiten der Vernunft zu wählen.«401 Kant zufolge kann man über eine solche Entscheidung nichts wissen. Denn eine Entscheidung zum Bösen ist als aktive Willensbestimmung 399 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 707 f./B 735 f., 465. 400 Höffe [Hg.], Klassiker auslegen Band 17/18: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998, 7. 401 Zöller, Von Reinhold zu Kant (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), in: Archivio di Filosofia LXXIII, 2005, 79. 121

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gegen die Vernunft und damit auch gegen die eigene Wesensbestimmung zu beurteilen, da für Kant der Wille stets mit der praktischen Vernunft gleichzusetzen ist. »Lediglich eine moralisch gesetzlose Freiheit, die in der Tat die Willkür der sinnlich gegängelten Vernunft sei, lasse sich auf das Tun des Bösen beziehen.«402 Für Reinhold dagegen kann selbst der reine Wille nicht gleichbedeutend mit praktischer Vernunft sein – genauer besehen gibt die Erfahrung fast ausschließlich Beispiele an die Hand, welche auf seine Auffassung hindeuten, denn jeder Mensch macht Fehler oder bereut einmal etwas, das er nicht tun hätte sollen. Würden wir immer nur gemäß der praktischen Vernunft und moralischer Grundlagen handeln, wäre unsere Welt sicher eine andere. Sittlichkeit ist insofern als Produkt von praktischer Vernunft und freiem Willen zu verstehen. Der Pflichtbegriff wird im fünften Brief als dasjenige definiert, was dem Gesetz nicht widerspricht und überdies moralisch notwendig ist. Bei Kant wird Pflicht dagegen als schlechthin guter Wille expliziert – als derjenige nämlich, welcher die Pflicht ohne Umschweife erfüllen will. Insofern wird die objektive Notwendigkeit einer verbindlichen Handlung Pflicht genannt. Das Befolgen des Sittengesetzes wird darüber hinaus nicht im Sinne eines Verhältnisses von philosophierender Vernunft und gesundem Menschenverstand weiterentwickelt, wie Reinhold das tut – dieser kommt zu dem Ergebnis, dass das Gesetz der moralischen Vernunft am besten durch den uneigennützigen Trieb ausgedrückt werden soll. Das menschliche Triebverhalten spielt also eine zentrale Rolle in Reinholds Explikationen. Den Begriff des Triebes hat Reinhold wohl von Spinoza entlehnt. Im sechsten und siebten Lehrsatz des dritten Teils seiner Ethik spricht dieser davon, dass jedes Ding danach strebt, in seinem Sein zu verbleiben, was den ursprünglichsten Trieb darzustellen vermag, sowie von einem dementsprechenden »conatus«.403. Dieser wird als Bestreben vorgestellt, wodurch jedes Ding in seiner Existenz bemüht ist, zu verharren, was die wirkliche Eigenart des Dinges selbst bezeichnet.404 Im 22. Lehrsatz des vierten Teils desselben Werkes wird nun der »conatus 402 Bondeli, Freiheit im Anschluss an Kant, in: Gerhard/Horstmann/Schumacher [Hg.], Kant und die Berliner Aufklärung, 2001, 243. 403 Spinoza, Die Ethik. Lateinisch und deutsch (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 1977, 272 f. 404 Vgl. Spinoza, Die Ethik. Lateinisch und deutsch, 1977, 272 f. 122

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

sese conservandi«405, der Selbsterhaltungstrieb bzw. das Bestreben, sich selbst zu erhalten, genauer expliziert. »Das Bestreben, sich zu erhalten, ist das eigentliche Wesen des Menschen […]. Wenn also irgendeine Tugend vor dieser, vor dem Bestreben nämlich, begriffen werden könnte, so würde […] das Wesen eines Dinges vor ihr begriffen werden, was […] widersinnig ist.«406 Der Zusatz zu ebendiesem Lehrsatz bekundet außerdem, dass das Bestreben, sich selbst zu erhalten, als erstes und alleiniges Fundament von Tugend angesehen werden muss, da vor diesem kein anderes Prinzip und dadurch letztlich keine Tugend eingesehen werden kann.407 Hierdurch wird ersichtlich, wie der Triebbegriff für Reinhold eine so zentrale und essentielle Bedeutung erlangt hat – nämlich sofern bereits für Spinoza der Trieb, sich selbst zu erhalten, der grundlegendste und fundamentalste gewesen ist. Zu Beginn des sechsten Briefes kristallisiert sich sodann deutlich heraus, dass Reinhold auf eine andere Art und Weise als Kant Philosophie zu begreifen vermag, insofern Grundbegriffe und Grundsätze innerhalb eines Rahmens, der gesamtsystematisch greift, entwickelt und komplettiert werden sollen. Die Kantischen Grundbegriffe können, so gesehen, lediglich dazu hinleiten und müssen als vorläufig bezeichnet werden. Darüber hinaus hat der Kantische Begriff von Freiheit mehr als eine Grundbedeutung und ist dem praktischen Grundvermögen eines jeden Menschen zu eigen, welches als Wille oder auch Willkür bezeichnet wird.408 Durch Reinhold wird sodann »ein zwar nicht dem Buchstaben, aber doch dem Geiste Kants entsprechendes Freiheitsverständnis […] [entfaltet], das den Namen Freiheit auch verdienen sollte.«409 Im Verlauf des sechsten Briefes werden also Grundsätze entwickelt, wobei mit der Differenzierung zwischen dem Trieb nach Vergnügen und der praktischen Vernunft als Grundunterscheidung begonnen 405 Spinoza, Die Ethik. Lateinisch und deutsch, 1977, 484 f. 406 Spinoza, Die Ethik. Lateinisch und deutsch, 1977, 485 ff. 407 Vgl. Spinoza, Die Ethik. Lateinisch und deutsch, 1977, 486 f. 408 Vgl. Baum, Kants Replik auf Reinhold, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 153. 409 Bondeli, Freiheit im Anschluss an Kant, in: Gerhard/Horstmann/Schumacher [Hg.], Kant und die Berliner Aufklärung, 2001, 246. 123

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wird, welche die Kantische Ansicht verbessern soll; dadurch soll letztlich ein gesamtsystematisches Fundament der Philosophie geschaffen werden. Ebenso wichtig ist die Trennung von eigennützigem und uneigennützigem Trieb, die für Reinhold zentral ist und dazu veranlasst, sich für oder gegen etwas zu entscheiden sowie die Definition des Willens, welche eindeutig auf eine freie Hinwendung zur Nichtbefriedigung oder Befriedigung des eigennützigen Triebes abzielt. Insofern besteht Willensfreiheit im Vermögen, sich autonom für eine Erfüllung oder Nichterfüllung des Gesetzes der reinen Selbsttätigkeit zu entscheiden – Reinhold verzichtet hierbei jedoch gänzlich auf den Kantischen Ausdruck der Autonomie des Willens in seinen Ausführungen.410 Das Sittengesetz, dessen Befolgung für Kant unbedingt notwendig ist, wird bei Reinhold so definiert, dass bei allen Willenshandlungen die (Nicht-/)Befriedigung des eigennützigen Triebes der Forderung des uneigennützigen unterzuordnen ist und nur die Gesinnung des Willens betrifft. Vollkommene Pflicht drückt sodann aus, dass man keinen Menschen willkürlich zur Befriedigung seines eigennützigen Triebes zwingen darf411 – für Kant dagegen ist dieselbe offenkundig im kategorischen Imperativ gelegen. Dadurch zeigt sich erneut die unterschiedliche Auffassung der beiden Denker, insofern Reinholds Bemühen vor allem darin liegt, dem eigennützigen Trieb in gesetzesmäßiger Form einen Spielraum zu schaffen. Er unterbreitet eine Erklärung für die als kategorischer Imperativ gekennzeichnete Aufforderung, nur derjenigen Maxime gemäß zu handeln, von der man zugleich wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz werde; denn das Sittengesetz, welches den eigennützigen Trieb unter eine Forderung des uneigennützigen statuiert, ist gleichbedeutend mit dem freien, Maximen wählenden, menschlichen Willen. Der Entscheidungsspielraum, welcher durch die Freiheit unseres Willens gegeben ist, wird zum ausschlaggebenden Element, dadurch sich Reinhold über Kant zu erheben behauptet. Mit dem siebten Brief setzt Reinhold die Ausführungen fort, welche seine abstrahierende Auffassung von Willensfreiheit sowie Darlegungen zum eigennützigen und uneigennützigen Trieb in Verbindung mit Sittlichkeit beschreiben. Wichtig ist ihm hierbei vor allem zu wiederholen, dass im 410 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 314 f. 411 Vgl. hierzu sowie zum gesamten Absatz Reinhold, Briefe II, 2008, Sechster Brief. 124

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

Wollen die Selbstbestimmung zur (Nicht-/)Befriedigung einer Forderung des Begehrens realisiert wird. Dadurch wird der Wille als freies Vermögen definiert, welches sich eigennützig oder uneigennützig bestimmt und entspricht daher nicht, wie das bei Kant der Fall ist, dem praktischen Gesetz. Das moralische Bewusstsein des Menschen ist daher auch eher als Gefühl und weniger als Ausdruck der praktischen Vernunft anzusehen.412 Unmittelbar im Anschluss (achter Brief ) wird diese Definition vom Willen und der Willensfreiheit nochmals ausführlich erörtert und angezeigt, dass die Kantische Philosophie den Begriff der Freiheit lediglich anzudeuten vermochte, da nicht ausdrücklich aufgezeigt wird, dass der autonome Wille auch derjenige ist, welcher als wählender zur Selbstgesetzgebung aufgefordert wird. Für Reinhold ist lediglich die Vorschrift um ihrer selbst willen eine, die tatsächlich Objekt des uneigennützigen Vergnügens sein kann, was allerdings den Begriff der Kantischen Maxime verkennt: eine solche wäre als stets unwillkürlich zu bezeichnen, da objektiv gefragt werden muss, ob das Gesetz, welches sich dahinter verbirgt, auch zu einem allgemeinen Gesetz gereichen kann. Innerhalb der Metaphysik der Sitten von 1797 argumentiert Kant sodann ausdrücklich, dass die in der Willkür liegende Freiheit nicht als Wahl zu charakterisieren ist und die Kernaussage moralischer Freiheit untergräbt. Für Reinhold wird die freie Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz und damit ein Handeln zugunsten desselben oder gegen dieses zum Ausgangspunkt. »Instanz und Subjekt des Handelns ist […] nicht die Vernunft des Menschen, sondern der Mensch selbst als ein natürlich situiertes Individuum bzw. als eine Person, welche durch […] einen [Entschluss] einem der beiden möglichen Triebe […] Wirklichkeit verleiht.«413 Wären unsittliche Handlungen nicht frei, könnten sie auch niemandem zugewiesen werden.414 Vor allem unternimmt Reinhold es, einen Begriff der Freiheit zu konzipieren, welcher der menschlichen Bestimmung angemessen sowie real und auf jede freie, zurechnungsfähige Person anwendbar ist.415 412 Vgl. hierzu Reinhold, Briefe II, 2008, Siebenter Brief. 413 Noller, »Die praktische Vernunft ist kein Wille«, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 215. 414 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 289 f. 415 Vgl. Noller, »Die praktische Vernunft ist kein Wille«, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 218. 125

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»Der menschliche Wille ist frei, frei in der Entscheidung, dem Sittengesetz zu folgen oder nicht zu folgen. […] [Er] ist demnach frei sowohl als Wille zum Guten oder Sittlichen als auch als Wille zum Bösen oder Unsittlichen. […] Dies ist gleichsam die Quintessenz von Reinholds Auffassung von Willensfreiheit aus dem zweiten Band der Briefe über die Kantische Philosophie […].«416 Während Kant beim Wählen von Maximen ein solches gemäß oder zufolge des Sittengesetzes assoziiert, besinnt sich Reinhold hauptsächlich auf ein eigenständiges Wählen des Gesetzes.417 Damit wird Willensfreiheit letztlich der Vernünftigkeit enthoben und zu einem autonomen, dritten Grundvermögen, welches sich zwischen dem oberen, die Ansprüche der Vernunft widerspiegelnden und dem unteren, sinnliche Anreize verkörpernden Begehrungsvermögen niederlässt – »Die Freiheit beim Wollen wird von der primären oder gar exklusiven Ausrichtung auf die Vernünftigkeit des Wollens dematerialisiert und zur Wahlfreiheit zwischen gleichermaßen möglichen Alternativen formalisiert.«418 Hier liegt also eine überaus gravierende Differenz zu Kant vor, insofern für diesen zuerst die Vernunft als Gesetzgeberin frei autonom ist, für Reinhold wiederum der Mensch als freies Wesen, welches in seinem Handeln lediglich durch sich selbst eingeschränkt werden kann. Vermutlich liegt in der umfassenden Debatte zur Willensfreiheit auch der größte inhaltliche Unterschied zwischen den Briefen Reinholds und deren Kantischen Grundlagen. Lediglich die Auffassung, dass Freiheit, Moralität und insofern auch moralisches Sollen harmonieren, liegt beiden Prinzipien gemeinschaftlich zugrunde.419 »Beide Denker sind der Meinung, dass wir in Bezug auf die Vorstellung des Gegebenseins des moralischen Gesetzes nicht – oder jedenfalls nicht im strengen Sinne – von Freiheit sprechen können, sondern nur im Falle des Verhältnisses des wollenden Menschen 416 Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/ Heinz/Bondeli [Hg], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 125. 417 Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/ Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 132. 418 Zöller, Von Reinhold zu Kant, in: Archivio di Filosofia LXXIII, 2005, 79. 419 Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/ Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 131. 126

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zum gegebenen moralischen Gesetz. Der eine, Reinhold, spricht bei diesem Verhältnis von Wille = Willkür, der andere, Kant, von Willkür allein. […] Während in Reinholds Definition der Willensfreiheit das Entscheiden für oder gegen das Sittengesetz den Drehund Angelpunkt bildet, ist für Kant das Vermögen, unabhängig von sinnlichen Bestimmungsgründen handeln zu können, das A und O einer Definition der freien Willkür.«420 In Hinblick auf die zuvor angegebenen Stellen wird eine Willensfreiheit befürwortet, die absolute moralische Selbstbestimmung innehat – eine Form von Willensfreiheit, die sich nicht darauf reduzieren lassen soll, als Verständnis eines Begehrens der Vernunft oder als Auffassung einer Kausalität des moralischen Gesetzes zu gelten; dabei ist eine »Entfaltung dieses Freiheitsbegriffs mit dem Anspruch [verbunden], das bisher mangelhaft bestimmte Fundament des Kantischen Sittlichkeitsbegriffs vollständig explizieren zu können.«421 Obgleich die Thematik der Willensfreiheit innerhalb der Vorlesungsnachschriften Reinholds, auf deren Interpretation und Erörterung die vorliegende Arbeit zugeht, nicht in den Vordergrund rücken wird, sei sie in diesem Teil trotzdem erwähnt und inhaltlich dargestellt, um in der gesamten Debatte um wichtige Unterschiede zwischen Reinhold und Kant einen weiteren festzuhalten. Überdies wird im zehnten Brief die Forderung gestellt, das Sittengesetz durch einen richtig verstandenen Begriff von Freiheit zu begründen – zwar auf Kantischer Basis, doch wird von Resultaten der KpV insofern abgewichen, als lediglich ein Seinsgrund und nicht etwa der Begriff von Freiheit als Grundlage des Sittengesetzes dient. Ein solches wird daraufhin im elften Brief über das Kantische Fundament hinaus charakterisiert, insofern Sittlichkeit für Reinhold aus Form, Materie und Freiheit besteht. Nach Kant gilt es dagegen ein Sittengesetz vorauszusetzen, welches als Form begreifbar ist, da Materie als bestimmendes Moment den reinen Begriff des moralischen Gesetzes vereiteln würde. Am zwölften Brief zeigt sich schließlich der Anspruch Reinholds, Heil erst aufgrund einer überzeugenden sowie auf einem einzigen Prinzip beruhenden Philosophie 420 Vgl. Bondeli, Zu Reinholds Auffassung von Willensfreiheit in den Briefen II, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 134 ff. 421 Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 51 f. 127

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erwarten zu dürfen, die in den Grundfesten mit der Kantischen übereinstimmt, die Grenzen derselben allerdings mithilfe neuer Ansätze zu sprengen vermag. »Die Wissenschaft der letzten Principien […] wird, als Elementarphilosophie, die unentbehrlichste, aber auch die leichteste und gemeinste unter den eigentlichen Wissenschaften […] werden […].«422 Während Reinhold sich innerhalb der Briefe I darauf beschränkte, an manchen Stellen lediglich eine kritische Bemerkung zu machen, nie aber gegen die Philosophie Kants in ihren Grundfesten zu argumentieren, wird mit den Briefen II direkt reagiert – überdies werden Verbesserungsvorschläge zu Tage gebracht und Thematiken weiterentwickelt. Das moralische Gefühl wird nun zum Inbegriff des moralischen, menschlichen Verstandes, welcher »in Koalition mit dem höheren, philosophischen Standpunkt der moralischen Vernunft die Grundlage ausmacht, auf der gültige Urteile und verbindliche Handlungen in Moral und Recht ermittelt und festgesetzt werden.«423 Eine vernünftige Entscheidung kann nach Reinhold insofern auch als Erfüllung eines moralischen Triebes aufgefasst werden.424 Ein Trieb hat jedoch immer etwas von Notwendigkeit an sich; das widerspricht nach Kant erheblich der Autonomie der Vernunft und damit der Moral, insofern der Mensch sich nicht durch äußere Triebe, sondern eine von innen herstammende Autonomie, dem moralischen Gesetz gemäß zu handeln, bestimmen soll – denn »die reine praktische Vernunft besteht nun in reinen Vernunftgründen für den Willen, das heißt in der Fähigkeit, das dem Handeln zugrundeliegende Begehren unabhängig von sinnlichen Antrieben: den Trieben, Bedürfnissen und Leidenschaften […] zu bestimmen.«425 Ein Trieb kann nur natürlich sein, was Kant wiederum Neigung nennt – die Glückseligkeit ist innerhalb der Transzendentalen Methodenlehre der KrV als Befriedigung aller dieser Neigungen charakterisiert.426 Insgesamt postuliert Kant nicht, dass Neigungen ausgeschlossen oder unterdrückt werden sollen, sondern ihre Subsumption unter Maximen, die einer Verallgemeinerung fähig sind.427 422 Reinhold, Briefe II, 2008, Zwölfter Brief, 479. 423 Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, XXVII. 424 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, XXVII. 425 Höffe [Hg.], Klassiker auslegen Band 26: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 2002, 5. 426 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 806/B 834, 523. 427 Vgl. Höffe [Hg.], Klassiker auslegen Band 17/18: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1998, 604 f. 128

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Durch die Erweiterung seines Blickwinkels mithilfe des Bereichs sittlicher Triebe und Gefühle sowie der Vergegenwärtigung deren Kooperation mit moralischer Vernunft ist Reinhold nun imstande, auf gewisse Weise über den Tellerrand hinauszusehen.428 Dadurch führt seine Argumentation, gerade in Bezug auf die Willensfreiheit sowie ein gesamtsystematisches Fundament der Philosophie, viel weiter als die Kantische und kommt der Realität überdies näher – denn wir entscheiden uns dazu etwas zu tun, was nicht dem Sittengesetz entspricht, uns selbst aber einen Vorteil verschafft. Zwar mag es sein, dass Reinhold die Kritische Philosophie seines Lehrmeisters zunächst in vollen Zügen aufgenommen hat, doch muss er stets als derjenige Philosoph angesehen werden, der Kant nicht nur damaligen Zeitgenossen und der Nachwelt nähergebracht hat, sondern darüber hinaus dessen Grundpfeiler und Fundament zu einem Gebäude seiner ihm eigenen Elementarphilosophie wachsen hat lassen. Das gilt vor allem für den zweiten Band der Briefe, welcher als bedeutsamster Versuch Reinholds betrachtet wird, diejenigen Problematiken zu beseitigen, die ihn seit 1789 beschäftigen – ein Versuch, der sich nicht länger nur einer Auslegung Kants verschrieben hat.429 »[Im zweiten Band der Briefe] zeigt sich […] Reinholds Experimentieren auf dem Weg einer Lösung – ein Experimentieren, das zwar immer noch an der vorrangigen Einarbeitung der Kantischen Resultate festhält, zugleich aber zum ersten Mal die Bereitschaft erkennen läßt, sich gegebenenfalls […] von denselben zu verabschieden. Die Schwierigkeiten, die vor allem in Spannungen gegenüber der Kantischen Lehre bestehen, stellen sich Reinhold deshalb nicht als Gründe dar, die eigene Theorie preiszugeben, sondern als Herausforderung für die Zukunft.«430 Es sind allerdings nicht ausschließlich Stimmen vorhanden, die Reinhold gegenüber freundlich gesonnen sind, sondern durchaus auch kritische. Eine davon, nämlich diejenige von Krings, wurde weiter oben innerhalb dieses Teils der vorliegenden Arbeit bereits angedeutet. Dar428 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Briefen II, in: Reinhold, Briefe II, 2008, XXVII. 429 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 272. 430 Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 316 f. 129

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

über hinaus sollen Texte heutiger, moderner Philosophen, nämlich von Wildfeuer (1999), Zöller (2005) und Noller (2012) miteinbezogen werden, um letztlich darzustellen, dass die Theorien Reinholds an manchen Stellen keine hinreichenden Resultate liefern oder ausbaufähig sind. Bei Wildfeuer wird unter anderem ausgeführt, dass Reinhold ab 1790 mit der Forderung und Konzeption eines ersten und obersten Grundsatzes als Ausgangspunkt wie auch Bedingung jeder Systematik einer Philosophie die »Kritik« zu einem ganzheitlichen System abändert; der Kantischen Philosophie werden insofern Unvollständigkeiten zugeschrieben.431 »Die unterschiedliche Beurteilung des Verhältnisses von Kritik und System ist jedoch nur das Indiz für eine grundlegendere Differenz zwischen beiden Denkern in der Bestimmung des Begriffs des Systems der Philosophie und dessen Rückbindung an eine Theorie der Vernunft.«432 Für Kant stellt Vernunft stets die vollkommene Verkettung aller Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten dar, also das Ganze etwaiger Bedingungen als Unbedingtes, für Reinhold dagegen geht es eben darum, einen ersten Grundsatz aufzustellen, der zu einem gesamten System der Philosophie dienlich sein soll.433 Ein oberstes Prinzip der Vernunft kann gemäß ersterem lediglich eine regulative bzw. erkenntnisleitende Funktion innehaben und gilt ihm als Vermögen, einen Zweck zu setzen, was letzterem zuwider gewesen sein muss.434 »Indem Reinhold die Einheit der philosophischen Erkenntnis nicht auf die »wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft«, sondern auf ein erstes Prinzip des philosophischen Wissens gründet, kann er im Kontext der Grundlegung der Philosophie als Wissenschaft die Vermittlung des praktischen Interesses an Aufklärung mit der Forderung einer Philosophie aus einem Prinzip nicht leisten. An deren Stelle tritt die kritische Diagnose des Zeitalters und der durch das philosophietheoretische Konzept Reinholds nicht legitimierte Versuch, aus 431 Vgl. Wildfeuer, Praktische Vernunft und System, in: Spekulation und Erfahrung, 1999, 40 f. 432 Wildfeuer, Praktische Vernunft und System, in: Spekulation und Erfahrung, 1999, 48. 433 Vgl. Wildfeuer, Praktische Vernunft und System, in: Spekulation und Erfahrung, 1999, 284. 434 Vgl. Wildfeuer, Praktische Vernunft und System, in: Spekulation und Erfahrung, 1999, 294 ff. 130

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

den gegenwärtigen Bedürfnissen der Menschheit die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines allgemeingeltenden Grundsatzes zu rechtfertigen […]. Obwohl es das leitende Interesse Reinholds für eine Reformulierung der Philosophie Kants war, mit einer erschöpfenden Theorie des Vorstellungsvermögens ein gemeinsames Fundament und einen gemeinsamen Grundsatz für das gesamte Wissen […] aufzustellen, und damit erst die Systematizität und Wissenschaftlichkeit der Philosophie zu gewährleisten, taugt der »Satz des Bewußtseins« als Prinzip der Elementarphilosophie […] lediglich als Fundament der theoretischen Philosophie.«435 Die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft wird der philosophischen Systematizität untergeordnet, welche mittels einer bewusstseinsphänomenologischen Dialektik bestimmt ist.436 Auf diese sowie weitere Gegebenheiten wird an geeigneter, späterer Stelle der vorliegenden Arbeit noch näher einzugehen sein. Der Text von Zöller setzt sich darüber hinaus mit der Vorgehensweise Reinholds bei der Rettung von Freiheit auseinander, welche in einer »Formalisierung und Generalisierung grundlegender Sachverhalte und ihrer theoretischen Erfassung«437 gelegen ist. Reinhold nämlich verortet Freiheit ebenfalls im vernünftigen Handeln sowie im Handeln gemäß sinnlicher Antriebe; grundsätzlich versteht er Freiheit nicht als signifikant moralische Freiheit der sittlichen Handlung, wie das bei Kant der Fall ist, sondern als generisches Vermögen, sich selbst entweder für Handlungsvorgaben der Sinnlichkeit oder der Vernunft zu entscheiden, wodurch die Willensfreiheit der Vernünftigkeit enthoben und zu einem eigenständigen, dritten »Grundvermögen« zwischen dem oberen und unteren Begehrungsvermögen wird.438

435 Wildfeuer, Praktische Vernunft und System, in: Spekulation und Erfahrung, 1999, 50. 436 Vgl. Wildfeuer, Praktische Vernunft und System, in: Spekulation und Erfahrung, 1999, 51. 437 Zöller, Von Reinhold zu Kant, in: Archivio di Filosofia LXXIII, 2005, 78 f. 438 Vgl. Zöller, Von Reinhold zu Kant, in: Archivio di Filosofia LXXIII, 2005, 79. 131

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

»Die Freiheit beim Wollen wird von der primären oder gar exklusiven Ausrichtung auf die Vernünftigkeit des Wollens dematerialisiert und zur Wahlfreiheit zwischen gleichermaßen möglichen Alternativen formalisiert. […] Die von Reinhold vorgenommene Despezifikation und Dematerialisation des Freiheitsbegriffs bringt eine Reihe gewichtiger Implikationen mit sich […]. Zunächst egalisiert Reinholds Freiheitskonzeption den Status des Vernunft- oder Sittengesetzes mit dem des Naturgesetzes. […] Im Rahmen dieser Statusnivellierung verliert das Sittengesetz seinen praktisch notwendigen, das Wollen unbedingt bestimmenden Charakter. Aus dem praktischen Gesetz eines unbedingten Sollens wird ein quasi-theoretisches Gesetz vernünftigen Seins, das erst durch den Sukkurs der Willkür Wirksamkeit erhält. […] Sodann beinhaltet Reinholds äquidistante Positionierung der freien Willkür zwischen Vernunft- und Sinnentrieb eine Abkoppelung der Willensentscheidung als solcher von zur Wahl anstehenden Handlungsgründen und -zielen und damit eine radikale Selbstgenügsamkeit der freien Willkür. Der Grund der freien Handlung ist nicht ein objektiver oder Sachgrund, sondern »die Freiheit selbst«, die bei Reinhold als [absolute erste Ursache] fungiert. Das freie Wollen als solches hat so seinen Grund in sich selbst und nur in sich selbst.«439 Zudem gehen verheerende Schlussfolgerungen mit der Willkürfreiheit als drittem Grundvermögen zwischen Vernunft und Sinnlichkeit einher; mittels der Willkür nämlich wird in uns ein »Menschlein«, wie Zöller es an dieser Stelle nennt, installiert, welches »in jedem einzelnen, ganz so verfährt, wie auf makroskopischer Ebene jemand, der in einer Versammlung für oder gegen eine Gesetzesvorlage stimmt und damit zur politischen Willensbildung beiträgt.«440 Dass mit Reinholds Theorie der Willensfreiheit Probleme einhergehen, bekundet auch Noller; durch die sogenannte Depotenzierung der reinen praktischen Vernunft Kants wird ein Grundvermögen festgelegt, aus dem heraus sich die Willkür selbst entweder für oder gegen eine Befriedigung des moralischen Gesetzes sowie der Triebe entscheidet.441 439 Zöller, Von Reinhold zu Kant, in: Archivio di Filosofia LXXIII, 2005, 79 ff. 440 Zöller, Von Reinhold zu Kant, in: Archivio di Filosofia LXXIII, 2005, 82. 441 Vgl. Noller, »Die praktische Vernunft ist kein Wille«, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 219. 132

Abschließende Interpretation und Auswertung beider Bände

»Weil die Willkür nach Reinhold ein Grundvermögen ist, ist sie aber – wie auch die Sinnlichkeit, der Verstand und die Vernunft – nicht weiter analysierbar.«442 Insofern muss erörtert werden, wie ein solches nicht genauer zu analysierendes Vermögen imstande ist, sich selbst für beide Weisen entscheiden zu können und wie aus diesem so unterschiedliche Maximen wie das Gute und das Böse hervorzutreten in der Lage sind; auch die Briefe über die Kantische Philosophie geben keinen Ansatzpunkt preis, wie sich dieses Grundvermögen selbst so unterschiedlich bestimmen und im Guten wie auch im Bösen Rechtmäßigkeit postulieren kann.443 Auf die genannten Begebenheiten wird noch ausführlicher verwiesen, wenn sich die vorliegende Arbeit in ihrem nächsten Teil mit der Fundamentschrift und damit mit Ausführungen zur Elementarphilosophie Reinholds beschäftigt.

442 Noller, »Die praktische Vernunft ist kein Wille«, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 219. 443 Vgl. Noller, »Die praktische Vernunft ist kein Wille«, in: Stolz/Heinz/Bondeli [Hg.], Wille, Willkür, Freiheit, 2012, 219. 133

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4. Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds in Bezug auf die Schrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens444 von 1791 Die Elementarphilosophie Karl Leonhard Reinholds hat sich bereits innerhalb des Versuchs von 1789 und weiterhin innerhalb der Beyträge I von 1790, also noch vor bzw. zeitgleich zu den Briefen II, manifestiert. Mit der Fundamentschrift von 1791 wird sodann das Vorhaben in die Tat umgesetzt, sich gegen Einwände damaliger Zeitgenossen zur Wehr zu setzen, ebendiese Elementarphilosophie zu begründen und zu verteidigen sowie neue Ansätze einzuweben. Reinhold sieht dasjenige, was ihn beschäftigt, als etwas an, das sowohl seinen Kopf als auch sein Herz angeht; dadurch wird er in seinem Lebenswandel geradezu berührt, woraus sich folglich die Fähigkeit, zu verstehen und Schwachpunkte ausfindig zu machen, ergibt.445 Kantische Grundlagen, die ihm als unpräzise oder gar falsch erscheinen, deutet er für sich um und geht insofern klar über Kant und damit seine ehemalige Lichtgestalt hinaus. Als Entstehungsgrund der vorliegenden Fundamentschrift kann das Bedürfnis, Gewissheit über ein allumgreifendes Fundament etwaigen philosophischen Wissens zu gewinnen, angeführt werden.446 Exemplarisch soll das Fundament nun in der vorliegenden Arbeit dargestellt und diskutiert werden, sofern dessen Inhalte essentielle Bedeutung für eine spätere Interpretation und Diskussion der Vorlesungsnachschriften Reinholds haben werden. Dazu allerdings an gegebener Stelle. Zunächst soll nun in Kürze derjenige Pfad aufgezeigt werden, der Reinhold letztlich zu seiner Elementarphilosophie, welche einen neuen Anspruch zu erheben vermag, geführt hat, bevor es um die Erörterung des eigentlichen Textes zu tun sein wird.

444 Im Folgenden lediglich betitelt als: Fundament bzw. Fundamentschrift. 445 Vgl. Kim, Religion, Moral und Aufklärung, in: Europäische Hochschulschriften, Band 489, 1996, 247. 446 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, X. 134

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

4.1 Reinholds Weg zur Elementarphilosophie Nach dem Erscheinen des Versuchs betätigt sich Reinhold publizistisch, sofern er daran arbeitet, seine Theorie des Vorstellungsvermögens gegen erste Reaktionen und Kritiken zu sichern sowie deren Standfestigkeit gegenüber abweichenden Theorien zu erproben, unter anderem durch die Veröffentlichung der Beyträge I sowie zeitgleiche Beschäftigung an den Briefen II.447 Anders als es bei Kant der Fall ist, muss die Philosophie Reinholds selbst allerdings zum betreffenden Zeitpunkt noch als nahezu unbekannt bezeichnet werden; sein Plan besteht in einer umfassenden Theorie des Vorstellungs- und Begehrungsvermögens und muss stets im Zusammenhang mit seiner Kritik an Kant gesehen werden.448 Der zum Protestantismus konvertierte Theologe und Philosoph Reinhold, dessen Weiterentwicklung der Kantischen Philosophie sich ab 1785 folgenreich manifestiert, vermag es, die Vernunftkritik neu darzustellen, worin wohl auch seine größte Aufgabe bestanden hat.449 Die Generierung einer wissenschaftlichen Philosophie, welche die strengsten Forderungen erfüllt und damit zu einer begründeten Systematik gereicht, kann als kontinuierliches Ziel seines Denkens seit dessen Begegnung mit der Philosophie Kants angesehen werden.450 »Philosophie darf dem Anspruch der Wahrheit nicht ausweichen. Im Bewußtsein dieser Verpflichtung hat Reinhold auch stets auf die moralische, ja letztlich religiöse Wurzel aller Erkenntnis verwiesen.«451 Die Überlegung bezüglich eines ersten allgemeingültigen wie allgemeingeltenden Prinzips rückt in den Vordergrund, sofern etwaige Missdeutungen – die Rezeption der Reinholdschen Theorie betreffend – lediglich in Hinblick auf ein allgemeines Einverständnis über grundlegende Begriffe aufgehoben werden können; daher bemüht sich Reinhold um 447 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 167. 448 Vgl. Gerten, Begehren, Vernunft und freier Wille, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 2003, 153 ff. 449 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 1 f. 450 Vgl. Zahn, Einleitung, in: Lauth [Hg.], Conscientia. Studien zur Bewußt­seins­ philosophie, Band 6: Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold (im Folgenden lediglich gekürzter Titel: Philosophie aus einem Prinzip), 1974, 8. 451 Zahn, Einleitung, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, 1974, 8. 135

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eine neue Fassung der Theorie des Vorstellungsvermögens, welche auf einer Ausfertigung des Fundamentes derselben beruht.452 Die Konzeption eines ersten allgemeingeltenden, philosophischen Prinzips sowie sein Anspruch einer wissenschaftlichen Philosophie, dieser gemäß es einen allgemeingeltenden Grundsatz gibt, rücken in den Vordergrund.453 »Reinhold konzentriert seine Bemühungen auf den Kern seiner Theorie und die dagegen gerichteten Einwände.«454 Bereits innerhalb der Schrift Über das bisherige Schicksal der Kantischen Philosophie von April bzw. Mai 1789, welche die Basis zu seiner Vorlesung Einleitung in die Kritik der Vernunft für Anfänger darstellt, wird erwähnt, dass jeder Denker versucht, Grundsätze nach eigener Ansicht zu bestimmen und sich daher ein ihm eigenes System erschafft.455 Dabei werden allerdings lediglich Bruchstücke vorangegangener Systeme verwendet, welche zum eigenen System zu passen den Anschein machen – dagegen versucht Reinhold einen obersten Grundsatz aufzustellen, der unabhängig von solchen subjektiven Interessen allgemeingeltend und allgemeingültig zu sein hat.456 Diesen betitelt er als Satz des Bewusstseins, der kurz gefasst folgendermaßen lautet: »Im Bewusstsein wird die Vorstellung vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen.«457 Ebendieser Grundsatz wird sodann als das Eine, was der Philosophie Not ist betitelt und muss als erster, allgemeingeltender wie allgemeingültiger Satz möglich sein, da die Philosophie andernfalls als Wissenschaft selbst unmöglich wäre.458 Daher tritt Reinhold mit seiner Elementarphilosophie an, um das gemeinsame Fundament auf einem ersten und obersten 452 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 168 f. 453 Vgl. Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 169. 454 Lazzari, »Das Eine, was der Menschheit Noth ist«, in: Spekulation und Erfahrung, 2004, 169. 455 Vgl. Kim, Religion, Moral und Aufklärung, in: Europäische Hochschulschriften, Band 489, 1996, 233 f. 456 Vgl. Kim, Religion, Moral und Aufklärung, in: Europäische Hochschulschriften, Band 489, 1996, 234. 457 Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/ Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 15. 458 Vgl. Mensen: Reinhold zur Frage des ersten Grundsatzes der Philosophie, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, 1974, 115. 136

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Grundsatz zu begründen, der sich gleichermaßen auf die Bereiche der theoretischen und praktischen Philosophie erstreckt.459 Dabei ist es zuerst der systematische Charakter, der jeder Wissenschaft als solcher zugrunde liegen muss, was einen obersten Grundsatz zur ausschlaggebendsten Bedingung derselben macht. – Denn erst durch einen Grundsatz wird Wissenschaft begründet, weil er das Fundament ihrer Einheit darzustellen vermag und es nur durch diesen möglich ist, »die an sich schon feststehenden Erkenntnisse ihrem Ursprung, ihrer Bedeutung und ihrer Zahl nach zu bestimmen. Somit führt nach Reinhold der innere Zusammenhang der Wissenschaft auf die Notwendigkeit eines ersten Grundsatzes.«460 Innerhalb der Philosophiegeschichtsschreibung ist die Bedeutung Reinholds meistens auf zweifache Weise betrachtet worden; erstens wird akzentuiert, dass er mithilfe seiner anfänglichen, philosophischen Schriften entscheidend zur Bekanntmachung der Philosophie Kants beigetragen hat; zweitens hat Reinhold zuerst das Fehlen eines Grundsatzes innerhalb des transzendentalphilosophischen Konzepts durch die Kantische Philosophie gesehen und mithilfe seines Versuchs aufzuheben versucht.461 Dadurch sollen dem Kantischen System, welches kein eigenes Fundament vorgelegt hat, eben diese Grundlage und damit Einheit wie auch ein systematischer Höhepunkt gegeben werden; die Nützlichkeit der Lehre Reinholds hat vor allem mit der Enthüllung gewichtiger Probleme der Vernunftkritik zu tun, dadurch eine erneute Prüfung etwaiger Prinzipien der Transzendentalphilosophie notwendig wird.462 Reinhold sieht sich mehr und mehr in der Lage, nicht allein innerhalb der elementaren und theoretischen, sondern überdies innerhalb der praktischen Philosophie eine Überbietung Kants hinsichtlich einer Erklärung seiner Grundlagen in Anschlag zu bringen; Freiheit zielt dadurch nicht auf unwillkürliche Bestimmungen, sondern nur auf die

459 Vgl. Gerten, Begehren, Vernunft und freier Wille, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 156. 460 Mensen: Reinhold zur Frage des ersten Grundsatzes der Philosophie, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 115 ff. 461 Vgl. Zahn, Einleitung, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, 1974, 1. 462 Vgl. Zahn, Einleitung, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 1. 137

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

beiden Triebe, den eigennützigen wie den uneigennützigen, gegenüber dem freien Willen des Menschen.463 Fakt ist allerdings, dass Reinholds essentieller Beitrag zur Präzisierung etwaiger grundlegender Erfordernisse einer Philosophie, die zu einer Wissenschaft gereichen soll, viel zu geringe Beachtung und Würdigung gefunden hat – jedenfalls ist seine Einsicht in dasjenige, was mit der Idee eines Systems und ihrer Beleuchtung der Vernunft selbst einhergeht, durch Deutlichkeit und Innovation programmatisch geworden.464 Gerade weil Reinhold nie aufgehört hat, das Philosophieren zu lernen, ist er stets offen dafür gewesen, den eigenen Irrtum oder aber die Anerkennung einer zeitgenössischen Erkenntnis öffentlich bekanntzugeben; dadurch kann auch die Fundamentschrift als eine Fortentwicklung jener Gedanken und Argumente aus dem Versuch von 1789 sowie dem ersten Band der Beyträge von 1790 angesehen werden, sofern Reinhold stets bemüht ist, Verbesserungen seiner eigenen Ansätze zu erzielen.465 4.2 Erläuterungen zu essentiellen Resultaten der Fundamentschrift Bereits die Vorrede zur besagten Schrift offenbart – wie auch die erste Hälfte des gesamten Textes – Reinholds tiefe Enttäuschung über die sogenannten Grundsätze, welche innerhalb der Philosophie vorherrschend, aber nicht allgemeingültig sind und er formuliert, es »fehlt ihr sowohl im Ganzen, als in allen ihren Theilen an solchen Principien […]. Es fehlt […] selbst der Kritik der reinen Vernunft und allen empirischen philosophischen Wissenschaften, in wieferne sie reine Philosophie voraussetzen, an feststehenden, anerkannten, allgemeingeltenden Fundamenten, und muß und wird ihnen solange daran fehlen, als es an einer Elementarphilosophie, d. h. an einer Wissenschaft der gemeinschaftlichen Prinzipien aller besondern philosophischen Wissenschaft fehlt, an einer Wissenschaft, in wel463 Vgl. Gerten, Begehren, Vernunft und freier Wille, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 170 ff. 464 Vgl. Zahn, Einleitung, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, 1974, 2. 465 Vgl. Zahn, Einleitung, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, 1974, 4. 138

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

cher dasjenige, was die übrigen bey ihrer Grundlegung voraussetzen, durchgängig bestimmt aufgestellet wird, und die eben darum vor allen andern selbst ein feststehendes, anerkanntes, allgemeingeltendes Fundament haben muß.«466 Das Fundament, welches Reinhold schildert, entspricht dem letzten Zweck der Philosophie, nämlich dem Einen, »was der Menschheit noth ist […].«467 Dass es bis dato allerdings jeder Philosophie, der Kantischen eingeschlossen, an einem solchen Fundament gefehlt hat, wird zu Beginn der Schrift noch einmal bekundet.468 Dieses gilt es nun also aufzustellen, um seine Möglichkeit beweisen zu können. »Die Auffassung, nur ein ausreichend fundiertes Gebäude aus allgemeingeltenden Grund-, Lehrund Folgesätzen sei Garant der eigentlichen, wissenschaftliche Philosophie, gehört zum Markenzeichen des […] Konzepts der Elementarphilosophie.«469 Ohne Zweifel haben Locke, Leibniz, Hume und Kant den Begriff der Philosophie präzisiert, jedoch nicht als Wissenschaft – solange nämlich die Aufgabe, das Kriterium der Wahrheit aufzufinden, lediglich einseitig dargestellt werde, müsse es Philosophien, könne es aber Reinhold zufolge keine Philosophie per se geben.470 Im Folgenden wird erneut gegen die hier erwähnten Philosophen polemisiert, indem diese in eine Entwicklung der wissenschaftlich philosophierenden Vernunft eingebunden werden, weil sie als notwendige Bedingungen für einen Umschwung zu Kant und sodann zur Elementarphilosophie gelten.471 Lediglich Leibniz wird von Reinhold eine Sonderposition zugesprochen, insofern er den Satz des Widerspruchs aufgefunden hat; dieser könne zwar nicht allgemeingeltender erster Grundsatz aller Philosophie, aber für den Satz des Bewusstseins dienlich sein, wie noch zu zeigen sein wird.472 Es ist allerdings am Rande zu erwähnen, dass Leibniz selbst seinen Satz des Widerspruchs mit dem Satz der Identität sowie dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten gleichsetzt; dadurch kann die Behauptung Rein466 Reinhold, Fundament, 2011, Vorrede, XIII f. 467 Reinhold, Fundament, 2011, Vorrede, XVI. 468 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 3. 469 Bondeli, Kommentar 22 zum Fundament, in: Fundament, 155. 470 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 8 ff. 471 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LX. 472 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXIII. 139

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

holds, Leibniz habe seine Philosophie auf einem Grundsatz errichtet, nicht aufrecht erhalten werden.473 Kant habe in dieser Hinsicht zwar bestimmt, was die Vorstellungen einerseits der Erfahrung und andererseits der Seele verdanken, sowie er die endgültige Anzahl etwaiger grundlegender Vorstellungen angegeben habe, welche in der Möglichkeit der Erfahrung gegründet seien.474 Aber das Kantische Fundament sei außer Stande, das philosophische Wissen in Gänze darzustellen – es könne lediglich einen Teil dieses Wissens begründen.475 Wenn Kant nun für jede Wissenschaft eine systematische Einheit postuliert, so muss eingestanden werden, dass er dies nicht für die Philosophie zu liefern imstande gewesen ist.476 Wahrheit werde gemäß Reinhold von Kant hinsichtlich der Frage, ob sie auch erweislich sei, auf Objekte möglicher Erfahrung beschränkt; dadurch werde objektive Realität zu einer wirklichen – nicht allein möglichen – Beziehung auf wirkliche Objekte, die sich von bloßen Vorstellungen unterscheiden.477 »Daher erklärte und erwies auch die Kritik der reinen Vernunft, daß alle Metaphysik, die nicht Wissenschaft der Objekte möglicher Erfahrung seyn soll, […] grundlos und widersprechend [wäre], und zeigte, daß, wenn Metaphysik Wissenschaft erkennbarer, realer Objekte seyn soll, es keine andere geben könne, als die der sinnlichen Natur, d. h. die Wissenschaft der nothwendigen und allgemeinen Merkmale der Erscheinungen, deren Inbegriff die Sinnenwelt, oder das Gebiet der Erfahrung, ausmacht. […] Die einzige Wissenschaft, deren Grundlegung die Kritik der Vernunft durch Entdeckung und Aufstellung ihres Fundaments auf dem analytischen Wege vollendet hat, ist die Metaphysik als Wissenschaft der Gegenstände möglicher Erfahrung.«478 473 Vgl. Mensen: Reinhold zur Frage des ersten Grundsatzes der Philosophie, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, 1974, 112 sowie Fußnote 17 zu ebd., in: ebd., ebd. 474 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 57 f. 475 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 62. 476 Vgl. Mensen: Reinhold zur Frage des ersten Grundsatzes der Philosophie, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 115. 477 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 64 f. 478 Reinhold, Fundament, 2011, 65 ff. 140

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Zur Errichtung einer Wissenschaft per se zähle allerdings, so fährt Reinhold fort, als eigentümliches Merkmal eines vollständigen Fundamentes sodann die Enthüllung und Festlegung des ersten Grundsatzes.479 Einen solchen habe die Kritik der Vernunft zwar auch für die Wissenschaft möglicher Erfahrungsgegenstände durch die Aussage, dass jeder Gegenstand »unter den nothwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung«480 stehe, festgesetzt. Dadurch wird augenscheinlich, dass Reinhold den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile aus der Transzendentalen Analytik der Grundsätze Kants als ersten Grundsatz der KrV interpretiert.481 Dieser Grundsatz aber formuliere lediglich den Begriff eines Erfahrungsgegenstandes, gebe ein Merkmal zum besten, welches notwendigerweise auf alle Erfahrungsgegenständen abziele, und sei als oberster Grundsatz der Metaphysik zudem unerweislich – denn sein Sinn könne nur durch Anwendung aufgezeigt, aber nicht tatsächlich begründet werden.482 Als Propädeutik der Metaphysik habe die Kritik der Vernunft den Sinn ebendieses Grundsatzes expliziert, sofern der Erfahrungsbegriff aufgestellt und dargelegt worden sei, dass »die formalen Bedingungen der Erfahrung im Erkenntnißvermögen a priori gegründet wären, und in den Formen der sinnlichen Vorstellungen und der Begriffe (Raum und Zeit und den Kategorieen) bestünden.«483 Die Kantischen Grund-, Lehr- und Folgesätze können gemäß Reinhold allerdings nicht allgemeingeltend sein, »bevor nicht die Propedeutik der Metaphysik selbst zur Wissenschaft des Erkenntnißvermögens erhoben worden ist.«484 Die Vernunftkritik Kants sei demnach allgemeingültig, aber nicht allgemeingeltend; damit verfolgt Reinhold zwei Ziele – »[e]rstens soll die Festigkeit des ersten Grundsatzes dadurch gesteigert werden, daß er als allgemein einsichtig gelten können soll. Zweitens soll er auch eine Festigkeit erlangen, die man als allgemeine Anerkanntheit bezeichnen kann.«485 Mit dieser All479 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 68. 480 Vgl. Reinhold, Fundament, 2001, 68 sowie Kant, KrV, 1968, A 158/B 197, 145. 481 Vgl. Bondeli, Kommentar 104 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 195. 482 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 68 f. 483 Reinhold, Fundament, 2011, 69. 484 Reinhold, Fundament, 2011, 70. 485 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 102. 141

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

gemeingeltung wird angestrebt, den allgemein einleuchtenden Satz des Bewusstseins, dessen Sinn ausgelegt werden soll, begreifbar zu machen – wie er sich das genau vorstellt, bleibt allerdings unklar.486 Der Wissenschaft des Erkenntnisvermögens müssen Reinhold zufolge allerdings die Wissenschaft der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft als Fundament vorausgehen, sofern sie nicht selbst im Erkenntnisvermögen gelegen seien, sondern diesem gemeinschaftlich zugrunde liegen – demnach eine Wissenschaft des gesamten Vorstellungsvermögens.487 Damit gibt er zwar zu verstehen, dass er nicht nur eine Ergänzung des Kantischen Grundsatzes im Sinn hat, aber auch an dieser Stelle wird nicht aufgezeigt, wie er letztlich über mögliche Zwischenschritte zu seinem Satz des Bewusstseins gekommen ist; in diesem Rahmen wird bloß auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche hingewiesen, welche für eine Wissenschaft des Erkenntnisvermögens im Allgemeinen fundamental sein sollen.488 »Zu dieser Wissenschaft, die ich, in wieferne sie aller theoretischen und praktischen Philosophie gemeinschaftlich zum Fundamente dient, allgemeine Elementarphilosophie nenne, hat zwar die Kritik der Vernunft Materialien; aber nicht einmal die Idee, geschweige denn das wirkliche Fundament, aufgestellt; und wenn diese Wissenschaft jemals zu Stande kommen soll: so muß die philosophirende Vernunft auf dem analytischen Wege noch einen Schritt weiter fortrücken, als sie in der Kritik der Vernunft gekommen ist; und dieser Schritt ist dann der letzte, den sie auf dem analytischen Wege zu höhern Principien thun kann. Durch ihn und nur durch ihn allein, ist das letzte und eigentliche Fundament der Philosophie entdeckt.«489 Reinhold leugnet also in keiner Weise, dass Kant eine Grundlage für die Elementarphilosophie geschaffen hat, bei dieser aber erhebliche Mängel festgestellt werden mussten, die nun wiederum durch ihn selbst, Reinhold, auszumerzen sind. »Trotz dieses Fortschritts ist die Kantische 486 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 103. 487 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 71. 488 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 64. 489 Reinhold, Fundament, 2011, 71 f. 142

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Vernunftkritik nun selbst auch zu einer philosophiehistorischen Etappe geworden und somit zu einer theoretischen Formation, welche den Resultaten der fortgesetzten […] Leistungen der philosophierenden Vernunft nicht mehr standhält.«490 Kennzeichnend für die Kritik an Kant ist, dass sie von Reinhold so betrachtet wird, als wäre sie auf ebendemselben Feld erwachsen und nicht als grundsätzliche Absonderung von der Kantischen Philosophie zu verstehen.491 Der Gegenstand der genannten Wissenschaft bzw. der Elementarphilosophie offenbare sich nur in demjenigen, was von sinnlichen, verständigen oder vernünftigen Vorstellungen a priori erkannt werden könne und insofern in Formen bestehe, welche als Ursprung bloßer Vorstellungen kundgetan und erwiesen werden müssen; a posteriori lassen sich lediglich Objekte unter der Form sinnlicher Vorstellung (Erscheinungen) sowie a priori lediglich diejenigen Kennzeichen etwaiger Erscheinungen, die im Erkenntnisvermögen gründen, sowie Formen von Vorstellungen erfassen – folglich sei eine Erkenntnis von Dingen an sich weder durch Sinnlichkeit und Verstand noch durch Vernunft möglich.492 Demgemäß gehört für Reinhold dasjenige, was der KrV »zufolge in den Rahmen der metaphysischen Deduktion fällt, in die Theorie des Vorstellungsvermögens, dagegen dasjenige, was nach Kant zur transzendentalen Deduktion von Raum, Zeit, Kategorien und Ideen gehört, in die von der Theorie des Vorstellungsvermögens abgeleitete Theorie des Erkenntnisvermögens.«493 Dadurch fällt der »für Kant zentrale Beweis objektiv gültiger Erkenntnis gar nicht in den Aufgabenkatalog der Theorie des Vorstellungsvermögens«494, sondern ist lediglich an das Ergebnis dieser Theorie gebunden. Als Hauptresultat der KrV betitelt Reinhold in einem nächsten Schritt die Aussage, dass Dinge an sich nicht erkennbar seien und fügt dem selbst hinzu, dass kein Ding an sich je erkennbar sein könne, was für ihn von zentraler Bedeutung in diesem Sinnzusammenhang ist.495 490 Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXVIII f. 491 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Elementarphilosophie, 2008, 27. 492 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 72 f. 493 Bondeli, Kommentar 111 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 197. 494 Bondeli, Kommentar 111 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 197. 495 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 73 f. 143

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Durch sinnliche Vorstellung, Begriff und Idee sei deshalb kein Ding an sich erkennbar, weil eben durch keine Vorstellung ein solches erkennbar sein könne – nicht etwa weil die sinnliche Vorstellung an sich zur Erfassung ebendieses Dinges unbrauchbar sei.496 Es wird darüber hinaus moniert, dass der Kantische Begriff »Ding« Unzulänglichkeiten aufweist, da nicht deutlich wird, ob damit auch das Ding an sich gemeint ist.497 Dieses wird als Ursache der von uns nicht hervorzubringenden Empfindung gedacht, nicht aber erkannt; denn zum Erkennen gehört eine Empfindung, die allerdings hier für die Ursache einer Empfindung nicht angegeben werden kann. Aus der Kritik lassen sich zudem die essentiellen Kennzeichen des Vorstellungsbegriffs nicht erweisen, da der Begriff des Erkennens von demjenigen des Vorstellens begründet werde und die Form des Erkennens gleichwohl von der Form des Vorstellens abhängig sei.498 Dasjenige, was den Höhepunkt der Elementarphilosophie bilde, könne Reinhold zufolge durch keine – vorausgegangene oder zukünftige – Philosophie dargestellt werden.499 Deshalb könne der Vorstellungsbegriff nicht mittels der Wissenschaft des Vorstellungsvermögens hinsichtlich seiner essentiellen Merkmale bewiesen werden; diese Merkmale müssen durch eine Zerlegung kundgetan werden, welche wiederum eine Verbindung ebendieser voraussetze – der Vorstellungsbegriff, welcher durch die Wissenschaft des Vorstellungsvermögens analytisch zugrunde gelegt werden solle, müsse hierfür bereits synthetisch bestimmt sein.500 Dadurch nun entspringe der Vorstellungsbegriff allein aus dem Bewusstsein, was ihn einfach und keiner weiteren Zergliederung fähig mache sowie hinsichtlich dessen keine Definition von Vorstellung gegeben werden könne; der Satz des Bewusstseins gereiche insofern zum ersten Grundsatz, als er einen undefinierbaren Begriff aufstelle und die bestmögliche Definition erst möglich mache, jedoch nicht selbst sei.501 Auch innerhalb der Elementarphilosophie ist – wie in der Vernunftkritik –

496 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 75. 497 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXVI. 498 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 76 f. 499 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 77. 500 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 77. 501 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 77 f. 144

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

»das Fundament unter ontologischem Gesichtspunkt betrachtet eine dem menschlichen Gemüt inhärente Vermögensleistung. Sie heißt allerdings nicht Apperzeption, sondern Vorstellungsvermögen. Entsprechend ist der in ihrem Bereich formulierte erste Grundsatz nicht ein Grundsatz der Apperzeption oder Grundsatz aller synthetischen Urteile, sondern ein Satz des Vorstellens: der Satz des Bewusstseins.«502 Innerhalb dessen sei nun die Definition der Vorstellung gelegen, wenngleich er selbst nicht diese Definition sei, wie Reinhold bekundet; insofern werde nur die Tatsache ausgedrückt, wodurch der Vorstellungsbegriff bestimmt werde – dahingegen drücke die Vorstellungsdefinition lediglich den Begriff selbst aus, welcher diese Definition begründe, ohne durch sie begründet zu sein, da sein Grund das Bewusstsein selbst sei.503 Der Satz des Bewusstseins kann nicht nur als Grund etwaiger allgemeinmöglicher Vorstellbarkeit angesehen werden, sondern bildet darüber hinaus den unmittelbaren wie auch direkten Ausdruck einer ursprünglichen Tatsache ab, welche sich im Bewusstsein manifestiert und als solche auf keine andere gegründet sein kann; weder durch Ableitung noch durch Begründung kann der Satz des Bewusstseins geschöpft werden.504 Die Tätigkeiten des Bewusstseins treten im Allgemeinen durch Analyse zutage, wohingegen der erste Grundsatz einer notwendigen Synthese zu entsprechen hat. Anzumerken ist hierbei überdies, dass auch die Empfindung eine ursprüngliche Tatsache ist, da sie uns unmittelbar gegeben ist und überkommt, wenn etwas empfunden wird. Für Kant ist die Empfindung darüber hinaus als Materie bzw. Faktum zu charakterisieren, sofern sie uns unmittelbar gegeben ist und aus sich selbst heraus Bestand hat, ebenso wie Materie so zu fassen ist, wie sie eben ist.505 Das oft verkannte Fundament wie auch System Reinholds beruhe also auf dem Bewusstsein; seine Definition von Vorstellung entspringe einem durch sich selbst bestimmten Satz, welcher die erste ebensolche an die Hand gebe, von der gezeigt werden könne, dass sie kein willkürliches Kennzeichen bei sich trage.506 Reinhold betitelt den Satz des Bewusst502 Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXXVIII. 503 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 80. 504 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 51. 505 Vgl. mündliche Anmerkungen innerhalb des Online-Seminars »Die Kantrezeption um 1790«, Wintersemester 2020/21 bei Prof. Wilhelm G. Jacobs, LMU München. 506 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 80 f. 145

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

seins demnach als einen durch sich selbst bestimmten Satz, was bedeutet, dass dieser sich durch keinen fundamentaleren Satz bestimmen lasse.507 »Dasjenige, wodurch der S. d. B. bestimmt wird, ist unmittelbar das, was er ausdrückt, nämlich die durch sich selbst einleuchtende Thatsache des Bewußtseyns, die sich nicht weiter zergliedern, und auf keine einfacheren Merkmale zurückführen läßt, als welche durch ihn selbst bezeichnet werden. Er ist durch sich selbst bestimmt, in wieferne jede mögliche Erklärung der Begriffe, die er aufstellt, nur durch ihn möglich ist, während er selbst keine Erklärung zuläßt, und keiner bedarf. Der S. d. B. ist durchgängig durch sich selbst bestimmt, und unterscheidet sich dadurch von allen andern möglichen Sätzen. Durchgängig sage ich, weil in ihm schlechterdings kein angebliches Merkmal vorkömmt, das nicht bloß allein durch ihn bestimmt werden könnte und müßte. Weder sein Subjekt, noch sein Prädikat, enthält ein Merkmal, das, so weit es bestimmbar ist, nicht lediglich durch ihn bestimmt wäre. […] [S]o ist […] ein solcher Satz nur in Rücksicht auf das Verknüpftseyn zwischen seinem Subjekte und Prädikate durch sich selbst bestimmt.«508 Im nächsten Absatz kommt Reinhold sodann auf den Satz des Widerspruchs zu sprechen, der lange Zeit als absolut erster Grundsatz angesehen worden sei, jedoch eine gewisse Zweideutigkeit aufweise, welcher mithilfe des vorangegangenen, richtigen Vorstellungsbegriffs Abhilfe geschaffen werde.509 »Der Begriff des Dinges […] läßt sich nur durch den Begriff der Denkbarkeit bestimmen, und dieser setzt den Begriff der Vorstellbarkeit als das gemeinschaftliche Merkmal der Denkbarkeit, Anschaulichkeit und Empfindbarkeit voraus […].«510 Dieses lasse sich allerdings nicht mittels des Begriffs des Denkens als eine Art, etwas vorzustellen, bestimmen.511 Der Begriff der Vorstellbarkeit sei von demjenigen der Vorstellung (sowie dieser in Hinblick auf seine Definition vom Satz des Bewusstseins) abhängig, da auch der Satz des Widerspruchs lediglich mit507 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 82. 508 Reinhold, Fundament, 2011, 83 f. 509 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 84. 510 Reinhold, Fundament, 2011, 85. 511 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 85. 146

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

hilfe des Satzes des Bewusstseins gänzlich bestimmt werden könne.512 Dieser stehe zwar in gewisser Weise unter dem Satz des Widerspruchs, »aber nicht als unter einem Grundsatze, durch den er bestimmt würde, sondern nur als unter einem Gesetze, dem er nicht widersprechen darf.«513 Mit dieser Überlegung wird grundsätzlich die Allgemeinheit und Gültigkeit des Satzes des Widerspruchs veranschlagt, insofern der Satz des Bewusstseins denjenigen des Widerspruchs respektiert und nicht dagegen verstoßen kann.514 Damit wird die Idee einer lediglich teilweisen Vereinigung von Logik und dem ihr zugrunde liegenden ersten Grundsatz innerhalb der Elementarphilosophie Reinholds verfolgt.515 Die reelle Wahrheit des Satzes des Bewusstseins – nämlich was in ihm gedacht wird – erhebe ihn letztlich zum Grundsatz, nämlich zu einem »realen, materialen Grundsatze der Wissenschaft des Vorstellungsvermögens, der Elementarphilosophie und durch dieselbe aller Philosophie überhaupt.«516 Eine auf diesem unmittelbar gründende Definition von Vorstellung, Objekt und Subjekt seien ebenso durchgängig bestimmt wie dasjenige Prinzip, aus dem sie sich gemäß ihrer Merkmale vollziehen; da nämlich der Satz des Bewusstseins die sogenannte Tatsache des Bewusstseins bezeichne, könne er nicht durch falsches Schließen missverstanden werden.517 Sofern darüber hinaus die von ihm konstituierten Bewusstseinsmerkmale einfach seien, können diese nicht aus einer heterogenen Zusammensetzung bestehen, in welche außerdem keine fremdartigen Charakteristika einzudringen in der Lage seien, dadurch diese Merkmale des Bewusstseins auf korrekte Weise gedacht werden müssen.518 Bislang seien philosophische Definitionen wie die eben erwähnten unrichtig gewesen, wie Reinhold an etwas späterer Stelle betont; der Grund hierfür liege darin, dass die philosophierende Vernunft in ihrem analytischen Gang bis dato noch keinen letzten Begriff bzw. kein allgemeines Merkmal aufgefunden habe und folglich den Begriff wie das 512 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 85. 513 Reinhold, Fundament, 2011, 85. 514 Vgl. Bondeli, Kommentar 134 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 206. 515 Vgl. Bondeli, Kommentar 134 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 206. 516 Reinhold, Fundament, 2011, 86. 517 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 86 f. 518 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 87. 147

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

von ihm eingeführte Merkmal völlig unbestimmt belassen und nutzen müsse – »Es ist Thatsache, daß man bisher den Begriff des Dinges, in wieferne man darunter das Denkbare überhaupt verstand, für den höchsten, und das Merkmal der Denkbarkeit für das Allgemeinste hielt.«519 Die absolute Bestimmtheit eines obersten und letzten Merkmals nun sei die Grundbedingung für korrekte, philosophische Definitionen; denn die Korrektheit einer einzigen, obersten Definition sei Voraussetzung für die Korrektheit etwaiger möglicher Definitionen, deren Charakteristika keine weitere generieren können, sondern lediglich mithilfe eines durch sich selbst bestimmten Satzes angegeben werden müssen, welcher allen Objekten der Vorstellung notwendigerweise zukomme.520 Kant hat betont, dass »in der Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen, als anfangen müsse.«521 Eine Definition könne erst dann gegeben werden, wenn das Fundament der Philosophie, welches allerdings nicht als Begriff der Philosophie selbst gelten könne, sofern die Reinholdsche Definition der Philosophie nicht als Grundlage seines Systems derselben ausgegeben wird, aufgefunden und konzipiert worden sei.522 »Was ich meiner Philosophie zum Grunde lege, ist auch keine Definition, sondern ein Faktum, dessen Ausdruck den einzig möglichen durch sich selbst bestimmten Satz, und vermittelst desselben die erste und höchste Definition giebt, von der die Philosophie überhaupt, und zwar die Elementarphilosophie insbesondere, als Wissenschaft des Vorstellungsvermögens ausgehen muß. Diese Definition […] konnte freylich keinem bisherigen Systeme, auch dem der kritischen Philosophie nicht zum Grunde gelegt werden, weil das analytische Geschäfft zuerst mit den untergeordneten Merkmalen gelungen seyn mußte, bevor es mit dem allerhöchsten vorgenommen werden konnte, weil zumal Kant die Eigenthümlichkeiten der Arten der Vorstellungen entdecken mußte, bevor das Eigenthümliche der Gattung […] entdeckt werden konnte, und weil die Entdeckung des letzten und eigentlichen Fundamentes der Philosophie und des Bestimmungs519 Reinhold, Fundament, 2011, 92. 520 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 93 f. 521 Kant, KrV, 1968, A 731/B 759, 479. 522 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 95 f. 148

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

grundes derjenigen Definition, welche in der Reihe aller möglichen die erste ist, und die oberste Bedingung ihrer Zuverlässigkeit enthält, das Werk des analytischen Fortschreitens nur schließen, nicht anfangen und auch nicht begleiten konnte.«523 Reinhold weist an dieser Stelle erneut auf Schwächen der Kantischen Vernunftkritik hin, obgleich er zu Beginn die Aussage macht, dass er – ähnlich der Kantischen Vorstellung des Faktums der Vernunft – ein Faktum, nämlich dasjenige des Bewusstseins, als Ausdruck der ersten und höchsten Definition annimmt. Innerhalb der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, so führt der Text weiter aus, zeige Kant zwar, dass durch bloße Begriffe nichts von Objekten gewusst werden könne, dort werde allerdings nicht von jedem Vorstellungsgegenstand gesprochen, sondern lediglich von denen, welche als reale Objekte gelten und insofern von etwaigen Vorstellungen und Charakteristika derselben zu differenzieren seien; um diese zu erkennen, bedürfe es abgesehen vom Begriff überdies sinnlicher Anschauung und Empfindung.524 Kant habe alles lediglich aus unvollständigen Begriffen erwiesen, von denen keine Definition, sondern lediglich eine sogenannte Exposition bzw. Erklärung gegeben werden könne.525 Die Elementarphilosophie dagegen erweise nichts lediglich aus bloßen Begriffen; zwar werden ihre den Sätzen des Bewusstseins entlehnten Definitionen durch bloße Begriffe konzipiert, jedoch spielt für Reinhold hier vor allem das Bewusstsein eine zentrale Rolle – demnach würden Sätze kreiert, mittels derer Definitionen eine durchgängige Bestimmtheit erlangen, was wiederum auch Kant fordere, um eine Erklärung letztlich auch Definition nennen zu dürfen.526 Im Folgenden werden einige Bedingungen an Definitionen aus der KrV dargelegt und unter die Lupe genommen um zu zeigen, dass Reinholds eigene Definition der ursprünglichen Vorstellung auch mit dem Kantischen Verständnis von einer Definition konform geht.527 Definieren bedeute diesem gemäß lediglich die Darstellung des ausführ523 Reinhold, Fundament, 2011, 96 f. 524 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 97 f. 525 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 98 f. 526 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 99. 527 Vgl. Bondeli, Kommentar 149 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 212. 149

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lichen Begriffes von etwas, welcher deutlich und zulänglich sein müsse – die Bedingungen einer Definition können nur von der Elementarphilosophie erfüllt werden, sofern die ausführliche Grunderklärung der Vorstellung als dasjenige bezeichnet werden müsse, was im Bewusstsein von Subjekt und Objekt differenziert sowie auf beide bezogen werde; zudem haben die angegebenen Merkmale klar, zugänglich und ursprünglich zu sein.528 Seine Vorstellungsdefinition aus der Elementarphilosophie nennt Reinhold selbst absolute Grunderklärung, weil sie in sich schlüssig sei, sowie die Definitionen der sinnlichen Vorstellung, des Begriffs und der Idee dagegen als wahre Grunderklärungen bezeichnet werden; es sei also nur eine einzige absolute Grunderklärung innerhalb der Philosophie möglich – solange diese weder vorhanden noch akzeptiert sei, gelte von philosophischen Explikationen dasjenige, was Kant über sie zu Tage gebracht habe: dass man nämlich nie davon sprechen könne, eine klare Vorstellung zum korrespondierenden Begriff entwickelt zu haben, bevor man nicht wisse, ob diese auch ihrem Objekt angemessen sei.529 Die Ausführlichkeit der Zerlegung des Kantischen Begriffes sei fragwürdig und werde durch Beispiele lediglich apodiktisch gewiss gemacht, was innerhalb der Elementarphilosophie Reinholds nicht geduldet werden könne; denn die absolute Grunderklärung sei durch den Satzes des Bewusstseins hinreichend bestimmt und erschöpfe den ursprünglichen Vorstellungsbegriff in Gänze. – Dadurch würden die nicht absoluten Grunderklärungen ebenfalls zu durchweg bestimmten.530 Überdies sei es von essenzieller Bedeutung, dass die Grunderklärung innerhalb der Elementarphilosophie bereits als vollständige Exposition und insofern als Definition der Vorstellung fungiere; der Satz des Bewusstseins, welcher dieser vorhergehe, sei selbst keine Exposition des Vorstellungsbegriffs, »sondern der unmittelbare Ausdruck der durch sich selbst einleuchtenden Thatsache des Bewußtseyns, aus welcher die Grunderklärung ihre vollständige Exposition unmittelbar schöpft.«531 Reinhold geht davon aus, eine die Bedingungen von Vorstellbarkeit und Erkennbarkeit explizierende Theorie konstituieren zu können, welche den Satz des Bewusstseins als Grundlage aufweise.532 Eine Theorie der Vorstellung ist 528 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 99 f. 529 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 100 f. sowie Kant, KrV, 1968, A 728/B 756, 477 f. 530 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 102. 531 Reinhold, Fundament, 2011, 103 f. 532 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 52. 150

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allerdings abhängig und wird ermöglicht von einer Theorie der Erkenntnis; sie muss als Materie gegeben sein, da sie andernfalls nur subjektiv wäre. – Nach Kant ist alles Erkennbare sinnlich, wodurch beispielsweise Gott stets unerkennbar bleiben wird. Die Kantische Philosophie lasse ihren Beweisen und Ausführungen lediglich unvollständige Expositionen vorausgehen, da sie eine Elementarphilosophie nur vorbereite, nicht aber konzipiert habe; denn die später vollständigen Expositionen der Elementarphilosophie wären nie aufgefunden worden, wenn nicht die unvollständigen zuvor dagewesen wären, auf deren Basis fortzufahren sei.533 »Aber mit eben dieser Grunderklärung hört auch die Philosophie auf, kritisch zu seyn; mit ihr geht die Wissenschaft des Fundamentes der Philosophie ohne Beynamen, geht Elementarphilosophie an. Sie ist das Letzte auf dem Wege, der zur Wissenschaft führt; aber das Erste auf dem Wege, der in der Wissenschaft selbst besteht. […] Die Definitionen der sinnlichen Vorstellung, wovon die Wissenschaft der Sinnlichkeit – des Begriffes, wovon die Wissenschaft des Verstandes, und der Idee, wovon die Wissenschaft der Vernunft ausgehen muß, setzen die Definitionen der Vorstellung, als des gemeinschaftlichen Merkmales […] voraus. In soferne müssen sie aus der Definition der Vorstellung abgeleitet werden […]. Die Definitionen der sinnlichen Vorstellung, des Begriffs und der Idee müssen zum Behufe der Wissenschaften der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft in Rücksicht auf das Besondere, was sie nicht aus der Definition der Vorstellung schöpfen können, durch besondere Sätze des Bewußtseyns bestimmt werden, welche besondere Arten des Bewußtseyns ausdrücken, und in Rücksicht auf das, was sie Gemeinschaftliches aussagen, unter dem Satze des Bewußtseyns überhaupt stehen, (der das, was in jedem Bewußtseyn vorkömmt, ausdrückt,) in Rücksicht auf ihr Eigenthümliches aber durch die eigenthümliche Thatsache, welche sie bezeichnen, unmittelbar einleuchten. Durch diese besondern Sätze des Bewußtseyns werden die eigenthümlichen, […] keiner weitern Zergliederung fähigen Merkmale der sinnlichen Vorstellung, des Begriffes und der Idee eben so erschöpfend angegeben, als die Merkmale der Vorstellung überhaupt durch den allgemeinen Satz des 533 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 104. 151

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Bewußtseyns überhaupt. Dieser macht daher mit jenen zusammengenommen das vollständige Fundament der ganzen Wissenschaft des Vorstellungsvermögens, der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft aus, in wieferne sie Vorstellungsvermögen sind, und sich als solche sowohl beym Erkennen, als beym Begehren, äußern. […] Und so wäre das Bewußtseyn als Gattung, und in seinen Arten das Einzige und vollständige Fundament der ganzen Elementarphilosophie, sowohl der allgemeinen, als der besondern.«534 Bereits im Versuch sowie innerhalb der Beyträge I ist dieses Fundament als solches angedeutet, doch erst an dieser Stelle ausführlich dargestellt. Reinhold teilt es sodann in das materiale und das formale ein, eine Unterscheidung, die dem Zusammenhang von Form und Materie des Satzes des Bewusstseins entspringt.535 »Das eine ist das Bewußtseyn als Thatsache; das andere sind die Sätze des Bewußtseyns und die aus ihnen unmittelbar abgeleiteten und durch sie durchgängig bestimmten Definitionen. Aus dem einen wird der Inhalt der Elementarphilosophie, werden die einfachsten Merkmale […] geschöpft; durch das andere wird die wissenschaftliche Form der Elementarphilosophie […] bestimmt. So, wie Materie und Form bey aller ihrer Verschiedenheit gleichwohl überhaupt unzertrennlich sind: so sind sie es auch beym Fundamente der Elementarphilosophie.«536 Obgleich die Tatsache des Bewusstseins und damit die Materie für eine zukünftige Elementarphilosophie schon immer vorhanden gewesen sei, könne nur der Satz des Bewusstseins diese ungenutzte Materie zu derjenigen des wirklichen Fundamentes machen. – Die Form einer Wissenschaft per se sei dagegen innerhalb der Philosophie etwas durchaus Geläufiges.537 Der oberste Grundsatz drücke insofern die Tatsache als Grund aus, nämlich als Faktum des Bewusstseins, das durch sich selbst einsichtig sei. Der Satz des Widerspruchs solle der Philosophie darüber 534 Reinhold, Fundament, 2011, 104 ff. 535 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 109 sowie Bondeli, Kommentar 164 zum Fundament, in: ebd., 215. 536 Reinhold, Fundament, 2011, 109 f. 537 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 110. 152

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

hinaus in Zukunft, wie Reinhold kundgibt, als erster Grundsatz der Logik dienen.538 Die Eigenschaft des Fundamentes hinsichtlich seiner Materie sei die unmittelbare, lediglich durch Reflexion mögliche Klarheit des ihm eigentümlichen Inhalts, dagegen dasjenige hinsichtlich seiner Form die streng systematische, durchgängige Bestimmtheit aus Grundsätzen wie auch die Ordnung ebendieser Sätze unter einen obersten und einzigen – das Merkmal der Vereinigung bestehe im »Durchsichselbstbestimmtseyn des ersten Grundsatzes, wodurch derselbe den Rang des Absolutersten unter allen möglichen, und wodurch das Fundament, das er ausdrückt, die Eigenschaft des Letzten enthält.«539 Im Folgenden widmet sich Reinhold erneuter Polemik, auf die, außer in Bezug auf Kritik an Kant, nicht näher eingegangen werden soll. Von diesem nämlich sei an der Möglichkeit der Erfahrung ein metaphysisches Fundament der sinnlichen Natur konstituiert worden; dieses entspreche zwar den Bedingungen des materialen und formalen Fundaments für die Metaphysik, nicht aber für die Philosophie im Allgemeinen, demnach auch nicht für die Elementarphilosophie. – Kant bringe insofern lediglich eine grundlegende Lehre seiner Propädeutik der Metaphysik zustande, nicht etwa eine elementare der Philosophie; wo innerhalb der KrV allerdings von Philosophie als Wissenschaft gesprochen werde, postuliere Kant selbst eine systematische Form, grundsätzliche Einheit etwaiger Erkenntnisse unter einem Prinzip und gebe dafür eine systematische Grundlage an.540 Reinhold zufolge gelte die Elementarphilosophie als wissenschaftlicher Ursprung etwaiger Prinzipien für alle Fragmente der abgeleiteten Philosophie und die Grundsätze der theoretischen wie praktischen – reinen – Philosophie als ihre Ergebnisse; insofern generiere sie sowohl für die Metaphysik als auch für die Logik Grundsätze, welche als Höhepunkt dieser Wissenschaft angesehen werden und ihre grundsätzliche Bestimmtheit insofern nicht aus derselben beziehen können.541 Kant habe der Transzendentalen Analytik und Dialektik den gemeinsamen Namen Logik gegeben, doch auch diese sei von der Logik überhaupt durch das 538 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 110. 539 Reinhold, Fundament, 2011, 111. 540 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 114 ff. 541 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 117 f. 153

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Wort transzendental sowie von der allgemeinen Logik zu differenzieren; da die Transzendentale Logik nun die allgemeine zugrunde lege, könne die Kritik schon deshalb nicht zur Elementarphilosophie gereichen, weil der ihr eigentümlichen Transzendentalen Logik eben die allgemeine Logik vorausgehen müsse.542 Bei der Situation der Logik selbst aber dürfe es nicht verwundern, dass Kant innerhalb der Transzendentalen Logik quasi nichts mit Gewissheit von der allgemeinen Logik ableiten könne; die tatsächliche Elementarphilosophie könne und dürfe zwar nicht der Logik entspringen, diese aber andersherum müsse auf jener beruhen, sofern der Begriff des Denkens lediglich mithilfe der Wissenschaft des Vorstellungsvermögens fassbar werde.543 Die Elementarphilosophie müsse sowohl für die Metaphysik der Natur, die auf sinnliche Erscheinungen beschränkt sei, als auch für die Metaphysik überhaupt Grundsätze in Bezug auf das sinnliche wie auch übersinnliche Erkenntnisvermögen errichten, welche die theoretische Philosophie rechtfertigen.544 »In dem einen [Erkenntnisvermögen] zeigt sie, daß alle a posteriori erkennbaren Objekte nur Erscheinungen; in der andern, daß alle a priori erkennbaren Objekte, in wieferne sie erkennbar seyn sollen, nur die Formen der Vorstellungen seyn können. In dem einen stellt sie die […] durchgängig a priori bestimmten Merkmale der Erscheinungen, in wieferne sie erkennbar sind, an den Formen der Erkennbarkeit, (den verknüpften Formen der Begriffe und Anschauungen,) in dem andern stellt sie die […] durchgängig a priori bestimmten Merkmale der übersinnlichen, der Sinnlichkeit und dem Verstande unzugänglichen, aber durch Vernunft nothwendig vorstellbaren, ob zwar auch durch sie nicht erkennbaren, Objekte, nämlich des absoluten Subjektes, der absoluten Ursache und der absoluten Gemeinschaft, in den drey, in der Natur der Vernunft bestimmten Formen der Ideen auf, welche von den besondern Wissenschaften der höheren Metaphysik (der rationalen Psychologie, Ontologie, Cosmologie und Theologie) vorausgesetzt werden […]. Zu einer solchen Metaphysik […] hat die 542 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 118 f. 543 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 120 f. 544 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 121 f. 154

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Kritik der reinen Vernunft keinen Plan, keine Grundsätze, keinen Begriff aufgestellt, indem es auch nur ihr Zweck mit sich brachte, die Möglichkeit der Metaphysik in der bisherigen Bedeutung dieses Wortes, oder der Wissenschaft der Objekte als Dinge an sich zu untersuchen. Sie zeigt, daß die Metaphysik in dieser Bedeutung schlechterdings unmöglich wäre […] und daß folglich, wenn man unter Metaphysik Wissenschaft […] erkennbarer Dinge […] verstehe, keine andere, als Metaphysik der (sinnlichen) Natur, oder Wissenschaft der allgemeinen und nothwendigen (a priori bestimmten) Merkmale der Erscheinungen möglich sey.«545 Die KrV könne weder als vollständiges System der reinen Vernunft noch als Wissenschaft angesehen werden – der Begriff Metaphysik solle auf das ihm von jeher zukommende Gebiet der theoretischen Philosophie bezogen werden, um denjenigen Teil anzugeben, welcher die materiale theoretische Philosophie begreife; so wenig diese Philosophie, welche die Metaphysik der sinnlichen Natur betreffe und innerhalb der KrV zum Ausdruck komme, allein bestehen könne, ebenso wenig könne die praktische Philosophie sich lediglich auf Moral, zu der innerhalb der KpV wie auch GMS ein Fundament vorbereitet sei, beziehen.546 Der Begriff der Wissenschaft soll demgemäß ausgeweitet und derjenige der Metaphysik beschränkt werden.547 »Dass die praktische Philosophie, die Reinhold als praktischen Teil seines Gesamtsystems der Philosophie oder als Theorie des Begehrungsvermögens begriffen wissen will, sich nicht in der Moral erschöpft, lässt sich […] verschiedenartig deuten. Zum einen geht es Reinhold darum, ein Fundament aufzustellen, das gleichermaßen für Moral und Recht gilt. Zum anderen möchte Reinhold Kants Fundament der Moral – das Sittengesetz – ausgehend von den Begriffen des Begehrens, Wollens und der Freiheit neu bestimmen. Mit dem Begehren als einer Art des Vorstellens versucht er auf diese Weise,

545 Reinhold, Fundament, 2011, 122 ff. 546 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 125 ff. 547 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, in: Philosophische Abhandlungen, Band 62, 1995, 75. 155

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die praktische Philosophie an die allgemeine Theorie des Vorstellens anzuhängen und sie so systematisch zu integrieren.«548 Eine Wissenschaft von Merkmalen der empirischen Begehrensobjekte sei Reinhold zufolge durch dasjenige möglich, was im sinnlichen Begehrungsvermögen durch Sinnlichkeit, Verstand und empirisch agierende Vernunft bestimmt sei – aber nur insofern, als die beiden Bereiche der Elementarphilosophie, der theoretische und der praktische, unter eine fundamentale Wissenschaft subsumiert werden; diese setze die einvernehmlichen Prinzipien des empirischen (unteren) und reinen (oberen) Erkenntnis- und Begehrungsvermögens als Wissenschaft des Vorstellungsvermögens fest.549 Fehle eine solche allgemeine Elementarwissenschaft, sei nicht einmal eine das System betreffende Einheit der Elementarphilosophie überhaupt oder aber der Philosophie als solcher möglich.550 »Daß sich über alle Objekte dieser philosophischen Wissenschaften, aus der kantischen Kritik der reinen, der theoretischen sowohl, als der praktischen Vernunft, die wichtigsten Aufschlüsse ziehen lassen, davon kann wohl niemand inniger überzeugt seyn, als ich selbst, der ich eben diesen Aufschlüssen die Möglichkeit sowohl, als die Veranlassung zu meiner Idee von der Elementarphilosophie, und von Philosophie überhaupt, verdanke. Ich leugne nur, daß die Kritik der r. V. diese Elementarphilosophie selbst sey […] Das Fundament der Kritik der r. V. ist weder allgemein (umfassend) noch auch fest genug, um das ganze wissenschaftliche Gebäude der Philosophie zu tragen. Nicht allgemein genug: denn die Kritik der theoretischen Vernunft begründet nur Metaphysik, und zwar nur der sinnlichen Natur, und die Kritik der praktischen nur Metaphysik der Sitten. Nicht fest genug: denn so wahr alles dasjenige seyn mag, was die Kritik bey ihrer eigenen Grundlegung als ausgemacht voraussetzt, und worüber ihr Gebäude eigentlich aufgeführt ist, so wenig ist dasselbe ausgemacht wahr. Die Begriffe von der Möglichkeit der Erfahrung und von der Natur und Wirklichkeit synthetischer Urteile a priori, […] sind […] in der Eigenschaft des Fundamentes ohne Beweis angenommen, und ohne durchgängige 548 Bondeli, Kommentar 181 zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, 218. 549 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 127. 550 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 128. 156

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Bestimmtheit ihrer Merkmale durch unvollständige Expositionen vorgetragen. […] Das Fundament der Kritik läßt sich nur durch einen fehlerhaften Zirkel aus der Kritik selbst beweisen […].«551 Auf diese Weise verweist Reinhold zum einen auf eine unzureichende Bedeutung von Erfahrung bei Kant und einen fehlerhaften Zirkel bzw. eine Zirkularität in seiner Beweisstrategie – zum anderen darauf, dass die Kantischen Ausgangspunkte aufgrund unzureichender Bestimmtheit und Allgemeinheit nicht als fundamental angesehen werden können.552 Es kann lediglich ausgesagt werden, die KrV beweist »die Möglichkeit der Erfahrung und der Realität der synthetischen Urteile a priori über Prinzipien […], in denen die besagte Möglichkeit und die Realität als Voraussetzungen enthalten sind. Mit Reinhold entsteht schließlich eine Auslegungstradition, die der Beweisart, die Kant aufstellte, den Vorwurf der Zirkularität macht.«553 Überdies lässt Reinhold polemisch verlauten, dass auch die Anhänger und Schüler Kants in diesen Zirkel geraten seien und sowohl Kantianer als auch Antikantianer die Kritik im Großen und Ganzen schlimmer verteidigt als attackiert haben.554 Die zukünftige Elementarphilosophie nun müsse dasjenige, was innerhalb der KrV nur angedeutet worden sei, entwickeln und beweisen, um dogmatisch konzipieren zu können, was die Kritik vorbereitet habe; daher sei jene von dieser auch deutlich zu unterscheiden und wird von Reinhold als »Philosophie ohne Beynamen« betitelt.555 Im Fortgang wird nach weiteren polemischen Ausführungen darauf verwiesen, dass die KrV einen ersten Versuch unternommen habe, objektive Wahrheit aus der Möglichkeit der Erfahrung – und daher lediglich auf Objekte möglicher Erfahrung beschränkt – zu beweisen; dabei werde vom Erfahrungsbegriff als notwendiger Verbindung sinnlicher Wahrnehmung sowie von der beanspruchten Realität synthetischer Urteile a priori ausgegangen.556 Letztlich müsse von einem Faktum – allerdings 551 Reinhold, Fundament, 2011, 129 f. 552 Vgl. Bondeli, Kommentare 182 und 183 zum Fundament, in: Reinhod, Fundament, 2011, 218 f. 553 Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 57. 554 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 130 ff. 555 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 132. 556 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 134 f. 157

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nicht dem Faktum der Erfahrung, sondern demjenigen des Bewusstseins – als Beginn der Philosophie gesprochen werden; dieses denke einfache Begriffe und werde durch den Satz des Bewusstseins beschrieben, welcher durch sich selbst bestimmt sei und aus dem sich die erste Grunderklärung bzw. Definition sowie ein Beweis für synthetische Urteile a priori gewinnen lasse, wie auch Bondeli (2011) schreibt.557 Die dem Satz des Bewusstseins entspringende Wissenschaft des Vorstellungsvermögens gereiche zu einer durchgängigen Bestimmtheit Kantischer Begriffe von Erfahrung, Möglichkeit und synthetischen Urteilen a priori mithilfe einer umfangreichen Exposition. – Die Grundsätze der KrV werden gemäß Reinhold zu wissenschaftlichen Folgesätzen seiner Elementarphilosophie.558 »Es werde in zwanzig Jahren nicht mehr so schwer fallen, zu begreifen, daß weder die eigentliche Logik, noch die Metaphysik, […] weder die Moral, noch das Naturrecht, noch irgend eine andere besondere philosophische […] Wissenschaft ohne allgemeingeltende erste Grundsätze den Rang, die Festigkeit und den Nutzen eigentlicher Wissenschaften erreichen können, und daß an solche Grundsätze der besonderen philosophischen Wissenschaften nicht eher zu denken sey, bevor nicht die Elementarphilosophie, als das System aller philosophischen reinen Principien, auf allgemeingeltenden Grundsätzen, […] als strenge Wissenschaft feststeht.«559 4.3 Diskussion und Ausblick zum Fundament Reinholds Im Folgenden sollen die zentralen Resultate und essentiellen Ansätze Reinholds näher beleuchtet und diskutiert werden, um sie darüber hinaus bewerten zu können. Hierbei sind vor allem die Auffindung eines obersten Grundsatzes der Philosophie innerhalb des allgemeingeltenden Fundamentes, die Erschöpfung des Begriffes der Vorstellung bzw. des Vorstellungsvermögens im Gegensatz zum Erkennen bzw. Erkenntnisvermögen sowie die Deutung des Kantischen Dinges an sich, welches nicht 557 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 136 sowie Bondeli, Kommentar 187 zum Fundament, in: ebd., 221. 558 Vgl. Reinhold, Fundament, 2011, 136. 559 Reinhold, Fundament, 2011, 137 f. 158

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

vorstellbar sein soll, zu erwähnen. Darüber hinaus wird die Theorie des Begehrungsvermögens als praktische Komponente der Elementarphilosophie Reinholds angeführt. Wie man sich sicherlich denken kann, waren und sind nicht bloß Stimmen vorhanden, die diese für gut befunden und möglicherweise sogar selbst für sich übernommen haben, sondern es wurde durchaus rege Kritik angewendet – sowohl von Zeitgenossen Reinholds selbst als auch in unserer heutigen Zeit. Diese Stimmen sollen in Bezug auf eine Diskussion und Beurteilung der Elementarphilosophie ebenfalls gehört und herangezogen werden. Die vorliegende Fundamentschrift zählt gemeinsam mit dem Versuch und den beiden Bänden der Beyträge zu den sogenannten Schlüsseltexten in Reinholds Strategie, die Kantischen Resultate der Kritik der theoretischen und praktischen Vernunft zu einem ausführlichen Konzept der Elementarphilosophie fortzubilden; das Fundament enthält im Gegensatz zu den anderen, angeführten Texten außerdem einige wertvolle Erläuterungen und Präzisierungen, um auf kritische Rezensionen zu vorhergehenden Schriften zu reagieren und verteidigende Erörterungen zur Theorie des Vorstellungsvermögens zu ergänzen. – Denn Reinhold selbst gibt zu, dass seine vorausgegangenen Werke nicht makellos und vor allem noch nicht hinreichend gewesen sind.560 In dieser Schrift behauptet Reinhold sogar, »sein System sei nicht mehr nur als eine geringfügige oder äußerliche Revision von Kants Vernunftkritik zu validieren, sondern bilde die letzte, das Stadium der Vernunftkritik noch übersteigende Wegstrecke in der philosophiehistorischen Entwicklung der Vernunft.«561 Letztlich möchte er Klarheit über das tatsächliche Fundament der Philosophie erlangen, sofern eine wissenschaftliche Philosophie ein allgemeingeltendes und allgemeingültiges Prinzip haben müsse, wobei allerdings nicht angegeben wird, woher Reinhold dies weiß. Die Abhandlung selbst zeigt, dass das Interesse an einer sittlichen Veredelung den Philosophen verpflichtet, sich über letzte Gründe der Philosophie zu verständigen, denn wenn keine solchen vorhanden sind, können auch keine Folgesätze existieren; es wird allen Wissenschaften so lange an festen Grundlagen mangeln, bis eine Elementarphilosophie generiert ist, die selbst wiederum eines Fundamentes bedarf, 560 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, VII ff. 561 Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens: Reinhold und Hölderlin, 2020, 31. 159

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auf welches innerhalb der Fundamentschrift hingewiesen wird, da auch die Kantische Philosophie es nicht aufzustellen vermochte.562 Die Kant-Revision Reinholds besteht hauptsächlich in der Feststellung, das Kantische Fundament der Vernunftkritik sei weder hinreichend noch allgemein – diese Unzulänglichkeit nun kann mithilfe der eigenen Theorie des Vorstellungsvermögens aufgehoben werden; mit dem obersten Grundsatz der Vorstellung bzw. Satz des Bewusstseins wird sodann von einem Fakt ausgegangen, welcher in sich evident ist.563 Dieser Satz nun soll als allgemeiner Grundsatz gelten und ohne Mängel durchgeführt werden; es wird sich allerdings zeigen, dass er damit keine praktische Philosophie zu begründen vermag. Damit wird eine oberste Methode der gesamten – theoretischen wie praktischen – Philosophie vorgeschlagen, welche sowohl für die theoretische als auch für die praktische Komponente des Systems der Vernunft zugleich Relevanz haben soll.564 Die Elementarphilosophie Reinholds unterliegt vor allem dem Bestreben, das Kantische Konzept der Vernunftkritik, welches eine theoretische und eine praktische Seite aufzuweisen hat, innerhalb eines einzigen philosophischen Gesamtsystems darzustellen; in diesem Zuge geht sie zwar mit dem Kantischen Vorhaben eines an die KrV anschließenden, metaphysischen Systems der Vernunft im Grunde genommen konform – jedoch weder mit Kants Betrachtungsweise zweier getrennt erbauter Systeme (Natur und Sitten), noch mit seiner Ansicht, dass ein gesondertes Drittes, welches später als Urteilskraft innerhalb der KdU bezeichnet werden wird, zwischen theoretischer und praktischer Vernunftkritik zu konstituieren ist.565 Die tatsächliche Novität in Reinholds Neuaufbau besteht nun in der Zugrundelegung eines höheren Vermögens der Vernunft, nämlich des Vorstellungsvermögens, als Grundlage der beiden Vernunftkritiken, was

562 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, 222 f. 563 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 52 f. 564 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Phase, in: Kersting/Westerkamp [Hg.], Am Rande des Idealismus, 2008, 53. 565 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 3. 160

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

diese Systeme zu einem einzigen, gemeinschaftlichen System der Vernunft vereinheitlichen soll.566 Durch einen Vergleich zwischen Elementarphilosophie und Vernunftkritik wird ersichtlich, dass der Reinholdsche Weg zwei hauptsächliche Richtungen aufweist: erstens die Einheit des Systems und seiner Begriffe von Erkenntnis sowie zweitens die Begründung von Erkenntnis zu bestimmen; sofern die theoretische und praktische Vernunftkritik als Einheit – basierend auf Definitionen und Erläuterungen zum Begriff des Vorstellungsvermögens – auf neuartige Weise konzipiert wird, erschafft Reinhold ein Gesamt- und ein Einheitssystem. – Dadurch werden die Grundgedanken der Vernunftkritik in ein Bild, welches ein einziges System zeigt, eingewebt und somit vereinheitlicht – als Variationen einer kollektiven, vorstellungstheoretischen Grundlage.567 »Die Elementarphilosophie kann nicht mehr eigentlich als revidierte Vernunftkritik, nicht mehr im Sinne einer Ergänzung oder Neufundierung einer bereits bestehenden Theoriegestalt begriffen werden. Sie ist zu einer höheren Form der Vernunftphilosophie geworden, zur eigentlichen oder letzten Form der Philosophie. In diesem Sinne setzt Reinhold seine Entdeckung des eigentlichen Fundamentes der Philosophie an den Schluss einer Reihe vorangegangener Entdeckungsversuche.«568 Reinhold beansprucht, ein Fundament des Erkenntnisvermögens zu konstituieren, welches nicht nur die Erkenntnisleistungen von Sinnlichkeit und Verstand, sondern auch diejenigen der Vernunft einbezieht und bezichtigt Kant insofern der ausschließlichen Vorbereitung zum vollständigen System der Vernunftkritik; dies ist aus Kantischer Sicht wohl ungerechtfertigt, da die Vernunftkritik als Grundgerüst und insofern als Fassade des Systems angesehen werden soll, welches es noch zu vervollständigen gilt.569 Der vernunftkritische Grundsatz wird von Reinhold für mangelhaft erachtet, weil er seiner Meinung nach nicht als echter Grundsatz gelten kann, der innerhalb der Wissenschaft zu stehen hat, welcher er zugrunde liege; zudem legt er diesen auf ungewöhnliche Weise aus, sofern er ihn auf notwendige sowohl formale als auch materiale Bedingungen von Erfahrung bezieht – obgleich Kant, wie er 566 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 3. 567 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, XIX f. 568 Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, XXXVII. 569 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXX f. 161

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selbst sagt, seinen obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile mittels einer Wendung zur Gültigkeit von synthetischen Urteilen a priori vervollständigt.570 Dieser oberste Grundsatz wird von Reinhold jedenfalls nicht explizit als Beweisprinzip angeführt, aber »[als solches] ist der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile ein Grundsatz, der sich weder im Sinne eines Beweisresultates noch im Sinne einer Beweisprämisse verstehen lässt. Er ist mit anderen Worten weder ein beweisender noch ein zu beweisender Grundsatz, sondern ein methodischer Grundsatz, mit dem ausgesprochen wird, nach welchem Verfahren der Beweis zu führen ist und weshalb dabei die kategorialen Verstandesgrundsätze als objektiv gültig behauptet werden können. Der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile ist auf dieser Basis kein Grundsatz, auf den der Wahrheits- und Begründungsanspruch, den Reinhold zum Anforderungsprofil eines ersten Grundsatzes rechnet, in einsichtiger Weise bezogen werden kann. Dass der als Beweisprinzip gefasste oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile ein wahrer Grundsatz sein muss, versteht sich; dass er ein durch sich selbst wahrer Grundsatz sein muss, ist aber nicht einleuchtend.«571 Entscheidend für Reinholds Korrektur der Vernunftkritik ist außerdem die Überzeugung, dass das von Kant aufgefundene Fundament auch in Bezug auf eine Begründung synthetischer Urteile a priori fehlerhaft ist. – Auch dieses Argument erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als erklärungsbedürftig, sofern Kant selbst innerhalb der Prolegomena mitteilt, dass nicht bewiesen werden soll, ob tatsächlich synthetische Urteile a priori existieren, sondern wie sie überhaupt möglich sind.572 Kant hat ein neues Fundament der Philosophie in der Möglichkeit der Erfahrung aufgefunden, wodurch der Unterschied a priori – a posteriori postuliert wird. Reinhold verortet den Grundsatz der KrV nun im obersten Prinzip aller synthetischen Urteile, wo ausgesagt wird, »jeder Gegenstand steht unter den nothwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer mög570 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXXII f. 571 Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXXIV. 572 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXXV. 162

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

lichen Erfahrung.«573 Insofern bietet Kant eine Wissenschaft der a priori bestimmten Merkmale eigentlicher, d. h. wirklicher Objekte, Reinhold dagegen eine Wissenschaft des a priori bestimmten Merkmals bloßer Vorstellungen; Kant hat die Erfahrung, sofern sie a priori bestimmt ist, zum Gegenstand, Reinhold dagegen die apriorischen Formen bloßer Vorstellungen. Letzterer zielt auf eine Wissenschaft dessen, was dem Erkenntnisvermögen zugrunde liegt, nämlich das Vorstellen; dazu gibt die KrV zwar Materialien, durch Kritik muss aber noch ein Schritt zum eigentlichen Fundament, der Wissenschaft der Formen des Vorstellens, getan werden. Die Wissenschaft des Vorstellungsvermögens nun geht vom Begriff der Vorstellung aus, welcher keine Erkenntnis der Dinge an sich verstattet, denn das Erkennen setzt das Vorstellen voraus; die KrV erörtert zwar die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Arten von Vorstellung, nicht aber diese selbst. – Als letzter Begriff kann derjenige der Vorstellung aber nicht bewiesen, sondern lediglich analysiert werden, was voraussetzt, dass er synthetisch ist. Die Vorstellung ist darüber hinaus eine Tatsache, die durch sich selbst einleuchtet, wie auch das die Erkenntnis begründende Moment, dadurch Dinge an sich nicht erkennbar sind bzw. sein können. Das Fundament dieser Theorie nun ist das Bewusstsein und insofern es begriffen wird, nicht das Bewusstsein selbst, sondern auf dieses gegründet. Vom Fundament der Vernunftkritik aus ist nun gemäß Reinhold ein letzter Schritt nötig, den er als analytisches Fortschreiten bezeichnet; die im Vergleich zur Vernunftkritik höhere, allgemeine Stufe des Fundamentes der Elementarphilosophie kündigt die Verfügbarkeit eines allgemeinen Begriffs der Vorstellung überhaupt an.574 Denn das Fundament der Kantischen Vernunftkritik ist, wie oben erwähnt, weder allgemein umfassend noch allgemein genug, um das gesamte wissenschaftliche Gebäude der Philosophie tragen zu können; dadurch besteht für die Elementarphilosophie der Anspruch, nicht länger nur Propädeutik, sondern als Wissenschaft des Vorstellungs- Erkenntnis- und Begehrungsvermögens Teil des Systems der Vernunft zu sein.575 Zwar postuliert Reinhold unablässig ein strengwissenschaftlichen System von Grund- und Folge573 Kant, KrV, 1968, A 158/B 197, 145. 574 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXXVII f. 575 Vgl. Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens: Reinhold und Hölderlin, 2020, 43. 163

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sätzen, doch ist er sich nicht sicher, wie ein entsprechendes Ableitungsmodell konstituiert werden kann.576 Der Anspruch Reinholds, die Kantischen Bedingungen des Anschauens, Denkens und Erkennens auf die Bedingung des Vorstellens bzw. Bewusstseins zu gründen, kann als problemlösende Ergänzung der Kantischen Beweisführung angesehen werden; zudem stellt sich heraus, dass Reinhold nicht nur die Definition des Kantischen Beweises bereichert – er konzipiert ein Darstellungsverfahren, welches zu dessen Beweis führt.577 »Mit diesem Verfahren wird die Annahme synthetischer Erkenntnis a priori nicht in Frage gestellt, sondern verteidigt. Der Kantische Beweis dieser Erkenntnis wird als in sich richtig, wenn auch als noch unvollständig beurteilt. Dieser Beweis muß sowohl nach einer rationalistischen (evidenter Grundsatz) als auch nach einer empiristischen Seite (empirisch Gegebenes) vervollständigt werden. Für einen Kantischen Beweis synthetischer Erkenntnis a priori ohne fehlerhaften Zirkel hat Reinhold im Stadium der Elementarphilosophie somit ein beachtliches Resultat erreicht.«578 Das Bestreben zur Auffindung einer letzten Begründung von philosophischer wie auch allgemeiner Erkenntnis erfüllt sich für Reinhold mit dem Satz des Bewusstseins.579 Dieser oberste Grundsatz der Elementarphilosophie ist bildlich gesprochen als das feste Fundament zu bezeichnen, auf welchem ein Gebäude bzw. ein ganzes System von Folgebegriffen und Folgesätzen aufgebaut werden kann; es geht Reinhold insofern darum, aus diesem obersten Grundsatz, dem Satz des Bewusstseins, als Fundament betrachtet, Folgesätze zu begründen und damit in das Kantische Aufgabengebiet der transzendentalen Deduktion sowie zu seinem transzendentalen Beweis vorzustoßen.580 Dieser Grundsatz soll keine scholastische Definition etwaiger Fakten darstellen, sondern wird »von 576 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 7. 577 Vgl. Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 24. 578 Bondeli, Reinholds Kant-Kritik in der Phase der Elementarphilosophie, in: Bondeli/ Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds, 2003, 24. 579 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 51. 580 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, XXV. 164

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Reinhold als eine klarere Fassung der transzendentalen Deduktion der Kategorien durch Kant gedacht […], die hierdurch von ihrer Dunkelheit befreit werden sollte.«581 Reinhold strukturiert das Bewusstsein triadisch – in diesem werden Subjekt und Objekt differenziert und sodann durch die Vorstellung miteinander verbunden; die Elementarphilosophie bereitet die Überlegung zu einem dynamischen Prinzip vor, welches die unbedingte Bedingung von aller Form und Materie formulieren soll.582 Der Satz des Bewusstseins drückt die Tatsache des Bewusstseins aus, welche aus diesem entspringt; da sie mittels des Bewusstseins zu Tage tritt, formt dieser Satz nicht nur ihre Aussage, sondern in gewisser Weise auch den Ursprung ihrer Existenz – hierbei handelt es sich um die Tatsache, dass das Bewusstsein immer dasjenige von einem Subjekt, einem Gegenstand der Intention sowie einer bewussten Handlung bzw. Vorstellung sein muss, da diese Momente zugleich als in einem Bewusstsein verknüpft vorgestellt werden.583 Zum Themenkomplex des Bewusstseins ist allerdings kritisch anzumerken, dass das Bewusstsein von Reinhold rein durch Formen charakterisiert wird; woher aber stammt der Inhalt bzw. die Materie? – Formen sind doch lediglich durch eine Anwendung auf etwaige Inhalte bekannt, da ohne Inhalte nichts vorgestellt und nicht einmal fantasiert werden kann. Auch Kant betont innerhalb der KrV, dass Gedanken ohne Inhalte leer sowie Anschauungen ohne Begriffe blind seien.584 Das rein formale Bewusstsein hängt von der Tatsache der nicht ableitbaren Empfindung ab, dadurch die Theorie der Erkenntnis derjenigen des Bewusstseins vorhergehen muss. – Reinhold erkennt insofern Formen, während Kant diese mittels der Urteilskraft reflektiert und allgemein verbindlich Objekte erkennt. Eine Vorstellung wird als grundlegende und darüber hinaus einfache Struktur des vollständigen Denk-, Anschauungs- und Begehrungsvermögens des Menschen bezeichnet, welches Universalcharakter haben soll.585 Die Vorstellung eines Gegenstandes gründet gemäß Reinhold in der Möglich581 Baum, K. L. Reinholds Elementarphilosophie und die Idee des transzendentalen Idealismus, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 93. 582 Vgl. Gawoll, Nihilismus und Metaphysik (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 1989, 54 f. 583 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 53. 584 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 51/B 75, 75. 585 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 42 f. 165

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keit des Bewusstseins selbst sowie diese ohne dialektischen Bezug zwischen Vorstellung, Objekt und Subjekt der Vorstellung nicht möglich ist; erst damit ist restlos verständlich, was das Bewusstsein als letzte Tatsache der Elementarphilosophie besagt – sofern Reinhold sein eigenes System nämlich nicht von demjenigen Kants zu trennen und konsequent auszubauen vermag, klafft laut Klemmt (1958) bis heute eine Lücke hinsichtlich dieser denkwürdigen Entwicklung.586 Das Vorstellungsvermögen innerhalb der Elementarphilosophie stellt darüber hinaus gemäß Baum (1974) nur eine andere Bezeichnung für die Einbildungskraft bei Kant dar sowie die bloße Vorstellung bei Reinhold lediglich auf das transzendentale Schema innerhalb der KrV abzielt – letztlich sei in Reinholds Bewusstsein kein ausschlaggebender Unterschied zur transzendentalen Apperzeption zu verzeichnen.587 Folgendes wird einige Zeilen später jedoch ebenso zugegeben, was bedeutet, dass Reinhold in einer anderen Art und Weise an die Problematik herangetreten ist und letztlich etwas erreichen konnte, was Kant zu verfehlen vermochte: »Das klare und deutliche Bewußtsein ist […] bei Reinhold der vornehmste Gegenstand der Transzendentalphilosophie, und es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß er mit dem Versuch, es zum Fundament der Philosophie zu machen, das erreicht hat, was Kant in seiner Vernunftkritik zwar intendierte, aber der Form der Darstellung nach verfehlte.«588 Durch analytisches Voranschreiten über Kant hinaus kommt Reinhold sodann zu einem Vorstellungsbegriff, bei welchem die Anordnung einer reflexiven Begriffsentwicklung im Vordergrund steht.589 Reinhold sieht einen einfachen Begriff der Vorstellung als Ursprung unterschiedlicher Erkenntnisstämme – empirisch und rational – an und strebt danach,

586 Vgl. Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, 1958, 475. 587 Vgl. Baum, K. L. Reinholds Elementarphilosophie und die Idee des transzendentalen Idealismus, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 96. 588 Baum, K. L. Reinholds Elementarphilosophie und die Idee des transzendentalen Idealismus, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 96. 589 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 52. 166

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»den reflektierten Ausdruck dieser Vorstellung, d. h. den Satz des Bewusstseins, auch als reflektierten Ausdruck der aus der gemeinsamen Wurzel zu generierenden Erkenntnisstämme zu denken. Damit kann Reinhold nun zwar im Unterschied zu Kant auf einen ursprünglichen Einheitspunkt hinweisen, von dem aus die Erkenntnisstämme neu zu denken sind. Jedoch wird dabei nicht ersichtlich, auf welchem Weg von diesem freigelegten Punkt aus fortgeschritten werden kann. Es wird mit anderen Worten nicht aufgewiesen, wie von diesem vorreflexiven Punkt aus der reflektierte Ausdruck der Vorstellung neu zu denken ist. […] Auf der Stufe der reflexiven Darstellung zeigt Reinhold nicht auf, welche Implikationen eine Gemeinschaft von Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft hat. Reinhold konstruiert somit insgesamt nur einen vorreflexiven Einheitsgrund der Vorstellung, auf dem sich eine reflektierte dualistische Konzeption von Bewußtsein erhebt.«590 Gerade weil der Aspekt der Vorstellung zwar allgemeiner, nicht aber fundamentaler gewesen ist als derjenige der Erkenntnis, ist die Elementarphilosophie untauglich und verbleibt damit im Vorspann der Kantischen Philosophie, wie Klemmt (1958) beteuert.591 Der Satz des Bewusstseins ist Ausdruck wie auch Ursprung des Gattungsbegriffs der Vorstellung – Ausdruck, weil das unergründliche Phänomen der Vorstellung diesen begründet und Ursprung, da erst durch ihn die Vorstellungsstruktur selbst aufgezeigt wird.592 Die Tatsache des Bewusstseins, welche ausgedrückt werden soll, ist als diejenige Struktur zu bezeichnen, welche jeweils schon gegeben ist, wenn man sich etwas bewusst ist; das Bewusstsein per se zeichnet sich dadurch aus, »daß es ein Objekt, dessen man sich bewußt ist, ein Subjekt, welches sich eines Objekts bewußt ist, und eine Vorstellung, durch die etwas bewußt wird, gibt, womit zugleich auch ausgesprochen ist, daß diese drei Momente aufeinander bezogen und voneinander unterschieden sind.«593 Der Satz des Bewusstseins lässt sich nur dann auch als durch sich selbst wahren Satz ansehen, wenn die Struktur des Bewusstseins einfach ist, wie Reinhold es annimmt; aber erst wenn 590 Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 88 f. 591 Vgl. Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, 1958, 468. 592 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 55. 593 Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 55 f. 167

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gezeigt werden kann, dass die mit diesem Satz formulierte SubjektObjekt-Struktur sowie daraus entstehende Verhältnisse von Form und Materie, Einheit und Mannigfaltigkeit gemeinschaftlich das unumstößliche Fundament der Erkenntnis ergeben, wird der Beweis synthetischer Urteile a priori gänzlich überzeugen.594 Reinholds oberster Grundsatz muss in jedem Fall durchgängig durch sich selbst bestimmt sein, wenn er fordert, erster Grundsatz überhaupt sein zu wollen. Der Satz des Widerspruchs ist erst insofern durch jenen bestimmbar, als der Begriff der Denkbarkeit demjenigen der Vorstellbarkeit entspringt, dieser setzt den Vorstellungsbegriff sowie dieser wiederum den Satz des Bewusstseins voraus.595 Da Reinhold allerdings verschiedene Darstellungsweisen und Fassungen desselben in seinen Werken anbietet, werden die zentralen Bezeichnungen des Satzes des Bewusstseins mit verschiedenen Bedeutungen in Verbindung gebracht, dadurch man nicht wirklich von einem sofort einleuchtenden, allgemein verständlichen Satz sprechen kann.596 Darüber hinaus lässt sich anführen, dass auch Kant einen obersten Grundsatz des Verstandes, nämlich das Ich denke, angenommen und damit bereits aus der Vorstellungsstruktur heraus den Pfad zu einem geschlossenen, zusammenhängenden System geebnet hat.597 Ebenso ist zu beachten, dass Reinhold beansprucht, den Satz des Bewusstseins selbst als analytischen Satz zu betrachten, welcher auf eine synthetische Bedingung zurückgeht; denn um das Vorstellungsvermögen analytisch zu bestimmen, setzt er eine synthetische Bestimmung desselben voraus und der Satz des Bewusstseins lässt sich zwar analytisch entwickeln, erklären allerdings nur mittels desjenigen, was er synthetisch bestimmt, was also lediglich aus ihm erfolgt.598 »Die ursprüngliche Vorstellung ist eine Synthese, der Satz des Bewußtseins eine Analyse, genauer, die Analyse ebendieser Synthese. Da beide allen weiteren Akten des Urteilens zugrunde liegen, kennzeichnen wir sie als Ur-Synthese und Ur-Analyse. […] Der Satz des Bewußtseins ist unter diesem Blickwinkel die reflektierte und reflektieren594 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LXXIX ff. 595 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, 243. 596 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 57. 597 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 59. 598 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 99. 168

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de Form der ursprünglichen Vorstellung. Die Ur-Synthese wird zu einem erzeugenden Vermögen. […] Reinholds Bemühen, den Satz des Bewußtseins als Ur-Analyse einer Ur-Synthese zu begreifen, korrespondiert seiner emphatischen Behauptung, der Satz des Bewußtseins werde aus einer Reflexion gewonnen […]. […] Die Deutung des Satzes des Bewußtseins im Sinne einer Ur-Analyse macht vielmehr auch die Schwierigkeit transparent, welche die Statuierung dieses Satzes als eines Satzes der Reflexion anlangt.«599 Denn es ist nicht ersichtlich, warum Reinhold behauptet, der Satz des Bewusstseins sei lediglich durch Reflexion konstituiert worden oder wie die Reflexion als Vergleich des im Bewusstsein auftretenden begriffen werden soll – dadurch wird Reinhold vorgeworfen, dass der Satz des Bewusstseins, welcher analytisch gedacht wird, im Verhältnis zur Ur-Synthese nicht einleuchtend ist.600 Ob also der Satz des Bewusstseins als erster Grundsatz tatsächlich zu einer Begründung gereicht, bleibt fragwürdig – »jedenfalls dann, wenn Reinhold ihn als fraglos evidenten und ausschließlich aus seiner Evidenz Folgesätze begründenden Grundsatz verstanden wissen will.«601 Dasjenige, was also durch die Betrachtung bezüglich des Bewusstseins zu Tage tritt, ist die Erkenntnis über eine Unterscheidung der Vorstellung vom Subjekt und Objekt sowie deren Beziehens auf ebendiese beiden Momente; der Satz des Bewusstseins ist sodann das erste Prinzip, welches die grundlegendsten Vorstellungsmerkmale in sich trägt und damit die Grundlage darstellt, »über die alle spezifischen Formen der Vorstellung abgeleitet werden.«602 Reinhold ist der Meinung, dass die begründete Ableitung verschiedener Vorstellungsformen als Ableitung von unterschiedlichen Bewusstseinstypen – ausgehend vom Satz des Bewusstseins – vonstattengeht; in diesem Satz ist der Gattungsbegriff gelegen, welcher Ausdruck der unumstößlichen Tatsache des Bewusstseins ist. – Das Bewusstsein der Vorstellung, dasjenige des Subjekts bzw. das Selbstbewusstsein und dasjenige vom Objekt bzw. die Erkenntnis werden als Bewusstseinstypen veranschlagt.603 Hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen dem Ver599 Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 99 f. 600 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 100 f. 601 Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 72. 602 Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 67 sowie 87. 603 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 87. 169

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

hältnis von Subjekt und Objekt und den sogenannten Wesensverhältnissen hätte Reinhold jedoch auf zusätzliche Tatsachen hinweisen müssen; denn »allein aufgrund des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist noch nicht begreiflich, weshalb dem Subjekt Einheit, Form und Spontaneität, dem Objekt Mannigfaltigkeit, Stoff sowie ein Gegebensein, das sich in einem rezeptiven Subjektvermögen ausdrückt, zukommen.«604 Im Allgemeinen ist das Echo der Reinholdschen Lehre unter seinen Zeitgenossen groß – es gibt sogar Rezensenten, die sein richtiges Verständnis der Kantischen Schriften bezweifeln oder ihm vorwerfen, lediglich Thesen des Lehrmeisters zu wiederholen, wenn auch auf eine andere Weise deduziert.605 Es wird kundgetan, dass Kant das gesamte Vorstellungsvermögen zergliedert, um zu beweisen, dass dieses nur dann gültig ist, wenn es auf mögliche Erfahrung angewendet wird, wohingegen Reinhold statt einer solchen Analyse nun seine Theorie eines obersten Prinzips des Vorstellungsvermögens an die Hand gibt; Kant führt nicht aus, ob die Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände mittels einer anderen Form des Bewusstseins möglich ist, dagegen Reinhold beweist, dass alles so sein muss, wie es im menschlichen Vorstellungsvermögens vorgefunden wird.606 Der Grund für dieses Echo liegt in der Originalität des Reinholdschen Ansatzes, in welchem nicht nur die Kantischen Formeln wiederholt, sondern der eigene Weg beschritten wird.607 Dadurch läuft er aber auch Gefahr, sich in eigenen Ansätzen zu verlieren. Innerhalb der Rezension Schmids zur Fundamentschrift wird als Haupteinwand gegen Reinhold vorgebracht, dass er zum einen behauptet, der Satz des Bewusstseins sei ein realer und materialer (kein logischer und formaler) Grundsatz der Wissenschaft des Vorstellungsvermögens und insofern der Philosophie als solcher; zum anderen aber nimmt er (innerhalb der Beyträge I) an, dass dieser Satz lediglich die Form (nicht die Materie) anderer Sätze und demnach bloß die Verbindung bzw. Notwendigkeit derselben von diesen 604 Vgl. Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens: Reinhold und Hölderlin, 2020, 45 f. 605 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 2003, XV ff. 606 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, XIX. 607 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, XIX. 170

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

Vorstellungen bestimmt – dies muss jedoch als offenkundiger Widerspruch in sich gewertet werden.608 Auch Salomon Maimon macht deutlich, dass der Satz des Bewusstseins nicht allgemeingültig sei.609 Letztlich ist dieser nicht geeignet, Unzulänglichkeiten unter den Philosophen aufzuheben, sofern durch ihn zwar einige Begriffe bestimmt werden, vieles jedoch auch unbestimmt bleibt.610 Auch Kant selbst kritisiert die Theorie des Vorstellungsvermögens, indem er in einigen seiner Briefe gesteht, dass Reinhold, ein sonst liebenswürdiger Mensch, sich in seine ihm (gemeint ist Kant) noch nicht einsichtig gewordene Theorie so intensiv hineingedacht habe und diese in finstere Abstraktionen ufere.611 Von anderer Seite ist Reinhold jedoch auch für seine Art zu philosophieren gelobt worden, gerade weil sie sich von der Kantischen dadurch unterscheidet, dass sie nicht auf Voraussetzungen gründet, sondern alles aus Begriffen entwickelt – insofern vollendet Reinhold dasjenige, was Kant begonnen hat.612 Derselbe Rezensent betont, dass Reinhold den obersten Grundsatz, welcher auf einem Faktum beruht, im Bewusstsein vorgefunden und aufgestellt hat; obgleich er beschuldigt worden ist, alles aus Begriffen zu deduzieren, ist dabei übersehen worden, dass die im obersten Grundsatz enthaltenen Begriffe als erste Begriffe gelten, bei denen es gewiss ist, dass das Wissen durch sie bestimmt und klar werden kann.613 Ein anderer Rezensent formuliert dahingegen, dass das Kriterium eines solchen fundamentalen Satzes wie des Satzes des Bewusstseins innerhalb der Fundamentschrift hinsichtlich seiner Form mangelhaft angegeben worden ist614 – das beweist noch einmal deutlich die internen Diskussionen um das Reinholdsche Fundament. 608 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, XXVII. 609 Vgl. Mensen, Reinhold zur Frage des ersten Grundsatzes der Philosophie, in: Lauth [Hg.], Philosophie aus einem Prinzip, 1974, 126. 610 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, XXVIII. 611 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, XLVIII. 612 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, LVI. Dieses Zitat beruht auf J.W.A. Kosmann, Ueber die Kantische und Reinholdische Art zu philosophieren. 613 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, 249. 614 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, 257. 171

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Ein weiteres zentrales Thema oder Problem zeigt sich an der Debatte um das Ding bzw. das Kantische Ding an sich, insofern Reinhold innerhalb der vorliegenden Schrift darlegt, dass der Begriff des Dinges bei Kant ungenau sei und man nicht immer genau wisse, ob darunter auch das Ding an sich falle. Der Begriff des Dinges an sich wird von der Vorstellung abgegrenzt, da die bloßen Begriffe der Vorstellung wie auch der Vorstellbarkeit den Begriff des Dinges an sich als nicht vorstellbar ausschließen.615 Bereits zur damaligen Zeit gab es mannigfaltige Einwürfe bezüglich der These der Unvorstellbarkeit des Dinges an sich und auch Reinhold musste feststellen, dass seine Rekonstruktion der Vernunftkritik sich Zeitgenossen zufolge lediglich durch eine sehr gemäßigte metaphysikkritische Richtung hervorragte; »[d]er Versuch, den transzendentalen Beweis auf der Grundlage des Satzes des Bewusstseins neu zu führen, wurde als verfehlt oder unnötig beurteilt.«616 In zeitgenössischen Rezensionen wird außerdem davon gesprochen, dass Reinhold das Ding an sich mit dem Noumenon durcheinanderbringt, da er aussagt, dieses wäre im Satz des Bewusstseins enthalten, sowie der Beweis für das Dasein des Dinges an sich als unzureichend erachtet werden muss.617 Darüber hinaus wird von Bondeli (1995) angeführt, dass Reinholds Deutung des Dinges an sich sowohl ein Einheitsproblem als auch ein Strukturproblem zugrunde liegt; die These der Unerkennbarkeit des Dinges an sich wird zwar von beiden Denkern geteilt, Reinhold geht dabei aber gravierend über Kant hinaus, sofern das Ding an sich nicht bloß als unerkennbar, sondern auch als nicht vorstellbar bezeichnet wird – dabei geht es ihm um eine Stärkung der Auffassung Kants vom Ding an sich sowie dessen Unerkennbarkeit gegenüber damals vorherrschenden, philosophischen Positionen.618 Dadurch aber steht er vor dem Problem, das Ding an sich als ein Etwas vorstellen zu müssen, welches schlechterdings unvorstellbar ist; es darf an und für sich kein Denken jenseits des Vorstellens angenommen werden, weil für Reinhold die auf Kant

615 Vgl. Hoyos, Der Skeptizismus und die Transzendentalphilosophie, 2008, 94. 616 Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens: Reinhold und Hölderlin, 2020, 50 f. 617 Vgl. Fabbianelli [Hg.], Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, 2003, 259. Bei diesem Rezensenten handelt es sich um Carl Christian Erhard Schmid. 618 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 79 f. 172

Darstellung der Elementarphilosophie Reinholds

basierende Differenzierung von Erkennen und Denken mit dem Einheitsbegriff der Vorstellung entfällt.619 »Wenn Reinhold […] das Ding an sich aus dem Konzept der Vorstellung betrachtet und betont, die Vorstellung von einem Gegenstand sei keine Vorstellung von einem Ding an sich, so bricht er am Ende nicht nur mit dem Gedanken, Vorstellungen könnten dem Ding an sich irgendwie entsprechen, sondern auch mit der Auffassung, ein Objekt sei in erster Linie als ein sinnliches Ding zu verstehen.«620 Hinsichtlich der praktischen Komponente der Elementarphilosophie wird ersichtlich, dass Reinhold einerseits versucht, nicht nur Moral, sondern auch Recht unter dieser zu begreifen und andererseits das Sittengesetz ausgehend von Begriffen des Begehrens, Wollens sowie der Freiheit neufundieren möchte. Bezüglich des Begehrungsvermögens sowie der Konzeption von moralisch-praktischer Vernunft ist zu erwähnen, dass triebtheoretische und gefühlsmoralische Gedanken bei Reinhold stärker als bei Kant zum Tragen kommen; bei diesem werden moralische Gefühle auf moralische Handlungsmotive und eben nicht auf sittliche Urteilsbegründung bezogen, die lediglich der sittlichen Vernunft (bzw. dem Sittengesetz) zugrunde liegt, bei jenem wird dagegen ein moralisches Gefühl in Vorschlag gebracht, welches für eine sittliche Urteilsbegründung entscheidend sein soll.621 »Die praktische Philosophie, die primär von einer Klärung des Freiheits- und Willensbegriffes her von Reinhold bearbeitet wird, läuft zunächst unverbunden neben diesen elementarphilosophischen Bemühungen um den Vorstellungs- und Bewußtseinsbegriff her und erfährt während ihrer Genese selbst keine eigentliche Integration, wie dies eine um einen ersten Grundsatz, um ein Fundament bemühte Philosophie hätte leisten müssen.«622 619 Vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 81. 620 Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 1995, 83 f. 621 Vgl. Bondeli, Im Gravitationsfeld nachkantischen Denkens: Reinhold und Hölderlin, 2020, 37. 622 Gerten, Begehren, Vernunft und freier Wille, in: Bondeli/Schrader [Hg.], Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds (vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis), 2003, 158. 173

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Insofern muss eingesehen werden, dass mit dem Konzept Reinholds sowie dem Satz des Bewusstseins allein schlicht keine praktische Philosophie begründet werden kann. Die Vielfalt an etwaigen Einwänden gegen die Elementarphilosophie ist groß. – Ebenso wie der generelle Sinn und Zweck eines Systemvorhabens der Elementarphilosophie werden auch Details zur Systemkonstruktion angezweifelt; erst nach einer gewissen Zeit sollte eingesehen werden, dass man der Leistung Reinholds niemals gerecht wird, wenn diese als ein Nachbeten oder verkomplizierte Abänderung vernunftkritischer Thesen und Argumente beurteilt wird.623 Denn der letzte Zweck der Philosophie kündigt sich nach Reinhold eben darin an, das Eine, was der Menschheit Not ist, nämlich das Fundament derselben, in vollständig bestimmte und gemeinschaftliche, für jeden verständliche Begriffe aufzulösen; erst wenn man das Fundament der Philosophie tatsächlich untermauert, ist in allen anderen Wissenschaften eine Revolution und sind »dem Ziel der Menschenwürde angemessene Reformen in Moral, Recht und Religion zu erwarten […].«624 Die Elementarphilosophie kann in ihren Grundzügen als ein Projekt bezeichnet werden, das sich der Erleuchtung der Menschheit verschrieben hat, um aufzudecken, was bislang unentdeckt geblieben ist.625

623 Vgl. Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, XXXVIII f. 624 Bondeli, Einleitung zum Fundament, in: Reinhold, Fundament, 2011, LVIII. 625 Vgl. Bondeli, The Conception of Enlightenment in Reinhold’s »Letters on the Kantanian Philosophy«, in: Di Giovanni [Hg.], Studies in German Idealism, Volume 9, 2010, 50. 174

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

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Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­ nachschriften – »Logik und Metaphysik« sowie »Darstellung der Kritik der reinen Vernunft«

Nachdem innerhalb der vorangegangenen Teile vorliegender Arbeit die beiden Bände der Briefe sowie die Fundamentschrift als aussagekräftiger Bestandteil der Elementarphilosophie Reinholds eingehend erörtert und interpretiert worden sind, soll es im hiesigen Abschnitt nun um die Vorlesungsnachschriften zu tun sein. Diese beschäftigen sich inhaltlich dem Titel nach mit den Themengebieten Logik sowie Metaphysik und geben darüber hinaus Einblicke in die Reinholdsche Darstellung der Kritik der reinen Vernunft Kants. Man muss sich stets vor Augen führen, dass es sich um Nachschriften der Vorlesungen Reinholds handelt, die seine damaligen Studenten verfasst haben. Erstaunlich ist zudem, dass die Vorlesungsnachschriften erst im Jahr 2015 veröffentlicht bzw. herausgegeben wurden, wodurch ein Mehrwert für die Interpretation der Philosophie Reinholds – einerseits von seiner Lichtgestalt Immanuel Kant inspiriert, andererseits aus eigener Feder stammend – für unsere heutige Zeit zu entstehen vermag. In diesem Abschnitt sollen nach einer kurzen Einordnung in den Gesamtzusammenhang wie auch etwaigen hinführenden Gedanken zur Schrift die beiden Teile »Logik und Metaphysik« sowie »Darstellung der Kritik der reinen Vernunft« inhaltlich erarbeitet und ausführlich interpretiert werden. Dadurch wird aufgezeigt, in welchen Bereichen Reinhold mit den Gedankengängen Kants konform geht oder aber sich dagegenstellt, um eine mögliche, bessere Lösung aufzufinden. Insofern kann auch darauf verwiesen werden, ob seine Argumente sinnvoll gesetzt sind und wie diese funktionieren, um die Kantische Lehre zu bereichern. Besonders interessant wird hierbei sein, die Vorlesungsnachschriften vor dem Hintergrund der bereits behandelten Schriften zu betrachten, um letztlich feststellen zu können, wie sie sich zu diesen Texten sowie auch zu Kant selbst und seiner Philosophie verhalten. Im letzten Abschnitt der vorliegenden Arbeit soll ebendiese Frage schließlich beantwortet werden.

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Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

5.1 Eingliederung in den zeitlichen Zusammenhang sowie einleitende Gedanken zur Schrift Jene Vorlesungen, deren Nachschriften im Folgenden behandelt werden sollen, sind auf die Jahre 1792 und 1793 zu datieren und fanden an der Universität Jena statt, an welcher Reinhold zu dieser Zeit als Dozent tätig war.626 Die Nachschriften von Johann Smidt über Logik und Metaphysik stammen höchstwahrscheinlich aus dem Sommersemester 1792, diejenigen von Wilhelm Josef Kalmann über die Darstellung der Kritik der reinen Vernunft aus dem sich anschließenden Wintersemester 1792/1793.627 Es ist ersichtlich, dass Reinhold seine Vorlesungen im Laufe der Zeit angepasst hat, sofern er 1788 noch im Rückgriff auf Theorien Ernst Platners über Logik und Metaphysik referiert, ab dem Wintersemester 1788/1789 jedoch seine eigene Vorstellungstheorie zur Hand nimmt; auch in Bezug auf die Darstellung der KrV geht er ab 1789 von seinem eigenen Versuch aus, wohingegen er bis zum Wintersemester 1788/1789 seine Gedanken mit allen an den Kantischen Schriften Interessierten teilt.628 Zudem wurde durch die aktuelle Forschung bekannt, dass Reinhold zuerst die Vorlesung über Logik und Metaphysik hielt, bevor er seine Studenten über die Kantische Philosophie aus der KrV informierte, weil erstere zum damaligen Zeitpunkt als Pflichtvorlesung galt, denn »[e] rst wenn die eigene Philosophie den Studierenden erklärt worden ist, können diese sich mit Kants System auseinandersetzen.«629 Insofern sind die Ausführungen zu Logik und Metaphysik als Einleitung zur Vorlesung über die KrV zu werten.630 In seine Vorlesungen bettet Reinhold überdies Theorien und Beweise ein, die seinen Hauptwerken zur Elementarphilosophie entnommen sind, nämlich aus dem Versuch, den Beyträgen I sowie der Fundamentschrift, von denen letztere in der vorliegenden Arbeit umfangreich exzerpiert 626 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, VII ff. 627 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, IX f sowie LI. 628 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, VII. 629 Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, VIII. 630 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, VIII. 176

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

worden ist.631 Für die Darstellung wurde diese bewusst gewählt, weil sie als Abschluss oder Höhepunkt der Elementarphilosophie Reinholds angesehen werden kann bzw. mit der Fundamentschrift der Anspruch, Philosophie aus einem Prinzip begründen zu wollen und hierfür von einem obersten Grundsatz, dem Satz des Bewusstseins, auszugehen, erfüllt wird. Es kann zwar nicht erwiesenermaßen dargetan werden, ob die bis dato bereits erschienenen Schriften Reinholds auch als Ursprung seiner akademischen Tätigkeit zu werten sind oder ob es sich umgekehrt verhält; in seinen Vorlesungen tauchen allerdings auch Themengebiete auf, die in den gedruckten Texten nicht oder nicht in zureichendem Umfang behandelt worden und insofern näher zu beleuchten sind.632 Eine erschöpfende Darlegung dieser zuvor unzureichend beleuchteten Stellen erweist sich für die Erkenntnis, gerade für diejenige von Studenten, die eine exzerpierende und interpretierende Darstellung einer Schrift erst noch lernen müssen, als überaus gewichtig.633 »Indem [Reinhold] dem Text Kants folgt und ihn kommentiert, ist er sozusagen gezwungen, die in der ersten Kritik voneinander getrennten Momente als Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen zu behandeln.«634 Etwaige Veränderungen innerhalb der Semantik treten eher in den gedruckten Werken Reinholds auf, dadurch sich seine Lehrtätigkeit als widerstandsfähig gegenüber diesen Verschiebungen erweist, welche sich von 1789 bis zur Beendigung seiner Arbeit als Dozent in Jena aufgetan haben.635 Folglich wird es darum zu tun sein, aufzuzeigen, welche Aussagen die Vorlesungsnachschriften bereithalten und wie diese jeweils zu interpretieren sind. Dabei soll in Hinblick auf die Leitfrage der vorliegenden Arbeit besonderes Augenmerk auf den Nachschriften von Kalmann zur Darstellung der Kritik der reinen Vernunft liegen. Daran kann am besten bemessen werden, wie sich die Philosophie Reinholds zu der Kantischen 631 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, X. 632 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, X f. 633 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, XI. 634 Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnaschschriften, 2015, XI. 635 Vgl. Bondeli, Einleitung zu den Vorlesungsnachschriften, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, XI. 177

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verhält, um schließlich sagen zu können, ob sie letztere tatsächlich zu verbessern imstande ist und wie dies zu Tage tritt. 5.2 Erörterung und Interpretation zu den Nachschriften »Logik und Metaphysik« Die von Fabbianelli und Fuchs herausgegebenen Vorlesungsnachschriften zur Logik und zur Metaphysik sollen als ein Konglomerat von Argumenten hinsichtlich dieser beiden Themenbereiche angesehen werden und insofern gemeinschaftlich in einem Abschnitt behandelt werden. Neben der inhaltlichen Exzerption soll es vor allem darum zu tun sein, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Kantischen Philosophie, insbesondere zur Kritik der reinen Vernunft aufzuzeigen. Johann Smidt teilt seine Nachschriften zur Logik in mehrere Teile, die wiederum in mannigfaltige Paragraphen zerfallen. Diese Abschnitte rekurrieren zunächst auf die »Prolegomenen«636 (§§ 1–54) zur Logik wie auch auf die »Vernunft«637 (§§ 55–68). Sodann folgt eine »Einleitung in die Logik«638 (§§ 69–72), auf die »[d]er Logik Capitel«639 folgt (§§ 73–241). Dieses weist mehrere kleinere Abschnitte auf, die bei der inhaltlichen Erarbeitung noch erläutert werden. Die Nachschriften zur Metaphysik zerfallen ebenfalls in mehrere Teile. Nach einer kurzen Erläuterung in Smidts Nachschrift, wodurch Metaphysik charakterisiert ist und wie sie sich zur Logik im Allgemeinen verhält640, schließt sich zunächst eine »Einleitung«641 (§§ 1–3) in die Metaphysik an, sodann Erläuterungen zur »Metaphysik der sinnlichen Natur«642 (§§ 4–[73]), worauf dann der »Übergang zur höheren Metaphysik«643 (§§ 42–[52]) und die »Auflösung des Problems der höheren

636 Smidt, Logik, 1, 1. Bezüglich hiesiger Zitatweise sei darauf hingewiesen, dass jeweils lediglich die Vorlesungsnachschrift, ihr Nachschreiber sowie die Textstelle und Seitenangabe zitiert werden, nicht aber, dass diese Zitate aus den Vorlesungsnachschriften stammen, da dies selbstredend ist. 637 Smidt, Logik, 11v, 22. 638 Smidt, Logik, 17v, 35. 639 Smidt, Logik, 18v, 37. 640 Vgl. Smidt, Metaphysik, 1 ff., 129. 641 Smidt, Metaphysik, 2v, 130. 642 Smidt, Metaphysik, 3v, 132. 643 Smidt, Metaphysik, 23v, 167. 178

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Metaphysik«644 (§§ [53]–[67]) besprochen werden. Darauf folgt ein umfassender » Theil der höheren Metaphysik«645 (§§ [74]–[105]), der wiederum in mehrere Zwischenabschnitte zerfällt, welche ebenfalls bei der inhaltlichen Erörterung des Textes näher beleuchtet werden. Begonnen werden soll nun mit Gedanken und Schlussfolgerungen zur Logik. Innerhalb seiner anfänglichen Prolegomenen gibt Reinhold zunächst kund, dass jede Erkenntnis, welche der Vernunft entspringt, »nur durch Philosophie möglich«646 sei, was ihn dazu veranlasst, die Philosophie auf ihre notwendige Grundvoraussetzung zurückzuführen, nämlich den Satz des Bewusstseins.647 Seine wichtigste Bestrebung besteht schließlich auch darin, der Philosophie ein festes Fundament zu verschaffen und auf einem allgemeingültigen wie allgemeingeltenden Prinzip zu begründen. Um überhaupt Philosophie betreiben zu können oder von einer solchen sprechen zu dürfen, bedürfe es also dieses Satzes, der, wie Reinhold aussagt, einen bestimmten Begriff von Vorstellung möglich mache, der wiederum einen Begriff des Vorstellungsvermögens selbst ermögliche.648 Dieser nun bedinge einen bestimmten Begriff von Vernunft, welcher schlussendlich zur Möglichkeit der Philosophie überhaupt hinreichend sei.649 Um dieses Argument zu untermauern, gibt Reinhold Definitionen seiner wichtigsten und häufig verwendeten Begriffe und zeigt auf, was beispielsweise unter einer Vorstellung (a priori bzw. a posteriori) oder dem Vorstellungsvermögen zu verstehen ist. Früh geht er zudem auf den bestimmten Unterschied zwischen einem vorgestellten Ding und einem Ding an sich ein, der bei Kant durch mangelnde Ausführungen zu großen Unruhen geführt habe, die bis heute in der Literatur Bestand hätten: »Das Ding heißt ein Vorgestelltes, in wieferne die Vorstellung darauf bezogen wird. Es heißt Ding an sich, in wieferne die Vorstellung nicht darauf bezogen, sondern davon unterschieden wird.«650 Ein Ding an sich müsse 644 Smidt, Metaphysik, 30v, 177. 645 Smidt, Metaphysik, 45r, 199. 646 Smidt, Logik, 2r, 1. 647 Man rufe sich den Satz des Bewusstseins ins Gedächtnis. Innerhalb der Vorlesungsnachschriften ist der Wortlaut wie folgt gewählt: »Im Bewußtsein wird die Vorstellung vom Object und Subject unterschieden, und auf beyde bezogen.« (Smidt, Logik, 2v, 2) 648 Vgl. Smidt, Logik, 2r f., 1 f. 649 Vgl. Smidt, Logik, 2r f., 1 f. 650 Smidt, Logik, 3r, 3. 179

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demnach von der Vorstellung differenzierbar sein, dürfe weder vorgestellt werden noch sich vorstellen lassen. Kant unterscheidet lediglich zwischen Erscheinungen, welche den Vorstellungen bei Reinhold korrespondieren und Dingen an sich, von denen man keinen Begriff zu haben vermag.651 Für ihn ist das Ding an sich zwar unerkennbar, nicht aber undenkbar.652 Dieses Thema wird an späterer Stelle noch von zentraler Bedeutung sein. Von Beginn an können umfassende Parallelen zur Kantischen Philosophie wahrgenommen werden, insofern Reinhold das Vorstellungsvermögen ganz im Sinne seines Lehrmeisters in die Bestandteile Receptivität (Empfangen des Stoffes bzw. der Materie einer Vorstellung) und Spontaneität (Hervorbringen von Einheit am gegebenen Stoff einer Vorstellung) unterscheidet.653 Um sich eines Gegenstandes bewusst zu werden, sind gemäß Reinhold überdies zwei Vorstellungen nötig, nämlich Anschauung und Begriff, wobei erstere dem letzteren vorausgeht und diesen möglich macht.654 Des Weiteren grenzt Reinhold den Begriff der Sinnlichkeit von demjenigen der sinnlichen Anschauung ab, wobei ersterer im »Vermögen durch Eindrücke zu Vorstellungen zu gelangen«655 besteht, letzterer dagegen als eine Vorstellung zu charakterisieren ist, die erst durch von außen gegebene Materie (a posteriori) zu entstehen vermag.656 Diese Aussagen klingen ähnlich wie der Beginn der Transzendentalen Ästhetik der KrV: »Die Fähigkeit, (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.«657 651 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 273/B 329, 222. 652 Vgl. Kant, KrV, 1968, B XXVI f., 16 f. 653 Vgl. Smidt, Logik, 4r, 5. 654 Vgl. Smidt, Logik, 5r, 7. 655 Smidt, Logik, 6r, 10. 656 Vgl. Smidt, Logik, 6r, 10. 657 Kant, KrV, 1968, A 19/B 33, 49. 180

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Die Gedanken dieser und der folgenden Passagen übernimmt Reinhold inhaltlich nahezu sämtlich zu Beginn seiner Vorlesung, was davon zeugt, dass die Transzendentale Ästhetik Kants ihm als Einleitung in die Logik diente. Ferner wird bekundet, dass die sinnliche Rezeptivität zwei Vermögen aufzuweisen habe: Dasjenige Vermögen, von außen durch etwas affiziert zu werden (äußerer Sinn) sowie dasjenige, von innen affiziert zu werden (innerer Sinn).658 Raum und Zeit seien infolgedessen als Formen äußerer und innerer Anschauung a priori zu verstehen, sofern unter dem Raum die »Einheit des ausser einander befindlichen Mannigfaltigen«659 und unter der Zeit die »Einheit des nacheinander befindlichen Mannigfaltigen«660 begriffen werde. Reinhold führt aus, dass diese Äußerung zu Raum und Zeit eine der neuartigsten und essentiellsten Entdeckungen Kants gewesen sei, dieser Gedanke allerdings innerhalb der KrV noch nicht derart ausgearbeitet wurde, dass er auch für alle verständlich sei.661 In Raum und Zeit, die als ausgedehnt bzw. nacheinander betrachtet werden, seien, wie Kant bereits aussage, lediglich solche Objekte erkennbar, die ihrerseits ausgedehnt seien bzw. sich verändern könnten, dadurch eine Erkenntnis Gottes oder der menschlichen Seele durch sinnliche Anschauung nicht möglich sei.662 Zur Erkenntnis gehören für Reinhold ebenso wie für Kant Anschauung (durch Sinnlichkeit) und Begriff (durch Verstand); um etwa Gott denken, wenn auch nicht erkennen zu können, bedürfe es allerdings der Vernunft.663 Daraufhin nimmt Reinhold eine Dreiteilung vor, um den Begriff des Dinges an sich gänzlich von demjenigen des Noumenons (νοούμενον) zu unterscheiden, was zuvor oft verwechselt worden sei: Zunächst gebe es das Phaenomenon (φαινóμενον), welches als Erscheinung zu charakterisieren sei und insofern der sinnlichen Erkenntnis entspringe, sodann folge das Noumenon, das als Vernunftwesen bezeichnet bzw. durch Vernunft vorgestellt werde, sowie zuletzt das Ding an sich, das als etwas überhaupt nicht Vorstellbares davon abzugrenzen sei.664 »Raum und Zeit sind also 658 Vgl. Smidt, Logik, 6r, 10. 659 Smidt, Logik, 6v, 11. 660 Smidt, Logik, 6v, 11. 661 Vgl. Smidt, Logik, 6v, 11. 662 Vgl. Smidt, Logik, 8r, 17 f. 663 Vgl. Smidt, Logik, 8r, 17 f. 664 Vgl. Smidt, Logik, 8v, 19. 181

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

die Gränzen der Erkennbarkeit für uns, aber keineswegs die Gränzen desjenigen, was durch Vernunft denkbar ist, noch weniger aber der Dinge an sich […].«665Reinhold gibt also unmissverständliche Differenzierungen zwischen einem Noumenon und einem Ding an sich preis, um nicht denselben Fehler wie Kant zu machen. Zwar differenziert auch letzterer die beiden voneinander, jedoch nicht mit ebendieser Genauigkeit. Der Verstand sei gemäß Reinhold ausschlaggebend für die Logik sowie die Vernunft zur Metaphysik gehöre.666 Daher werde es innerhalb der Vorlesung zur Logik vor allem um den Verstand sowie innerhalb der Vorlesung zur Metaphysik vornehmlich um die Vernunft zu tun sein. Zur Erkenntnis selbst seien nun Anschauung und Begriff notwendig, wobei jeder Begriff immer durch zwei Vorstellungen generiert sei, nämlich die »Vorstellung des Merkmals und [die] Vorstellung des Gegenstandes, worauf sich das Merkmal bezieht. Zwey Vorstellungen auf Einheit bringen heißt urteilen. Jeder Begriff entsteht in soferne durch eine Handlung, die Urtheil heißt […].«667 Für Reinhold wie auch für Kant existieren zwei Arten von Urteil, nämlich das analytische und das synthetische: »Die Handlung, durch welche die Verknüpfung zwey[er] Vorstellungen zuerst geschieht[,] heißt ein synthetisches Urtheil. Wenn diese Verknüpfung aber einmal in unserem Gemüth geschehen ist, und wir uns ihrer hernach bewußt werden[,] so heißt sie ein analytisches Urtheil. Kant nennt die analytischen Urtheile erläuternde Urtheile, und das synthetische Urtheil ein erweiterndes Urteil.«668 Innerhalb der sich anschließenden Passage zur Vernunft bemerkt Reinhold, dass diese als höchstes Vermögen des menschlichen Gemütes ihre Materie nicht durch Eindrücke oder sinnliche Vorstellung, sondern durch Begriffe erlange; das Zusammenfassen der Begriffe nennt Reinhold sodann Idee. – Die Handlungsweise der Vernunft, Ideen hervorzubringen, wird als Vernunftschluss betitelt.669 Die KrV begründe den korrespondierenden Begriff der transzendentalen Idee, die als Begriff 665 Smidt, Logik, 8v, 20. 666 Vgl. Smidt, Logik, 8v, 20. 667 Smidt, Logik, 11r, 21. 668 Smidt, Logik, 11v, 22. 669 Vgl. Smidt, Logik, 11v f., 22 f. 182

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

der reinen und damit von aller Empirie unterschiedenen Vernunft zu verstehen sei.670 Eine Erkenntnis könne gemäß Reinhold in Bezug auf den Stoff bzw. die Materie und hinsichtlich der Form eingeteilt werden; eine Erkenntnis a priori bezüglich des Stoffes sei derart, dass sie nur in demjenigen bestehen könne, was im Vorstellungsvermögen eines jeden Menschen liege; hinsichtlich der Form könne eine Erkenntnis entweder intuitiv, also unmittelbar auf Anschauung bezogen und damit a posteriori gegeben, oder aber diskursiv sein, was bedeute, dass ein Begriff auf den nächsten sowie lediglich der letzte auf Anschauung bezogen werde und damit als a priori zu bezeichnen sei bzw. das Vermögen, Begriffe zu verbinden.671 Daraufhin unterscheidet Reinhold die philosophische Erkenntnis, um die es in der Vorlesung gehen soll, von der gemeinen, der historischen und der mathematischen Erkenntnis, was allerdings an dieser Stelle nicht näher zu erläutern ist.672 Im Folgenden kommt Reinhold wieder auf den Begriff des Grundsatzes zurück, wodurch die Notwendigkeit etwaiger Folgesätze bestimmt werde; der erste Grundsatz des Bewusstseins, demnach der Satz des Bewusstseins, fördere den Begriff der Vorstellung, wie auch der Satz des Widerspruchs den ersten Grundsatz der Logik ausdrücke.673 Eine Wissenschaft nun müsse aus Grundsätzen bestehen, die zusammengenommen ein Ganzes ausmachen; es handele sich überdies um eine reine Wissenschaft, wenn das Subjekt und das Prädikat des Grundsatzes nur durch Vorstellung vorgestellt werden können.674 »So ist die Logik eine Wissenschaft[,] in wiefern sie nur bloße Wissenschaft der Gesetze des Denkens ist. […] Auch Metaphysik ist eine Wissenschaft[,] denn sie ist nothwendige Vorstellung aller nothwendigen und allgemeinen Merkmale.«675 Die Philosophie dagegen sei die »Wissenschaft des nothwendigen und allgemeinen Zusammenhangs der vorstellbaren Dinge überhaupt«676, wodurch sie als Wissenschaft gesehen dasjenige darstelle, was im Vorstellungsvermögen gegründet sei. Sie zerfällt wiederum in einzelne Teile. Zunächst 670 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 321 f./B 377 f., 250. 671 Vgl. Smidt, Logik, 12v f., 24 f. 672 Vgl. Smidt, Logik, 13r ff., 25 ff. 673 Vgl. Smidt, Logik, 14r f., 28. 674 Vgl. Smidt, Logik, 14r, 29. 675 Smidt, Logik, 14r, 29. 676 Smidt, Logik, 15v, 31. 183

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könne Philosophie empirisch oder rein sein; wenn sie rein sei, sei sie als ursprüngliche (z. B. Elementarphilosophie) oder als abgeleitete möglich; sei sie abgeleitet, könne sie theoretisch (bezieht sich auf Erkennen bzw. Verstand) oder praktisch (bezieht sich auf Begehren bzw. den Willen) veranlagt sein; die theoretische Philosophie zerfalle zuletzt in die materiale und die formale Philosophie, von denen erstere die Logik, letztere die Metaphysik unter sich begreife.677 Logik sei unter diesen Umständen als die Wissenschaft dessen zu charakterisieren, »was sich aus dem Vorstellungsvermögen in Rücksicht auf das bloße Denken«678 aussagen lasse, die Metaphysik dagegen sei die »Wissenschaft der in dem Vorstellungsvermögen bestimmten nothwendigen und allgemeinen Merkmale der vorgestellten Objekte.«679 Es ist ersichtlich, dass Reinhold vom Begriff der Philosophie als Überbegriff auf Logik und Metaphysik schließt, um ein Fundament für seine beiden Vorlesungen zu geben und diese zusammengenommen als Konglomerat bzw. als gemeinschaftliches Tätigkeitsfeld aufzufassen. Bereits an dieser Stelle kann festgestellt werden, dass die Prolegomenen wie auch der Abschnitt zur Vernunft als Einleitung in die Logikvorlesung Reinholds dienlich sind, da diese Passagen mit den Ausführungen zur Transzendentalen Ästhetik der KrV konform gehen, wenngleich auch manche Gedanken Kants umformuliert oder ergänzt werden. Diese Passagen teilen zudem bereits umfassend mit, womit die Logik, welche einen deutlichen Bezug zur Kantischen KrV aufzuweisen vermag, sich beschäftigt und was in ihr enthalten zu sein hat, um diese Wissenschaft in Gänze abzubilden. Im nächsten Abschnitt wird eine kurze Einleitung in die Logik gegeben, bevor das erste Kapitel derselben behandelt wird. Zu bemerken ist hierbei, dass kein zweites vorliegt, was darauf schließen lässt, dass inhaltlich hier lediglich die sogenannte erste Abteilung der transzendentalen Logik Kants miteinbezogen wird, in welcher die Transzendentale Analytik abgehandelt wird. Die Logikvorlesung Reinholds entspricht nämlich zu großen Teilen den Äußerungen der Analytik der Begriffe innerhalb der Transzendentalen Analytik aus der KrV, dadurch die Transzendentale Logik nun sozusagen zu einer Logik überhaupt erhoben wird, die in 677 Vgl. Smidt, Logik, 16r ff., 32 ff. 678 Smidt, Logik, 17r, 34. 679 Smidt, Logik, 17r, 34. 184

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

der vorliegenden Vorlesung Geltung findet. Insofern soll die Vorlesung vor allem, jedoch nicht ausschließlich in Hinblick auf die Analytik der Begriffe interpretiert werden, um feststellen zu können, inwiefern Reinhold etwaige Gedanken übernimmt oder abändert. Die genannte Einleitung zur Logik nun sagt aus, dass diese rein oder angewendet sein könne, sofern sie entweder die Regeln des Denkens selbst kundgebe oder auf Erfahrung zurückgreife.680 Die reine Logik wiederum sei in die allgemeine und die besondere zu unterteilen – allgemein, insofern sie die Regeln des Denkens ohne Bezug auf Gegenstände des Denkens konstruiere und besonders, insofern sie diese Regeln auf bestimmte Gegenstände beziehe.681 Der Metaphysik könne lediglich die allgemeine Logik vorausgehen, da die besondere Logik immer schon Metaphysik voraussetzen müsse, sofern sie die »allgemeine Wissenschaft aller Objecte ist«.682 Innerhalb des ersten Kapitels zur Logik wird zunächst wiederholt, dass jede Wissenschaft einen ersten Grundsatz aufzuweisen habe; da die oberste Bedingung des Denkens darin gelegen sei, dass die Gegenstände desselben sich verbinden lassen bzw. sich nicht widersprechen dürfen, sei der oberste Grundsatz der Logik im Satz des Widerspruchs zu verorten.683 Logische Wahrheit komme einem Objekt darüber hinaus eben dann zu, wenn es sich auch gemäß dem Satze des Widerspruchs denken lasse, sowie ihm reelle Wahrheit zugeschrieben werde, wenn dasjenige, woran man denkt, auch außerhalb der Gedanken etwas Reales sei.684 Der Satz des Widerspruchs allein könne als Gesetz des Denkens fungieren – als Unterfangen der Vernunft treten überdies der logische Begriff (Verknüpfung von Vorstellungen), das logische Urteil (Bewusstsein der Verknüpfungen von Begriffen) und der logische Vernunftschluss (Einsehen des Grundes für etwaige Verknüpfungen) hinzu.685 Der logische Begriff, welcher zu diesen drei »logischen Operationen der Denkkraft«686 gehört, korrespondiert mit der Analytik der Begriffe, welche das erste Buch der Transzendentalen Analytik umfasst. Im Grunde genommen kann nahe680 Vgl. Smidt, Logik, 17v, 35. 681 Vgl. Smidt, Logik, 17v, 36. 682 Smidt, Logik, 17v, 36. 683 Vgl. Smidt, Logik, 18v f., 37 ff. 684 Vgl. Smidt, Logik, 19r, 39. 685 Vgl. Smidt, Logik, 20r, 41. 686 Smidt, Logik, 20r, 42. 185

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zu die gesamte Logikvorlesung Reinholds (bis auf wenige Ausnahmen, welche sich auf andere Textstellen innerhalb der KrV beziehen), die von Begriffen der Vernunft als unter logischen Gesetzen stehend handelt, auf die Analytik der Begriffe aus der KrV bezogen und insofern damit verglichen werden. »Diejenige Vorstellung […], die durch Verknüpfung schon vorhandener Begriffe erzeugt wird, heißt Vernunftbegriff und ist allein das Object der logischen Regeln, während die Verstandesbegriffe unter den Naturgesetzen des Verstandes stehen, die nie übertreten werden können.«687 Diese Begriffe der Vernunft können auf vier verschiedene Weisen betrachtet werden – hinsichtlich ihrer Quantität, Qualität, Relation und Modalität688, was eine deutliche Gemeinsamkeit zu den Kantischen Kategorien aufzeigen lässt, die allerdings als reine Verstandesbegriffe und nicht, wie Reinhold kundgibt, als Äußerungen zu den Vernunftbegriffen verstanden werden. Die Kategorien als solche gereichen nämlich zu den Bedingungen aller sinnlicher Anschauung, dadurch sich jede Empfindung einordnen lassen solle, wohingegen die Begriffe Reinholds deshalb der Vernunft entspringen, weil der Verstand lediglich die sinnlichen Vorstellungen verbinde.689 Für Reinhold ist allein die Vernunft im Stande, tatsächlich Begriffe zu generieren, für Kant ist es der Verstand, welcher etwaige Erscheinungen unter die Kategorien bringt und damit in einem Zusammenhang ordnet. Insofern kann ausgesagt werden, dass beide Denker an dieser Stelle zwar auf etwas Ähnliches hinauswollen, hierfür aber einen anderen Weg einschlagen. Reinhold setzt den Verstandesbegriff gewissermaßen herab und wendet dafür den Vernunftbegriff im Folgenden auf die oben genannten, vier Arten und Weisen an, ohne an dieser Stelle selbst den Begriff der Kategorien zu verwenden. Die Quantität beziehe sich nun, wie Reinhold sagt, auf »die Vielheit der Begriffe[,] die darin enthalten sind«690, was jedoch insofern von Kant abweicht, als beispielsweise das Urteil, dass eine Rose rot sei, sich eben nicht auf den Begriff »Rose«, sondern auf den Gegenstand »Rose«, den man vor sich sieht, bezieht. Im Begriff »Rose« liegt nicht, dass sie rot 687 Smidt, Logik, 20v, 43. 688 Vgl. Smidt, Logik, 21r, 43. 689 Vgl. Smidt, Logik, 20v, 42 f. sowie Kant, KrV, 1968, B 143, 115. 690 Smidt, Logik, 21r, 44. 186

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

sei, da es durchaus auch Rosen von anderer Farbe gibt – dieser Begriff kann insofern keine Farbe enthalten. Lediglich der Gegenstand »Rose« ist rot. Die Quantität beschäftige sich gemäß Reinhold mit der Frage, wie viele Vorstellungen im Begriff oder unter diesem liegen, was letztlich den Inhalt oder den Umfang eines Begriffes ausmache.691 Innerhalb der KrV ist die Quantität allerdings derart begriffen, dass sie sich auf Einheit, Vielheit und Allheit bezieht, wobei letztere als Zusammenschluss der beiden ersten betrachtet wird.692 Reinhold übernimmt hier zunächst weder das gesamte System der Kategorien noch die jeweilige Dreiteilung innerhalb einer Kategorie, sondern nur das Grundgerüst dieser Ausführungen, weil er gerade nicht den Anspruch hat, etwaige Begriffe, die aus Empfindungen abgeleitet sind, abzubilden, und dadurch alle sinnliche Anschauung zu kategorisieren, sondern die Begriffe der Vernunft, welche keiner Anschauung korrespondierend sind, auf Logik zu beziehen, um ein vollständiges System derselben zu erlangen. Wenn an etwas späterer Stelle die Urteile zu erörtern sind, wird sich noch aufzeigen lassen, dass Reinhold doch mehr aus der Analytik der Begriffe übernimmt, als es bereits bei der hiesigen Stelle zu den Begriffen der Fall ist. Die logische Qualität liege in der Vollkommenheit, welche einem Begriff durch bloßes Denken bzw. den Gebrauch der Vernunft zuteilwerde und bestehe »in dem Bewußtsein desjenigen, was durch einen Begriff gedacht wird.«693 Die Kantische Kategorie der Qualität wiederum umfasst die Merkmale der Realität, Negation und Limitation; zudem wird ausgesagt, dass die Merkmale von Realität vermehrt würden, wenn wahre Folgen aus einem gegebenen Begriff hervorgingen.694 Diese beiden Ansichten sind insofern zusammenzubringen, als Reinhold die Vollkommenheit und Unvollkommenheit eines Begriffes annimmt. Die Vollkommenheit ist demgemäß als etwas zu charakterisieren, das nur wahre Folgen aus einem Begriff erzeugt und dadurch für unser Bewusstsein gänzlich real wird sowie die Unvollkommenheit mit der Kantischen Negation gleichzusetzen ist. Die logische Relation bzw. das Verhältnis der Begriffe nimmt noch einmal Bezug zur soeben angesprochenen Vollkommenheit und gibt zu 691 Vgl. Smidt, Logik, 21r, 44. 692 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 80/B 106, 93. 693 Smidt, Logik, 26v, 51. 694 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 80/B 106, 93 sowie B 114, 98. 187

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erkennen, dass diese nicht ausschließlich von der Vollkommenheit einzelner Begriffe, sondern auch vom Zusammenhang derselben abhänge.695 »Logische Verhältniße heißen diejenigen Bestimmungen in einem Begriffe[,] die sich in demselben nicht ohne einen anderen Begriff denken lassen, und welche folglich nur durch die Vergleichung mehrerer Begriffe im Bewußtseyn vorkommen können.«696 Die Kantische Kategorie der Relation umfasst die Inhärenz (und Subsistenz), die Kausalität (und Dependenz) sowie die Gemeinschaft.697 Diese ist insofern mit der logischen Relation Reinholds zu vereinen, als in beiden Fällen von einer Verknüpfung bzw. einem Verhältnis ausgegangen wird, das durch einen Vergleich zustande kommt. Die Kausalität beispielsweise erörtert stets die Ursache zu einer Wirkung, welche in einem Verhältnis zueinanderstehen und zur gänzlichen Erfassung verglichen werden. Hinsichtlich eines logischen Verhältnisses spricht auch Reinhold davon, dass mehrere Begriffe im Bewusstsein gegenübergestellt werden müssen, um ebendieses Verhältnis bestimmen zu können. Überdies wird gezielt auf die Kausalität rekurriert: »Zu den Verhältnißen[,] worin Begriffe mit einander stehen[,] gehört noch das Verhältniß von Grund und Folge, in wiefern das in einem Begriff Vorgestellte als der Grund von anderen Merkmalen desselben Begriffs gedacht wird.«698 Zuletzt wird die logische Modalität der Begriffe näher beschrieben, welche im Verhältnis eines Begriffes zum Verstand beständig sei; hinsichtlich des Vermögens, Vorstellungen zu verbinden, könne sich ein Begriff nun als möglich oder notwendig erweisen, wobei die Modalität des Begriffs im Verhältnis dieses Begriffes zum Denkvermögen bestehe.699 Die Kantische Modalität als Kategorie betrachtet, spricht ebenfalls von der Möglichkeit im Gegensatz zur Unmöglichkeit, von der Notwendigkeit im Vergleich zur Zufälligkeit sowie darüber hinaus vom Dasein, welches dem Nichtsein gegenüberzustellen ist.700 Allein durch diese Ausführungen wird ersichtlich, dass Reinhold hinsichtlich seiner logischen Modalität einige Gedanken von Kant übernommen hat, um diese zu erläutern. Modalität im Allgemeinen hat immer etwas mit der Art und 695 Vgl. Smidt, Logik, 28r, 55. 696 Smidt, Logik, 28r, 55. 697 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 80/B 106, 93. 698 Smidt, Logik, 29v, 57. 699 Vgl. Smidt, Logik, 31r f., 60 f. 700 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 80/B 106, 93. 188

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Weise bzw. mit dem Modus zu tun, wie etwas vonstattengeht; bei Kant sodann, wie etwas beurteilt wird, – ob als möglich, wirklich oder notwendig – und bezieht sich auf die Art und Weise der Kategorisierung von sinnlicher Anschauung durch den Verstand, bei Reinhold dagegen darauf, Begriffe, die lediglich von der Vernunft generiert werden können, als möglich oder notwendig anzusehen, um letztlich eine »Verknüpfung aus der Einrichtung des Denkvermögens«701 zu schaffen. Des Weiteren behauptet Reinhold, dass es sich bei jeglicher Generierung von Begriffen um Verbindungen handele, die unterschiedlichen Verknüpfungsarten zuzuordnen seien, nämlich der »Reflexion, Abstraction, Combination und Determination«702, wobei selbst der allgemeinste Begriff reflektiert und abstrahiert, dagegen bei jedem Urteil abstrahiert werden müsse.703 Innerhalb der sich anschließenden Abschnitte kommt Reinhold nun auf Urteile und Vernunftschlüsse zu sprechen, was nun – wie zuvor bereits angedeutet – ebenfalls und in einem größeren Umfang der Kantischen Analytik der Begriffe korrespondiert und insofern hinsichtlich derselben zu erörtern sein wird. »Alle Operationen der Vernunft bey der Erzeugung der Begriffe bestehen im bloßen Verbinden[,] und zwar im Verbinden alles dessen[,] was sich verbinden läßt. Die Vernunft verknüpft alle unsere Vorstellungen ohne andere [Grenzen] als den Widerspruch. Dadurch kömmt durch die Vernunft in unsere Erkenntniß durchgängiger Zusammenhang, systematische Einheit, und diese wird durch die logischen Operationen bey Erzeugung der Begriffe hervorgebracht. […] Unter einem Urtheil versteht man das Bestimmen des Verhältnißes zweyer Vorstellungen zur objectiven Einheit.«704 Lediglich durch das Erlangen von Einheit und Verknüpfung von Merkmalen können Urteile zustande kommen; bei einem solchen werden zwei Vorstellungen, nämlich Subjekt und Prädikat in einem Objekt verbunden, dadurch objektive Einheit gewährleistet wird.705 Reinhold unterscheidet sodann nochmals das synthetische Urteil von dem analytischen, 701 Smidt, Logik, 31v, 61. 702 Smidt, Logik, 32r, 62. 703 Vgl. Smidt, Logik, 32r f., 62. 704 Smidt, Logik, 33v, 64 f. 705 Vgl. Smidt, Logik, 34r, 65. 189

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welches er auch als logisches Urteil bezeichnet; letzteres bestehe nämlich lediglich darin, dass ein bereits bestimmtes Verhältnis im Bewusstsein gelegen sei.706 Reinhold geht – genauso wie Kant – von zwölf Formen der Urteile aus, die aus vier verschiedenen Gesichtspunkten bzw. Momenten beleuchtet werden können, nämlich hinsichtlich ihrer Quantität, Qualität, Relation und Modalität; innerhalb jedes Momentes sind wiederum jeweils drei Formen möglich, was insgesamt betrachtet den Kantischen Tafeln der Urteile und Kategorien entspricht.707 Diese Formen der Urteile seien für die Logik lediglich im Verstand gegründet708, woraus ersichtlich wird, dass Reinhold den Gedankengang Kants aus der Analytik der Begriffe der KrV nahezu gänzlich übernimmt. Dass es sich um genau zwölf Formen und vier Abteilungen handelt, lässt sich laut Reinhold »aus der Natur des Verstandes erklären: aus der Einheit und aus dem Mannigfaltigen.«709 Die Momente der Quantität und Qualität werden von der Materie hergeleitet, diejenigen der Relation und Modalität von der Form.710 »Die Quantität des Urtheils […] besteht aus dem bestimmten Verhältniße des Subjectes zum Prädicate[.] […] Das Subject kann sich zu seinem Prädicate verhalten entweder wie Einheit, oder wie Vielheit, oder wie Allheit […]. […] [D]ie Qualität […] besteht aus dem bestimmten Verhältniße des Prädicats zum Subjecte, welches sich zu demselben wie Einheit oder wie Vielheit oder wie Einheit und Vielheit zugleich verhalten kann. […] Die Relation besteht in nichts anderem als in dem bestimmten Verhältniß des Subjects und Prädicats überhaupt zu ihrer Verbindung. Es ist hier die Rede vom Verhältniß, das durch die Verbindung zwischen beyden entstanden ist. […] Die Modalität besteht in dem Verhältniß der Form [Verbindens] des Urtheils zum Bewußtseyn [Verbindenden]. […] Aus diesen Formen der Urtheile entspringen [die] Formen der Begriffe.«711

706 Vgl. Smidt, Logik, 34v, 66. 707 Vgl. Smidt, Logik, 35r, 67. 708 Vgl. Smidt, Logik, 35v, 68. 709 Smidt, Logik, 35v, 68. 710 Vgl. Smidt, Logik, 39v, 71. 711 Smidt, Logik, 36r ff., 69 ff. 190

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Es wird also deutlich, dass Reinhold von den Formen der Urteile auf die Verstandes-Begriffe schließt, wodurch ein Übergang von der Tafel der Urteile zur Tafel der Kategorien möglich wird, welche Kant innerhalb der KrV aufgestellt hat. Reinhold übernimmt hier sogar den Begriff der Kategorien, welche die Formen der Begriffe darzustellen vermögen und aus den Formen der synthetischen Urteile (Tafel der Urteile) hergeleitet werden.712 Denn einen Begriff erzeugen und synthetisch urteilen, komme auf dasselbe hinaus; ein synthetisches Urteil bestehe darin, dass ein Begriff durch die Verbindung von zwei Vorstellungen erzeugt werde.713 Eine umfangreiche, eigene Tafel, die den Kantischen nahezu entspricht, wird sodann von Reinhold aufgestellt. Diese unterscheidet sich von denen Kants nur darin, dass die Anordnung sich an manchen Stellen ändert, beispielsweise hinsichtlich der Quantität. Kant gibt auf der Tafel der Urteile zu erkennen, dass es allgemeine, besondere und einzelne Urteile gebe714, wohingegen Reinhold bekundet, dass einzelne, besondere oder partikuläre und allgemeine Urteile existieren715. Es ist insofern ersichtlich, dass inhaltlich keinerlei Abwandlung erfolgt, auch wenn sich die Anordnung per se ändert und die Kantischen Tafeln nicht bloß für die Transzendentalphilosophie, sondern eben auch für die Logik im Allgemeinen von großer Bedeutung sind. Des Weiteren wird ausgeführt, dass die Verbindung von Subjekt und Prädikat nicht unmittelbar durch den Begriff, sondern durch ein mittelbares Urteil vonstattengehe, welches Vernunftschluss genannt werde; ein solcher bestehe nun aus einer Regel bzw. einem Obersatz (z. B. Alle Menschen sind sterblich), einer Subsumtion bzw. einem Untersatz (z. B. Ich selbst bin Mensch) und einem Schlusssatz, der letztlich das Urteil formuliert (z. B. Also bin ich sterblich).716 Auch diese Erläuterungen erinnern stark an Kantische Formulierungen, insofern innerhalb der Transzendentalen Dialektik der KrV dargestellt wird, dass ein Vernunftschluss mit Begriffen und Urteilen zu tun hat und die »Vernunft in ihrem logischen Gebrauche die allgemeine Bedingung ihres Urtheils (des Schlußsatzes) [sucht], und der Vernunftschluß […] selbst nichts 712 713 714 715

Vgl. Smidt, Logik, 41v, 75. Vgl. Smidt, Logik, 42r, 76. Vgl. Kant, KrV, 1968, A 70/B 95, 87. Vgl. Smidt, Logik, 43r, 77. Auf dieser Seite befinden sich die Tafeln Reinholds, welche mit den Kantischen konform gehen. 716 Vgl. Smidt, Logik, 44r, 78 f. 191

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

andres als ein Urteil [ist], vermittelst der Subsumtion seiner Bedingung unter eine allgemeine Regel (Obersatz).«717 Folglich beschäftigt sich Reinhold mit den Grundregeln von Vernunftschlüssen, die allgemeinen Regeln der Logik entsprechen und daher an dieser Stelle nicht näher erläutert werden.718 In einem nächsten Schritt gibt Reinhold einige Informationen zu Erklärungen, die sich in Explikation, Exposition, Deklaration und Definition einteilen lassen; diese Unterscheidung trifft auch Kant innerhalb seiner Methodenlehre zur KrV, wodurch eine erneute Übernahme seiner Gedanken stattfindet.719 Sodann wendet sich Reinhold der Definition einiger essentieller, philosophischer Begriffe zu, die ebenfalls zur Logik gehören und überdies ähnlich wie in der Logikvorlesung innerhalb der Methodenlehre der KrV auftreten, nämlich die Begriffe Überzeugung, Meinung, Glauben und Wissen. »Überzeugung ist Bewußtseyn von der Nothwendigkeit eines Urtheils. […] Die Überzeugung ist entweder vollständig oder unvollständig. Die letztere ist mit der Vermuthung der Möglichkeit des Gegentheils verknüpft und heißt Meynung. […] Die vollständige Überzeugung ist entweder in der Erkenntniß ihres Objects gegründet, und heißt ein Wissen, oder außerhalb ihres Objects in bloß subjectiven Gründen und heißt ein Glauben. […] Der Ausspruch des gesunden Menschenverstandes heißt Vernunftglauben[,] wenn er in keiner anderen Anlage des menschlichen Geistes als in der Vernunft gegründet ist.«720

717 Kant, KrV, 1968, A 307/B 364, 242. 718 Dies umfasst die Textteile zu den besonderen Arten von Vernunftschlüssen sowie zu der äußeren Form von Vernunftschlüssen. 719 Vgl. Smidt, Logik, 54r, 93 sowie Kant, KrV, 1968, A 730/B 758, 479. 720 Smidt, Logik, 56r ff., 97 ff. 192

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Die Methodenlehre der KrV beinhaltet einen Abschnitt, den Kant »Vom Meinen, Wissen und Glauben« genannt hat; dieser definiert die oben genannten Begriffe, wobei eine deutliche Analogie zu den Ausführungen Reinholds auffällt, insofern eine Überzeugung die drei Stufen Meinen, Glauben und Wissen umfasst, von denen letztere sowohl als subjektiv als auch objektiv zureichende Überzeugung zu charakterisieren ist.721 Insofern ist auch in dieser Passage ein deutlicher Zusammenhang zwischen den beiden Denkern wahrzunehmen, wodurch die Kantische Philosophie erneut derart in die Logik einbezogen wird, dass sie zu einer Veranschaulichung derselben auf eine allgemeine Art und Weise gereicht. Dies ist angesichts der Tatsache, dass Kant eine Logik aufzustellen gedenkt, die als transzendental zu charakterisieren ist, nicht verwunderlich, wohl aber in Bezug auf die damals vorherrschende Meinung, dass das Kantische Hauptwerk als dunkel und undurchsichtig angesehen werden müsse. »Mit der Theorie der Überzeugung ist die Theorie der Beweise genau verbunden.«722 Deshalb geht Reinhold in einem weiteren Schritt den Beweisen nach, welcher sich auch Kant in Form von transzendentalen Beweisen annimmt. Innerhalb der Methodenlehre der KrV wird bezeichnet, welche Grundregeln für transzendentale Beweise Geltung haben – zunächst müsse rechtfertigend angegeben werden, welche Grundsätze jeweils dafür hinreichend seien; darüber hinaus werde festgestellt, dass jedem Satz lediglich ein Beweis zukommen könne, da dieser immer nur einen Gegenstand überhaupt gemäß seines Begriffes zu bestimmen in der Lage sei.723 Überdies bekundet Kant, dass ein Beweis stets ostensiv, d. h. aufzeigend bzw. hinführend zu sein habe, um Wahrheit vermitteln zu können.724 Reinhold definiert einen Beweis im Anklang an Kant folgendermaßen: »Beweisen in der [eigentlichen] Bedeutung des Worts heißt die Gründe der Nothwendigkeit eines Urtheils präcis und vollständig angeben.«725 Auch Kant beschreibt innerhalb der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die logische Form etwaiger Urteile als »die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen.«726 Beide Denker 721 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 822/B 850, 532 f. 722 Smidt, Logik, 63r, 109. 723 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 786/B 814 ff., 511 ff. 724 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 789/B 817, 513. 725 Smidt, Logik, 63r, 110. 726 Kant, KrV, 1968, B 140 f., 113. 193

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

bekunden insofern, dass alle Beweise sich als (logische) Urteile äußern müssen, die durch Grundsätze begründet werden; ein Unterschied besteht allerdings insofern, als Reinhold anführt, dass einem Beweis einer oder mehrere Grundsätze zukommen können727, was Kant – wie oben angeführt – vehement verneint hätte. Zuletzt kommt Reinhold auf den Skeptizismus zu sprechen, dessen sich auch Kant innerhalb der KrV annimmt. Da die Ausführungen der beiden Denker korrespondieren und vor allem Kritik am Skeptizismus geübt wird, soll in der vorliegenden Arbeit nicht näher darauf eingegangen werden. Im Großen und Ganzen kann man feststellen, dass Reinhold zwar das Kantische System dafür nutzt, die Logik, welche durch die KrV erst richtig aufgefasst wurde, in Gänze darstellen zu können, jedoch auch Abweichungen auftreten und nicht alle Ausführungen übernommen werden. Im Grunde greift Reinhold diejenigen Ansätze Kants, die er für revolutionär im Vergleich zur bisherigen Logik hält, heraus und passt sie insoweit an, als diese sein System der Logik vervollständigen. Er stellt also die Logik in ihrem Funktionieren dar, geht aber mit keinem Wort auf deren Begründung, wie sie Kant in der transzendentalen Deduktion zu liefern sucht, ein. Tatsächlich wird das Deduktionskapitel nicht einmal erwähnt, wodurch eine Phänomenologie, also eine Beschreibung des Bewusstseins, an die Hand gegeben, die Frage nach einer Begründung allerdings gänzlich außer Acht gelassen wird. Diese Begründungsfrage ist jedoch die eigentliche Frage Kants, auf die Reinhold in der Vorlesung gar nicht eingeht. Möglicherweise war ihm diese Frage für eine einführende Vorlesung zu schwierig.

727 Vgl. Smidt, Logik, 63r, 110. 194

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Im folgenden Abschnitt nun sollen etwaige Gedanken und Schlussfolgerungen zur Metaphysikvorlesung dargeboten werden, welche ebenfalls von Johann Smidt nachgeschrieben wurde. Hierbei sollen erneut Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Reinhold und Kant aufgezeigt werden, um deren Verhältnis in einem noch größeren Umfang zu beleuchten. Zunächst definiert Reinhold nun vor seiner eigentlichen Einleitung in die Metaphysik diese Wissenschaft selbst sowie ihr Verhältnis zur Logik: »Metaphysik ist die Wissenschaft der nothwendigen und allgemeinen Merkmale der reellen Objecte[.] Logik verhält sich zu Metaphysik wie die Wissenschaft der Regeln des Denkens zur Wissenschaft der Objecte des Denkens überhaupt[.] Reelle Objecte sind Objecte die ‹keine› Vorstellungen sind. Metaphysik ist das Fundament aller derjenigen Wissenschaften die sich mit reellen Gegenständen beschäftigen. Mit Recht nennt man die Metaphysik von jeher die Königin aller Wissenschaft […]. Wenn man sagt[,] die Metaphysik ist die Wissenschaft der reellen Objecte überhaupt, so kann man unter reellen Objecten etwas verstehen[,] das sich gar nicht einmal vorstellen läßt, die Dinge an sich – man kann aber auch die Dinge damit verstehen[,] inwiefern wir sie durch unsere Vernunft zu erkennen vermögen – diese Unterscheidung hat die Metaphysik der Critik der Vernunft zu verdanken – Sonst verstand man in der Wissenschaft die Dinge an sich darunter, und dann wußte man soviel wie nichts.«728 Hierdurch wird ersichtlich, dass auch innerhalb der Metaphysikvorlesung der Fokus Reinholds darauf liegt, die Kantische Philosophie in ein ihr, wie er es sieht, angemessenes Licht zu rücken. Bereits die Vorrede zur ersten Auflage der KrV bezeichnet die Metaphysik ebenfalls als Königin aller Wissenschaften729 sowie sie innerhalb der Vorrede zur zweiten Auflage als »Kampfplatz« charakterisiert wird, innerhalb dessen ihr bisheriges Verfahren geändert werden müsse, um Metaphysik überhaupt als Wissenschaft denken zu können.730

728 Smidt, Metaphysik, 2r, 129. 729 Vgl. Kant, KrV, 1968, AA IV, A VIII, 7. 730 Vgl. Kant, KrV, 1968, B XV ff., 11. 195

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Die Metaphysik nun bestehe aus derjenigen der sinnlichen Natur und derjenigen der übersinnlichen Natur, wobei erstere mit der Sinnlichkeit sowie dem Verstand und insofern mit erkennbaren und begreiflichen Objekten sowie letztere es lediglich mit durch Vernunft notwendig denkbaren Objekten (z. B. Seele oder Gott) zu tun habe, da diese weder von der Sinnlichkeit noch vom Verstand erkannt werden können.731 Im Anschluss an seine kurze Einführung wendet sich Reinhold nun zunächst der Metaphysik der sinnlichen Natur zu, welche vor den Ausführungen der KrV noch als Ontologie bezeichnet sowie deren Begriffe vor Kant falsch aufgefasst worden seien.732 Demnach wird Kant auch an dieser Stelle verteidigt und seine Leistung im Vergleich zu etwaigen Vorgängern herausgehoben. Die Dinge seien oft mit den Dingen an sich verwechselt worden733, was bedeutet, dass Kant mit der KrV bereits einen großen Schritt in die richtige Richtung gegangen ist und eine sinnvolle Abtrennung geschaffen hat, wenngleich bis heute eine Debatte um dieses Thema besteht. Es wird allerdings nicht darauf eingegangen, inwiefern Kant das Ding an sich vom Ding auf richtige Weise abgetrennt hat, wodurch davon ausgegangen werden kann, dass Reinhold wohl doch nicht ganz zufrieden mit der Kantischen Definition gewesen ist. Die Metaphysik der sinnlichen Natur nun befasse sich mit reellen Dingen, die als Substanz bzw. als für sich bestehende Dinge bezeichnet werden.734 Anschließend gibt Reinhold eine eigene Definition von Dingen und Dingen an sich, was den Gedanken, dass er diesbezüglich Verbesserungsbedarf gesehen hat, untermauert: »Das Ding heißt ein Vorgestelltes inwiefern die Vorstellung darauf bezogen, und ihm also durch die Form der Vorstellung ein Merkmal beygelegt ist[,] das ihm ohne Vorstellung nicht zukäme. Es heißt Ding an sich, inwiefern die Vorstellung nicht darauf bezogen ist. Da die Dinge als Dinge an sich nie vorgestellt seyn können, so sind sie auch als solche kein Object der Metaphysik.«735 731 Vgl. Smidt, Metaphysik, 2v, 130. 732 Vgl. Smidt, Metaphysik, 3v, 132. 733 Vgl. Smidt, Metaphysik, 3v, 132. 734 Vgl. Smidt, Metaphysik, 4v, 133. 735 Smidt, Metaphysik, 4v, 134. 196

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Auch im letzten Satz dieses Zitats gründet ein Argument, welches die Kantische Philosophie zu übersteigen vermag. Reinhold bekundet, dass sich Dinge an sich außerhalb des Gebietes der Metaphysik befinden, wohingegen das Kantische Ding an sich der Erscheinung korrespondiert, welche per se stets bedingt ist; die Vernunft aber hat es mit dem Unbedingten zu tun, das bei allem Bedingten vorausgesetzt werden muss. Insofern sind die Dinge an sich bei Kant mit der Vernunft verknüpft und gehören durchaus zur Metaphysik, was für Reinhold unvorstellbar wäre. Merkmale von vorgestellten Objekten können a priori und damit metaphysisch (kommt dem Objekt notwendig zu) oder a posteriori und somit physisch bzw. empirisch genannt werden, was, wie Reinhold zugesteht, erst von der KrV differenziert und näher bestimmt worden sei.736 Zudem müsse zwischen Kennzeichen unterschieden werden, die dem Stoff der Erfahrung und solchen, die der Form der Erfahrung zugehören, dadurch »materiale a posteriori [existieren]: die wir den Eindrücken – und formale a priori[,] die wir der Natur des Vorstellungsvermögens zu verdanken haben.«737 Für letztere werden zwei Beispiele gegeben, nämlich objektive Einheit, dadurch ein Ding zu einem realen Objekt werde, das wir sinnlich wahrnehmen können, und Ausdehnung, wodurch es zu einem Objekt werde, das von der Vorstellung unterschieden sei und sich außerhalb unser selbst befinde.738 Diese Merkmale bestimmen das letztlich erkennbare Objekt jedoch nur im Allgemeinen, es müssen insofern noch besondere Bestimmungen desselben vorhanden sein.739 Die objektive Einheit werde zudem aus vier unterschiedlichen Perspektiven näher beleuchtet, nämlich durch Quantität, Qualität, Relation und Modalität; jeder dieser Aspekte nun habe je drei Formen unter sich, welche Reinhold – in Einklang mit Kant – ebenfalls Kategorien nennt.740 Dieser Begriff und die ihm korrespondierenden Gedanken erlangen in der Metaphysikvorlesung Reinholds erneut Geltung, denn im Folgenden geht dieser auf die Prädikate und metaphysischen Merkmale der vier Momente ein, was analog zur Logikvorlesung und vor allem zu den Ausführungen Kants aus der KrV von statten geht. Es bestehen 736 Vgl. Smidt, Metaphysik, 4v ff., 134 ff. 737 Smidt, Metaphysik, 6v, 138. 738 Vgl. Smidt, Metaphysik, 7v, 140. 739 Vgl. Smidt, Metaphysik, 7v, 140. 740 Vgl. Smidt, Metaphysik, 7v f., 140. 197

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lediglich zwei Abweichungen bezüglich seiner Benennungen, insofern Reinhold eines der Urteile der Quantität als partikuläres anstatt besonderes Urteil und eines der Urteile der Qualität als limitierendes anstatt unendliches Urteil begreift.741 In Reinholds Augen handelt es sich bei den Tafeln der Kategorien und Urteile um eine der größten Neuerung der Kantischen Philosophie für die Disziplinen Logik und Metaphysik, gerade weil ein solches Augenmerk daraufgelegt wird, dass diese genauestens analysiert und mit Ausführungen in Verbindung gebracht werden, welche die Tafeln als notwendige Ressourcen abzubilden vermögen, das eigene Denken zu hinterfragen und darzustellen. Darüber hinaus werden – ebenso wie bei Kant – Raum und Zeit miteinbezogen und gemeinsam mit den Kategorien als »die letzten Prinzipien [der] metaphysischen Merkmale«742 betitelt. Reinhold legt also großen Wert darauf, die Neuerungen der Kritischen Philosophie herauszuarbeiten und sie in einen Gesamtzusammenhang mit der Metaphysik im Allgemeinen zu stellen, um etwaigen vorangegangenen und unzureichenden Theorien Abhilfe zu schaffen. Sodann kommt Reinhold auf den Übergang zur höheren Metaphysik zu sprechen, welcher durch die Begriffe – gemeint sind die Kategorien – Substanz, Ursache und Gemeinschaft von statten gehe – »dadurch wird die Sinnenwelt ein Ganzes, dadurch hängen die Dinge[,] inwiefern sie dauern und abwechseln als Substanz und Accidenz[,] inwiefern sie aufeinander folgen als Ursache und Wirkung[,] inwiefern sie ein bestimmtes Zugleichseyn haben, als Gemeinschaften zusammen«.743 Allein die Vernunft komme nun zu Vorstellungen von übersinnlichen Gegenständen wie der Seele, der Welt als Ganzes oder der Gottesidee, für die sie einen Grund außerhalb der sinnlichen Welt annehmen müsse.744 Auch das freie Prinzip, wie Reinhold es nennt, welches sich in der Freiheit des menschlichen Willens manifestiere und als Veränderung in uns angesehen werde, könne nicht in der sinnlichen Welt liegen; es wird allerdings auch angeführt, dass bereits der Verstand den Willen für frei erkläre, nicht bloß die Vernunft.745 Hierin besteht nun eine weitere Abweichung von Kant, insofern dieser erstmals innerhalb der Transzendentalen Dialektik 741 Vgl. Smidt, Metaphysik, 8r ff., 141 ff. sowie Kant, KrV, 1968, A 70/B 95, 87. 742 Smidt, Metaphysik, 9r, 143. 743 Smidt, Metaphysik, 22v, 166. 744 Vgl. Smidt, Metaphysik, 22v ff., 166 ff. 745 Vgl. Smidt, Metaphysik, 24r, 169. 198

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

der KrV von der Freiheit des Willens spricht, die seiner Meinung nach lediglich von der Vernunft erkannt werden kann und deshalb auch als transzendentale Idee bezeichnet wird.746 Da die erste Ursache von Bewegung ebenso wenig wie die freie, sittliche Handlung in der Sinnenwelt erfahrbar sein könne, sei die Vernunft genötigt, »[…] die völlig zureichende absolute Ursache, und zwar die erste der mechanischen, und die freye der moralischen Wirkungen in der intellectuellen Welt als vorhanden anzunehmen. […] Die Kathegorie der Gemeinschaft auf das Subject des äusseren Sinnes angewandt gibt Körperwelt[,] auf das freye moralische Subject des inneren Sinnes ‹angewandt› gibt die moralische Welt. Beyde zusammen geben den Begriff des Universums.«747 An diesem Abschnitt wird deutlich, dass Reinhold einzelne Neuerungen Kants herausgreift und diese Teile in seinem Sinne wieder zu einem Ganzen zusammensetzt. Aus den Relationskategorien wird die Kausalität verwendet, um die Kantische Idee der Welt, welche auch als Universum bezeichnet werden kann, durch die Vernunft zu generieren. Die Grundidee allerdings, dass eine Sinnenwelt und eine Verstandeswelt existieren und übersinnliche Gegenstände lediglich durch die Vernunft erkannt werden können, ist wiederum der KrV entlehnt, insofern Reinhold analog dazu eine physische bzw. in Bezug auf körperliche Substanzen und eine moralische Welt, welche uns Menschen als denkfähige und freie Wesen zuteilwerde, annimmt.748 Dafür sei es für die Vernunft unerlässlich, den Zusammenhang zwischen den beiden Welten außerhalb des Feldes der Erfahrung aufzusuchen und in einer intellektuellen Welt zu verorten.749 Die höhere Metaphysik nun beschäftige sich nach Reinhold damit, die Probleme »vom letzten Grund unserer Vorstellungen von den absoluten Substanzen[,] […] von den absoluten Ursachen [und] […] von den absoluten Gemeinschaften«750 aufzulösen, die sich wiederum auf die all746 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 448/B 476, 310. 747 Smidt, Metaphysik, 24v f., 170. 748 Vgl. Smidt, Metaphysik, 25r f., 171 sowie Kant, KrV, 1968, B 311, 212. 749 Vgl. Smidt, Metaphysik, 25v, 172. 750 Smidt, Metaphysik, 27r, 175. 199

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gemeine Frage zurückführen lassen, worin die Ursache der Vorstellungen vom Absoluten überhaupt bestehe; dadurch würden alle Geheimnisse der höheren Metaphysik zu lösen sein. Zu Beginn des Abschnittes zur Auflösung der höheren Metaphysik wird hierzu kundgetan, dass »die Form der Vorstellung der Vernunft in der Einheit des sowohl von Eindrücken, als von der Form der Sinnlichkeit unabhängigen und insofern unbedingten Mannigfaltigen«751 bestehe. Daher sei eine Idee nur zu begreifen, nie zu erkennen und deshalb sei das Merkmal des Absoluten als Form der Idee zu charakterisieren, die zur notwendigen und allgemeinen Eigenschaft jedes Objektes werden müsse, welches durch die Vernunft vorgestellt werde.752 Erst durch die KrV sei es nun möglich gewesen, etwaigen Verwechslungen – die Vernunft betreffend, sofern sie sich auf Operationen des Verstandes gründe und ihr Stoff sich in der Mannigfaltigkeit von Verbindungsarten erschöpfe – beizukommen und die Metaphysik auf eine neue Stufe zu heben.753 »Der Verstand denkt das Anschauliche soweit es anschaulich ist – die Vernunft denkt die Substanz, Ursache und Gemeinschaft unabhängig von der Sinnlichkeit und dem Eindruck.«754 Dieser Gedanke sowie derjenige, dass ein durch Sinnlichkeit und Verstand vorgestelltes Objekt als Erscheinung bzw. Phaenomenon und ein durch Vernunft vorgestelltes Objekt als Vernunftwesen bzw. Noumenon bezeichnet werde, geht ein weiteres Mal mit der Kantischen Sichtweise konform, insofern dieser die Vernunft auf ähnliche Weise von Sinnlichkeit und Verstand abzugrenzen vermag und hierbei sogar die Begrifflichkeiten übernommen werden.755 Oft seien diese Gegebenheiten bereits verwechselt worden, dadurch sich unterschiedliche philosophische Systeme gebildet hätten, denen erst durch die Kantische KrV Verbesserung und Neuerung zuteil geworden seien.756 Interessant ist hierbei, dass Reinhold auch das Ding an sich für etwas hält, das oft falsch aufgefasst und mit einer Substanz, einem Gegenstand, der unabhängig von der Vorstellung existiere,757 verwechselt worden sei, 751 Smidt, Metaphysik, 30v, 178. 752 Vgl. Smidt, Metaphysik, 31r, 178. 753 Vgl. Smidt, Metaphysik, 31r f., 178 f. 754 Smidt, Metaphysik, 31r, 179. 755 Vgl. Smidt, Metaphysik, 31r, 179. 756 Vgl. Smidt, Metaphysik, 31v, 179. 757 Vgl. Smidt, Metaphysik, 31v, 180. 200

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

weil bis heute eine Debatte darüber herrscht, inwiefern der Begriff Ding an sich auch und vor allem bei Kant unscharf formuliert ist – Reinhold aber vermag an dieser Stelle nicht, seinen Illuminator, der so umfangreiche Neuerungen errungen hat, zu kritisieren; gegen alle anderen philosophischen Systeme aber wird umfangreich polemisiert, was an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden soll. Im nächsten Abschnitt zum dualistischen System wird allerdings kundgetan, dass der transzendentale Dualismus, der Kant zugeschrieben wird, die Beharrlichkeit von Dingen an sich als Ursache der Vorstellung einer Substanz annehme, wobei zwischen zwei unterschiedlichen Arten differenziert werde, wie Dinge ganz unabhängig von etwaiger Vorstellung existieren können – nämlich indem der Raum als ausgedehnt gelte und die Zeit als einfach vorgestellt werde.758 Kant vertritt die Meinung, dass Objekte stets in zweierlei Hinsicht angenommen werden können – als Erscheinung und Ding an sich, wobei letzteres sich lediglich denken lassen müsse und das Unbedingte, welches über die Erfahrung hinausreicht, von der Vernunft notwendigerweise in den Dingen an sich verortet werde; unmöglich sei aber, durch den reinen Verstand etwas über die Denkbarkeit der Dinge an sich zu sagen, weil dies lediglich der Vernunft vorbehalten sei.759 Da der Verstand als Vermögen, das durch Sinnlichkeit Anschauliche zu denken sowie die Vernunft als Vermögen, einen Zusammenhang zwischen den Begriffen des Verstandes hervorzubringen, bezeichnet werde, und sich alles auf Vorstellungen beziehe, die wiederum im Gegensatz zu den Dingen an sich stehen, widerspräche gemäß Reinhold das Ding an sich der Vorstellung und könne insofern auch durch die Vernunft weder gedacht noch vorgestellt werden.760 Denn die Vernunft könne zwar keine Dinge an sich greifen, wohl aber solche Begriffe, die Kant als transzendentale Ideen bezeichne, beispielsweise die Seele: »Es bleibt also nichts anderes übrig als die Vernunft – Sie allein kann unsere Seele vorstellen […]. Das Subject der Erscheinung des inneren Sinns oder die Seele ist […] nicht durch den Verstand[,] sondern nur durch bloße Vernunft vorstellbar.«761 Der Kantische Dualismus äußert sich letztlich in einer Bürde für den Begriff des Dings an sich, sofern die Termini Freiheit, Vernunft und 758 Vgl. Smidt, Metaphysik, 39v, 192. 759 Vgl. Kant, KrV, 1968, B XX, 13; B XXVI, 16 f. sowie A 276/B 332, 224. 760 Vgl. Smidt, Metaphysik, 37r, 188. 761 Smidt, Metaphysik, 44v, 198. 201

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intelligible Welt darunter subsumiert werden. Es wird bedeutsam sein, sich dieses Themengebiet innerhalb der Vorlesungsnachschriften zur Darstellung der KrV näher anzusehen, um es in Gänze erörtern zu können. Im Folgenden kommt Reinhold nun zum sogenannten zweiten Teil der höheren Metaphysik, der mit absoluten und damit notwendigen Ursachen bzw. Bedingungen in Bezug auf die Vernunft zu tun habe, wobei eine unbedingte Ursache als erste oder freie Ursache bezeichnet werde.762 Eine erste Ursache könne dadurch erste werden, dass sie unbedingt gelte, auf keine andere Ursache zurückgreifen müsse sowie als freie Ursache beispielsweise der menschliche Wille gelte, sofern er sich selbst zum Handeln gemäß sinnlicher Reize oder der Vernunft bestimme.763 Die absolute Ursache sei also insofern unbedingt, als sie unter keiner von ihr abweichenden Bedingung stehe, dadurch ihr Wirkungsgrund bereits in der Ursache selbst erschöpfend enthalten sei, was lediglich durch die Vernunft vonstattengehen könne, da bei Sinnlichkeit und Verstand nur bedingte Ursachen vorhanden seien.764 »[J]ede Ursache[,] die durch die Vernunft vorgestellt wird, kann nicht anders als eine absolute vorgestellt werden. […] Das Merkmal des Absoluten ist ursprünglich die nicht in den Dingen an sich sondern in der Natur der Vernunft gegründete Form der vernünftigen Vorstellung und wird also zu einem nothwendigen Merkmal der Ursache[,] inwiefern diese durch bloße Vernunft vorgestellt wird[.]«765 Daraufhin kommt Reinhold auf die Freiheit des menschlichen Willens zu sprechen, deren Wirklichkeit für uns Menschen durchaus gegeben sei, wenngleich ihre Möglichkeit noch erschöpfend dargestellt werden müsse.766 Der Verstand unterscheide dasjenige, was man tun soll und darf von demjenigen, was uns gelüstet, und sei sich darüber im Klaren, dass es auf die eigene Entscheidung des Menschen ankomme, was dieser eben tun werde; deshalb werden hinsichtlich der eigentlichen Handlung des Willens drei Bewusstseinstatsachen unterschieden, nämlich das bloße Begehren, das Sittengesetz und das Wollen als solches – die 762 Vgl. Metaphysik, 45r, 199. 763 Vgl. Smidt, Metaphysik, 45r, 199. 764 Vgl. Smidt, Metaphysik, 45r, 199. 765 Smidt, Metaphysik, 45v, 200 f. 766 Vgl. Smidt, Metaphysik, 46v, 202 f. 202

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Vernunft dagegen bringe diese Tatsachen wiederum durcheinander, bis die Begriffe hierzu vollständig ausgereift sein würden, wodurch letztlich innerhalb der philosophischen Parteien Uneinigkeiten und unterschiedliche Ansichten aufgetreten seien, denen nun Abhilfe geschaffen werden soll.767 Um einen korrekten Begriff von Freiheit zu geben, sei es unabdingbar, zunächst einen richtigen Begriff des Willens bzw. der Willenshandlung zu generieren: »Er läßt sich nun dann frey nennen, wenn in uns ein Vermögen da ist, das Sittengesetz frey zu ergreifen oder demselben zuwider zu handeln […]. Der Wille unterscheidet sich von dem instinktmäßigen Begehren dadurch daß bey ihm die Vernunft wirksam ist.«768 Das Wollen – wie auch die Freiheit des Willens – erschöpfe sich also darin, dass ein Mensch sich selbst entweder zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens und insofern gemäß des Sittengesetzes bzw. des praktischen Gesetzes oder gemäß des Gesetzes der Glückseligkeit bestimme, weil der Wille auf keine andere Art als frei gedacht werden könne.769 Es fällt auf, dass Reinhold sich hier auf ein Argument, welches er bereits innerhalb der Fundamentschrift als Teil der eigenen Elementarphilosophie ausgearbeitet hat, bezieht und dieses miteinfließen lässt. Der Begriff des Willens, welcher an dieser Stelle konstituiert wird, ist allerdings als schlicht »unkantisch« zu charakterisieren, sofern der Wille für Kant zuerst mit der Selbstgesetzgebung der Vernunft in Verbindung gebracht werden muss, da nur derjenige, der sich selbst das Gesetz zu geben imstande ist, auch als frei bezeichnet werden kann. Kant sieht die Freiheit des individuellen Willens durch die Autonomie der Vernunft begründet – nämlich dadurch, dass dem Menschen, welcher von der Natur bestimmt ist, eine Forderung bewusstwird, die nicht aus der Natur abzuleiten ist. Die Freiheit der Vernunft ermöglicht also diejenige des individuellen Willens. Insofern ist letztere erst aus der Autonomie der Vernunft heraus zu begreifen. Für Reinhold dagegen scheint die Freiheit des individuellen Willens der Fokus und Ursprung des Freiheitsbegriffs zu sein, was ihn später, Mitte der neunziger Jahre, in eine Auseinandersetzung mit Kant bringt. Damit wird deutlich, dass auch an dieser Stelle eine gravierende Differenz zwischen den beiden Denkern 767 Vgl. Smidt, Metaphysik, 47r f., 204 f. 768 Smidt, Metaphysik, 49r, 208. 769 Vgl. Smidt, Metaphysik, 50r ff., 210 ff. 203

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vorherrscht, die nicht beigelegt werden konnte und letztlich in einer Dissonanz gipfelte. Im letzten Abschnitt der Metaphysikvorlesung kommt Reinhold nun auf eine Grundlegung zur natürlichen Theologie zu sprechen, innerhalb derer die allgemeine, wenngleich bis dato unbeantwortete, Frage auftrete, ob ein Gott existiere; der Verstand beantworte diese mit Rückgriff auf die Sittlichkeit stets bejahend, die Vernunft hingegen weise auf eine bejahende und eine verneinende Antwort hin, wodurch sich wiederum unterschiedliche Parteien gebildet hätten770 – auf ebendiese und deren unrichtige Auffassungen hat Reinhold bereits innerhalb der Briefe I, die zu Beginn der vorliegenden Arbeit behandelt wurden, hingewiesen, was der dort angeführten Vier-Parteien-Theorie entspricht. Da Gott per se weder im Raum noch in der Zeit erkannt werden könne und es daher keine objektiven Gründe für seine Existenz gebe, wird kundgetan, dass es sich lediglich um eine bloße Idee von Gott handeln könne, was mit der Kantischen Sichtweise korrespondiert.771 Schließlich geht Reinhold auf die einzelnen philosophischen Parteien ein und zeigt auf, dass deren Beweise zu widerlegen sind; hierbei geht er ähnlich vor wie Kant, sofern die damals beständigen Beweise – der ontologische, kosmologische und physikotheologische – widerlegt werden, was hier nicht näher erörtert werden kann. Die Überzeugung vom Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele könne gemäß Reinhold gut Kantisch letztlich nur durch die praktische Vernunft begründet werden, sofern sich durch die Verbindung der beiden Aspekte des moralischen Grundes dieser Überzeugung – Sittlichkeit als notwendiger Gegenstand der praktischen Vernunft und Glückseligkeit als notwendiger Gegenstand des eigennützigen Triebes – das höchste Gut ergebe, welches ohne einen Glauben an das Dasein Gottes unmöglich wäre.772 »So entspringt aus dem Sittengesetz eine natürliche Theologie[,] die Moraltheologie heißt – die Überzeugung vom Daseyn Gottes und der Unsterblichkeit der Seele […] ist kein Wissen – […] sondern ein nothwendiges Glauben.«773 Es ist ersichtlich, dass Reinhold einen erneuten Bezug zur Kantischen Philosophie herzustellen vermag und 770 Vgl. Smidt, Metaphysik, 52v f., 215 f. 771 Vgl. Smidt, Metaphysik, 54r, 218. 772 Vgl. Smidt, Metaphysik, 57r ff., 226 ff. 773 Smidt, Metaphysik, 58r, 228. 204

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dessen Vernunftglauben, den er hier als moralischen Glauben bezeichnet, als Argument nutzt. Lediglich der Terminus Moraltheologie kommt bei Kant so nicht vor. Dieses Thema wird hinsichtlich der Vorlesung zur Darstellung der KrV noch größere Bedeutung erhalten. 5.3 Erörterung und Interpretation zur Nachschrift »Darstellung der Kritik der reinen Vernunft« Die Vorlesungsnachschriften zur Darstellung der KrV sind, wie sich bereits abgezeichnet hat, von noch größerer Bedeutung für ein Verständnis, welches darüber aufklären soll, wie die Philosophie Reinholds mit derjenigen Kants zu vereinen oder abzugrenzen ist. Zunächst soll, wie bei den Nachschriften zur Logik und Metaphysik, kurz kundgetan werden, in welche Teile bzw. Abschnitte die Darstellung der KrV, welche von Wilhelm Josef Kalmann nachgeschrieben wurde, zerfällt. Diese entsprechen den ursprünglichen Teilen der Kantischen KrV. Zu Beginn erfährt der Leser Worte der Einleitung »[ü]ber die Kritik der reinen Vernunft«774 (§§ 1–16) und deren Aufbau. Daraufhin folgt der Teil »Transscendentale Aesthetik«775 (§§ 17–33), der in die beiden Abschnitte »Vom Raum«776 (§§ 22–29) und »[Von der Zeit]«777 (§§ 30–33) zerfällt. Sodann folgt »[d]er transscendentellen Elementarlehre Zweiter Theil«778 (§§ 1 bzw. 34–93 bzw. 126), welcher sich auf die transzendentale Logik bezieht, die wiederum aus Analytik und Dialektik besteht, welche bei Kant in ebendieser Reihenfolge auftreten und behandelt werden. Da sich die Vorlesung zur Darstellung der KrV inhaltlich direkt an dieser orientiert, ist eine konkrete Auslegung derselben hinfällig – unabdingbar ist allerdings, auf etwaige Unterschiede zum Kantischen Hauptwerk hinzuweisen, wodurch aufgezeigt werden soll, ob und wie Reinhold ebendieses verstanden hat und welche möglichen Verbesserungsvorschläge an die Hand gegeben werden, um letztlich darstellen zu können, in welchem Bezug diese Vorlesung zu den Werken Reinholds und Kants selbst steht. Interessant wird hierbei vor allem sein, festzustellen, wie 774 Kalmann, Darstellung, 3, 229. 775 Kalmann, Darstellung, 24, 244. 776 Kalmann, Darstellung, 25, 245. 777 Kalmann, Darstellung, 41, 257. 778 Kalmann, Darstellung, 52, 265. 205

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er Ansätze seiner Theorie des Vorstellungsvermögens in die Vorlesung einwebt, um die Argumente der KrV zu erweitern. Bereits zu Beginn der Vorlesung weist Reinhold auf einige verbesserungswürdige Momente innerhalb des Kantischen Werkes hin. So wird in Bezug auf die Unterscheidung von analytischem und synthetischem Urteil in der Einleitung zur zweiten Auflage der KrV erläutert, dass, wenn alle Merkmale eines Objektes einmal aufgefunden seien, nur noch analytische Urteile hinsichtlich des Objektes gefällt werden können, weil dieses nicht mehr zu untergliedern und damit nicht weiter synthetisierbar sei779; bei Kant finden sich hierzu keinerlei Ausführungen und es wird nicht angegeben, was geschieht, wenn einem Objekt alle Merkmale zuteil geworden sind. Des Weiteren geht Reinhold auf den Begriff »Kritik« ein und erläutert, dass dieser gewählt worden sei, weil dadurch zunächst der Weg eingeschlagen werde, »die Einrichtung des menschlichen Geistes zu beurtheilen, zu kritisiren und großen Theils auch darum, weil der letzte Theil der Kritik der reinen Vernunft von der Beurtheilung des bisherigen Verfahrens der philosophirenden Vernunft abhängt.«780 Kant betitelt seine Kritik selbst als Propädeutik, welche als Vorübung oder Vorbereitung zu einer Wissenschaft angesehen werde.781 Er »gebraucht den Begriff in einem wissenschaftstheoretischen Sinne: Die Charakterisierung der Propädeutik als Vorbereitung oder Vorübung bezieht sich nicht auf eine unterrichtsmäßig einführende Funktion, sondern auf ihre Grundlegungsfunktion in Bezug auf eine Wissenschaft.«782 Insofern sei eine Propädeutik nie selbst Teil einer Wissenschaft, für die Entstehung derselben jedoch unentbehrlich und mache den Übergang zu einer solchen durch Bestimmung ihrer Möglichkeiten sowie Einleitung in dieselbe erst möglich, indem auf bereits vorhandene Wissenschaften

779 Vgl. Kalmann, Darstellung, 13, 236. 780 Kalmann, Darstellung, 20, 240. 781 Vgl. Willaschek/Stolzenberg/Mohr/Bacin, Kant-Lexikon, Band 2: habitus – Rührung, 2015, 1857. 782 Willaschek/Stolzenberg/Mohr/Bacin, Kant-Lexikon, Band 2: habitus – Rührung, 2015, 1857. 206

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Bezug genommen werde.783 Gerade die KrV müsse gemäß Kant als eine Propädeutik aller Philosophie angesehen werden, da sie die Fertigkeit bzw. das Vermögen der Vernunft hinsichtlich etwaiger, reiner Erkenntnis a priori beleuchte.784 Es zeigt sich also, dass Reinhold das Grundlegungsmerkmal der Kantischen Kritik hier unzureichend expliziert hat und lediglich auf den Ursprung des Begriffes Kritik eingegangen ist, welcher allerdings weiter gefasst werden muss, da es sich eben um eine Propädeutik der philosophischen Wissenschaft handelt. Die Theorie des Vorstellungsvermögens vermöge nun, wie Reinhold ausführt, im Gegensatz zur Kritischen Philosophie diejenigen Gesetze wissenschaftlich zu generieren, gemäß derer synthetische Urteile a priori tatsächlich vorhanden seien.785 Etwas später ist davon die Rede, dass transzendentale Erkenntnis von Gegenständen bei Kant nicht möglich sei, weil diese als Objekt lediglich die Art des Erkennens innehaben könne; der Theorie des Vorstellungsvermögens gemäß müsse das transzendentale Objekt sodann die Form der Vorstellung sein – die KrV habe sich hierbei missverständlich und ungenau ausgedrückt, was die transzendentale Erkenntnis bzw. Transzendentalphilosophie per se anbelange, weshalb Reinhold darauf eingeht, worin dieser Name überhaupt gründe.786 »Transscendentalphilosophie wäre also ein System aller Prinzipien der reinen Vernunft, denn diese allein können nur zu der Art der Erkenntniß, in der alle Erkenntniß bestimmt ist, gehören. Die Kritik der reinen Vernunft liefert den Plan zu einem System von transscendentaler Philosophie d. h. einer Philosophie, die sich mit den Prinzipien, welche von aller Erfahrung unabhängig sind, beschäftigt.«787 Zuletzt geht Reinhold innerhalb der Einleitung zur KrV auf einen terminologischen Verbesserungsvorschlag ein. Kant nämlich habe dargelegt, dass alle Gegenstände stets der Sinnlichkeit gegeben werden müssen, was sich äquivok deuten lasse und dadurch aufzulösen sei, dass nun 783 Vgl. Willaschek/Stolzenberg/Mohr/Bacin, Kant-Lexikon, Band 2: habitus – Rührung, 2015, 1857. 784 Vgl. Willaschek/Stolzenberg/Mohr/Bacin, Kant-Lexikon, Band 2: habitus – Rührung, 2015, 1857. 785 Vgl. Kalmann, Darstellung, 19 f., 240. 786 Vgl. Kalmann, Darstellung, 20 f., 241. 787 Kalmann, Darstellung, 21, 242. 207

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vom Stoff zu sinnlichen Vorstellungen bzw. vom Stoff zu Vorstellungen etwaiger Gegenstände die Rede sei, wie es auch die Theorie des Vorstellungsvermögens aussagt.788 Reinhold möchte also mit dieser einleitenden Passage zum Ausdruck bringen, dass die KrV zwar als stabiles Grundgerüst dienlich ist, es jedoch an einigen Stellen noch Unzulänglichkeiten gibt, denen beizukommen ist. Offensichtlich ist auch, dass er seine Theorie des Vorstellungsvermögens, die letztlich in großem Maße von den Kantischen Werken inspiriert ist, hier als diejenige Theorie vorstellt, welche etwaigen Ungereimtheiten und terminologischen Unzulänglichkeiten derselben Abhilfe zu schaffen und insofern die Philosophie Kants von ihren Schwachstellen zu befreien vermag. Auch bei der Besprechung der transzendentalen Ästhetik fließen einige Korrekturen Reinholds zum Kantischen Text ein. Dessen Begriff der Sinnlichkeit sei mit Dunkelheit behaftet, dadurch die Theorie des Vorstellungsvermögens erneut Abhilfe schaffen solle: »[Sie] überhebt uns so mancher Dunkelheit, mit der sonst diese Definition für uns begleitet seyn würde. […] Wir verstehen unter Sinnlichkeit das Vermögen des Gemüths durch die Art und Weise wie es durch Objecte afficirt wird, wie es Eindrücke erhält zu Vorstellungen zu gelangen.«789 Kant bezeichnet die Sinnlichkeit innerhalb der KrV als Fähigkeit, eben dadurch Vorstellungen zu erlangen, dass der Mensch von Objekten affiziert werde790; augenscheinlich handelt es sich zwar hierbei um korrespondierende Aussagen, Reinhold aber bezieht die Sinnlichkeit nicht nur darauf, dass man als Mensch von Objekten außerhalb des eigenen Selbst affiziert wird, sondern vor allem auch darauf, dass diese Affektion als Vermögen des Gemütes bzw. als Vermögen des Subjektes, das denkt, einzustufen ist, was eine gewisse Unterscheidung bedingt. Da die Sinnlichkeit also eine große Rolle spiele, um überhaupt etwas denken bzw. mit dem Verstand erkennen zu können, gründe alles Denken auf Empfindungen; der Begriff Empfindung aber sei bei Kant noch ungenau bestimmt gewesen, wenngleich die Theorie des Vorstellungsvermögens inhaltlich mit der KrV übereinstimme.791

788 Vgl. Kalmann, Darstellung, 23 f., 243. 789 Kalmann, Darstellung, 25 f., 246. 790 Vgl. Kant, KrV, 1968, A19/B 33, 49. 791 Vgl. Kalmann, Darstellung, 26 f., 246. 208

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»Unter Empfindung versteht Kant die Wirkung eines Objects auf unser Gemüth, welche Wirkung im Afficirtseyn selbst besteht, in dem leidenden Zustande deßen wir uns bewust werden. Die Theorie des Vorstellungsvermögens hat uns an der Empfindung die Vorstellung kennen gelehrt, die aus dem Afficirtwerden unmittelbar entsteht und die sich nicht aufs Object sondern Subject bezieht.«792 Darüber hinaus ist kurz zu erwähnen, dass Reinhold die Vorstellung von Raum und Zeit aus der KrV, zu der er ebenfalls Korrekturvorschläge hegt, als merkwürdig793 bezeichnet; dies spricht wiederum dafür, dass er einigen Aussagen Kants durch die vorliegende Vorlesung einen neuen Blickwinkel verschaffen möchte. Dazu wendet sich Reinhold nun den vier Hauptsätzen der metaphysischen Erörterung des Raumes zu und bekundet zunächst, dass manche Ausdrücke bei Kant eine gewisse Unbestimmtheit aufweisen, was bis heute noch Schwierigkeiten innerhalb der Literatur verursacht.794 Diese Sätze nun stellen den Grund desjenigen dar, was innerhalb der Theorie des Vorstellungsvermögens Folge sei, insofern die vier Kantischen Hauptsätze zu einem bestimmten Begriff des Raumes führen, dadurch der Raum als Form der Anschauung bezeichnet werde; die Theorie des Vorstellungsvermögens dagegen gehe vom bloßen Raum aus, welcher als Form der äußeren Anschauung charakterisiert sei, und schließe von dort auf die Inhalte der vier Hauptsätze, nämlich dass der Raum nicht empirisch vorgestellt werden könne, Objekt einer notwendigen Vorstellung sei, die Vorstellung desselben eine Anschauung und kein Begriff sei sowie der Raum eine unendliche Größe sein müsse.795 Reinhold geht demnach vom bloßen Raum im Unterschied zum leeren oder erfüllten Raum aus; außerdem »wäre zu wünschen, daß in der Kritik der reinen Vernunft der Begriff des bloßen […] Raumes wäre bestimmt worden, so hätte sich um so leichter einsehen laßen, daß wenn man den bloßen Raum vorstellt, man eine unendliche Größe, die keinen Grad […] hat, vorstelle.«796 Auch was die Zeit anbelangt, gebe es Überarbeitungsbedarf, da der Begriff der Zeit bei Kant – im Gegensatz zur Theorie des Vorstellungsver792 Kalmann, Darstellung, 26 f., 246. 793 Vgl. Kalmann, Darstellung, 27, 247. 794 Vgl. Kalmann, Darstellung, 29, 248. 795 Vgl. Kalmann, Darstellung, 29, 248. 796 Kalmann, Darstellung, 34, 251. 209

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mögens – als unentwickelt eingestuft werden müsse und ähnlich wie beim Raum keine Differenzierungen der Zeit vorhanden seien; dadurch ließe sich nicht erkennen, inwiefern sich die bloße Zeit von der leeren oder erfüllten Zeit unterscheide.797 Bereits im Versuch hat Reinhold hierzu ausgesagt, dass die Prädikate leer und erfüllt in Hinblick auf Raum und Zeit als positive Prädikate zu bezeichnen seien und zur Modifikation dienen, die bloße Zeit dagegen als a priori bestimmte Form der inneren Anschauung charakterisiert werden müsse.798 Die erfüllte Zeit und die bloße Zeit haben Reinhold zufolge eine andere Wirklichkeit – bloße Zeit liege jeder wirklichen Vorstellung zugrunde und könne als reine nicht in wirklichen Vorstellungen begründet sein, dadurch sie auch ideale Wirklichkeit aufweise; die erfüllte Zeit dagegen sei an das Vorgestellte und die Form innerer Anschauung gebunden.799 Es offenbaren sich also bereits innerhalb der Ausführungen zur Transzendentalen Ästhetik einige Gegebenheiten und Äußerungen, denen Reinhold sich mit dem Vorhaben der Perfektionierung nähert und aus diesem Grund mit seiner Theorie des Vorstellungsvermögens zu verknüpfen vermag. Im nächsten Schritt wird es um die Transzendentale Logik als zweiten Teil der transzendentalen Elementarlehre der KrV zu tun sein, in welcher Reinhold zwar große Teile für gut erachtet und übernimmt, andere allerdings als unausgewogen enttarnt und nach seinen Maßstäben weiterentwickelt. Zunächst kommentiert Reinhold in seiner Vorlesung den Aufbau derselben: »Man könnte also wohl sagen, daß der zweete Theil der transscendentalen Logik, die transscendentale Dialektik, die eigentliche Kritik der reinen Vernunft sey; denn der erste Theil der transscendentalen Elementarlehre, die transscendentale Aesthetik, enthält eine Kritik der Sinnlichkeit, der zweete die transscendentale Analytik, eine Kritik des Verstandes und der dritte die transscendentale Dialektik, eine Kritik der Vernunft.«800

797 Vgl. Kalmann, Darstellung, 42, 258. 798 Vgl. Kalmann, Darstellung, 42, 258 sowie Kommentar 42 zur Darstellung, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, 403. 799 Vgl. Kalmann, Darstellung, 51, 264. 800 Kalmann, Darstellung, 63 f., 274. 210

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Eine solche Bestimmung der einzelnen Teile der Transzendentalen Logik kommt bei Kant nicht vor. Reinhold wollte seinen Studenten also im Vorfeld einen Leitfaden an die Hand geben, um die jeweilige Leistung der einzelnen Teile dieses Kapitels der Kritik, welche nicht leicht nachzuvollziehen ist, besser verstehen und analysieren zu können. Hinsichtlich der Tafel der Formen von Urteilen sowie der Tafel der Kategorien sieht Reinhold erneut Verbesserungspotential, da Kant die Tafel als Faktum aufstellt, ohne eine Begründung der Vollständigkeit angegeben zu haben.801 Dieser sagt selbst über seine Einteilung in Formen der Urteile und Kategorien, dass man niemals Gewissheit darüber erlangen könne, ob diese vollständig seien, da sie lediglich durch Induktion, nicht Deduktion geschlossen worden seien.802 Reinhold dagegen habe, wie er sagt, innerhalb der Theorie des Vorstellungsvermögens gezeigt, dass die allgemeine Form von Urteilen eine Verbindung des Subjekts mit dem Prädikat darstelle; hinsichtlich der Form bzw. Verbindung seien nur zwei Verhältnisse von Subjekt und Prädikat vorhanden, dadurch gezeigt werden könne, dass lediglich die vier von Kant genannten Formen möglich seien – durch die Vollständigkeit der Formen von Urteilen ergebe sich sodann auch die Vollständigkeit der Kategorien.803 Ein weiteres Problem, welches Reinhold mit den Kantischen Ausführungen hat, besteht darin, dass Kant die reine Synthesis als bloße Wirkung der Einbildungskraft beschreibt; der Begriff Einbildungskraft bedeute Reinhold zufolge allerdings nicht dasjenige Vermögen, gegebenes Mannigfaltiges zu verknüpfen, sondern dasjenige, Eindrücke zu erzeugen und zusammenzusetzen.804 »Aber es zeigt sich daß hier die Function des Zusammennehmens, die Handlung die die Apprehension mit dem Mannigfaltigen vornimmt, unter der Apprehension der Einbildungskraft verstanden wird. Vielleicht daß die Etymologie des Wortes den Verfaßer hinzu verleitet hat; denn einbilden heist ein Bild in sich hervorbringen dadurch daß das Mannigfaltige durch Zusammennehmen, durchlaufen, verknüpfen auf Einheit gebracht wird. Die sinnliche Zusammensetzung 801 Vgl. Kalmann, Darstellung, 66, 276. 802 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 80 f./B 106 f., 93. 803 Vgl. Kalmann, Darstellung, 72, 280. 804 Vgl. Kalmann, Darstellung, 69, 278 sowie Kant, KrV, 1968, A 78/B 103, 91. 211

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hier ist eine unentbehrliche Function der Seele, die aber zur Erkenntniß nicht hinreicht; dazu gehört Handlung des Verstandes. Sie ist diejenige, die wie in der Theorie des Vorstellungsvermögens gezeigt worden, durch die objective Einheit hervorgebracht wird. Die Einheit in der sinnlichen Vorstellung, ist hervorgebrachte Einheit des gegebenen Mannigfaltigen, die objective Einheit aber oder die synthetische Einheit des Verstandes ist diejenige die durch Synthesis des Verstandes hervorgebracht ist.«805 Durch die Formen der Urteile bzw. Handlungsweisen des Verstandes werde also synthetische Einheit erzeugt, dadurch jede Kategorie als Form dieser synthetischen Einheit begriffen werden könne; die Formen der Urteile seien als Formen von Verstandeshandlungen zu charakterisieren sowie die Kategorien als Formen der Begriffe.806 Diese Differenzierungen liegen bei Kant so nicht vor und sind insofern als Weiterentwicklungen durch den Gedankengang Reinholds zu betrachten. Das zweite Hauptstück der Analytik der Begriffe, welches zur Deduktion der reinen Verstandesbegriffe führe, zähle zu den bedeutsamsten Teilen der KrV, weil es großen Einfluss auf andere Bestandteile dieses Werkes habe und die dort beschriebene Deduktion noch perfektioniert werden müsse; denn hierbei handele es sich um die schwierigste und bis dato dunkelste Textpassage, welche durch Reinhold nun erleuchtet werden solle.807 Hierfür wird der Beginn des Abschnitts »Von den Prinzipien einer transzendentalen Deduktion überhaupt« zitiert und für die Studenten am Beispiel der Substanz veranschaulicht, um die Inhalte besser verständlich zu machen.808 Reinhold geht davon aus, dass diese Passage näher erläutert werden muss, weil sie ansonsten unrichtig durchdacht werden würde. Prinzipiell beschäftige sich die transzendentale Deduktion der Kategorien damit zu beweisen, dass diese notwendig für die Erfahrung seien, welche wiederum von einer bloßen Wahrnehmung abgegrenzt werden müsse.809 »[I]n der Erfahrung begreift sich alles, in wie ferne es in einem nothwendigen Zusammenhange steht.«810 Ebenso werde der 805 Kalmann, Darstellung, 69 f., 278 f. 806 Vgl. Kalmann, Darstellung, 70 f., 279. 807 Vgl. Kalmann, Darstellung, 72 f., 281. 808 Vgl. Kalmann, Darstellung, 73 ff., 281 ff. sowie Kant, KrV, 1968, A 84 f./B 116 f., 99. 809 Vgl. Kalmann, Darstellung, 77, 284. 810 Kalmann, Darstellung, 78, 285. 212

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Begriff der Apperzeption als ein solcher angesehen, der Klärungsbedarf aufweist, und hier als Selbstbewusstsein tituliert811 – das geht mit dem Kantischen Hauptwerk konform, ist aber um einiges verständlicher als die umfangreiche Definition, welche Kant selbst davon gibt, dadurch Reinhold erneut seine Fähigkeit unter Beweis stellt, Kantische Gedankengänge leichter zugänglich zu machen. Hierfür wird auch das Ich denke, welches alle Vorstellungen begleiten können muss, zu einem schlichten Ich umformuliert.812 Damit fällt die Allgemeinheit des Urteils dahin, da diese an dem Denken hängt, nicht an dem jeweiligen Ich. Um den Gedankengang der transzendentalen Deduktion in Gänze nachvollziehen zu können, bemüht sich Reinhold im Folgenden um eine umfangreiche Zusammenfassung des Kantischen Textes und stellt die wichtigsten Informationen und Argumente noch einmal zusammen. So erklärt er seinen Studenten letztlich auf einfache und komprimierte Art und Weise, was darunter zu verstehen ist und wie diese Deduktion von statten geht. »Nur dadurch, daß alle Anschauungen, durch mein Ich verbunden werden, erkenne ich diese Anschauungen in einem durchgängigen Zusammenhang. Es steht also als ein Grundsatz, der eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ausdrückt fest, das Mannigfaltige unserer Anschauungen steht unter der Bedingung der synthetischen Einheit des Bewustseyns, sie müßen alle unter diese Bedingung der synthetischen Einheit des Selbstbewusteyns geordnet werden können. Und diese Bedingungen sind eben die Kategorien. […] Die Kategorien sind nichts anders als die verschiedenen Formen der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseyns. Da nun die Einheit des Selbstbewustseyns zur Erfahrung nothwendig ist, so sind die Kategorien ebenfalls zur Erfahrung nothwendig.«813 Reinhold vernachlässigt bei dieser Darstellung jedoch eindeutig, dass die Kategorien objektiv fungieren. Diese nämlich begründen Objektivität, indem sie im Ich denke (Selbstbewusstsein) vereinigt werden und somit durch die Formen des Denkens eine geordnete Erkenntnis ermöglichen. 811 Vgl. Kalmann, Darstellung, 79, 285. 812 Vgl. Kalmann, Darstellung, 79, 285 sowie Kant, KrV, 1968, B 131 f., 108 f. 813 Kalmann, Darstellung, 84 f., 290. 213

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Diesen Umstand scheint Reinhold nicht zu sehen oder aber nicht vermitteln zu wollen. Er geht nicht auf die zugrundeliegende Funktion der reinen Verstandesbegriffe für ein objektives, jedermann einsichtiges Erkennen ein. Im Fortgang kommt Reinhold sodann auf die Analytik der Grundsätze aus der KrV zu sprechen. Interessanterweise werden bei diesem Abschnitt einige Textpassagen Kants auf umfangreiche Weise und oft wörtlich übernommen, was davon zeugt, dass Reinhold mit der inhaltlichen Ausarbeitung zufrieden gewesen sein muss. Das hat sich auch in den Vorlesungen zur Logik und Metaphysik manifestiert, wie dort aufgezeigt wurde. Die Ergebnisse der KrV werden wiederholt und mit etwaigen Erklärungen versehen, die den Studenten zum besseren Nachvollzug gereichen und exaktere Formulierungen liefern sollen. Der einzige Unterschied, welcher auffällt, findet sich zu Beginn der Ausführungen über die Analytik der Grundsätze dort, wo die Schemata des Verstandes aufgeführt werden. Reinhold gibt an, dass das Schema der Substanz, welches zu den Schemata der Relation gehöre, die Beharrlichkeit im Raum sei und führt an etwas späterer Stelle dazu aus, dass das in Raum und Zeit Subsistierende dadurch entstehe, dass die Kategorie der Substanz mit den Anschauungsformen gekoppelt werde.814 Kant spricht allerdings davon, dass das Schema der Substanz als Beharrlichkeit des Realen nur in der Zeit zu charakterisieren sei, denn »Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren. Der Zeit also, die selbst unwandelbar und bleibend ist, correspondirt in der Erscheinung das Unwandelbare im Dasein, d. i. die Substanz, und bloß an ihr kann die Folge und das Zugleichsein der Erscheinungen der Zeit nach bestimmt werden.«815 Sowohl der Raum als auch die Zeit sind die Anschauungsformen des Erkennens (nach Kant) bzw. des Vorstellens (nach Reinhold) und insofern Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, dadurch es Sinn macht, das Schema der Substantialität, welches Beharrlichkeit sein soll, auf Raum und Zeit zu beziehen. In der Zeit wird etwas nacheinander oder zugleich empfunden, im Raum dagegen nebeneinander. 814 Vgl. Kalmann, Darstellung, 85, 291 sowie ebd., 100, 300. 815 Kant, KrV, 1968, A 144/B 183, 137. 214

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Der Raum ist ebenso unvergänglich wie die Zeit, dadurch beständig und geht insofern mit dem im Dasein Beständigen, also der Substanz, konform. In diesem Falle muss demnach den Aussagen Reinholds Folge geleistet werden. Das zweite Hauptstück der Analytik der Grundsätze handelt vom System der Grundsätze des reinen Verstandes und offenbart einen gewichtigen Unterschied zwischen den Ausführungen der beiden Denker. Während Kant lediglich kundgibt, dass der Satz des Widerspruchs als oberster Grundsatz der analytischen Urteile bezeichnet werden müsse, bekundet Reinhold, dass es einen absolut ersten Grundsatz der Philosophie gebe, der im Satz des Bewusstseins gegründet sei: »Hier wird also nicht von dem ersten absoluten Grundsatz aller Philosophie gesprochen […], sondern nur von dem relativ ersten Grundsatz der analytischen und synthetischen Urtheile.«816 Bereits innerhalb der Fundamentschrift hat Reinhold diese Unzulänglichkeit bei Kant festgestellt und Abhilfe geschaffen. Da Reinhold den Satz des Bewusstseins selbst aufgestellt hat, verwundert es kaum, dass er dieses Prinzip für das grundlegende hält – es ist allerdings auch anzumerken, dass er grundsätzlich mit Kant einer Meinung ist, was den Satz des Widerspruchs betrifft, der zuerst von diesem auf korrekte Art und Weise als Grundsatz analytischer Urteile charakterisiert worden ist.817 Im Verlauf der Ausführungen fällt erneut umfassende Polemik an den Vorgängern Kants auf, was bedeutet, dass die Argumente der KrV zum Großteil übernommen und lediglich mit eigenen Beispielen und Aussagen verknüpft werden, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Es existieren lediglich zwei Stellen, die abweichend erscheinen. Erstens macht Reinhold selbst einen kleinen Fehler, wenn er von den Axiomen der Anschauung als erster Klasse der Grundsätze spricht, bei denen der Grundsatz ausschlaggebend ist, dass jedes erkennbare Objekt eine extensive Größe ist: »Dieses ist der allgemeinste Grundsatz aus der Claße der Kategorien der Qualität.«818 Hierbei handelt es sich allerdings nicht um die Kategorie der Qualität, die sich mit dem Grad etwaiger Erscheinungen beschäftigt, sondern um diejenige der 816 Kalmann, Darstellung, 102, 302. Der Satz des Bewusstseins ist innerhalb der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach zur Sprache gekommen. Vgl. hierfür die entsprechende Textstelle, beispielsweise innerhalb der Fundamentschrift: Reinhold, Fundament, 2011, 81. 817 Vgl. Kalmann, Darstellung, 103, 302. 818 Kalmann, Darstellung, 114, 310. 215

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Quantität, da quantitativ gesehen alles eine extensive, also eine sich ausdehnende, Größe innezuhaben hat. Die Qualität dagegen weist eine intensive Größe bzw. einen Grad auf. Es ist leider unklar, ob dieser Fehler einer des Nachschreibers oder ein Diktierfehler Reinholds gewesen ist – da jedoch stets genau differenziert und abstrahiert worden ist, geht die Verfasserin davon aus, dass es sich um einen Leichtsinnsfehler, welcher Art auch immer, handeln muss. Zweitens ergänzt Reinhold die Kantischen Argumente in Bezug auf die Postulate des empirischen Denkens als vierte Klasse der Grundsätze, was sich beim Nachschreiber offensichtlich bemerkbar gemacht hat: »Der Ausdruck dieser Grundsätze gehört ganz Kanten an, da derselbe aber nicht bestimmt genug ist, sind zu mehrerer Erläuterung die Anmerkungen von Hr. Reinhold hinzugefügt worden.«819 Diese beziehen sich auf die korrespondierenden Ausführungen zu den Kategorien der Möglichkeit, Wirklichkeit sowie Notwendigkeit und bekunden, dass die zugrundeliegenden Grundsätze anders hätten lauten müssen, um ihr Schema zu begreifen. »Nemlich da das Schema der Möglichkeit, das Seyn oder Gedachtwerden in irgend einer Zeit bedeutet, so hätte der daraus entstehende Grundsatz, lauten müßen: jedes erkennbare Object muß in Rücksicht auf seine Möglichkeit in irgend einer Zeit seyn können. Der Zweete Grundsatz hätte heißen müßen: jedes erkennbare Object muß in Rücksicht auf seine Wirklichkeit in einer bestimmten, erfüllten Zeit wahrgenommen werden. Und endlich der Grundsatz der Nothwendigkeit: jedes erkennbare Object in wie ferne es nothwendig ist, muß in aller Zeit wahrgenommen werden.«820 Kant hat innerhalb der KrV zwar die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit in Bezug auf die formalen Bedingungen von Erfahrung ausgelegt, die Postulate des empirischen Denkens überhaupt jedoch nicht in Rücksicht auf die Zeit mit diesen Kategorien verknüpft, wie Reinhold es hier tut.821

819 Kalmann, Darstellung, 120 f., 314. 820 Kalmann, Darstellung, 121 f., 315. 821 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 218/B 265 f., 185 f. 216

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Das nun folgende dritte Hauptstück beschäftigt sich mit den Kantischen Aussagen zum Unterschied etwaiger Objekte in Phaenomena und Noumena. Es ist erstaunlich, dass sich Reinhold in diesem Abschnitt keinerlei Kritik bedient und äußerst viel Wert darauf legt, die Argumente Kants lediglich etwas genauer darzustellen und zugänglicher zu machen, und das nicht etwa um Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Differenzierung von Phaenomena, Noumena und Dingen an sich bei Kant vorzubringen. Offenbar sieht Reinhold hier – im Gegensatz zu einigen Zeitgenossen und späteren Denkern – keine Problematik und übernimmt inhaltlich die Argumente der KrV. Das ist befremdlich, da Reinhold bei den Vorlesungen zur Logik und Metaphysik eine eigene Definition des Dinges an sich vorgebracht hat, die davon ausgehen lässt, dass hier eigentlich eine Differenz zwischen den beiden Philosophen bestehen muss. Eine kritische Perspektive wird allerdings erst wieder eingenommen, wenn Reinhold bei der Amphibolie der Reflexionsbegriffe angelangt ist. Bei Kant werden die vier Merkmale Einerleiheit/ Verschiedenheit, Einstimmung/Widerstreit, Inneres/Äußeres sowie Materie/ Form als Reflexionsbegriffe bezeichnet, Reinhold dagegen will diese als Gegenstände von Begriffen verstanden wissen und bezichtigt Kant damit einer Unbestimmtheit, die im gesamten Hauptwerk aufzufinden sei.822 Denn stets würden die beiden Termini »Gegenstand eines Begriffs« und »Begriff« synonym gebraucht, beispielsweise wenn behauptet wird, dass die Anschauungen gegeben seien, anstatt auszusagen, dass der Stoff zu etwaigen Anschauungen gegeben würde.823 Tatsächlich gibt es einige Stellen, an denen unsauber differenziert wird, doch fallen auch Ausführungen ins Auge, die durchaus korrekt sind: »Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung.«824 Die Kritik Reinholds ist hier also insofern unrichtig, als Kant eben nicht innerhalb des gesamten Werkes Termini durcheinanderbringt, ohne darauf zu achten, sie ist allerdings auch teilweise richtig, da eine einheitliche Terminologie der KrV im Allgemeinen zu wünschen übrig lässt, dadurch bereits oftmals Verwechselungen entstanden sind.

822 Vgl. Kalmann, Darstellung, 128, 321 sowie Kant, KrV, 1968, A 263/B 319 ff., 216 ff. 823 Vgl. Kalmann, Darstellung, 128 f., 321. 824 Kant, KrV, 1968, AA IV, A 108 f., 82. 217

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Zudem wird Kant zum Vorwurf gemacht, dass der Ursprung der Reflexionsbegriffe, welcher innerhalb der Theorie des Vorstellungsvermögens hinreichend dargetan worden sei, vollständig fehle.825 »Hr. Kant nimmt diese Merkmale der Reflexionsbegriffe als vorhanden, als Jedermann bekannt an, ohne ihren Ursprung zu deduciren, ohne zu zeigen wie sie aus den vier Momenten der Categorien bestimmt sind. Darum muß auch die Darstellung des kantischen Systems von dem Ursprunge der Reflexionsbegriffe abstrahiren. Wir nehmen sie also mit Kant als durch unser Bewußtseyn bekannt an. Jedermann wird sich durch sein Bewußtseyn zu ihrer Annahme genöthigt finden.«826 Diese Bezichtigung, dass etwas vorausgesetzt wird, was zuvor nicht hinreichend deduziert wurde, ist durchaus richtig und solche Gegebenheiten kommen bei Kant mehr als einmal vor. Es ist also durchaus legitim, dass Reinhold die Kantischen Argumente ergänzen möchte, um zu gesichertem Wissen zu gelangen. Hierfür hat er bereits innerhalb des Versuchs gezeigt, dass die Reflexionsbegriffe von den vier Momenten der Tafeln der Urteile und Kategorien abzuleiten sind.827 Abstrahiert man von diesen beiden Änderungen gegenüber den Ausführungen zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe aus der KrV, fällt auf, dass Reinhold auch in dieser Textpassage nahezu alle Inhalte übernimmt, diese aber erneut differenzierter, genauer sowie beispielhafter erklärt und dadurch das Mysterium des Kantischen Hauptwerkes aufzuheben versucht. Bei seinen letzten Formulierungen zum vierten Reflexionsbegriff (Materie/Form) macht Reinhold allerdings erneut einen Fehler, insofern ausgesagt wird, dass der Raum einer einfachen Substanz als Materie vorhergehen müsse, da man sich sonst desselben Fehlers schuldig machen würde, wie das bei Leibniz der Fall gewesen sei.828 Nun ist es aber nicht nur der Raum, welcher als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt vorausgesetzt werden muss, sondern eben auch die Zeit. Beide gehen Vorstellungen voraus und machen die Materie zu solchen 825 Vgl. Kalmann, Darstellung, 135, 326. 826 Kalmann, Darstellung, 135, 326. 827 Vgl. Kommentar 89 zur Darstellung, in: Fabbianelli/Fuchs [Hrsg.], Vorlesungsnachschriften, 2015, 406. 828 Vgl. Kalmann, Darstellung, 142, 331. 218

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

erst möglich. Dieselbe Inkorrektheit wurde von Kant zum Schema der Substanz als Beharrlichkeit im Raum an den Tag gelegt, wie zuvor aufgezeigt werden konnte. Im Fortgang wird es nun um die Transzendentale Dialektik zu tun sein, bei deren Darstellung Reinhold in einigen Punkten von Kant abweicht. Zunächst geht er darauf ein, worum es bei dieser Passage der KrV geht und expliziert in Anlehnung an den Kantischen Text die drei Arten von Vernunftschlüssen, welche als Leitfaden dienlich seien, der wiederum zu den transzendentalen Ideen führe.829 Daraufhin wird kundgetan, dass »das Unbedingte überhaupt […] in der eigenthümlichen Vorstellungsart der Vernunft […], und zwar die Form der vernünftigen Vorstellung oder der Idee«830 gründet. Eine Idee wird demnach als die Form einer Vorstellung der Vernunft bezeichnet, Kant dagegen habe das Unbedingte als Idee der Vernunft charakterisiert.831 »Dieses ist wieder der Redensart gemäß, die durch die ganze Critik herrscht. So wie Kant nemlich sagt[:] Raum und Zeit sind Anschauungen, statt sind Gegenstände der Anschauungen, so solte es auch hier heißen. Das Unbedingte ist Gegenstand der Idee der Vernunft. Wenn wir aber gewohnt sind uns an diesem Sprachgebrauch nicht zu stoßen, so wißen wir auch daß das Unbedingte, so fern es in der Natur der Vernunft gegründet ist, nichts anders sey als die Form der Vorstellung der Vernunft, daß also das unbedingte Voraussetzen, das unbedingte Denken so viel heist als durch Vernunftvorstellung vorstellen und daß jedes Object, das die Vernunft vorstellt, das Merkmal des Unbedingten tragen muß.«832 Was Reinhold hier anspricht, ist ein Thema, welches in der Forschung immer wieder und auch in der vorliegenden Arbeit schon aufgetreten ist, nämlich, dass Kant hinsichtlich seiner Terminologie nicht einheitlich bleibt. Deshalb ist es – und darauf wird hier ebenfalls hingewiesen – unabdingbar, sich an diesen Fakt zu gewöhnen und ihn im Hinterkopf zu behalten. Was nun die transzendentalen Ideen anbelangt, ist zu sagen, 829 Vgl. Kalmann, Darstellung, 149, 336 f. 830 Kalmann, Darstellung, 152, 338. 831 Vgl. Kalmann, Darstellung, 155, 340. 832 Kalmann, Darstellung, 155, 340. 219

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dass es derer drei gibt, welche den drei unterschiedlichen Vernunftschlüssen korrespondieren, nämlich das absolute Subjekt, die absolute Ursache und die absolute Gemeinschaft.833 Dies ist äußerst befremdlich, insofern bei Kant »Seele«, »Welt« und »Gott« als die drei transzendentalen Ideen betitelt werden, dadurch eine terminologische Abweichung beider Denker entsteht. Zwar gehen diese Ideen grundsätzlich konform, da ein Bezug zu den Kantischen Ideen hergestellt wird, doch bleibt diese Differenz in der Begrifflichkeit bestehen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die transzendentalen Ideen, welche Reinhold hier selbst konstruiert, bereits innerhalb der Fundamentschrift auf diese Weise Einzug gefunden haben und insofern als eigenständige Argumente Reinholds zu werten sind. Die transzendentalen Ideen führen bei Kant zu den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft, welche in Paralogismen (Psychologie), Antinomien (Kosmologie) und das Ideal der reinen Vernunft (Theologie) zerfallen. Die Unterschiede, welche zwischen beiden Denkern aufzufinden sind, sowie deren Gründe sollen insofern nacheinander zum jeweiligen Themengebieten aufgezeigt werden. Was die rationale Psychologie anbelangt, ist zu sagen, dass Reinhold die Argumente Kants inhaltlich, wenn auch in verkürzter sowie zusammenfassender Form, übernimmt und keinerlei offenkundige Kritik anwendet. Es fällt lediglich auf, dass im Gegensatz zu den Ausführungen der KrV zunächst das Ergebnis der Untersuchung, dass nämlich die rationale Psychologie als diejenige Wissenschaft gelte, durch welche die an sich nicht begreifbare Substanz der Seele nach Vernunftgesetzen zu denken sei834, kundgetan wird, um sodann den Argumentationsgang nachzuvollziehen. Möglicherweise liegt dies daran, dass Reinhold eben eine Vorlesung hält und kein Schriftstück verfasst, denn in ersterer geht es eigentümlich darum, die Zuhörer in seine Gedankengänge mit einzubeziehen und Schlussfolgerungen zu erhellen. Wenn Reinhold bereits zu Beginn der Passage das Ergebnis konstatiert, wird ihm dadurch gegebenenfalls höhere Aufmerksamkeit zuteil, da die Studenten wissen möchten, wie man zu einem solchen Resultat gelangt ist.

833 Vgl. Kalmann, Darstellung, 157, 342. 834 Vgl. Kalmann, Darstellung, 168, 351. 220

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Bereits innerhalb der Ausführungen zu den Paralogismen kommt Reinhold auf die zweite Idee der reinen Vernunft, die »Welt«835, zu sprechen und bietet insofern eine lange Einleitung in diesen Themenbereich, in welcher er genauer als Kant darlegt, wie die Thesen und Antithesen überhaupt entstanden sind, um es seinen Studenten auf nachvollziehbare Weise näherzubringen. »Merkwürdig ist es aber daß die Vernunft bey dieser Uebertragung auf zweyerley Weise zu Werke geht. Einmal überträgt sie das Merkmal des Unbedingten auf die Dinge, in wie ferne sie im Raum und Zeit anschaulich sind. Dadurch erhält sie die Antithese und einmal überträgt sie dieses Merkmal auf Dinge, in wie fern sie nicht anschaulich sind, sondern in wie fern sie sie als Dinge an sich betrachtet und dadurch entsteht die Thesis […].«836 Bei der eigentlichen Besprechung der rationalen Kosmologie zeigt sich sodann, dass Reinhold auf eine andere Weise an die Sache herangeht als Kant dies in der KrV getan hat. Letzterer erstellt zunächst das System sowie eine Tafel der vier kosmologischen Ideen, beschreibt, worin die Antithetik der reinen Vernunft besteht, führt die vier Thesen bzw. Antithesen auf und löst jede von diesen für sich betrachtet und in Ausführlichkeit auf, um zu zeigen, dass diese jeweils in Einklang zu bringen sind; dadurch könne die Antinomie der reinen Vernunft letztlich aufgelöst werden.837 Ersterer hingegen nennt die kosmologischen Ideen sowie ebenfalls die vier Thesen bzw. Antithesen, eine Auflösung derselben wird allerdings nur im Allgemeinen und demnach für alle vier Ideen gemeinsam gegeben. Diese hängt vor allem an einem Argument, nämlich dass »das Merkmal des Unbedingten auf das Ding an sich übertragen«838 worden sei. Man meinte, durch das Unbedingte etwas im Ding an sich erkennen zu können, was ausgeschlossen werden müsse, da das Ding an sich schlicht nicht vorstellbar sei.839

835 Vgl. Kalmann, Darstellung, 170, 352. 836 Kalmann, Darstellung, 178, 357. 837 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 409 ff./B 436 ff., 283 ff. Hierzu diente nahezu der gesamte Textabschnitt zu den Kantischen Antinomien. 838 Kalmann, Darstellung, 185, 364. 839 Vgl. Kalmann, Darstellung, 185, 364. 221

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Während Reinhold also von diesem Anhaltspunkt aus zur Auflösung der rationalen Kosmologie gelangt und gegen alle Philosophen vor Kant polemisiert, um die Kantischen Errungenschaften herauszuheben, geht Kant zunächst davon aus, dass die transzendentalen Ideen jenseits aller Erfahrung gelegen seien, weshalb über sie lediglich vernünftelt werden könne – daraus folgt sodann der Widerstreit, welcher zu den Antinomien führe, da die Wirklichkeit keiner dieser Ideen durch die Sinnlichkeit gegeben werden könne.840 Reinhold stellt die Kantischen Argumente zwar in sehr verkürzter Weise dar und wandelt sie in seinem Sinne ab, doch nimmt er darüber hinaus eine Position ein, die Kant und seine Beweise gegenüber etwaigen Zeitgenossen herauszuheben und insofern in ein versöhnliches Licht zu stellen vermag. Führt man sich einmal vor Augen, dass gerade die KrV für die Mehrheit der Philosophen zu diesem Zeitpunkt nicht bzw. nicht hinreichend zugänglich war und überdies als finsteres Werk galt, ist es als Vorteil für die Kantische Philosophie zu werten, dass Reinhold hier so verfährt und die Taten seines Lehrmeisters herauszuheben gedenkt. Was nun das Ideal der reinen Vernunft bzw. die rationale Theologie anbelangt, ist zu sagen, dass Reinhold die Kantischen Resultate im Großen und Ganzen eher bestätigt bzw. abbildet als erweitert, obgleich auch einige Ansätze einfließen, die Reinhold selbst zuzuordnen sind. Dieser rekurriert nun erneut auf eine gewisse Fehlerhaftigkeit der Kantischen Terminologie, insofern er unter einem (transzendentalen) Ideal der reinen Vernunft den Gegenstand einer Idee versteht, nicht die Idee in individuo, wie Kant sie bezeichnet.841 »Dieses transscendentelle Ideal ist Gegenstand einer Idee, und zwar reiner Gegenstand einer Idee, Gegenstand der nur in der Vernunft selbst gegründet ist, aber es ist ein besonderer Gegenstand, der sich von allen andern wesentlich auszeichnet, und der sein bestimmtes Merkmal vorzüglich aus der Idee der Gemeinschaft zieht. Wir haben nemlich drey Ideen der Vernunft gefunden: das absolute Subject, die absolute Ursache und die absolute Gemeinschaft.«842

840 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 421/B 449, 290. 841 Vgl. Kalmann, Darstellung, 195 f., 369 f. sowie Kant, KrV, 1968, A 568/B 596, 383. 842 Kalmann, Darstellung, 196, 370. 222

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

Hierin zeigt sich ein Unterschied zur KrV, der weiter oben schon einmal zu Tage getreten ist, nämlich, dass Reinhold das Merkmal des transzendentalen Ideals aus der Idee der Gemeinschaft ableitet, die er selbst konstruiert hat. Denn die absolute Gemeinschaft kommt bei Kant so nicht vor und entspricht dort der transzendentalen Idee von Gott, dadurch Reinhold diesen eigenen Ansatzpunkt erneut in die Ergebnisse der KrV einflechtet. Es wird jedoch im Kantischen Sinne argumentiert, dass die Idee der absoluten Gemeinschaft auf die »Idee eines Inbegriffs aller unbedingten Realitäten, oder des allerrealsten Wesens [zielt], welches […] zu Gott wird, so bald man sich darunter die von der Welt verschiedene Ursache der Welt denkt.«843 Dies geschehe nun dadurch, dass das Charakteristikum der Gemeinschaft sich auf bloße Prädikate beziehe und nicht etwa auf Subjekte.844 Hieran lässt sich erneut ein eigener Gedanke Reinholds aufzeigen, der die Kantische Philosophie erweitern soll und schon häufiger in Erscheinung getreten ist, nämlich der Satz des Bewusstseins. Es wird angegeben, dass die Resultate Kants lediglich dann gültig sein können, wenn vorausgesetzt werde, dass »die Vorstellung von Object und Subject im Bewustseyn unterschieden wäre.«845 Reinhold ist also nicht nur darauf aus, die Kantischen Argumente vorzutragen und genauer zu erläutern, sondern eben auch darauf, diese fortzubilden, indem er seine eigenen Hervorbringungen miteinbezieht und die Theorie seines Vorbildes dadurch in Gänze zu vervollständigen gedenkt. Im weiteren Verlauf kommt Reinhold sodann auf die Widerlegung des ontologischen, kosmologischen und physikotheologischen Gottesbeweises zu sprechen, welche die KrV zu Tage gebracht hat. Diese werden inhaltlich zwar nicht auf die völlig identische Art und Weise übernommen, aber per se in Kants Sinne vorgetragen. Reinhold bezieht sich beispielsweise hinsichtlich der Widerlegung des ontologischen Beweises auf die Kategorien, indem ausgesagt wird, in diesem Beweis werde »die Existenz [Gottes] als eine Qualität angenommen, welches sie aber keinesweges seyn kann, indem sie blos Modalität des Urtheils und Verhältniß des Objectes zu unserm Bewustseyn ist.«846 Auch an dieser Textstelle lässt sich 843 Kalmann, Darstellung, 200, 373. 844 Vgl. Kalmann, Darstellung, 200, 372. 845 Kalmann, Darstellung, 199, 372. 846 Kalmann, Darstellung, 202, 374. 223

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

das Vorhaben Reinholds erkennen, seine eigene Theorie des Vorstellungsvermögens als die berühmte Kirsche auf der Torte der Transzendentalphilosophie zu etablieren, insofern erneut auf den Satz des Bewusstseins Bezug genommen wird, der – wie in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wurde – aussagt, dass eine Vorstellung im Bewusstsein vom Subjekt und Objekt der Vorstellung unterschieden sowie auf beide bezogen werden müsse.847 Reinhold macht in Bezug auf den kosmologischen Beweis jedoch auch deutlich, dass die KrV und die Theorie des Vorstellungsvermögens gemeinschaftlich »den Ursprung des Grundsatzes der Caußalität aus der Natur des Verstandes und der Sinnlichkeit hergeleitet«848 haben, welcher anzeige, dass man nach Ursachen in Raum und Zeit trachten müsse, um zu etwaigen Wirkungen gelangen zu können. Der physikotheologische Beweis wird von beiden Denkern zwar als Beweis abgelehnt, nicht aber als Erläuterung des moralischen Überzeugungsgrundes, den es nun aufzustellen gilt.849 Zur Explikation bezieht sich Reinhold, wie er selbst sagt, nun auf die Ergebnisse der Kritik der praktischen Vernunft.850 Das ist angesichts der Tatsache, dass die Ansätze zum Ideal der reinen Vernunft aus der Methodenlehre der KrV ab 1788 nicht mehr als tatsächliche Ansichten Kants zu werten sind und dieser als Fortgang die KpV verfasst hat, durchaus verständlich. Doch auch in dieser Passage bedient sich Reinhold über die Kantischen Resultate hinaus eigener Ansatzpunkte aus seiner Theorie des Vorstellungsvermögens, insofern er verkündet, dass als Voraussetzung des moralischen Überzeugungsgrundes die beiden unterschiedlichen menschlichen Triebe gelten, nämlich der eigennützige und der uneigennützige, welche einträchtig das Begehrungsvermögen ergeben.851 Der eine entspringe aus der Sinnlichkeit und werde Vergnügen genannt, der andere liege darin, dass ein Mensch selbst tätig sei, wodurch das Gesetz der Vernunft verwirklicht werde.852 »Ich nenne den Trieb nach Vergnügen eigennützig, in wie ferne seine Forderung immer ein Genuß ist, den andern uneigennützig, in wie fern

847 Vgl. hierfür die entsprechende Textstelle, beispielsweise innerhalb der Fundamentschrift: Reinhold, Fundament, 2011, 81. 848 Kalmann, Darstellung, 209 f., 379 f. 849 Vgl. Kalmann, Darstellung, 211, 381. 850 Vgl. Kalmann, Darstellung, 215, 385. 851 Vgl. Kalmann, Darstellung, 215, 383 f. 852 Vgl. Kalmann, Darstellung, 215, 384. 224

Darstellung und Interpretation der Vorlesungs­nachschriften

er Forderungen aufstellt, die Gesetze sind, und zwar solche, denen der ganze Trieb untergeordnet werden muß.«853 Auch in Bezug auf das höchste Gut, welches innerhalb der KpV als eine durch Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit bezeichnet wird, zieht Reinhold seine Triebtheorie heran, die im Übrigen noch nicht einmal terminologisch bei Kant Erwähnung findet.854 Sittlichkeit wird als notwendiges Objekt des uneigennützigen, Glückseligkeit dagegen als dasjenige des eigennützigen Triebes betitelt, wobei sogar ausgesagt wird, dass diese beiden Objekte und Triebe notwendig miteinander verknüpft werden müssen, da sie nur gemeinsam zu bestehen imstande seien.855 Die nachfolgende Erörterung zur Erwartung des höchsten Guts, auf welches zu hoffen ist, geht sodann mit den Kantischen Prämissen aus der KpV konform; der einzige Unterschied hierzu besteht darin, dass Reinhold von einer sogenannten Moraltheologie spricht, welche als natürliche Theologie auf die Moral gegründet werden könne.856 Dieser Terminus kommt bei Kant so nicht vor. Schließlich beendet Reinhold, bevor er sich noch einmal mit Dank an seine Studenten wendet, die Vorlesung folgendermaßen: »Wer nie moralisch gehandelt hätte, der würde von diesem Ueberzeugungsgrund keine Silbe verstehen. Guter Wille, Gefühl für Tugend ist hier die Hauptbedingung[,] und es gilt hier[,] was die Bibel sagt, daß nur die Gott anschauen werden, die reines Herzens sind.«857 Hierdurch wird noch einmal deutlich, dass Reinhold ursprünglich als Theologe auf die Philosophie Kants gestoßen war, mit der Hoffnung, einen moralischen Grund für die Religion generieren zu können und endlich diejenigen Antworten zu finden, die ihm als Mann Gottes vor dem Begreifen des Grundes für einen Glauben, Gott erwarten zu dürfen, verwehrt geblieben waren. Sofern Kant nun für Reinhold kein Gottloser ist, sondern vielmehr als Verfechter eines neuartigen Glaubens an Gott bezeichnet wird, der die alten Gottesbeweise zu untergraben weiß und auf moralischer Basis einen Glauben initiiert, wird diesem gänzlich Folge geleistet und die Kantischen Errungenschaften vor etwaigen Zeitgenossen, die sich der ursprünglichen, wenngleich nicht länger hinreichenden Ansichten um Gott verschrieben 853 Kalmann, Darstellung, 217, 387. 854 Vgl. Kant, KpV, 1968, AA V 109 ff., 62 f. 855 Vgl. Kalmann, Darstellung, 222 f., 389 f. 856 Vgl. Kalmann, Darstellung, 223 ff., 390 ff. 857 Kalmann, Darstellung, 228, 394. 225

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

haben, verteidigt. Daher wird die Kantische Philosophie auch nur insofern kritisiert, als ihr Ergänzungen aus der Theorie des Vorstellungsvermögens zuteilwerden. Den eigenen Anspruch, seinen Glauben mit der Sittlichkeit zu verknüpfen und einen hinreichenden Beweis für das tatsächliche Dasein eines auf Grundsätzen der Moral handelnden Gottes aufzufinden, erfüllt Reinhold, indem er Kant Folge leistet und dessen Grundsätze für seine eigenen Theorien übernimmt sowie teilweise weiterentwickelt. Dadurch findet er letztlich auch dasjenige wieder, was er so lange Zeit vermisst hat – ein mit Glauben erfülltes Leben, in welchem Gott als oberste Instanz von Sittlichkeit zu begreifen sowie der Mensch dieser Moral prinzipiell, wenn auch faktisch nicht vollständig, teilhaftig ist. Es wird gewährleistet, dass jedem in Bezug auf seine eigenen Handlungen ebendas geschieht, was ihm auch zusteht. Insofern ist jeglicher Gedanke an einen Willkürgott oder einen solchen, dem die Menschheit gleichgültig ist, hinweggerafft. Wenn deutlich ist, dass es einen großen Unterschied macht, ob man auf gute oder böse Art und Weise handelt, werden die Menschen endlich damit beginnen, sich ihrer Taten bewusst zu werden und die Konsequenzen für ihr weiteres Leben hinzunehmen.

226

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

6. Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds zu zeitgleichen Veröffentlichungen und Kant selbst Nun ist es an der Zeit herauszustellen, wie die Informationen zu den einzelnen Werken und Vorlesungen Reinholds zusammenzubringen sind und wie dieselben sich zu Kant und seiner Philosophie verhalten. Das Ziel wird sein, die Zusammenhänge und Differenzen zwischen den beiden Denkern zu ermitteln, um eines Gesamtbildes teilhaftig zu werden, welches offenbaren soll, wie die Kantische Philosophie mit der Elementarphilosophie einhergeht und ob Reinhold insofern als Kantianer zu bezeichnen ist. Die Briefe I, welche zu Beginn der vorliegenden Arbeit erörtert und interpretiert worden und als erste Versuche Reinholds zu werten sind, die Kantische Philosophie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, halten für sich betrachtet wenig Neuartiges bereit – sieht man einmal von der Vier-Parteien-Theorie ab, welche Reinhold in Bezug auf die unterschiedlichen philosophischen Lager und ihre Ansätze entwickelt hat. Diese Briefe wurden allerdings auch bereits zwischen 1785 und 1786 im Teutschen Merkur veröffentlicht und erst später zu einem Buch zusammengefügt, zu einer Zeit also, in welcher Reinhold die KrV gerade erst gelesen und in ihren Grundzügen durchdacht, jedoch noch nicht verinnerlicht hatte, um weitere Argumente daraus abzuleiten. Als Konglomerat betrachtet, handelt es sich hierbei um eine Schrift, die zunächst eindeutig darauf hinauswill, die wichtigsten Argumente Kants vorzutragen, zu erläutern und einem breiten Publikum verständlich zu machen. Denn diese wurden von Zeitgenossen aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit und fehlenden Zugänglichkeit bis dahin nicht richtig oder aber überhaupt nicht verstanden, worauf harsche Kritiken folgten, die in gewissem Maß bis heute noch nicht gänzlich beigelegt worden sind. Zudem war es für Reinhold unerlässlich, die Kantischen Ansätze in die Geschichte der Menschheit einzubetten sowie im sogenannten Geist des Zeitalters darzustellen und insofern auf seine Zeit und deren eigentümliche Problematiken zu übertragen, um mithilfe der Transzendentalphilosophie Lösungsansätze für konkrete Unzulänglichkeiten liefern zu können. So sollten etwaige Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Religion und Moral hinweggerafft und eine auf Vernunftprinzipien gründende, religiöse Überzeugung geschaffen werden, für die allein 227

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

die Philosophie Kants in Reinholds Augen hinreichend sein konnte. Entscheidend war für Reinhold hierbei vor allem die Entstehung eines sogenannten Evangeliums der reinen Vernunft für die Ära der Menschheit sowie der freie Vernunftgebrauch in etwaigen religiösen Angelegenheiten, um letztlich eine Vernunftreligion zu etablieren. Darüber hinaus wird die Auseinandersetzung zwischen den einzelnen philosophischen Lagern als große Komplikation der damaligen Philosophie und Theologie aufgefasst, dadurch »Reinhold im Grunde genommen die kantische Antinomieenlehre zu einem Gegensatz innerhalb des damaligen Zeitgeistes ausweitet.«858 Durch die Kantische Philosophie allein kann sodann eine Vereinigung stattfinden, welche Frieden unter den einzelnen Lagern zu stiften vermag, womit ein eindeutiges Friedensmotiv an den Tag gelegt wird.859 Die Verknüpfung von Philosophie und Zeitgeist muss als echte Novität Reinholdschen Schaffens angesehen werden.860 Eine gewisse Abweichung der beiden Denker entsteht nur insofern, als Reinhold insgesamt auf ein alles umfassendes Prinzip aus ist, Kant dagegen von einem Faktum der Erfahrung ausgeht und die Bedingungen der Möglichkeit derselben aufsucht, wobei nur die letztere Ansicht der Charakteristik von Metaphysik entspricht, da diese eben nach Bedingungen und nicht nach Prinzipien fragt.861 Bevor sich Reinhold überhaupt der Kantischen Philosophie zuwandte, war er selbst ein Christ, welcher sich aufgrund etwaiger Meinungsverschiedenheiten mit der Kirche seines Glaubens beraubt sah und deshalb Antworten auf seine Fragen in den Werken Kants suchte. Die erste Stelle, welche Reinhold zur gänzlichen Lektüre der KrV angeregt hat, bezieht sich auf den Abschnitt zum transzendentalen Ideal, das näher besehen als Gott charakterisiert werden kann:

858 Onnasch, Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?, in: Hackl/Danz [Hg.], Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, 2017, 21. 859 Vgl. Onnasch, Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?, in: Hackl/ Danz [Hg.], Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, 2017, 21. 860 Vgl. Onnasch, Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?, in: Hackl/ Danz [Hg.], Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, 2017, 23. 861 Vgl. Krings, Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied von Ursache und Bedingung, in: Philosophisches Jahrbuch, 92. Jahrgang 1985, 105. 228

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

»Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und nothwendig ist, erfüllen.«862 Durch diese Passage wurde Reinhold darauf aufmerksam, dass es sich (gemäß Kant) bei Gott um ein absolut vernünftiges Wesen handeln müsse, welches als Schöpfer der Welt angesehen werde und dessen Vernunft auch die Menschen teilen, wenngleich in viel geringerem Maße. Die uns zuteil gewordene Vernunft ist es auch, welche bestimmt, wie wir uns in einer konkreten Situation entscheiden – entweder im Einklang mit dem Sittengesetz oder dagegen, um eine Lust zu befriedigen bzw. der eigenen Glückseligkeit näher zu kommen. Es ist durchaus von Vorteil, moralisch zu handeln, weil dadurch auf Lohn wie auch ein Leben nach dem Tod gehofft werden darf. Es müsse demnach ein Gott existieren, dessen Dasein man zwar nicht beweisen, notwendigerweise aber als möglich annehmen müsse, da sittliches Handeln in der Welt ansonsten keinerlei Bedeutung hätte und es prinzipiell unerheblich wäre, ob ein Mensch auf gute oder böse Art und Weise an eine Sache herangehe. Eben weil Reinhold einen Glauben exzerpieren konnte, welcher sich auf Vernunft und damit zugleich auf Moral stützt, wurde er zum ersten und wahrscheinlich wichtigsten Rezipienten der Kantischen Philosophie. Es ist augenscheinlich, dass Reinhold Kant als eine Art Lichtgestalt oder Vorbild sah und dessen Lösungsansätze – vor allem durch die Briefe über die Kantische Philosophie – der Welt zu offenbaren versuchte, um etwaige Kritiker von der Größe der Transzendentalphilosophie zu überzeugen, die ihm so sehr geholfen hatte. Tatsächlich finden sich innerhalb des ersten Bandes der Briefe keine konkreten Aussagen darüber, dass Reinhold ein Argument gegen Kant vorzubringen hat oder deutlich über seine Errungenschaften hinausgehen möchte. Anders verläuft dies sodann bei der Elementarphilosophie, welche mit dem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens anhebt und in der Fundamentschrift gipfelt.

862 Kant, KrV, 1968, A 813/B 841, 527. 229

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Diese erschien sodann im Jahre 1791 und ist als Feinschliff der Elementarphilosophie Reinholds zu erachten, insofern er seine Argumente zu einem Fundament und ersten Grundsatz aller Philosophie mit diesem Werk thematisch zu einem Ende führt. Im Grunde werden die Ansätze, welche zuerst im Versuch – und später innerhalb der Beyträge I und II – entwickelt wurden, geschärft und an konkreten Stellen weiterentwickelt, um letztlich ein tatsächliches und unumstößliches Fundament aller Philosophie konstituieren zu können, woher im Übrigen auch die Wahl des Titels rührt. Innerhalb der Fundamentschrift sind die größten Abweichungen zur Kantischen Philosophie zu verzeichnen, da Reinhold schlicht seiner eigenen Theorie nachgeht und die Kantischen Argumente lediglich dazu verwendet, seine Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens zu erweitern und durch den Gehalt Kantischer Gedanken zu präzisieren wie auch zu begründen. Als Errungenschaften der Fundamentschrift sind vor allem die Konstituierung eines ersten wie auch obersten Grundsatzes in Bezug auf ein allgemeingeltendes wie allgemeingültiges Fundament der Philosophie in Gänze und die Erschöpfung des Vorstellungsbegriffs bzw. eines Begriffes des Vorstellungsvermögens zu verzeichnen, der vom Kantischen Erkennen bzw. Erkenntnisvermögen zu differenzieren ist. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass Reinhold die sogenannte Theorie des Begehrungsvermögens als praktisches Element seiner Philosophie einführt. Da gerade in diesem Werk viele Präzisierungen und Erläuterungen zu verzeichnen sind, liegt es nahe, dass damit auf etwaige kritische Rezensionen zu vorangegangenen Schriften – die Elementarphilosophie betreffend – eingegangen werden soll, um seine Theorie zu verteidigen und ihr eine feste, unumstößliche Grundlage zu verschaffen. Die Fundamentschrift bietet gemäß Reinhold insofern einen finalen Kurs, der die Vernunftkritik übersteigt und alle Unzulänglichkeiten hinwegräumt. Mit dieser soll einerseits die Begründung von Erkenntnis, andererseits die Einheit des Systems und seiner Begrifflichkeiten legitimiert werden. Das Fundament dient also dazu, Kants Ergebnisse aus den ersten beiden Kritiken zu einem vollständigen System der Elementarphilosophie fortzubilden, wobei nicht darauf hingewiesen wird, woher die Idee, ein alles umfassendes Fundament etablieren zu wollen, überhaupt stammt. Reinhold gibt nur an, dass der vernunftkritische Grundstein Kants seines Erachtens nach weder als fest noch als allgemein genug bezeichnet werden kann, dadurch nun Abhilfe durch die Theorie des Vor230

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

stellungsvermögens zu schaffen ist. An deren Spitze wird sodann der Satz des Bewusstseins als Grundsatz der Vorstellung überhaupt gesetzt, welcher als allgemeingeltender und allgemeingültiger Grundsatz allerdings keine praktische Philosophie zu begründen in der Lage ist. Dieser Satz nun geht daraus hervor, dass Reinhold das Bewusstseins anders als Kant triadisch strukturiert, sodass Subjekt, Objekt und Vorstellung unterschieden und wechselseitig aufeinander bezogen werden, wodurch eine Neuerung zu verzeichnen ist. Allerdings ist das Reinholdsche Bewusstsein nur durch Formen charakterisiert, dadurch nicht ersichtlich wird, woher die Materie hierzu stammt. Den Bezichtigungen, welche die Kantischen Errungenschaften als mangelhaft betiteln, ist nicht stattzugeben, da Reinhold für seine eigenen Forderungen nach einem strengwissenschaftlichen System kein hinreichendes Ableitungsmodell an die Hand gibt und der Begriff von Vorstellung überdies zwar als allgemeiner, nicht aber als fundamentaler im Vergleich zu demjenigen von Erkenntnis, welchen Kant etabliert, zu bezeichnen ist. Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass Reinhold nach Beendigung der Fundamentschrift – und damit nach 1791 – keine weiteren Werke geliefert hat, die mit seiner Elementarphilosophie in Verbindung gebracht werden können – auch innerhalb der von ihm gehaltenen Vorlesungen nimmt er lediglich Bezug auf seine Argumentationen aus dem Versuch und der Fundamentschrift. Er geht also davon aus, dem Anspruch, ein unumstößliches Fundament der Philosophie zu errichten, durch die eben genannten Schriften hinreichend gerecht geworden zu sein, was allerdings nicht der Fall ist. In Jena galt Reinhold als eine der großen Attraktionen und zog eine Vielzahl von Studenten an, die seinen Vorlesungen, welche innerhalb der vorliegenden Arbeit beleuchtet worden sind – vor allem zur KrV – lauschen wollten. Man muss sich vor Augen halten, dass Reinhold beim Halten einer Vorlesung stets junge Menschen vor sich hat, welche die KrV weitgehend entweder gar nicht oder vielleicht einmal gelesen, vermutlich aber wenig davon verstanden haben. Daher klammert er Schwieriges wie das Deduktionskapitel überwiegend aus. Er möchte allerdings ein glaubwürdiges und vernünftiges Gottesverständnis vermitteln, was er auch mit Eifer tut. Aus diesem Grund greift er zum Ende seiner Vorlesung aus den Jahren 1792 und 1793 die praktische Philosophie Kants, die selbst nicht Teil der KrV, sondern der KpV ist, auf, um zu vermitteln, was ihm aus seinen Zweifeln herausgeholfen hat und 231

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

ein besseres religiöses Leben ermöglicht. Darin besteht auch die tiefste Intention der Vorlesung. Diese Tatsache wird noch einmal Anklang finden, wenn es um die Interpretation der Vorlesungsnachschriften zu tun sein wird, welche aufklären, wie sich diese zu gleichzeitigen Werken Reinholds und zu Kant selbst verhalten. Damals wie heute war und ist das Echo der Lehre Reinholds groß, was vor allem an seiner Originalität, aber auch an seinem Mut liegt, die Inhalte Kants nicht nur nachzubeten, sondern einen eigenen Weg einzuschlagen – auch wenn er im Großen und Ganzen mehr zur Klärung und zum besseren Verständnis von Begriffen als zum Ersetzen von Kantischen Kernaussagen durch seine eigene Theorie beigetragen hat. Die Elementarphilosophie sollte vor diesem Hintergrund als Unternehmung angesehen werden, die aufdeckt, was bisher unentdeckt geblieben ist, um das Wissen der Menschheit zu erweitern und einen kleinen Schritt in Richtung eines Systems zu wagen, welches letztlich alles zu umfassen vermag – auch wenn Reinhold mit seinen Ansätzen selbst noch lange nicht zum Abschluss dieses Themenkomplexes gelangt ist. Auch Kant selbst äußert sich mehrfach – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne – über Reinhold und sein Vorgehen. In einem Brief Reinholds an Baggesen vom Dezember 1791 schreibt er, dass Kant wohl zugestanden habe, das Fundament Reinholds gelesen, aber lediglich die erste Hälfte davon verstanden sowie akzeptiert, die zweite Hälfte dagegen als unverständlich erachtet zu haben.863 Jedoch habe die Liebe Kants »selbst seit der Zeit, da er mich [Reinhold] der Verbreitung seiner Philosophie mehr hinderlich als beförderlich glauben muß, eher zuals abgenommen, und diese Liebe ist mir nun theurer, unendlich schätzbarer, als wenn sie durch eine Dankbarkeit belebt würde, die ich meiner innigsten Ueberzeugung nach nicht einmal verdient habe.«864 Führt man sich vor Augen, dass Reinhold seinen Versuch bereits 1789 verfasste und der zweite Band der Briefe erst 1792 als Konglomerat erschien, ist es zunächst erstaunlich zu sehen, dass vorrangig die Hauptargumente der Kantischen Philosophie dargestellt und einem fiktiven Freund mit großer Zustimmung erläutert werden, wenngleich auch 863 Vgl. Malter [Hg.], Immanuel Kant in Rede und Gespräch, 1990, 369. 864 Malter [Hg.], Immanuel Kant in Rede und Gespräch, 1990, 369. 232

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

eigene Gedanken hineinfließen und damit in Verbindung gebracht werden. Denn die Theorie des Vorstellungsvermögens, welche zu diesem Zeitpunkt längst entwickelt war, findet inhaltlich nur an einigen wenigen Stellen Einzug in die Briefe. Reinhold gibt innerhalb des zweiten Bandes an, dass einige Ansätze Kants noch verbessert oder fortgeführt werden müssen, damit diejenige Philosophie, nach welcher er sich sehnt und die sein eigentümliches Vorhaben ist, auch tatsächlich als System alles Wissens etabliert werden kann. Insofern ist Reinhold – auch innerhalb seines Briefe-Projektes – nicht nur als Popularisator der Kantischen Philosophie anzusehen, sondern vor allem als Selbstdenker, der sich – wenn auch in geringem Maße – von seinem Vorbild abzuheben versucht. Dass die Theorie des Vorstellungsvermögens, wie zuvor erwähnt, kaum Anklang innerhalb der Briefe findet, erscheint zunächst merkwürdig, ist jedoch insofern nachzuvollziehen, als Reinhold gerade in diesen großen Wert darauf legt, die Kantische Philosophie erst einmal verständlich darzustellen, bevor mit den Werken zur Elementarphilosophie auf etwaige Verbesserungen eingegangen werden kann. Denn erst, wenn die Kantischen Argumente vollständig begriffen sind, kann ein Leser, welcher sich der Theorie des Vorstellungsvermögens widmen möchte, diese auch in Gänze nachvollziehen und erschließen, da er sodann die fundamentalen Kernaussagen kennt. Reinhold wagt es nicht, sich und seine eigenen Errungenschaften über diejenigen Kants zu stellen, weil er genau weiß, dass er diesen zwar etwas hinzufügen kann, jedoch nicht in demselben Umfang, welchen Kant bereitgestellt hat, um das menschliche Wissen zu erweitern. Insofern ist auch der zweite Band der Briefe zu großen Teilen dazu bestimmt, die Philosophie des Lehrmeisters auszulegen und für ein breites Publikum greifbarer zu gestalten, um von dort aus schließlich zu neuen Ufern aufzubrechen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Reinhold in keiner Weise von den Kantischen Theorien abweicht, gerade weil bereits innerhalb der Briefe II der Wunsch nach einem vollständigen System der Philosophie bzw. nach einem Fundament derselben sowie nach einem ersten Grundsatz von Moral und Naturrecht etabliert wird. Kant geht dagegen von einem Faktum der Erfahrung aus und sucht Bedingungen der Möglichkeit zu ebendieser auf, um schließlich zum Unbedingten innerhalb der Reihe von Bedingungen gelangen zu können. Zudem stellt Reinhold in aufklärerischer Absicht eine Theorie von Moral und Naturrecht sowie eine der Willensfreiheit auf, die, wie in der entsprechenden Passage der 233

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

vorliegenden Arbeit erwähnt wurde, stark von derjenigen Kants abweicht und überdies als problematisch angesehen werden muss. Während Reinhold die Freiheit in der Befriedigung oder aber Nichtbefriedigung des eigennützigen, menschlichen Triebes verortet, bekundet Kant, dass man über eine solche Entscheidung nichts wissen oder aussagen könne, da eine Wahl zugunsten des eigennützigen Triebes als aktive Willensbestimmung gegen die Vernunft angesehen werden müsse und insofern gänzlich von dieser zu abstrahieren sei. Ebendiese Differenz zeichnet sich auch innerhalb der Vorlesungsnachschriften zur Logik und Metaphysik ab und wird an der betreffenden Stelle noch einmal Anklang finden. Im Großen und Ganzen kann also geschlossen werden, dass Reinhold der Kantischen Philosophie innerhalb seines Briefe-Projektes keine neuen Erkenntnisse hinzufügt, welche diese tatsächlich und umfangreich fortzuentwickeln in der Lage wären. Jedoch hat er es geschafft, die Argumente Kants für eine breite Öffentlichkeit greifbar zu gestalten und so aufzubereiten, dass sie ihre Dunkelheit verlieren. Es ist Reinhold zuzuschreiben, dass die Welt seinem Illuminator gegenüber aufgeschlossener wurde, da er etwas in dessen Philosophie verorten konnte, was ihn persönlich vorangetrieben hat und seinen Glaubenszweifeln Abhilfe zu schaffen vermochte – die Beschaffenheit von menschlichem Wissen sowie eine Religion, deren Wurzeln in der Moral gelegen sind. Für Kant war es jedoch fatal, dass er Reinhold gegenüber nie Kritik bezüglich dessen Briefe zukommen ließ, da etwaige Unstimmigkeiten und Differenzen bereits früh aus der Welt geräumt hätten werden können.865 Wahrscheinlich tat er dies, weil ihm dadurch endlich der Beifall und die Wirkungsbreite zuteilwurden, die er sich immer gewünscht hatte866 – es ist nämlich anzunehmen, dass er genau wusste, wie es zu dieser Zeit um seine Philosophie und das allgemeine Verständnis derselben stand. Jedenfalls sagte Kant einmal über Reinhold, dass dieser ihm »zu viel guts gethan, als daß [er] böses von ihm sagen wollte.«867 In den gedruckten Schriften Reinholds, auf welche eben noch einmal hingewiesen wurde, ist ein anderes Verhältnis zu Kant und seiner Philosophie zu verzeichnen als in den Vorlesungen bzw. deren Nach865 Vgl. Onnasch, Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?, in: Hackl/ Danz [Hg.], Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, 2017, 19. 866 Vgl. Onnasch, Kant als Anfang der Klassischen Deutschen Philosophie?, in: Hackl/ Danz [Hg.], Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, 2017, 19. 867 Malter [Hg.], Immanuel Kant in Rede und Gespräch, 1990, 353. 234

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

schriften, da diese eine andere Wirkung erzielen. Bei letzteren ist es unmöglich, die Kantische Philosophie in Gänze darzustellen und den Studenten zu eröffnen, da einerseits nicht genug Zeit vorhanden ist, um alle Ansätze zu erläutern und etwaige Gedanken nachzuvollziehen sowie andererseits nicht der Anspruch besteht, jungen Menschen, welche die KrV gerade einmal gelesen haben, aber sicherlich nicht zu durchdenken imstande gewesen sind, dieses umfangreiche und schwierige Werk in kürzester Zeit zu erläutern. Die Publikationen Reinholds (in der vorliegenden Arbeit die Briefe und die Fundamentschrift) sprechen dagegen eine andere Sprache. In diesen wird ihm sowohl die Zeit als auch die Gelegenheit zuteil, die Philosophie Kants umfangreich zu erläutern, zu ergänzen und seine eigenen Theorien darauf aufzubauen. Die Briefe über die Kantische Philosophie waren allerdings vorrangig dazu gedacht, das Hauptwerk des Königsbergers der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und seiner Dunkelheit zu entheben. Wie zuvor bereits erwähnt, hat Reinhold diese Aufgaben mit Bravour gemeistert, sodass Kant auch heute noch als der berühmteste aller Philosophen angesehen wird. Hätte Reinhold diese Leistung nicht vollbracht, wäre Kant wohl nie zu solchem Ruhm oder einer solchen Aufmerksamkeit gelangt, wie es heutzutage der Fall ist. Anders verhält es sich mit der Fundamentschrift bzw. der Elementarphilosophie Reinholds. Denn hierbei sind einige Fehler und Unzulänglichkeiten zu verzeichnen, auf deren Basis falsche oder unzureichende Schlüsse gezogen wurden, dadurch die Theorie des Vorstellungsvermögens zwar als angemessenes Grundgerüst dienlich sein kann, jedoch nicht für die Philosophie in Gänze. Reinholds eigentlicher Anspruch war es, eine neue, über allem erhabene Form der Philosophie zu kreieren, welche zwar auf der Kantischen Vernunftkritik basiert, jedoch entschieden über diese hinausgeht. Dieser Anspruch an seine Elementarphilosophie ist insofern als der einzige zu werten, welchem er nicht gerecht werden konnte. Das hat auch Kant an einigen Stellen gesehen, Reinhold allerdings nie scharf kritisiert, sei es aufgrund etwaiger Ausführungen zur Theorie des Vorstellungsvermögens oder aber zur Reinholdschen Auslegung der Kantischen Philosophie. Die Vorlesungsnachschriften – einerseits zu Logik und Metaphysik, andererseits zur Darstellung der KrV – stammen aus den Jahren 1792 und 1793, was bedeutet, dass die Elementarphilosophie Reinholds vollständig ausgereift war und er die Kerngedanken aus dem Kantischen 235

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Hauptwerk bereits verinnerlichen konnte. Es ist davon auszugehen, dass Reinhold für diese Vorlesungen je ein Skript vorbereitete, welches später immer wieder zur Hand genommen wurde. Innerhalb der Nachschriften zur Logik fällt besonders auf, dass Reinhold Elemente der Kantischen Vernunftkritik in das System einfügt, was davon zeugt, dass er diejenige Logik, welche Kant zu Tage gebracht hat, als gut und richtig, wenngleich auch als nicht vollständig erachtet. Große Teile der Vorlesung zur Logik entsprechen den Argumenten aus der Transzendentalen Analytik der KrV, wodurch die Transzendentale Logik Kants gewissermaßen zur Logik überhaupt bzw. einem Fundament der Logik per se erklärt wird. Diese stellt Reinhold nun jedoch lediglich in ihrem Funktionieren dar, ohne auf eine Begründung derselben, die Kant in seiner Transzendentalen Deduktion liefert, einzugehen. Tatsächlich wird das Deduktionskapitel aus der KrV nicht einmal erwähnt und die für Kant so bedeutsame Frage nach einer Legitimierung gänzlich außer Acht gelassen. Insofern wird lediglich eine Phänomenologie – eine Beschreibung des Bewusstseins selbst – gegeben. Auch die Nachschriften zur Metaphysik weisen zahlreiche Berührungspunkte mit der Kantischen Philosophie auf, insofern bahnbrechende Neuerungen, welche Kant geliefert hat, herausgearbeitet und in einen Gesamtzusammenhang mit der Metaphysik im Allgemeinen, welche zwar bis dahin vorherrschend, aber unzulänglich gewesen ist, gestellt werden. So soll etwaigen unzureichenden Theorien Abhilfe geschaffen werden. Reinhold konzipiert also eine Metaphysik, welche nach dem Kantischen Vorbild fungiert – gerade weil die Transzendentalphilosophie eine Antwort auf die Frage liefert, wie Metaphysik als Wissenschaft überhaupt möglich sein kann. Allerdings sind auch Ansätze zu verzeichnen, welche diesem Vorbild entgegenstehen – vor allem wenn es um den Begriff des Willens und der Willensfreiheit zu tun ist, da dieser als schlicht unkantisch zu bezeichnen ist. Für Kant bedeutet der Wille zunächst Selbstgesetzgebung der Vernunft, was nahelegt, dass nur derjenige, der sich selbst das Gesetz zu geben imstande ist, auch tatsächlich frei sein kann. Insofern ermöglicht die Freiheit der Vernunft diejenige des individuellen Willens. Reinhold dagegen sieht die Freiheit des Willens darin gelegen, sich selbst für eine Befriedigung oder aber Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes zu entscheiden, worüber nach Kantischer Sicht jedoch nichts gewusst werden kann, da eine Ent236

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

scheidung zum Bösen als aktive Willensentscheidung gegen die Vernunft angesehen werden muss. Die Nachschriften zur Darstellung der KrV entsprechen – noch stärker als diejenigen zur Logik und Metaphysik – nahezu in Gänze den Inhalten der KrV selbst, eben weil Reinhold mittels dieser Vorlesung eine genaue Exzerption und Auslegung derselben in Angriff nimmt, um seinen Studenten die Argumente des Vorbildes näherzubringen. In Jena galt er als angesehener Professor, an dessen Vorlesungen auch viele begabte Studenten teilnahmen, die zuvor beispielsweise in Tübingen immatrikuliert waren, um sich mit den unterschiedlichen Themengebieten und Meinungen auseinanderzusetzen. Der damalige Wirkungskreis der Lehren aus Jena muss insofern als überaus bedeutungsvoll angesehen werden. Einige Gegebenheiten werden jedoch nicht hinreichend dargestellt oder vernachlässigt, beispielsweise in Bezug auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bzw. Kategorien, welche im Kantischen Ich denke vereinigt sind. Den Kategorien wohnt nämlich gemäß Kant stets Objektivität bei sowie wir als Menschen beim Denken als objektivitätsrekurrierend zu bezeichnen sind. Diesen Punkt vernachlässigt Reinhold völlig, was darauf schließen lässt, dass er diesen entweder nicht verstanden, fälschlicherweise für unwichtig erachtet hat oder er für seine Studenten zu schwierig erschien. Dieser Umstand ist, wie zuvor bereits erwähnt, auch der Tatsache geschuldet, dass es sich eben um Vorlesungen und nicht um gedruckte Texte bzw. Veröffentlichungen handelt. Insofern kann Reinhold sinnvollerweise keine umfangreiche Auseinandersetzung mit Kant und seiner Philosophie durchführen, da dies für die Studenten schlicht zu viel gewesen wäre. Deshalb bemüht er sich, das Wichtigste zu vermitteln, ohne seine Schützlinge an ihre Grenzen stoßen zu lassen, nämlich das Gottes- bzw. Religionsverständnis, welches er nutzt, um sein Evangelium zu verheißen. Darin – ebenso wie in der Zugänglichmachung der Kantischen Philosophie – besteht sodann auch die tiefste Intention der Vorlesung sowie seine größte Errungenschaft, welche in den Idealismus eingegangen ist. Auch auf die Debatte um das Ding an sich, welches Kant als unerkennbar bezeichnet hat, weil dadurch gar nichts erkannt werden kann, muss an dieser Stelle kurz verwiesen werden.868 Bei Reinhold wird das Ding an 868 Vgl. Kant, KrV, 1968, A 30/B 45, 57. 237

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

sich als unvorstellbar definiert, wobei nicht explizit gesagt wird, ob es auch als unerkennbar zu betiteln ist, sondern nur, dass »kein Ding an sich die Form meiner Vorstellung haben kann, weil sonst kein Bewustseyn möglich wäre […].«869 Genauer besehen wird hier eine Art Perspektivismus generiert, insofern das Ding an sich für uns als Menschen unvorstellbar bezeichnet wird, was allerdings nicht bedeuten muss, dass ein höherer, göttlicher Verstand kein solches vorzustellen vermag. Die Perspektive, mit welcher man sich dem Ding an sich nähert, entscheidet also darüber, ob man sich dieses vorstellen, wenngleich auch nicht erkennen kann. Da wir aus unserem »Mensch-Sein« nicht herauskommen, ist es unmöglich für uns, Dinge an sich vorzustellen oder gar erkennen zu können – das bleibt allein Gott bzw. einer höheren Vernunft vorbehalten, auch wenn Reinhold diese Gegebenheit nicht ausdrücklich in seiner Vorlesung verdeutlicht. Jedenfalls liefert er keinen Ansatz, aus dem heraus ersichtlich wäre, dass er an dieser Sichtweise seiner Philosophie Kritik anwenden würde. Im Allgemeinen greift Reinhold innerhalb seiner Vorlesungen, deren Nachschriften erörtert worden sind, lediglich auf seine Theorie des Vorstellungsvermögens zurück, welche bereits im Versuch entwickelt und in der Fundamentschrift komplettiert wie auch verteidigt worden ist – es kommen demnach keine neuen Inhalte oder Ergänzungen hinzu, welche über das Jahr 1791 hinausreichen. Zudem wird deutlich, dass Reinhold seine eigenen philosophischen Errungenschaften herauszuheben gedenkt, Kant jedoch nicht, wie etwaige Zeitgenossen, scharf kritisiert, obgleich einige Unzulänglichkeiten auftauchen, denen Reinhold Abhilfe verschaffen möchte. Im Großen und Ganzen macht sich das Gefühl breit, dass er davon ausgeht, weiter über Kant hinausgekommen zu sein, als es tatsächlich der Fall ist. Denn im Grunde genommen werden die Argumente des Vorbildes lediglich exzerpiert, in einen Gesamtzusammenhang gestellt und so abgeändert, dass ihnen letztlich nichts Wesentliches hinzugefügt, sondern diese bloß nach Reinholdschem Muster und Vorgehen verändert werden. Durch eine solche Abwandlung allein wird die Transzendentalphilosophie jedoch noch nicht in ihren Grundzügen reformiert. Selbstverständlich darf nicht vergessen werden, dass Reinhold eine Vorlesung hält und eben kein Werk publiziert, dadurch die Anforderungen an die Genauigkeit der Auslegung der Kantischen Philo869 Kalmann, Darstellung, 186, 364. 238

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

sophie sich verschieben. Denn seine Studenten haben sich, wie bereits dargestellt, die KrV (wenn überhaupt) einmal zu Gemüte geführt – und sicherlich nicht in einem solchen Umfang, dass alles verständlich gewesen wäre. Reinhold setzt hier an und ist insofern darauf aus, die essentiellsten Gegebenheiten und Resultate weiterzugeben. Dafür muss er allerdings, wie bereits angedeutet, auf schwierige Passagen, wie beispielsweise die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, verzichten, um sicherstellen zu können, dass die Jenaer Studenten seine Gedankengänge und Ausführungen auch nachzuvollziehen imstande sind. Die Persönlichkeit wirkt in Vorlesungen nämlich mehr als in Schriften. Reinhold nutzt das, um letztlich sein Evangelium verkünden zu können, womit er durchaus diejenige Wirkung erzielt, welche in den Idealismus eingegangen ist, nämlich ein Verständnis von Religion, welches auf moralischen Grundfesten ruht und ihn selbst von üblen Zweifeln befreit hat. Die Vorlesungen sind insofern als Einführung zu deuten. Betrachtet man nun das Vorhaben Reinholds, die Kantische Philosophie voranzutreiben und einer breiten Masse zugänglich machen zu wollen, genauer, kann ausgesagt werden, dass er dieses prinzipiell – wenn auch nicht in Gänze – erfüllt hat. Denn ohne dessen Zutun wäre das Hauptwerk seines Illuminators weiterhin dunkel und undurchsichtig geblieben, was es möglicherweise sogar zum Scheitern verurteilt hätte, da die meisten Zeitgenossen der Inhalte der KrV schlicht nicht mächtig hätten werden können. Auch die Kantische Terminologie erschien ungeordnet und konfus, was daran liegt, dass Kant sein Hauptwerk nicht etwa innerhalb eines Jahres, sondern erst nach einem Jahrzehnt abschloss und insofern einige Begriffe und Ausführungen nicht zueinander zu passen schienen. Reinhold war sodann imstande, diese Probleme zu beseitigen, indem er etwaigen Begriffen unmissverständliche Bedeutungen zuordnete und die Inhalte der KrV so für die Menschen der damaligen Zeit verständlicher gestaltete. Allerdings treten, wie an verschiedenen Stellen ausgeführt wurde, mannigfaltige Unterschiede zwischen den beiden Denkern auf, welche davon zeugen, dass Reinhold letzten Endes nicht als klassischer Kantianer einzuordnen ist, sondern eher als nachkantischer Grundsatz- oder aber Bewusstseinsphilosoph innerhalb einer eigenen Sparte betrachtet werden muss. Kant nämlich geht stets vom Geringsten bzw. dem Menschen am nächsten Gelegenen, also den Erscheinungen, aus und gelangt von dort aus zum Fundamentalen – den Ideen und Vernunftbegriffen – während 239

Zur philosophischen Beziehung Karl Leonhard Reinholds und Immanuel Kants

Reinhold von einem obersten und ersten Grundsatz ausgeht und sein System, die Theorie des Vorstellungsvermögens, darauf aufbaut. Insofern sind bereits die Ansatzpunkte wie auch Systematiken der beiden Philosophen als grundlegend unterschiedlich zu bewerten. Zwar wird das Kantische Vorhaben, das Bewusstsein von Vorstellungen aufzuzeigen870, genutzt, um zum Satz des Bewusstseins zu kommen, jedoch fließen hauptsächlich eigene Überlegungen ein, die über den Lehrmeister hinausführen sollen, um diesen Satz als den einzig möglichen, obersten Grundsatz zu etablieren, welchen Kant so sicherlich nicht vor Augen gehabt hat und wohl auch nicht als Vollendung seiner Philosophie angesehen hätte. Insgesamt ist also zu sagen, dass Reinhold mittels seiner Vorlesungen und Schriften zwei elementare Dinge erreicht hat, nämlich erstens eine Zugänglichmachung der Philosophie seines Illuminators, welche bis heute als umfangreichste Exzerption derselben angesehen wird und vielen Denkern zu verstehen geholfen hat sowie zweitens die Konstituierung einer moralischen Religion, welche ihm aus seiner eigenen Glaubenskrise geholfen sowie der fehlerhaften Ansätze der Kirche enthoben hat und die er nutzt, um sein Evangelium zu verheißen – worin letztlich auch die tiefste Intention der Vorlesung gelegen ist. Auch wenn seine Elementarphilosophie nicht auf diejenige Art und Weise erwachsen ist, die Reinhold sich gewünscht hätte, um selbst ein berühmter Philosoph mit gänzlich eigenen Ansatzpunkten zu werden, hat er mit den beiden vorgenannten Aspekten durchaus eine bedeutende Wirkung erzielt, die in den Deutschen Idealismus eingegangen ist und bis heute Bestand hat. Nebenbei bemerkt hat Reinhold überdies sowohl Fichte als auch Schelling zu deren späterer Konzeption einer Philosophie, die auf einem Prinzip mit oberstem Grundsatz bestehen sollte, angeregt, da er der erste Philosoph gewesen ist, der ein solches System der Philosophie im Sinn hatte und zu errichten versuchte. Allerdings – so wird in einem Brief von Baggesen an Erhard vom Juli 1791 ausgeführt – sind die beiden Denker auch nicht ohne Weiteres voneinander zu trennen, gerade insofern Reinhold die essentiellsten Tatsachen und Ansätze von Kant lernen konnte und diesem wiederum 870 Vgl. Karásek, »Soll man ihm das glauben?« Zu Fichtes Auseinandersetzung mit dem Schulzeschen Skeptizismus in »Aenesidemus-Recension«, in: d’Alfonso/De Pascale/Fuchs/Ivaldo [Hg.], Fichte und seine Zeit. Kontext, Konfrontationen, Rezeptionen, 2016, 43. 240

Zum Verhältnis der Kantvorlesungen Reinholds

seine ihm zustehende Berühmtheit zuteilwerden ließ: »Reinhold ist Kanten gewiß nicht bloß unendlich viel mehr als Plato dem Sokrates war, sondern Kantens Wirkung würde vielleicht ohne Reinhold sogar schädlich gewesen sein […].«871

871 Malter [Hg.], Immanuel Kant in Rede und Gespräch, 1990, 370. 241

C Epilog

Die Schriften, welche uns innerhalb der vorliegenden Arbeit beschäftigt haben und für ein Gesamtbild der Gegebenheiten die Reinholdschen Denkansätze betreffend hinzugezogen worden sind, zeichnen ein neuartiges Bild dieses Philosophen. Obgleich er von seinen damaligen Zeitgenossen für das angebliche Nachbeten der Kantischen Philosophie eher gerügt als gerühmt wurde, sollte sich später doch eine gewisse Zufriedenheit hinsichtlich der Werke Reinholds einstellen, gerade wenn es darum ging, die Schriften des Illuminators der breiten Öffentlichkeit, insbesondere seinen Studenten in Jena, zugänglich zu machen, die oftmals rein zu diesem Zwecke an die Universität kamen und ihn als Vorbild sahen. Als ein solches sollte er auch heutzutage häufiger in unsere Lehren und Gedankengänge miteinbezogen werden. In ihren Grundzügen hat die vorliegende Arbeit untersucht, wie sich die Vorlesungen Reinholds sowohl zu den Werken Kants als auch zu seinen eigenen Schriften verhalten. Letztlich hat sich ergeben, dass Reinhold überaus bemüht ist, die Kantische Hauptschrift dadurch verständlich zu machen, dass er eine Einführung in dieselbe gibt. Dabei bemerkt er zwar, an welchen Stellen er sich von Kant absetzt, hebt aber die Korrekturen an seinem Lehrmeister nicht besonders hervor. Reinhold vermengt die Kant-Kritik nicht mit seinem Werk und hält sich bei ebendieser ohnehin weitgehend zurück. Denn es kommt ihm im Grunde darauf an, die aus seiner Sicht essentiellsten Errungenschaften Kants zu vermitteln, nämlich das Denken der Gottesidee sowie die sich daran anknüpfende Begründung der Religion auf Moral. Für Reinhold ist es der Kantische Vernunft- und damit auch Moralbegriff, durch den wir Gott denken können, dadurch sowohl Gott als auch dem Menschen derselbe Verstand zuteil wird, nur eben in anderen Maßstäben. Die Errungenschaften Reinholds sollten auch heute ein Vorbild für uns darstellen, insofern sein Programm darauf abzielt, eine Religion zu konstituieren, welche mit keiner anderen vergleichbar ist. Denn die vorherrschenden Religionen setzen einen Gott voraus, dem mannigfaltige Eigenschaften wie die Allmächtigkeit oder die Allwissenheit zugeschrieben werden, der aber nicht als personifizierte Vernunft auftritt. 243

Epilog

Diesen Ansichten wird mit der auf Moral und Sittlichkeit fundierenden Religion entgegengewirkt und ein Glaube konzipiert, der sich über alle anderen, damaligen Äußerungen der Religion hinwegsetzt sowie er dem Anspruch gerecht wird, dass Moral und Religion zusammengehören. Gerade in unserer heutigen Zeit, in welcher ein radikaler Islamismus erblüht, ist es umso wichtiger, sich auf das der Religion wesentlich Zukommende zu konzentrieren und einzusehen, dass kein Willkürgott in der Lage ist, gerecht und rechtschaffen zu urteilen. Kurz gesagt: Gibt es keinen Gott, der auf moralischer Basis handelt, so ist die Moral auch für uns keine essentielle Angelegenheit, was in jedem Fall zu verwerfen ist. Existiert aber ein solcher, können wir uns sicher sein, dass gute Taten belohnt und schlechte bestraft werden – ein Grundgedanke, der so simpel wie fundamental ist.

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