Vernunft, Wissen, Glaube: Wege zu einem neuen Verständnis Immanuel Kants (Colloquium Metaphysicum) (German Edition) [1. Aufl. 2023] 3658406313, 9783658406318

Für das Verständnis der Philosophie Immanuel Kants eröffnen sich neue Einsichten, wenn man neben den Druckschriften auch

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German Pages 316 [294] Year 2023

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
Vernunft, Wissen, Glaube. Prägungen von Denk- und Lebensform im Licht der Philosophie Immanuel Kants
Logik
Europäische Kultur als Gesprächskultur
1 Das tragende Fundament von Gesprächskultur: das
Wissen um die Wahrheit im Gegenargument
2 Die geheime Prämisse von Gesprächskultur: die
Überzeugung von der Unmöglichkeit des totalen lrrtums
3 Der systematische Ort der Pflege von Gesprächskultur: die
Logik als Vernunftlehre
Wer sind die Erben der Aufklärung?
Kriterien für eine Antwort
1 Zur Situation der Gegenwart
2 Die Frage nach den Grundideen der Aufklärung und das
Problem des totalen Irrtums
3 Die Aufklärung und der Staat
Vom richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen. Gesprächs- und Lesekultur von Christian Wolff bis
Immanuel Kant
1 Vom Umgang mit den Gedanken der Anderen im
Streitgespräch
2 Vom Umgang mit den Gedanken der Anderen beim
Bücherlesen
Metaphysik
Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede? Zum Streit um die richtige Übersetzung des Titels von
Kants Dissertation des Jahres 1770
1 Kants Buchtitel
2 Der Titel der Dissertation des Jahres 1770
2.1 Der lateinische Text
2.2 Die Übersetzungen des Titels und die neue Ausgabe der
Dissertazioni latine von Igor Agostini
3 Schlußbemerkung
Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens.
Erwiderung auf Lothar Kreimendahl
1 Die Problematik der autobiographischen Äußerungen
2 Die Problematik der Reflexionen
3 Der Vorrang der Werke
4 Einzelne inhaltliche Dissenspunkte
5 Fazit
Ontologie oder Analytik des Verstandes?
Kants langer Abschied von der Ontologie
1 Zur Problemlage innerhalb der Kritik der reinen Vernunft
2 Kants Theorie eines realen Verstandesgebrauchs in der Dissertation von 1770
3 Die Ablösung des realen durch den transzendentalen
Verstandesgebrauch
Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff. Einige Anmerkungen zur Kritik der reinen Vernunft B
866 ff.
Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft aus der protestantischen Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts. Über eine unbemerkt gebliebene Quelle der
Kantischen Antinomienlehre
Natur und Freiheit im Denken Kants
1 Zur Eingrenzung der Themenstellung
2 Natur als Gesetzmäßigkeit
3 Die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit. Kants ‚Auflösung‘ der Freiheitsantinomie
4 Natur und Geschichte
Anthropologie
Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘
Essen und allgemeine Menschenvernunft
1 Die Rolle der gemeinschaftlichen Mahlzeit in Kants eigener
Lebensführung
2 Die Tischgesellschaft als Versinnlichung der Idee der
allgemeinen Menschenvernunft
3 Regeln zur Beförderung der Esskultur
Moralphilosophie
Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung.
Kant und die Ethik der Griechen – Glück und Pflicht
1 Kants Einteilung der Imperative als Ausdruck des Systemoder
Schubladendenken
2 Die Einteilung der Imperative als Spiegel des Kantschen
Entwicklungsprozesses im Felde der Ethik
3 Die „Ratschläge der Klugheit“ als Richtigstellung der
Interpretation der Ethik als Glückseligkeitslehre
4 Der Einfluss Xenophons
5 Die Konsequenzen der skizzierten Richtigstellung für die
praktische Philosophie überhaupt
Glück und Pflicht. Überlegungen zu Xenophons Erinnerungen an Sokrates
und ihrer Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert
1 Die Aporie von Glückssuche und Glückserfüllung: Glück als
formaler und als inhaltlich bestimmter Begriff
2 Glück und Moral: der Sokratische Impuls im Kontext von
Kants Moralphilosophie
3 Zu Begriff und Geschichte des Wortes ‚Glück‘
Rechtsphilosophie
Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1784 – Das Naturrecht Feyerabend als Kurzfassung von Kants
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Kants Beantwortung der Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts
Feyerabend
1 Die Fragestellung
2 Das Lösungsmodell
3 Kants Übertragung des politischen Lösungsmodells auf
das Gebiet des Religiösen
4 Kants Aufklärungsaufsatz und das Naturrecht Feyerabend
Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie
Kants
1 Immanuel Kant und Gottfried Achenwall
2 Das Naturrecht Feyerabend und die Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten
3 Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Spiegel des
Naturrechts Feyerabend
4 Kants negative Antworten
Religionsphilosophie
Kants Auflösung der Freiheitsantinomie
oder Der unantastbare Kern des Gewissens
1 Zur Problemstellung
2 Die Unterscheidung zwischen mathematischen und
dynamischen Antinomien
3 Die Unterscheidung zwischen Naturkausalität und
Kausalität aus Freiheit
4 Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an
sich
5 Die Unterscheidung zwischen sensibler und intelligibler
Kausalität
6 Die Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter und ihre Weiterführung durch
Kants Moral- und Religionsphilosophie
7 Die Auflösung der Freiheitsantinomie
Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens.
Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus
1 Die unterschiedliche Aufnahme der Kritik der reinen Vernunft um 1785
2 Kants doppelte Grenzbestimmung der reinen Vernunft
3 Wissenschaft als Konstitution der Erscheinungswelt
4 Zur Kantrezeption der ersten Kantianer in Jena
An den Grenzen unseres Wissens: Zur Deutung der Beziehung zwischen Mensch und Gott aus dem Blickwinkel des Gebets –
Eine antike Quelle der christlichen und modernen Welt
1 Das Problem der Selbsterkenntnis des Menschen im
Spiegel der antiken Philosophie
2 Das Sokratische Nichtwissen und seine Konsequenzen für
das Bittgebet
3 Die Anverwandlung des antiken Erbes im Christentum
4 Kant und die Moderne
Erstveröffentlichungsnachweise
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
Personenregister
Sachverzeichnis
Zum Verfasser
Zum Herausgeber
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Vernunft, Wissen, Glaube: Wege zu einem neuen Verständnis Immanuel Kants (Colloquium Metaphysicum) (German Edition) [1. Aufl. 2023]
 3658406313, 9783658406318

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Colloquium Metaphysicum

Norbert Hinske

Vernunft, Wissen, Glaube Wege zu einem neuen Verständnis Immanuel Kants

Colloquium Metaphysicum Reihe herausgegeben von Christoph Böhr, Trier, Deutschland

Folgt man Immanuel Kant, hat die menschliche Vernunft das besondere Schicksal, durch Fragen belästigt zu werden, die sie zwar nicht abweisen, die sie aber auch nicht mit letzter Gewissheit beantworten kann, weil diese Fragen alles Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigen. Die Tatsache, dass es ein unabweisliches Bedürfnis gibt, bedeutet mitnichten, dass dieses Bedürfnis auch tatsächlich erfüllbar ist. Deshalb gehört es zu den vornehmsten Aufgaben der Metaphysik seit je, ihre eigenen Grundlagen immer wieder neu zu überprüfen, um nicht vorschnell – und sich dabei auf Abwegen und in Sackgassen verirrend – jenem Bedürfnis nach einer Beantwortung der uns von der Vernunft selbst aufgegebenen Fragen, so unabweisbar diese uns auch bedrängen mögen, nachzugeben. Kants Warnung, das spekulative Potential der menschlichen Vernunft nicht zu überdehnen, muss der Philosophie immer lebhaft vor Augen stehen. Metaphysik beinhaltet demnach stets eine Fundamentalkritik ihrer eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Deshalb ist ihre Krise immer ihre Chance – auch heute. Die Buchreihe Colloquium Metaphysicum versammelt Wortmeldungen und Beiträge zur Debatte, die auf die Grundlagen gegenwärtiger metaphysischer Reflexion und deren Fortentwicklung zielen. Wie kann – im Lichte unseres zeitgenössischen Denkens – Metaphysik heute gegründet werden? Auf welchen Fundamenten kann sie aufbauen? Und welche Ergebnisse, die über die Metaphysikkritik hinausgehen, können von ihr erwartet werden? Um den Versuch einer Klärung dieser Fragen – sowohl in geschichtlicher Rückschau als auch in der Auf- und Annahme neuer Herausforderungen unserer Gegenwart – wollen sich die Autoren des Colloquium Metaphysicum bemühen.

Norbert Hinske

Vernunft, Wissen, Glaube Wege zu einem neuen Verständnis Immanuel Kants Herausgegeben von Christoph Böhr

Norbert Hinske Trier, Deutschland

Christoph Böhr Trier, Deutschland

ISSN 2731-8281 ISSN 2731-829X (electronic) Colloquium Metaphysicum ISBN 978-3-658-40631-8 ISBN 978-3-658-40632-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

ALS TAJ MAHAL FÜR MEINE FRAU JUTTA HINSKE 1933 – 2003

Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers

9

Vernunft, Wissen, Glaube Prägungen von Denk- und Lebensform im Licht der Philosophie Immanuel Kants Christoph Böhr

11

Logik Europäische Kultur als Gesprächskultur

33

Wer sind die Erben der Aufklärung? Kriterien für eine Antwort

43

Vom richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen Gesprächs- und Lesekultur von Christian Wolff bis Immanuel Kant

55

Metaphysik Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede? Zum Streit um die richtige Übersetzung des Titels von Kants Dissertation des Jahres 1770

67

Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens Erwiderung auf Lothar Kreimendahl

73

Ontologie oder Analytik des Verstandes? Kants langer Abschied von der Ontologie

95

Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff – Einige Anmerkungen zur Kritik der reinen Vernunft B 866 ff.

103

Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft aus der protestantischen Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts Über eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantischen Antinomienlehre

117

Natur und Freiheit im Denken Kants

131

Anthropologie Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘ Essen und allgemeine Menschenvernunft

147

8

Inhalt

Moralphilosophie Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung Kant und die Ethik der Griechen – Glück und Pflicht

161

Glück und Pflicht Überlegungen zu Xenophons Erinnerungen an Sokrates und ihrer Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert

179

Rechtsphilosophie Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1784 – Das Naturrecht Feyerabend als Kurzfassung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

189

Kants Beantwortung der Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts Feyerabend

195

Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie Kants

203

Religionsphilosophie Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens

217

Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus

241

An den Grenzen unseres Wissens: Zur Deutung der Beziehung zwischen Mensch und Gott aus dem Blickwinkel des Gebets – Eine antike Quelle der christlichen und modernen Welt

257

Erstveröffentlichungsnachweise

267

Abkürzungsverzeichnis

271

Bibliographie

273

Personenregister

299

Sachverzeichnis

307

Zum Verfasser

313

Zum Herausgeber

315

Vorwort des Herausgebers

Die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen aus der Feder von Norbert Hinske spiegeln ein halbes Jahrhundert unentwegter, einer über die Jahre und Jahrzehnte immer weiter vertieften Beschäftigung mit Immanuel Kant – seinen Schriften, seinem Denken, seiner Quellen- und Entwicklungsgeschichte wie seiner Lebensbedingungen in der ostpreußischen Hafen- und Handelsstadt Königsberg zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert: einer Stadt, die ein Tor zur Welt nicht nur des überseeischen Kommerzes, sondern ebenso sehr zur Welt fremder Kulturen war. Hinske öffnet den Blick des Lesers auf das Œuvre Kants im Zusammenhang der intellektuellen Debatten der damaligen Zeit, und indem er es neu erschließt, bezeugt er Reichtum und Tiefe des Denkens dieses herausragenden Kopfes der Philosophie der deutschen Aufklärung. Nicht minder jedoch zeugen Hinskes Überlegungen von der Fruchtbarkeit einer zeitgenössischen Auslegung, die sich stets bemüht, Kant nicht für diese oder jene Mode zu vereinnahmen, sondern dem gerecht zu werden, was Kant dem Sinn nach selbst dachte. Das ist ein hoher Anspruch, dem nur gerecht werden kann, wer die Philosophie Kants in ihrer Verwobenheit mit seinen Vorgängern und seinen Zeitgenossen zu würdigen versucht. Stellt man sich dieser Aufgabe, wird schnell klar: Es gibt zeitlose Einsichten im Kantischen Denken, die immer wieder neu anzueignen sich wohl jede Generation bemühen muss. Dass ein solches Unterfangen alles andere als fruchtlos bleibt, belegt der vorliegende Band nachdrücklich. Hinske, der maßgeblich an der von Wilhelm Weischedel verantworteten, heute wegen ihrer philologischen Akkuratesse weltweit als Referenz genutzten Ausgabe der Kantschen Werke in sechs Bänden – erstmals 1956 bis 1964 veröffentlicht – mitarbeitete, ist der Kantforschung sein ganzes Leben lang treu geblieben. Noch heute, im fortgeschrittenen Alter, fesselt ihn dieser Philosoph. Zeitlebens lag Hinske daran, Kant in einer editorisch zuverlässigen Form für den Leser zu erschließen. Sein ständiges Ringen um philologische Treue – und nicht weniger sein ständiges Bemühen, Fragen der Datierung verlässlicher zu klären als bis dahin geschehen – bezeugen eine Hochachtung und seine Wertschätzung gegenüber jenem Autor, der in seiner Rezeptionsgeschichte so vielen – gewollten und nicht gewollten – Missverständnissen ausgesetzt war. Dafür kann man kaum dankbar genug sein. Außerordentlich dankbar ist der Herausgeber dieses Buches auch dafür, dass der Verfasser zugestimmt hat, seine hier vorgelegten – und von ihm selbst ausgesuchten –

10

Vorwort des Herausgebers

Aufsätze, von denen etliche, zumal die schon vor längerer Zeit in ausländischen Publikationen erschienenen, dem Leser heute nur schwer verfügbar sind, erneut zugänglich zu machen: in der Hoffnung, dass alle, die zu diesem Buch greifen, von der Beschäftigung mit Kant und dessen Philosophie reichen Gewinn haben werden. Es wurde bei der Gestaltung der Texte darauf geachtet, dass jeder einzelne Aufsatz auch für den Leser, der das Buch nicht in einem Zug vom Anfang bis zum Ende liest, verständlich ist, ohne dass beispielsweise bibliographische Hinweise oder vertiefende Erläuterungen mühsam in anderen Teilen des Buches gesucht werden müssen. In Folge dessen waren einzelne Wiederholungen unvermeidlich. Den aufmerksamen Leser bitte ich dafür um Verständnis. Wer Kant liest, lernt, was ‚sapere aude!‘ – ein Satz, den so viele gedankenlos im Munde führen – bedeutet: nämlich nicht einfach den aus Selbstliebe und Selbstbefangenheit geprägten Gedanken und Wünschen freien Lauf zu lassen, sondern als „Bedingung der Vermeidung des Irrtums überhaupt“ dreierlei – vermutlich lebenslang – einzuüben: „1) selbst zu denken, 2) sich an die Stelle eines andern zu denken, und 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“1 Selbstdenken heißt immer auch: sich an der Stelle der Anderen sowie jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. Vielleicht lässt sich ja kein besseres Programm einer Pädagogik, die den Erfordernissen der Gegenwart Rechnung trägt, ausfindig machen. Mein großer Dank gilt Dr. Lars Hoffmann für seine sorgfältige Hilfe bei der Erstellung der Druckdatei. Dem Buch wünsche ich eine wohlwollende Aufnahme. Trier, im Herbst 2022

1

Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, A 84.

Der Herausgeber

Vernunft, Wissen, Glaube Prägungen von Denk- und Lebensform im Licht der Philosophie Immanuel Kants Christoph Böhr

Norbert Hinske in großer Dankbarkeit Der Latinist und Klassische Philologe Gregor Maurach schreibt im Vorwort zu seinem maßgeblichen Buch über Horaz, den römischen Schriftsteller und Dichter, dessen Leben und Werk er deutet: Wenn man wissen will, was ein Autor vergangener Zeit dachte, muss man darauf achten, dass sein Interpret „den alten Text nach seinem Vermögen auch vor Entstellungen schützt, nicht zuletzt vor solchen interpretatorischer Art, die zumeist daher kommen, dass man ihm nicht ehrfürchtig dienen mag, sondern ihn selbstsüchtig vernutzt um rascher Einfälle oder fader Ideologien willen.“1 Es gibt wohl keinen philosophischen Autor von Rang, der vor diesem Schicksal einer ‚Vernutzung‘ zugunsten eigener Flausen seiner Nachgeborenen gänzlich verschont geblieben ist. Tatsächlich ist ja das Vermögen, einen Autor vor Entstellungen zu schützen, nicht allein eine Sache des guten Willens; sie setzt zudem eine Kenntnis des Werkes voraus, deren Erwerb nicht selten ein ganzes langes Leben andauert. Wer will sich heutzutage einer solchen Aufgabe noch unterziehen? Vom Hochschullehrer erwartet der Staat eine rasche Abfolge immer neuer Publikationen – vorzugsweise in englischer Sprache und selbstverständlich in Peer-Review-Journals; universitäre Kommissionen, die zur Vorbereitung der Berufung eines Hochschullehrers zusammentreten, nehmen häufig nicht mehr so sehr die Qualität, sondern oft vor allem die Quantität der Veröffentlichungen – und die Anzahl von deren automatisch dokumentierten Zitationen – zum Maßstab ihrer Auswahl – so hört man es von Augenzeugen. Unter solchen Umständen scheint es ein Luxus, sich der Lektüre eines und desselben Autors

1

Gregor Maurach, Horaz. Leben und Werk, Heidelberg 2002, Vorwort, S. VII.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_1

12

Christoph Böhr

immer und immer wieder – ein ganzes Leben lang – zu unterziehen, um das Werk über die Jahre und Jahrzehnte Schritt für Schritt immer vertiefter verstehen zu lernen. Ein so geprägtes Selbstverständnis wissenschaftlicher Arbeit scheint in unserer Gegenwart aus der Zeit gefallen. Ein ‚stilles Jahrzehnt‘, eine Dekade ohne Publikationen, wie wir es im Leben des Hochschullehrers Immanuel Kant finden, wäre heute wohl kaum durchzuhalten. Zumindest als Blogger und in E-Journals muss man gegenwärtig sein. Dabei sei nur am Rande vermerkt, dass sich dieser Befund bitter rächt: Denn jene Arbeiten, die von Aristoteles von Stagira bis Zenon von Kition, allesamt selbstverständlich in englischer Übersetzung und ausnahmslos mit der Hilfe von Suchmaschinen aufgefundene, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate versammeln, füllen zwar ganze Bibliotheken; ihr wissenschaftlicher Ertrag liegt aber nicht selten ziemlich genau bei Null. Vor wenigen Jahrzehnten war das noch anders. Da stand die Lehre vom Verstehen – die Hermeneutik – noch in hohem Ansehen. Welche Lektüre musste beispielsweise Hans-Georg Gadamer bewältigen, bevor der im Alter von 60 Jahren sein Buch Wahrheit und Methode veröffentlichen konnte?2 Und es war ganz und gar selbstverständlich, dass die Lektüre den Originalen – und nicht Übersetzungen dritter Hand – galt. Norbert Hinske gehört zu jener Generation, denen seinerzeit die Lebensumstände eines Hochschullehrers es alles in allem noch ermöglicht haben, über viele Jahrzehnte hinweg ein und demselben Forschungsgegenstand treu bleiben zu dürfen: der Erforschung der Philosophie Kants – seines Lebens, seines Denkens und seines Werkes.3 Ihn hat er nach Kräften seines Vermögens vor mancherlei Entstellungen geschützt und vor selbstsüchtiger Vernutzung bewahrt. Das spricht für das Selbstverständnis Hinskes, seinen wachen Forschergeist und seine selbstlose Hingabe, die der eigenen Bedeutsamkeit weniger Aufmerksamkeit zuteil werden lässt als dem Gegenstand der Forschung. Dieses Selbstverständnis zeugt aber auch von der dauerhaften Bedeutung 2

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. Der Verfasser gesteht freimütig, dass er, um sich Gadamers Lebensalters zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines opus magnum zu vergewissern, nicht an sein Bücherregal trat, um in einer Biographie zu blättern, sondern sich einer Suchmaschine bediente. 3 Vgl. zum Folgenden ergänzend Christoph Böhr, Die Selbsterfahrung des Handelns in der Unberechenbarkeit des Lebens. Zur Wiederentdeckung von Kants ‚novus rerum ordo‘ der Philosophie, in: Facetten der Kantforschung. Ein internationaler Querschnitt. Festschrift für Norbert Hinske zum 80. Geburtstag, hg. v. Christoph Böhr u. Heinrich Delfosse, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 11–23; zu Hinskes Forschungen zählen – neben der Philosophie Kants – vor allem die antike, besonders die sokratisch-platonische Philosophie; eine glückliche Verbindung gingen diese beiden Schwerpunkte seiner Forschungen ein, als er Anfang der 90er Jahre den Jenaer Frühkantianismus neu entdeckte und dort eine stark sokratisch geprägte Kantrezeption vorfand.

Vernunft, Wissen, Glaube

13

der Aufgabe, einem Autor gerecht zu werden; denn die so zahlreichen, oft ganz gegenläufigen Deutungen Kants haben einen Wildwuchs unterschiedlichster Interpretationen begünstigt, der sich schließlich zu einem Dickicht auswuchs. Hinske ist es gelungen, in diesem unwegsamen Gelände, in dem die eine Deutung auf einer anderen Deutung aufsetzte, so dass es am Ende gar nicht mehr um Kant, sondern um seine Interpretation und seine Interpreten ging, zum Autor selbst zurückzukehren und Schneisen zu schlagen, die wieder eine Sicht auf das ermöglichten, was Kant selbst dachte. Denn eine sinnöffnende Erschließung seiner Schriften ist unverzichtbare Voraussetzung für jede verantwortungsvolle Deutung. In seinem Aufsatz Kants Auflösung der Freiheitsantinomie – wiederabgedruckt in diesem Band – schreibt Hinske: „Nur wenn es der quellengeschichtlichen Forschung gelingt, die Ausgangslage eines Autors zu rekonstruieren, lässt sich die Frage beantworten, wo seine originären Leistungen tatsächlich liegen und was in Wahrheit Traditionsgut ist.“4 Damit charakterisiert er das Selbstverständnis seiner eigenen Forschung: Es geht um jenes Verstehen, das allein vor einem Missverstehen zu schützen vermag, indem es zunächst und vor allem anderen den Autor samt seiner Lebensgeschichte selbst zu Wort kommen lässt, um so zu erfahren, was dieser dachte und meinte, als er vor langer Zeit unter den Vorzeichen seiner Lebens- und Denkgeschichte einen Text zu Papier brachte.

Philologische Präzision und philosophische Meditation Hinske gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Interpreten der Philosophie Kants in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Philologische Präzision und philosophische Meditation gehen bei ihm Hand in Hand; und tatsächlich ist ersteres die unabdingbare Voraussetzung für letzteres. Gelernt hat er die Präzision, die ihm zu einer zweiten Natur wurde, in der Philatelie, seiner – neben der Philosophie – zweiten großen Leidenschaft; der Philatelist weiß allzu gut, dass eine nur geringe, mit bloßem Auge kaum zu erkennende farbliche Nuancierung für den Wert einer Briefmarke leicht einen Unterschied von tausend Euro und mehr ausmachen kann. Nicht viel anders ist es in der Philologie; man muss einen Text von allen Überschreibungen und Übertragungsfehlern befreien, um zu wissen, was sein Verfasser tatsächlich im Sinn

4

Norbert Hinske, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens, in: Trierer Theologische Zeitschrift 109 (2000) S. 169–190, hier S. 170 Anm. 4, wiederabgedruckt diesem Band S. 217–239, hier S. 218 Anm. 5.

14

Christoph Böhr

hatte.5 Geradezu paradigmatisch erklärt Hinske diesen Sachverhalt am Beispiel der sachlich richtigen Übersetzung der Überschrift von Kants lateinischer Dissertation aus dem Jahr 1770 mit dem Titel De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis und der Übertragungsgeschichte dieser Schrift.6 Quellen-, Begriffs- und Entwicklungsgeschichte sind unerlässliche Voraussetzungen, um einen Text verstehen zu lernen. Das ist ganz wörtlich zu nehmen: Das Verstehen eines Textes vollzieht sich in der Regel nicht als ein Geistesblitz, sondern als ein nicht selten mühevolles und zeitaufwändiges Lernen, wenn die Genauigkeit des Philatelisten, die Redlichkeit des Philologen und die Gewissenhaftigkeit des Philosophen sich verbinden, um einem Autor und seinem Denken auf die Spur zu kommen. Hinske lehrte in seiner Eigenschaft als akademischer Lehrer die Philosophie Kants – mit der denkbar größten Zurückhaltung hinsichtlich einer eigenen Deutung. Sein Stil war nicht selten weniger interpretatorisch als philologisch – und so lautete seine Aufforderung auf Schritt und Tritt: zu fragen und genau sich vor Augen zu führen, was da geschrieben steht und was das Geschriebene bedeuten kann. Was wollte Kant sagen? Hinske räumte das Geröll des Neukantianismus und seiner Nachfolger, unter dem allzu oft Kant begraben und verschüttet lag, zur Seite, um so wieder den Blick auf ihn selbst zu öffnen. Freilich kann man die Frage nach dem authentischen Kant nicht beantworten, ohne ein großes Vorwissen über die geläufigen Denkweisen im 18. Jahrhundert, Kants Quellen, seine Vorgänger, seine – übernommene oder neu in Kraft gesetzte – Terminologie, seine Freunde und Gesprächspartner, sein Lebensumfeld zu besitzen. Stupende und detaillierte Kenntnisse über alle diese Bedingungen, unter denen Kant seine Gedanken entwickelte, waren Hinske zu eigen. Im Vordergrund seiner Lehre stand ausnahmslos das Bemühen, Kant selbst zu Wort kommen zu lassen. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, im Laufe der Jahre und Jahrzehnte eine Gesamtdeutung zu erarbeiten, die er nie in kompakter monographischer Form vorgelegt hat – ein Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft blieb bis heute unvollendet; gleichwohl sind seine zahlreichen Aufsätze zu wichtigen Aspekten der Kantschen Philosophie gleichsam getragen von einer Deutung des philosophischen Entwurfs, an dem Kant zeit seines Lebens gearbeitet hat – und der ja auch bei ihm, wie man vermuten muss, unvollendet geblieben ist. Wichtige Facetten dieser Gesamtdeutung führt dieser Band zusammen. 5

Vgl. die treffende Bemerkung von Thomas Steinfeld, Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform, München u. Wien 2004, S. 35: „Das freihändige Deuten ist die Sache des Philologen nicht“. 6 Norbert Hinske, Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede? Zum Streit um die richtige Übersetzung des Titels von Kants Dissertation des Jahres 1770, in: Kants Schriften in Übersetzungen, hg. Gisela Schlüter, Hamburg 2020, S. 603–608, wiederabgedruckt in diesem Band S. 67–72.

Vernunft, Wissen, Glaube

15

Auf dem Weg zu einer Deutung Kants Hinskes Deutung der Philosophie Kants beschreibt diese als das Ergebnis einer scharfsinnigen Selbst- und Fremdbeobachtung, die zu einer Antwort auf die Frage führt: Was heißt es, auf menschliche Art zu erkennen? Kants Erkenntnislehre ist verwurzelt in der Erfahrung des Menschseins, ja, sie ist geradezu ein Spiegel dessen, was Menschsein bedeutet. Dass die Fragen nach dem Wissen, dem Sollen und der Hoffnung des Menschen nicht anders beantwortet werden können als durch die sachgerechte Auslegung dessen, was dem menschlichen Vermögen als seiner Art gemäß entspricht, also in der Frage nach dem Menschen gipfeln und in ihr die Antwort finden, ist der Schlüssel zur Erkenntnislehre Kants, die eine tiefe Ausdeutung des Menschseins unternimmt. In diesem Menschsein findet sich die Voraussetzung für alles Weitere, weil es keinen anderen philosophisch zu rechtfertigenden Weg gibt, ausfindig zu machen, was ‚erkennen‘ heißt – außer jenem Weg, die Vermögen des Menschseins einer scharfsinnigen Beobachtung zu unterziehen. Nichts anderes findet sich beispielsweise bei Robert Spaemann, wenn dieser in einem Schlüsseltext seiner Philosophie vom „Anthropozentrismus der Wirklichkeit“ spricht.7 Das, was ist, was sein soll und was wir fürderhin als Menschen hoffen können – diese Fragen sind nie anders zu beantworten als auf eben die Weise, die unserem Menschsein entspricht und ihm gemäß ist. Dieser Spur des Kantschen Denkens, im Menschsein das Maß seines Erkenntnisvermögens zu suchen, folgt Hinske mit denkbar größter Aufmerksamkeit. Die in diesem Band versammelten Beiträge geben davon ein lebhaftes Zeugnis. Es gibt so gut wie keinen Aufsatz, in dem die jeweils untersuchte Einzelfrage nicht am Ende rückgebunden wird an eben diese – allem Weiteren vorgeordnete – Frage nach dem Menschsein des Menschen. Zu den bleibenden Einsichten Kants zählt in diesem Zusammenhang die Entdeckung des logischen und moralischen Pluralismus. Tragfähige, in der Sache zutreffende Antworten auf die Frage nach den Vermögen des Menschseins gewinnt niemand nur und allein durch Selbstbeobachtung. Alles, was durch Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis – letztere ist für Kant zugleich eine Schranke der Demut8 – an Einsichten gewonnen werden kann – und das ist beileibe nicht wenig, wenn man beispielsweise an die zeitlose Aufforderung am Eingang des 7

Robert Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus, 2000, in: Ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, 2 Bde., Stuttgart 2010 u. 2011, Bd. 2, 2011, S. 188–215. 8 Vgl. dazu die Bemerkung Kants in der Kritik der praktischen Vernunft, A 154 f.: „man kann es, ohne zu heucheln, der moralischen Lehre des Evangelii mit aller Wahrheit nachsagen: daß es zuerst … dem Eigendünkel sowohl als der Eigenliebe, die beide gerne ihre Grenzen verkennen, Schranken der Demut (d. i. der Selbsterkenntnis) gesetzt habe.“

16

Christoph Böhr

Delphischen Orakels denkt –, bedarf eines steten Abgleichs: mit dem Menschsein überhaupt, also der Vernunft der Anderen – genauer und in den Worten Kants gesagt: mit der Vernunft aller Anderen. Das ist ein großer und hoher Anspruch, hinter den jedoch nicht zurückgegangen werden kann, wenn man nicht der Selbstbefangenheit – in der Sprache des 18. Jahrhunderts ausgedrückt: seinen eigenen Vorurteilen – zum Opfer fallen will. Kants Rede von der ‚Menschheit in meiner Person‘ meint genau dies: immer wieder das eigene Denken im Vergleichsmaßstab zu überprüfen, und zwar am Denken aller Anderen.9 Zu betonen ist dabei das Wort ‚aller‘. Um nicht als einäugiger Zyklop – dem Inbegriff des logischen Egoismus – die Erkenntnis der Dinge gänzlich und zudem noch schuldhaft zu verfehlen, müssen wir, dem Erfordernis des logischen Pluralismus gemäß, jeden Gegenstand immer auch mit den Augen und aus dem Gesichtsfeld anderer – aller anderen – Menschen ansehen.10 Universalisierung im Kantschen Sinne heißt: „daß jedes vernünftige Wesen“11 einbezogen und die Menschheit in der eigenen Person gesehen wird. Ohne diesen Grundgedanken hätte die zeitgenössische Idee einer universalen Geltung der Menschenwürde nie entwickelt werden können.12 9

Von daher gibt es tatsächlich gute sachliche Gründe für die Überlegungen von Norbert Fischer und Dieter Hattrup, das Denkens Kants mit demjenigen von Emmanuel Levinas in Verbindung zu bringen: Beide nämlich beschreiben „den Ursprung der Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen“, wobei dieser Anspruch bei Kant „eher negativ als Grenze auftritt“, während er bei Levinas „positiv als Quelle des Selbst“ erscheint: vgl. Norbert Fischer, Dieter Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, Paderborn, München, Wien u. Zürich 1999, S. 7. 10 Vgl. Immanuel Kant, Reflexion 903, in: AA XV 395; zum Pluralismus, der Folge der Notwendigkeit ist, alles auch mit einem zweiten Auge „aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen“ anzusehen, vgl. Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch für Vorlesungen, A 84 u. A 125, sowie Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 6–9. – Kants Druckschriften werden in diesem Beitrag in der Regel nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Ausgabe der Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956–1964, 61983, zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben: A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage; Kants Briefe, Vorlesungsnachschriften und Nachlass werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger – abgekürzt als AA –, Berlin 1922 ff., zitiert; römische Ziffern ohne weitern Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe 11 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 83 u. ö.; Ders., Kritik der Urteilskraft, A 156/B 157. 12 Vgl. zuletzt Walter Schweidler, Uneinholbare Distanz, in: Menschenwürde. Zur Frage ihrer Unverfügbarkeit, hg. v. Dietmar von der Pfordten u. Philipp Gisbertz-Astolfi, Tübingen 2022, S. 89– 104, hier S. 97: „Weil unser Handeln symbolisch über sich selbst hinaus auf alles das verweist, was Personen zu Repräsentanten aller anderen ihrer Art und sogar dieser Art selbst macht, kommt es für die Beurteilung würdigen oder würdeverletzenden Handelns niemals nur auf die kausalen Auswirkungen an, die es für diejenigen, die davon betroffen sind, sondern immer auch auf die Bedeutung, die es für das Menschsein überhaupt hat.“

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Das, was Hinske als das große Lebensthema Kants beschreibt, gilt gewissermaßen auch, da Philosophieren sich nicht in leidenschaftslosen Beschreibungen fremder Gedanken erschöpft, als Überzeugung für ihn selbst und als Leitbegriff seiner eigenen philosophischen Forschungen: Er schreibt: „Eben dies … ist für Kant die Grundsituation des Menschen: Er hat zugleich in zwei ganz verschiedenen Welten zu leben, einer Welt, die er selbst geschaffen hat und ständig neu schafft, und einer Welt, deren Ordnung seiner Verfügungsgewalt entzogen ist. Diese Situation des Menschen ist das ‚Leitthema der Dissertation‘ und die bleibt auch nach 1770 oder 1772 das Schlüsselthema Kants bis tief in die kritische Philosophie hinein.13 Mit der Dissertation von 1770 hat Kant sozusagen sein Lebensthema gefunden – eine neue, eigenständige Variation der alten, überlieferten Zwei-Welten-Theorie. Bei der Zeit-Raum-Theorie der Sectio III – sc. in De mundi sensibilis – aber, wie zukunftweisend sie auch sein mag, handelt es sich um alles andere als um ein Stück Erkenntnistheorie, das selbstgenügsam in sich selber ruhte. Spätestens das tiefsinnige, für die heutige Kantforschung so befremdliche Scholion am Ende der Sectio IV zeigt es mit aller Deutlichkeit. Kants neue Theorie von Zeit und Raum dient vielmehr dem Nachweis, dass die Sinnenwelt im Unterschied zum ‚mundus intelligibilis‘ hinsichtlich ihrer Form eine vom Menschen gestiftete Welt ist.“14

Zum Problem des Konstruktivismus Hinske rückt damit, ohne das ausdrücklich zu erwähnen, die heute in der westlichen Philosophie weit mehrheitlich vertretene Kognitionstheorie des sogenannten ‚Radikalen Konstruktivismus‘ zurecht, der behauptet, jedwede Erkenntnis entbehre grundsätzlich einer sachgerechten Beziehung zur Wirklichkeit, und zwar in der Weise, wie sie tatsächlich – und nicht nur in eigener Subjektivität – verfasst ist. Wenn behauptet wird, dass die Wirklichkeit dem Menschen gänzlich unzugänglich bleibe, wird nicht selten Kant als Kronzeuge für diese Behauptung aufgerufen – nicht minder übrigens

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Vgl. Kants späteren Zusatz zu der Reflexion 4135, in: AA XVII 42916f. – nach der Datierung von Adickes zwischen 1772 und 1778 –: „Das Phänomenon von einem Dinge ist ein Product unserer Sinnlichkeit. Gott ist Urheber der Dinge an sich“. 14 Norbert Hinske, Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens. Erwiderung auf Lothar Kreimendahl, in: De Christian Wolff à Louis Lavelle: métaphysique et Histoire de la Philosophie. / Von Christian Wolff bis Louis Lavelle. Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Festschrift für Jean Ecole zum 75. Geburtstag, hg. v. Robert Theis u. Claude Weber, Zürich u. New York 1995, S. 102–122, hier S. 113, wiederabgedruckt diesem Band S. 73–94, hier S. 89.

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von den Gegnern des ‚Radikalen Konstruktivismus‘, die wie beispielsweise Maurizio Ferraris einen ‚neuen‘ Realismus in der Erkenntnislehre zu vertreten beanspruchen.15 Tatsächlich können, Kant folgend, die Gesetze der Natur vom Menschen „nicht etwa an der Wirklichkeit abgelesen“ werden und sie sind auch nicht von Gott „in die Materie hineingelegt“.16 Es ist „einer der Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft, dass es der erkennende Mensch selbst ist, der jene Gesetze aufgrund seiner apriorischen Erkenntnisfunktionen in die Wirklichkeit, genauer: in die für ihn erfahrbare Wirklichkeit hineinträgt. Eben darin besteht, wie Kant nachträglich erklärt, die ‚Revolution‘ der Kritik der reinen Vernunft, die dem Vorbild der Naturwissenschaften folgt“.17 Das gilt zweifellos für die sogenannten ‚empirischen‘ Wissenschaften: dazu Hinske: Die „in der menschlichen Vernunft grundgelegten Naturgesetze, allem voran das Gesetz der Kausalität, sind die unumgängliche Vorbedingung für empirische Wissenschaft. Der Mensch muss sie immer schon voraussetzen, wenn er die Natur begreifen und zu gesicherten Erkenntnissen gelangen will. Sie sind nicht etwa das Ergebnis, sondern die stillschweigende Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. Ohne sie würde »der Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander notwendig bestimmender Erscheinungen, den man Natur nennt, und mit ihm das Merkmal empirischer Wahrheit, welches Erfahrung vom Traum unterscheidet,18 größtenteils versehwinden«.19 Die notwendige Konsequenz aus dieser Naturauffassung ist die Einsicht: Bei der wissenschaftlichen Arbeit handelt es sich nicht etwa um eine vollständige Erfassung der Wirklichkeit, die sich – ihrem Anspruch nach – von selbst versteht, sondern um den Versuch, die Zusammenhänge der Erfahrungswelt in Übereinstimmung mit den Gegebenheiten so oder so zu rekonstruieren. Das gilt auch für das Handeln des Menschen mit seinen verschiedenartigen Beweggründen. Dass wir es heute, zweihundert Jahre nach Kant, in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen mehr oder

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Vgl. Maurizio Ferraris, Goodbye, Kant! What still stands of the Critique of Pure Reason, New York 2013; Ders., Manifest des neuen Realismus, Frankfurt am M. 2014. 16 Norbert Hinske, Natur und Freiheit im Denken Kants, in: Natura. XII Colloquio Internazionale Roma, 4–6 gennaio 2007, hg v. Delfina Giovannozzi u. Marco Veneziani, Florenz 2008, S. 473–484, hier S. 477, in diesem Band S. 131–143, hier S. 135. Dass diese Feststellungen nicht einem haltlosen Relativismus in der Erkenntnislehre Tür und Tor öffnen, verkennen sowohl der Radikale Konstruktivismus als auch etliche seiner Gegner. 17 Hinske, Natur und Freiheit im Denken Kants, a.a.O., S. 477, in diesem Band S. 136. 18 Zur Unterscheidung von Wahrheit und Traum vgl. Christian Wolff, Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata, Frankfurt u. Leipzig 1730, 21736, hg. v. Jean École, Darmstadt 1962, § 493, S. 379 ff. 19 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 479.

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weniger mit konkurrierenden Rekonstruktionsversuchen zu tun haben – die voneinander manchmal kaum noch Kenntnis nehmen –, macht die Lage nicht gerade übersichtlicher. Wie weit solche Rekonstruktionsversuche alle Dimensionen von Wirklichkeit zu erfassen vermögen, ist mit den Mitteln der Wissenschaft nicht mehr zu beantworten. Der Mensch muss diese Frage offenlassen, und auch die empirischen Wissenschaften wären gut beraten, ihre Ergebnisse nicht zu verabsolutieren – zu ‚dogmatisieren‘ –. Kants Sicherung der wissenschaftlichen Arbeit ist zugleich auch deren Grenzbestimmung. Man kann das eine nicht von dem anderen trennen. Das ist der Grund, warum Kant so hartnäckig an seiner These von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich festgehalten hat.“20 Zweifellos handelt es sich bei diesen Überlegungen um „einen zentralen Gedanken der kritischen Philosophie. Sie übersieht aber nur zu leicht, dass Kant in Wahrheit eine doppelte Grenzbestimmung vornimmt. Der eine Adressat ist in der Tat die Metaphysik, der andere, nicht weniger wichtige aber sind die Erfahrungserkenntnis überhaupt und die Wissenschaften insbesondere. Während die erste Grenzbestimmung nur die Metaphysik infragestellt, das alltägliche Verhalten des Menschen in der Welt dagegen ungeschoren lässt, bedeutet die zweite zugleich so etwas wie eine Verunsicherung, ja Beleidigung des gemeinen Menschenverstands, des common sense. Beide Grenzbestimmungen aber sind in Wahrheit untrennbar miteinander verbunden und ergeben erst zusammengenommen ein zureichendes Bild von den Absichten und Leistungen der Philosophie Kants.“21

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Hinske, Natur und Freiheit im Denken Kants, a.a.O., S. 478, in diesem Band S. 137; vgl. auch Ders., Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens, a.a.O., S. 190, in diesem Band S. 233 u. S. 239 – unter Bezugnahme – als Zitat im nachfolgenden Zitat – auf die Kritik der reinen Vernunft, B 579 –: „Die Freiheit des Menschen bezeugt sich in der Art und Weise, wie er mit seinem Schicksal umgeht. Deshalb lassen Sie mich mit einer Anmerkung Kants zur Freiheitsantinomie schließen, die vielleicht bewusst oder unbewusst, an Mt 7, 1, anknüpft und zu dem Nachdenklichsten und Menschlichsten zählt, was in der deutschen Philosophie geschrieben worden ist: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten«. Kants Beharren auf der Unerkennbarkeit der Dinge an sich gewinnt erst an dieser Stelle seinen vollen anthropologischen Ernst.“ 21 Norbert Hinske, Die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und der Freiraum des Glaubens. Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus, Erlangen u. Jena 1995, S. 8, in diesem Band S. 241–255, hier S. 245.

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Grenzbestimmungen der Vernunft Wie aber – so lautet die sich an diese Grenzbestimmungen anschließende, für Kant schlechterdings unabweisliche22 Frage – kann der Mensch mit jenen Bedürfnissen und jenem Drängen seiner Vernunft umgehen, die auf Fragen zielen, die ihrerseits jenseits der Grenzen der Vernunft liegen? Kant selbst hat diese Schwierigkeit ja in zeitloser Weise im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ganz unmissverständlich und für den Leser unüberhörbar beim Namen genannt. Was hat es damit auf sich, dass Kant von sich selbst behauptet: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.“23 Tatsächlich überwindet Kant den Dogmatismus nicht nur der Metaphysik, sondern ebenso den des Atheismus, des Unglaubens, und legt ein neues Fundament der Moralität, das durch eben jenen Dogmatismus des Unglaubens untergraben wird. Schon oben war davon die Rede, dass der Mensch Bewohner zweier Welten ist: „einer Welt, die er selbst geschaffen hat und ständig neu schafft, und einer Welt, deren Ordnung seiner Verfügungsgewalt entzogen ist.“24 Die Erkenntnis der empirischen Welt gelingt ihm nur unter dem Vorbehalt eines vorläufigen Wissens. Das, was wir – nachkantisch – ‚Wissen‘ nennen,25 ist alles andere als eine letzte Gewissheit. Denn die ‚res sicuti sunt‘ bleiben uns, so sehr wir ihnen auch im Erkennen nahekommen mögen, letzten Endes nur in Annäherung, niemals aber in Vollendung zugänglich. Das bestätigt übrigens unsere (Selbst-) Beobachtung auf Schritt und Tritt: Wenn wir schon nicht wissen, ob wir uns selbst wirklich kennen – und wer will für sich die Hand ins Feuer legen, dass er allen Bewährungsproben des Lebens standhält –, wie wollen wir dann behaupten, gar einen anderen Menschen zu kennen. Unser Wissen bleibt begrenzt und zerbrechlich. Das gilt auch für die intelligible Welt. Auch über sie können wir nur wenig genug wissen. Aber als Bürger des mundus sensibilis können wir zu einer – nota bene: einer 22

Vgl. dazu Christoph Böhr, Tatsächlich unabweislich?, in: Metaphysik. Von einem unabweislichen Bedürfnis der menschlichen Vernunft. Rémi Brague zu Ehren, hg. v. Christoph Böhr, Wiesbaden 2020, S. V–XII. 23 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, B XXX. Hervorhebungen im Original. 24 Hinske, Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens, a.a.O., S. 113, in diesem Band S. 88. 25 Vgl. Hinske, Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens, a.a.O., S. 12, in diesem Band S. 248: Kant hat die Wissenschaften „generell der Erscheinungswelt, dem mundus sensibilis zugeordnet“.

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– Gewissheit gelangen, die wir vergleichsweise mit unseren Kenntnissen über den mundus sensibilis nie und nimmer erlangen können. Es ist dies der unbedingte, nicht verhandelbare, aller Naturkausalität enthobene Antrieb der praktischen Vernunft, die uns stets mit letzter, unbedingter Gewissheit gegenübertritt. Kants Denken über den mundus intelligibilis, wie dieser sich ihm seit 1781 darstellte, zeichnete Hinske mit großer Empathie im Lichte einer Debatte, auf die er nach dem Fall der Mauer und der anschließenden Öffnung der Archive in Jena gestoßen war: die Bewegung des Jenaer Frühkantianismus – einer ersten und frühestmöglichen Rezeption der kritischen Philosophie. Hinske unterrichtete 1991 als Gast an der Universität Jena und fand während der Zeit seines Aufenthaltes in deren Archiv bis dahin unentdeckt gebliebene, außerordentlich bedeutsame Selbstzeugnisse des Frühkantianismus, deren Kopf Christian Gottfried Schütz, der von 1747 bis 1832 lebte und seit 1784 mit Kant in brieflichem Kontakt stand, war.26 Hier nun eröffnete sich Hinske ein neues Forschungsfeld im Blick auf eine bis dahin völlig vergessene Deutung der Kantschen Philosophie an deren Ursprüngen.27 Seitdem „muß die Geschichte des Kantianismus umgeschrieben werden, und zwar im Sinne einer unmißverständlichen Einbeziehung der von Hinske so genannten sokratischen Kantrezeption: einer Deutung Kants ganz im Sinne des sokratischen Nichtwissens.“28

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Zu Christian Gottfried Schütz vgl. Horst Schröpfer, Christian Gottfried Schütz – Initiator einer wirkungsvollen Verbreitung der Philosophie Kants, in: Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, hg. v. Norbert Hinske, Erhard Lange u. Horst Schröpfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 15–35, sowie dazu Schröpfers maßgebliche Arbeit Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. 27 Hinskes Entdeckungen finden sich vor allem in zwei Büchern bezeugt: einem Begleitkatalog zu einer Ausstellung in der Universität Jena ‚Das Kantische Evangelium‘. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte. Ein Begleitkatalog, hg. v. Norbert Hinske, Erhard Lange u. Horst Schröpfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993; in erweiterter Fassung dann in Abt. II, Bd. 6, der Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung unter dem Titel Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, hg. v. Norbert Hinske, Erhard Lange u. Horst Schröpfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. 28 Böhr, Die Selbsterfahrung des Handelns in der Unberechenbarkeit des Lebens, a.a.O., S. 17; zahlreiche Aufsätze Hinskes in diesem Band geben Zeugnis von dieser Deutung Kants im Sinne des sokratischen Nichtwissens: vgl. dazu auch Norbert Hinske, Der Jenaer Frühkantianismus als Forschungsaufgabe, in: Der Aufbruch in den Kantianismus, a.a.O., S. 231–243, hier Kap. 3: Zum proprium des Jenaer Frühkantianismus: die sokratische Kantrezeption, S. 241–243, hier S. 242: „Die Idee des sokratischen Nichtwissens … entspricht nicht nur dem Geist des achtzehnten, des sokratischen Jahrhunderts. Sie trifft auch eine Grundintention der Kantschen Philosophie.“

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Mir scheint, dass große Teile der Kantforschung diese im Licht der Forschungen zum Jenaer Frühkantianismus notwendig gewordene, zumindest in Teilen neue Deutung der Philosophie Kants bis heute längst noch nicht in ausreichender Weise vollzogen haben, obwohl sie eine Perspektive eröffnen, die keinesfalls übersehen darf, wem an einer zutreffenden Interpretation der kritischen Philosophie gelegen ist. Kants Frage, was wir (er-) hoffen dürfen, führt im Lichte der Jenaer Funde zu einer Deutung der kritischen Philosophie, wie sie neuerlich dem Kantianismus wohl alles in allem weniger geläufig waren. Sie münden in jenes ‚Negative Credo‘ zum Atheismus, wie Hinske es aphoristisch – und gleichsam als Selbstbekenntnis – niedergeschrieben hat: „Ich glaube nicht, daß die Atheisten die skeptischeren Zeitgenossen sind.“29 Das klingt zunächst recht minimalistisch, „entpuppt sich aber bei näherem Hinsehen als eine wirkmächtige defensio fidei: nämlich eine Selbstbehauptung des Glaubens, die insoweit besonders ins Gewicht fällt, weil sie von der menschlichen Vernunft, gerade wenn diese sich kritisch selbst zum Gegenstand des Denkens macht, nicht zurückgewiesen werden kann.“30

Novus rerum ordo Insofern münden Hinskes Überlegungen zu einer wechselseitigen Verwiesenheit von Vernunft und Glaube im Anschluss an Kant folgerichtig in eine philosophische Inkraftsetzung des – von Kant als die dritte Stufe der Metaphysik, „der Gelangung der Metaphysik zu ihrem Endzwecke“31 beschriebenen – Theologischen: „Denn die defensio fidei des Philosophen setzt, samt ihrer Begründung, alle jene schachmatt, die meinen, Atheismus und Skepsis seien zwei Seiten einer Medaille. Daß genau das

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Norbert Hinske, Negatives Credo, in: Sentieri aperti della Ragione. Verità Metodo Scienza. Scritti in onore di Dario Antiseri nel suo 70° compleanno, hg. v. Giuseppe Franco, San Cesario di Lecce 2010, S. 431–434, hier S. 434. 30 Böhr, Die Selbsterfahrung des Handelns in der Unberechenbarkeit des Lebens, a.a.O., S. 19. Zur Rolle und zur Bedeutung des Glaubens in Kants Philosophie vgl. die – auch entwicklungsgeschichtlich höchst aufschlussreiche – umfangreiche Untersuchung von Rudolf Langthaler, Kant über den Glauben und die ‚Selbsterhaltung der Vernunft‘. Sein Weg von der ‚Kritik‘ zur ‚eigentlichen Metaphysik‘ – und darüber hinaus, Freiburg u. München 2018, sowie die ebenfalls überzeugende Veröffentlichung von Burkhard Nonnenmacher, Vernunft und Glaube bei Kant, Tübingen 2018. 31 Immanuel Kant, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, Erste Handschrift, A 66 f.

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Gegenteil … wahrscheinlicher ist,32 haben die Propagandisten der zeitgenössischen philosophischen Mode nicht begriffen – auch wegen, wie wenigstens am Rande bemerkt werden darf, höchst unzulänglicher begriffsgeschichtlicher Kenntnisse, die, wie sich auch in diesem Zusammenhang zeigt, gerade dem nicht schaden, dessen Denken einer großen Linie folgt.“33 Diese große Linie führt, in den Worten Kants, „auf die praesumtion der intelligibilium“.34 Was bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Praesumtion‘? Die Antwort auf diese Frage hat eine entscheidende Bedeutung, da der Begriff leicht missverstanden wird als eine mehr oder weniger brüchige Vorannahme. Hinske deutet – zusammenfassend – diese Fragestellung und ihre Beantwortung: „Der Zugang zum mundus intelligibilis … eröffnet sich dem Mensch … nicht … im realen Verstandesgebrauch, sondern in der Selbsterfahrung des moralischen Handelns, die eine selbständige – unableitbare und unreduzierbare – Erkenntnisquelle eigenen Ranges ist … Eben diese Neubegründung des Glaubens an Gott und Unsterblichkeit ist … die Quintessenz jener »Neuordnung der Dinge«, jenes »novi rerum ordinis, der sich in der Philosophie – sc. mit Kant – angefangen«.“35 Es sind die Worte des Frühkantianers Christian Gottfried Schütz, die, über rund zweihundert Jahre verschollen und vergessen, von Hinske hier in Erinnerung gerufen werden. Die Wiederentdeckung dieser frühesten, noch ganz ursprünglichen Kantrezeption, die mit einem unverstellten Blick die Vernunftkritik aus Königsberg erfasst und aufgenommen hat, ist schon eine Forschungsleistung, die für sich gewürdigt zu werden verdient. Aber Hinskes Beitrag zur Deutung Kants geht weit über diese für die Geschichte des Kantianismus entscheidende und bis dahin unbekannte Entdeckung der Einsicht in den novum ordinem rerum, den die Kritik der reinen Vernunft begründet, und wie sie von Schütz wohl erstmalig und zudem ganz im Sinne Kants erfasst wurde,36 hinaus. „Denn daß es sich bei eben dieser

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Auch in der Forschung wird gelegentlich übersehen, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft, B 781, die Verneinung der Behauptung von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit durch die reine Vernunft für „noch weniger“ möglich hält als deren Erweis im Sinne von „bejahenden Behauptungen“. 33 Böhr, Die Selbsterfahrung des Handelns in der Unberechenbarkeit des Lebens, a.a.O., S. 19. 34 Immanuel Kant, Reflexion 4349., in: AA XVII 5161–9. 35 Hinske, Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens, a.a.O., S. 21 f., in diesem Band S. 255; das Zitat im Zitat ist entnommen: Christian Gottfried Schütz, Rezension zu: […] Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Immanuel Kant, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 3 (1785) S. 21 ff., hier S. 23; wiederabgedruckt in: Rezensionen zur kantischen Philosophie 1781–87, hg. v. Albert Landau, Bebra 1991, S. 135 ff.; Schütz lebte von 1747 bis 1832, war zunächst, seit 1773, Professor in Halle, wurde 1770 als Professor der Poesie und Beredsamkeit nach Jena berufen und begründete dort 1785 die Allgemeine Literatur-Zeitung. 36 Schütz’ Redewendung von der durch die kritische Philosophie begründeten ‚neuen Ordnung der Dinge‘ findet sich, fast vier Jahrzehnte nach Schütz, bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Kurze Ueber-

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Einsicht in die Neubegründung des novi ordinis rerum nicht um eine Facette, sondern um das Fazit des Kantschen Denkens handelt: Diese neue Einsicht haben wir Hinske zu verdanken. Und es ist eben diese Einsicht, die weite Teile der Kantforschung und der Geschichte dieser Forschung vom Kopf auf die Füße stellt. Hinskes Philosophie pfropft nicht die Fragen unserer Zeit … auf den Wurzelstock des Kantschen Denkens, sondern entwickelt aus dem Kantschen Denken heraus – und zwar nach Maßgabe einer strengen Wiederherstellung dieses Denkens – seine Antwort auf die wichtigen Fragen der Gegenwart.37 Das ist keine relecture, wie man heute so gerne … sagt, sondern ein recursus, den nur leisten kann, wer eine umfassende Kenntnis vom Gegenstand seiner Auslegung besitzt: jenem novum ordinem rerum, den nur nachbilden kann, wer sich zunächst und erfolgreich um seine Aneignung bemüht hat.“38 Den ‚novum rerum ordinem‘ als das Fazit des Kantschen Denkens – im Anschluss an die Kantrezeption des Jenaer Frühkantianismus – (wieder-) entdeckt und freigelegt zu haben, gehört zu Hinskes bleibenden Forschungsleistungen. Nicht die Sinnenwelt und deren Erkenntnis, sondern die Selbsterfahrung des moralischen Handelns als einer selbständigen – unableitbaren und unreduzierbaren – Erkenntnisquelle eigenen Ranges eröffnet jene Neuordnung der Dinge, in deren Aufweis Kants Vernunftkritik mündet. Die Neubegründung des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ist eben keine abgeleitete Folge theoretischer Erkenntnis, sondern allein in der Selbsterfahrung der praktischen Vernunft möglich. Damit entwickelt Hinske im Anschluss an Kant einen Begriff von Philosophie, der den heute oft geläufigen erweitert und an den Menschen – seine Selbstbeobachtung und seine Selbsterfahrung

sicht über die wichtigsten Veränderungen der Metaphysik bei Kant, in: Immanuel Kant’s Vorlesungen über die Metaphysik, Zum Drucke befördert von dem Herausgeber der Kantschen Vorlesungen über die philosophische Religionslehre. Nebst einer Einleitung, welche eine kurze Übersicht der wichtigsten Veränderungen der Metaphysik seit Kant enthält, Erfurt 1821, Neudr. Darmstadt 1975, S. XVII–LXIV, hier S. XXII: „Dies – sc. der Kritizismus – ist das große Resultat, wodurch Kant die ganze Schulmetaphysik vor ihm stürzte, und der Begründer einer neuern Ordnung der Dinge in der Philosophie ward.“ Die Aufnahme der Redewendung durch Pölitz ist auch deshalb erinnerungswürdig, weil sie von ihm in den unmittelbaren Zusammenhang einer schroffen Zurückweisung einer Vereinnahmung der kritischen Philosophie durch den Idealismus – Pölitz nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Namen von Jacob Sigismund Beck, Johann Gottlieb Fichte und Johann Baptist Schad – gestellt wird. Dazu vgl. Christoph Böhr, Kants Anthropologie in Spiegelung und Gegenspiegelung bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz. Die Umformung der kritischen Philosophie zum transzendentalen Idealismus auf dem Weg ihrer Aufnahme, in: Der Zyklop in der Wissenschaft: Kant und die anthropologia transcendentalis, hg. v. Francesco Valerio Tommasi, Hamburg 2018, S. 95– 112, bes. S. 107. 37 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980. 38 Böhr, Die Selbsterfahrung des Handelns in der Unberechenbarkeit des Lebens, a.a.O., S. 20.

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– zurückbindet.39 Philosophieren kann man nicht, indem man einen möglichst großen Abstand zu sich und der Welt aufbaut, um gleichsam als Unbeteiligter die Sterne am Firmament zu zählen. Philosophieren heißt vielmehr, sich seiner selbst gewahr zu werden und sich den eigenen Erfahrungen zu stellen, statt vor ihnen Reißaus zu nehmen. Anders gesagt: Wer ständig auf der Flucht vor sich selbst ist, taugt wenig zum Philosophieren.40 Ihm bleiben die wichtigsten Gedanken verborgen, weil deren Einsichtnahme nur auf dem Weg der Selbsterfahrung gelingen kann. In diesem Sinne, so könnte man sagen, knüpft Hinske an die lange und bedeutende, in der griechischen Antike und später im Neoplatonismus grundgelegte Tradition der Philosophie ‚als Lebensform‘ an, wie Pierre Hadot und andere sie vor wenigen Jahrzehnten neu entdeckt haben. Diese Philosophie ist mehr Meditation als Traktat oder Diskurs, weil sie auf das Momentum der Introspektion nicht verzichten kann. Immer aber haftet einem solchen Momentum – zunächst – die Ferne zu aller Diskursivität an. Dass Kant, der gemeinhin und bis heute geradezu als Vorbild für Rationalität und Diskursivität gilt, eben diesen Weg gewiesen hat, mag erstaunen; aber sich dessen gewahr zu werden, ist unabdingbar, wenn man das Fazit dieses Philosophen nicht verfehlen will. 39

Vgl. dazu besonders Norbert Hinske, Lebenserfahrung und Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, hier vor allem Kap. I: Lebenserfahrung – was ist das überhaupt?, S. 13–48, sowie Kap. VI.4: Die Philosophie als eine mögliche Reaktion des Menschen auf die Beirrung an der eigenen Lebensführung, S. 137. 40 Erst als Aurelius Augustinus die Flucht vor der Entscheidung über seine Lebensgestaltung beendete, konnte er mit der Niederschrift seiner philosophischen Schriften, die ohne eine ‚reditio in seipsum‘ – die Rückkehr in das eigene Innere – gar nicht hätten geschrieben werden können, beginnen. Das Ergebnis einer solchen ‚reditio‘ beschreiben Augustinus und Kant sehr gleichlautend: Selbsterkenntnis führt, so Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 26 Anm., „zu unergründlicher Tiefe“ und „zum Abgrunde in der Erforschung seiner Natur“. Und zum Begriff der ‚Natur‘ erläutert Kant unmittelbar anschließend – unter Bezugnahme auf Alexander Pope –: „Mensch der du dir ein schwer Problema in deinen eigenen Augen bist Nein ich vermag dich nicht zu fassen.“ In den Confessiones, IV, 4, 9, heißt es: „Factus eram ipse mihi magna quaestio“. Der locus classicus des ‚homo abyssus‘ – Abgründigkeit des Menschen – findet sich bei Aurelius Augustinus, Über die Psalmen, hg. v. Hans Urs von Balthasar, Leipzig 1936, S. 68 (13): „Ein Abgrund ruft den andern an. Wenn Tiefe Abgrund heißt, glauben wir dann, das Menschenherz sei kein Abgrund? Was nämlich ist tiefer als dieser Abgrund?“ Hervorhebung im Original. Der Satz findet sich dann bei Georg Büchner, Woyzeck, Erste Fassung, Szenengruppe 2, Szene 8, in: Georg Büchner, Werke und Briefe, hg. v. Werner R. Lehmann, München u. Wien 1980, S. 143: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Wolfgang Martens, Zum Menschenbild Georg Büchners. ‚Woyzeck‘ und die Marionszene in ‚Dantons Tod‘, in: Georg Büchner, hg. v. Wolfgang Martens, Darmstadt 21969, S. 373–385, hier S. 385 Anm. 24, verweist in seiner Kommentierung auf eben diese oben genannte Stelle bei Augustinus unter Hinweis auf die entsprechende Stelle in dessen Psalmenkommentar Ennarratio in psalmum XLI.

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Kants letztes Wort war nicht das Eingeständnis der Verzweiflung angesichts der Schwäche aller menschlichen Vernunft; sein letztes Wort war der Verweis auf den ‚novus rerum ordo‘, in den er den Menschen gestellt sieht. Verzweiflung ist die Folge einer Selbstverachtung der Vernunft angesichts von deren unüberwindbarer Zerbrechlichkeit und Irrtumsanfälligkeit. Dem setzt Kant das Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft gegenüber, die bei aller ihrer Begrenztheit zumindest doch in der Lage ist, den „dogmatischen Skeptizismus“41 des Vernunftunglaubens zu widerlegen.

Abschließende Würdigung Hinske hat prägend gewirkt in Lehre und Forschung: zunächst in seinen zahlreichen Schülern, denen er als Hochschullehrer vermittelt hat, was es heißen kann, selbst zu denken. Wer die Aufforderung des ‚sapere aude‘ ernst nimmt, ist besser vor Ideologien, Trends und Moden geschützt als vergleichsweise jemand, der das Wagnis des eigenen Denkens nie gelernt und erprobt hat. Denn: Es will gelernt und – vermutlich lebenslang – eingeübt werden, selbst zu denken. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass Denken verwildert, und sich immer weiter von dem entfernt, was sinnvollerweise noch unter ‚Denken‘ verstanden werden kann. Denken ist mehr als ein Spiel mit seinen Möglichkeiten, wie das große Teile der vernunftentfremdeten Postmoderne nahelegen. Und ein zweites: Forschung verdient ohne die Liebe zum Detail nicht ihren Namen; deshalb sind Quellen- und Entwicklungsgeschichte wichtige Elemente der geistesgeschichtlichen Arbeit; aber Forschung ist doch immer mehr als nur Detailverliebtheit, sie muss stets die Deutung des Ganzen im Blick behalten. Dieses Selbstverständnis bezeugen die in diesem Buch versammelten Aufsätze. Sie achten Detailfragen nicht gering – im Gegenteil –, aber sie erschöpfen sich nicht in ihnen. Prägend gewirkt hat Hinske aber nicht minder in der Forschung: als Begründer des Kant-Index, eingebettet in die seit 1986 bei frommann-holzboog erscheinenden und ebenfalls von ihm verantworteten Forschungen und Materialien zur Deutschen Aufklärung – FMDA –, die neben den Indices – bisher 31 Bände und etliche weitere 41

Kant, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, Einleitung nach Maßgabe der dritten Handschrift, A 188; vgl. auch Immanuel Kant, Reflexion 2446, in: AA XVI 371; vgl. dazu weiterführend die beiden Aufsätze von Richard Schaeffler, Die Selbstgefährdung der Vernunft und der Glaube an Gott, 1998, sowie Ders., Die Endlichkeit der Vernunft und ihr ‚Interesse‘: Zur Weiterentwicklung von Kants vier Leitfragen der Philosophie, 2017, in: Ders., Unbedingte Wahrheit und endliche Vernunft. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis, hg. v. Christoph Böhr, Wiesbaden 2017, S. 55–83 sowie S. 139–180.

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in Vorbereitung – eine ‚Abteilung Texte‘ – bisher 5 Bände – sowie die ‚Abteilung Monographien‘ – bisher 25 Bände – enthält. Hinske ist der begeisterte Entdecker der reichhaltigen und fruchtbaren italienischen Kantforschung in Deutschland; diese hat er hierzulande für die Philosophie, die bis dahin kaum von ihr Kenntnis genommen hatte, erschlossen und zahlreiche deutsch-italienische Kooperationen auf dem Gebiet der Kantforschung begründet. Nach dem Fall der innerdeutschen Mauer 1989 nutzte er die Öffnung der Archive in der ehemaligen DDR – und fand tatsächlich bis dahin gänzlich unbekannte Dokumente, die es erforderlich machen, die Geschichte der Kantrezeption maßgeblich um die Zeit des ‚Jenaer Frühkantianismus‘ zu ergänzen. Damit gelang ihm jedoch weit mehr als ein Fund aufsehenerregender Archivalien. Das Licht, das die früheste, unmittelbar nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft einsetzende Beschäftigung mit der kritischen Philosophie seitens einiger Jenaer Hochschullehrer erhellend und deutend auf die Kantsche Vernunftkritik geworfen hatte, drohte inzwischen zu verlöschen und völlig ins Vergessen zu fallen. Indem Hinske die Archivalien rettete und erforschte, hat er wichtige Hinweise auf eine ‚authentische‘ – und die zugleich ursprünglichste – Kantrezeption neu ins Bewusstsein gehoben. Eine breitere Aufnahme dieser Forschungen hat eben erst begonnen und ist noch lange nicht abgeschlossen. Vielleicht wird ihnen erst eine neue Generation von Kantforschern gerecht werden können, sofern diese bereit und willens sind, die immer mehr in zersplitterten Einzelfragen sich ergehende, allmählich recht ermüdende Auslegung des Königsberger Philosophen zugunsten einer neuen, auf den Sinn des Ganzen zielenden Gesamtsicht zu überwinden.42 Ähnlich tiefgreifende Forschungsergebnisse hat Hinske zuletzt im Rahmen seines großen, über eine Reihe von Jahren angelegten Projektes einer neuen Edition der unter dem Namen Naturrecht Feyerabend bekannten Vorlesungsnachschrift erzielt.43 Da deren Edition im Rahmen der Akademie-Ausgabe sehr mangelhaft war und zahlreiche sinnstörende und -entstellende Fehler enthielt, er aber in dieser Vorlesungsnachschrift wichtige Einsichten in das Kantsche Denken als Ganzes vorfand, entschloss er sich – gemeinsam mit Gianluca Sadun Bordoni, einem italienischen Ge-

42

Hinske, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens, a.a.O., S. 172, in diesem Band S. 220: Erst wenn ein „Text als ganzer verstanden ist, lassen sich die Einzelfragen lösen und die Dunkelheiten, die der Text bietet, aufklären.“ 43 Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Gianluca Sadun Bordoni, Kant-Index, Bd. 30: Stellenindex und Konkordanz zum ‚Naturrecht Feyerabend‘, Teilbd. 1: Einleitung des ‚Naturrecht Feyerabend‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010; Teilbd. 2: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Text und Hauptindex, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014; Teilbd. 3: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Konkordanz und Sonderindices, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014.

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lehrten – zu der mühsamen Arbeit einer umfassenden neuen Transkription der Handschrift. Anschließend zeigte sich, wie begründet seine Vermutung war: Die Einleitung in diese Nachschrift der Vorlesung Kants über das Naturrecht, entstanden ungefähr während der Zeit, in der die Grundlegung der Metaphysik der Sitten verfasst wurde – und mit Bedacht für sich gesondert im ersten Band der insgesamt dreibändigen neuen Editionen des Naturrecht Feyerabend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – enthält in nuce und oft in vergleichsweise noch klarerer Ausdrucksweise etliche Kerngedanken von Kants Grundlegungsschrift, die – unabhängig von ihrem Titel, der Kant offenbar erst ganz am Ende der Niederschrift, als er das Vorwort verfasste, in den Sinn kam – ja in der Sache tatsächlich so etwas wie eine Grundlegung der Philosophie überhaupt zum Gegenstand hat. Hinskes Verständnis von Philosophie erschöpft sich nicht in einer Tätigkeit, die in geregelter Arbeitszeit am Schreibtisch erledigt werden kann. Das unterscheidet ihn von manch anderem. Philosophie ist ihm Profession, ja. Aber sie ist für ihn zugleich weit mehr. Wie Kant, der ihm in mancherlei Hinsicht zum Vorbild wurde, versteht er Philosophieren als eine Formung menschlicher Lebensführung: eben nicht nur als Wissenschaftslehre, sondern mindestens ebenso sehr – und heute für Philosophen aus Profession wohl eher unzeitgemäß – als Weisheitslehre.44 Das gilt nicht nur in Bezug auf Dritte: Schüler, Zuhörer oder Leser. Es gilt vor allem und zunächst in der Beziehung zur eigenen Lebensführung: Philosophie ist am Ende immer auch eine Confessio, die in der Existenz dessen, der sich ihr verschrieben hat, eine äußere Sichtbarkeit gewinnt. Auch in diesem Sinne hat die Philosophie Hinskes, die im Lichte seiner Forschungen über Kant dem eigenen Denken wie der eigenen Lebensform ihre Prägung gab, Bestand über den Tag hinaus – und ein Fortwirken verdient. Die hier vorgelegte Aufsatzsammlung soll dazu eine Anregung sein – umso mehr, als sie tatsächlich, wie der Titel des Buches andeutet, Wege zu einem neuen Verständnis Kants weist. Umso 44

Kant verweist vier Jahre vor seinem Tod in einem Entwurf zum Jachmannprospekt – vgl. Dieter Henrich, Zu Kants Begriff der Philosophie. Eine Edition und eine Fragestellung, in: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, hg. v. Friedrich Kaulbach u. Joachim Ritter, Berlin 1966, S. 40–60, hier S. 42 – auf diese wichtige Unterscheidung zwischen Wissenschaftslehre und Weisheitslehre: Man muss Philosophie als Wissenschaftslehre von Philosophie als Weisheitslehre unterscheiden: Letztere zielt auf „den Endzweck der menschlichen Vernunft“ – nämlich das, wonach zu trachten für den Menschen das „einzige nothwendige ist“ und das er sich deshalb schlechthin „zum Ziel machen soll“ – um dann, mit Blick auf die Gebrechlichkeit der endlichen Vernunft, hinzuzufügen: „Natur und Gnade“. Vgl. Immanuel Kant, Prosepctus zum inliegenden Werk, in: Reinhold Bernhard Jachmann, Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism, Königsberg 1800, hg. v. Robert Theis, Hildesheim, Zürich u. New York 1999, S. 5–8, hier S. 6.

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dankbarer ist der Herausgeber für Hinskes Einverständnis zu dieser Veröffentlichung, zumal diese gerade auch für solche Leser von Interesse ist, die nicht dem kleinen Kreis der berufsmäßigen Kantforscher angehören. Kants Philosophie ‚dem Weltbegriff‘ nach hat gerade eben jene Menschen im Blick, der nicht Philosophie als Profession betreiben: Denn „Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“.45 Es geht um die „wesentlichen Zwecke“46 der menschlichen Vernunft, anders gesagt: Es geht um die Bestimmung des Menschen47 – um das also, was unser Menschsein in seinem Kern – als ein jeder individuellen Existenz Vorgegebenes – ausmacht. Und diese Frage, so wird man damals wie heute sagen müssen, geht tatsächlich – ausnahmslos – jeden Menschen in gleicher Weise an.

45

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 867 Anm. – Hervorhebung im Original. Ebd.; vgl. dazu oben auch Anm. 44. 47 Vgl. dazu Norbert Hinske, Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff. Einige Anmerkungen zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ B 866 ff., Eichstätt 2011, S. 5–15, in diesem Band S. 103–115; zum Begriff der ‚Bestimmung des Menschen‘ hat eine Schülerin Hinskes eine maßgebliche Arbeit vorgelegt: Laura Anna Macor, Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013; dazu meine Rezension in Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft (ThLZ) 140 (2015) H. 4, Sp. 415–417. 46

Logik

Europäische Kultur als Gesprächskultur

Der Titel des vorliegenden Beitrags lautet Europäische Kultur als Gesprächskultur. Das sieht nach einem kulturgeschichtlichen Abriss aus, der einen großen Bogen von Platon zu Karl R. Popper spannt oder die Höhepunkte der europäischen Kultur als Stunden des Gesprächs beschreibt, angefangen von Platons Symposion bis hin zu jenem denkwürdigen Gespräch zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller am 20. Juli 1794, das ihre Freundschaft begründete1. Ein solcher Abriss wäre, sofern er von den notwendigen historischen Kenntnissen getragen ist, gewiss von hohem Reiz. Die Absicht der nachfolgenden Überlegungen zielt jedoch in andere Richtung. Sie fragen nach eben jenen Grundeinsichten und -überzeugungen, aus denen so etwas wie Gesprächskultur überhaupt erst erwächst. Dabei sind insbesondere drei Fragenkomplexe zu behandeln:   

die Frage nach der leitenden Absicht von Gesprächskultur; die Frage nach der meist unausgesprochenen Grundprämisse von Gesprächskultur; und die Frage nach dem systematischen Ort der Pflege von Gesprächskultur.

Damit ist zugleich auch die Gliederung der nachfolgenden Überlegungen in groben Strichen vorgezeichnet. Allen diesen Erörterungen sei jedoch zum Auftakt eine scheinbar sehr allgemeine These vorangestellt, eine These, die erst ganz am Ende der Ausführungen ein Stück weit konkretisiert werden soll. Sie lautet: Europäische Kultur ist in besonderer Weise Gesprächskultur. Schärfer formuliert: Die Gesprächskultur ist nicht nur ein mehr oder minder wichtiges Element der europäischen Kultur, nein, die europäische Kultur ist in ihrem Grundzug Gesprächskultur. Möglicherweise liegt hier ein wichtiger Unterschied zu der Kultur des fernen Ostens. Es ist dies zugegebenermaßen eine etwas einseitige These. Als Korrektiv wäre vielleicht noch ein zweiter, gegenläufiger Vortrag notwendig, dessen Titel lauten könnte ‚Die europäische Kultur und die Tradition des Monologs‘. Am Ende ist ja nur der ein guter Gesprächspartner, den zugleich die 1

Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Erste Bekanntschaft mit Schiller, 1794, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 36, Weimar 1893, Neudr. Tokyo 1975, S. 250 f.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_2

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Kultur der zurückgezogenen Meditation auszeichnet. Die Kraft, mit sich allein sein zu können, gehört zu den wichtigsten Vorbedingungen eines geglückten Gesprächs. Wo das eigene Nachdenken, die meditatio, ausbleibt, ist das Geschwätz nicht mehr weit. Aber trotz solcher notwendigen Einschränkungen sei hier mit allem Nachdruck die These verfochten: Die europäische Kultur ist Gesprächskultur.

1

Das tragende Fundament von Gesprächskultur: das Wissen um die Wahrheit im Gegenargument

Eine solche These verlangt zunächst einmal die Klärung des Leitbegriffs: Was ist das eigentlich – Gesprächskultur? Was ist die Absicht von Gesprächskultur? Was will sie? Wozu dient sie? Ist Gesprächskultur nur ein schönes Nebenbei, eine Sache des Smalltalk, der unverbindlichen Plauderei, eine besondere Form von gesellschaftlicher Artigkeit, an der man, so lange es nicht um handfeste Interessen geht, um des schönen Scheines willen festhalten sollte? Oder hat Gesprächskultur jenseits alles dessen noch ganz andere, tiefer liegende und weiter reichende Absichten? Ist sie am Ende gar die Wurzel der Kultur? Bereits ein kurzer Blick in die europäische Geistesgeschichte zeigt: Das ist in der Tat der Fall. Die primäre Absicht von Gesprächskultur ist nicht der Austausch von Komplimenten. Ihre Absicht ist es vielmehr, den anderen angemessen zu Worte kommen zu lassen, den Freund wie den Gegner, und zwar zuerst und zunächst einmal gar nicht aus Gründen der Höflichkeit oder der Moral, sondern weil jeder von uns im eigenen Erkenntnisinteresse auf das Argument des Andersdenkenden angewiesen ist, weil wir uns jenes Stücks Wahrheit, das in seinen Überlegungen steckt, bemächtigen müssen, um selbst klüger zu werden, weil wir zwangsläufig in die Irre gehen, wenn wir unentwegt nur mit unseren eigenen Argumenten beschäftigt sind. Die primäre Absicht der Gesprächskultur ist es, die Engen des eigenen Horizonts zu überwinden und die Wirklichkeit mit Hilfe des Andersdenkenden besser in den Blick zu bekommen, als man das aus eigener Kraft vermöchte. Eben damit schafft sie auch allererst den Raum, in dem die Dimension des Rechts unübersehbar Geltung gewinnen kann. Wer die Rechte des Menschen als Gesprächspartner nicht respektiert, läuft Gefahr, auch seine anderen Rechte zu verletzen. Im Gespräch zwischen Freunden gelingt solche Gesprächskultur häufig wie von selbst, zwischen Gegnern aber bedarf es dazu der besonderen Disziplin. Alle Regeln der Gesprächskultur, wie sie im Laufe der europäischen Geschichte entwickelt wor-

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den sind, haben hier ihre letzte Wurzel: Sie wollen helfen, sich die Wahrheit anzueignen, die der andere im Blick hat. Nicht diese Regeln aber bilden den primären Gegenstand der vorliegenden Überlegungen. Ihr Thema ist vielmehr die Frage nach dem eigentlichen Sinn von Gesprächskultur. Sie versuchen zu zeigen, dass diese letztlich aus dem Bemühen hervorgeht, dem Moment der Wahrheit gerecht zu werden, das sich in der Position des Andersdenkenden verbirgt. Diese Frage und diese Antwort erlauben eine erste grobe Abgrenzung von Gesprächskultur und Rhetorik. Rhetorik sucht die Aufmerksamkeit des Anderen zu gewinnen, um den eigenen Argumenten Geltung zu verschaffen. Gesprächskultur dagegen will uns selber zur Aufmerksamkeit für die Argumente des Andersdenkenden erziehen, damit wir uns eben jenes Stücks Wahrheit bemächtigen können, das in ihnen enthalten ist. Wenn die Rhetorik mit Cicero eine ars dicendi ist,2 so ist die Gesprächskultur allem voran eine ars audiendi. Rhetorik sucht die Argumente des Gegners zu entkräften. Schon bei Gorgias von Leontinoi heißt es: „Den Ernst der Gegner muß man durch Gelächter zunichte machen, ihr Gelächter durch Ernst“.3 Die Grundeinstellung der Rhetorik ist damit vielleicht ganz treffend beschrieben. Gesprächskultur dagegen sucht die wahre Kraft der Gegenargumente auszuloten. Immanuel Kant hat die ars oratoria – die für ihn freilich nicht einfach mit der Rhetorik zusammenfällt – als die „Kunst“ definiert, „sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen“.4 Die Gesprächskultur wäre so gesehen das genaue Gegenteil davon: die Kunst, sich der Stärken der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen, um mit Hilfe fremder Einsichten selbst einsichtiger zu werden. Solche Gegenüberstellung von Gesprächskultur und Rhetorik beabsichtigt keinesfalls eine einseitige Abwertung der letzteren. Ganz im Gegenteil: Die Rhetorik hat ihren guten Sinn. Wer seine eigenen Argumente nicht überzeugend geltend machen kann, ist auch ein schlechter Gesprächspartner. Eine Rhetorik aber, der das Gegengewicht der Gesprächskultur fehlt, ist in der Tat eine Sache des Teufels.

2

Marcus Tullius Cicero, De oratore, I, 15, 66. Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch u. deutsch v. Hermann Diels, Berlin 1903, 7. Aufl., hg. v. Walther Kranz, 3 Bde., 71954, Bd. 2, S. 303; Frgm. B12. 4 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790, 21793, B 217 Anm. Im Folgenden wird die Paginierung der Schriften Kants in erster Auflage mit A, in zweiter Auflage mit B bezeichnet. 3

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2

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Die geheime Prämisse von Gesprächskultur: die Überzeugung von der Unmöglichkeit des totalen lrrtums

Gesprächskultur also sucht das Moment der Wahrheit selbst noch in der abgelehnten, ja bekämpften Position zu entdecken. Sie nimmt den Gegner ernst. Sie bestreitet seine Auffassung, aber nicht seine Vernunft. Sie kämpft, aber sie setzt nicht herab. Hinter dieser Einstellung steht als Grundprämisse bewusst oder unbewusst eine Überzeugung, die von der europäischen Philosophie in ihrer langen Geschichte immer wieder aufs Neue mehr oder minder pointiert entwickelt worden ist: die provozierende, ja paradoxe Überzeugung von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums.5 Im Folgenden soll das an zwei großen, klassischen Figuren des europäischen Denkens in exemplarischer Weise vor Augen geführt werden, an Thomas von Aquin und Kant, also, geographisch gesehen, an dem Europa des Mediterraneo und an dem Europa des Mare Baltico. Beide Denker gelten einem gängigen Vorurteil gemäß geradezu als Antipoden. Bei beiden aber stößt man unabhängig voneinander auf die gleiche, verwegene These: Es gibt eine Unzahl von Irrtümern. So etwas wie einen totalen Irrtum aber gibt es nicht. Um bestimmte Missverständnisse bereits im Vorfeld abzuwehren: Die genannte These ist kein Freibrief für Beliebigkeit und schon gar nicht eine Lizenz für Geschwätz. Sie bestreitet auch keineswegs die tiefgreifenden Qualitätsunterschiede zwischen den verschiedenen Positionen. Aber sie beharrt darauf: Selbst noch in der abwegigsten und selbst noch in der empörendsten Behauptung ist ein Moment der Wahrheit enthalten, das es im Gespräch zunächst einmal zu ermitteln gilt. So etwas wie einen völligen Irrtum gibt es nicht. Bei Thomas von Aquin heißt es lapidar: „Das Falsche gründet in irgendetwas Wahrem“: „falsum fundatur in aliquo vero“.6 Eben deshalb kann Thomas in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles erklären: „Es ist unmöglich, daß die Vernunft von jemandem, der eine falsche Meinung vertritt, ganz und gar der Erkenntnis der Wahrheit beraubt sei“: „non ... est possibile quod intellectus opinantis aliquod falsum totaliter privetur cognitione veritatis“.7 Das ist keine Eintagsfliege, keine vereinzelte Bemerkung, die einen momentanen Mangel an Vorsicht oder gar 5

Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 31–66: Kant und die Aufklärung. Kants Theorie von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums. Die nachfolgenden Ausführungen greifen auf diese Darstellung zurück; vgl. ferner Marina Savi, II concetto di senso comune in Kant, Mailand 1998, S. 48 ff. 6 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum magistri Petri Lombardi in I. Sent. dist., q. 19, a. 5, 1 ad 8. 7 Ders., Sententia Libri Ethicorum, in: Lib. I, lectio 12.

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ein Blackout verriete, sondern eine für Thomas höchst bezeichnende Äußerung. Sie ließe sich mühelos von zahlreichen anderen Sätzen dieser Art flankieren.8 Übrigens heißt es auch schon bei Aristoteles in einer folgenreichen Formulierung seiner Metaphysik mit Bezug auf die Wahrheit, „daß niemand sie angemessen erreichen kann, auf der anderen Seite aber auch niemand sie gänzlich verfehlt“.9 Für die Gesprächsführung ergibt sich daraus die Aufgabe, als ersten Schritt auch in der Position des Andersdenkenden das Moment der Wahrheit von dem des Irrtums zu unterscheiden: zu distinguieren. Die Distinktionsmethode hat eben hier ihren Ursprung.10 Das aber setzt voraus, dass ich die Auffassung des Kontrahenten zuerst einmal unvoreingenommen zur Kenntnis nehme, ja, dass ich sie probeweise so stark wie möglich zu machen versuche – vielleicht sogar stärker, als der Andere selber sie vorgetragen hat. Das für das Mittelalter so charakteristische literarische Genus der Quaestio disputata, die zunächst einmal alle möglichen Gegenargumente unverfälscht zu Worte kommen lässt, hat eben hier seinen Ursprung. Josef Pieper trifft den springenden Punkt, wenn er bemerkt: „Einem arglosen Leser der Schriften des heiligen Thomas von Aquin mag es wohl gelegentlich passieren, dass er, einigermaßen stutzig und verwirrt, ganze Seiten liest, die nichts anderes enthalten als die höchst überzeugend formulierten Argumente nicht des Autors, sondern seiner Gegner. An der Formulierung ist schlechterdings nicht zu erkennen, dass Thomas sie ablehnt; es findet sich nicht die Spur einer Hindeutung auf die Schwäche des Arguments, nicht die leiseste Nuance einer ironischen Übertreibung. Der Gegner selber spricht; und es ist ein Gegner, der offenbar ausgezeichnet in Form ist, ruhig, sachlich, maßvoll. Man ist, von dem bei uns üblich gewordenen Stil der Polemik her, auf so etwas nicht gefaßt“.11 Wer heute noch unbekümmert vom finsteren Mittelalter redet, hat sich offenbar nie gründlicher mit ihm beschäftigt und von den Forschungsergebnissen der letzten hundert Jahre überhaupt nicht Kenntnis genommen. In Wahrheit ist das Mittelalter eine der großen, Maßstäbe setzenden Epochen der europäischen Kultur. Von der méditerrané zum mare balticum, ins frostige Königsberg: Die zweite Figur, an der die Überzeugung von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums hier in exemplarischer Weise veranschaulicht werden soll, ist Kant, der Anwalt der Neuzeit. Kant hat die überkommene Distinktionsmethode nicht ohne Schärfe abgelehnt.12 8

Vgl. Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, a.a.O., S. 47 ff. Aristoteles, Metaphysik, 2. Buch, Kap. 1, 993 a31 f. 10 Vgl. Ludwig Weber, Das Distinktionsverfahren im mittelalterlichen Denken und Kants skeptische Methode, Meisenheim am Glan 1976. 11 Josef Pieper, Über den Geist des Streitgesprächs, in: Hochland 50 (1957/58) 515. 12 Vgl. Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1970, S. 125 f.; italienische Übersetzung von Raffaele Ciafardone, La via kantiana alla filosofia trascendentale – Kant trentenne, L’Aquila 1987, S. 117 f. 9

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Überraschenderweise stößt man bei ihm jedoch der Sache nach auf ganz ähnliche Überlegungen wie bei Thomas von Aquin – dessen Werke er nie gelesen hat –. In seinem Handexemplar des von ihm benutzten Logikkompendiums von Georg Friedrich Meier finden sich zum Beispiel auf einer und derselben Seite zwei knappe Notizen, die zumindest ihrem Inhalt nach aufs engste zusammengehören. Nach der Datierung der Akademie-Ausgabe stammen beide aus dem Zeitraum von 1776 bis 1789. Sie lauten: „In historischen [und] (empirischen) Behauptungen kan jemand ganz Unrecht haben, z. B. der eine Begebenheit vor Christi geburt setzt, die doch nach ihr geschehen. Dagegen in rationalen ... Urtheilen muß er jederzeit von einer Seite betrachtet recht haben, und es ist billig, ihm zuerst dieses recht einzuwilligen und nur nachher die Unrichtigkeit als bloße Einschränkung hinzuzufügen“.13 „Aller unser Streit über die Warheit ... hat ein gemeinschaftlich interesse wie zwischen Freunden (Mann und Frau), soll also theilnehmend, nicht ausschließend, selbstsüchtig und egoistisch seyn. Ich muß davon anfangen, zu bemerken, worin der andere Recht habe“.14 Beide Reflexionen hängen wie Grund und Folge miteinander zusammen. Wenn es wirklich stimmt, dass mein Kontrahent „jederzeit von einer Seite betrachtet recht haben“ muss, dann stehe ich zwangsläufig vor der Aufgabe, mir zunächst einmal klarzumachen, „worin der andere Recht habe“. Mit der bloßen Ablehnung oder gar Diffamierung ist es dann nicht mehr getan. Bei beiden Nachlassnotizen handelt es sich um bloße Stichworte, die der Vorbereitung seiner Vorlesungen dienen sollten. In seinen sogenannten Logikvorlesungen – die großenteils eher eine allgemeine Einführung in die Philosophie überhaupt waren – hat Kant den Gedanken dann näher ausgeführt. So heißt es in der Wiener Logik, einer Nachschrift, die auf eine Vorlesung Kants aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre zurückgeht: „Oft ist es gut, dieses Wahre heraus zu suchen, und nicht alles gleich wegzuwerfen, was einen Irthum enthält. Wir können auf 2fache Art streiten, entweder weil wir verschiedenes Intereße haben, und dann streiten wir als Feinde, oder wir haben ein gemeinschaftliches lntereße, stimmen aber in der Art es zu befördern nicht überein, und dann streiten wir als Freunde. Alle Menschen haben bey Untersuchung der Wahrheit ein gemeinschaftliches Intereße“.15 Der Hinweis auf das „gemeinschaftliche interesse“ in der Reflexion 2213 ist also alles andere als eine Nebensache. Kant unterscheidet offenbar sehr genau zwischen einem Streit um die 13

Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern – im Folgenden abgekürzt als AA; römische Ziffern ohne weitern Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe –, XVI: Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3: Logik, Berlin u. Leipzig 1914, 21924, S. 272, Reflexion 2212. 14 Ebd., S. 273, Reflexion 2213. 15 AA XXIV: Kant’s Vorlesungen, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1: Vorlesungen über Logik, Berlin 1966, S. 828.

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Wahrheit und einem Interessenkonflikt. Während der letztere nur zu leicht zu Feindschaft führen kann, ist der ‚Streit über Wahrheit‘, jedenfalls solange er nicht von Interessenkollisionen überschattet wird, eher so etwas wie ein Streit zwischen Freunden. In seinem letzten Werk, im Streit der Fakultäten von 1798, also etwa fünfzehn Jahre später, wird Kant, vermutlich in Anlehnung an die skizzierten Überlegungen, nicht weniger genau zwischen „Krieg“ und „Streit“ unterscheiden.16 Werke, Nachlass und Vorlesungsnachschriften, das nebenbei, interpretieren sich bei Kant wechselseitig. Aus den genannten Unterscheidungen ergeben sich zwangsläufig die Regeln des guten Gesprächs. Kant fährt fort: „... daher müßen wir in solchem Streit – sc. um die Wahrheit – Theilnehmende seyn, indem wir uns nicht dabey aufhalten zu zeigen, wo der andere geirret hat, sondern wo er Recht hat“.17 Für ein angemessenes Verständnis von Kants Kritikbegriff sind solche Sätze von kaum zu überschätzender Bedeutung. In unmittelbarem Anschluß daran diskutiert Kant interessanterweise den Status der vorangegangenen Überlegungen. In welche Disziplin, in welches Fach der Philosophie gehören sie? Handelt es sich bei den Regeln der Gesprächskultur, handelt es sich bei den Ideen der Unparteilichkeit und Toleranz, so ist zu fragen, einzig und allein um Forderungen der Moralität oder werden sie zugleich und zuvor von dem eigenen Erkenntnisinteresse diktiert? Kants ausgewogene Antwort lautet: „Diese theilnehmende Gesinnung ist nun zwar moralisch, und gehört eigentlich nicht in die Logic. Aber die Logic schreibet die Regeln derselben als richtige Maximen vor“.18 Gemeint ist wohl: Schon die Logik und nicht erst die Moral schreibt die Regeln der Gesprächskultur als richtige Maximen vor. Wer zur Begründung jener Regeln der Gesprächskultur vorschnell auf die Moral rekurriert, überspringt das Nächstliegendste.

3

Der systematische Ort der Pflege von Gesprächskultur: die Logik als Vernunftlehre

Die letzten Überlegungen leiten zu einer dritten Frage über, einer Frage, die bereits in der Gegenüberstellung von Rhetorik und Gesprächskultur angelegt war: Gibt es eigentlich auch eine Wissenschaft, die für die Pflege der Gesprächskultur zuständig

16

Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten, 1798, A 43. AA XXIV, a.a.O. 18 Ebd. 17

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ist? Und wo wäre sie im Ganzen der universitas scientiarum, im Ganzen der Universität anzusiedeln? Ja, es gibt – oder, leider richtiger: es gab einmal eine solche Disziplin. Es ist dies jedoch primär nicht etwa die Moralphilosophie oder gar die Moraltheologie und auch nicht das ‚Mädchen für alles‘, die Anthropologie. Es ist vielmehr die Logik, freilich nicht die symbolische Logik der Gegenwart, die die vielschichtige Thematik der überlieferten Logik im Großen und Ganzen auf die Frage der stringenten Begründung und des Kalküls verengt hat, sondern jene Form von Logik, die das Zeitalter der Aufklärung mit Vorliebe ‚Vernunftlehre‘ genannt hat. In Christian Wolffs lateinischer Logik beispielsweise nimmt allein das Kapitel De methodo disputandi – Von der Methode des Streitgesprächs – 18 Seiten mit nicht weniger als 35 Paragraphen ein.19 Zahllose Autoren des 18. Jahrhunderts, und zwar keineswegs nur Wolffianer, sind Wolff an dieser Stelle gefolgt. Ziel einer solchen Vernunftlehre ist vor allem die Selbsterziehung, die Selbstdisziplin, die Erziehung des ganzen Menschen zu vernünftigem Denken und Handeln. Zu solcher Selbstdisziplin gehört die gelassene Abwägung des Pro und Contra, die Eindämmung der eigenen Vorurteile – die dann vor allem Georg Friedrich Meier zum Thema machen wird20 –, die Bemühung um Horizonterweiterung, der Kampf gegen dunkle Begriffe, bei denen sich jeder etwas anderes denkt, und anderes mehr. Die Logik, von der hier die Rede ist, dient ihrem eigenen Selbstverständnis nach gleichermaßen dem Nutzen der Wissenschaften wie der Lebensführung – „ad usum scientiarum atque vitae“ heißt es programmatisch im Titel von Wolffs lateinischer Logik. Die Leistungen und die Gesinnung insbesondere der deutschen Aufklärung werden nicht zuletzt an ihrer Vernunftlehre sichtbar. Auch sie ist eine der großen, Maßstäbe setzenden Leistungen der europäischen Kultur, die niemand ungestraft vergisst. Die Logiken oder vielleicht richtiger: die Vernunftlehren des 18. Jahrhunderts sind denn auch eine schier unerschöpfliche Fundgrube für immer neue Anregungen zur Gesprächskultur. Ein Sammelband wäre längst überfällig. Schon allein das Diffamierungsverbot, das nahezu in allen Wolffianischen Logiken wiederkehrt, ist von verblüffender Aktualität. Aber auch die Ausführungen über die spezifischen Tugenden und Laster der Diskussionspartner, auf die man in dieser oder jener Form immer wieder stößt, verdienten vor jeder Tagung und vor jeder Talk-Show in Erinnerung

19

Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata, Frankfurt u. Leipzig 1728, 31740, S. 771 ff. [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a., Abt. II, Bd. 1, Hildesheim 1983.]. 20 Georg Friedrich Meier, Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle 1766.; italienisch-deutsche Ausgabe hg. v. Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske u. Paola Rumore, Pisa 2005.

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gerufen zu werden. Als schlimme Laster der Kontrahenten nennt zum Beispiel Johann Franz Budde, so als lebte er heute: „daß sie eine Behauptung nicht zureichend verstanden und durchschaut haben; daß sie bei der Diskussion von ihr abgehen und Dinge ins Spiel bringen, die nicht zur Sache gehören; daß sie sich mit Aufgeregtheit in die Sache stürzen; daß sie entweder durch zu große Kürze oder durch Langatmigkeit ihrer Ausführungen sündigen, usw“.21 An anderer Stelle schreibt Budde fast beiläufig: „Allgemein ist zu bemerken, daß sich kein wissenschaftlich erprobter und nachdenklicher Mann leichten Herzens auf eine Diskussion oder gar auf die Widerlegung der Meinung anderer einlassen wird, da die Wahrheit beim Diskutieren häufiger verloren als gefunden wird. (cum disputando saepius amittatur veritas, quam inveniatur)“.22 Wer in eine Diskussion eintritt, sollte sich auch das immer wieder vor Augen halten.

21

Johann Franz Budde, Elementa philosophiae instrumentalis, seu institutionum philosophiae eclecticae tomus primus, Halle 1703, 91725, § XXIV, S. 243; vgl. ebd., § XIII, S. 251 f. 22 Ebd., § XI, S. 250.

Wer sind die Erben der Aufklärung? Kriterien für eine Antwort Wer sind die Erben der Aufklärung?

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Zur Situation der Gegenwart

Seit längerer Zeit ist es auf Akademietagungen und in Fernsehrunden, in Leitartikeln und Kommentaren Mode geworden, im Brustton der Selbstverständlichkeit zu erklären, diese oder jene Lebenseinstellung oder Denkweise, politische Auffassung oder religiöse Überzeugung sei für den Menschen der westlichen Welt völlig unannehmbar geworden, weil er ‚die Aufklärung hinter sich habe‘ beziehungsweise ‚durch die Aufklärung hindurchgegangen sei‘. Der moderne Mensch habe sich aller Fesseln entledigt und ‚emanzipiert‘, er sei ‚mündig‘ geworden, jedwede Form von ‚Fundamentalismus‘ – ein beliebig verwendbares Totschlagewort, das freilich in begriffsgeschichtlicher wie in sachlicher Hinsicht selber noch der Aufklärung harrt –, ja am Ende sogar jede Form von Gottesbezug sei ihm daher fremd. Vor allem in Fächern, denen man trotz mancher eindrucksvollen Ausnahmen schwerlich ein intimes Verhältnis zur historischen Forschung wird nachsagen können, insbesondere in der Politologie, Soziologie und Psychologie, ist eine solche Berufung auf das geschichtliche Erbe der Aufklärung beliebt. Auch die politischen Parteien haben sich fast ausnahmslos auf diese Sichtweise eingestellt. Eine solche Rede von ‚der‘ Aufklärung – und von ihrem heutigen Gegenbegriff, dem Fundamentalismus – entspringt wohl mehr der ideologischen Auseinandersetzung als der historischen Vergewisserung und der Bemühung um Erkenntnis. Aber wie alle Ideologien bringt auch sie die Gefahr mit sich, dass ihre Benutzer aufgrund der ständigen, gebetsmühlenartigen Wiederholung am Ende selbst daran glauben. Bei näherem Hinsehen aber ist eine derartige Berufung auf die ‚Aufklärung‘ so selbstverständlich nicht, und zwar vornehmlich aus drei ganz verschiedenen Gründen: Erstens ist die Aufklärungsforschung – in einer Art Gegenbewegung zu den großen Gesamtdarstellungen von Ernst Cassirer und Paul Hazard, für ihre Zeit Leistungen von internationalem Rang – seit etwa vierzig Jahren darum bemüht, die Unterschiede zwischen den verschiedenen regionalen Aufklärungsbewegungen, vor allem zwischen der französischen, englischen und deutschen Aufklärung, Schritt für Schritt

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herauszuarbeiten.1 Die Literatur zu diesem Thema füllt mittlerweile viele Regale. Angesichts einer solchen Forschungslage ist es gar nicht so einfach, einen Fundus von gemeinsamen Überzeugungen herauszuarbeiten, auf den man sich schlankweg berufen könnte.2 Es gibt auch keinen historischen Gesamtprozeß im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels, den man durchlaufen oder nachvollzogen haben müsste, um selber zur Aufklärung zu gelangen. Zwar gibt es zahllose Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen regionalen Aufklärungsbewegungen – Übersetzungen haben gerade im Deutschland des 18. Jahrhunderts Hochkonjunktur –, ein einheitlicher Duktus aber ist nur sehr begrenzt zu erkennen. Zweitens bedeuten die heute so gern und unbekümmert gleichgesetzten Begriffe Mündigkeit und Emanzipation keineswegs dasselbe. Beide Begriffe stammen vielmehr aus ganz verschiedenartigen Traditionslinien und unterscheiden sich in ihrer ursprünglichen Stoßrichtung aufs deutlichste.3 Während der erstere im Zeitalter der Aufklärung so etwas wie innere Selbständigkeit meint, zielt der letztere bloß auf die Befreiung von Abhängigkeiten unterschiedlichster Art. Emanzipation führt deshalb auch keinesfalls geradenwegs zu Mündigkeit, sondern kann auch neue Formen der Unmündigkeit zur Folge haben.

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Vgl. Giorgio Tonelli, ‚Lumières‘, ‚Aufklärung‘: A Note on Semantics, in: International Studies in Philosophy 6 (1974) S. 166. 2 Ein anschauliches Beispiel für solche regionalen Unterschiede ist das Problem der Satire. Während sie in Frankreich Hochkonjunktur hat, notiert sich Kant, AA XX 106, in seinem Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen: „Die Satyre bessert niemals daher wenn ich auch die talente dazu hätte so würde ich mich ihrer nicht bedienen“. Die Begründung dafür gibt er 1797 in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, AA VI 467: „die bittere Spottsucht ... hat etwas von teuflischer Freude an sich und ist darum eben eine desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen andere Menschen“; vgl. auch Kant, Moralphilosophie Collins, AA XXVII 314. In einem ähnlichen Sinne heißt es in Moses Mendelssohns Aufsatz Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindung entgegenarbeiten? – ursprünglich handelte es sich dabei um ein Votum für die Berliner Mittwochsgesellschaft –, in: Berlinische Monatsschrift 5 (1785) S. 133 f., ebenfalls in Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, begonnen v. Ismar Elbogen, Julius Guttmann u. Eugen Mittwoch, fortgesetzt v. Alexander Altmann u. Eva J. Engel, Bd., 6.1, S. 139: „Am Ende giebt der Spott doch keinen Unterricht. Aechte Aufklärung ist es doch wol nicht, wenn die Menschen, aus Furcht verspottet zu werden, ihre Albernheiten zu verheimlichen suchen.“ „Nichts ist dem wahren Wohl der Menschen mehr zuwider, als diese Afteraufklärung, […] wo jederman über Vorurtheile spottet, ohne das Wahre in denselben vom Falschen zu unterscheiden.“ Bei der Frage nach der Freiheit der Satire handelt es sich daher um ein Randproblem der Aufklärung, und man ist gut beraten, es nicht zu einem Grundproblem hochzustilisieren. 3 Vgl. das Themenheft der Zeitschrift Aufklärung 1 (1986) H. 1: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit, hg. v. Norbert Hinske, Hamburg 1986.

Wer sind die Erben der Aufklärung?

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Drittens schließlich waren die führenden Köpfe der Aufklärung auch persönlich zu einem großen Teil Menschen von einer eindrucksvollen Religiosität und Sittlichkeit, so dass es schwerfällt, sie zu Kronzeugen der Religionskritik oder gar des Atheismus zu erheben. Um sich das bewusst zu machen, braucht man sich bei einigen von ihnen nur an ihre letzten Tage oder Stunden zu erinnern. John Locke zum Beispiel, der bis zuletzt an einer Kommentierung der Briefe des Apostels Paulus arbeitet, stirbt, während Lady Masham ihm Psalmen vorliest. Sie schreibt: ‚Sein Tod war wie sein Leben: wahrhaft fromm, doch natürlich, leicht und ohne Leidenschaft‘.“4 Christian Wolffs letzte Worte lauten: „Nun, Jesu, mein Erlöser, stärke mich in dieser Stunde“.5 Und Alexander Gottlieb Baumgarten, der Begründer der modernen Ästhetik, der großen Ausweichwissenschaft der Gegenwart, erklärt auf seinem Sterbebett: „mein Herz trauet auf Gott durch Jesum Christum, das ist mein Glaubensbekenntniß“.6 Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich hat es unter den Vertretern der Aufklärung wie in jedem Jahrhundert auch Skeptiker und Atheisten gegeben. Friedrich der Große ist, wenn nicht alles täuscht, ein besonders prominentes Beispiel; kaum einer hat witziger über die Religion gespottet als er. Aber das war keineswegs die vorherrschende Zeitstimmung, und es wäre blanke Willkür, gerade sie zu den wahren Aufklärern zu ernennen. Vielmehr entwickelt sich gerade im Zeitalter der Aufklärung und von ihr getragen eine neue, eindrucksvolle Form der Religiosität und Frömmigkeit. Johann Joachim Spalding mit seinem immer wieder aufgelegten und übersetzten Erfolgsbuch über Die Bestimmung des Menschen ist nur ein Beispiel neben vielen anderen.7 Betrachtet man die westliche Welt der Gegenwart vor dem Panorama der ursprünglichen Ideen der Aufklärung, so wird man schwerlich behaupten können, sie sei ‚durch die Aufklärung hindurchgegangen‘. Ganz im Gegenteil: Sie hat sich kaum die Füße naß gemacht. Aufklärungsverschnitt wäre ein sehr viel treffenderes Wort für das heute grassierende Verständnis oder Missverständnis von Aufklärung. Denn es speist sich aus den unterschiedlichsten Geistesströmungen, so zum Beispiel dem Darwinismus, dem Utilitarismus, dem Positivismus, dem Denken Friedrich Nietzsches, den verschiedenen Varianten des Marxismus, aber zum Teil auch aus dem Kirchenkampf des Nationalsozialismus – ein Erbe, das heute natürlich als peinlich empfunden und deshalb diskret verschwiegen wird. Es wäre verwegen und ohne jeden Erkenntniswert, wollte man alle diese divergierenden Geistesströmungen unter 4

Rainer Specht, John Locke, 1989, München 22007, S. 26. Johann Christoph Gottsched, Historische Lobschrift des [ …] Herrn Christians, [ …] Freiherrn von Wolf, Halle 1755, S. 101 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u.a., Abt. I, Bd. 10.]. 6 Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763, S. 29. 7 Vgl. das Themenheft der Zeitschrift Aufklärung 11 (1999) H. 1: Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Norbert Hinske, Hamburg 1999. 5

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den Oberbegriff der Aufklärung subsumieren. Klarheit gewinnt man durch Unterscheiden und nicht durch Vermengen. Vieles an dem heutigen, völlig unhistorischen Verständnis von Aufklärung geht mittelbar oder unmittelbar auf die 1947 erschienene Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zurück, die zwanzig Jahre später, zum Ende der 60er Jahre, zu einem Kultbuch der Studentenbewegung avancierte. Für die historische Forschung, aber auch für die Selbstorientierung ist diese Darstellung, so geistvoll sie gelegentlich auch sein mag, schon allein aufgrund ihres konturlosen Aufklärungsbegriffs unbrauchbar. Oliver R. Scholz hat unlängst die Frage gestellt: „Wem hat das Buch […] einen Dienst erwiesen?“ Seine lapidare Antwort lautet: „Ich weiß es nicht; jedenfalls nicht dem Verständnis des Aufklärungsprogramms.“8 Und Hans Adler schreibt mit Grund: „Adorno/Horkheimers erfolgreicher, historisch aber nicht haltbarer und nur aus dem Entstehungskontext der Dialektik der Aufklärung erklärbarer, polemischer Aufklärungsbegriff trägt nichts zum Verständnis der damaligen Bewegung bei“.9 Angesichts dieser Sachlage ist es notwendig, sich auf eben jene Ideen zurückzubesinnen, die die historische Bewegung der Aufklärung von Grund auf bestimmt haben. Die Frage, was denn nun wirklich zu den gemeinsamen Grundüberzeugungen der Aufklärung gehört habe, ist freilich nicht gar so leicht zu beantworten. Selbst wenn man sich auf eine regionale Aufklärungsbewegung beschränken wollte, wird sie kaum einfacher. Manches von dem, was uns heute als eine Grundüberzeugung der Aufklärung erscheint, wie etwa die Fortschrittsidee, war im Zeitalter der Aufklärung selber eine höchst umstrittene Sache. Kant beispielsweise war ein leidenschaftlicher Verfechter jener Idee, sein Zeitgenosse Moses Mendelssohn dagegen ein ebenso entschiedener Gegner.10 Noch in der Berlinischen Monatsschrift, dem führenden Organ der deutschen Spätaufklärung, wurden erbitterte Kontroversen über diese Frage ausgetragen.11 In anderen Fällen wiederum, etwa bei den Begriffen Spontaneität und Autonomie, haben sich zwar die Wörter erhalten, ihre Bedeutung aber hat

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Oliver R. Scholz, Aufklärung: Von der Erkenntnistheorie zur Politik. Das Beispiel Immanuel Kant, in: History of Ontology and a focus on Plato / Geschichte der Ontologie und ein Schwerpunkt zu Platon, hg. v. Uwe Meixner u. Albert Newen, Paderborn 2006, S. 158. 9 Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d’être trompé? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, hg. v. Hans Adler, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. LXV. 10 Vgl. Norbert Hinske, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, hg. v. Michael Albrecht, Eva J. Engel u. Norbert Hinske, Tübingen 1994, S. 135–156. 11 Vgl. beispielsweise die Kontroverse zwischen Christian Garve und Johann Erich Biester in der Berlinischen Monatsschrift, wiederabgedruckt in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen

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sich im Laufe der Zeit so grundlegend gewandelt, dass sie heute geradezu das Gegenteil von dem besagen, was die Aufklärung einmal damit gemeint hat.12 Und auch im Felde der Politik, nicht zuletzt bei der Frage nach den Aufgaben und der tragenden Funktion des Staates, sind die vermeintlichen Vertreter der Aufklärung heute quer durch alle Parteien hindurch weit von dem ursprünglichen Gedankengut der Aufklärung entfernt. Kant zum Beispiel war ein dezidierter Gegner des Wohlfahrtsstaats.13

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Die Frage nach den Grundideen der Aufklärung und das Problem des totalen Irrtums

Wer aber sind die legitimen Erben der Aufklärung? Will man den Versuch machen, diese Frage wenigstens ansatzweise zu beantworten, so ist es zunächst einmal notwendig, im Rückblick auf die Geschichte der Aufklärung Kriterien für die Beantwortung dieser Frage zu gewinnen. Als ein solches Kriterium seien hier an erster Stelle die Grundideen der Aufklärung genannt, also eben jene Ideen, die die historische Bewegung der Aufklärung unbeschadet aller regionalen Unterschiede oder Akzentsetzungen allererst in Gang gesetzt und getragen haben, oder präziser: jene Ideen, die von der Aufklärung selber entwickelt, artikuliert und in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns gerückt worden sind. Nur wer sich über diese Ideen Rechenschaft gibt, hat ein Recht darauf, sich selber als Erben der Aufklärung zu verstehen. Ohne sie ist aller Willkür Tür und Tor geöffnet. Denn welchen Sinn sollte es haben, sich selber als Verfechter der Aufklärung zu verstehen, wenn man selbst deren Grundideen nicht teilt? Bei einer solchen Frage ist es hilfreich, in einem ersten Schritt so etwas wie eine Typologie der spezifischen Aufklärungsideen zu entwickeln. Die in diesem Zusammenhang häufig genannten landläufigen Begriffe von Vernunft, Freiheit, Gleichheit, Demokratie und so weiter reichen dazu bei weitem nicht aus. Sie sind viel zu unspezifisch, um die Aufklärungsbewegung in ihrer ganzen Breite und Differenziertheit erfassen zu können, und lenken das Interesse fast automatisch auf Randgruppen unterschiedlichster Art. Vielmehr wird man zunächst einmal zwischen Programmideen, Kampfideen und Basisideen der Aufklärung zu unterscheiden haben. Welche Ziele Monatsschrift, in Zusammenarbeit mit Michael Albrecht hg. v. Norbert Hinske, Darmstadt 1973, 4 1990, S. 182–357 u. 490–504. 12 Vgl. Michael Landmann, Entfremdende Vernunft, Stuttgart 1975, S. 40 ff.: Zur Begriffsgeschichte der Spontaneität. 13 Vgl. unten Abschnitt 3: Die Aufklärung und der Staat.

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hat die historische Bewegung der Aufklärung verfolgt, wogegen hat sie gekämpft und von welchen Grundüberzeugungen ist sie eher stillschweigend geleitet worden? Gemeinsame, von allen geteilte Programmideen in diesem Sinne waren im 18. Jahrhundert insbesondere die Idee der Aufklärung selber – nicht als Epochenbegriff, sondern als Programm verstanden –, die Idee des Selbstdenkens – beziehungsweise, wie es später heißen wird, die Idee der Mündigkeit – und die Idee der Selbstvervollkommnung beziehungsweise der Perfektibilität – zwei Begriffe, die nicht immer völlig deckungsgleich miteinander sind –; gemeinsame Kampfideen waren die Idee des Obskurantismus, des Schwelgens in dunklen Vorstellungen, die Idee des Vorurteils14 sowie die Ideen des Aberglaubens und der Schwärmerei, gemeinsame Basisideen schließlich die Idee der Bestimmung des Menschen und die vor allem von Kant betonte Idee der allgemeinen Menschenvernunft. Das alles ist seit längerem Gegenstand der Forschung15 und soll hier nicht noch ein weiteres Mal en détail wiederholt werden. Am Rande sei nur hinzugefügt, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Aberglauben und Schwärmerei – eine Unterscheidung, die dem undifferenzierten Begriff des Fundamentalismus gedanklich bei weitem überlegen ist – um zwei ganz verschiedene Begriffe handelt. Grob gesprochen wird man sagen können: Zwar handelt es sich bei beiden Phänomenen zuerst und zunächst um Fehlentwicklungen der Religiosität. Beide Begriffe zielen jedoch in eine entgegengesetzte Richtung. Während es sich bei dem Aberglauben um eine Art Versteinerung ursprünglicher religiöser Impulse handelt, meint Schwärmerei in diametralem Gegensatz dazu deren Verflüssigung.16 Statt einer erneuten Analyse aller jener Ideen, von denen die heutige Diskussion oft so weit entfernt ist, soll hier eine andere, auf den ersten Blick höchst befremdliche

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Dabei denkt insbesondere die deutsche Aufklärung bei ihrer Katalogisierung der Vorurteile gern in Vorurteilspaaren. Dem Vorurteil für das Alte wird das Vorurteil für das Neue gegenübergestellt, dem Vorurteil der Autoritätsgläubigkeit das Vorurteil der Übereilung im eigenen Denken usw. usw. Das hat auch eine erzieherische Funktion: Wer ein bestimmtes Vorurteil angreift, wird damit zugleich vor die Frage gestellt, ob er nicht selbst in dem entgegengesetzten Vorurteil befangen sei: vgl. Norbert Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Suttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 62. 15 Vgl. insbesondere Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in überarbeiteter Fassung in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung, deutsche Bearbeitung v. Norbert Hinske u. Rainer Specht, Stuttgart 1990, S. 407–458; Ders., Art. Aufklärung, in: Staatslexikon, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 1, Freiburg, Basel u.Wien 71985, Sp. 390–400; Scholz, Aufklärung: Von der Erkenntnistheorie zur Politik, a.a.O. 16 Vgl. das Themenheft der Zeitschrift Aufklärung 3 (1988) H.1: Die Aufklärung und die Schwärmer, hg. v. Norbert Hinske, Hamburg 1988.

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Grundüberzeugung der Aufklärung in den Mittelpunkt gerückt werden: ihre Überzeugung von der Unmöglichkeit eines totalen Irrtums. Sie ist Gemeingut zumindest der deutschen Aufklärung und prägt zu einem guten Teil auch deren Umgangston. Sie tritt freilich in zwei verschiedenen Varianten auf, einer abgeschwächten und einer starken. Die erste Gruppe von Autoren räumt zwar grundsätzlich die Möglichkeit eines totalen Irrtums ein, erklärt aber zugleich: „es wird selten ein Irrthum seyn, wo nicht etwas Wahres mit dabey ist“.17 Georg Friedrich Meier, der Nachfolger Wolffs in Halle, dessen Bedeutung seit einigen Jahren wieder neu entdeckt wird,18 erklärt: Es ist „wider die Regeln der Vernunftlehre, wenn man eine weitläuftige Erkentniß gar zu sehr lobt, und sie für ganz richtig hält, und eine andere gar zu sehr verachtet, indem man sie für eine Erkentniß hält, die durch und durch falsch ist.“ Und: Es „ist ohne Zweifel die gar zu große Hitze und Partheylichkeit die Ursach, warum man gegen alles, was in einem Lehrgebäude wahr ist, ganz blind ist, und nur auf das Falsche achtung giebt, welches in demselben angetroffen wird.“19 Die zweite Gruppe von Autoren dagegen vertritt die These von der Unmöglichkeit eines totalen Irrtums ohne jedes Wenn und Aber. Sie vertritt sozusagen die starke Version jener Irrtumstheorie. Zu ihr gehören insbesondere Johann Heinrich Lambert und Kant. In Lamberts Neuem Organon heißt es: „Das Wahre ist […] bey jedem denkenden Wesen so eingewurzelt, daß man, ohne etwas Wahres zu denken, gar nichts denken kann, und daß selbst der Irrthum von dem Wahren borgen muß, weil man, ohne Wahres mit einzumengen, nicht irren kann.“20 Ähnlich betont auch Kant sein Leben lang: „Aller Irrthum, in welchen der menschliche Verstand gerathen kann, ist […] nur partial, und in jedem irrigen Urtheile muß immer etwas Wahres liegen“.21 Deshalb sei es geboten, so erklärt Kant im zweiten Teil seiner Metaphysik der Sitten,

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Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben, Frankfurt am M. 1726, 21733, S. 267 f. [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u. a., Abt. I, Bd. 9, Hildesheim u. New York 1973.]. 18 Vgl. insbesondere Riccardo Pozzo, Georg Friedrich Meiers ‚Vernunftlehre‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. 19 Georg Friedrich Meier, Vernunftlehre, Halle 1752, S. 141. 20 Johann Heinrich Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrthum und Schein, 2 Bde., Leipzig 1764, Bd. 1, S. 585 [Johann Heinrich Lambert, Philosophische Schriften, hg. v. Hans-Werner Arndt, 1. Bd., Hildesheim 1965.]. 21 Immanuel Kant’s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. v. Gottlob Benjamin Jäsche, AA IX 4.

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die Irrtümer anderer „nicht unter dem Namen der Ungereimtheit, des abgeschmackten Urtheils u. dg. zu rügen, sondern vielmehr voraus zu setzen, daß in demselben doch etwas Wahres sein müsse, und dieses heraus zu suchen“.22 Für die Autoren der zweiten Gruppe handelt es sich dabei jedoch nicht etwa um eine verwegene These, die man, um Aufsehen zu erregen, vertritt, sondern um einen wohlbegründeten Satz, der das Resultat einer stringenten Beweisführung ist. Ohne ihn gerät das Denken in unauflösbare Aporien. Statt einer erneuten Analyse jener Argumentationsstrategien sei hier der gebotenen Kürze halber nur ein für Kant höchst bezeichnendes Argument wiederholt,23 das er seinen Studenten vor allem in seinen Logikvorlesungen – bei denen es sich in Wahrheit mehr um eine allgemeine, für Hörer aller Fachrichtungen bestimmte Einführung in die Philosophie handelt – immer wieder eingeschärft hat: „Nehmen wir an, daß der Mensch ganz falsch urtheilt, so gehet der Verstand ganz von seinen Gesetzen ab. So könnten wir niemals dem Verstand was zutrauen und uns auf ihn berufen.“24 „Wenn ein anderer gänzlich falsch zu urtheilen im Stande wäre, so wär es ja auch eben auf die Art so gut bey uns als bey ihm möglich. wir würden also bey dem gantzen Gebrauch unsers Verstandes und unserer Vernunft nicht anders als nur sehr unsicher seyn.“25 Einer der Schlüsselbegriffe, die Kant zur Charakterisierung dieser Sicht auf die Vernunft geprägt oder gefunden26 hat, ist der heute so gern gebrauchte und missbrauchte Begriff des Pluralismus. Auch seine Bedeutung hat sich freilich im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte fast schon in ihr Gegenteil verkehrt. Pluralismus bedeutete für Kant nicht etwa das alternative Nebeneinander von Theorien, Moralauffassungen, Lebenshaltungen, Stilen oder Methoden, geschweige denn einen Freibrief für Beliebigkeit – im Sinne eines ‚anything goes‘ –, sondern die ständige Bezugnahme auf die Auffassungen des Andersdenkenden, um auf diese Weise der Wahrheit Schritt für Schritt näherzukommen. Es geht nicht darum, den Anderen abzufertigen, sondern darum, sich eben jenes Stücks Wahrheit zu bemächtigen, das in seiner Position verborgen liegt, und zwar zuerst und zunächst gar nicht einmal aus Nettigkeit oder Moralität, sondern im eigenen wohlverstandenen Erkenntnisinteresse. Parteilichkeit ist die Selbstverpflichtung zur Dummheit, und manche Gesellschaft geht daran zugrunde. In eben diesem Sinne sagt Kant in einer seiner Logikvorlesungen: „Wenn 22

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Teil 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI 463. 23 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 31–66, Kap. 2: Kant und die Aufklärung. Kants Theorie von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums. 24 Logik Philippi, AA XXIV 395. 25 Logik Blomberg, AA XXIV 94.

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man seine Einsichten mit denjenigen anderer vergleicht und aus dem Verhältniß der Uebereinstimmung mit anderer Vernunfft die Wahrheit entscheidet, ist das der logische Pluralism“.27 Und in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht heißt es: Pluralismus ist die „Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“.28 Aus den hier nur grob skizzierten Gedankengängen, so unterschiedlich sie im einzelnen auch sein mögen, hat sich in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas eine Gesprächskultur entwickelt, die den Anderen – notabene: jeden anderen – ernstgenommen und das auch in ihren Umgangsformen unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat. Sie hat nicht zuletzt in unzähligen Abhandlungen De Methodo disputandi ihren Ausdruck gefunden, Abhandlungen, die eine Vielzahl von Diskussionsregeln enthalten, angefangen bei scheinbaren Selbstverständlichkeiten – „dem Anderen, der seine Überlegungen vorbringt, ein offenes Ohr und einen aufmerksamen Geist leihen“; „Wenn Streit entsteht, sorgfältig bestimmen, woher er kommt und worin er besteht“ und dergleichen29 – bis hin zu den sublimsten Spielregeln. Stellvertretend für die letzteren sei auch hier wieder nur ein einziger Satz aus Kants handschriftlichem Nachlass herausgegriffen: „Ich fange nicht damit an, daß ich sage: ich bitt um Vergebung, sondern damit, daß ich keine bedarf. Ich nehme meinen ersten Gesichtspunkt so, daß ich, wenn andrer urtheil dem meinigen wiederstreitet, dem andern in mir einen advocaten gebe, ia seine Gründe vergrößere“.30 Vergleicht man den heute üblich gewordenen Umgang der Kontrahenten miteinander, so ist man versucht, die Eingangsfrage des vorliegenden Beitrags umzuformulieren: Wo sind die Erben der Aufklärung?

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Die Aufklärung und der Staat

Gegen die vorliegenden Analysen könnte man nun freilich einwenden: Das alles sei möglicherweise mehr oder minder zutreffend. Vielleicht habe die Gegenwart tatsächlich von den ursprünglichen Grundüberzeugungen der Aufklärung Abschied genommen und vielleicht sei die Kultur der Auseinandersetzung dabei tatsächlich in die Brüche gegangen. Im Zeitalter der Massenmedien herrschten eben andere Gesetze. 26

Vgl. Walter Kerber, Art. Pluralismus I. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 988– 993. 27 Logik Philippi, AA XXIV 428. 28 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 130. 29 Johann Georg Heinrich Feder, Institutiones logicae et metaphysicae, Göttingen 1777, 31787, S. 133 f.

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Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne. Aber das alles sei nicht gar so schlimm. Denn zumindest im Felde des Politischen habe man in der freien westlichen Welt das Erbe der Aufklärung bewahrt. Genau das aber ist keineswegs der Fall. Denn der Kampf der Aufklärung richtete sich zuerst und zunächst nicht etwa, wie es die Französische Revolution suggerieren könnte, gegen eine bestimmte Regierungsform. Er richtete sich vielmehr primär gegen die Ausuferung staatlicher Regelungen überhaupt und gegen die Anmaßung des Politischen, für die Wohlfahrt beziehungsweise das Glück der Bürger Sorge tragen zu können. Man braucht nur zwei Sätze aus Mendelssohns Jerusalem zu zitieren, um diese Stoßrichtung zu erkennen: „Der Mensch fühlt seinen Werth, ... wenn er giebt, weil er will. Gibt er aber, weil er muß; so fühlt er nur seine Fesseln.“31 Das eigentliche Übel, so hat Mendelssohn hellsichtig erkannt, ist in zahlreichen Fällen gar nicht diese oder jene gesetzliche Regelung, sondern die Sucht nach gesetzlicher Regelung allgemein. Sie betrügt den Menschen nicht nur um einen bestimmten Vorteil, sie bringt ihn um seine Würde als freihandelndes Wesen und damit um seine Würde als Mensch. Erinnert man sich daran, dass Mendelssohn bei der Abfassung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, des großen Reformwerks Preußens im späten 18. Jahrhundert, zum Kreis der Berater gehört hat, so wird rasch klar, dass es sich bei den zitierten Sätzen nicht um eine beliebige Äußerung neben hundert anderen handelt, sondern um einen Schlüsseltext der deutschen Aufklärung, geschrieben übrigens Jahre vor der Französischen Revolution. Er ist aktuell wie eh und je. Noch sehr viel grundsätzlicher ist die Kritik Kants am Wohlfahrtsstaat. Für ihn ist der Anspruch des Staates, für die Wohlfahrt seiner Bürger Sorge zu tragen – „wo also die Unterthanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genöthigt sind“ – „der größte denkbare Despotismus.“32 „Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen, und wird Despot“.33 Wohlfahrt – beziehungsweise Glück –, so lässt sich die Quintessenz der Kantischen Argumentation wiedergeben, bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Sie entzieht sich staatlicher Regelung. Auch diese vielschichtige Argumentation soll hier nicht noch einmal im einzelnen wiederholt werden.34 Die allgemeine Einstellung der Aufklärung zu den Aufgaben 30

Reflexion 1089, AA XV 484. Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 8, S. 112; vgl. dazu Norbert Hinske, Der Blick für den Nächsten und die Schattenseiten des Sozialstaats. Zu Moses Mendelssohns Unterscheidung zwischen Zwangs- und Gewissenspflichten, in: Trierer Theologische Zeitschrift 107 (1998) S. 102–110. 32 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII 291. 33 Ebd., AA VIII 302. 31

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staatlichen Handelns kommt jedoch sehr gut in einer Anmerkung zum Ausdruck, die Kant in seiner Schrift zum Streit der Fakultäten gemacht hat. Auf die Frage eines französischen Ministers – gemeint ist Jean-Baptiste Colbert –, was er zugunsten eines wirtschaftlichen Aufschwungs tun könne, „sagte ein alter Kaufmann […], schafft gute Wege, schlagt gut Geld, gebt ein promtes Wechselrecht u. d. gl., übrigens aber ‚laßt uns machen‘!“35 Die lange Vor- und Nachgeschichte dieser kurzen Anmerkung kann hier nicht erörtert werden. Eingeschärft aber sei, und zwar als Tenor zahlloser Äußerungen der Aufklärung zu diesem Thema: Nicht ein Staat, der immer neue Zuständigkeiten für sich beansprucht, so gut sie auch gemeint sein mögen, sondern ein Staat, der sich soweit wie irgend möglich zurücknimmt, entspräche den Idealen der Aufklärung. Wer also sind die Erben der Aufklärung? Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt: Es ist nicht gar so leicht, diese Frage positiv zu beantworten, ja es ist schon schwer genug, auch nur zureichende Kriterien für ihre Beantwortung zu gewinnen. Eine negative Antwort aber ist gewiss: Diejenigen, die das Wort Aufklärung heute ständig wie eine Beschwörungsformel im Munde führen und sich selbst so unangefochten für aufgeklärt halten, sind es gewiss nicht. Sie sind oft genug die Totengräber der Aufklärung.

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Vgl. Norbert Hinske, Kants Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat und sein Plädoyer für den Sozialstaat, in: Fiat iustitia. Recht als Aufgabe der Vernunft. Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag, hg. v. Maximilian Wallerath, Berlin 2006, S. 627–637. 35 Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten, AA VII 19 f.

Vom richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen Gesprächs- und Lesekultur von Christian Wolff bis Immanuel Kant Vom richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen Bildung als Gipfel des Menschlichen einzubüßen reichen einige Minuten der Zerstörung hin, die einmal verscherzte wiederzuerwerben bedarf es der Jahrhunderte. Max Kommerell, Jugend ohne Goethe, 19311

Zu unserem Dasein als Mensch gehört es von Grund auf, dass wir uns zeitlebens in dieser oder jener Form mit den Gedanken der Anderen konfrontiert sehen. Manchmal finden sie unsere Zustimmung, manchmal sind sie uns fremd oder unzugänglich und manchmal wecken sie sogar unseren Widerspruch, so dass wir uns von ihnen im buchstäblichen Sinne herausgefordert fühlen. Das alles ist eine elementare Grundtatsache unseres Lebens. Aber in der Regel machen wir uns darüber nur wenig Kopfzerbrechen. Es scheint sich von selbst zu verstehen. Dass es für den richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen einer besonderen Kultur bedarf, machen wir uns nur selten bewusst. Die großen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, der Nationalsozialismus wie der Kommunismus, haben diese Form von Kultur weitgehend verwüstet. Die Vorzeichen dieser Verwüstung aber sind älteren Datums. Vorangegangen ist ihr eine Form der geistigen Auseinandersetzung, die den totalitären Ideologien unmerklich den Boden bereitet hat. Erinnert sei hier nur – als ein Beispiel neben vielen anderen – an die öffentliche Erklärung Johann Gottlieb Fichtes mit Bezug auf seinen unmittelbaren Fachkollegen Carl Christian Erhard Schmid in Jena: Ich „erkläre Hrn. Schmid selbst, als Philosophen, in Rücksicht auf mich, für nicht existirend.“2 Die

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Max Kommerell, Jugend ohne Goethe, Frankfurt am M. 1931, S. 37. Johann Gottlieb Fichte, Vergleichung des vom Hern. Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre, in: Johann Gottlob Fichte, Gesamtausgabe, hg. v. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Werke, Bd. I.3, S. 266. 2

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Zeitgenossen haben auf diese Erklärung zunächst erschrocken reagiert. Gottlob Benjamin Jäsche zum Beispiel hat in ihr den Ausdruck eines „literarischen Terrorismus“3 gesehen. Im Laufe der Zeit aber ist dieser Ton mehr und mehr zur Gewohnheit geworden. Zahllose ähnliche Sätze der prominentesten Autoren ließen sich anfügen. Für sie alle ging es bei der Diskussion mit dem Andersdenkenden in Wahrheit gar nicht darum, diesen selber zu überzeugen. Ihr Interesse galt vielmehr der breiteren Öffentlichkeit, deren Zustimmung es um jeden Preis zu gewinnen galt. Der Andersdenkende war nur ein Störfaktor oder ein zufälliger Anlaß, die eigenen Überzeugungen zu artikulieren – oder zu wiederholen. Er war nur noch Mittel zum Zweck. Für eine Kultur des Gedankenaustauschs konnte es kaum etwas Schlimmeres geben. Aber das wäre ein eigenes Thema. Statt dessen soll hier eine Form der Kultur in Erinnerung gerufen werden, die das Denken in weiten Teilen Europas für mindestens drei Generationen – grob gerechnet von Wolff bis Kant – geprägt hat, mittlerweile aber fast ganz in Vergessenheit geraten ist. Ihren literarischen Niederschlag hat sie vor allem in den zeitgenössischen Logiken gefunden, die dieser Thematik ganze Kapitel gewidmet haben, beziehungsweise in den Vernunftlehren, wie die deutsche ‚Übersetzung‘ des Fremdworts nicht von ungefähr hieß. In ihrem Zentrum standen dabei nicht die Regeln des eigenen Denkens, sondern die des Umgangs mit den Gedanken der Anderen, und zwar insbesondere im Streitgespräch, der sogenannten Disputatio, und bei der Lektüre, also in der mündlichen und der literarischen Auseinandersetzung. Sie bilden das Thema der nachfolgenden Überlegungen, die sich demgemäß in zwei längere Abschnitte gliedern. Dass diese keine auch nur halbwegs erschöpfende Darstellung liefern können, versteht sich angesichts der Unzahl der Quellentexte von selbst. Dazu wäre ein eigener Quellenband erforderlich.

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Vom Umgang mit den Gedanken der Anderen im Streitgespräch

Die Überlegungen dieses ersten Abschnitts verlangen zunächst einige kurze Vorbemerkungen zu dem historischen Hintergrund, vor dem Wolffs Kapitel ‚Von der Methode des Streitgesprächs‘ – De Methodo disputandi –, ja im Grunde der ganze, in

3

[Gottlob Benjamin Jäsche], Stimme eines Arktikers über Fichte und sein Verfahren gegen die Kantianer, o. O. 1799, Neudr. Brüssel 1974, S. 98.

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fünf Kapitel gegliederte Abschnitt ‚Vom Gebrauch und Nutzen der Logik beim Austausch der Wahrheit mit anderen‘ – De usu Logicae in veritate cum aliis communicanda4 – zu lesen ist. Im 18. Jahrhundert gab es nämlich vor allem an den deutschen Universitäten, einer weit zurückreichenden Tradition folgend, eine feste Einrichtung: die sogenannte Disputation – ähnlich vielleicht, wie es heute an unseren Fernsehanstalten die Einrichtung der Talkshow gibt. Sie fand in der Regel nach der Vorlage der schriftlichen Arbeit vor der Universitätsöffentlichkeit statt. Häufig waren diese Disputationen natürlich eine bloße Sache des Schulbetriebs und der Routine, eine Pflichtübung, langweilig und trocken, wie es das akademische Leben nun einmal zu großen Teilen ist. Es gab aber auch immer wieder Fälle, bei denen die Nerven blank lagen. Nicht von ungefähr gebraucht Wolff als Beispiel auf Schritt und Tritt das Problem der bestmöglichen aller Welten – seine diesbezüglichen Anmerkungen sind vielleicht die besten Erläuterungen zu seinem so viel diskutierten Weltbegriff.5 Das also ist der unmittelbare institutionelle Kontext, vor dem die Ausführungen Wolffs und seiner Nachfolger, der Anhänger wie der Gegner, zu lesen sind. Ihre sachliche Bedeutung aber reicht weit darüber hinaus. Sie macht vielmehr in exemplarischer Weise sichtbar, wie man mit den Gedanken der Anderen im Streitgespräch umzugehen hat – und wie nicht. Ohne Regeln verkommt der Kampf um die Wahrheit zum Spektakel für das Publikum, bei dem die Wahrheitssuche mehr und mehr aus dem Blick gerät. Eine erste wichtige Gesprächsregel dieser Art besteht für Wolff darin, dass man für die „Übereinstimmung der Kontrahenten über den Sinn der benutzten Begriffe“, den „Consensus disputantium in notionibus“ – so § 1086 – Sorge zu tragen habe, damit beide nicht immer wieder aneinander vorbeireden. Jeder der Gesprächspartner „muß die einzelnen Ausdrücke in derselben Bedeutung nehmen“: „terminos singulos in eodem significatu accipere […] debet“ (ebd.). Dazu gehört nicht zuletzt auch, dass man „schwammige und deshalb verworrene Begriffe“ – „notiones vagas easque confusas“, § 1030 – vermeidet.

4

Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata [Lateinische Logik], Frankfurt u. Leipzig 1728, 31740, S. 706–797 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a., Abt. II, Bd. 1, Hildesheim 1983.]. – Wolffs lateinische Werke werden im Folgenden der Einfachheit halber nur nach der durchlaufenden Paragraphenzählung zitiert. 5 Zu dieser Thematik vgl. jetzt Chang Won Kim, Der Begriff der Welt bei Wolff, Baumgarten, Crusius und Kant. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte von Kants Weltbegriff von 1770, Frankfurt am M. 2004.

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Logik

Solche Übereinstimmung der Kontrahenten ist vor allem deshalb wichtig, weil es sonst unvermeidlich zu einem „Wort-Streit“6 kommt beziehungsweise zu einer „Logomachia“, wie es in Wolffs lateinischer Logik in § 1029 heißt. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei hinzugefügt: „Wort-Streit“ meint in diesem Zusammenhang nicht etwa einen Streit über die sprachliche Bedeutung bestimmter Wörter oder über irgendwelche Subtilitäten, sondern durchaus einen Streit um die Sache, aber eben einen Streit, in dem die Kontrahenten nicht auf den Kern des Problems kommen, sondern immer wieder aneinander vorbeireden, weil jeder der beiden mit einem und demselben Wort eine andere Bedeutung verbindet. Eine andere, für Wolff besonders wichtige Regel ist das Verbot der sogenannten „Consequentien-Macherey“7. Sie besteht darin, dass man der bekämpften Auffassung Konsequenzen unterstellt, die der Kontrahent selbst nie im Sinn gehabt hat und die in Wahrheit auch gar zwingend nicht aus seiner Position folgen, und das alles nur in der Absicht, dessen Auffassung „als lächerlich oder aber als gefährlich“ – „ridiculam, vel periculosam“, so in § 1045 – auszugeben. Im Hintergrund steht dabei natürlich Wolffs jahrelanger Streit mit den Hallenser Pietisten, insbesondere mit Joachim Lange. In Wahrheit aber ist die „Consequentien-Macherey“ – oder allgemeiner gesagt: die Unterstellung – gerade heute eines der beliebtesten Mittel der Polemik. Andere nicht weniger wichtige Gesprächsregeln seien hier nur kurz gestreift. Zu ihnen zählt für Wolff selbstverständlich, wen könnte es wundern, die Befolgung der „wissenschaftlichen“ – beziehungsweise mathematischen – Methode bei der Auseinanderlegung der Argumente, sodann aber auch die Vermeidung des „Fehlers der Erschleichung“ – „vitium subreptionis“, § 986 – sowie, im bewussten Anschluß an Descartes – in § 1010 –, die Suspendierung aller vorgefaßten Meinungen oder kürzer: aller Vorurteile. Manche Sätze Wolffs erinnern dabei fast schon an Georg Friedrich Meiers Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts aus dem Jahre 1766: „alle Urteile, die wir im Gedächtnis haben, müssen der Prüfung unterzogen werden, so daß wir von ihrer Wahrheit, Falschheit oder Wahrscheinlichkeit überzeugt sind“: „judicia omnia, quae memoriae mandavimus, ad examen revocanda, ut veritatis, falsitatis, vel probabilitatis eorum convincamur“, heißt es in § 1012.

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Christian Wolff, Vernünftige Gedancken Von den Kräften des menschlichen Verstandes Und Ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniss der Wahrheit [Deutsche Logik], Halle 1713, S. 242 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u. a., Abt. I, Bd. 1, hg. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim 1965.]. 7 Ebd., S. 239.

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Alle diese Gesprächsregeln sind bis hin zu Kant mehr oder minder Gemeingut der Logikbücher der nachfolgenden Generationen geworden. Wolffs Maßstäbe setzende, ja fast schon erdrückende Kraft zeigt sich auch in diesem Bereich. Das gilt nicht zuletzt auch für eine Regel, die auf den ersten Blick gar nicht in die Logik, sondern vielmehr in die Moralphilosophie zu gehören scheint. Sie spielt schon in Wolffs Deutscher Logik eine wichtige Rolle. Dort heißt es, man müsse alles vermeiden, was „unseren Gegner in den Harnisch jagen kan“.8 „Und es muß – sc. darf – überhaupt aus unserer Widerlegung nichts erhellen als Aufrichtigkeit, Liebe zur Wahrheit und gegen den Irrenden, keinesweges aber Mißgunst, Hochmuth, Begierde, dem Gegner zu schaden: mit einem Worte, Tugend und kein Laster“.9 „Für Wörter, die nach Beleidigung oder Kränkung riechen, ist folglich kein Platz“: „Nullus adeo locus est verbis, quae contumeliam, vel injuriam redolent“, so in § 1056. Das alles nämlich, so lautet Wolffs Begründung, wecke nur die Affekte des Kontrahenten, „gleichermaßen Zorn und Haß“ – „iram pariter ac odium“, ebd. –, und lenke ihn eben damit von einer sachgerechten Prüfung der Argumente ab, sei also bei der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit geradezu kontraproduktiv. Wolff grenzt diese auf das bloße Erkenntnisinteresse gegründete Art seiner Argumentation ganz bewusst von einer moralphilosophischen Argumentation im strengen Sinne ab: „In der Logik liefern wir logische Gründe, und geben uns mit diesen zufrieden; moralische Gründe haben hier nichts zu suchen“: „In Logica logicas damus rationes, iisque contenti sumus: morales non sunt hujus loci“, schreibt Wolff in § 1074.10 Alles das wird wie gesagt für die nachfolgenden Generationen, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, zu einem festen Bestandteil ihrer Logiken. Das gilt auch und gerade für das zuletzt genannte Stichwort, also für Wolffs Rede von Tugenden und Lastern, die bei der Disputation ins Spiel kommen. Johann Georg Heinrich Feder beispielsweise nennt in seinen Institutiones logicae et metaphysicae sechs „Gesetze“ des Disputierens, „die sich aus der Natur der Wahrheit und des menschlichen Verstandes leicht herleiten lassen“: „leges aliquas, ex veritatis et intellectus humani natura facile derivandas“.11 Das vierte und fünfte Gesetz lauten: „Maßvoll und freundlich widersprechen, und den Widersprechenden als seinen Nächsten behandeln“: „Modeste ac benevolo animo contradicere, atque contradicentem alterum ferre“.12 „Auf diese und jede andere Art und Weise verhüten, daß die Gemüter 8

Ebd. Ebd., S. 240. 10 Vgl. auch Wolffs Lateinische Logik, § 1082. 11 Johann Georg Heinrich Feder, Institutiones logicae et metaphysicae, Göttingen, 1777, 31787, § 104, S. 133. 12 Ebd., § 104, S. 134. 9

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erbittert werden“: „Hacque et alia quacunque ratione, ne animi exasperentur, cavere“.13 Das ist Wolff sozusagen in Kurzform. Von besonderem Interesse sind im vorliegenden Zusammenhang die Elementa philosophiae instrumentalis von Johann Franz Budde, der der Philosophie Wolffs im Ganzen höchst distanziert gegenübergestanden hat. Er kommt immer wieder auf das Thema zurück und kennt sogar so etwas wie spezifische Laster der miteinander Streitenden. Die vier wichtigsten „gemeinsamen Laster beider Kontrahenten“ – Communia utrique disputantium vitia – sind für ihn:  

 

wenn sie eine Behauptung nicht gehörig verstanden und durchschaut haben: si thesin non rite cognitam atque perspectam habeant; wenn sie beim Streiten von dieser abgleiten und Dinge ins Spiel bringen, die nichts zur Sache beitragen: si inter disputandum ab ea dilabantur, eaque afferant, quae ad rem non faciunt; wenn sie die Sache mit Getöse und Aufregung behandeln: si cum strepitu atque tumultu rem agant; wenn sie entweder durch zu große Kürze oder durch Weitschweifigkeit der Rede sündigen: si nimia sermonis aut brevitate aut prolixitate peccant.14

Im Anschluß daran erläutert Budde dann in ähnlicher Form die speziellen Laster der beiden sich gegenüberstehenden Seiten, des Opponens wie des Respondens, die eine bestimmte Behauptung entweder anzugreifen oder zu verteidigen suchen. Auch das ist im Großen und Ganzen das Traditionsgut Wolffs, wenn auch praxisnäher und in einer eigenen, wohl zum Teil auf die Verhältnisse in Jena zurückgehenden Sprache. In der Sache jedenfalls besteht zwischen Wolff und Budde in diesen Fragen Einigkeit. Wen Kant von den zitierten – und nicht zitierten – Autoren gelesen hat, ist – mit Ausnahme Feders, dessen Grundriß der Philosophischen Wissenschaften er als Kompendium benutzt hat15 – schwer zu entscheiden. Auch bei ihm aber kehren Wolffs Regeln der Gesprächsführung in aller Ausführlichkeit wieder. Die bisher erschienenen sechs Bände des Kant-Index zum Logikcorpus geben darüber mehr als genug 13

Ebd.; vgl. Ders., Logik und Metaphysik, Hanau u. Leipzig 1775, § 99, S. 228: „Man muß alles vermeiden, was dem freyen Gebrauche der Vernunft entgegensteht, nicht in Affect kommen, und sich hüten, dem andern Anlaß dazu zu geben.“ 14 Johann Franz Budde, Elementa philosophiae instrumentalis, seu institutionum philosophiae eclecticae tomus primus, Halle 1703, 91725, § XXIV, S. 243, wiederabgedruckt in: Johann Franz Budde, Gesammelte Schriften, hg. v. Walter Sparn, Bd. 1, Hildesheim 2006. 15 Vgl. Immanuel Kant, Enciclopedia filosofica, Testo tedesco a fronte, hg. v. Guiseppe Landolfi Petrone u. Laura Balbiani, Mailand 2003, S. 22 ff. und S. 221 ff.

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Auskunft. Deshalb soll hier nur eine einzige Passage aus der sogenannten Wiener Logik, einer Vorlesungsnachschrift vermutlich aus dem Jahre 1782,16 angeführt werden. Sie zeigt, wie wichtig auch für Kant der Gedanke Wolffs gewesen ist, dass schon die Logik selber – und nicht erst die Moral – den Kontrahenten bestimmte Regeln im Umgang miteinander vorschreibe: „Alle Menschen haben bey Untersuchung der Wahrheit ein gemeinschaftliches Intereße, und daher müßen wir in solchem Streit Theilnehmende seyn, indem wir uns nicht dabey aufhalten zu zeigen, wo der andere geirret hat, sondern wo er Recht hat. Diese theilnehmende Gesinnung ist nun zwar moralisch, und gehört eigentlich nicht in die Logic. Aber [schon] die Logic schreibet die Regeln derselben als richtige Maximen vor“.17 Kant hat sehr wohl gewußt, dass eine solche Kultur des Gedankenaustauschs immer wieder von neuem eingeübt werden muss. Deshalb bildet sie für ihn, wie für Wolff und seine Schule, ein wichtiges Thema seiner Vorlesungen, auf das er immer wieder zu sprechen gekommen ist. Auch die Notizen seines handschriftlichen Nachlasses sind voll davon.18

2

Vom Umgang mit den Gedanken der Anderen beim Bücherlesen

Ein zweiter wichtiger Teil der Wolffschen Logik, mit seinen 170 Seiten die längste Sektion seiner Logica practica, ja seiner Lateinischen Logik überhaupt, soll hier wenigstens noch gestreift werden. Denn das Buch ist die zweite wichtige Form, in der wir mit den Gedanken der Anderen konfrontiert werden, und der richtige Umgang mit ihm versteht sich durchaus nicht von selbst. Die in sechs Kapitel untergliederte Sectio trägt als ganze den umständlichen Titel „De usu Logicae in libris conscribendis, dijudicandis et legendis“,19 also „Vom Gebrauch und Nutzen der Logik beim Schreiben, Beurteilen und Lesen von Büchern“. Auch sie steht vor einem weit zurückreichenden historischen Hintergrund. Nicht weniges davon spiegelt zugleich, wie wir jetzt erkennen können, Wolffs stupende Rezensionstätigkeit im Rahmen der

16

Vgl. jetzt Immanuel Kant, Logica di Vienna, hg. v. Bruno Bianco, Mailand 2000, S. LII. AA XXIV 828; auch Kants Vorlesungsnachschriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger zitiert. 18 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 57 ff. 19 Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., S. 537. 17

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Acta eruditorum.20 Mindestens zwei Generationen hat gerade dieser Teil seiner lateinischen Logik aufs nachhaltigste geprägt. Das Kapitel vom Bücherlesen avanciert geradezu zu einem Standardthema der Logik der Aufklärung. Der genannte Abschnitt ist – trotz einer gewissen Breite und Weitschweifigkeit – eine Fundgrube von Maximen, in denen uns der mittlerweile oft genug vergessene Geist der Aufklärung entgegentritt. Manches davon ist auch heute noch brandaktuell, etwa Wolffs Warnung davor, dass jemand „seine Urteile über das Beobachtete mit der Beobachtung selbst verquickt“ – „ne sua de iis, quae observat, judicia cum observatione confundit“, § 77121 –, oder Wolffs Skepsis gegenüber dem Gebrauch von Etymologien – siehe § 914. Ebenso charakteristisch wie folgenreich ist daneben auch Wolffs Forderung, dass sich der Leser eines Buches alle Mühe geben müsse, „die darin enthaltenen Tatsachen oder theoretischen Sätze zu verstehen und zum eigenen künftigen Nutzen zu behalten“: „ut, quae in iis narrantur facta, vel traduntur dogmata, intelligat & memoriae mandet sibi profutura“, wie es in § 902 heißt. Eines der wichtigsten Gebote dieser Aufklärungslogik ist es, sich zunächst einmal möglichst unbefangen wirklich in den Anderen hineinzudenken, ganz egal, welcher Auffassung er ist, und seinen Aussagen nicht eine Bedeutung unterzulegen, die er selbst gar nicht im Sinne gehabt hat. Schon in Wolffs Deutscher Logik heißt es demgemäß: „Absonderlich ist wohl in acht zu nehmen, wenn wir den Urheber eines Buches recht verstehen wollen […], daß wir mit seinen Wörtern eben dieselben Begriffe verknüpfen, die er damit verbindet […]. Denn wenn dieses nicht geschiehet; so dichten wir ihm einen falschen Verstand an, und bürden ihm auf, was er nicht gesaget; welches gar ofte zu geschehen pfleget“.22 Was in der deutschen Logik mit einem Satz gesagt wird, kehrt dann in Wolffs lateinischer Logik in zahlreichen Paragraphen wieder. Besonders markant sind die Formulierungen des Paragraphen 922, der eine „Definition der Billigkeit und Unbilligkeit beim Auslegen“ – „Aequitatis & iniquitatis in interpretando definitio – zu geben versucht: „Einen billigen – sc. unparteiischen – Ausleger nennt man denjenigen, der […] den Worten eines Autors keinen anderen Sinn zuschreibt als den, der ihnen zukommen muß“: Aequus in interpretando appellatur, qui verbis autoris non alium tribuit sensum, quam quem iisdem convenire“. „Umgekehrt ist derjenige ein unbilliger Ausleger, der den Worten eines Autors einen irrigen Sinn zuschreibt, von dem er nicht beweisen kann, daß er ihnen zukommt“: „E contrario iniquus in interpretando est, qui verbis autoris tribuit sensum erroneum, 20

Vgl. Christian Wolff, Sämtliche Rezensionen in den Acta eruditorum (1705-1731), hg. v. Hubert A. Laeven u. Lucy J. M. Laeven-Aretz, 5 Bde. [Christian Wolff, Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 38, Teil 1–5, Hildesheim 2001.]. 21 Vgl. Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., § 778. 22 Wolff, Deutsche Logik, a.a.O., S. 227.

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quem iisdem convenire demonstrare nequit“.23 Wer diesem Maßstab nicht gerecht zu werden sucht, hat die Aufklärung längst hinter sich gelassen und öffnet aller Willkür Tür und Tor. Freilich ist es nach Meinung Wolffs durchaus möglich, sich die Gedanken eines Anderen aus einer überlegenen Sichtweise anzueignen. Das geschieht überall da, wo der Leser über einen deutlicheren Begriff der Sache verfügt, als ihn der Autor selber besessen hat. Im Paragraphen 929 heißt es: „Wenn der Autor mit gewissen Ausdrücken einen verworrenen Begriff verbindet, der Leser aber einen deutlichen, und durch beide dieselbe Sache vorgestellt wird, so versteht der Leser den Sinn des Autors, vermag ihn aber besser auszudrücken“: „Quodsi autor cum quibusdam terminis conjungit notionem confusam, lector autem distinctam, & utraque eadem res repraesentatur; lector mentem autoris intelligit & melius explicat“; „es liegt also auf der Hand, daß der Leser, der bei der Auslegung eines Satzes des Autors einen deutlichen Begriff an Stelle des verworrenen setzt, den Sinn desselben besser auszudrücken vermag, als es von eben diesem geschehen konnte“: „patet utique, quod lector in interpretanda propositione autoris notionem distinctam confusae substituens mentem ejusdem melius explicet, quam ab ipsomet fieri poterat“.24 Der Schulfall für diese Art der Interpretation ist für Wolff in seiner lateinischen Ontologie ausgerechnet der traditionsreiche Begriff der transzendentalen Wahrheit beziehungsweise des Transzendentalen überhaupt: „Der deutliche Begriff der transzendentalen oder metaphysischen Wahrheit, den wir gegeben haben, widerspricht nicht dem verworrenen Begriff derselben, den die Scholastiker gehabt haben“: „Notio veritatis transcendentalis seu metaphysicae distincta, quam dedimus, non contrariatur notioni confusae ejusdem, quae Scholasticis fuit“.25 Man braucht nur den Abschnitt über das Bücherlesen in Kants Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie zur Hand zu nehmen, um zu bemerken, wie tief Kants Denken, trotz der veränderten historischen Situation und trotz der Verschiedenheit der Charaktere, mittelbar oder unmittelbar in dieser Tradition verankert ist: „Die Bücher der Belehrung muß man behalten, man muß wißen, daß man sie gelesen hat, dahin gehören historische, philosophische Bücher. // Man muß bey jedem Buch die Idee des Autors zu entdecken suchen.26 Das ist etwas wichtiges und schweres. Oft 23

Wolff, Philosophia rationalis sive Logica, a.a.O., § 922. Ebd., § 929. 25 Ebd., § 502; vgl. auch Christian Wolff, Philosophia prima, sive Ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur, Frankfurt u. Leipzig1730, 21736; vgl. §§ 428 u. 527 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u. a., Abt. II, Bd. 3, Hildesheim 11962, 21977.]. 26 Vgl. Feder, Logik und Metaphysik, a.a.O., § 95, S. 219: „Wenn es seyn kann, suche man sich gleich Anfangs von der Absicht, in welcher ein Buch geschrieben, […] zu unterrichten.“ 24

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hat der Autor seine eigene Idee selbst nicht gewust, und sie alsdenn zu finden, ist um desto schwerer“.27 Die berühmte These der Kritik der reinen Vernunft, „daß es gar nichts Ungewöhnliches sei […], durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte“,28 enthält also der Sache nach wenig Neues. Sie ist auch nicht etwa ein Specificum der kritischen Philosophie. Sie wiederholt nur eine These Wolffs und lässt sich vor diesem historischen Hintergrund sogar besser verstehen. Es muss aber nicht einmal Wolff selbst gewesen sein, der Kant auf diesen Gedanken gebracht hat. Bei Johann Peter Reusch beispielsweise, der die 170 Seiten Wolffs auf 40 Seiten kondensiert, liest man ganz ähnliches: „wenn der Autor seinen Ausdrücken verworrene Begriffe von eben der Sache gegeben hat, die der Leser deutlich begreift, dann versteht dieser dessen Sinn, und zwar besser, als ihn der Autor entwickelt“: „auctor si terminis tribuit notiones confusas eiusdem rei, quam lector distincte concipit: hic illius mentem intelligit; atque melius quidem, quam auctor explicat“.29 Dass so viele spätere Interpreten, angefangen bei Friedrich Schleiermacher bis hin zu Martin Heidegger, die genannte Äußerung für einen genuinen Satz Kants und seiner kritischen Philosophie gehalten haben und halten, liegt nur an einer mangelhaften Kenntnis des historischen Kontexts. In Wahrheit zeigt die These einmal mehr, wie fest Kant – unbeschadet der tiefen Zäsur, die seine kritische Philosophie bedeutet – in der Philosophie Wolffs beheimatet ist. Das ist zugleich auch eine Ehrenrettung Wolffs.

27

AA XXIX 28; eine Zusammenstellung der einschlägigen Äußerungen Kant findet sich bei Norbert Hinske, Kant über Lesen und Bücher, in: Insel-Almanach auf das Jahr 1964, Frankfurt am M. 1963, S. 132–140. 28 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 370. 29 Johann Peter Reusch, Systema logicum antiquiorum atque recentiorum item propria praecepta exhibens, Jena 1734, 41760, § 815, S. 883.

Metaphysik

Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede? Zum Streit um die richtige Übersetzung des Titels von Kants Dissertation des Jahres 1770 Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede?

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Kants Buchtitel

Eine der großen Begabungen Kants, die nicht unwesentlich zu seinem schriftstellerischen Erfolg beigetragen hat, war sein Gespür für suggestive, fast schon reißerische Buchtitel. Sie zeigt sich ansatzweise bereits in seiner vorkritischen Periode: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, 1763, oder Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, 1766 – das waren Titel, die den potentiellen Leser damals neugierig machen konnten. Diese Begabung bleibt Kant bis ins hohe Alter erhalten: Zum ewigen Frieden, 1795, sowie Der Streit der Fakultäten, 1798 – das klang für die Zeitgenossen wie ein Paukenschlag. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt der Gegensatz, der zwischen diesen lapidaren Formulierungen und den uferlos langen, barocken Buchtiteln seiner Vorgänger besteht. In den Schoß gefallen sind Kant seine Buchtitel nicht. Aus der Entstehungsgeschichte der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beispielsweise wissen wir, wie lange Kant manchmal nach dem richtigen Titel gesucht hat.1 Das beste Beispiel für die Prägnanz seiner Buchtitel sind natürlich Kants drei Kritiken. Kritik der reinen Vernunft mussten die Zeitgenossen fast unwillkürlich als Kampfschrift gegen Wolff verstehen. Denn Wolff hatte dem Begriff der ‚ratio pura‘

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Vgl. Heinrich P. Delfosse, Kant-Index, Bd. 15: Stellenindex und Konkordanz zur ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. LXI ff.: Zur Entstehungsgeschichte und zur Fragestellung der Grundlegung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_5

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seine maßgebende Prägung gegeben: „Ratio pura est, si in ratiocinando non admittimus nisi definitiones et propositiones a priori cognitas.“2 „Um reine Vernunft handelt es sich, wenn wir beim Schlußfolgern nur Definitionen und a priori erkannte Sätze verwenden.“ Zwar hat schon Hans Vaihinger in seinem voluminösen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft darauf hingewiesen, dass der Titel Kritik der reinen Vernunft in Wahrheit außerordentlich vielschichtig ist und die verschiedensten Bedeutungen annehmen kann.3 Aber Vaihingers Kommentar war das Resultat von hundert Jahren Kantforschung. Für die Zeitgenossen sah die Sache ganz anders aus. ‚Reine Vernunft‘, das hieß Wolff und seine Schule. Kant ist bei der Suche nach suggestiven Buchtiteln nicht pingelig gewesen. Er hat dabei vielmehr bewusst oder unbewusst mancherlei Ungenauigkeiten in Kauf genommen. Auch hier liefern die drei Kritiken das beste Beispiel. Der Titel der ersten Kritik müsste genau genommen heißen: Kritik der ‚reinen theoretischen‘ Vernunft, der zweiten: Kritik der ‚reinen praktischen‘ Vernunft. Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, gibt dem Begriff dann wieder eine neue Wendung. Spätestens da wusste Kant, dass der Begriff ‚Kritik‘ ein Reißer war. Der uferlose Missbrauch des Adjektivs ‚kritisch‘, der für die Gegenwart kennzeichnend ist, hat bei Kant selber seine Wurzeln. Ein nachdenklicher Zeitgenosse wird den Begriff heute nur noch ironisch gebrauchen.

2

Der Titel der Dissertation des Jahres 1770

2.1 Der lateinische Text Bei Kants dissertatio pro loco sind die Probleme, die der Buchtitel mit sich bringt, noch sehr viel gravierender. Das hängt mit dem wohl nicht zufällig vorgezogenen Genitiv zusammen. Kant schreibt nicht: De forma et principiis mundi sensibilis atque intelligibilis, sondern: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Das war nicht etwa eine Frage der stilistischen Eleganz, sondern der Ausdruck eines ernsten sachlichen Problems. 2

Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide constant, continentur et ad solidam universae philosophiae practicae ac theologiae naturalis tractationem via sternitur, 1732, Frankfurt u. Leipzig 21738, § 495, S. 378. 3 Hans Vaihinger, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, 1881, Stuttgart, Berlin u. Leipzig 21922, Neudr. Aalen 1970, S. 456.

Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede?

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Um dieses Problem in seiner Tragweite zu verstehen, muss man weit ausholen. Der Grundgedanke von Kants dissertatio pro loco ist nämlich von höchster anthropologischer Sprengkraft, ein Signal, das der Übernahme einer philosophischen Professur ihr volles Gewicht gab. Die These, die es den Studenten zu vermitteln galt, lautet: Der Mensch lebt in zwei verschiedenen Welten. Er bewegt sich in zwei grundverschiedenen Ordnungen. Er hat daher in seinem Leben Spannungen auszuhalten, die man nicht verkleistern darf, sondern durchzustehen hat. Die alte Formel vom ‚Bürger zweier Welten‘ – die allem Anschein nach nicht von Kant selbst stammt – bringt das sehr gut zum Ausdruck. Die eine Welt, der mundus sensibilis beziehungsweise der mundus phaenomenon,4 ist die Erfahrungswelt des Menschen, in der er alles, was ihm begegnet, mit Hilfe der ihm eigenen sinnlichen Anschauungsformen von Zeit und Raum – sowie des logischen Verstandesgebrauchs, dem aber nur eine Dienstfunktion zukommt – miteinander verknüpft und das heißt: in eine alles umfassende ‚Form‘ bringt. Diese Welt ist demgemäß eine vom Menschen selbst gemachte Welt, der mit seinem sinnlichen Erkenntnisvermögen das principium formae mundi sensibilis – und in diesem Sinne der letzte, unhinterfragbare Grund der Welt – ist. Der Mensch ist die letzte Instanz, die allem seine Form verleiht. Es liegt auf der Hand, dass es in einer solchen vom Menschen selber errichteten Welt für kategorische Imperative keinen Platz geben kann. Das Unbedingte kommt in ihr nicht vor, es gibt keinen Orientierungspunkt außerhalb des Menschen. In ihr kann es nur so etwas wie Regeln der Geschicklichkeit oder Ratschläge der Klugheit geben. Die andere Welt dagegen, der mundus intelligibilis, ist keine vom Menschen gemachte oder ausgedachte Welt, sondern eine Welt, in der Gott zugleich Schöpfer und Architekt ist, ‚Schöpfer‘ in Rücksicht auf die einzelnen Weltsubstanzen, ‚Architekt‘ in Rücksicht auf deren Verknüpfung beziehungsweise ‚Form‘: „nonnisi causa universorum unica est causa universitatis, neque est mundi architectus, qui non sit simul creator“;5 „nur eine einzige Ursache von allem ist die Ursache des Alls, und es gibt keinen Architekten der Welt, der nicht zugleich auch ihr Schöpfer wäre“. Richtet man sein Augenmerk auf die spezifische Fragestellung der Dissertation, so kommt dem Begriff des Architekten ein besonderes Gewicht zu. Der mundus intelligibilis ist eine von Gott eingerichtete Welt und der Mensch hat sich an diese Einrichtung – beziehungsweise ‚Form‘ – zu halten, ähnlich wie sich jeder Hotelgast an die Regeln des Hauses zu halten hat. Der Paragraph 13 hat im Ganzen der Dissertation eine Art Leitfadenfunktion. So, als wäre sich Kant der möglichen Missverständnisse bewusst gewesen, bereitet der 4 5

Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, AA II 402, Z. 13. Ebd., AA II 408.

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Paragraph die Überlegungen der Sectio III und Sectio IV vor und gebraucht dabei bezeichnenderweise die Formulierung ‚principium formae universi‘. ‚Principium‘ ist hier also – ebenso wie im Titel der Schrift – nicht etwa auf ‚mundus‘ beziehungsweise ‚universum‘, sondern eindeutig auf ‚forma‘ zu beziehen: „Forma mundi intelligibilis agnoscit principium obiectivum, h.e. causam aliquam, per quam existentium in se est colligatio. Mundus autem, quatenus spectatur ut phaenomenon, h.e. respective ad sensualitatem mentis humanae, non agnoscit aliud principium formae nisi subiectivum“.6 „Die Form der Verstandeswelt kennt einen objektiven Grund, d.i. irgendeine Ursache, durch die eine Verbindung des an sich Daseienden – sc. der Dinge an sich – zustande kommt. Sofern man die Welt dagegen als Phaenomenon – sc. als Welt der Erscheinungen – betrachtet, d.i. in Bezug auf die Sinnlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens, kennt sie keinen anderen Grund der Form als nur einen subjektiven“. Kant hat an dieser Zweiteilung Zeit seines Lebens festgehalten. Zwar trennt er sich 1772 von der Annahme, mit Hilfe der apriorischen Begriffe auf theoretischem Wege den mundus intelligibilis erkennen zu können. In seinem berühmten Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 schreibt er: „wie mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen, … die Frage hinterläßt immer eine Dunckelheit in Ansehung unsres Verstandesvermögens“.7 Seine schließliche Antwort lautet: Auch die auf dem Wege einer ursprünglichen Erwerbung – acquisitio originaria – gewonnenen Begriffe, die später so genannten Kategorien, dienen nur der Errichtung der Erfahrungswelt: Aber an die Stelle des mundus intelligibilis tritt für Kant jetzt der mundus moralis, das Reich der Zwecke. Jede dieser beiden Welten hat ihre eigene unverwechselbare ‚Form‘. Der letzte Grund der Form des mundus sensibilis – des mundus phaenomenon – ist der Mensch mit seiner Sinnlichkeit – als Erkenntnisvermögen verstanden –, der letzte Grund des mundus moralis dagegen ist und bleibt Gott als architectus mundi. Eben dieser spannungsgeladene doppelte Weltbezug kennzeichnet für Kant nach wie vor die anthropologische Grundsituation des Menschen. Wer sich dieser Spannung nach der einen oder der anderen Seite hin zu entziehen versucht, missversteht die Lage des Menschen.

6 7

Ebd., AA II 398. Brief an Marcus Herz v. 21. Februar 1772, in: AA X 131.

Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede?

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2.2 Die Übersetzungen des Titels und die neue Ausgabe der Dissertazioni latine von Igor Agostini8 Alle diese Überlegungen hat man im Blick zu behalten, wenn man nach einer angemessenen Übersetzung des Titels der Dissertation von 1770 sucht. Es geht dabei um spezifische Übersetzungsprobleme, wie sie bei dem Übergang von der einen Sprache in eine andere ja nicht selten vorkommen. Im lateinischen Original treten die Probleme aufgrund des von Kant vielleicht ganz bewusst vorgezogenen Genitives nicht auf. Hier kann man den Ablativ ‚principiis‘ grammatisch genausogut auf ‚mundi‘ wie auf ‚forma‘ beziehen. In den Übersetzungen dagegen hat sich seit dem unerlaubten Nachdruck von 1797/989 die Übersetzung eingebürgert: Von der Form und den Prinzipien der Sinnen- und Verstandeswelt. Die nachfolgenden Übersetzungen, die Agostini gewissenhaft auflistet, sind dieser vermeintlich plausiblen Lösung gefolgt. Es ist eine lange Liste und sie enthält große Namen. Am Anfang dieser langen Traditionslinie aber steht pikanterweise nicht etwa ein heiliger Text, sondern einer jener Raubdrucke, die Kant so verhasst gewesen sind.10 Da ging es nicht um die Sache, sondern um das rasche Geld. Diese Übersetzung bringt es mit sich, dass man ‚Prinzipien‘ automatisch auf ‚Sinnen- und Verstandeswelt‘ beziehen muss. Eine Beziehung auf ‚Form‘ dagegen ist grammatisch unmöglich. Die Übersetzung zerstört damit geradezu die Pointe der Dissertation. Eben deshalb – und nicht aus dem Wunsch nach Originalität, der im Felde der -Kantforschung oft ohnehin mehr Schaden als Nutzen stiftet – hatte ich selbst im Einverständnis mit Wilhelm Weischedel die Übersetzung gewählt: Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen. Diese neue Übersetzung hat gleich zwei Vorteile: Sie legt den Ton auf ‚Form‘, das zentrale Thema der Dissertation, und sie lässt die Beziehung von ‚Gründen‘ zumindest offen. Man kann ‚Gründen‘ sowohl auf ‚Form‘ als auch auf ‚Welt‘ beziehen. Raffaele Ciafardone ist diesem Vorschlag gefolgt und übersetzt: La forma del mondo sensibile e del mondo intelligibile e si suoi principi.11 Agostini dagegen kehrt in seiner Ausgabe der Dissertazioni latine, ohne sich mit den Argumenten Ciafardones auseinanderzusetzen, zu der alten Übersetzung zurück. Die einzige Begründung, die ich dafür bei ihm gefunden habe, lautet, es handele sich 8

Immanuel Kant, Dissertazioni latine. Testo latino a fronte, hg. v. Igor Agostini, Mailand 2014. Vgl. Arthur Warda, Die Drucke. Schriften Immanuel Kants (bis zum Jahre 1838), Wiesbaden 1919, S. 58 (Nr. 235); Agostini, Dissertazioni latine, a.a.O., S. 352 Anm. 1. 10 Vgl. Kants Beitrag Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks aus dem Jahr 1785 in: AA II 77–87. 11 Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, übers. v. Raffaele Ciafardone, Rom 2002. 9

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hier um die „traduzione canonica“. Kant hätte darauf wohl mit Seneca geantwortet: „Nihil magis praestandum est, quam ne pecorum ritu sequamur antecedentium gregem, pergentes non qua eundum est, sed qua itur.“ Dieser Satz aus den Epistulae morales Senecas ist übrigens der erste Satz in Kants Veröffentlichungen überhaupt.12 Unglücklicherweise zitiert Agostini meine Übersetzung nach der zwölfbändigen Ausgabe des Suhrkamp-Verlages und nicht nach der zehnbändigen Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Das ist alles andere als eine bibliographische Finesse. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass ich die Kantausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft mehrfach von Grund auf revidiert habe, um die Druckfehler der ersten Auflage zu beseitigen, während der Suhrkamp-Verlag die Durchführung dieser Korrekturen wegen der damit verbundenen Kosten abgelehnt hat. Auf diese Weise entgehen Agostini auch die von mir 1975 an meiner Übersetzung vorgenommenen Korrekturen, die sich aus dem ganannten Grund nur in der Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft finden.

3

Schlußbemerkung

Die vorangegangenen Überlegungen betreffen jedoch nur einige, wenn auch nicht ganz unwichtige Aspekte der neuen Ausgabe der Dissertazioni latine Kants. Sie sollten jedoch auf keinen Fall den Blick dafür verstellen, dass die Ausgabe von Agostini eine Ausgabe von Rang ist, an der die Kantforschung keineswegs wird vorbeigehen dürfen. Sie befindet sich in beeindruckender Weise auf dem Stand der Forschung und bestätigt einmal mehr die Spitzenstellung, die Italien im Felde der Kantforschung heute einnimmt. Schon allein die sorgfältige Verarbeitung der Kantischen Vorlesungsnachschriften macht die Ausgabe für die Kantforschung unentbehrlich. Sie sollte in keiner einschlägigen deutschen Bibliothek fehlen.

12

Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, AA I 7.

Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens Erwiderung auf Lothar Kreimendahl Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens Meine Absicht ist, alle ... zu überzeugen: daß es unumgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen Immanuel Kant, Prolegomena

Erster und unmittelbarer Anlaß der nachfolgenden Überlegungen ist das 1990 erschienene Buch Lothar Kreimendahls Kant – Der Durchbruch von 1769,1 das die alten Probleme der Kantschen Entwicklungsgeschichte auf breiter Front und auf höchstem Niveau erneut zur Diskussion stellt. Es wird – in bewusstem Gegenzug zu dem berühmten Diktum Wilhelm Windelbands – von der Überzeugung getragen, „Kant verstehen, heiße hinter ihn zurückgehen“ (266). Denn bei der Kritik der reinen Vernunft handele es sich nicht etwa „um einen monolithischen Block von konzeptioneller Geschlossenheit [...], sondern im Sinne der ‚Patchwork-Theorie‘ um ein Textkonglomerat, das in verschiedene Phasen des Kantischen Denkens zurückweist und Lehren präsentiert, die aus unterschiedlichen Gesichtspunkten bei nicht immer gleichbleibenden Absichten von Kant entwickelt worden sind, ohne daß es ihm gelungen wäre, bei der 1780 vorgenommenen Schlußredaktion die Brüche gänzlich zu verfugen“ (2). Eben deshalb verlange die Kritik der reinen Vernunft eine ,,werkgenetische Lektüre“ (266).

1

Lothar Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769, Köln 1990. Das Buch wird im vorliegenden Beitrag der Einfachheit halber unter Angabe der Seiten- beziehungsweise Paragraphenzahlen innerhalb des Textes selber zitiert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_6

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Der spezifische Forschungsbeitrag Kreimendahls, der durch zwei umfangreiche Monographien und eine Übersetzung als Humeforscher ausgewiesen ist,2 liegt dabei insbesondere in zwei neuen, aufs engste miteinander verzahnten Thesen: 1. Die „Erweckung“ (5), von der Kant in einer berühmten Bemerkung der Prolegomena spricht – „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab“ (A 13)3 – falle in die Jahre 1768/69, in denen Kant von Humes Treatise of Human Nature, I, 4, 7, in Gestalt von Johann Georg Hamanns Nachtgedanken eines Zweiflers,4 einer stillschweigenden Humeübersetzung, Kenntnis erhalten habe. 2. In unmittelbarem Anschluß an diese Lektüre sei Kant zur Entdeckung sowohl „der Antinomie als auch des Instrumentariums zu ihrer Lösung im Jahre 1769“ gelangt (255). Es gebe demgemäß so etwas wie eine „Koinzidenz von Humescher ‚Erinnerung‘ und Antinomieproblematik als den beiden von Kant wiederholt genannten systeminitiierenden Impulsen“ (267), und sie verweise auf das Jahr 1769. Eben das meint auch der Titel des Buches Kant – Der Durchbruch von 1769. Das schnörkellose, spannend geschriebene Buch Kreimendahls ist eine Herausforderung im besten Sinne. Es zeigt nahezu alle Eigenschaften, die eine Untersuchung von Rang auszeichnen. Es besticht an zahlreichen Stellen durch Klarheit der Formulierung und Treffsicherheit des Urteils. Es ist ein Muster an Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, allein schon sein Stellenverzeichnis ist ein Hilfsmittel, wie man es

2

Lothar Kreimendahl, Humes verborgener Rationalismus, Berlin u. New York 1982; Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987; David Hume, Die Naturgeschichte der Religion. Über Aberglaube und Schwärmerei, Über die Unsterblichkeit der Seele, Über Selbstmord, übers. u. hg. v. Lothar Kreimendahl, Hamburg 1984. 3 Kants Druckschriften werden in diesem Aufsatz nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956–1964, 61983, zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben; A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage. Kants Briefe, Nachlass und Vorlesungsnachschriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger – abgek. als AA – zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen und in petit die Zeilenzahlen dieser Ausgabe. 4 Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hg. v. Josef Nadler, Bd. 4: Kleine Schriften 1750-1788, Wien 1952, S. 364–367.

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nur selten geboten bekommt. Vor allem aber beeindruckt das Buch durch eine stupende Vertrautheit mit Kants Oeuvre, und zwar nicht nur mit den Werken, sondern auch mit dem Nachlass, dem Briefwechsel und den Vorlesungsnachschriften, und durch einen erstaunlichen Überblick über die Kantliteratur. So enthält das zweite Kapitel den vermutlich besten Forschungsbericht über die schier uferlose Literatur zu dem Dauerthema Hume und Kant. Die Paragraphen 21 bis 23, fast schon ein zweiter Forschungsbericht, geben eine überaus stoffhaltige Darstellung der „Historischen Vorformen der Antinomieproblematik“ in Philosophie und Theologie. Zwar stellt Kreimendahl seinem zweiten Kapitel einen Satz Eduard v. Hartmanns aus dem Jahre 1894 als Motto voran: „Dass ich die ganze Kantlitteratur studiert habe, kann ich nicht behaupten; dazu gehört allein ein Menschenleben.“5 Dennoch aber wird man mit Fug und Recht sagen können: Wer sich mit der Forschungsgeschichte und ihrem letzten Stand vertraut machen möchte, ist gut beraten, das Buch Kreimendahls zur Hand zu nehmen. Wenn es Kreimendahl dennoch nicht gelungen ist, mich von bestimmten Grundideen meiner eigenen, 1966 erstmals vorgelegten6 Kantinterpretation abzubringen, mit der er sich insbesondere im Paragraphen 20 „Hinskes Unterscheidung von drei Etappen der Antinomieproblematik und das Erfordernis ihrer Revision“ ausdrücklich auseinandersetzt, so liegt das, wie ich hoffe, zumindest nicht nur an Halsstarrigkeit. Es liegt vielmehr an bestimmten Vorentscheidungen, die in Kreimendahls Buch – wie in den meisten Studien zur Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens – kaum noch diskutiert werden. Es liegt an einer grundverschiedenen Gewichtung der unterschiedlichen Quellentypen, auf die eine solche Entwicklungsgeschichte zurückzugreifen hat. Die Klärung der Frage, welches Gewicht welcher Quellengruppe beizumessen sei, ist jedoch eine unerläßliche Vorbedingung für eine zureichende Behandlung des Themas. Sie bildet deshalb sozusagen die noch nicht geschriebenen

5

Eduard v. Hartmann, Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Entwickelung, Leipzig 1894, VI. 6 Norbert Hinske, Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung, in: Kant-Studien 56 (1966) 485–496; vgl. Ders., Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1970, 97–112; Ders., Kants Rede vom Unbedingten und ihre philosophischen Motive, in: Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens. Akten des I. Kongresses der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1989, 2 Bde., hg. v. Hans Michael Baumgartner u. Wilhelm G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, Bd. 1, 265-281; Ders., Georg Friedrich Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis. Noch eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantschen Antinomienlehre, in: Kant und sein Jahrhundert. Gedenkschrift für Giorgio Tonelli, hg. v. Claudio Cesa u. Norbert Hinske, Frankfurt am M., Berlin, Bern, New York, Paris u. Wien 1993, S. 103–121.

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Prolegomena zu einer jeden künftigen Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens, die als Wissenschaft wird auftreten können. Zumindest einige Grundthesen solcher Prolegomena sollen im Folgenden in beständiger Auseinandersetzung mit dem Buch Kreimendahls formuliert werden.

1

Die Problematik der autobiographischen Äußerungen

Eine erste wichtige Gruppe von Quellen sui generis bilden die „Selbstzeugnisse“ (5) beziehungsweise „autobiographischen Dokumente“ (4). Kreimendahl misst ihnen, wie ja auch bereits der Titel seines Buches verrät, eine hohe, wenn nicht gar die ausschlaggebende Bedeutung für eine Rekonstruktion der Genese des Kantschen Denkens bei: „Jede entwicklungsgeschichtliche Darstellung eines Denkers muß sich in erster Linie auf Zeugnisse des Philosophen selbst stützen, sofern solche vorhanden sind“ (4); „sie besitzen, weil sie vom Autor selbst stammen, die größte Aussagekraft“ (9). Ganz im Mittelpunkt jener Selbstzeugnisse stehen dabei für Kreimendahl Kants bereits zitierte Bezugnahme auf Hume in den Prolegomena und die autobiographische Reflexion 5037 mit ihrem fast schon zum Schlagwort gewordenen Schlußsatz: „Das Jahr 69 gab mir großes Licht“.7 Bei näherem Hinsehen ist diese ausdrückliche Vorentscheidung zugunsten der autobiographischen Dokumente so selbstverständlich nicht. Schon der glänzende Forschungsbericht des zweiten Kapitels, der ja weitgehend um Kants Bezugnahme auf Hume kreist, zeigt doch auf drastische Weise, wie unterschiedlich sich jene Äußerung in den Prolegomena verstehen lässt. Für die schier uferlose Literatur zur Reflexion 5037 gilt ähnliches. Drängt sich da nicht unwillkürlich die Erinnerung an einen geistvollen Satz auf, der sich in Kants Schrift über den Einzig möglichen Beweisgrund findet: „Was die schmeichelhafte Vorstellung anlangt, die man sich macht, daß man durch größere Scharfsinnigkeit es besser als andre treffen werde, so versteht man wohl, daß jederzeit alle so geredet haben, die uns aus einem fremden Irrtum in den ihrigen haben ziehen wollen“?8 Hinter diesen skeptischen Fragen steht eine beunruhigende Problematik von allgemeiner Tragweite, die hier freilich nicht ausdiskutiert werden kann: Bis zu welchem Grade durchschauen wir unsere eigene Biographie? Wie weit wissen wir, was mit uns geschehen ist und was uns wirklich geformt hat? Und wie groß ist noch bei dem Redlichsten die Gefahr einer nachträglichen Selbststilisierung? Am Ende sind 7 8

Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik, AA XVIII 69. Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, A 4.

Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens

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wir, wenn es um uns selber geht, die schlechtesten Interpreten. Möglicherweise weiß jeder, der sich ernsthaft mit ihr beschäftigt, über Kants Entwicklungsgeschichte besser Bescheid als über seine eigene. Aber um konkret zu werden: Bei der Rede von einem ‚dogmatischen Schlummer‘ und einer ‚Erweckung‘ aus diesem handelt es sich keineswegs um eine zufällige Formulierung. Sie ist bei Kant, wie Kreimendahl eindrucksvoll gezeigt hat (vgl. 9–11), an unterschiedlichster Stelle zu finden. Wieso aber gebraucht Kant immer wieder solche und ähnliche Metaphern? Schwingt in ihnen die Erinnerung an ein eigenes ‚Erweckungserlebnis‘ mit, wie es in dieser oder jener Form vielleicht zu aller ursprünglichen Philosophie gehört? Dann stellt sich die Frage: Wieweit ist der Betroffene zehn oder fünfzehn Jahre später noch imstande, ein solches Erlebnis zutreffend zu beschreiben? Oder entspringt jene Metaphorik dem Groll gegen die herrschende Philosophie seiner Zeit, die sich damals wie heute im gewohnten Trott fortbewegt und in Wahrheit noch gar nicht aufgewacht ist? Spricht aus ihr der Verdruss über den Philosophiebetrieb? Dann könnte es sich um so etwas wie ein Lieblingswort Kants handeln, das er, ohne es recht zu bemerken, in unterschiedlichstem Kontext gebraucht. Was die Rede vom ‚großen Licht‘ angeht, so ist zunächst daran zu erinnern, dass es sich hier ursprünglich einmal um ein Lieblingswort Christian Wolffs gehandelt hat. So erklärt dieser 1712 gleich in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Deutschen Logik: „Endlich muß ich auch bekennen, daß, wie ich im Anfange meines Nachsinnens über die Kräfte des Verstandes mich in vieles nicht recht finden konte, auch in einigen Stücken ohne Noth auf Umwege gerathen war, mir des Herrn von Leibnitz sinnreiche Gedancken von der Erkäntniß der Wahrheit und den Begriffen9 [...] unverhoft ein grosses Licht gegeben.“10 Ähnlich heißt es vierzehn Jahre später in Wolffs Ausführlicher Nachricht von seinen eigenen Schrifften im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit der Ontologie der Scholastik: „Als ich nun aber durch ihn [Leibniz] veranlasset ward [...], einigen Sachen weiter nachzudencken, und dadurch endlich auch auf die Ontologie verfiel, um zu untersuchen, was es damit für eine Bewandnis habe; so fand ich, daß die Schul-Weisen bloß klare, aber undeutliche Begriffe von denen Dingen gehabt, die in der Grund-Wissenschafft von ihnen abgehandelt werden, und ihre so genannte Canones oder Grund-Lehren weder aus den Begriffen erwiesen, noch auch jederzeit genug determiniret werden. Durch das erste 9

Gemeint sind die Meditationes de Cognitione und Veritate et Ideis von Gottfried Wilhelm Leibniz. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntnis der Wahrheit [Deutsche Logik], Halle 1713, 141754, hg. v. Hans Werner Arndt, Vorrede zur ersten Auflage, S. 109 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a., Abt. I, Bd. 1, Hildesheim 1965.]. 10

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gieng mir schon ein grosses Licht auf.“11 War sich Kant dieser Parallelen bewusst, hat er Wolffs Lieblingswort am Ende gar mit Absicht aufgenommen, oder handelt es sich hier nur um einen dummen Zufall? Schon allein die Beantwortung dieser Fragen wäre für die Interpretation der Reflexion 5037 nicht ohne Belang. Es kommt jedoch noch ein ganz anderer, nicht weniger interessanter Umstand hinzu. Die Reflexion 5037 findet sich – ebenso wie die autobiographischen Reflexionen 4992,12 501513 und 503614 – in Kants Handexemplar der Metaphysica auf den Seiten der Vorrede zur dritten Auflage, einem Text, in dem Baumgarten auf seinen eigenen philosophischen Werdegang zu sprechen kommt. Moses Mendelssohn hatte die Bedeutung dieser autobiographischen Passagen in den Briefen die Neueste Litteratur betreffend aufs nachdrücklichste unterstrichen.15 Die von Benno Erdmann und Erich Adickes angewandten Editionstechniken, so unterschiedlich sie auch sein mögen, haben es mit sich gebracht, dass diese Bezüge nicht längst bemerkt und diskutiert worden sind. Ist diese Plazierung der autobiographischen Reflexionen nur ein weiterer dummer Zufall? Oder hat sich Kant irgendwann einmal mit dem Gedanken getragen, so etwas wie eine Gegenbiographie zu Baumgarten zu schreiben, dessen so ganz anders verlaufene Entwicklungsgeschichte er doch als Herausforderung empfinden musste? Ob Kant in diesem Zusammenhang wirklich an Hume gedacht hatte? Man sieht: Die autobiographischen Reflexionen Kants werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Ähnliches gilt übrigens auch für zahlreiche Selbstaussagen innerhalb des Briefwechsels, die wohl zumindest teilweise durch den Blick auf den Adressaten mitbestimmt sind, hier jedoch nicht eigens diskutiert zu werden brauchen.16 Selbstverständlich soll mit diesen Überlegungen nicht in Abrede gestellt werden, dass die Selbstzeugnisse gerade im Falle Kants von höchster Aussagekraft sind und bei dem Versuch einer Rekonstruktion seiner Entwicklungsgeschichte die sorgfältigste Beachtung verdienen. Nichts wäre verfehlter, als sie beiseite lassen zu wollen. Aber man wird kaum eindringlich genug davor warnen können, sie zum Leitfaden

11

Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben, Frankfurt am M. 1726, 31733, hg. v. Hans Werner Arndt, S. 213 f. [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a., Abt. I, Bd. 9, Hildesheim u. New York 1973.]. 12 Kant, Reflexionen zur Metaphysik, AA XVIII 53 f. 13 Ebd., AA XVIII 60 f. 14 Ebd., AA XVIII 68 f. 15 Vgl. den einundzwanzigsten Brief vom 1. März 1759, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 5.1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 13 ff. 16 Vgl. dazu die geist- und kenntnisreiche Rezension des Buches durch Reinhard Brandt in den KantStudien 83 (1992) 100–111, hier S. 107.

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eines derartigen Rekonstruktionsversuchs zu machen. Sie sind ein Kanon, kein Organon. Leitfäden müssen eindeutig sein.

2

Die Problematik der Reflexionen

Eine zweite tragende Säule der Interpretation Kreimendahls bilden die Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses. Nicht selten gewinnt man bei der Lektüre seines Buches den Eindruck, dass er ihnen eine größere Bedeutung beimisst als den von Kant selbst veröffentlichten Werken. Er erklärt ausdrücklich: „auf der Grundlage der von Adickes vorgenommenen Anordnung des handschriftlichen Nachlasses, auf den sich unsere Darlegungen zum großen Teil stützen werden“, lässt sich „Kants philosophische Entwicklung insgesamt zuverlässig rekonstruieren“ (4). Er fügt freilich hinzu: „Es ist eine Nebenabsicht der vorliegenden Studie, die Diskussion über die Problematik des Nachlasses und seine Datierung neu zu beleben“ (4). Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen an eben diese „Nebenabsicht“ an. Das ausschlaggebende Gewicht kommt in der Darstellung Kreimendahls nicht von ungefähr den sogenannten κ-Reflexionen zu, also jenen vielschichtigen Notizen Kants, die Adickes bei seiner Datierung des Nachlasses im Rahmen der AkademieAusgabe in das Jahr 1769, das Jahr des „großen Lichts“, verlegt hat. Sie umfassen in der Akademie-Ausgabe die Seiten 341–432, also insgesamt 92 Seiten, und scheinen in der Tat dramatische Umbrüche im Denken Kants zu verraten. Ohne sie ist Kreimendahls Rekonstruktionsversuch der Kantschen Entwicklungsgeschichte schlechterdings nicht zu verstehen. Insbesondere seine These, „daß Kant Hamanns Übersetzung des Schlußabschnittes des ersten Buches von Humes Treatise schon vor ihrem ersten Erscheinen [...] kannte, und zwar bereits um 1768/69“ (83), und seine dementsprechende Rede vom „Durchbruch von 1769“ finden eben hier ihre Begründung.17 Man braucht nur einen Blick in das Stellenverzeichnis des Buches zu werfen, um sich die Bedeutung klarzumachen, die Kreimendahl den κ-Reflexionen beimisst: Fast ein 17

Brandt geht in seiner Rezension auf das Problem der κ-Reflexionen und ihrer Datierung so gut wie gar nicht ein. Er schreibt, ebd., S. 102: „Kant soll nach Kreimendahl einen unveröffentlichten Artikel just zu der Zeit gelesen haben, die dem Interpreten am besten paßt“; sowie ebd., S. 108: „es gibt keinen Grund für die Annahme von 1768/1769 außer dem dringenden Wunsch des Interpreten“. Brandt begeht hier denjenigen logischen Fehler, den die Schullogiker die fallacia ignorationis elenchi genannt haben: Er übersieht den Nerv des Beweises. Denn es gibt für Kreimendahl sehr wohl einen triftigen Grund für die Annahme, dass Kant Hamanns Übersetzung von Treatise, I, 4, 7, in den Jahren 1768/1769 gelesen habe: die zugespitzte Problemlage der κ-Reflexionen. Folgt man der Datierung von Erich Adickes, so ist Kreimendahls Interpretation in der Tat außerordentlich naheliegend.

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Drittel aller Reflexionen des Metaphysiknachlasses, die Kreimendahl bei seiner Kantinterpretation heranzieht, stammen aus eben dieser Phase, und die Reflexionen insgesamt haben mehr Belege als alle vorkritischen Schriften zusammen. Nun lassen sich gegen eine derart intensive Heranziehung des Nachlasses zunächst wieder ganz allgemeine Bedenken geltend machen. Es ist ja keineswegs so, dass allen Äußerungen, auf die man bei einem Autor stößt, ein gleiches Gewicht zukäme. Was Kant in den von ihm selbst publizierten Werken zu Papier gebracht hat, ist in aller Regel mehrfach auf das sorgfältigste überdacht und ausgefeilt.18 Bei den Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses dagegen handelt es sich, so funkelnd und faszinierend sie oft auch sein mögen, um Formulierungen des Augenblicks, um „Kinder der Gelegenheit, ausgebrochen im dunklen Untergrunde des Bewusstseins, zu Tage gefördert nach der Gunst des Augenblicks.“19 Hatte Kant sie nicht in seine durchschossenen Handexemplare der Kompendien hineinnotiert und damit auf Dauer gestellt, wäre manches davon vielleicht schon bald in den Papierkorb gewandert. Der verkappte Positivismus, für den ein Beleg so gut wie der andere ist, egal wo er herstammt, ist so unbedenklich nicht. Darüber hinaus ist es jedoch auch eine unzulässige Vereinfachung, diese Reflexionen, wie Erdmann es getan hat, einfach als „wissenschaftliches Tagebuch“20 Kants zu betrachten. Die Reflexionen enthalten nicht nur Kants eigene Philosophie. Viele der Aufzeichnungen haben vielmehr, wie eine genauere Textanalyse immer wieder zeigt, der Vorbereitung der Lehrveranstaltungen, also der Erklärung des ‚Autors‘ gedient. Manche Notizen geben demzufolge nicht etwa Kants eigene Auffassung wieder, sondern die Meinung des ‚Autors‘ – so wie Kant ihn verstanden hat.21 Der Vergleich mit den Vorlesungsnachschriften der vierten Abteilung der AkademieAusgabe bietet hier seit neuerem ein kaum zu überschätzendes Hilfsmittel.

18

Zur Arbeitsweise Kants vgl. insbesondere Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, Königsberg 1804, Neudr. Brüssel 1968, S. 191 ff.; Gerhard Lehmann, Ein Reinschriftfragment zu Kants Abhandlung vom ewigen Frieden, jetzt in: Ders., Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin 1969, S. 56 f. 19 Benno Erdmann, Zur Geschichte des Textes, in: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen, hg. v. Benno Erdmann, 2 Bde., Leipzig 1882 u. 1884, Neudr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 1. Bd., 30 [60]. 20 Ebd.; vgl. ebd., 1. Bd., 33 [63]. 21 Das gilt beispielsweise allem Vermuten nach für die Reflexion 4422 – AA XVII 540 –, auf die sich Kreimendahl, S. 251 f., beruft. Der Sache nach entspricht die Reflexion noch Kants Position von 1756. Vor allem aber die Plazierung der Notiz gegenüber den Paragraphen 232 ff. in Baumgartens Kompendium, in denen auch der Begriff des „phaenomenon substantiatum“ – AA XVII 78 – auftaucht, spricht für eine derartige Annahme.

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Aber das sind wieder sehr allgemeine Überlegungen. Vergegenwärtigt man sich, welchen faszinierenden Einblick zahlreiche Reflexionen in Kants Gedankenprozeß liefern und wie viel sie oft zu einem genaueren Verständnis der Kritik der reinen Vernunft beitragen, so können Überlegungen dieser Art bestenfalls zu einer gewissen Vorsicht Anlaß geben. Und außerdem sind diese Nachlassnotizen insbesondere für das ‚stille Jahrzehnt‘ neben den Briefen an Herz und einigen anderen Zeugnissen der immer noch authentischste Quellentyp. Jeder Rückgriff auf den handschriftlichen Nachlass hat nun aber zugleich noch mit einer weiteren Problematik zu kämpfen, die den Aussagewert dieses zweiten Quellentyps dramatisch relativiert: der Problematik der Datierung. Schon Otto Schöndörffer hatte 1916 gegen das Datierungsverfahren, dessen sich Adickes in den Bänden XIV ff. der Akademie-Ausgabe bedient hat, schwerwiegende Bedenken angemeldet22 und auch ich hatte das seit 1966 wiederholt getan.23 Ohne die wachsende Unsicherheit in dieser Frage wäre die ursprünglich einmal geplante Fortsetzung meines Buches über Kants Weg zur Transzendentalphilosophie24 wohl längst über den dreißigjährigen Kant hinausgelangt. Zwar spricht auch Kreimendahl gelegentlich von einer „philologisch ohnehin brüchigen Basis der Exegese“ (183), im Prinzip aber arbeitet er unangefochten „auf der Grundlage der von Adickes vorgenommenen Anordnung des handschriftlichen Nachlasses“ (4) und zieht mit äußerster Konsequenz die Folgerungen, die sich aus ihr ergeben. Durchschlagende Argumente gegen die von Adickes vorgenommenen Datierungen im Ganzen sieht er offenbar nicht. Nun sind jedoch von der Forschung gerade in jüngster Zeit – freilich fast ausnahmslos erst nach Erscheinen des Buches von Kreimendahl – neue gravierende Argumente gegen die von Adickes vorgenommenen Datierungen ins Feld geführt wor-

22

Otto Schöndörffer, Bemerkungen zu Kants handschriftlichem Nachlass. (Akademieausgabe Bd. XIV u. XV.), in: Altpreußische Monatsschrift 53 (1916) 105 ff.; Ders., Bemerkungen zu Kants handschriftlichem Nachlass. Teil II (Akademieausgabe Bd. XVI.), in: Altpreußische Monatsschrift 56 (1919) 73 ff. 23 Vgl. insbesondere Norbert Hinske, Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung, in: Kant-Studien 56 (1966) 485–496, hier S. 493 Anm. 32; Ders., Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1970, S. 12 f., S. 41, S. 107 f. Anm. 361; Ders., Kants neue Terminologie und ihre alten Quellen. Möglichkeiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbeitung im Felde der Begriffsgeschichte, in: Kant-Studien 65 (1974) Sonderheft: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz, 6. bis 10. April 1974, Teil I, S. 68*– 85*, hier S. 81* ff.; Ders., Die Datierung der Reflexion 3716 und die generellen Datierungsprobleme des Kantischen Nachlasses. Erwiderung auf Josef Schmucker, in: Kant-Studien 68 (1977) 321–340; Ders., Die Kantausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihre Probleme, in: Il cannocchiale 3 (1990) 243 ff. 24 Vgl. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a.a.O., S. 7.

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den, die der Dogmatisierung der Phaseneinteilung der Akademie-Ausgabe das skeptische non liquet entgegensetzen. Das erste Argument25 betrifft auf den ersten Blick nur eine einzelne Reflexion des Logiknachlasses, die Reflexion 3409. Sie lautet: „Der [bekante] gewohnliche Gebrauch bestimmt die Bedeutung der Worte. Man muß keine eigne Bedeutungen alter Worte, auch nicht neue Worte statt alter aufbringen. Verba valent sicut numi; a nomos: Gesetz“.26 Zu dem lateinischen Satz merkt Adickes im Apparat nur kurz an: „Der Satz findet sich als ein Ausspruch unbekannter Herkunft auch in W. T. Krugs Allgemeinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften 21834 IV 356“.27 Doch handelt es sich hier keinesfalls um einen „Ausspruch unbekannter Herkunft“. Es handelt sich vielmehr um die verkürzte Überschrift eines damals viel diskutierten Beitrags, den Friedrich Gedike unter dem Titel Verba valent sicut numi; oder von der Wortmünze im März 1789 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht hat.28 Im Zentrum dieses Beitrags aus der deutschen Spätaufklärung steht die Analogie zwischen dem Verfall des Geldes und dem Verfall bestimmter Schlüsselworte wie ‚Aufklärung‘ oder ‚Empfindsamkeit‘. Dass Kant an eben diesen Beitrag denkt, zeigt auch die Logik Busolt, die mit dem Satz schließt: „Freylich sagt man verba valent sicut numi29, allein es hat doch nur die Hohe Landes Obrigkeit die Münzgerechtigkeit sonst aber bleibt es wahr Penes vsum est et ius et norma loquendi“.30 Biester hat „das neue Quartal der Berl. Monatsschrift“,31 das auch den Beitrag Gedikes enthielt, am 7. März 1789 an Kant abgesandt. Vor März/April 1789 kann die Reflexion also nicht entstanden sein. Der terminus ad quem ergibt sich aus der Logik Busolt, die ein gewisser Gotthilf Christoph Wilhelm Busolt offenbar im September 1790 erworben hat.32 Die Reflexion gehört also, legt man die Einteilung von Adickes zugrunde, in die Phase ψ4 oder in die Phase ω1 – das nämlich ist 25

Vgl. Norbert Hinske, Kant-Index, Bd. 14: Personenindex zum Logikcorpus, erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse u. Elfriede Reinardt, unter Mitwirkung von Terry Boswell, Sabine Ganz, Birgit Krier, Birgit Nehren u. Susanne Schoenau, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. XII Anm. 9; Ders., Die Rolle der Einbildungskraft in Kants Logikvorlesungen. Wortstatistische Beobachtungen und Analysen zu der Dreiergruppe ‚Phantasie, Imagination, Einbildungskraft‘, in: Phantasia – Imaginatio. V° Colloquio Internazionale del Lessico Intellettuale Europeo, Roma 9–11 gennaio 1986, hg. v. Marta Fattori u. Massimo Bianchi, Rom 1988, S. 428 Anm. 28. 26 AA XVI 818 f. 27 AA XVI 819. 28 Friedrich Gedicke, Verba valent sicut numi; oder von der Wortmünze, in: Berlinische Monatsschrift 13 (Januar bis Juni 1789) S. 253–275. 29 In der Akademie-Ausgabe heißt es fälschlich: „nummi“. 30 AA XXIV 686. Auch das stillschweigende Horazzitat aus der Ars poetica, 71 f., findet sich bereits bei Gedike, Verba valent sicut numi; oder von der Wortmünze, a.a.O., S. 275. 31 AA XI 11. 32 Vgl. AA XXIV 980.

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der Spielraum für die Entstehung der Logik Busolt, da Kant in den Sommersemestern 1789 und 1790 Logik gelesen hat.33 Adickes dagegen, der für die Entstehung dieser Reflexion insgesamt fünf verschiedene Phasen in Erwägung zieht, verlegt die Reflexion alles in allem in die Zeit zwischen 1760 und 1775. Er hat sich also, günstigstenfalls, um vierzehn Jahre vertan. Dieser Irrtum betrifft nun zwar nur eine einzelne Reflexion, eine von insgesamt 8112, und noch dazu eine Reflexion von untergeordneter Bedeutung. Auf der anderen Seite aber liegt es auf der Hand, dass nur ein Bruchteil der Reflexionen durch unmissverständliche literarische Anspielungen sicher datiert werden kann. Ein solcher Irrtum müsste daher doch unweigerlich die skeptische Frage nahelegen, wie viele Missgriffe dieser Art Adickes unterlaufen sein mögen. So eindeutig lassen sich die einzelnen Schriftphasen bei Kant offenbar doch nicht unterscheiden, wenn man die Schrift des Fünfundsechzigjährigen mit der des Sechsunddreißigjährigen verwechseln kann. Was also ist von einem Datierungsverfahren methodologisch gesehen zu halten, das derart gravierende Missgriffe möglich macht? Waren die Einwande Schöndörffers wirklich so abwegig, wie Adickes den Benutzer der Akademie-Ausgabe glauben machen wollte?34 Müsste nicht jedem Kantforscher, der sich mit Kants Entwicklungsgeschichte beschäftigt, irgendwann einmal der Nachtgedanke kommen, dass sich Adickes im Lauf der Jahre in ein Datierungssystem versponnen hat, das wesentliche Teile des Nachlasses falsch plaziert? Wäre ein „apriorischer Zweifel an der Zuverlässigkeit der Datierung von Adickes“ (246), so lähmend er auch sein mag, angesichts der geschilderten Sachlage also nicht tatsächlich angebracht? Die wissenschaftliche Lebensleistung von Adickes bliebe auch dann noch imposant genug. Ein zweites Argument betrifft nun jedoch mindestens eine Schriftphase als ganze, nämlich die β1-Reflexionen insgesamt, die zusammengenommen fast ein Drittel aller Reflexionen des Logiknachlasses ausmachen. Elfriede Conrad hat darauf hingewiesen, dass 240 – beziehungsweise 244 – Reflexionen aus dieser Phase Exzerpte oder Stichworte aus Georg Friedrich Meiers großer Vernunftlehre enthalten.35 Dieser Tatbestand aber habe nicht unerhebliche Konsequenzen für die Datierung. Zunächst nämlich habe Kant die große Vernunftlehre selber als Kompendium benutzt. Dagegen sei es wahrscheinlich, „daß er im Wintersemester 1756/57 erstmals nach dem

33

Vgl. Emil Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen nebst darauf bezüglichen Notizen und. Bemerkungen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Otto Schöndörffer, 5. Bd., Berlin 1909, S. 173–344, hier S. 304 u. S. 313. 34 Vgl. AA XVII VI ff. 35 Vgl. Elfriede Conrad, Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Die Ausarbeitung der Gliederungsentwürfe in den Logikvorlesungen als Auseinandersetzung mit der Tradition, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 71 u. S. 146–154.

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Auszug gelesen hat. Im Lauf dieses Semesters werden die Notizen aus der ersten Vorlage entstanden sein, weil Kant sich [...] täglich auf jede Stunde neu vorbereitet hat. Der wahrscheinlichste Zeitpunkt für die Entstehung der β1-Reflexionen läßt sich damit auf einen engen Zeitraum, nämlich das Wintersemester 1756/57, eingrenzen.“36 Die Datierung der Phase β1 durch Adickes auf das Wintersemester 1755/56 – „Der Terminus ad quem dürfte das W.S. 1755-6 sein, in dem Kant zum ersten Mal über Logik las“37 – bedürfe daher der Korrektur. Eine derartige Korrektur aber wirke sich zwangsläufig auch auf alle nachfolgenden Phasen aus. „Denn die frühen Reflexionen setzen durch ihre Stellung Maßstäbe für die Datierung der späteren. Auch sie wäre in entsprechender Weise zu verbessern, so daß mehr oder weniger alle Reflexionen mindestens ein Jahr später, als Adickes angenommen hat, anzusetzen wären.“38 ,,So würden beispielsweise die für die Interpretation von Kants Inauguraldissertation von 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis so wichtigen κ-Reflexionen, die Adickes auf 1769 datiert hat, nicht vor, sondern nach der Dissertation liegen.“39 Conrads Argumentation ist überzeugend genug. Sie lässt sich jedoch noch verschärfen. Adickes hat nämlich einfach das Erscheinungsjahr des Auszugs aus der Vernunftlehre als frühestmöglichen Zeitpunkt angesetzt: „Es [das Meier’sche Compendium] erschien 1752: dies Jahr bildet also den Terminus a quo für Kants Aufzeichnungen“.40 Sehr umsichtig war das nicht. Denn ein großer Teil der β1-Reflexionen findet sich auf den durchschossenen Seiten des Kompendiums. Solange Kant nach der großen Vernunftlehre las, gab es für ihn aber überhaupt keinen plausiblen Grund, sich ein durchschossenes Handexemplar des Auszugs anfertigen zu lassen. Das hat er in der Regel nur bei den von ihm benutzten Kompendien getan. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass Kant sich sein Handexemplar irgendwann im Jahr 1756, als er den Wechsel zum Auszug plante, herstellen ließ, so dass alle Logikreflexionen der Phasen α2 und β1, zumindest aber die auf den durchschossenen Seiten, in die Jahre 1756/57 fallen dürften. Parvus error in principio magnus est in fine. Da die Plazierung der Notizen auf einer und derselben Seite – die sogenannten ‚Stellungsindicien‘ – für Adickes einen wesentlichen Pfeiler seines Datierungsverfahrens ausmacht, müsste der geschilderte Tatbestand, gerade wenn man die Argumentation von Adickes ernstnimmt, mehr 36

Ebd., 72 f. AA XIV S. XXXVI. 38 Conrad, Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft, S. 73. 39 Ebd., S.73 Anm. 261. 40 AA XIV S. XXXVI. 37

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oder minder starke Rückwirkungen auf alle nachfolgenden Phasen haben. Es kommt noch hinzu, dass Adickes den Logiknachlass ja vor dem Metaphysiknachlass herausgegeben hat, so dass seine dort gebildeten Überzeugungen auch hier ihren Niederschlag gefunden haben werden. Da Adickes den geplanten „Schlussband der Nachlass-Abtheilung“41 nicht mehr liefern konnte, sind die Einzelheiten heute leider nicht mehr zu ermitteln.42 Im Prinzip aber müssten die κ-Reflexionen so frühestens in das Jahr 1770 fallen und Kreimendahls Buch könnte den Titel tragen: Der Durchbruch von 1770 – oder 1771–1772. Zugleich wäre damit auch seinem Dekret: „Tatsächlich ist eine ‚Umdatierung‘ nicht der Reflexionen, wohl aber der drei Etappen Hinskes unumgänglich“ (157) der Boden entzogen und wir könnten uns versöhnt in die Arme sinken.

3

Der Vorrang der Werke

Überdenkt man die Ergebnisse der ersten beiden Abschnitte, so gelangt man am Ende zu dem Resultat: Den eigentlichen Leitfaden für eine Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens müssen aus methodologischen Gründen die von Kant selbst veröffentlichten Schriften bilden. Nur sie können mit hinreichender Sicherheit darüber Aufschluß geben, welchen Weg Kants Denken im einzelnen wirklich genommen hat. Alle anderen Quellentypen, so aufschlußreich sie auch sein mögen, können immer nur ergänzende oder erläuternde Funktion haben – zumindest so lange, bis die Datierungsfrage der Reflexionen endgültig geklärt ist. Wer nicht die Schriften als Leitfaden wählt, begibt sich auf dünnes Eis. Kuno Fischers Clavis Kantiana,43 die sich ja fast ausschließlich auf die Werke stützt, ist in dieser Hinsicht noch immer, so weit die Forschung im einzelnen auch über Fischers Auffassungen hinweggegangen sein mag, das Muster einer Entwicklungsgeschichte. Auf den ersten Blick scheint eine solche These trivial zu sein und offene Türen einzurennen. Die Datierung der Nachlassreflexionen durch Adickes hat es nun aber – allem Anschein nach, ohne dass Adickes selbst das so recht bemerkt hat – mit sich gebracht, dass diese These alles andere als selbstverständlich ist. Träfen die Datierungen von Adickes nämlich tatsächlich zu, so zeigten die Reflexionen nicht selten 41

AA XVII S. IX. Vgl. Hinske, Die Kantausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihre Probleme, a.a.O., S. 243 f. 43 Kuno Fischer, Clavis Kantiana. Qua via Immanuel Kant philosophiae criticae elementa invenerit, Jena 1858. 42

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einen sehr viel fortgeschritteneren Reflexionsstand als die Werke, so dass man ständig hin- und hergerissen wäre, wem von beiden man den Primat einzuräumen hat. Kreimendahl hat dieses Problem hellsichtig bemerkt und dafür auch eine geistreiche Lösung vorgeschlagen: „Die Reflexionen eilen, was kaum zu verwundern ist, den Druckschriften voraus. Diesen Umstand kann man immer wieder beobachten. Er tritt dort am prägnantesten hervor, wo der zeitliche Abstand zwischen einem publizierten Werk und einer vorgelagerten Reflexionsphase gering [ist] und die in ihr gewonnenen Einsichten besonders heftige Erschütterungen von zunächst noch unabsehbarer Tragweite bedeuten“ (119). Die merkwürdige Diskrepanz zwischen Nachlass und Werken wäre damit in der Tat erklärt. Der Gedanke freilich, dass Schreiben bis an den äußersten Rand der Möglichkeiten zu gehen heißt, ist einer solchen Auffassung naturgemäß fremd. Die genannten Probleme kulminieren in Kants Dissertation von 1770. Kreimendahl fährt denn auch fort: „Das ist der Grund, weshalb sich diese Schere [...] zwischen der Inauguraldissertation von 1770 und den ihr vorangehenden Reflexionen der Phasen κ und λ besonders weit öffnet“ (119). Dass die Phase λ – „Ende 1769 – Herbst 1770“44 – nach Adickes die Niederschrift der Dissertation großenteils begleitet und erst nach ihr endet, sei nur am Rande hinzugefügt. In der Tat aber gibt die Dissertation, liest man sie vor dem Hintergrund des Problemstands der κ-Reflexionen, zahlreiche Rätsel auf. Wenn Kant zum Beispiel 1769 bereits so etwas wie einen Widerstreit in der Vernunft selbst, eine Antinomie im strengen Sinne, bemerkt hat, warum ist dann davon in der Dissertation nirgendwo die Rede?45 Kreimendahl tut denn auch alles, um das Gewicht dieser Schrift zu relativieren und damit den Vorrang der κ-Reflexionen zu sichern. Die Dissertation ist für ihn nicht nur eine „Momentaufnahme“ (217, 231) des Kantschen Denkens – was sicher zutreffend ist, aber auch zum Wesen philosophischer Werke gehört –, sie ist vielmehr zugleich auch ein „Kompromiß“ (220) von offenkundiger „Zwitterhaftigkeit“ (214, 225), bei dem man zwischen „progressiven und retardierenden Momenten“ (§ 28) zu unterscheiden habe. Wie es bei einer solchen Sicht der Dinge noch möglich sein soll, der Forderung Kreimendahls nachzukommen, „die Dissertation in ihrer Eigentümlichkeit zu nehmen und als eigenständiges Werk frei von interessegeleiteten Vorgaben für sich selbst sprechen zu lassen“ (234), ist freilich schwer zu erkennen. Kreimendahl sucht alle Zeugnisse zusammen, die geeignet sind, die Bedeutung der Dissertation zu relativieren (§ 27), und lässt alle Zeugnisse beiseite, die ihre Bedeutung betonen könnten. Das gilt beispielsweise für Kants Brief an Johann Heinrich Tieftrunk vom 13. Oktober 1797, in dem Kant ausdrücklich erklärt, in die geplante 44 45

AA XIV S. XXXIV. Vgl. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, S. 12 f. u. S. 107 f. Anm. 361.

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Sammlung seiner kleinen Schriften sollten „nicht ältere als von 1770 darin aufgenommen“ werden, „so daß sie mit meiner Dissertation: de mundi sensibilis et intelligibilis forma etc. anfange“.46 Auch 27 Jahre später ist die Schrift für Kant also noch – im Unterschied zu allen anderen ‚vorkritischen‘ Schriften – von systematischem Wert. Kreimendahls ‚Fazit‘ dagegen bezüglich der Dissertation lautet: „Sie ist weder Ausdruck einer eigenständigen Entwicklungsphase Kants noch darf sie als adäquate Repräsentation seines Denkens um 1770 verstanden werden.“ „Vielmehr muß die Dissertation als eine durch äußeren Druck veranlaßte und inhaltlich unter ganz bestimmten Perspektiven entstandene Momentaufnahme seines Denkens im Frühsommer 1770 gelten.“ „Es liegt daher eine fehlgeleitete Erwartung zugrunde, wenn man sich von ihr erschöpfenden Einblick in Kants Denken der fraglichen Zeit verspricht“ (231). Wie bedenklich eine solche Einschätzung allein schon aus methodologischen Gründen ist, braucht hier nicht noch einmal betont zu werden.47 „Leitthema der Dissertation“ ist für Kreimendahl die „Antinomieproblematik“ (§ 29). Nun verbinden sich in Kants Schrift von 1770, einer der gedankenreichsten Abhandlungen in Kants Oeuvre überhaupt, sicherlich die verschiedensten Problemstellungen, die übrigens alle in dieser oder jener Form mit dem Weltproblem zusammenhängen. Zu ihnen zählen insbesondere das alte, überkommene Problem des commercium substantiarum, das ja erst uns im Windschatten der Kritik so antiquiert erscheint, das Problem des Raumes und der Zeit, das Problem des mundus intelligibilis – dessen Vorgeschichte bis tief in die Antike zurückreicht – mit der in eben diesen Kontext gehörigen Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena, das Problem der moralischen Weltordnung, das Methodenproblem mit der Idee einer scientia propaedeutica noch vor jeder Metaphysik, das Problem eines unvermeidlichen Scheins und der Methoden seiner Aufdeckung mit Hilfe einer Phaenomenologia generalis und nicht zuletzt eben auch die Antinomienproblematik. Jedes dieser Themen, ganz gewiss auch das letzte, ist geeignet, Licht auf die Dissertation als ganze zu werfen. Aber es ist wohl doch etwas zu pointiert formuliert, wenn Kreimendahl erklärt: „Das eigentliche Thema der Dissertation“ ist „kein anderes als das Antinomieproblem“ (233). Man wird es gerade Kant mit seinem ausgeprägten Sinn für sug-

46

AA XII 208. Vgl. Brandt, Rezension, a.a.O., S. 111: „Durch die These, daß die Antinomie der reinen Vernunft 1769 entwickelt ist und mit der subjektivistischen Raum-Zeit-Lehre sogleich als nur scheinbare sistiert werden kann, wird natürlich die Dissertation von 1770 in den meisten Teilen zu einem mißlichen Werk. Kreimendahl [...] muß den Autor in die Lage bringen zu schreiben, woran er selbst nicht mehr glaubt“; vgl. auch ebd., S. 105 Anm. 10. Auch hier aber gilt: Folgt man der Datierung der κ-Reflexionen durch Adickes, so ist die „These, daß die Antinomie der reinen Vernunft 1769 entwickelt ist“, nur zu gut begründet. 47

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gestive Buchtitel schon zutrauen können, dass er in der Lage gewesen ist, das Leitthema, das er bei seiner Schrift im Blick hatte, auch treffend zu formulieren. Der Titel der Schrift aber lautet: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Freilich darf man diesen Titel nicht, wie es seit Tieftrunk – beziehungsweise seit der anonymen Übersetzung von 1797 – bis heute gang und gäbe ist, mit der scheinbar wörtlichen Anlehnung Von der Form und den Principien der Sinnen- und Verstandes-Welt übersetzen.48 Denn die Schrift fragt ja nicht etwa, was immer damit gemeint sein sollte, nach den „Principien der Sinnen- und Verstandes-Welt“. Vielmehr ist „principiis“, wie die parallel lautenden Überschriften der Sectio III und IV unmissverständlich zeigen, auf „forma“ zu beziehen. Eben deshalb hatte ich bei meiner eigenen Übersetzung den Titel gewählt: Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen. Auch diese Formulierung ist zwar nicht ganz eindeutig, lässt die Beziehung von „principiis“ aber zumindest offen. Gefragt wird nach den Gründen nicht der Sinnenwelt, sondern der Form der Sinnenwelt – „De principiis formae mundi sensibilis“49 – und nach dem Grund der Form der Welt der Noumena – „De principio formae mundi intelligibilis“50 –. Grund der Form der Sinnenwelt ist der Mensch als sinnliches Wesen mit seinen reinen Anschauungsformen von Zeit und Raum. Grund der Form der Verstandeswelt dagegen ist Gott als „Architectus“ und „creator“ mundi.51 Eben dies aber ist für Kant die Grundsituation des Menschen: Er hat zugleich in zwei ganz verschiedenen Welten zu leben, einer Welt, die er selbst geschaffen hat und ständig neu schafft, und einer Welt, deren Ordnung seiner Verfügungsgewalt entzogen ist. Diese Situation des Menschen ist das „Leitthema der Dissertation“ und die bleibt auch nach 1770 oder 1772 das Schlüsselthema Kants bis tief in die kritische Philosophie hinein.52 Mit der Dissertation von 1770 hat Kant sozusagen sein Lebensthema gefunden – eine neue, eigenständige Variation der alten, überlieferten Zwei-Welten-Theorie. Bei der Zeit-Raum-Theorie der Sectio III aber, wie zukunftweisend sie auch sein mag, handelt es sich um alles andere als um ein Stück Erkenntnistheorie, das selbstgenügsam in sich selber ruhte. Spätestens das tiefsinnige, für die heutige Kantforschung so befremdliche Scholion am Ende der Sectio IV zeigt es mit aller Deutlichkeit. Kants neue Theorie von Zeit und Raum dient vielmehr

48

Vgl. Immanuel Kant’s vermischte Schriften, hg. v. Johann Heinrich Tieftrunk, 3 Bde., Halle 1799, Bd. 2, S. 489. 49 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 14. 50 Ebd., A 24. 51 Ebd., A 26. 52 Vgl. Kants späteren Zusatz zu der Reflexion 4135: „Das Phänomenon von einem Dinge ist ein Product unserer Sinnlichkeit. Gott ist Urheber der Dinge an sich“, in: AA XVII 42916f.; nach der Datierung von Adickes zwischen 1772 und 1778.

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dem Nachweis, dass die Sinnenwelt im Unterschied zum mundus intelligibilis hinsichtlich ihrer Form eine vom Menschen gestiftete Welt ist. Jede Analyse der „Komposition der Dissertation“ (235) hat daher im Auge zu behalten, dass die parallel angeordneten Abschnitte III und IV die eigentliche Antwort auf die im Titel der Schrift gestellte Frage enthalten. Freilich, dass Kant mit der Antwort der Sectio IV schon bald nicht mehr zufrieden war, zeigt die Reflexion 4349.53 Alle diese Zusammenhänge aber sind zuerst und zunächst der Dissertation selbst zu entnehmen und nicht den sie umgebenden Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses. Diese sind im Ausgang von der Dissertation zu interpretieren, nicht umgekehrt, wenn man „die Dissertation in ihrer Eigentümlichkeit“ (234) verstehen will.

4

Einzelne inhaltliche Dissenspunkte

Schließlich seien hier noch in aller Kürze einige inhaltliche Dissenspunkte unterschiedlichster Art genannt, die zwar großenteils nicht die grundsätzliche Problematik dieser Prolegomena betreffen, für die weitere Diskussion der Kantschen Entwicklungsgeschichte aber nicht ganz unwichtig sind. Angesichts der Masse an Kenntnissen, Einsichten und Perspektiven, die das Buch von Kreimendahl auszeichnen, handelt es sich dabei freilich nur um marginale Beobachtungen: 1. Gelegentlich neigt Kreimendahl anscheinend dazu, Ideen, die sich in Wahrheit bereits in Kants Erstlingsschrift von 1746/49, den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, finden und zu den Konstanten des Kantschen Denkens gehören, in die Umbruchphase der Jahre 1765/66 zu verlegen. Das gilt beispielsweise für die prämissenanalytische „Methode“,54 von der Kant in seinem Brief vom 31. Dezember 1765 an Johann Heinrich Lambert berichtet (129), aber auch für Kants Versuch, „Satze zu beweisen und ihr Gegentheil“,55 von dem in der Reflexion 5037 die Rede ist (133 Anm. 116).56 Schon in den Gedanken heißt es klipp und klar: „Wenn man auf dem Wege ist, alle Gründe herbeizuziehen, welche der Verstand zu Bestätigung einer Meinung, die man sich vorgesetzet hat, darbietet: so sollte man, mit eben

53

AA XVII 515 f. AA X 55. 55 AA XVIII 69. 56 Vgl. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a.a.O., S. 121. 54

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der Aufmerksamkeit und Anstrengung, sich bemühen, das Gegenteil auf allerlei Arten von Beweisen zu gründen, die sich nur irgend hervortun, eben so wohl als man vor eine beliebte Meinung immer tun kann“.57 Klarer kann man die Grundidee der später so genannten skeptischen Methode kaum noch formulieren. 2. Schwer haltbar sind auch die Auffassungen Kreimendahls hinsichtlich der unterschiedlichen Bedeutung, die den einzelnen Antinomien für die Genese des Kantschen Denkens zukommt. So spricht er – gegen Heinz Heimsoeth – wiederholt von einer „entwicklungsgeschichtlich gering zu veranschlagenden Bedeutung der Teilungsantinomie“ (183; vgl. 180). Hand in Hand damit vertritt er die Auffassung, „daß der Antinomiegedanke als Widerspruch der Vernunft mit sich selbst zunächst vorzugsweise auf dem Felde derjenigen kosmologischen Fragen entwickelt wird, die Kant später unter der dritten und vierten Antinomie behandelt“ (191). Ja Kreimendahl erklärt ganz allgemein: „Problemgeschichtlich und auch entwicklungsgeschichtlich bilden also die Themen [...] der dritten und vierten Antinomie [...] die älteste Schicht der kritischen Philosophie“ (191). Auch diese Auffassung setzt sich ziemlich unbekümmert über das Bild hinweg, das sich bei einer Orientierung an den von Kant selbst veröffentlichten Schriften ergibt. Bereits 1756 werden die spätere Thesis und Antithesis der zweiten Antinomie, der Teilungsantinomie, in der Propositio II und III der Monadologia physica der Sache nach klar formuliert und ganz bewusst gegeneinander ausgespielt. Keine der anderen Antinomien wird von Kant so früh auf den Punkt gebracht. Und in der Preisschrift von 1762/6458 greift Kant auf eben diese Argumente der Monadologia physica zurück, um in einer grundsätzlichen Methodenreflexion eben an ihnen den Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie zu erläutern. Aber noch in der Kritik der reinen Vernunft59 bilden die mathematischen Antinomien, also die erste und zweite Antinomie, sozusagen den Regel-, die dynamischen dagegen den Ausnahmefall von Antinomie. Einer der Gründe dafür, dass es gerade die zweite, uns heute so fremd gewordene Antinomie gewesen ist, die Kant derart nachhaltig beschäftigt und beunruhigt hat, mag in dem Umstand zu suchen sein, dass der Streit der beiden Lager, der Leibnizianer und der Newtonianer, hier seinen unübersehbaren Ausdruck fand. So heißt es Anfang der siebziger Jahre in der Logik Philippi: „Den Versuch a posteriori ob ein Satz den man nach allgemeinen Verstandesregeln gemacht haben will, auch bey jedermanns Verstande Beifall finde, kann man nicht

57

Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, A 76. Immanuel Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, A 74. 59 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 556 ff. 58

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entbehren z.E. Die Lehre von den Monaden wird von den Engelländern nicht angenommen. Ist diese Lehre nach den gemeinen Gesetzen des Verstandes, so muß sie auch den Engelländern überzeugend seyn“.60 3. Im Kontext der Paragraphen 21 ff.: „Historische Vorformen der Antinomieproblematik“ – die eine stupende Literaturkenntnis verraten – wäre auch der Beitrag von Bruno Bianco Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff zu berücksichtigen.61 Sein unmittelbares Thema ist zwar nur der Streit zwischen Wolff und den Halleschen Pietisten. In Wahrheit aber handelt es sich bei ihm zugleich um einen der erhellendsten Beitrage zur Vorgeschichte der Kantschen Freiheitsantinomie, Zusammenhänge, auf die auch Bianco selber an verschiedenster Stelle eingeht. 4. Gelegentlich nennt Kreimendahl Hamann „die bei weitem beste und ergiebigste sekundäre Quelle zu dieser Frage“ (101) – gemeint ist die Rolle Humes bei der Entstehung der Kantschen Transzendentalphilosophie. Es sei nur darauf hingewiesen, dass andere Kantforscher der Verlässlichkeit Hamanns, dessen Briefwechsel für die Kantforschung natürlich eine schier unerschöpfliche Quelle ist, sehr viel skeptischer gegenüberstehen. So weist zum Beispiel Karl Vorländer darauf hin, dass „Hamann, der ‚neugierige alte Mann‘, wie Kant ihn gelegentlich nannte, im Auffinden und Verbreiten literarischer Neuigkeiten groß war und von dem großen Philosophen keineswegs in dessen tiefste Gedanken eingeweiht worden sein wird.“62 5. Mit Bezug auf eine größere Zahl von λ-Reflexionen, die Kant „in lateinischer Sprache verfaßt“ hat, äußert Kreimendahl en passant die Vermutung, „daß sie Vorarbeiten zu bzw. Ausgliederungen aus der Dissertation sind“ (246). Auch ich habe lange Zeit ähnlich gedacht; die „paar Bogen“, um die Kant seine Dissertation im September 1770 erweitern wollte, „um sie auf künftige Messe auszugeben“,63 hätten ja wohl auch auf lateinisch abgefaßt sein müssen. Den wahren Grund, warum in Kants Nachlass so erstaunlich viele Notizen auf Latein geschrieben sind, hat jetzt aber Riccardo 60

AA XXIV 388; vgl. Reflexion 2187, in: AA XVI 262 ff.; Logik Blomberg, in: AA XXIV 85 f. Bruno Bianco, Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Zentren der Aufklärung. 1: Halle, Aufklärung und Pietismus, hg. v. Norbert Hinske, Heidelberg 1989, S. 111– 155; die italienische Fassung unter dem Titel Libertà e fatalismo. Sulla polemica tra Joachim Lange e Christian Wolff ist erschienen in: Bruno Bianco, Fede e Sapere. La parabola dell’ ‚Aufklärung‘ tra pietismo e idealismo, Neapel 1992, S. 31–84. 62 Karl Vorländer, Einleitung, in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Karl Vorländer, Leipzig 31906, Neudr. Leipzig 1947, S. XIII; vgl. Ders., Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, Hamburg 1924, 21977, S. 421. 63 AA X 98. 61

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Pozzo genannt: Er liegt in der Gewohnheit der Königsberger Professoren, wie es in einem Schreiben des akademischen Senats an Friedrich den Großen heißt, „unsere Repetitoria grosstenteils lateinisch zu halten“.64 Mit Bezug auf eben dieses Schreiben betont Pozzo zu Recht: „Nei Repetitoria tenuti a Königsberg i professori erano soliti esprimersi, secondo la tradizione locale, ‚per la gran parte in latino‘“.65 Auch Kant ist offenbar dieser Lokaltradition gefolgt und hat sich die Notizen, die der Vorbereitung der Repetitoria dienen sollten, dementsprechend auf Latein gemacht. 6. Bei dem ersten Satz des Paragraphen 8 der Dissertation „Philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri est METAPHYSICA“66 folgt Kreimendahl meiner Übersetzung und schreibt: „Die Metaphysik ist nach § 8 diejenige Philosophie, welche die ‚ersten Grundsätze des Gebrauchs des reinen Verstandes enthält‘“ (234). Nun heißt es aber in der κ-Reflexion 3930: „Die [Wissensch] Philosophie über [alles dasjenige] die Begriffe des intellectus puri ist die Metaphysik“.67 Diese Formulierung legt die Annahme nahe, dass Kant auch in der Dissertation bei dem lateinischen ‚principia‘ nicht nur an ‚Grundsätze‘, sondern zumindest zugleich, wenn nicht gar ausschließlich, an ‚Begriffe‘ gedacht hat. Deshalb habe ich meine ursprüngliche Übersetzung in der sechsten Auflage von 1983, genauer in dem „5., erneut überprüften und ergänzten reprographischen Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1958“ im Rahmen von „Korrekturen und Ergänzungen zur Übersetzung“68 wie folgt geändert: „Die Philosophie nun, welche die ersten Prinzipien des Gebrauchs des reinen Verstandes enthält, ist die METAPHYSIK“. Freilich findet sich diese Korrektur nur in den Ausgaben der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft; während diese im Laufe der Jahre mehrfach revidiert und verbessert worden sind, druckt der Suhrkamp-Verlag in seiner Theorie-Werkausgabe die Erstauflage mit allen ihren Fehlern seit 1960 unverändert nach. 7. Was schließlich den ersten Satz des Paragraphen 28 angeht: „SECUNDAE speciei praeiudicia, cum intellectui imponant per conditiones sensitivas, quibus mens adstringitur, si in quibusdam casibus ad intellectualem pertingere vult, adhuc magis se

64

Zitiert nach Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen, a.a.O., S. 260. 65 Riccardo Pozzo, Catalogus Praelectionum Academiae Regiomontanae 1719–1804, in: Studi Kantiani 4 (1991) 163–187, hier S. 180. 66 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 10. 67 AA XVII 35823f.. 68 Bd. 3, S. 686.

Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens

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abscondunt“,69 so möchte Kreimendahl das Adverb ‚adhuc‘ – mit Klaus Reich70 – in zeitlichem Sinne verstanden wissen: „[...] und verbergen sich deshalb bis jetzt noch mehr“ (240; Hervorhebung nicht im Original). Nun kann ‚adhuc‘ im Lateinischen selbstverständlich auch eine zeitliche Bedeutung haben, ja diese ist sogar die ursprüngliche – ad hoc tempus –. Gegen eine solche Übersetzung spricht im vorliegenden Fall jedoch zunächst einmal die Tatsache, dass Kant ‚adhuc‘ in der Dissertation sonst nirgends in zeitlichem Sinne gebraucht.71 Bereits Tieftrunk und noch Lewis White Beck haben das Wort denn auch – unklassisch, aber dem Latein des achtzehnten Jahrhunderts entsprechend – als Betonung der Steigerung verstanden: „Die Vorurtheile der zweiten Art verbergen sich noch weit tiefer [...]“72; „Preconceptions of the second kind are hidden still more deeply.“73 Eine derartige Übersetzung scheint mir aber auch nach wie vor am besten dem Tenor der gesamten Sectio V zu entsprechen: Für alle „erschlichenen Axiome“ – axioma subrepticia – gilt, dass sie den Verstand täuschen, weil die „Einwirkung der sinnlichen Erkenntnis auf die des Verstandes [...] unechte Grundsätze unter dem Schein von Axiomen erdichtet“: ,,sensitivae cognitionis cum intellectuali contagium [...] ipsa principia spuria sub specie axiomatum effingit“.74 Kants Lehre vom transzendentalen Schein, der sich „nicht [...] bloß bei Unbehutsamen in der Anwendung von Grundsätzen einschleicht“ – „non [...] solum incautis obrepit in applicatione principiorum“75 –, findet hier ihre erste Ausformulierung. So wie Kant nun aber 1770 verschiedene ‚Klassen‘ oder ‚Arten‘ von erschlichenen Grundsätzen annimmt, hat er allem Anschein nach auch zwischen verschiedenen Stufen des Scheins unterscheiden wollen: Manche Arten von ‚erschlichenen Axiomen‘ lassen sich relativ leicht durchschauen, manche schwerer. Eben deshalb und nur deshalb hatte ich mich für die Übersetzung entschieden: „Die Vorurteile der ZWEITEN Art [...] verbergen sich [...] noch mehr“ – mehr nämlich noch als die der ersten). Die Vermutung Kreimendahls: „Der Grund, weshalb er – sc. Hinske – die 69

Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 33. Vgl. Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis/Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt, übers. u. hg. v. Klaus Reich, Hamburg 1958, S. 87. 71 Vgl. Pietro Pimpinella, Antonio Lamarra, Indici e concordanze degli scritti latini di Immanuel Kant, Bd. I: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Rom 1987, S. 48. 72 Immanuel Kant’s vermischte Schriften, hg. v. Johann Heinrich Tieftrunk, a.a.O., Bd. 2, S. 557. 73 Kant’s Latin Writings: Translations, Commentaries and Notes, übers.u. hg. v. Lewis White Beck, New York, Bern u. Frankfurt am M. 1986, S. 182. 74 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 29; vgl. die Kritik der reinen Vernunft, B 353: „Der logische Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht [...], entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel. Sobald daher diese auf den vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der transzendentale Schein dagegen hört [...] nicht auf [...]“. 75 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 29. 70

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von Kant zeitlich gemeinte und auf den gegenwärtigen Stand Sommer 1770 bezogene Bestimmung so wiedergibt, dürfte mit seiner Auffassung von Kants Entwicklungsgang zusammenhängen, die es ihm verwehrt, eine Identifizierung der von Kant im folgenden beschriebenen Antinomien bereits jetzt anzunehmen“ (240), geht daher in die Irre.

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Fazit

Es mag wohl sein, dass in der vorliegenden Studie Irrtümer dieser oder jener Art enthalten sind. Wer das bei seiner Arbeit nicht selbst von vornherein in Rechnung stellt, ist ein schlechter Wissenschaftler. Der Wert der Studie würde durch einzelne Fehler, so unangenehm sie auch sein mögen, jedoch nicht wesentlich beeinträchtigt. Er steht und fällt allein mit der These, dass die Frage nach dem Gewicht der verschiedenen Quellentypen geklärt sein muss, bevor man mit der Arbeit an Kants Entwicklungsgeschichte beginnen kann. Beiläufig in ein paar Fußnoten lässt sich jene Frage heute nicht mehr beantworten. Solange eine zureichende Antwort aber nicht gegeben ist, wird die Uneinigkeit der Kantforscher über Kants Entwicklungsgeschichte kein Ende haben – auch wenn sie auf dem Niveau verhandelt wird, auf das Kreimendahl sie mit seinem Buch gebracht hat.

Ontologie oder Analytik des Verstandes? Kants langer Abschied von der Ontologie Ontologie oder Analytik des Verstandes?

1

Zur Problemlage innerhalb der Kritik der reinen Vernunft

Kant hat das Wort ‚Ontologie‘, genauer: das Substantiv ‚Ontologie‘1 in der ganzen Kritik der reinen Vernunft, einem Werk von 928 Seiten, nur dreimal gebraucht, zweimal in seiner deutschen und ein einziges Mal in seiner lateinischen Form. Gegensätzlicher und beirrender aber konnte die Verwendung eines Begriffs kaum ausfallen. Ziemlich am Ende der ‚Transzendentalen Analytik‘ heißt es: Die Grundsätze des Verstandes „sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen, und der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben [...], muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen“.2 Deutlicher könnte der Abschied von der Ontologie kaum formuliert werden. In der ‚Architektonik der reinen Vernunft‘ dagegen, also 570 Seiten später, erklärt Kant, so als wäre nichts geschehen, resümierend: „Demnach besteht das ganze System der Metaphysik aus vier Hauptteilen. 1. Der Ontologie. 2. Der rationalen Physiologie. 3. Der rationalen Kosmologie. 4. Der rationalen Theologie.3 Und so, als wollte er keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass er damit an Wolff und seine Schule anknüpft, fügt er bei der Definition der Transzendentalphilosophie beziehungsweise Ontologie in gewohnter Manier in Klammern ausdrücklich die lateinische Schreibweise hinzu: „Die Transzendentalphilosophie [...] betrachtet nur den Verstand, und Vernunft 1

Merklich häufiger dagegen, nämlich neunzehn Mal, findet sich das Adjektiv ‚ontologisch‘. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass Kant seine sehr viel frühere Unterscheidung zwischen ontologischem und kosmologischem Gottesbeweis aus seiner Schrift Der einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, A 199, in die Kritik der reinen Vernunft übernimmt. 2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 303/A 246; Kants Druckschriften werden in diesem Beitrag nach der Ausgabe Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956–1964, 61983, zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben: A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage; Kants Briefe und Nachlass werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger – abgekürzt als AA – zitiert. 3 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 874/A 846.

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selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären (ontologia)“.4 „Gegenstände überhaupt“ – beziehungsweise „Dinge überhaupt“ – steht in diesem Zusammenhang, wie zum Beispiel bei Wolff oder Johannes Nikolaus Tetens, für die alte Rede vom ens inquantum ens beziehungsweise ens qua ens – ὂν ᾗ ὂν –. Welche der beiden so unterschiedlichen Äußerungen trifft denn nun wirklich die Auffassung Kants? Alle Beschönigungen und Verharmlosungen helfen an dieser Stelle nicht weiter. Die Hoffnung, man müsse die Kritik der reinen Vernunft nur tief genug verstehen, um über solche Diskrepanzen hinwegzukommen, hat immer nur zu neuen Oberflächlichkeiten der Interpretation geführt. Vielmehr ist die trockene philologische Arbeit hier wie an zahlreichen anderen Stellen des Werks unentbehrlich. Ohne einen Rückgriff auf die von Hans Vaihinger, Erich Adickes, Kemp Smith und anderen entwickelte sogenannte patchwork theory lassen sich Widersprüche dieser Art nicht verstehen.5 Was immer man auch im einzelnen an – teilweise höchst berechtigten – Einwänden gegen diese scheinbar so ‚unphilosophische‘ Theorie vorbringen mag – gerade im vorliegenden Fall wird man an ihrem Grundgedanken nicht vorbeikommen: Wenn Kant die Kritik der reinen Vernunft, das „Product des Nachdenkens von einem Zeitraume von wenigstens zwölf Jahren“, tatsächlich, wie er selbst schreibt, „innerhalb etwa 4 bis 5 Monathen, gleichsam im Fluge“6 zu Papier gebracht hat, so kann das nur bedeuten, dass die Niederschrift des Werks zu einem erheblichen Teil in einer mehr oder minder redaktionellen Zusammenfügung lange vorher unabhängig voneinander ausgearbeiteter Teilstücke bestanden hat, mit der Folge, dass sich in dem Werk am Ende nahezu zwangsläufig die unterschiedlichsten Entwicklungsphasen überkreuzen mussten. Das gilt auch für die hier zu erörternden Probleme. Und doch ist Kants spannungsgeladenes Verhältnis zur Ontologie mit dem Rückgriff auf die patchwork theory nur unzureichend begriffen. Vielmehr gilt es, die verschiedenen Gedankenphasen Kants im Einzelnen herauszuarbeiten. Dabei muss man mindestens bis auf das Jahr 1770 zurückgehen. Denn die Spannung zwischen Analytik des Verstandes und Ontologie, die dann in der Kritik der reinen Vernunft offen zutage tritt, ist bereits in Kants Dissertation von 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, und zwar in deren Theorie des Verstandes, angelegt. Die Dissertation von 1770 aber ist im Unterschied zur Kritik der reinen Vernunft eine 4

Ebd., B 873/A 845. Vgl. dazu zusammenfassend Alfons Kalter, Kants vierter Paralogismus. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zum Paralogismuskapitel der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, Meisenheim am Glan 1975, S. 2–43. 6 AA X 345. 5

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Schrift aus einem Guss, abgefaßt in einem Zeitraum von nur wenigen Monaten. Hinter der Spannung zwischen Analytik des Verstandes und Ontologie verbirgt sich ein sachliches Problem.

2

Kants Theorie eines realen Verstandesgebrauchs in der Dissertation von 1770

Kant unterscheidet im Paragraphen 5 der Dissertation mit bemerkenswertem Nachdruck zwischen einem doppelten Verstandesgebrauch, dem logischen und dem realen Verstandesgebrauch, dem usus intellectus logicus und dem usus intellectus realis. „Vor allem ist wohl zu bemerken, daß der Gebrauch des Verstandes [...] ein zweifacher ist: durch den ersteren werden die Begriffe selber, der Dinge wie der Beziehungen, gegeben, und dies ist der REALE GEBRAUCH; durch den letzteren aber werden sie, woher sie auch immer gegeben sein mögen, nur einander untergeordnet [...], und das nennt man den LOGISCHEN GEBRAUCH“: „ante omnia probe notandum est: usum intellectus [...] esse duplicem: quorum priori dantur conceptus ipsi, vel rerum vel respectuum, qui est USUS REALIS; posteriori autem, undecunque dati, sibi tantum subordinantur [...], qui USUS dicitur LOGICUS“.7

Der logische Verstandesgebrauch hat eine bloße Ordnungsfunktion. Gleichgültig, woher die Vorstellungen auch stammen mögen, aus der Sphäre der Sinnlichkeit oder aus der des reinen Verstandes, überall ist er mit deren Über- oder Unterordnung beschäftigt: „Denn auf welche Art auch immer eine Erkenntnis gegeben sein mag: man betrachtet sie entweder als unter einem Merkmal, das mehrerem gemeinsam ist, enthalten, oder als jenem entgegengesetzt“: „Data enim quomodocunque cognitio spectatur vel contenta sub nota pluribus communi, vel illi opposita“. „Sind mithin sinnliche Erkenntnisse gegeben, so werden durch den logischen Gebrauch des Verstandes sinnliche Erkenntnisse anderen sinnlichen, wie gemeinsamen Begriffen, untergeordnet, und Erscheinungen allgemeineren Gesetzen der Erscheinungen“: „Datis igitur cognitionibus sensitivis, per usum intellectus logicum sensitivae subordinantur aliis sensitivis, ut conceptibus communibus, et phaenomena legibus phaenomenorum generalioribus“.8

7 8

Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 5, A 8. Ebd., § 5, A 8 f.

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Ganz anders dagegen steht es mit dem realen Verstandesgebrauch. Er hat es nur mit solchen Begriffen zu tun, die nicht aus der Erfahrung stammen, sondern vom Verstand selber in einer Form von „ursprünglicher Erwerbung“ – acquisitio originaria – gebildet werden, die also nicht aus der Erfahrung – ex experientia – stammen, sondern nur „anläßlich der Erfahrung“ – occasione experientiae – vom Verstand hervorgebracht werden.9 Als Beispiele nennt Kant an dieser Stelle „Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit, Substanz, Ursache usw. mit ihren Gegen- oder Verhältnisbegriffen“ – possibilitas, existentia, necessitas, substantia, causa etc. cum suis oppositis aut correlatis10 –, also die später so genannten Kategorien. Da diese Begriffe nicht aus der sinnlichen Erkenntnis herrühren, unterliegen sie konsequenterweise auch nicht deren Schranken. Sie repräsentieren die Dinge nicht etwa nur, „wie sie erscheinen“ – uti apparent –, sondern so, „wie sie sind“ – sicuti sunt –.11 Eine eigene Theorie jenes realen Verstandesgebrauchs hat Kant in der Dissertation nicht ausgeführt. Wohl aber hat er eine solche Theorie als dringendes Desiderat empfunden.12 Sie wäre aus ihrem eigenen Duktus heraus nicht weniger eine Theorie der Dinge, wie sie an sich selber sind,13 also eine Ontologie im eigentlichen Sinne, als eine ganz bestimmte Art von Logik, sozusagen eine Reallogik beziehungsweise eine „Exposition der Gesetze der reinen Vernunft“ – expositio legum rationis 9

Ebd., § 8, A 11; vgl. Michael Oberhausen, Das neue Apriori. Kants Lehre von der ,ursprünglichen Erwerbung‘ apriorischer Vorstellungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, sowie die ausführliche Rezension des Buches von Silvestro Marcucci in den Studi Kantiani 11 (1998) 165–170. 10 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 8, A 11. 11 Ebd., § 4, A 8. 12 Vgl. ebd., § 23, A 29. 13 Die lateinische Formulierung ‚sicuti sunt‘ bringt die sich durchhaltende Problemstellung Kants besser zum Ausdruck als die anstößige Rede von den ‚Dingen an sich‘, die in der Geschichte der Kantrezeption zu so vielen Missverständnissen Anlass gegeben hat. Zum menschlichen Urteilen gehört – in unterschiedlichen Modalitäten – unaufhebbar die Affirmation, dass etwas so sei. Selbst der ausgepichteste Skeptiker kommt nicht um eine solche Affirmation herum – alles ist zweifelhaft –. Die sinnliche Erkenntnis – und das heißt zugleich: die gesamte Erfahrungserkenntnis – vermag diesen Anspruch jedoch „aufgrund der besonderen natürlichen Beschaffenheit des Subjekts, [...] die, der Mannigfaltigkeit der Subjekte gemäß, in verschiedenen verschieden sein kann“ – „speciali indole subiecti [...], quae, pro varietate subiectorum, in diversis potest esse diversa“ – wie es in De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 4, A 7, heißt, nicht einzulösen. In der Dissertation versucht Kant, jenem Anspruch mit Hilfe der reinen Verstandesbegriffe, die einer solchen Einschränkung ja nicht unterliegen, zu gewährleisten. Eben deshalb hat die Ontologie in der Dissertation ihren legitimen, unangefochtenen Platz. In dem Augenblick jedoch, in dem Kant zu der Auffassung gelangt, dass auch die reinen Verstandesbegriffe nur eine Ordnungsfunktion für die Erfahrung haben, bleibt die Affirmation des Urteilens für Kant auf theoretischem Wege uneinlösbar. Sie ist ein bloßer Ausgriff ohne konkreten Gegenstand. Das ist der eigentliche Grund für Kants Rede von den Dingen an sich und nicht etwa die Suche nach einer Ursache für die Affizierungen der Sinnlichkeit.

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purae –.14 Im Paragraphen 9 der Dissertation ist denn auch ausdrücklich von den Grundsätzen des reinen Verstandes die Rede, „wie die Ontologie sie liefert“ – qualia exhibet ontologia –.15 Reallogik – beziehungsweise Analytik des Verstandes – und Ontologie sind für Kant zu diesem Zeitpunkt offenbar ein und dasselbe, nur die beiden Seiten derselben Medaille.

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Die Ablösung des realen durch den transzendentalen Verstandesgebrauch

Aus der Absicht, eben jene Dissertation um „ein paar [Druck]bogen“, also schätzungsweise um fünfzig oder sechzig Seiten zu erweitern, „um sie auf künftige [Buch] Messe auszugeben“,16 ist dann schließlich im Laufe eines Jahrzehnts die Kritik der reinen Vernunft entstanden. Wie weit sich Kant aber auch mit der Zeit von bestimmten Auffassungen seiner Dissertation entfernt hat – diese scheinbar bloß akademische Schrift, deren Abfassung äußeren Umständen geschuldet war, bleibt für Kant bis zum Schluss ein zentraler Bezugspunkt, um den seine Gedanken kreisen. Ohne eine gründliche Aneignung der Dissertation ist die Kritik der reinen Vernunft daher auf weiten Strecken überhaupt nicht zu verstehen. Als Kant seinem ehemaligen Schüler Marcus Herz am 1. Mai 1781 das Erscheinen des Werks meldet, schreibt er: „Dieses Buch enthält den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen anfingen, welche wir zusammen, unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligib:, abdisputirten“.17 Das ist alles andere als eine Höflichkeitsfloskel. Schon allein die Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft über die „Ausdrücke eines mundi sensibilis und intelligibilis“18 zeigen aufs deutlichste den Zusammenhang mit der Dissertation. Aber vermutlich muss man noch einen Schritt weitergehen: Wer nicht selber immer wieder von der Frage umgetrieben wird, welche Position Kants denn nun einleuchtender ist, die von 1770 oder die von 1781, wird von dem Gedankenprozess, der schließlich zur Kritik der reinen Vernunft geführt hat, wenig begreifen. Ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Kritik ist für Kant die Frage nach der Möglichkeit, die Kategorien vollständig zu erfassen. In der Dissertation hatte er 14

Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 23, A 29. Ebd., § 9, A 11. 16 AA X 98. 17 AA X 266. 18 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 312/A 256 15

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sich noch mit Beispielen begnügt und die Aufzählung – ähnlich wie Johann Nikolaus Tetens – einfach mit einem et cetera abgeschlossen.19 Aber bereits in seinem berühmten Brief an Herz vom 21. Februar 1772 schreibt Kant: Ich „suchte die transscendentalphilosophie, nemlich alle Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von categorien zu bringen, aber nicht wie Aristoteles, der sie so, wie er sie fand, in seinen 10 praedicamenten aufs bloße Ungefehr neben einander setzte; sondern so wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von selbst in classen eintheilen“.20 Spätestens in der Kritik der reinen Vernunft werden aus jenen „wenigen Grundgesetzen des Verstandes“ beziehungsweise „aus den der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetzen“ – e legibus menti insitis –,21 wie es in der Dissertation noch gut wolffianisch heißt, die zwölf Urteilsformen der Urteilstafel. Auf der einen Seite heißt das: Die Kategorien der Ontologie lassen sich nur im Rückgriff auf die Logik vollständig erfassen. Die Ontologie ist mit innerer Notwendigkeit auf die Logik angewiesen. Auf der anderen Seite aber bedeutet das: Die Logik erfüllt eine Dienstfunktion gegenüber der Ontologie. – Dass Kant hier erstmals den Ausdruck ‚Kategorie‘ verwendet, einen Begriff, der dann in der Kritik der reinen Vernunft fast zweihundert Mal erscheinen wird, sei hier nur am Rande hinzugefügt.22 Die zahlreichen Gedankenschritte nachzuzeichnen, die Kant schließlich zu der Position der Kritik der reinen Vernunft geführt haben, wäre Thema eines umfangreichen Buches. Nur auf einen wichtigen Punkt sei hier in aller Kürze hingewiesen. Im Laufe der Jahre gelangt Kant dazu, für alle drei metaphysicae speciales, die rationale Psychologie, die transzendentale Kosmologie und die natürliche Theologie, so etwas wie einen konstitutiven Grundirrtum auszumachen, der in der Vernunft selbst seine Wurzel hat: die sogenannten Paralogismen, die Antinomie der reinen Vernunft und die Verwechslung mit dem transzendentalen Ideal. Bei der metaphysica generalis dagegen, der Ontologie, ist das so nicht der Fall. Sie krankt nur an „dem gemeinen Vorurteile“ des Menschen, „Erscheinungen für Sachen an sich selbst“ zu nehmen.23 Gegen die naive Überzeugung des Menschen aber, mit seinem Erkenntnisinstrumentar die Wirklichkeit als solche erfassen zu können, ist offenbar kein Kraut gewachsen. Zur Zeit feiert sie gerade in den verschiedensten Einzelwissenschaften, angefangen 19

Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 8, A 11. AA X 132. 21 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 8, A 11. 22 Vgl. Giorgio Tonelli, Das Wiederaufleben der deutsch-aristotelischen Terminologie bei Kant während der Entstehung der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964) 233– 242; in italienischer Übersetzung wiederabgedruckt in: Ders., Da Leibniz a Kant. Saggi sul pensiero del Settecento, hg. v. Claudio Cesa, Neapel 1987, S. 169–180. 23 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 768/A 740. 20

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von der Evolutionstheorie, die nicht zwischen den empirischen Befunden für die Tatsache einer Evolution und der Frage nach deren Funktionsgesetzen zu unterscheiden weiß, bis hin zur Neuropsychologie, fröhlich Urständ. Dass seine Begriffe stets nur der „Exposition der Erscheinungen“24 dienen, will dem Menschen nur schwer in den Kopf. Es widerspricht zu sehr dem affirmativen Charakter, der mit jedem Urteil verbunden ist. Der wichtigste Gedankenschritt jedoch, der im vorliegenden Zusammenhang zu erörtern ist, besteht in einer neuen, der Dissertation schroff entgegengesetzten Aufgabenbestimmung der reinen Verstandesbegriffe, also der Grundbegriffe der überkommenen Ontologie. In der Nachlassreflexion 4172, die der Sache nach unmissverständlich auf den Paragraphen 8 der Dissertation Bezug nimmt, heißt es: „Die durch Vernunft vor aller Erfahrung gegebenen, obgleich bey gelegenheit der Erfahrung von den Gesetzen der Vernunft abstrahirten Begriffe, e.g. des Grundes, sind zum Gebrauch der Erfahrungen dem ordnenden Verstande eingedrükte formen“.25 Auch die reinen Verstandesbegriffe beziehen sich jetzt also offenbar nur noch auf die ‚Dinge, wie sie erscheinen‘ und nicht mehr auf die ‚Dinge, so wie sie sind‘. Sie dienen nur noch dazu, in die Wirklichkeit, mit der es der Mensch zu tun hat, Ordnung zu bringen. Aber wenn das schon für die obersten Grundbegriffe der Ontologie gilt, um wieviel mehr gilt es für alle anderen Begriffe und Grundsätze des Menschen, auf die diese ja in dieser oder jener Form stillschweigend einfließen? Die Grenzbestimmung der reinen Verstandesbegriffe ist deshalb eine Grenzbestimmung des menschlichen Erkennens schlechthin. Sie hat nicht etwa nur die Metaphysik im Blick, sondern auch die einzelnen Wissenschaften.26 Hier liegt auch der Grund, warum Kant von jetzt an nicht mehr von einem ‚realen‘ Verstandesgebrauch sprechen konnte. Er musste sich vielmehr nach einem neuen, passenderen Begriff umsehen. Wie mancher andere „denkende Kopf“ aber war auch er dabei „wegen des Ausdrucks verlegen“. „Neue Wörter zu schmieden“ schien ihm jedoch „eine Anmaßung zum Gesetzgeben in Sprachen, die selten gelingt“.27 Aus dieser Verlegenheit heraus griff er nach dem Terminus ‚transzendental‘. Statt ‚realer gebrauch des Verstandes‘28 heißt es nun „transzendentaler Verstandesgebrauch“:

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Ebd., B 303/A 246. AA XVII 443. 26 Vgl. Norbert Hinske, Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens. Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus, Erlangen u. Jena 1995; in italienischer Fassung in Kant e la filosofia della religione, hg. v. Nestore Pirillo, Brescia 1996, 1. Bd., S. 25–38; wiederabgedruckt in diesem Band S. 241–255. 27 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 368 f./A 312. 28 Vgl. AA XVI 34. 25

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„die reinen Kategorien, ohne formale Bedingungen der Sinnlichkeit, haben bloß tranzendentale Bedeutung, sind aber von keinem tranzendentalen Gebrauch“.29 So anstößig es auch klingen mag: Der Begriff des Transzendentalen ist bei Kant zuerst und zunächst ein Verlegenheitsbegriff und gewinnt erst spät seine epochale Bedeutung. Kant wollte mit seiner Hilfe nicht etwa an eine lange und ehrwürdige Tradition anknüpfen, sondern seinen eigenen Gedanken so klar wie möglich Ausdruck verleihen. Aber natürlich kann man davon ausgehen, dass Kant sich seit seinen Studienjahren – vielleicht tatsächlich vor allem durch Franz Albert Aepinus,30 wie Francesco Tommasi mit guten Gründen plausibel gemacht hat31 – der ontologischen und metaphysischen Konnotationen jenes Begriffs bewusst gewesen ist. Auch aus diesem Grunde ist und bleibt die ontologische Kantinterpretation ein legitimer Ansatz der Kantforschung.

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 305/A 248. Eigens angemerkt sei, dass Franz Albert Aepinus nicht etwa ‚Wolffianer‘ gewesen ist, wie es jetzt in Bd. 3 der neuen Ausgabe der Werke von Tetens heißt, sondern ein höchst charakteristischer Vertreter des späten Deutscharistotelismus; vgl. Johann Nikolaus Tetens, Die philosophischen Werke, Bd. 3: Kleinere Schriften, Tl. 1, hg. v. Jürgen Engfer, Hildesheim, Zürich u. New York 2005, S. XV. 31 Francesco Valerio Tommasi, Philosophia transcendentalis. La questione antepredicativa e l'analogia tra la Scolastica e Kant, Florenz 2008, Kap. II.; vgl. auch Ders., Ein ‚missing link‘ in der Geschichte der Transzendentalphilosophie. Die ‚long durée‘ des akademischen Aristotelismus bei Kant, 2010, in: Sein und Seiendes. Ens, unum, bonum, verum: die Erkenntnislehre der Transzendentalien als Seinsbestimmungen und ihre fortwirkende Bedeutung, hg. v. Christoph Böhr u. Wolfgang Buchmüller, Wiesbaden 2022, S. 331–345. 30

Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff Einige Anmerkungen zur Kritik der reinen Vernunft B 866 ff. Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff

Zur Fragestellung „Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff“. „Es gibt aber noch einen Weltbegriff (conceptus cosmicus), der dieser Benennung jederzeit zum Grunde gelegen hat“.1 Das sind, wie Heinz Heimsoeth es formuliert, „vielzitierte“ Sätze.2 Sie sind in der Kantforschung in zahllosen Büchern und Beiträgen immer wieder repetiert worden, so als brächte der Text keinerlei philologische, historische und sachliche Schwierigkeiten mit sich. Das beginnt spätestens 1801 bei Gottfried Immanuel Wenzel.3 Als ein besonders plakatives Beispiel sei hier nur, stellvertretend für viele andere, das Kantbuch von Hinrich Knittermeyer aus dem Unglücksjahr 1939 angeführt: „Der Schulbegriff der Philosophie ist nach Kant dadurch gekennzeichnet, daß es lediglich auf die logische Einstimmung der Grundbegriffe ankommt, daß der Vernunftkünstler eine technisch vollkommene Lösung anzubieten in der Lage ist.“4 „Wirkliche Philosophie dagegen, oder – wie Kant sagt – der Weltbegriff der Philosophie zeigt sich gebunden an ein umgreifendes Ganzes“.5 Das alles klingt höchst plausibel und sympathisch. Bei näherem Hinsehen aber stellen sich doch zumindest drei eng miteinander verzahnte Fragen: 1. Warum fügt Kant gerade an dieser Stelle zu dem deutschen Wort ‚Weltbegriff‘ in Klammern das lateinische ‚conceptus cosmicus‘ hinzu? Die in einer Anmerkung 1

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 866; Kants Druckschriften werden im Folgenden nach der Ausgabe Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956–1964, 61983, zitiert. 2 Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 4 Tle., Berlin 1966–1971, Tl. 4, S. 798. 3 Vgl. Gottfried Immanuel Wenzel, Canonik des Verstandes und der Vernunft. Ein Commentar über Immanuel Kants Logik, Wien 1801, S. 79. 4 Hinrich Knittermeyer, Immanuel Kant. Vorlesungen zur Einführung in die kritische Philosophie, Bremen 1939, S. 10. 5 Ebd., S. 11.

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nachgeschickte Erläuterung: „Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“6 scheint doch alles zur Genüge zu erklären. 2. In der genannten Anmerkung heißt es: „Weltbegriff heißt hier ...“. Ist das ‚hier‘ ohne besondere Bedeutung oder gibt es in der Kritik der reinen Vernunft am Ende mehrere, miteinander konkurrierende Weltbegriffe? 3. Lässt sich der an dieser Stelle gebrauchte Weltbegriff bestimmten zeitgenössischen Problemlagen zuordnen oder handelt es sich bei ihm um eine Neuschöpfung Kants?

Die Rolle der Methodenlehre im Ganzen der Kritik der reinen Vernunft Vor der Erörterung dieser drei auf den ersten Blick höchst speziellen Fragen sei jedoch wenigstens kurz noch eine ganz andere, weiter ausgreifende Frage gestellt. Sie betrifft den Kontext der zitierten Sätze. Sie stehen in der oft sträflich vernachlässigten Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, genauer: in deren drittem Kapitel beziehungsweise Hauptstück, das ‚Die Architektonik der reinen Vernunft‘ zum Thema hat. Was bedeutet das? Handelt es sich dabei also um Randfragen, die zu den wesentlichen Ergebnissen des Werks nur wenig beisteuern? Zu den verdienstvollsten Beiträgen der Kantforschung der letzten Jahrzehnte zählt die These Claudio La Roccas, bei der Methodenlehre handele es sich nicht etwa um einen Anhang, sondern um die natürliche „porta d’ingresso“,7 um das ‚Eingangstor‘ zu dem gesamten Werk. Die sachliche, aber auch die didaktische Bedeutung dieser These ist von weitreichenden Konsequenzen und sollte die Kantforschung noch lange beschäftigen. Die gerade erschienenen Weltenburger Seminare zur Einführung in die Kritik der reinen Vernunft sind der Anregung La Roccas jedenfalls mit großem Gewinn gefolgt.8 Doch auch in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht ist der Gedanke La Roccas von Belang. Denn die Methodenlehre zählt – zumindest der Idee, aber wohl auch der Ausführung nach – zu den ältesten Teilen der Kritik der reinen Vernunft. Bereits am 24. November 1776 schreibt Kant an Marcus Herz: „Um nun den ganzen Umfang desselben – sc. des Feldes der reinen Vernunft –, die Abtheilungen, 6

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 867. Claudio La Rocca, Soggetto e mondo. Studi su Kant, Venedig 2003, S. 186. 8 Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ‚Kritik der reinen Vernunft‘, hg. v. Norbert Fischer, Hamburg 2010. 7

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die Grenzen, den ganzen Inhalt desselben nach sicheren principien zu verzeichnen und die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen könne, ob man auf dem Boden der Vernunft, oder der Vernünfteley sich befinde, dazu gehören: eine Critik, eine Disciplin, ein Canon und eine Architektonik der reinen Vernunft“.9 Die ersten drei Kapitel der Methodenlehre scheinen für Kant also schon zu diesem Zeitpunkt festzustehen, die ‚Critik‘ der reinen Vernunft dagegen, vermutlich die spätere ‚Elementarlehre‘, scheint Ende 1776 noch von recht bescheidenem Umfang gewesen zu sein. Welches jener drei Kapitel der erst später so genannten Methodenlehre für Kant dabei das wichtigste gewesen ist, lässt sich wohl nicht entscheiden. Auch bei Christian Wolffs großer lateinischer Logik wäre die Frage, welchem der Kapitel seiner Logica practica denn nun der Vorrang gebühre, ja wohl kaum zu beantworten. Fest aber steht: Die eingangs zitierten Sätze der Kritik der reinen Vernunft führen entwicklungsgeschichtlich wie sachlich gesehen mitten in deren Zentrum. Wie aber steht es mit jenen drei konkreten philologischen und philosophiehistorischen Fragen, die gleich am Anfang formuliert worden sind? Sie führen in dorniges Gelände.

Die Bedeutung des lateinischen Wortes ‚cosmicus‘ Die scheinbar nebensächliche Frage nach Sinn und Bedeutung des Klammerzusatzes bringt gleich mehrere Probleme mit sich. Als erstes ist festzustellen, dass Kant das Wort ‚cosmicus‘ in seinen Druckschriften sonst nie gebraucht hat.10 Es ist ein Hapaxlegomenon. Das bringt die Kantinterpretation in die missliche Lage, dass sie sich auf keine Parallelstellen stützen kann, um den Sinn des Wortes zu ermitteln. Ein Übel aber kommt selten allein. Erschwerend kommt nämlich hinzu, dass es sich, zumindest was das Latein des 18. Jahrhunderts angeht, um ein höchst ungebräuchliches Wort handelt. Das Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum von Ken Aso, Masao Kurosaki, Tanehisa Otabe und Shiro Yamauchi, in zahllosen anderen Fällen eine schier unerschöpfliche Fundgrube an historischen Quellen, nennt so gut wie keinen Beleg.11 Auch auf dem Umweg über die Quellengeschichte ist der 9

AA X 199. Vgl. Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften, hg. v. Gottfried Martin, Bde. 16 u. 17: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, bearb. v. Dieter Krallmann u. Hans Adolf Martin, Berlin 1967, Bd. 16, S. 217. 11 Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum, hg. v. Ken Aso, Masao Kurosaki, Tanehisa Otabe u. Shiro Yamauchi, Tokio 1989, S. 767. Im lateinisch-deutschen Teil findet sich kein einziger Beleg; im deutsch-lateinischen Teil wird Christian August Crusius, Entwurf der 10

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Sinn des Wortes also kaum zu ermitteln, so dass allen möglichen Spekulationen Tür und Tor geöffnet ist. Zwar finden sich im Mittellateinischen Wörterbuch und in anderen Nachschlagewerken einige spärliche Belegstellen. Doch eine Bedeutung zum Beispiel wie „zum Weltall gehörend“12 ist wohl gerade nicht das, was Kant bei seinem Klammerzusatz im Sinn gehabt hat. Wäre es nicht das Ende jeder seriösen Philologie, so könnte man fast zu der Annahme verleitet werden, es handele sich im vorliegenden Fall um einen Druckfehler. Gerade bei Klammerzusätzen ist Kant ja so manches Malheur passiert. Doch welches andere Wort könnte man denn an die Stelle von ‚cosmicus‘ setzen? Das ist keine rhetorische Frage. Nun scheint es aber doch zumindest eine Parallelstelle zu geben, an welcher der Klammerzusatz gleichfalls auftaucht. In der sogenannten Jäsche-Logik, die im Band IX der Akademie-Ausgabe, also innerhalb der Abteilung der ‚Werke‘ abgedruckt ist, heißt es unter anderem: „Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft“.13 „Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unsrer Vernunft nennen“.14 Der Allgemeine Kantindex von Gottfried Martin verzeichnet demgemäß bei dem Wort ‚cosmicus‘ für Kants Werke insgesamt zwei Belegstellen.15 Was ist von dieser Parallelstelle zu halten? Handelt es sich überhaupt um eine wirkliche Parallele? Jäsches Handbuch zu Immanuel Kants Logik war – gemessen an den Maßstäben seiner Zeit – eine bedeutende Leistung und ist noch heute in mancherlei Hinsicht so etwas wie ein Schlüsseltext – und ein bequemes, manchmal allzu bequemes Nachschlagewerk dazu. Aber die philologische Arbeit der letzten zweihundert Jahre hat auch die Probleme aufgezeigt, die mit diesem Text verbunden sind. Wer diese philologische Arbeit ignoriert und die Jäsche-Logik einfach als einen Kanttext wie jeden

nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden, Leipzig 1 1745, Neudr. Hildesheim 1964, genannt, der – §§ 331 u. 370 – von der „conservatio nexus cosmici“ durch Gott handelt. Nach den Angaben von Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, S. 47, besaß Kant die zweite Auflage. Möglicherweise hat Kant das Wort ‚cosmicus‘ also durch Crusius kennengelernt. Der Kontext ist bei Crusius jedoch ein ganz anderer als bei Kant. 12 Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, hg. v. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2. Bd., München 1999, Sp. 1960. 13 Immanuel Kant, Logik Jaesche, in: AA IX 23. 14 AA IX 24 f. 15 Vgl. oben Anm. 10.

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anderen behandelt, läuft Gefahr, in alle möglichen Fallen zu tappen.16 Schon Benno Erdmann hat darauf hingewiesen, dass Gottlob Benjamin Jäsche bei der Abfassung seines Handbuchs nicht etwa nur Kants handschriftliche Reflexionen zur Logik, sondern daneben auch eine Vorlesungsnachschrift, die Logik Hoffmann, benutzt hat.17 Diese Nachschrift ist in den Wirren des Zweiten Weltkriegs abhanden gekommen. Aber auch in mehreren anderen Vorlesungsnachschriften stößt man im vorliegenden Zusammenhang auf das Adjektiv ‚cosmicus‘. In der Wiener Logik beispielsweise, in der es gleich dreimal belegt ist, heißt es unter anderem: „System ist aus principiis a priori. Dies ist die Philosophie im scholastischen Sinne. Man hat aber auch eine Philosophie nach einem conceptu cosmico, und denn ist sie eine Wissenschaft von den letzten Endzwecken der menschlichen Vernunft“.18 „Philosophie in sensu cosmico“ ist „eine Wissenschaft von den höchsten Maximen des Gebrauches unserer Vernunft“.19 Die Parallelen zur Jäsche-Logik sind, auch wenn das Wort ‚Weltbegriff‘ in der Wiener Logik nicht fällt, schwer zu übersehen. Ähnlich klingt es in der Logik Hechsel: „Das ist nun die philosophie in der scholastischen Bedeutung: Wir könen uns aber auch eine phylosophie nach einem Welt Begrif machen, d:h: wo die phylosophi nicht bloß nach den Regeln der Schule, sondern auch nach der Welt betrachtet wird, und da ist sie die Wißenschaft von den letzten Entzweken der menschlichen Vernunft.“20 Wieder anders liest man es in der Warschauer Logik: „Das System der Philosophischen Erkentniße ist Philosophie in sensu scholastico. In sensu Cosmico aber ist sie die Wißenschaft von den lezten Entzwecken der menschlichen Vernunft.“21 Die Vielfalt der Belegstellen, an denen die Redewendung ‚in sensu cosmico‘ in dieser oder jener Form in den Vorlesungsnachschriften auftaucht, könnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, Kant habe diese Formulierung in seinen Vorlesungen immer wieder gebraucht. Sie gehöre gewissermaßen zu seinem Standardrepertoire. Aber das ist eine Art von optischer Täuschung, der man zunächst nur allzuleicht erliegt. In Wahrheit liegen die Dinge ganz anders. Allem Vermuten nach hat ein einziger Schreiber, der – an dieser Stelle – die Urfassung, sozusagen den Archetyp, der 16

Vgl. Norbert Hinske, Die Jäsche-Logik und ihr besonderes Schicksal im Rahmen der AkademieAusgabe, in: Kant-Studien 91 (2000), Sonderheft: Zustand und Zukunft der Akademie-Ausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Schriften, hg. v. Reinhard Brandt u. Werner Stark, S. 85–93. 17 Vgl. Terry Boswell, Quellenkritische Untersuchungen zum Kantischen Logikhandbuch, Frankfurt am M. 1991, S. 13 ff. 18 AA XXIV 798. 19 AA XXIV 799. 20 Immanuel Kant. Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschriften II. Logik Hechsel. Warschauer Logik, bearb. v. Tillmann Pinder, Hamburg 1998, S. 292. 21 Ebd., S. 520.

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Nachschriften geliefert hat, diese Redewendung verwandt. Die verschiedensten Abschriften haben sie dann mehr oder minder wörtlich übernommen. Auf diesem Umweg ist sie schließlich auch in die Jäsche-Logik gelangt. Der Schreiber der Urfassung aber hat sie vermutlich sogar der Kritik der reinen Vernunft selbst entnommen. Denn in Kants handschriftlichen Reflexionen des Logiknachlasses, also im Band XVI der Akademie-Ausgabe, ist das Wort nirgends zu finden. Es bleibt daher dabei: Das Adjektiv ‚cosmicus‘ ist bei Kant – trotz seiner späteren Karriere in der Kantforschung – ein Hapaxlegomenon. Eine überraschende Sonderstellung nimmt im vorliegenden Zusammenhang die Logik Pölitz ein. Dort nämlich liest man: „In sensu scholastico ist [...] Philosophie das System der philosophischen Vernunfterkenntnisse aus Begriffen; in sensu cosmopolitico aber ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft.“ „Die Philosophie im Schulbegriff ist blos ein Organon der Geschicklichkeit. Der Philosoph in sensu cosmopolitico ist der, der die Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft zu gewissen Zwecken hat.“22 Die Frage, ob es Karl Heinrich Ludwig Pölitz gewesen ist, der den Text an dieser Stelle korrigiert hat, oder ob man die Logik Pölitz einer anderen Traditionslinie der Logiknachschriften zuordnen muss, ist unbeantwortbar. Doch wie wäre es, wenn in der Kritik der reinen Vernunft gar nicht ‚cosmicus‘, sondern ‚cosmopoliticus‘ zu lesen wäre?

Die beiden konkurrierenden Weltbegriffe der Kritik der reinen Vernunft Kant gebraucht den Terminus ‚Weltbegriff‘ in der Kritik der reinen Vernunft insgesamt neun Mal, sechs Mal im Zusammenhang mit seiner Antinomienlehre und dreimal in der Architektonik.23 Nur hier hat er den Klammerzusatz ‚sensus cosmicus‘ für nötig gehalten. Schon das könnte die Vermutung nahelegen, er verwende in der Kritik der reinen Vernunft zwei ganz verschiedene Weltbegriffe und wolle mit Hilfe jenes Zusatzes die Einführung einer neuen Bedeutung anzeigen. Für diese Annahme spricht aber auch ein anderer wortstatistischer Befund. In der zweiten Auflage der Kritik benutzt Kant nämlich 279 Mal den Terminus ‚Reihe‘, und 22

Zur Zugehörigkeit des Abschnitts zur Logik Pölitz – und nicht zur Metaphysik Pölitz – vgl. Norbert Hinske, Kant-Index, Bd. 6: Stellenindex und Konkordanz zur ‚Logik Pölitz ‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. XI f. u. S. XVI. 23 Vgl. Sachindex zu Kants Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Gottfried Martin, bearb. v. Dieter Jürgen Löwisch, Berlin 1967, S. 332.

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zwar vor allem mit Bezug auf das Antinomieproblem.24 Der Grund dafür findet sich bei Wolff. Durch ihn hatte der Begriff der ‚Reihe‘ beziehungsweise der ‚series‘ in der philosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts Karriere gemacht. Wolff definiert die Welt nämlich in seiner Deutschen Metaphysik als „eine Reihe veränderlicher Dinge [...], die neben einander sind, und auf einander folgen, insgesamt aber mit einander verknüpfet sind“.25 Wolff hat diese Definition im Laufe seines Denkens wenigstens dreimal geändert.26 An dem Begriff der ‚Reihe‘ aber hat er hartnäckig festgehalten, und das gegen die scheinbar plausibelsten Einwände.27 Es ist kaum anzunehmen, dass dies aus bloßer Arroganz geschah. Kant hat zwar 1770 in seiner Dissertation Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen – De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis – auf Alexander Gottlieb Baumgartens – beziehungsweise Johann Christoph Gottscheds – „negative“28 Weltdefinition zurückgegriffen29 und die Welt als dasjenige Ganze definiert, das nicht mehr Teil von etwas anderem ist: „totum quod non est pars“.30 Vielleicht hielt er eine solche Form der Definition tatsächlich für glücklicher. Aber seine ständige Reflexion auf die Probleme, die der Begriff der ‚Reihe‘ mit sich bringt, zeigt, wie stark ihn die Weltdefinition Wolffs und die mit ihr verbundenen Diskussionen beschäftigt haben. – Ganz am Rande sei hinzugefügt: Schon aus diesem Grunde ist die These Jean Écoles, Kant habe im großen und ganzen immer nur die Kompendien der Wolffianer, kaum aber Wolff selbst studiert, so nicht zu halten.31 Kants handschriftlicher Nachlass ist voll von Aufzeichnungen, die sich 24

Vgl. Norbert Hinske, Che cosa significa e a qual fine si pratica la storia delle fonti? Alcune osservazioni di storia delle fonti sulla antinomia kantiana della libertà, in: Studi Kantiani 19 (2006) 113– 120, hier S. 117 f. 25 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720, § 544, S. 332 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u.a., Abt. I, Bd. 2, Hildesheim 1997.]. 26 Vgl. Chang Won Kim, Der Begriff der Welt bei Wolff, Baumgarten, Crusius und Kant. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte von Kants Weltbegriff von 1770, Frankfurt am M. 2004, S. 59 ff.: § 3: Die Gründe Wolffs für die Veränderungen der Definition des Weltbegriffs. Eigens hingewiesen sei auf die meisterhafte Rezension von Manuel Sánchez Rodrigues in: Kant-Studien 101 (2010) 134– 137. 27 Vgl. Kim, Der Begriff der Welt bei Wolff, Baumgarten, Crusius und Kant, a.a.O., S. 106 ff.: § 5: Der Einwand Joachim Langes. 28 Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 6. 29 Vgl. Kim, Der Begriff der Welt bei Wolff, Baumgarten, Crusius und Kant, a.a.O., S. 131 ff.: Kap. 2: Der Begriff der Welt bei Alexander Gottlieb Baumgarten. 30 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 1. 31 Vgl. Jean École, De la connaissance qu'avait Kant de la metaphysique wolffienne, ou Kant avaitil lu les ouvrages métaphysiques de Wolff?, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 73 (1991) 261– 276.

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im Zusammenhang mit dem Weltproblem mit den Schwierigkeiten beschäftigen, die der Begriff der Reihe nach sich zieht.32 Seine Unterscheidung beispielsweise zwischen bloßer Zeitreihe und Kausalreihe, die deutlich auf Wolff Bezug nimmt, zählt zu den bleibenden Leistungen seines Denkens und ist gerade heute wieder von höchster Aktualität.33 Kant hat es sich bei der Auseinandersetzung mit Wolff nicht so leicht gemacht wie Reinhard Brandt. In der Kritik der reinen Vernunft haben wir es daher mit zwei ganz verschiedenen Weltbegriffen zu tun. Der eine gehört zum ‚Schulbegriff‘, der andere zum ‚Kulturbegriff‘ von Philosophie, so könnte man es vielleicht in Anlehnung an Alois Riehl formulieren.34 Kant ist sich dieser Unterschiede nur zu gut bewusst gewesen. Eben deshalb fügt er in der ‚Architektonik‘, in der er auf einen ganz anderen Weltbegriff zurückgreift, zum Schutz vor Verwechslungen in Klammern „sensus cosmicus“ hinzu. Selbst wenn der Text der Kritik der reinen Vernunft an dieser Stelle korrekt sein sollte, ist damit, wenn nicht alles täuscht, der Sache nach so etwas wie ‚sensus cosmopoliticus‘ gemeint. Für die Gesamtkonzeption der Kritik der reinen Vernunft bedeuten die Überlegungen dieses vierten Abschnitts ein unvermeidliches Einerseits – Andererseits. Denn die genannten beiden Weltbegriffe, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sind aufs engste miteinander verzahnt. Die Philosophie hat nicht die Freiheit, sich nach Belieben für den einen oder für den anderen zu entscheiden. Auf der einen Seite nämlich handelt es sich bei den Fragen, die insbesondere der Wolffsche Weltbegriff mit sich bringt, um Fragen, die sich dem Denken unvermeidlich stellen. Sie sind ihm „durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“.35 Wer sich nicht an ihnen abarbeitet, gerät nur zu leicht auf Abwege unterschiedlichster Art und läuft Gefahr, sich mit irgendwelchen Surrogaten zufrieden zu geben. Der heutige Wissenschaftsbetrieb hält Beispiele genug dafür parat. Es ist eben nicht so, dass Kant diese Fragen einmal für allemal erledigt hatte. Sie tauchen vielmehr in verändertem Gewand immer wieder

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Vgl. Norbert Hinske, Kants Rede vom Unbedingten und ihre philosophischen Motive, in: Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens. Akten des 1. Kongresses der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1989, hg. v. Hans Michael Baumgartner u. Wilhelm G. Jacobs, 1. Bd., Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 265–281. 33 Vgl. Norbert Hinske, Natur und Freiheit im Denken Kants, in: Natura. XII Colloquio internazionale. Roma 4-6 gennaio 2007, hg. v. Delfina Giovannozzi u. Marco Veneziani, Florenz 2008, S. 473– 484; wiederabgedruckt in diesem Band S. 131–143. 34 Vgl. Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus. Geschichte und System, Bd. 1: Geschichte des philosophischen Kritizismus, Leipzig 1876, 21908, S. 295. 35 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A VII.

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neu auf.36 Auf der anderen Seite aber betreffen diese Fragen nicht dasjenige, worum es dem Menschen bei seiner Orientierungssuche wirklich zu tun ist. Sie betreffen, wie Kant es immer wieder formuliert, nicht „die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“.37 Eben deshalb bedarf es zugleich und zuvor noch eines ganz anderen Verständnisses von Welt, eines Weltbegriffs nicht innerhalb der Philosophie, sondern eines Weltbegriffs von Philosophie.

Der neue Weltbegriff Um nicht erneut der schweren Sünde einer „Rückdatierung des Neuen“38 beschuldigt zu werden, soll an dieser Stelle auf quellengeschichtliche Analysen, auch wenn sie „philologisch notwendig“39 sein mögen, verzichtet werden. Statt dessen sei nach konkreten zeitgenössischen Konstellationen gefragt, die bei Kants zweitem Weltbegriff Pate gestanden haben können. Die vielleicht lapidarste Fassung jenes neuen Weltbegriffs findet sich in dem von Johann Jakob Engel herausgegebenen Magazin Der Philosoph für die Welt, dessen erster Band 1775 erschienen ist. Es hat auf seine Weise wenn schon nicht Philosophiegeschichte, so doch zumindest Begriffs- und Sprachgeschichte gemacht. Schon sein Titel bringt die neue Bedeutung von ‚Welt‘ aufs klarste zum Ausdruck. Christoph Böhr schreibt: „Mit dem Titel seines Magazins Der Philosoph für die Welt hat Johann Jakob Engel dem Anliegen der Popularphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine begriffliche Fassung gegeben, die seitdem in der Philosophiegeschichtsschreibung fortlebt.“40 In einem „Zusatz“ des Herausgebers Engel heißt es denn auch am Ende des ersten Bandes kurz und bündig, der Herausgeber verstehe „unter der Welt, das ganze gemengte Publicum“.41

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Vgl. ebd., B 297: „Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals völlig los werden kann.“ Vgl. auch ebd., B 354, B 449 und öfter. 37 Ebd., B 867. 38 Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, 22009, S. 54. 39 Ebd. 40 Christoph Böhr, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 67. 41 Der Philosoph für die Welt, Teil 1, S. 365, in: Johann Jakob Engel, Schriften, Bd. 1, Berlin 1801, Neudr. Frankfurt am M. 1971, S. 365.

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An kaum einer anderen Stelle wird aber auch der tiefgreifende Unterschied zwischen Engel und Kant deutlicher sichtbar. Engels vollständige Begriffsbestimmung von ‚Welt‘ nämlich lautet, der Herausgeber verstehe unter „Welt, das ganze gemengte Publicum, wo der Eine mehr für diese, der Andre mehr für jene Gegenstände ist, der Eine mehr diesen, der Andre mehr jenen Ton liebt“.42 Auch für Engel geht es demgemäß letzten Endes nur um „beliebige Zwecke“.43 Kant dagegen erklärt in schroffem Gegensatz dazu: „Weltbegriff heißt hier [nämlich im Unterschied zur transzendentalen Dialektik] derjenige [Begriff von Philosophie], der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“.44 Eben deshalb spricht Kant immer wieder von den „wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft“45 oder – mit Johann Joachim Spalding und Moses Mendelssohn als Stichwortgeber – von der Bestimmung des Menschen. Kant hat sich 1777 an dem zweiten Teil von Engels Magazin mit einem eigenen Beitrag Von den verschiedenen Rassen der Menschen beteiligt. Schon von daher war ihm also die neue, ganz anders geartete Verwendung von ‚Welt‘ geläufig. Ursprünglich handelte es sich bei Kants Beitrag übrigens um seine Vorlesungsankündigung für das Sommersemester 1775. In dem ursprünglichen Text dieser Ankündigung erklärt Kant: „Die physische Geographie, die ich hiedurch ankündige, gehört zu einer Idee, welche ich mir von einem nützlichen akademischen Unterricht mache, den ich die Vorübung in der Kenntniß der Welt nennen kann. Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt, eingeführt wird“.46 In einem Brief an Marcus Herz benutzt Kant aber auch schon Ende 1773 die Redewendung „Kentnis der Welt“.47 Dass Kant in diesem Kontext nicht an Wolff und seine Schule, sondern an Männer wie Engel gedacht hat, liegt auf der Hand. ‚Welt‘ ist nun nicht mehr ein Thema der Kosmologie, sondern vor allem der Anthropologie – und der Moralphilosophie. In Kants Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie aus den späten siebziger Jahren findet sich eine wichtige Parallele zu dem hier diskutierten Abschnitt der Kri-

42

Ebd. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 867 Anm. 44 Ebd. 45 Ebd., B 867. 46 AA II 443; in der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Ausgabe Werke in sechs Bänden etwas versteckt in Bd. 6, S. 26. 47 AA X 146. 43

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tik der reinen Vernunft. Sie ist fast schon so etwas wie eine frühe Fassung oder Paraphrase des dortigen Textes. So heißt es beispielsweise: „Von dem[jenigen] kann ich nur sagen, daß er philosophire, der sich bemüht die obersten Zwecke und die Bestimmungen [= Bestimmung?] seiner Vernunft vestzusetzen“.48 „Der Philosoph als ein Führer der Vernunft, leitet den Menschen zu seiner Bestimmung. Seine Erkenntniße gehen also auf die Bestimmung des Menschen“.49 „Wenn der Philosoph alle seine Spekulation, Wißenschaft etc. mit den Zwecken, mit der Bestimmung des Menschen verbindet, dann ist er ein Führer und Gesetz Geber der Vernunft“.50 Es ist gut möglich, dass Kant auch hier ähnlich wie im Naturrecht Feyerabend51 unmittelbar aus seiner Werkstatt spricht und nur das wiederholt, was er daheim gerade niedergeschrieben hat. Erinnert sei noch einmal an seinen Brief an Herz vom 24. November 1776. Auffällig ist, dass Kant das Wort ‚Bestimmung‘ beziehungsweise ‚Bestimmung des Menschen‘ hier wie an zahlreichen anderen Stellen ohne jede nähere Erläuterung gebraucht. Die nächstliegende Erklärung für diesen Sachverhalt liegt wohl in der Annahme, dass Kant stillschweigend davon ausgegangen ist, dass Spaldings immer wieder aufgelegte, nachgedruckte und übersetzte Erfolgsschrift über Die Bestimmung des Menschen seinen Lesern und Hörern in dieser oder jener Form präsent gewesen ist. Es muss alles in allem offen bleiben, inwieweit Kant mit allen Überlegungen Spaldings im einzelnen einverstanden gewesen ist. Im Grundzug aber scheint Kant, auch wenn er dem Begriff der ‚Bestimmung‘ zugleich eine neue, geschichtsphilosophische Bedeutung hinzufügt,52 mit Spalding einer Meinung gewesen zu sein. Sonst hätte er das Stichwort schwerlich so distanzlos gebraucht. Es ist so ausgeschlossen

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AA XXIX 8. Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske u. Gianluca Sadun Bordoni, Kant-Index, Bd. 30: Stellenindex und Konkordanz zum ‚Naturrecht Feyerabend‘, Teilbd. 1: Einleitung des ‚Naturrechts Feyerabend‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. IX ff.; die gesamte neue Edition des Naturrecht Feyerabend umfasst zwei weitere Teilbände: Teilbd. 2: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Text und Hauptindex, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014; Teilbd. 3: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Konkordanz und Sonderindices, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014. 52 Vgl. Norbert Hinske, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, hg. v. Michael Albrecht, Eva J. Engel u. Norbert Hinske, Tübingen 1994, S. 135–156; Norbert Hinske, Le cose buone sono sempre tre. La riproposizione della domanda sul progresso nel Conflitto delle facoltà, in: Kant e il Conflitto delle facoltà. Ermeneutica, progresso storico, medicina, hg. v. Corrado Bertani u. Maria Antonietta Pranteda, Bologna 2003, S. 191–211. 49

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nicht, dass auch die Rede von den „wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft“53 zunächst einmal vor dem Hintergrund von Spaldings Religionsphilosophie zu lesen ist.54 So wichtig die Geschichtsphilosophie für Kant auch gewesen ist – es ist nicht die Geschichts-, sondern die Religionsphilosophie, die für ihn bei der Frage nach der Sinnbestimmung des menschlichen Daseins das letzte Wort behält. Eben deshalb ist der ‚Kanon der reinen Vernunft‘, das zweite Hauptstück der Methodenlehre, für ihn auch ein unverzichtbarer Bestandteil der Kritik der reinen Vernunft. Wer ihn beiseite schiebt, versteht das Werk nur halb. Die Enzyklopädievorlesung ist nicht die erste Fassung der hier zur Diskussion stehenden Überlegungen Kants. Wichtige Notizen finden sich insbesondere in den handschriftlichen Bemerkungen des Nachlasses zur Logik, die zu Kants Zeiten ja zugleich die Aufgabe hatte, eine erste Einführung in die Philosophie überhaupt zu geben. Ein gutes Beispiel bietet die Reflexion 1652. Sie befindet sich gleich auf den ersten Seiten von Kants Handexemplar von Meiers Auszug aus der Vernunftlehre und ist – wenn denn die schwankende Datierung von Erich Adickes zutrifft – zumindest einige Jahre vor der Enzyklopädievorlesung entstanden. In ihr heißt es unter anderem: „Man könte Weltwissenschaft und Weltweisheit unterscheiden; die erste ist Gelehrsamkeit, die Zweyte Kentnis von der Bestimmung nach Verstand und Wille. Metaphysik und Moral.“ Und Kant fügt hinzu: „Weisheit ist die Beziehung – sc. einer Erkentnis – zu den wesentlichen Zweken der Menschheit“.55

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 867. Vgl. allem voran ebd., B XXXII f.: „[...] hat vielmehr, was das erstere betrifft, die jedem Menschen bemerkliche Anlage seiner Natur, durch das Zeitliche (als zu den Anlagen seiner ganzen Bestimmung unzulänglich) nie zufrieden gestellt werden zu können, die Hoffnung eines künftigen Lebens [...], so fern sie auf Vernunftgründen beruht, ganz allein bewirken müssen: so bleibt ja nicht allein dieser Besitz ungestört, sondern er gewinnt vielmehr [...] noch an Ansehn“. – Dass ich ,,für ein anderes Leben gemacht“ bin, ist seit der ersten Auflage von 1748 seiner Schrift Über die Bestimmung des Menschen eines der wichtigsten, unverändert bis zuletzt vorgetragenen Resultate der Reflexionen Spaldings: Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Albrecht Beutel, Daniela Kirchkowski u. Dennis Prause, Tübingen 2006, S. 181 [Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe, Erste Abteilung: Schriften, Bd. 1.] – Text der 7. Auflage 1763–11. Auflage 1794: „Wie sehr wird nun nicht durch diese große Erwartung mein Werth und meine Bestimmung erhöhet? Ich erkenne nunmehro, daß ich zu einer ganz anderen Classe von Dingen gehöre, als diejenigen sind, die vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und vergehen; und daß dieses sichtbare Leben bey weitem nicht den ganzen Zweck meines Daseins erschöpfe. Ich bin also für ein anderes Leben gemacht. Die gegenwärtige Zeit ist nur der Anfang meiner Dauer; er ist meine erste Kindheit, worin ich zu der Ewigkeit erzogen werde; Tage der Zubereitung, die mich zu einem neuen und edleren Zustande geschickt machen sollen.“ Ganz ähnlich auch Spalding in seiner Schrift Das glückliche Alter. Eine Betrachtung, Berlin u. Leipzig 1758, S. 12: „Der Mensch ist zur Unsterblichkeit geschaffen.“ 55 AA XVI 66. 54

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Allem Vermuten nach ist es also vor allem Engels Magazin Der Philosoph für die Welt gewesen, das bei Kants neuem Weltbegriff Pate gestanden hat. Doch nicht nur der Begriff der ‚Welt‘, auch der davon zumindest quellengeschichtlich zu unterscheidende Begriff des ‚Weltbürgers‘ macht in eben diesen Jahren Karriere. Beides waren Themen, die sozusagen in der Luft lagen. Schon allein wegen der im dritten Abschnitt angeführten Passagen der Logik Pölitz muss im vorliegenden Zusammenhang auch von ihm wenigstens kurz die Rede sein. An erster Stelle ist dabei wohl das Dessauische Philanthropin zu nennen, die von Johann Bernhard Basedow gegründete reformpädagogische Erziehungsanstalt, für die sich Kant in den Jahren 1776/78 in geradezu frappierender Weise engagiert und exponiert hat. In seinen Aufsätzen, das Philanthropin betreffend56 fällt 1776/77 gleich zweimal das Wort ‚Weltbürger‘, ein Wort, das er zuvor in seinen Veröffentlichungen nur ganze zweimal benutzt hatte. Das knüpft unmittelbar an Basedows gerade erschienene Propagandaschrift an, die den bezeichnenden Titel trägt Für Cosmopoliten Etwas zu lesen, zu denken und zu thun.57 Aber schon 1771 hatte Basedow in seinem Agathokrator erklärt: „Ein rechtschaffner Weltbürger ist zugleich an seinem Orte ein eifriger Patriot. Meine Absichten und Arbeiten sind zugleich patriotisch und weltbürgerlich.“58 „Ich zweifle auch nicht, die Welt habe eine Anzahl guter Männer, welche wenn sie mit gleichem Eifer als Hauptpersonen an der Schulverbesserung arbeiten wollten, mich sehr übertreffen würden.“59 Kant ist auf dieses Stichwort in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zurückgekommen. Es nennt eines der zentralen Motive seines Denkens. In einer tiefgreifend veränderten Welt, in der das – nur wenig durchdachte – Schlagwort der Globalisierung grassiert, sollte die Philosophie dieses vielschichtige Thema nicht allein den Ökonomen überlassen.

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AA II 445–452. AA II 524. 58 Johann Bernhard Basedow, Agathokrator: oder von Erziehung künftiger Regenten nebst Anhang und Beylagen, Leipzig 1771, S. 207. 59 Ebd., S. 208. 57

Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft aus der protestantischen Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts Über eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantischen Antinomienlehre Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft

Kants ‚Antinomienlehre‘ wird in der Regel als eine festgefügte, in sich geschlossene Theorie verstanden, die Kant zu einem bestimmten Zeitpunkt – über ihn gehen die Auffassungen weit auseinander – ,entdeckt‘ und in die Kritik der reinen Vernunft aufgenommen habe. Seit jener Zeit bilde diese Theorie einen festen Bestandteil der kritischen Lehre, den Kant später aus einer gewissen Anhänglichkeit an Formalien mehr oder weniger schematisch auf seine beiden anderen Kritiken übertragen habe.1 Das Zentrum dieser Theorie liege in dem Abschnitt von der „Antithetik der reinen Vernunft“,2 also in der Aufstellung der vier kosmologischen Antinomien. In der Konsequenz eines solchen Verständnisses sind die beiden Begriffe ‚Antinomie‘ und ‚Antithetik‘ als gleichbedeutende Wechselbegriffe, also als eine überflüssige Verdoppelung der Termini, betrachtet worden. In Wahrheit aber laufen in Kants Antinomienlehre ganz verschiedenartige Gedankenstränge zusammen, die teilweise bis in die ersten Anfänge seines Denkens 1

Vgl. etwa Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus, Geschichte und System, 1. Bd.: Geschichte des philosophischen Kritizismus, Leipzig 1876, 21908, S. 14: „Es soll übrigens nicht geleugnet werden, dass Kants Terminologie in ihrer allzu üppigen Ausspinnung eine zu weit getriebene Vorliebe für Symmetrie und das Aeusserliche der Systematik verrät. ... Jede philosophische Disziplin ferner, die Aesthetik (in unserem heutigen Sinne) und die Teleologie so gut wie die Ethik wird nach dem Muster eines logischen Lehrbuches abgehandelt; jede erhält daher eine Elementar- und eine Methodenlehre, eine Analytik und eine Dialektik und es versteht sich, dass überall auch eine ‚Antinomie‘ obligat ist, und müsste eine solche, wie es am augenscheinlichsten von der Antinomie der teleologischen Urteilskraft der Fall ist, erst eigens erfunden werden.“ 2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 448–489; Kants Druckschriften werden in diesem Aufsatz nach der Ausgabe Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956–1964, 31966, in der Originalpaginierung zitiert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_9

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zurückreichen, teilweise erst später hinzutreten, und Kants Überlegungen lebenslänglich in Atem gehalten haben.3 Die Antinomienlehre der Kritik der reinen Vernunft ist nur ihre eindringlichste und strengste Artikulation. Sie ist nicht das endgültige Resultat einer philosophischen ‚Entwicklung‘, sondern eher ein momentaner Querschnitt durch einen nie zur Ruhe kommenden Reflexionsprozess. An mehr als einer Stelle verrät sie die Verschiedenheit ihrer ursprünglichen Elemente, die nie zu fugenloser Einheit zusammengefunden haben. Einer der frühesten Gedankenstränge nun ist theologischer Herkunft: Er stammt aus der protestantischen Kontroverstheologie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Die Konfessionsstreitigkeiten im Gefolge der Reformation führen hier zu einem neuen, theologischen Typ von Antithetik, dessen unvergleichlicher Ernst nicht ohne weitreichende anthropologische Konsequenzen bleibt. Aus der umfangreichen Literatur dieses Gebietes sollen im folgenden drei charakteristische Autoren ausgewählt werden, um an ihnen in der gebotenen Kürze zu verdeutlichen, wie sich innerhalb der protestantischen Kontroverstheologie eine eigene Theorie der Antithetik herausbildet, die auf Kant unmittelbaren Einfluss genommen hat. Einen ersten, wichtigen Schritt auf diesem Weg zur Antithetik exemplifiziert die 1686 erschienene Collatio doctrinae pontificiorum et protestantium4 des lutherischen Theologen Johann Wilhelm Baier, der von 1647 bis 1695 lebte.5 Ziel dieses Werks, das lange als Lehr- und Schulbuch im Universitätsbetrieb gedient hat, ist ein umfassender Überblick über die zwischen Katholiken und Protestanten anstehenden Kontroversen. Zu diesem Zweck konfrontiert Baier die Glaubenssätze der beiden Religionsparteien in der Weise, dass jeweils auf der linken Spalte der Seite die katholische, auf der rechten die protestantische Auffassung zu stehen kommt.6

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Vgl. Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1970, S. 105. 4 Johann Wilhelm Baier, Collatio doctrinae pontificiorum et protestantium, Jena 1686. Im Prinzip die gleiche Anlage und Verwendung der Begriffe ‚Thesis‘ und ‚Antithesis‘ zeigt auch Baiers Collatio doctrinae Quakerorum et protestantium una cum harmonia errorum Quakerorum et heterodoxorum aliorum, Jena 1694. 5 Zu Baier vgl. Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 2. Bd., Leipzig 1897, S. 359 ff.; Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 2. Aufl., 1. Bd., Tübingen 1927, Sp. 738; 3. Aufl., 1. Bd., Tübingen 1957, Sp. 846; Neue deutsche Biographie (NDB), 1. Bd., Berlin 1953, S. 543 f. 6 Vgl. dazu die folgende Textabbildung.

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Als Überschrift gebraucht Baier dabei stets die Titel „Thesis“ und „Antithesis“7. Schon hier sei daran erinnert, dass Kant rund hundert Jahre später in seiner Kritik der reinen Vernunft bei der Gegenüberstellung der vier kosmologischen Antinomien die gleichen Titel und im Prinzip das gleiche drucktechnische Verfahren anwenden wird. Während die antithetische Gegenüberstellung der Glaubenssätze bei Baier noch auf bloße Übersichtlichkeit aus ist, „Thesis“ und „Antithesis“ hier also noch als formale Ordnungsbegriffe fungieren, kommt es wenig später bei Paul Anton – von 1661 bis 17308 –, Professor für Exegese, Polemik und Praktische Theologie in Halle und 7

Die gleiche bloß formale Verwendung des Begriffspaars findet sich beispielsweise bei dem lutherischen Theologen und Abt von Marienthal, Johann Andreas Schmid, der von 1652 bis 1726 lebte, in dessen Breviarium theologiae polemicae specimen controversiarum generalium cum pontificiis exhibens, Helmstedt 1718. Schmid behandelt insgesamt acht fundamentale „Kontroversen“ unter dem gleichbleibenden fünfteiligen Schema: „I. Status controversiae“ – der Stand der Diskussion –; „II. Thesis eiusque confirmatio“ – die protestantische Auffassung und ihre Begründung –; „III. Antithesis eiusque rationes“ – die katholische Auffassung und ihre Argumente –; ,,IV. Historia huius controversiae et scopus" – die Geschichte des Streits und die ihm unausgesprochen zugrunde liegenden Interessen –; V. „Antitheseos refutatio“ – die Widerlegung der katholischen Auffassung – . Nicht unwichtig ist, dass schon Schmid nach dem Ursprung oder der Quelle der Kontroversen fragt und diese gelegentlich in bestimmten „Vorurteilen“ sucht; vgl. ebd., S. 15: „Oritur haec disputandi methodus ex praeconcepta opinione ...“. – Gelegentliche Verwendung finden die beiden Begriffe auch bei Johannes Olearius, der von 1611 bis 1684 lebte, in seiner Universa theologia positiva, polemica, exegetica et moralis, Halle 1678, S. 1345: „Cujus fundamenta, thesin et antithesin attinentia, exhibet Theol. Pos.“ – sowie vor allem bei seinem gleichnamigen Neffen Johannes Olearius, 1639 bis 1713, in dessen Handbuch Synopses controversiarum selectiorum, cum hodiernis Pontificiis, Calvinianis, Socinistis, Remonstrantibus, Fanaticis, Coccejanis et Cartesianis, Graecis, Judaeis, Antiscripturariis sive Rationalistis, Leipzig 1710. Bei ihm wird in den einzelnen Synopses die katholische Auffassung jeweils unter dem Stichwort „Antithesis catholica“ zusammengefaßt – das damit zum Titelbegriff avanciert; vgl. ebd., S. 23: „Singulas porro singularum synopseon Controversias secundum seriem Locorum Communium in Antithesi Catholica sic exhibuimus, ut Autores tum errantes, tum veritatem ab Erroribus vindicantes fideli ac diligenti studio allegaverimus“. 8 Zu Paul Anton vgl. Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 1. Bd., Leipzig 1896, S. 598 ff.; Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., 1. Bd., a.a.O. Sp. 397; 3. Aufl., 1. Bd., a.a.O. Sp. 459 f.; Neue deutsche Biographie, 1. Bd., a.a.O. S. 319 f. – Nicht uninteressant ist, dass Anton von 1687 bis 1689 den sächsischen Prinzen Friedrich August, den späteren August den Starken, als Reiseprediger nach Frankreich, Spanien, Portugal und Italien begleitet hat und dadurch mit den verschiedenen Konfessionen unmittelbar in Berührung gekommen ist. Eines der ältesten Motive philosophischer Skepsis und Antithetik: Reisen, Kenntnis fremder Länder, Sitten und Kulturen, findet hier seine theologische Version. „Auf Reisen kommt man aber unter allerley Religionen“, bemerkt Paul Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, Nach der in den Thesibus Breithauptianis Befindlichen Ordnung der Theologischen Materien Anno 1718. und 1719. gehalten. Aus dem, Was verschiedene Auditores dem sel Auctori nachgeschrieben/gesammlet und herausgegeben Von Ioh. Ulrico Schwentzel, Halle 1732, S. 12, lakonisch.

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neben August Hermann Francke und Joachim Justus Breithaupt einer der führenden Kopfe des dortigen Pietismus, zu einer ausgebildeten Theorie der Antithetik. Anton ist der Autor eines umfangreichen, 1732 postum veröffentlichten Collegium anti-theticum universale fundamentale.9 Antithetik erscheint hier geradezu als Grundbegriff der Theologie; das gilt sowohl für die Substantivbildung „Antitheticum“ als auch für das Adjektiv, das in den verschiedensten Verbindungen – zum Beispiel adplicatio antithetica (S. 13), casus antitheticus (S. 3), historia antithetica (S. 21), lectio antithetica (S. 28), scriptor antitheticus (S. 7), studium antitheticum (S. 8, S. 10, S. 13) – auftaucht. Die Absicht, die Anton mit seiner antithetischen Theologie verfolgt, geht dahin, den Kontroverstheologen aus der Rolle des bloßen Fechtkämpfers zu befreien und zu einem tieferen Verständnis seines Faches vorzudringen. Dieses Ziel versucht Anton dadurch zu erreichen, dass er die „Antithesis“ ins Subjekt zurückverlegt und so in ihrer inneren Notwendigkeit begreift. Jede ernsthafte Antithesis ist nicht nur der zufällige, vermeidbare Fehler oder Irrtum des Anderen, sondern zuerst und zunächst die ständige Anfechtung des eigenen Glaubens: „sine malo meo cognito kan ich von eines andern malo nicht zulänglich urtheilen“ (S. 7); „Wer bey der Antithesi nur auf andere siehet, und sich selbst vorbey gehet, wird des besten Schatzes dabey müssen entbehren“ (S. 19).10. Diese innere Notwendigkeit der „Antithesis“ aber hat für Anton ein anthropologisches Fundament: sie gründet „in dem corrumpirten Verstande und Willen“ des Menschen (S. 5); „weil man die Erb-Sünde in sich hat, hat man auch die tenebras originales in sich“ (S. 3).11 Anton fügt hinzu: „ich bin ... der Meinung, daß wo darauf bey allen Controversien mit Ernst reflectiret wird, werde das Studium Po-

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Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale. Nach der in den Thesibus Breithauptianis Befindlichen Ordnung der Theologischen Materien Anno 1718. und 1719. Gehalten, a.a.O.; die nachfolgenden Seitenangaben innerhalb des Textes beziehen sich auf dieses Werk. 10 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 805: „Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen. Denn spekulative Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauche ist an sich dialektisch. Die Einwürfe, die zu fürchten sein möchten, liegen in uns selbst. Wir müssen sie, gleich alten, aber niemals verjährenden Ansprüchen hervorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichtigung zu gründen. Äußere Ruhe ist nur scheinbar. Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden“. 11 Ähnliche Überlegungen finden sich beispielsweise schon bei Johann Wilhelm Baier, De enthusiasm prima origine, et incrementorum causis ac remediis, programma invitatorium ad disputationes publicas XXX. super collatione sua doctrinae Quakerorum et protestantium, o. O. o. J., S. 5 (unpaginiert): „Et profecto vel una haec observatio nos docet, quam difficile praestitu ac speratu sit, istud malum – sc. erroris enthusiasmi – e mundo tollere, ad quod humanae mentes inde a lapsu ipsaque nascendi sorte adeo proclives factae sunt“. Doch scheint Anton der erste gewesen zu sein, der aus der Lehre von der Erbsünde grundsätzliche Schlüsse für eine Theorie der Antithetik gezogen hat.

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lemicum nicht so steril und taediös seyn, als es bishero geworden, da sich alle Lumpen Kerl, die sich ein wenig haben signalisiren wollen, daran gemacht, und sich nur beflissen, die Leute brav herunter zu machen, und gleichsam wie auf einem FechtBoden agirt haben“ (S. 3).12 Vor den „elenchus externus“, die Widerlegung fremder Irrtümer, hat daher im Felde der Kontroverstheologie der „elenchus domesticus“ zu treten: die Reflexion auf die eigene Anlage zum Irrtum. Erst die Rückbesinnung auf die Antithesis im eigenen Innern eröffnet mir ein zureichendes Verständnis für die Antithesis des Anderen und deren Gründe, erst sie erlaubt es, die gegnerische Position von innen heraus zu begreifen. Daher gilt es zuerst und zunächst, „zu untersuchen, was für propensiones ad errores bey uns stecken, und was für principia bey uns verborgen liegen, die uns hinreissen würden in Scepticismum13, Naturalismum, Atheismum, etc. wenn wir uns gelassen blieben. Fängt man aber von sich selbst an, so kommt man auf die fontes errorum“ (S. 8). Deshalb „soll man bey einer ieden Controvers sich selber fragen: Was trage ich für principia in meinem Busen“ (S. 5). „Wie man ... die Thesin erst auf sich selber appliciren muß, also muß es auch bey der Antithesi geschehen“ (S. 5).14 12

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XV: die – überlieferte – Metaphysik ist ,,ein Kampfplatz …, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können.“ 13 Was den neuen, theologischen Typ der Antithetik vielleicht am deutlichsten von der traditionellen philosophischen Antithetik unterscheidet, ist seine scharfe Ablehnung der Haltung des Skeptizismus und Indifferentismus. Diese Ablehnung zieht sich wie ein roter Faden durch die kontroverstheologische Literatur: vgl. Olearius, Universa theologia, a.a.O., S. 1180: „Scepticismus est Theologiae pestis“; Olearius, Synopses controversiarum selectiorum, a.a.O., S. 4: „Primus ergo aberrandi gradus est de veritate Dei dubitare“; Anton, Collegium anti-theticum, a.a.O., S. 1: „Sceptici und solch Gesindel“; ebd., S. 19: „Hinc Antithesis necessaria repudiato Indifferentismo omnium Pseudo-Irenicorum.“Auch das findet eine gewisse Entsprechung bei Kant, der seine Befürwortung der skeptischen Methode immer wieder mit einer entschiedenen Verurteilung des Skeptizismus verbindet: vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 451: die skeptische Methode „ist vom Skeptizismus gänzlich unterschieden, einem Grundsatze einer kunstmäßigen und szientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt, um, wo möglich, überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen. Denn die skeptische Methode geht auf Gewißheit“; vgl. auch Kants Logik, A 131: „So schädlich nun aber auch dieser Skeptizism ist: so nützlich und zweckmäßig ist doch die skeptische Methode“. Die nachkantische Geschichte der Dialektik ist ohne diese in der Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts vorgezeichnete Verbindung von antithetischer Methode und gleichzeitiger Abwehr ihres skeptischen Resultats nicht zu verstehen. 14 Diese Ausführungen scheinen in Halle geradezu als Schlüsseltext empfunden worden zu sein; vgl. die anonym erschienenen Vernünftigen und bescheidenen Anmerckungen über die, wider die Wollfische Philosophie, und sonderlich die Metaphysic oder Haupt-Wissenschaft erregte, und bisher mit groser Heftigkeit geführte Strittigkeiten verfasset von einem aufrichtigen Liebhaber sowol der Wahrheit, als auch der Gottseligkeit, Frankfurt u. Leipzig 1736, in: Vier Schriften zum Ende von Wolffs

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‚Thesis‘ und ‚Antithesis‘ sind demzufolge ihrem ursprünglichen Sinn nach nicht auf die verschiedenen Religionsparteien verteilt, sondern in seiner ‚Natur‘ verwurzelte Möglichkeiten des einen und selben Menschen. Von hier aus begreift Anton die gesamte Geschichte als eine Geschichte der sich ständig wiederholenden Antithesis: „Das gibt nun Gelegenheit das gantze planum historico-biblicum respectu antitheseos uns vorzustellen. Denn die Feindschaft – scil. zwischen Mensch und Schlange – ist gesetzt und bleibt gesetzt, und kan durch das gantze Syntagma biblicum observiret werden.“ „Da kan einer sich also leicht historiam antitheticam paradigmaticam aus der Bibel colligiren“.15 Was Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Einleitung zu seiner Wissenschaft der Logik von Kant rühmt: er habe „die Dialektik höher gestellt, ... indem er ihr den Schein von Willkür nahm, den sie nach der gewöhnlichen Vorstellung hat, und sie als ein notwendiges Tun der Vernunft darstellte“,16 gilt daher in hohem Maße auch für Anton. Dieser ist einer der wichtigsten und originellsten Vorläufer der modernen Dialektik, seine antithetische Theologie, so sehr sie auch in Vergessenheit geraten sein mag, markiert einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem Denken, das die Gegensätze in ihrer inneren Notwendigkeit zu begreifen sucht. Die Neuartigkeit seines theologischen Ansatzes ist den Zeitgenossen sehr wohl bewusst gewesen. Johann Ulrich Schwentzel, der Herausgeber des Collegium anti-theticum, bemerkt in § 16 seiner Vorrede: „Dasjenige ... , was man in diesem Wercke, als etwas gantz besonders, und dadurch es vor allen übrigen bishero bekannt gewordenen Polemischen Schriften einen ausnehmenden und sehr reellen Vorzug hat, antrifft, ist die bey einem ieglichen Articul gleich Anfangs geschehene Entdeckung der von Natur in allen Menschen liegenden unläugbaren Abgeneigtheit von der Wahrheit, und hingegen gewaltigen Neigung zum Widerspruch gegen die Wahrheit, folglich des Samens zu allen Abwegen und Irrthümern“. Der dritte Autor nun, der in diesem Zusammenhang genannt werden muss, ist Kants theologischer Lehrer Franz Albert Schultz – er lebte von 1692 bis 176317 –, erster Lehrperiode an der Universität Halle, hg. v. Stefan Borchers, Hildesheim 2012 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, Abt. III: Materialien und Dokumente, B. 130, S. 74]: „der selige Herr D. Anton pflegte allezeit, wenn er auf Theologische Strittigkeiten kam, dabey zu erinnern, daß, ehe man wider andere, die von uns in Lehr-Sätzen abgiengen, zu schreiben oder zu disputiren anfienge, man in seinen eigenen Busen vorher greifen, und festiglich glauben solte, daß wir so wol, als andere den Irr. Geist bey uns hätten, und daher auch eben sowol, als sie, irren könten.“ 15 Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, a.a.O., S. 21. 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Nürnberg 11812, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 31951, S. 38. 17 Zu Franz Albert Schultz vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., 5. Bd., Tübingen 1931, Sp. 308 f.; 3. Aufl., 5. Bd., Tübingen 1961, Sp. 1580.

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eine der Schlüsselfiguren des ‚Königsberger Pietismus‘. Schultz ist das Bindeglied zwischen Anton und Kant. Etwa um die Zeit, in der Anton sein zweites großes Collegium antitheticum universale – das der postumen Veröffentlichung zugrunde lag – in den Jahren 1718 und 1719 gehalten hat, hat Schultz in Halle studiert. Johann Heinrich Zedlers Universallexikon berichtet, er habe dort 1717 ein Gespräch zwischen Joachim Lange und Christian Wolff vermittelt und sei auch weiterhin in engstem Konnex mit seinen Hallischen Lehrern geblieben.18 In seinen Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie Kants schreibt Georg Hollmann: „Schultz hatte ... in Halle und zwar nur in Halle studiert. Die Einwirkungen, die er dort erfuhr, waren für sein ganzes späteres Leben entscheidend“.19 Der starke Einfluss, den Schultz über viele Jahre hinweg auf den jungen Kant ausgeübt hat, kann nicht in Zweifel stehen. Die enge Beziehung zwischen beiden wird von Kants Biographen vielfaltig bezeugt.20 Schultz war, wie Hollmann es formuliert, „der specielle Seelsorger, Hausfreund und Berater der Familie“ Kant.21 Und Ludwig Ernst Borowski berichtet in seiner Kantbiographie, dass Kant als Student die Dogmatikvorlesung von Schultz „unausgesetzt“ gehört habe.22 Eben diese Dogmatikvorlesung nun, von der sich in der Universitätsbibliothek Königsberg eine – während des Zweiten Weltkriegs wohl endgültig verschollene – Nachschrift befand, trug den aufschlussreichen Titel Theologia Thetico-Antithetica23

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Grosses vollständiges Universal Lexicon, Verlegts Johann Heinrich Zedler, Bd. XXXV, Leipzig u. Halle 1743, Nachdr. Graz 1961, Sp. 1606. 19 Georg Hollmann, Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie Kants, in: Altpreussische Monatsschrift NF XXXVI (1899) 1–40, hier S. 21. 20 Vgl. Ehregott Andreas Christoph Wasianski, Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, Königsberg 1804, S. 87 ff. 21 Hollmann, Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie Kants, a.a.O. S. 32. 22 Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuels Kant’s, Königsberg 1804, S. 28. Eine Erläuterung und Bestätigung dieser Angabe findet sich in einem Bericht, den Kants Studienfreund Christoph Friedrich Heilsberg kurz nach Kants Tod gegeben hat: vgl. Kantiana. Beiträge zu Immanuel Kants Leben und Schriften, hg. v. Rudolf Reicke, Königsberg 1860, S. 50: „Wir Wlömer, Kant und ich entschlossen daher im nechsten halben Jahr, die öffentliche Lese Stunden, des noch im besten Andenken stehenden Consistorial Rath Dr. Schultz, und Recht Pfarrer der Altstadt zu besuchen. Es geschah; wir versäumten keine Stunde, schrieben fleißig nach, wiederholten die Vorträge zu hause, und bestanden beym Examen welches der würdige Mann oft anstellte unter der Menge von Zuhörern, so gut, daß er beim Schluß der letzten Lese Stunde, uns dreien befahl noch zurückzubleiben; frug uns nach unsern Nahmen, Sprachen Kenntnisse, Collegien Lehrern und Absichten beym studieren ... Warum hören sie denn Theologica (es war wo ich nicht irre Dogmatik) frug er allen dreien? Kant antwortete: aus Wißbegierde“. 23 Hollmann, Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie Kants, a.a.O. S. 49.

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beziehungsweise, wie es in den Lektionskatalogen hieß: Collegium Thetico-Polemicum et morale.24 Sie erstreckte sich nach den Angaben, die auf dem ersten Blatt der Nachschrift standen, über die Zeit von Mai 1741 bis August 174425 und wurde danach in den Jahren 1744 und 46 von Schultz noch einmal wiederholt.26 Die Nähe zu Anton ist im Titel der Nachschrift unverkennbar. Ähnlich wie dieser das Verfahren eingeschlagen hatte, „Antithesin thesibus nostris parallelam zu tractiren“,27 und mit Nachdruck betonte, ,,daß alle libri thetici auch mit antithetici sind“,28 stellt auch Schultz den engen Zusammenhang von „Theologia thetica“ und „Theologia antithetica“ heraus. Dass das Adjektiv „antithetisch“ schon im Titel der Vorlesung auftaucht, geht allem Vermuten nach gleichfalls auf Anton zurück. Über den Aufbau und Inhalt des Kollegs, vor allem über die ihm zugrunde liegende Konzeption von Antithetik, ist aus den Ausführungen Hollmanns, der die Nachschrift wiederentdeckt hatte, für den vorliegenden Zusammenhang nichts zu entnehmen; doch lässt die enge Beziehung zwischen Schultz und den Hallischen Pietisten auf eine mehr oder minder starke inhaltliche Verwandtschaft mit Anton schließen. Ob die Rezeption des Wolffschen Rationalismus, die für Schultz charakteristisch ist, auch seine Idee der Antithetik modifiziert hat, muss eine offene Frage bleiben. Jedenfalls aber steht fest, dass Kant mit dem Begriff der Antithetik wie mit der polemischen Methode der Kontroverstheologie seit seiner Studienzeit vertraut gewesen ist. Während der Begriff der ‚Antinomie‘ von Hause aus ein juristischer Begriff ist,29 stammt der Begriff der ‚Antithetik‘ bei Kant aus dem Umkreis der Theologie. Schon allein die Begriffsgeschichte zeigt dem-

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Ebd., S. 52. – Die beiden verschiedenen Formulierungen des Vorlesungsthemas illustrieren dabei sehr anschaulich das Vordringen einer neuen Terminologie. An die Stelle der älteren Unterscheidung von ‚theologia positiva‘ und ‚theologia polemica‘ – beziehungsweise ‚elenchtica‘ – tritt die Zweiteilung in ‚theologia thetica‘ und ‚theologia antithetica‘, die dann später bei Kant zu der Unterscheidung von Thetik und Antithetik führen wird. 25 Bei Joseph Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in der ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen, Hamburg 1938, S. 22, findet sich der Druckfehler: „1774“ – statt richtigerweise: 1744. Von daher erklärt sich auch die irrige Angabe – Schultz ist 1763 gestorben! – in dem wichtigen und kenntnisreichen Aufsatz von Giorgio Tonelli, Kant und die antiken Skeptiker, in: Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, hg. v. Heinz Heimsoeth, Dieter Henrich u. Giorgio Tonelli, 6. Bd.: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, Hildesheim 1967, S. 93–123, hier S. 121 Anm. 100: „Fr. A. Schultz las bis in die 70er Jahre über ‚Theologia thetico-antithetica‘.“ 26 Hollmann, Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie Kants, a.a.O. S. 52. 27 Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, a.a.O., S. 4. 28 Ebd., S. 6. 29 Vgl. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a.a.O., S. 101 ff. Anm. 341 u. 346.

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zufolge die Diskrepanz der Gedankenstränge, die in Kants Antinomienlehre zusammenlaufen. Einer von ihnen, daran kann kein Zweifel bestehen, ist theologischer Herkunft. Damit aber stellt sich zugleich die Frage nach den inhaltlichen Einflüssen dieser antithetischen Theologie auf Kants eigenes Denken. Einen ersten greifbaren Hinweis gibt dabei wohl Kants Vorlesungsankündigung für das Sommersemester 1758 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, an deren Ende sich die Mitteilung findet: „In einer Mittwochs- und Sonnabendsstunde werde ich die in den vorigen Tagen abgehandelte Sätze – scil. der Metaphysik – polemisch betrachten“.30 Das erinnert aufs stärkste an das Collegium Thetico-Polemicum seines Lehrers Schultz – wie denn der Ausdruck ‚Polemische Lektionen‘ in der protestantischen Kontroverstheologie ohnehin gang und gäbe war. Auch Antons Collegium anti-theticum war übrigens von einem wöchentlichen „Exercitium disputatorium“ begleitet.31 Diese ‚polemische‘ Verfahrensart des jungen Kant aber hat schon Benno Erdmann in seiner berühmten Abhandlung über Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie in engen Konnex mit Kants skeptischer Methode gebracht,32 deren Ansätze bereits in Kants Erstlingsschrift, den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, deutlich zu erkennen sind. So heißt es etwa im Paragraphen 58 – in dem Kant auch bereits expressis verbis von „Satz“ und „Gegensatz“ spricht –: „Wenn man auf dem Wege ist, alle Gründe herbeizuziehen, welche der Verstand zu Bestätigung einer Meinung, die man sich vorgesetzet hat, darbietet: so sollte man, mit eben der Aufmerksamkeit und Anstrengung, sich bemühen, das Gegenteil auf allerlei Arten von Beweisen zu gründen, die sich nur irgend hervortun, eben so wohl als man vor eine beliebte Meinung immer tun kann. Man sollte nichts verachten, was dem Gegensatze im geringsten vorteilhaft zu sein scheinet, und es in der Verteidigung desselben aufs höchste treiben“.33 An anderer Stelle der Schrift erklärt Kant, wir müssten „lernen, auch in unsere größeste Überzeugung ein weises Mißtrauen zu setzen, und allemal zu vermuten, daß wir auch alsdenn noch nicht außer

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Immanuel Kant, Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, A 8. Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, a.a.O., S. 17. 32 Benno Erdmann, Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie, in: Reflexionen Kants zur Kritik der reinen Vernunft [Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, hg. v. B. Erdmann, Bd. II.], Leipzig 1884, S. XL. – Ob dieses Verfahren freilich, wie Erdmann annimmt, der „Erfolg einer früh selbständig gefundenen ... Maxime“ ist, muss angesichts der dargestellten Zusammenhänge als zweifelhaft erscheinen. 33 Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, § 58, A 76. 31

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der Gefahr sein, uns selber zu hintergehen; damit der Verstand in seinem Gleichgewichte wenigstens sich so lange erhalte, bis er Zeit gewonnen hat, die Umstände, den Beweis, und das Gegenteil in genugsamer Prüfung kennen zu lernen“.34 Mit dieser Forderung, die Argumente auf beiden Seiten gleich ernst zu nehmen, verbinden sich in Kants Erstlingsschrift zwei Absichten. Die erste, mehr negative Absicht ist es, nicht bei dem bloßen Gegeneinander der Meinungen stehenzubleiben, sondern bis zu dem „Grund des Irrtums“35 vorzustoßen und die „Quelle desselben“36 aufzudecken, die den Streit erst von innen heraus verständlich macht. Immer wieder gebraucht Kant daher in den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte Formulierungen wie „Quellen des berüchtigten Streites“,37 „Quelle dieses Irrtums“,38 „der rechte Punkt der Verführung und des Irrtums“.39 Diese erste Absicht – die später geradezu als der schlechthinnige Zweck der skeptischen Methode erscheinen wird – findet ihre frappierende Parallele in den oben angeführten Sätzen Antons. Die erste, aller Polemik voranzustellende Frage der antithetischen Theologie lautete für ihn, „was für propensiones ad errores bey uns stecken, und was für principia bey uns verborgen liegen, die uns hinreissen würden in Scepticismum, Naturalismum, Atheismum, etc. wenn wir uns gelassen blieben. Fängt man aber von sich selbst an, so kommt man auf die fontes errorum“.40 Die zweite, positive Absicht der in den Gedanken verfolgten ‚Methode‘ aber geht dahin, einen „Mittel-Satz“ zu finden, „der beiden Parteien in gewisser Maße Recht lässet“.41 In dieser zweiten Absicht artikuliert sich eine Grundforderung der deutschen Aufklärung, die Forderung nach Unparteilichkeit: „es bedurfte nur einer kleinen Abwesenheit des Parteieneifers, ... so war die Beschwerde so fort abgetan“.42 Hinter dieser Forderung aber steht der unerschütterte Glaube der Aufklärung an die Integrität der Vernunft: „Es heißt gewissermaßen die Ehre der menschlichen Vernunft verteidigen, wenn man sie in den verschiedenen Personen scharfsinniger Männer mit sich selber vereiniget und die Wahrheit, welche dieser ihre Gründlichkeit niemals gänzlich verfehlet, auch alsdenn herausfindet, wenn sie sich gerade widersprechen“.43 ‚Satz‘ und ,Gegen-Satz‘, ‚Thesis‘ und ‚Antithesis‘ bekommen auf diese 34

Ebd., A 173. Ebd., A 54. 36 Ebd., A 60. 37 Ebd., A 27. 38 Ebd., A 77. 39 Ebd., A 144. 40 Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, a.a.O., S. 8. 41 Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, A 24. 42 Ebd., A 240. 43 Ebd., A 194. 35

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Weise ein prinzipiell gleiches Gewicht, beide sind gleichermaßen wahr beziehungsweise gleichermaßen unwahr. Dass diese aufklärerische Konzeption von Antithetik die theologische Konzeption Antons tiefgreifend verändern musste, liegt auf der Hand. Die Thesis ist jetzt nicht mehr der Ort der Wahrheit, die Antithesis nicht mehr der Ort der Unwahrheit, sondern beide sind notwendige – gleich wahre oder gleich unwahre – Momente auf dem Wege zur vollen und ungeteilten Wahrheit. Allererst diese Umformung aber schafft die Möglichkeit für jenen neuen, kritischen Begriff von Antithetik, der für die Kritik der reinen Vernunft charakteristisch ist: „so verstehe ich unter Antithetik“, schreibt Kant, „nicht dogmatische Behauptungen des Gegenteils, sondern den Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse (thesin cum antithesi), ohne daß man einer vor der andern einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt. Die Antithetik beschäftigt sich also gar nicht mit einseitigen Behauptungen, sondern betrachtet allgemeine Erkenntnisse der Vernunft nur nach dem Widerstreite derselben unter einander und den Ursachen desselben“.44 Versteht man die angeführten Sätze als bewusste Abgrenzung gegen jene theologische Konzeption von Antithetik, wie sie etwa bei Anton entwickelt ist – auch für ihn bedeutete Antithetik ja noch die Beschäftigung mit ‚dogmatischen Behauptungen des Gegenteils‘, nämlich mit allen denjenigen theologischen Lehrmeinungen, die das ‚Gegenteil‘ der wahren protestantischen Lehre ‚behaupteten‘45 –, so bekommen sie einen klaren und unmissverständlichen Sinn. Die neue Antithetik aber ist für den Kant der Kritik – zuerst und zunächst – eine „natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich gerät“.46 Damit sieht sich nun jedoch auch Kant vor die Frage gestellt, die schon Anton beunruhigt hatte: die Frage nach dem Grund der Antithetik. Die Antwort, die Kant in den Prolegomena gibt, geht dahin, „daß in der Metaphysik ein Erbfehler liege, der nicht erklärt, vielweniger gehoben werden kann, als wenn man bis zu ihrem Geburtsort, 44

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 448. Hervorhebungen vom Verfasser. So bedeutet „studium antitheticum“ – synonym mit „studium polemicum“ und „studium elenchticum“ – für Anton zumindest noch primär die Beschäftigung mit der – falschen – entgegengesetzten Auffassung und nicht etwa die Ausarbeitung einer eigenen Theorie der Antithetik; vgl. Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, a.a.O., S. S. 10: „Weil nun ... beym Studio Polemico eine grosse Difficultät ist, daß die Thäter wie ein schlüpfriger Aal seyn; denn sie sind Kinder der Finsterniß“. Ebenso ist der „scriptor antitheticus“ zuerst und zunächst derjenige Schriftsteller, der sich mit der – falschen – gegenteiligen Meinung auseinandersetzt, das heißt, ebd., S. 8: der ,,die Controversien ... tractirt“. Freilich führt eben diese Auseinandersetzung bei Anton zu jener Theorie der Antithetik, die die Gegensätze als solche reflektiert und eben damit die Kantische Konzeption von Antithetik vorbereitet. 46 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 433 f. 45

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der reinen Vernunft selbst, hinaufsteigt“.47 Dieser „Erbfehler“ – Anton hatte von „Erb-Sünde“ gesprochen48 – aber besteht darin – so jedenfalls lautet eine Antwort der Kritik der reinen Vernunft –, dass man, „dem gemeinen Vorurteile gemäß, Erscheinungen für Sachen an sich selbst“ nimmt.49 Wollte man statt dessen die Formulierung gebrauchen: ‚das Uneigentliche für das Eigentliche nehmen‘, so könnte Kants Rede vom „Erbfehler“ einen anthropologischen Ernst gewinnen, der der pietistischen Theologie Antons näherstünde als dem Vernunftglauben der Aufklärung.

47

Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 215. 48 Anton, Collegium anti-theticum universale fundamentale, a.a.O., S. 3. 49 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 768.

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1

Zur Eingrenzung der Themenstellung

‚Natur‘ bei Kant – das Thema böte Stoff genug für eine ganze Tagung, angefangen von der Allgemeinen Naturgeschichte bis hin zur Kritik der Urteilskraft. Der Allgemeine Kantindex von Gottfried Martin verzeichnet allein für die ersten neun Bände der Kantausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, also für die Abteilung der sogenannten Druckschriften, nicht weniger als 2921 Belege – wobei freilich eine Reihe von Doppelzählungen abzuziehen ist, weil die Akademie-Ausgabe die Kritik der reinen Vernunft großenteils zweimal abdruckt –.1 Hinzu kommen 88 Belege im Lateinischen.2 Selbst wenn man alle Stellen abrechnet, an denen der Begriff der Natur durch einen Genitiv – Natur des Menschen u. ä. – oder ein Adjektiv – menschliche Natur u. ä. – eingeschränkt wird, bleibt eine solche Häufigkeit erstaunlich. Sie ist in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts auch keinesfalls die Regel. Nicht weniger frappierend ist im Allgemeinen Kantindex die Zahl von etwa 125 verschiedenen Komposita, in denen das Wort Natur als erster Bestandteil auftaucht.3 „Naturgesetz“ zum Beispiel ist dabei 215 Mal belegt, „Naturzweck“ 84 Mal, „Naturanlage“ 74 Mal. Manche dieser Komposita hat Kant in der Philosophie seiner Zeit vorgefunden: „Naturgeschichte“ findet sich schon in dem Philosophischen Lexicon von Johann Georg Walch,4 „Natur-Begebenheit“ ist Wolffs Übersetzung von ‚phaenomenon‘. Die meisten jener Zusammensetzungen fallen jedoch in Kants kritische 1

Vgl. Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften, hg. v. Gottfried Martin, Bd. 17: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, Bd. 2: L-Z, Berlin 1967, S. 643. 2 Vgl. ebd., S. 643 f. 3 Vgl. ebd., S. 643 ff.; als zweiter Bestandteil des Wortes findet sich ‚Natur‘ bei Kant dagegen nur in dem Wort ‚Menschennatur‘; vgl. ebd., S. 607: vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 141; Ders., Der Streit der Fakultäten, A 166; Ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 13). 4 Vgl. Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, hg. v. Justus Christian Hennings, 2 Bde., Leipzig 1726, 17754, Neudr. Hildesheim 1968. Vgl. auch Roberto Palaia, Natura e filosofia della natura nel dibattito filosofico tedesco tra XVII e XVIII secolo, in: Natura. XII Colloquio Internazionale, Roma, 4–6 gennaio 2007, hg. v. Delfina Giovannozzi u. Marco Veneziani, Florenz 2008, S. 425–438.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_10

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Arbeitsphase. „Naturzweck“ ist in Kants Druckschriften sogar erst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 belegt – wie denn die in dieser Form wohl im Deutschen mögliche Bildung von immer neuen Wortzusammensetzungen – die aufs Ganze gesehen vermutlich mehr Schaden als Nutzen mit sich bringt – ganz allgemein ein charakteristischer Zug des Kantschen Alterswerks ist.5 Um wenigstens einen vagen Eindruck von der Komplexität des Themas ‚Natur‘ bei Kant zu vermitteln, seien hier zunächst einige Sätze angeführt, in denen das Stichwort bei Kant in diesem oder jenem Zusammenhang auftaucht. Dabei sollen jedoch nicht die sozusagen klassischen Formulierungen zitiert werden, die von der Kantforschung und Kantinterpretation seit zwei Jahrhunderten immer wieder hin- und hergewendet werden, also beispielsweise nicht die Rede von der „großen Künstlerin Natur (natura daedala rerum)“, bei der Kant mit einer für ihn bezeichnenden Wendung hinzufügt: „Der Gebrauch des Worts Natur ist [...] schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft [...] und bescheidener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung“.6 Für Äußerungen dieser Art sei vielmehr auf das Spruchwörterbuch Franz von Lipperheides verwiesen, das zugleich auch das Umfeld sichtbar macht, in dem sich Kant mit seinen eigenen Überlegungen bewegt.7 Angeführt seien hier vielmehr Sätze, die für Kants Begriff der Natur zwar in dieser oder jener Hinsicht von Belang sind, von der Forschung aber nur selten berücksichtigt werden. Sie sind ohne jeden inhaltlichen Zusammenhang mehr oder minder willkürlich aus dem Gesamtwerk herausgegriffen und werden hier kommentarlos nebeneinandergestellt. Sie sollen zeigen, welche verschiedenen Konnotationen der Begriff der Natur bei Kant annehmen kann. Sie stammen aus den unterschiedlichsten Schaffensperioden:

5

Vgl. Norbert Hinske, Kants neue Terminologie und ihre alten Quellen. Möglichkeiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbeitung im Felde der Begriffsgeschichte, in: Kant-Studien 65 (1974) Sonderheft, S. 68*–85*, hier S. 77* f. 6 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, BA 47 ff.; Kants Druckschriften werden in diesem Aufsatz nach der Ausgabe Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956–1964, 6 1983, zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben. Kants Briefe, Nachlass und Vorlesungsnachschriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe. 7 Spruchwörterbuch, hg. v. Franz Freiherrn von Lipperheide, Berlin 1907, 81976, S. 652–656.

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die gesamte Vollkommenheit des Universum [wird] auch ohne viele übernatürliche Einflüsse dem göttlichen Willen gemäß nach den Gesetzen der Natur erreichet;8 wir wissen nicht, welche Unermesslichkeit die sich immerfort in andern Himmels-Gegenden bildende Natur habe, um durch große Fruchtbarkeit diesen Abgang des Universum anderwärts reichlich zu ersetzen;9 [...] ein vermutlich großes Geheimnis der Natur [...] nämlich daß vielleicht im tiefsten Schlafe die größte Fertigkeit der Seele im vernünftigen Denken möge ausgeübt werden;10 Die Naivetät, diese edle und schöne Einfalt, welche das Siegel der Natur und nicht der Kunst auf sich trägt, ist ihm gänzlich fremde;11 Alle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen;12 Die Natur hat die Frau ausgerüstet um zärtlich zu machen u. nicht um zärtlich zu seyn.13

Wer sich mit dieser Palette von Farbtönen nicht zufriedengeben will, sei auf die bisher erschienenen Bände des Kant-Index verwiesen, genauer: auf die in ihnen enthaltenen Zeilenkonkordanzen, die die angeführten Sätze in vielfältiger Weise ergänzen können. Nicht zuletzt der gerade herausgekommene Band zu Kants handschriftlichen Bemerkungen in seinem durchschossenem Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Notizen, die großenteils unter dem Einfluss von Jean-Jacques Rousseau niedergeschrieben worden sind, bietet mit seinen 111 Belegen ein außerordentlich facettenreiches Bild.14 Was ergibt sich aus dieser kommentarlosen Aneinanderreihung von Sätzen? ‚Natur‘ scheint für Kant zuerst und zunächst – ähnlich vielleicht wie heute das Wort 8

Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, A 84. 9 Ebd., A 89 Anm. 10 Immanuel Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, A 87. 11 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, A 39. 12 Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, A 44. 13 Immanuel Kant, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA XX 75. 14 Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Kant-Index, Bd. 24: Stellenindex und Konkordanz zu den «Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen» mit einem Index und einer Konkordanz zu den «Beobachtungen» selbst als Anhang, 3 Teilbde., Stuttgart-Bad Cannstatt 2007.

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‚Gesellschaft‘ – das große Zauberwort zu sein, das beim Schreiben über jede Verlegenheit hinweghilft. Wo Kant sich jedoch um eine begriffliche Klärung bemüht, da geschieht das in der Regel mit Hilfe von großen Gegensatzpaaren: Natur und Freiheit, Natur und Kultur, Natur und Kunst, Natur und Geschichte, Natur und Gnade. Natur definiert sich für Kant jeweils durch das andere ihrer selbst und nimmt deshalb immer wieder ein neues Gesicht an. Wer alle diese Bedeutungen und Schattierungen auf Biegen oder Brechen in einen großen Gesamtzusammenhang gestellt sehen möchte, der sei auf den einschlägigen Artikel von Friedrich Kaulbach im Historischen Wörterbuch der Philosophie verweisen.15 Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich notgedrungen auf das Gegensatzpaar von Natur und Freiheit, also auf das Thema der dritten Antinomie. Die Freiheitsantinomie führt dabei zu einer ganz bestimmten Akzentuierung des Naturbegriffs, einer Akzentuierung, so sei hinzugefügt, die Kants Verständnis von Natur bei weitem nicht erschöpft. Das aber ist, wie gesagt, ein sehr umfassendes Thema, das den Umfang eines Aufsatzes sprengt.

2

Natur als Gesetzmäßigkeit

In enger Anlehnung an die Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus16 hat Kant seine Logikvorlesungen jahrein jahraus mit dem gleichen Gedanken begonnen: „Alles geschieht nach Regeln, Stein, Waßer bewegt sich so [,] der Mensch in seinen mechanischen Handlungen“.17 „Alles geschiehet nach Regeln, so wol in der KörperWelt als in der Natur.18 Die Ausübung unserer Kräfte geschieht auch nach gewissen Regeln und wir verfahren nach denselben ob wir gleich uns derselben nicht bewust sind.19 „Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt,

15

Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel u. Stuttgart 1984, Sp. 471–475. Charakteristisch für Friedrich Kaulbach ist es, dass er mit elf Belegstellen auskommt. 16 Vgl. Norbert Hinske, Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ‚Vernunftlehre‘ von Hermann Samuel Reimarus, hg. v. Wolfgang Walter u. Ludwig Borinski, Göttingen 1980, S. 9–32, insbes. S. 27 f. 17 Logik Herder, AA XXIV 3. 18 In der Akademie-Ausgabe heißt es irrtümlich: „Menschheit“. 19 Logik Pölitz, AA XXIV 502.

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geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen“; „es gibt überall – sc. überhaupt – keine Regellosigkeit“.20 Das ist schon ungefähr zwanzig Jahre vor der Kritik der reinen Vernunft so gesagt. In Kants kritischen Schriften verdichtet sich dieser Gedanke dann zu einer förmlichen Definition dessen, was unter Natur zu verstehen ist: „Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“; „materialiter betrachtet“ ist sie „der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung“. „Das Formale der Natur“ dagegen ist „die Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung, und, sofern sie – sc. die Natur – a priori erkannt wird, die notwendige Gesetzmäßigkeit derselben“.21 Einen zusätzlichen Akzent erhält diese Definition durch die Abgrenzung gegen den Begriff der Welt: Welt „bedeutet das mathematische Ganze aller Erscheinungen“, also den Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung nach bloßen Größenverhältnissen betrachtet. „Eben dieselbe Welt wird aber Natur genannt, so fern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man [...] auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen siehet. Da heißt nun die Bedingung von dem, was geschieht, die Ursache, und die unbedingte Kausalität der Ursache in der Erscheinung22 die Freiheit, die bedingte dagegen heißt im engeren Verstande Naturursache“.23 Dasjenige Gesetz also, das für Kant bei der Definition der Natur als ‚Gesetzmäßigkeit‘ im Vordergrund steht, ist das Gesetz der Kausalität. Auch der Mensch ist, sofern und soweit er Gegenstand der Erfahrung ist, diesem Gesetz ohne Wenn und Aber unterworfen. Die Gesetze der Natur werden vom Menschen nun aber zuerst und zunächst nicht etwa an der Wirklichkeit abgelesen. Sie sind auch nicht, wie Kant 1755 in seiner Allgemeinen Naturgeschichte – und wohl auch noch 1770 in seiner berühmten Dissertation pro loco – gedacht hat, von Gott von Anfang an in die Materie hineingelegt, so dass der Mensch sie mit Hilfe der Wissenschaften nur nachzubuchstabieren bräuchte. Vielmehr ist es einer der Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft,

20

Jäsche Logik, A 1. Bei der Nachlassreflexion 1562 – AA XVI 3 –, die diesen Ausführungen allem Anschein nach zugrundeliegt, handelt es sich um die erste Notiz in Kants Logikkompendium überhaupt. Sie lautet: „Alles, was aus einem gewißen Vermögen herfließt, entsteht gewißen Regeln gemäß. Denn es geschieht immer einem Grunde gemäß. Folglich wird auch die Vernunft nach gewißen Regeln handeln“. Kant ist auf diese Notiz in seinen Logikvorlesungen offenbar bis zuletzt immer wieder zurückgekommen. Die Ausweitung des Gedankens auf die Natur als ganze, wie sie sich in den Logiken Herder und Pölitz findet, ist späteren Datums als die Notiz selber. 21 Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 72 ff. 22 Vgl. Alexei N. Krouglov, Die Kausalität im Denken Kants, in: Quaestio Annuario di storia della metafisica 2 (2002) 519–554, inbes. S. 524 ff. u. S. 540 ff. 23 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 446 f.

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dass es der erkennende Mensch selbst ist, der jene Gesetze aufgrund seiner apriorischen Erkenntnisfunktionen in die Wirklichkeit, genauer: in die für ihn erfahrbare Wirklichkeit hineinträgt. Eben darin besteht, wie Kant nachträglich erklärt, die „Revolution“ der Kritik der reinen Vernunft, die dem Vorbild der Naturwissenschaften folgt: „[...] so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse“. „Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß“.24 Die Kritik der reinen Vernunft ist die Vollendung jener „Revolution“ der Naturwissenschaften. Es waren die Jenaer Frühkantianer, allen voran Christian Gottfried Schütz, und nicht etwa Kant selbst, die der Kritik diese historische Rolle beigemessen haben.25 Bei genauerem Lesen ist die Vorrede zur zweiten, die alles Persönliche in den Hintergrund treten lässt, eher eine Abschwächung jenes emphatischen Lobes. Diese in der menschlichen Vernunft grundgelegten Naturgesetze, allem voran das Gesetz der Kausalität, sind die unumgängliche Vorbedingung für empirische Wissenschaft. Der Mensch muss sie immer schon voraussetzen, wenn er die Natur begreifen und zu gesicherten Erkenntnissen gelangen will. Sie sind nicht etwa das Ergebnis, sondern die stillschweigende Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. Ohne sie würde „der Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander notwendig bestimmender Erscheinungen, den man Natur nennt, und mit ihm das Merkmal empirischer Wahrheit, welches Erfahrung vom Traum unterscheidet,26 größtenteils verschwinden“.27 Die notwendige Konsequenz aus dieser Naturauffassung ist die Einsicht: Bei der wissenschaftlichen Arbeit handelt es sich nicht etwa um eine vollständige Erfassung der Wirklichkeit, die sich – ihrem Anspruch nach – von selbst versteht, sondern um den Versuch, die Zusammenhänge der Erfahrungswelt in Übereinstimmung mit den Gegebenheiten so oder so zu rekonstruieren. Das gilt auch für das 24

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII f. Vgl. Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 272. – In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist das Wort „Revolution“ nur ein einziges Mal zu finden, nämlich B 881, und zwar ohne jeden Bezug auf den Verfasser selbst. 26 Zur Unterscheidung von Wahrheit und Traum vgl. Christian Wolff, Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata, Frankfurt u. Leipzig 1730, 21736, hg. v. Jean École, Darmstadt 1962, § 493, S. 379 ff. 27 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 479. 25

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Handeln des Menschen mit seinen verschiedenartigen Beweggründen. Dass wir es heute, zweihundert Jahre nach Kant, in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen mehr oder weniger mit konkurrierenden Rekonstruktionsversuchen zu tun haben – die voneinander manchmal kaum noch Kenntnis nehmen –, macht die Lage nicht gerade übersichtlicher. Wie weit solche Rekonstruktionsversuche alle Dimensionen von Wirklichkeit zu erfassen vermögen, ist mit den Mitteln der Wissenschaft nicht mehr zu beantworten. Der Mensch muss diese Frage offenlassen, und auch die empirischen Wissenschaften wären gut beraten, ihre Ergebnisse nicht zu verabsolutieren – zu ‚dogmatisieren‘ –. Kants Sicherung der wissenschaftlichen Arbeit ist zugleich auch deren Grenzbestimmung. Man kann das eine nicht von dem anderen trennen. Das ist der Grund, warum Kant so hartnäckig an seiner These von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich festgehalten hat.

3

Die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit. Kants ‚Auflösung‘ der Freiheitsantinomie28

In einer als ‚notwendige Gesetzmäßigkeit‘ verstandenen Natur ist für Freiheit, so scheint es, schlechterdings kein Platz. Kant macht denn auch nicht erst den Versuch, das Problem zu beschönigen, sondern definiert den Freiheitsbegriff in einer Schärfe, die keinerlei Winkelzüge oder Ausflüchte mehr zulässt. Freiheit könne im vorliegenden Zusammenhang – Kant spricht von transzendentaler Freiheit beziehungsweise von „Freiheit, im kosmologischen Verstande“29 – nur als „absolute Spontaneität der Handlung“30 verstanden werden. Sie bezeichne das „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“,31 und gehe von der Annahme aus, dass „in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluss etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Ge-

28

Zum folgenden vgl. auch Norbert Hinske, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens, in: Trierer Theologische Zeitschrift 109 (2000) 169–190, wiederabgedruckt in diesem Band S. 217–239; der Beitrag versucht eine fortlaufende Textexegese der Behandlung der dritten Antinomie innerhalb der Kritik der reinen Vernunft. 29 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561; beides bedeutet dasselbe. ‚Transzendentale‘ Freiheit meint hier zunächst noch Freiheit im Kontext der Metaphysik. Freiheit „im kosmologischen Verstande“ ist im Hinblick auf Wolffs cosmologia generalis sive transscendentalis als Teil der Metaphysik gesagt. 30 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 476. 31 Ebd., B 561.

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setzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“.32 Bei diesem absoluten Anfang handele es sich nicht etwa um irgendeinen Anfang innerhalb einer übergreifenden Zeitordnung. Nein, es geht um etwas ganz anderes: „wir reden hier nicht vom absolut ersten Anfange der Zeit nach, sondern der Kausalität nach“.33 Es sind wohl vor allem zwei Gedanken, die Kant bei seiner ‚Auflösung‘ der Freiheitsantinomie geleitet haben – zwei Gedanken, die von der Kantinterpretation vielleicht nicht immer genügend beachtet worden sind –: 1. Der erste Gedanke ist die auf den ersten Blick etwas befremdliche Idee einer eigenen intelligiblen Kausalität, die „unter keinen Zeitbedingungen“ stehe.34 Dabei denkt Kant offenbar an das Urteil der reinen praktischen Vernunft beziehungsweise, wie er vereinzelt auch schreibt, an die Stimme des „Gewissens“.35 „Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit“.36 Was Kant bei einem solchen Satz im Sinn gehabt hat, ist offenbar der Umstand, dass uns die moralischen Maßstäbe unseres Handelns irgendwie immer schon präsent sind. Dass wir die Straße nur ‚bei Grün‘ überqueren dürfen, müssen wir zu irgendeinem Zeitpunkt von anderen gesagt bekommen; dass wir den Menschen neben uns nicht zum bloßen Mittel zur Durchsetzung unserer eigenen Interessen machen dürfen, ist uns dagegen in irgendeiner Form immer schon bewusst. Sicher, unsere moralischen Grundeinsichten bedürfen – ähnlich wie die apriorischen Vorstellungen von Zeit und Raum übrigens auch – einer allmählichen Entwicklung. Auch sie sind keine ‚ideae innatae‘, keine angeborenen Ideen. Aber es handelt sich auch bei jenen obersten moralischen Maßstäben unseres Handelns nicht um eine ‚acquisitio derivativa‘, um eine aus der Erfahrung abgeleitete Erwerbung, sondern um so etwas wie eine ‚acquisitio originaria‘, eine ‚ursprüngliche Erwerbung‘,37 durch die uns nur Schritt für Schritt klarer wird, was wir im Grunde immer schon wissen. Wir müssen nur daran erinnert werden. Was uns die reine praktische 32

Ebd., B 562. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 478; vgl. Norbert Hinske, Che cosa significa e a qual fine si pratica la storia delle fonti? Alcune osservazioni di storia delle fonti sulla antinomia Kantiana della libertà, in: Studi Kantiani 19 (2006) 113–120. 34 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567; vgl. Hinske, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, a.a.O., S. 185 f.; in diesem Band S. 225. 35 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tl. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 37 f.; Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 175. 36 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 584. 37 Vgl. Michael Oberhausen, Das neue Apriori. Kants Lehre von einer ‚ursprünglichen Erwerbung‘ apriorischer Vorstellungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997. 33

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Vernunft sagt, sagt sie uns von Anfang an. Sie steht quer zu der langen, nie bis zu einem definitiven Ende zu verfolgenden Reihe von Naturursachen, die unser Verhalten unausbleiblich bestimmen. Im Grunde ist es ein einfacher und alter Gedanke, auf den Kant hier zur ‚Auflösung‘ der Freiheitsantinomie zurückgreift: Die Stimme der reinen praktischen Vernunft beziehungsweise des Gewissens spricht immer schon zu uns. Sie spricht wie aus einer anderen Welt. Ihr zu folgen oder sich ihr zu widersetzen, das ist ein Prozeß, der sich jenseits aller Naturkausalität vollzieht. Wer sie als einen Faktor neben anderen einordnet, der mag damit den Regeln oder Routinen seines Faches entsprechen. Aber er trifft damit eine Vorentscheidung, die das moralische Bewusstsein mit seinem kategorischen Geltungsanspruch verfehlt. 2. Der zweite Gedanke, von dem Kant sich bei seiner ‚Auflösung‘ der Freiheitsantinomie leiten lässt, antwortet auf die Frage nach dem Ort der freien Handlung. Ist diese darauf angewiesen, dass es in der ‚notwendigen Gesetzmäßigkeit‘ der Natur doch irgendwelche Lücken gibt, durch die hindurch die freie Handlung in das Geschehen eingreift? Eine solche Annahme würde jede wissenschaftliche Arbeit unmöglich machen: „Denn es läßt sich, neben einem solchen gesetzlosen Vermögen der Freiheit, kaum mehr Natur denken; weil die Gesetze der letzteren durch die Einflüsse der ersteren unaufhörlich abgeändert, und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloßen Natur regelmäßig und gleichförmig sein würde, dadurch verwirret und unzusammenhängend gemacht wird“.38 Kants Antwort geht dementsprechend einen ganz anderen Weg.39 Der Akt der Freiheit greift für ihn nicht an irgendeiner Stelle in den Prozeß der Naturkausalität ein, sondern er verändert das Ensemble der Naturursachen als ganzes. Zur Erläuterung dieses Gedankens führt Kant den Begriff des ‚Charakters‘ ein,40 einen Begriff, den er im vorliegenden Problemzusammenhang allein in der Kritik der reinen Vernunft nicht weniger als 36 Mal verwendet, der von den Interpreten aber häufig gar nicht mehr im Hinblick auf seine Funktion analysiert wird. ‚Charakter‘ hat für Kant dabei zunächst eine ganz allgemeine ontologische Bedeutung und bezeichnet so etwas wie die spezifische Form der Wirksamkeit einer bestimmten Ursache überhaupt.41 Erst in einem zweiten Gedankenschritt wendet Kant diesen allgemeinen ontologischen Begriff auf das menschliche Handeln an und unterscheidet dabei zwischen 38

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 479. Vgl. Hinske, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, a.a.O., S. 189 f.; in diesem Band S. 229. 40 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567. 41 Vgl. Krouglov, Die Kausalität im Denken Kants, a.a.O. 39

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‚empirischem‘ und ‚intelligiblem‘ Charakter. Der empirische Charakter eines Menschen meint das ‚Gesetz seiner Kausalität‘, das heißt die spezifische Form seines Agierens, so wie es durch die verschiedensten Naturursachen bestimmt und dementsprechend ‚durch Erfahrung‘ erkannt wird,42 also die für ihn typische Art seines Verhaltens. In diesem empirischen Sinne kann das jeweilige Subjekt des Handelns, der konkrete Mensch, „diesen oder jenen (physischen) Charakter“ haben,43 der für Kant insbesondere durch sein „Naturell“ und sein „Temperament“44 geprägt wird. Der entsprechende deutsche Begriff dafür ist „Sinnesart“.45 Von eben diesem empirischen Charakter gilt, dass „seine Handlungen, als Erscheinungen, durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhang“ stehen „und von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden“ können „und also, mit diesen in Verbindung, Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung“ ausmachen.46 „So wie äußere Erscheinungen in dasselbe – sc. das Subjekt des Handelns – einflössen, wie sein empirischer Charakter, d. i. das Gesetz seiner Kausalität, durch Erfahrung erkannt wäre, müßten sich alle seine Handlungen nach Naturgesetzen erklären lassen, und alle Requisite – sc. Erfordernisse – zu einer vollkommenen und notwendigen Bestimmung derselben müßten in einer möglichen Erfahrung angetroffen werden“,47 das heißt empirisch erforschbar und mit Sicherheit vorhersehbar sein. Wären uns alle inneren Triebfedern eines Menschen sowie alle äußeren Anlässe seines Handelns bekannt, so könnte man „eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen“.48 Die Ordnung der verschiedenen Faktoren in der Zeit bedeutet zugleich auch ihre Determiniertheit im strengen Sinne. Von so etwas wie transzendentaler Freiheit als absolutem Anfang einer Handlung kann hier also schlechterdings nicht die Rede sein. Ganz anders dagegen liegen die Dinge bei dem intelligiblen Charakter, der „Denkungsart“,49 also bei jenem Charakter, der den Menschen jenseits aller Zeitbedingungen bestimmt. Kennzeichnend für ihn ist vor allem der Umstand, dass das handelnde Subjekt hier keinerlei Zeitbedingungen unterworfen ist: „Dieses handelnde Subjekt würde nun, nach seinem intelligiblen Charakter, unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst. In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mit ihm würde 42

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 568. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 253. 44 Ebd. 45 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 579. 46 Ebd., B 567. 47 Ebd., B 568. 48 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 177. 49 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 579. 43

Natur und Freiheit im Denken Kants

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es auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen, unterworfen sein: daß alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe“.50 Eben hier ist der Ort, wo das Sittengesetz quer zu aller Zeit seine Stimme erhebt und dem Menschen eine Antwort abverlangt. Seine Handlungen insgesamt sind deshalb so oder so von seinem intelligiblen Charakter geprägt. Der empirische Charakter ist „im intelligiblen Charakter (der Denkungsart) bestimmt“.51 Um das von Kant Gemeinte an einem einzigen Beispiel aus der Geschichte zu erläutern: Nicht das Attentat des Grafen Stauffenberg am 20. Juli 1944, sondern sein beständiger innerer Widerstand gegen das Regime Hitlers war die freie Tat, der „absolut erste Anfang“ einer „neuen Reihe schlechthin“ innerhalb der Weltbegebenheiten.52 Auch wenn die Bombe nicht gezündet und niemand von seinem Vorhaben erfahren hätte, wäre die freie Tat Claus Schenk von Stauffenbergs von keinem geringeren moralischen Gewicht gewesen. Dass er die Bombe gelegt hat, war eine notwendige Konsequenz seines empirischen Charakters. Sie war – bei Kenntnis aller Umstände – voraussagbar. Aber dass er gerade diesen empirischen Charakter entwickelt hat, war ein Akt der Freiheit. Und nicht dieser oder jener Erlass, den er unterschrieben hat, sondern seine ständige Nachgiebigkeit gegenüber den Ansinnen Hitlers war die böse Tat Wilhelm Keitels. Freilich gilt auch in diesen Fällen die Mahnung Kants: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns […], selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel nun aber davon reine Wirkung der Freiheit [sei], wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten“.53

50

Ebd., 567 f. Ebd., B 579; ohne diesen Freiheitsbegriff der Kritik der reinen Vernunft, so ist gegen die Arbeit von Jochen Bojanowksi, Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin 2006, einzuwenden, wäre auch die Freiheitsauffassung der Kritik der praktischen Vernunft nicht möglich gewesen. 52 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B. 479. 53 Ebd., B 579 Anm. 51

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4

Metaphysik

Natur und Geschichte

Damit ist auch bereits die Frage nach der Bedeutung von Kants Idee der transzendentalen Freiheit für die Frage nach der Geschichte berührt. Freiheit als „absolute Spontaneitat der Handlung, als der eigentliche Grund der Imputabilität derselben“,54 Freiheit als ein „Vermögen […], eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen“55 – welche Konsequenzen hat ein solcher Freiheitsbegriff für unser Verständnis von Geschichte? Kant hat diese Konsequenzen zwar gelegentlich gestreift,56 aber nicht mehr eigens zum Thema gemacht, vermutlich, weil er die Grundlinien seiner Geschichtsphilosophie bereits vor der Kritik der reinen Vernunft entworfen hatte.57 So ist von einem derartigen Freiheitsbegriff in seinen geschichtsphilosophischen Schriften denn auch nirgendwo explizit die Rede. Der deutsche Idealismus aber hat jene Frage dann mit aller Leidenschaft gestellt.58 Der Begriff der transzendentalen Freiheit als absoluter Anfang der Handlung nimmt dabei einen neuen Klang an. ‚Transzendental‘ heißt jetzt nicht mehr wie bei Kant: im Kontext der Metaphysik,59 sondern: im Kontext der Kantischen Vernunftkritik oder einfach der neuen Transzendentalphilosophie. Die erste und grundlegende Konsequenz aus Kants ‚Auflösung‘ der Freiheitsantinomie, und nur von ihr soll hier zum Abschluß noch die Rede sein, wäre eine rigorose Unterscheidung zwischen zwei ganz verschiedenen Betrachtungsweisen der geschichtlichen Welt, zwei Betrachtungsweisen, die die Kritik der reinen Vernunft, die ja zugleich die Legitimität von Thesis und Antithesis, von Freiheitsbehauptung und Determinismus vertritt, dem Beobachter gleichermaßen aufzwingt. Ähnlich wie sich die Handlung eines einzelnen Menschen unter zwei miteinander konkurrierenden Gesichtspunkten betrachten lässt, als Konsequenz aus seinem empirischen oder als Konsequenz aus seinem intelligiblen Charakter, das heißt als notwendige Folge aus dem Zusammenspiel der verschiedenartigen Faktoren der Naturkausalität oder als absolut erster Anfang im zeitlosen Visavis mit dem Sittengesetz, so auch die Welt der geschichtlichen Ereignisse. Sie kann mit guten Gründen als eine Welt des historischen 54

Ebd., B 476. Ebd. 56 Vgl. ebd., B 523: „es sei am Leitfaden der Geschichte, oder an den Fußstapfen der Ursachen und Wirkungen“. 57 Vgl. Norbert Hinske, Le cose buone sono semper tre. La ripropositione della domanda sul progresso nel ‚Conflitto delle facoltà‘, in: Kant e il conflitto delle facoltà, hg. v. Corrado Bertani u. Maria Antonietta Pranteda, Bologna 2003, S. 191–211. 58 Vgl. Claudio Cesa, Urfragen und Gestalten der Menschheitsgeschichte im Hinblick auf den späten Fichte, in: Fichte-Studien 28 (2006) 15–29. 59 Vgl. oben Anm. 29. 55

Natur und Freiheit im Denken Kants

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Determinismus betrachtet werden oder aber als ein Geflecht von freien Handlungen, von denen jede einen absoluten Anfang darstellt. Beide Sichtweisen sind gleich legitim. Unerlaubt ist es nur, je nach Belieben aus der einen Sichtweise in die andere zu wechseln. In einer Welt der Naturkausalität gibt es die unterschiedlichsten Faktoren, die den Ablauf der Geschichte beeinflussen: wirtschaftliche Interessen, Traditionen, Leidenschaften, Enthusiasmus, Eitelkeit, Kurzsichtigkeit, Dummheit, Selbstüberschätzung, Größenwahn sowie zahllose andere Faktoren mehr. Nicht wenige Kontroversen innerhalb der Geschichtswissenschaft beruhen auf einer bewussten oder unbewussten Bevorzugung ganz bestimmter Faktoren. Eines aber gibt es im Felde der Naturkausalität nicht: Freiheit, Moralität und Schuld. So etwas wie ein erster Anfang ist in dieser Welt unmöglich. Man kann immer nur sagen: Es ist so gekommen, weil es so kommen musste. Und es ist genau so gekommen, wie es kommen musste. In einer Welt der Freiheit dagegen mögen noch so viele Faktoren zusammenspielen – am Ende zählt nur eines: der erste Anfang der freien Handlung. Alles, was vorangegangen ist, spielt keine Rolle mehr. Deshalb ist die heute so verbreitete Gegenüberstellung von Opfern und Tätern auch – günstigstenfalls – eine Gedankenlosigkeit. Sie passt weder in eine Welt der Naturkausalität noch in eine Welt der Freiheit. Im Felde der Naturkausalität nämlich gibt es nur Agierende, aber keine Täter im strengen moralischen Sinne und deshalb auch keine Schuld. In einer Welt der Freiheit aber mildert die Tatsache, gestern noch selber Opfer gewesen zu sein, nicht die eigenen Verbrechen. Die in der Ordnung der Zeit vorangegangene böse Tat irgendeines anderen mag auf der Ebene der Naturkausalität eine Erklärung des eigenen Verhaltens bereitstellen, auf der Ebene der Freiheit aber entlastet sie nicht von moralischer Schuld. Die Geschichte zeigt leider immer wieder: Man kann Opfer und Täter zugleich sein.

Anthropologie

Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘ Essen und allgemeine Menschenvernunft Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘

In Kants handschriftlichem Nachlass – in der Reflexion 436 – findet sich die Notiz: „Man muß vor [= für] die Empfindung eben so wohl als vor [= für] den Geschmak sorgen. Dahin gehöret die Empfindung des eigentlichen Genusses: die Mahlzeit. [ ... ] Es verlohnt sich wohl, ein Vergnügen zu cultiviren, was täglich genossen werden kann“.1 Wenn man den Zeitangaben der Akademie-Ausgabe an dieser Stelle trauen darf, stammt die Notiz aus den Jahren 1769 bis 1771, also möglicherweise noch aus Kants Zeit als Magister legens, als Privatdozent. Parallel dazu heißt es in der Reflexion 1516: „Dieses Vergnügen kan am häufigsten, längsten und bis in das späteste Alter genossen werden“.2 Die Akademie-Ausgabe nennt hier als Abfassungszeit die Jahre 1780 bis 1789. Falls diese Notiz in die Zeit um 1787 füllt, gewinnt sie, wie sich sogleich zeigen wird, ein zusätzliches biographisches Gewicht.

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Die Rolle der gemeinschaftlichen Mahlzeit in Kants eigener Lebensführung

Bei den angeführten Sätzen handelt es sich nämlich beileibe nicht um bloße Sprüche. Kant hat sich seit seiner Privatdozentenzeit daran gehalten. Einer der charakteristischsten Züge seiner Lebensführung war die Freude am geselligen Essen, für das er sich Tag für Tag unglaublich viel Zeit genommen hat. Keiner der ihm näherstehenden Biographen versäumt es, aufs ausführlichste darüber zu berichten – wobei in Einzelheiten manche Unterschiede zu bemerken sind. Bei Ludwig Ernst Borowski, dem späteren Königsberger Erzbischof, der zu den ersten Studenten Kants gezählt hatte und ihm bis ans Ende seine Anhänglichkeit bewahrt hat, heißt es: „Für den guten und

1

Reflexion 436, in: AA XV 180. Kants Druckschriften werden nach der Ausgabe Werke in sechs Bänden zitiert; Kants Nachlass wird nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger – abgek. als AA – zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe. 2 AA XV 862.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_11

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Anthropologie

frohen Genuß am Mittagstische war K. von jeher äußerst besorgt.“3 Der Diakon Andreas Christoph Wasianski, der Kant in seinen letzten Lebensjahren umsorgt hat, berichtet: „Der Tag, an dem man bey ihm aß, war ein Festtag für seine Tischfreunde. Angenehme Belehrungen, doch ohne daß er sich das Ansehen eines Lehrers gegeben hätte, würzten das Mahl und verkürzten die Zeit von l Uhr bis 4, 5, öfters auch später, sehr nützlich und ließen keine Langeweile zu.“4 „Seine Unterhaltung war populär dargestellt, [so] daß ein Fremder, der seine Schriften studirt hätte, dem er aber von Person unbekannt geblieben wäre, aus seinem Gespräche wohl schwerlich hätte schließen können, daß der Erzählende Kant sey.“5 Und Reinhold Bernhard Jachmann schreibt: „Das anständige und geschmackvolle Aeußere, welches in einer Gesellschaft herrschte, wirkte gegenseitig auf sein Wohlbehagen und auf seine Unterhaltungsgabe. An einer mit wohlschmeckenden Speisen besetzten Tafel und bei einem guten Glase Wein erhöhte sich seine Munterkeit so sehr, daß er oft über der lebhaften Unterhaltung den Genuß der Speisen vergaß. Daher dauerte auch eine Tafel, an welcher Kant aß, mehrere Stunden, weil er die Tafel nur als ein Vereinigungsmittel, die Unterhaltung aber für den Zweck ansah und den Genuß der Speisen und Getränke nur als eine sinnliche Abwechselung und Erhöhung eines geistigen Vergnügens benutzte.“6 Kants paradoxe Rede vom ‚höchsten moralisch-physischen Gut‘, auf die der Titel der vorliegenden Überlegungen anspielt, gewinnt in diesem Bericht eines Augenzeugen erstmals Leben und Farbe. Die Freude an geselligem Essen ist bei dem vorgeblichen Rigoristen Kant also schlechterdings nicht zu übersehen. Sie prägt seinen Lebensstil. Der Mensch ist, wie er isst – das gilt für Kant in besonderem Maße. Aber nicht nur das: Die Sorge für diese Art von Geselligkeit wird für Kant schon früh geradezu zu einem Teil seiner Lebensstrategie. Borowski berichtet über den jungen Magister legens der Philosophie – den in Königsberg schon bald der Spitzname: ‚der galante Magister‘ begleitet7 –: „In frühern Jahren aß er in einem öffentlichen Speisehause. Mit dem Wirthe ward

3

Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, Königsberg 1804, Neudr. Brüssel 1968, S. 115. 4 Ehregott Andreas Christoph Wasianski, Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beytrag zur Kenntniß seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm, Königsberg 1804, S. 21. 5 Ebd., 22. 6 Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, Königsberg 1804, Neudr. Brüssel 1968, S. 143. 7 Vgl. Norbert Hinske, Kants Leben als gelebtes Bürgertum. Vom galanten Magister zum zurückgezogenen Gelehrten, in: Ders., Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 17–30.

Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘

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immer die Einrichtung getroffen, gute, anständige Gesellschaft da zu finden.“8 Die Verbindung von sinnlichem und geistigem Vergnügen, von Essen und Gespräch, wird also schon zu diesem Zeitpunkt ganz bewusst herbeigeführt. Zu diesem Bild gehören auch die häufigen Einladungen zu Privatgesellschaften, die Kant schon früh mit den führenden Kreisen Königsbergs, und zwar gleichermaßen der Wirtschaft, der Verwaltung und des Militärs, in enge, freundschaftliche Verbindung bringen.9 Um 1787, zu einer Zeit, in der er als philosophischer Schriftsteller in Deutschland auf der Höhe seines Ruhmes steht, tritt dann jedoch in Kants Lebensführung eine einschneidende Veränderung ein: Er überlässt nun nichts mehr dem Zufall und nimmt die Dinge selbst in die Hand: „Bis dahin hatte er an einer Table d’hote gegessen; jetzt fing er seine eigene Haushaltung an und lud täglich zwey seiner Freunde, und bey irgend einer kleinen Fete fünf derselben ein“.10 Das „täglich“ des Biographen ist buchstäblich zu nehmen: Kant war aufs sorgfältigste darauf bedacht, jede Ausnahme zu vermeiden. In seinen letzten Lebensmonaten nimmt dieser Wunsch düstere, ja tragische Züge an. Der Professor der morgenländischen Sprachen und Theologie Johann Gottfried Hasse, einer der letzten Tischgenossen Kants, berichtet: Als sich einige von Kants Gästen aufgrund seiner Krankheit „zerstreuet hatten, und er einmal allein essen mußte, wollte er durchaus haben, daß der Bediente ihm von der Straße hohlen sollte, wen er fände; denn ‚Gäste müsse er haben‘.“11 Insbesondere drei Maximen sind bei Kants regelmäßigen Einladungen aufschlußreich. Sie charakterisieren teils seine Lebensführung, teils seine Philosophie. Zum einen umgibt sich Kant von nun ab ganz bewusst mit jüngeren Gästen. Den Zeitgenossen ist das aufgefallen, sie haben versucht, sich einen Reim darauf zu machen. So heißt es bei Wasianski: „seine gesammten Tischfreunde“ waren „jüngere Männer wie er, oft sehr viel jünger. Er schien bey letzteren die doppelte Absicht zu haben: durch die Lebhaftigkeit des kraftvollern [Lebens]Alters mehr Jovialität und heitere Laune in die Gesellschaft zu bringen, sodann auch so viel als möglich, sich den Gram über 8

Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, a.a.O., S. 115. [Georg Samuel Albert Mellin?], Immanuel Kant’s Biographie, Leipzig 1804, Bd. 1, S. 188; Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 144 f. 10 Wasianski, Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, a.a.O., S. 18. Vgl. Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 146. 11 Johann Gottfried Hasse, Lezte Aeußerungen Kant’s von einem seiner Tischgenossen, Königsberg 1804, 21804, in: Der alte Kant, Hasse’s Schrift: Letzte Äußerungen Kants und persönliche Notizen aus dem opus postumum, hg. v. Arthur Buchenau u. Gerhard Lehmann, Berlin u. Leipzig 1925, S. 43. – In dem letztgenannten Band findet der interessierte Leser übrigens zugleich auch eine Vielzahl von Angaben über die Gerichte, die am Tische Kants gegessen wurden; vgl. ebd. S. 23 u. S. 49 ff. Zur Erläuterung vgl. Ulrich Tolksdorf, Essen und Trinken in Ost- und Westpreussen, Tl. 1, Marburg 1975. 9

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Anthropologie

den früheren Tod derer, an die er sich einmal gewöhnt hatte, zu ersparen.“12 Zum zweiten achtet Kant aufs sorgfältigste darauf, Menschen unterschiedlichsten Couleurs zusammenzubringen. Etwas von dem, was mit der Idee der allgemeinen Menschenvernunft gemeint ist, wird hier in den Alltag umgesetzt. Wasianski erzählt: Kant wählte seine Tischfreunde „aus verschiedenen Ständen: Dienstmänner, Professoren, Aerzte, Geistliche, gebildete Kaufleute, auch junge Studirende, um der Unterhaltung Mannigfaltigkeit zu verschaffen.“13 Und schließlich ist noch eine dritte Maxime zu nennen, die mit einer Lieblingstugend Kants, der Delicatesse,14 in Zusammenhang steht; Kant läd seine Gäste, „um sie von keiner andern Gesellschaft abzuhalten, nur erst am nämlichen Tage des Morgens ein“.15 Aufdringlichkeit war seinem Wesen fremd. Es spricht manches für die Annahme, dass es auch Kant nicht gelungen ist, sein Ideal der Tischgesellschaft, von dem sogleich ausführlicher zu handeln sein wird, ungeschmälert durch den Alltag zu bringen. Vermutlich hat er bei Tisch nicht selten gewollt oder ungewollt die dominierende Rolle gespielt. Vergegenwärtigt man sich den Siegeszug seiner kritischen Philosophie nach 1787, sein Ansehen als akademischer Lehrer in Königsberg und seine überragenden Geistesgaben, so müsste einem das Gegenteil auch fast schon als Wunder erscheinen. Jedenfalls heißt es in anderem Zusammenhang bei Wasianski: „In frühern Jahren“ – gemeint sind wohl die Jahre zwischen 1790 und 1799 – „war Kant [...] keines Widerspruchs gewohnt. Sein durchdringender Verstand; sein ihm stets zu Gebot stehender, nach Umständen oft kaustischer [beißender] Witz; seine ausgebreitete Gelehrsamkeit [...]; seine allgemein anerkannte edle Gesinnung; sein strengmoralischer Lebenswandel, hatten ihm eine solche Superiorität über Andere verschafft, daß er vor ungestümen Widerspruch sicher war. Wagte es dennoch Jemand, in Gesellschaften ihm zu laut, oder auf eine witzig seyn sollende Art zu widersprechen, so wußte er durch unerwartete Wendungen das Gespräch so zu leiten, daß er Alles für seine Meinung gewann, und so der kühnste

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Wasianski, Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, a.a.O., S. 23. Ebd.; vgl. Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 146 f., sowie Christian Friedrich Reusch, Kant und seine Tischgenossen. Aus dem Nachlasse des jüngsten derselben, Königsberg o. J. [1848], Neudr. Brüssel 1973; vgl. auch die Reflexion 1516, in: AA XV 862 f. 14 Vgl. Wasianski, Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, a.a.O., S. 78; Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 86. 15 Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, a.a.O., S. 117; vgl. Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 147 f. 13

Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘

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Witzling schüchtern und stumm gemacht wurde.“16 Die Gebrüder Hartmut und Gernot Böhme haben diesen Aspekt in ihrem Kantbuch Das Andere der Vernunft besonders zugespitzt akzentuiert: „Immer ist er [Kant] im Mittelpunkt. Gesprächführung, Themenwahl, Stil und Verhaltensformen werden ausschließlich durch ihn geprägt. Die versteckt autoritäre Regie der Tisch- und Rederituale stößt fast nie auf Widerspruch. Kant unterbindet jede Abweichung und lenkt geschickt von ihm unleidlichen Themen ab. In den Ausnahmefällen, wo Gegenmeinungen sich hartnäckig halten oder unangenehm insistiert wird, gerät der friedliche Mann in Rage.“ „Während der einzigen Mahlzeit des Tages sättigt Kant nicht nur den Leib, sondern verspeist zugleich die Bewunderung und dankbare Verehrung der Gäste.“17 Nach Lage der Quellen steckt in den angeführten Sätzen durchaus ein wahrer Kern. Aber das Moment der Wahrheit wird durch die Übertreibungen, wenn nicht gar bewussten Verzerrungen der Autoren in sein schieres Gegenteil verkehrt. Wie Kant zum Beispiel bei solchen Charaktereigenschaften so rasch zum Liebling der Königsberger Gesellschaft avancieren konnte und überall eingeladen wurde, muss bei einer derartigen Interpretation ein Rätsel bleiben. Aber die beiden Autoren haben es auch vorgezogen, von ganzen Bereichen der Kantforschung – etwa den einschlägigen Arbeiten von Otto Schöndörffer,18 Kurt Stavenhagen,19 Fritz Gause20 und anderen zu den ersten beiden Jahrzehnten von Kants Lehrtätigkeit – erst gar nicht Kenntnis zu nehmen . Wenn es darum ginge, dasjenige Kantbuch auszuzeichnen, das mit dem geringsten Aufwand an Quellen- und Literaturkenntnis, aber auch an geistiger Anstrengung geschrieben worden ist, so verdiente es ihr Buch zumindest, in die engere Wahl gezogen zu werden.

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Wasianski, Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren, a.a.O., S. 71 f.; vgl. Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 138 f.; Hasse, Lezte Aeußerungen Kant’s von einem seiner Tischgenossen, a.a.O., S. 12. 17 Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am M. 1983, 21985, S. 456. 18 Otto Schöndörffer, Der elegante Magister, in: Reichls philosophischer Almanach auf das Jahr 1924. Immanuel Kant zum Gedächtnis 22. April 1924, hg. v. Paul Feldkeller, Darmstadt 1924, S. 65– 86. 19 Kurt Stavenhagen, Kant und Königsberg, Göttingen 1949. 20 Fritz Gause, Kant und Königsberg. Ein Buch der Erinnerung an Kants 250. Geburtstag am 22. April 1974, Leer 1974.

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Anthropologie

Die Tischgesellschaft als Versinnlichung der Idee der allgemeinen Menschenvernunft

Die vorangeschickten Ausführungen müssen genügen, wenigstens in Umrissen etwas von der herausragenden Rolle lebendig werden zu lassen, die das gemeinsame Essen in Kants Lebenseinrichtung gespielt hat. Aber solche Tischgesellschaft war für Kant nicht nur eine Sache der Lebensführung. Sie war für ihn vielmehr zugleich auch eine Sache des ständigen Nachdenkens, der Philosophie. Was dabei früher gewesen sein mag, die eigene Lebenspraxis oder das Nachdenken darüber, ist eine ebenso müßige wie unbeantwortbare Frage: Beide verschränken und bereichern sich wechselseitig. Das Werk Kants, in dem dieses Nachdenken seinen späten Niederschlag gefunden hat, ist seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahre 1798. Ihr erster Teil schließt mit einem achtseitigen Abschnitt „Von dem höchsten moralisch-physischen Gut“,21 in dessen Mittelpunkt eben die Tischgesellschaft steht. Freilich zeigt dieses Werk bei aller Tiefe der Einsicht und der Lebenserfahrung bereits die ersten Züge jenes Altersabbaus, der Kants letzte Lebensjahre überschattete. Schon allein aus diesem Grunde ist es ratsam, bei der Interpretation immer wieder den handschriftlichen Nachlass mit zu Rate zu ziehen, insbesondere die Reflexion 151622 aus den Collegentwürfen aus den 80er Jahren, die an dieser Stelle wohl die unmittelbare Vorlage gebildet hat. Es ist gewiss kein Zufall, dass Kant auf diese Thematik gerade im Kontext seiner pragmatischen Anthropologie zu sprechen kommt. Der Grund dafür liegt in seinem Begriff des Pragmatischen.23 Im Anthropologienachlass findet sich eine Erläuterung dieses Begriffs, die jedes linke Herz höher schlagen lässt. In den Collegentwürfen aus den 70er Jahren heißt es: „Pragmatisch ist die Erkentnis, von der sich ein allgemeiner Gebrauch in der Gesellschaft machen läßt“.24 Was aber meint in diesem Zusammenhang „Gesellschaft“? In einer relativ frühen25 Vorlesungsnachschrift Immanuel Kant’s Menschenkunde oder philosophische Anthropologie, die an zahlreichen

21

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 243–252. AA XV 861–864. 23 Zu Kants Begriff des ‚Pragmatischen‘ vgl. Norbert Hinske, Kants Idee der Anthropologie, in: Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, hg. v. Heinrich Rombach, Freiburg u. München 1966, S. 410–437, hier S. 424 ff. 24 Reflexion 1482, in: AA XV 660. 25 Zur genaueren Datierung vgl. Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, S. 40 ff. Anm. 14. 22

Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘

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Stellen ein sehr viel lebendigeres Bild von Kants Anthropologievorlesungen vermittelt, findet sich eine anschauliche Passage, die zur Erläuterung des Begriffes dienen kann: „Warum gehen die Menschen in Gesellschaften? – Pascal sagt, um sich selbst vergessen zu machen, dies ist aber ein sehr hypochondrischer Grund; nein! sondern, weil es für den Menschen gesund ist, und seiner Lebenskraft gemäß, sich mit Dingen außer sich zu beschäftigen“.26 Eben deshalb gilt auch: „Ein Gelehrter kann sich erholen, [...] er geht in Gesellschaft, [...] alles dieses sind Erholungen. Dagegen ist es eine Erschöpfung des Gemüths, wenn der Mensch nur auf sich selbst fixirt ist.“27 Gesellschaft bedeutet für Kant demzufolge etwas höchst Konkretes, sinnlich Erlebbares, nicht das mausgraue Abstractum unserer heutigen Gesellschaftswissenschaften, das jeder Gedankenlosigkeit die Klinke reicht. Während der Kult der Gesellschaft heute mit einem bedrückenden Verlust an Gesellschaftskultur verbunden ist, ist Gesellschaft für Kant – wie für das 18. Jahrhundert überhaupt – noch eine Sache der täglichen Lebensführung. „Gesellschaftlicher Discours“ ist demgemäß das Gespräch „in einer zur wechselseitigen Unterhaltung versammelten Gesellschaft“.28 Die höchste Form solcher Gesellschaft aber ist für Kant die Tischgesellschaft, und zwar die Tischgesellschaft im strengen Sinne. Sie ist diejenige Art von „Wohlleben“, die mit der Humanität „noch am besten zusammen zu stimmen scheint“.29 Eine solche Gesellschaft – die Kant in seinen Nachlassnotizen auch im Rückgriff auf die „italienischen Conversationi“30 zu erläutern sucht – ist etwas ganz anderes als das „Gelag“ oder die „Abfutterung“.31 Die Stehparty, jene abscheuliche Missgeburt des zwanzigsten Jahrhunderts, hat Kant noch nicht gekannt. Bei ihnen handelt es sich für Kant um Formen des gemeinsamen Essens, die „von denen bisweilen anzustellen“ sind, „denen die oftere Bewirthung anderer lästig ist“,32 mit anderen Worten: um Formen, die nicht von der Sehnsucht nach innerer Bereicherung und geglücktem Leben, sondern von ‚gesellschaftlichen‘ Zwängen diktiert werden. Die Tischgesellschaft dagegen ist Gesellschaft im vollen Sinne. Ihre Absicht ist „nicht sowohl die leibliche Befriedigung –m die ein jeder auch für sich allein haben kann – sondern das gesellige Vergnügen, wozu jene nur das Vehikel zu sein scheinen muß“.33 Für ein paar Stunden 26

Immanuel Kant’s Menschenkunde oder philosophische Anthropologie, hg. v. Friedrich Christian Starke [= Johann Adam Bergk], Quedlinburg u. Leipzig 1831, 21838, Neudr. Hildesheim u. New York 1976, S. 13. 27 Ebd., S. 14. 28 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 83 Anm. 29 Ebd., B 244. 30 AA XV 862. 31 AA XV 862 f. 32 AA XV 863. 33 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 245.

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Anthropologie

wird in ihr sichtbar, dass der Tischpartner mehr ist als der Konkurrent, mehr als die Figur im eigenen Spiel, mehr auch als die Summe aller jener Rollen, in der man ihn kennt: Selbstzweck, Person. Für ein paar Stunden berühren sich in der Tischgesellschaft der mundus sensibilis und der mundus intelligibilis beziehungsweise der mundus moralis. Eben deshalb handelt. es sich bei ihr um das Paradoxon eines ‚moralischphysischen Guts‘. Hinter dieser ungewöhnlichen Hochschätzung der Tischgesellschaft steht eine Idee, die wie kaum eine andere in das Zentrum des Kantschen Denkens führt: die Idee einer allgemeinen Menschenvernunft.34 Erst vor ihrem Hintergrund gewinnen Äußerungen wie „einander selbst zu genießen“,35 „Keine Rechthaberei [...] entstehen [...] zu lassen“, „wechselseitige Achtung und Wohlwollen“36 und so weiter ihr volles Gewicht und ihren spezifisch philosophischen Sinn. Aber auch die Art und Weise, wie Kant seine eigene Tischgesellschaft aus den verschiedensten Ständen zusammengesetzt hat, findet hier ihre sachliche Erklärung. In dieser Idee bindet Kant zwei Aspekte der menschlichen Vernunft zu spannungsvoller Einheit zusammen, die sich ständig wechselseitig in die Quere zu kommen drohen: die universelle, alle denkbaren Unterschiede überholende Spannweite der menschlichen Vernunft und ihre Endlichkeit. Auf der einen Seite ist Vernunft nicht das Privileg einiger weniger, von Gott, der Natur oder der Geschichte Auserwählter, sondern allgemeine Vernunft: etwas, an dem jeder einzelne in diesem oder jenem Grade Anteil hat. Vernunft, das ist keine Sonderbegabung wie Tennis spielen, Predigen oder Ballett tanzen, sondern ein Grundzug menschlicher Existenz überhaupt. Auf der anderen Seite aber ist eben diese Vernunft bei keinem Menschen unversehrte Vernunft, sondern bei jedem, auch dem ‚Weisesten‘, in dieser oder jener Form mit Erkenntnismängeln, insbesondere mit Vorurteilen behaftet, die den unaufhebbaren Anspruch der Vernunft auf Allgemeingültigkeit infragestellen. Aus der Vielzahl der Äußerungen, mit denen Kant diese Idee in seinen Schriften, Briefen und Vorlesungen umkreist, sei hier nur eine besonders markante angeführt. Auch sie stammt bezeichnenderweise aus Kants Anthropologievorlesungen: „da der Mensch in seinem Privaturtheile sich sehr irren und in einer geträumten Glückseeligkeit von vieler Einsicht leben könnte, so hat die Natur zum wahren Richter unserer Gedanken das Publicum gesetzt, und die allgemeine Menschenvernunft muß bei dem besondern Gebrauche der Vernunft bei einem einzelnen Menschen den Richterspruch

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Zur Idee der allgemeinen Menschenvernunft vgl. Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, a.a.O., S. 35 ff. 35 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 245. 36 Ebd., B 250.

Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘

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thun.“37 „[...] ein Urtheil verbessert doch das andere und daher ist der Hang, unsere Urtheile an fremder Vernunft zu prüfen, ein Mittel, das der Weiseste nicht ausschlagen kann.“38 Nirgends aber fällt uns eine solche Prüfung unseres eigenen Urteils „an fremder Vernunft“ weniger schwer als beim gemeinschaftlichen Essen, das „nur Spiel sein soll“39 und dem Streit um die Wahrheit wenigstens ein Stück weit die Härte des Kampfes nimmt. Die Möglichkeit, zwischen Gedanken und Soßenschüsseln zwanglos hin- und herzuwechseln, die Chance, Argumente und Einwände unauffällig stehenzulassen, ohne wegen der unterlassenen Antwort sogleich in Rechtfertigungszwänge zu geraten, gibt dem Gespräch eine Leichtigkeit und Freiheit, die es sonst nur selten kennt.

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Regeln zur Beförderung der Esskultur

Geselligkeit dieser Art fällt dem Menschen freilich nicht in den Schoß. Sie stellt sich nicht von selbst ein, nur weil zusammen gegessen wird, sondern bedarf bestimmter Verhaltensregeln, ohne deren Beachtung sie fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Wie alle Kultur, so ist auch die Eßkultur auf die Einhaltung von Regeln angewiesen. Kant spricht in diesem Zusammenhang ganz allgemein von „Gesetzen der verfeinerten Menschheit“40 oder im besonderen von „Regeln eines geschmackvollen Gastmahls, das die Gesellschaft animiert“,41 ja er fügt an anderer Stelle ausdrücklich hinzu: „Es ist nicht bloß ein geselliger Geschmack, der die Konversation leiten muß, sondern es sind auch Grundsätze, die dem offenen Verkehr der Menschen mit ihren Gedanken im Umgange zur einschränkenden Bedingung ihrer Freiheit dienen sollen“.42 Wer meint, mit ein bißchen Spontaneität sei bei Tisch schon alles getan, mag noch so gut kochen können – von einer gelungenen Tischgesellschaft ist er weit entfernt. Die erste und grundlegende Regel, die Kant immer wieder mit großem Nachdruck einschärft, betrifft die Anzahl der einzuladenden Gäste. Sie darf, so lautet Kants Vorschrift, „nicht unter der Zahl der Grazien und auch nicht über die der Musen sein“,43 in nüchternen Zahlen: Sie muss zwischen drei und neun Personen liegen. Bei dieser 37

Immanuel Kant’s Menschenkunde oder philosophische Anthropologie, a.a.O., S. 34. Ebd., S. 35. 39 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 250. 40 Ebd. 41 Ebd., B 249. 42 Ebd., B 246. 43 Ebd., B 244. 38

156

Anthropologie

Regel handelt es sich nicht etwa um eine Schrulle Kants. Sie geht vielmehr bis tief in die Antike zurück44 und mag anfänglich durch äußerliche Gründe, nämlich durch das Mobiliar bedingt gewesen sein: Auf jedem der drei lecti des antiken Esszimmers konnten maximal drei Gäste Platz finden. Mit einem Gast aber sollte jedes Speisesofa zumindest belegt sein. Wie dem aber auch sei: Für Kant, der sich in diesem Zusammenhang nicht auf Aulus Gellius, sondern auf den Earl of Chesterfield beruft,45 handelt es sich bei dieser scheinbar rein quantitativen Regel um eine von der Sache her begründete Grundvoraussetzung nicht des Essens, sondern des Gesprächs. Die Zahl der Gäste muss einerseits so gewählt sein, dass sich das gemeinsame Gespräch nicht „fragmentarisch“46 in Einzelgespräche auflöst und damit sozusagen den Anspruch der Vernunft auf Allgemeinheit desavouiert. Sie muss aber andererseits auch eine solche Größe haben, dass unterschiedliche Gesichtspunkte in das Gespräch eingebracht werden können. So gesehen ist eine Zahl zwischen drei und neun „eben hinreichend [...], um die Unterredung nicht stocken, oder auch in abgesonderte kleine Gesellschaften mit dem nächsten Beisitzer sich teilen zu lassen“.47 Kant fügt mit ungewöhnlicher Schroffheit hinzu: „Das letztere ist gar kein Konversationsgeschmack; der immer Kultur bei sich führen muß, wo immer Einer mit allen (nicht bloß mit seinem Nachbar) spricht: da hingegen die sogenannten festlichen Traktamente (Gelag und Abfütterung) ganz geschmacklos sind“.48 Fast noch deutlicher treten die Motive Kants in der stichwortartig gehaltenen Reflexion 1516 hervor: „Gesellschaft ist diejenige Zahl, die groß gnug ist, um die Unterredung niemals stocken oder einförmig werden zu lassen. Personen von Verschiedenen Kentnissen und Stande. Sie muß – sc. darf – aber auch nicht größer seyn, als daß ein Discurs sich allen Gliedern mittheilt“.49 Wer jene Regel nicht einhält, kann daher nahezu sicher sein, dass seine Tischgesellschaft in ein „Gelage“ oder eine „Abfütterung“ umschlägt, bei denen das wechselseitige Gespräch nicht mehr der tragende „Zweck“,50 sondern bestenfalls

44

Vgl. Aulus Gellius, Noctes Atticae, Buch 13, Kap. 11. Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tl. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 82; Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 245. 46 So ursprünglich in der Rostocker Anthropologiehandschrift – H –, der Rohfassung der gedruckten Anthropologie von 1798, die an nicht wenigen Stellen die bessere Lesart bietet; vgl. Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 6, S. 618 Anm. 4. 47 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 245; mit H – Sigle für die Rostocker Anthropologiehandschrift –. 48 Ebd., B 245. 49 Reflexion 1516, in: AA XV 862 f. 50 Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, a.a.O., S. 143. 45

Kants ‚höchstes moralisch-physisches Gut‘

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noch das schöne Nebenbei des gemeinsamen Essens ist, bei denen also das „Vehikel“51 zur Hauptsache wird. Eine ganze Gruppe von Regeln, die auf einer anderen Ebene liegen, bezieht sich dagegen auf das wechselseitige Verhalten beim Tischgespräch selbst. Sie beginnt mit der Wahl des Gesprächsstoffes, der nicht nur für den Gastgeber, sondern mehr noch für die Gäste insgesamt von Interesse sein muss – Fachgespräche bei Tisch waren Kant ein Leben lang ein Graus52 – und schließt mit Verhaltensregeln für den Fall eines aufkommenden Streites, der den Sinn der Tischgesellschaft in sein Gegenteil verkehren müsste: „Die Regeln eines geschmackvollen Gastmahls, das die Gesellschaft animiert, sind: (a) Wahl eines Stoffs zur Unterredung, der alle interessiert und immer jemanden Anlaß gibt, etwas schicklich hinzuzusetzen. (b) Keine tödliche Stille, sondern nur augenblickliche Pause in der Unterredung entstehen zu lassen. (c) Den Gegenstand nicht ohne Not zu variieren und von einer Materie zu einer andern abzuspringen [...] – Man muß einen Gegenstand, der unterhaltend ist, beinahe erschöpfen, ehe man zu einem anderen übergeht, und beim Stocken des Gesprächs etwas anderes damit Verwandtes zum Versuch in die Gesellschaft unbemerkt zu spielen verstehen [...] (d) Keine Rechthaberei, weder für sich noch für die Mitgenossen der Gesellschaft entstehen oder dauren zu lassen: vielmehr [...] jene Ernsthaftigkeit durch einen geschickt angebrachten Scherz abwenden. (e) In dem ernstlichen Streit, der gleichwohl nicht zu vermeiden ist, sich selbst und seinen Affekt sorgfältig so in Disziplin zu erhalten, daß wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte; [...] damit keiner der Mitgäste mit dem anderen entzweiet aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit zurückkehre“.53 Eine weitere wichtige Regel schließlich, die hier zum Abschluß noch eigens genannt sein soll, berührt bereits den Bereich der Moralität im strengen Sinne. Es ist dies die Regel der Diskretion: „Es versteht sich [...] von selbst, daß in allen Tischgesellschaften, selbst denen an einer Wirtstafel, das, was daselbst von einem indiskreten Tischgenossen zum Nachteil eines Abwesenden öffentlich gesprochen wird, dennoch nicht zum Gebrauch außer dieser Gesellschaft gehöre und nachgeplaudert werden dürfe. Denn ein jedes Symposium hat, auch ohne einen besonderen dazu getroffenen Vertrag, eine gewisse Heiligkeit und Pflicht zur Verschwiegenheit bei sich, in Ansehung dessen, was dem Mitgenossen der Tischgesellschaft nachher Ungelegenheit außer derselben verursachen könnte; weil, ohne dieses Vertrauen, das der moralischen Kultur selbst so zuträgliche Vergnügen in Gesellschaft [...] vernichtet werden

51

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 245. Vgl. Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, a.a.O., S. 115 f. 53 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 249 f.; vgl. Reflexion 1516, in: AA XV 864. 52

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Anthropologie

würde“.54 Für eine Zeit, die in dem Aberglauben lebt, jedes Mehr an Öffentlichkeit sei automatisch mit einem Mehr an Aufklärung verbunden, mögen das befremdliche Sätze sein. Aber Kant hat noch gewußt, dass Öffentlichkeit als Humus der Verschwiegenheit bedarf. Nur wenn ein Gedanke ohne die Furcht vor Indiskretionen im kleinen Kreis unbefangen zur Diskussion gestellt werden kann, lässt sich seine Tragfähigkeit erproben. Und so ist es am Ende wohl mehr als ein Zufall der Biographie oder der Konstitution, dass Kant gerade aus der Tischgesellschaft immer wieder die Kraft für das schwere Geschäft der Aufklärung gewonnen hat. So lässt sich abschließend sagen: Zu den auffälligsten Zügen in der Lebensführung Kants gehört seine ausgeprägte Verliebe für das gemeinsame Essen. Diese Vorliebe aber ist keinesfalls von bloß biographischem Interesse. Sie macht vielmehr einen Grundzug seiner Philosophie sichtbar, eine Haltung, die Kant ausdrücklich mit dem Begriff des Pluralismus umschrieben hat: Im ungezwungenen Gedankenaustausch bei Tisch gewinnt die Idee der allgemeinen Menschenvernunft, von der die deutsche Aufklärung als ganze getragen wird, konkrete Gestalt. Tischsitten sind daher für die Gesprächskultur nicht folgenlos.

54

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 245 f.

Moralphilosophie

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung Kant und die Ethik der Griechen – Glück und Pflicht Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

1

Kants Einteilung der Imperative als Ausdruck des Systemoder Schubladendenken

Zu den charakteristischsten Zügen des Kantschen Systembegriffs zählt die Leitvorstellung, dass jeder Gedanke für den systematischen Kopf seine genau festgelegte Stelle habe. Durch die systemstiftende Vernunftidee von der „Form eines Ganzen“, so erklärt Kant im Architektonikkapitel der Kritik der reinen Vernunft, ist nicht nur der „Umfang“ der zu einem Wissensbereich gehörigen Erkenntnisse, sondern auch die „Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt“.1 Die Quelle dieser Vorstellung ist Christian Wolff, dessen mathematisch-synthetische Methode jeder Prämisse im syllogistischen Argumentationsgefüge ihren genauen logischen Ort zuweist. „Und in dieser Absicht hat auch jede Lehre ihre Stelle erhalten, wo sie fürgetragen wird“, heißt es bei diesem bereits gut fünfzig Jahre zuvor.2 Alles hat demzufolge seinen festen Platz, nichts ist dem Zufall des Gedankenblitzes überlassen, über allem waltet die ordnende Hand des Systems. Das ist die positive, sozusagen die freundliche Formulierung des Systemgedankens. Seine negative, polemische Formulierung aber lautet: Im System ist alle Spontaneität des Denkens längst erloschen. Jeder Gedanke wird in vorgefertigte Schubladen abgelegt. Eigenständigen Problementwicklungen ist von vornherein ein Riegel vorgeschoben. Für Überraschungen ist kein Platz.

1

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 860. Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben, Frankfurt 1726, 21733, § 78, S. 229 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u.a., Abt. I, Bd. 9, hg. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim u. New York 1973.]. Vgl. Ders., De differentia intellectus systematici et non systematici, § 15, S. 148 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u.a., Abt. II, Bd. 34.1, hg. v. Jean École, Hildesheim, Zürich u. New York 1983.]. 2

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_12

162

Moralphilosophie

Der hier zu behandelnde Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,3 der sich an die Auseinanderlegung des Begriffs des Imperativs als solchen anschließt, scheint geradezu ein Paradebeispiel für ein derartiges System- oder Schubladendenken abzugeben. Sein Thema ist die typologisierende Einteilung der verschiedenen Arten von Imperativen, die ihrerseits wieder die Frage nach der Möglichkeit der Imperative – in Analogie zu der Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori – vorbereiten soll. Alles ist in diesem Abschnitt darauf angelegt, die verschiedenen Arten von Handlungsanweisungen säuberlich gegeneinander abzugrenzen und jeder ihre feste Stelle im System zuzuweisen. Da ist wenig Spannendes zu erwarten. Und die einzelnen Schubladen scheinen gerade im vorliegenden Fall nur zu deutlich zu einem Schrank zu gehören, der ursprünglich einmal für die Aufbewahrung ganz anderer Dinge gedacht war. Am augenfälligsten wird das bei der Dreiteilung der verschiedenartigen Handlungsanweisungen in problematische, assertorische und apodiktische Imperative.4 Ursprünglich bezeichnete diese Dreiergruppe bei Kant ja die drei Urteilsformen der Modalität. Nun soll die ordnende Funktion dieser Textpassage hier nicht etwa schlankweg in Abrede gestellt werden. Allenfalls kann man die Frage aufwerfen, ob es Kant an dieser Stelle tatsächlich nur um Ordnung und Übersichtlichkeit zu tun ist oder ob nicht hinter dem Versuch die „Ungleichheit der Nötigung des Willens“ mit Hilfe einer solchen Typologie der Imperative „merklich zu machen“,5 zugleich und zuvor auch die Absicht steht, die Sensibilität des Gewissens für die Rangunterschiede zwischen den verschiedenartigen Handlungsanweisungen zu schärfen, mit denen sich der Mensch in seinem Leben konfrontiert sieht.6

3

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 414,11–417,3; hier und im Folgenden wird der Text zitiert nach der Akademie-Ausgabe – abgek. AA –, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe. 4 Ebd., 414 f. 5 Ebd., 416. 6 Vgl. meine Diskussion mit Milan Damnjanovic in: Freiheit und Notwendigkeit in der europäischen Zivilisation. Perspektiven des modernen Bewusstseins. Referate und Texte des 5. Internationalen Humanistischen Symposiums 1981, hg. v. Chryssoula Soilé, Athen 1985, S. 406 ff.

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

2

163

Die Einteilung der Imperative als Spiegel des Kantschen Entwicklungsprozesses im Felde der Ethik

Auf alle Fälle aber ist dies nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen nämlich ist der zur Diskussion stehende Abschnitt zugleich das Resultat einer fast dreißigjährigen aktiven Auseinandersetzung Kants mit den Problemen der Ethik – bereits für das Wintersemester 1756/57 kündigt der gerade habilitierte Magister legens Kant ja eine eigene Vorlesung über Moralphilosophie an7 –, einer Auseinandersetzung, deren verschiedene Reflexionsschichten im vorliegenden Text noch deutlich zu erkennen sind. Der Abschnitt ist daher zugleich so etwas wie ein Fazit des Kantschen Entwicklungsprozesses im Felde der praktischen Philosophie. Kant als Systemdenker und Kant als Prozeßdenker bestimmen gleichermaßen seinen Duktus. Dieser Entwicklungsprozeß ist im Felde der praktischen kaum weniger verwickelt als im Felde der theoretischen Philosophie. Das alles kann im Rahmen einer Textinterpretation nicht nebenbei auch noch miterörtert werden. Vielmehr muss es an dieser Stelle genügen, die wichtigsten, für das Verständnis des Textes unmittelbar einschlägigen Etappen jenes Gedankenprozesses in aller Kürze in Erinnerung zu rufen. Was zunächst die grundlegende Zweiteilung betrifft, mit der Kant den zur Diskussion stehenden Abschnitt der Grundlegung beginnt – „Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch“8 –, so ist die sachliche Nähe zu der Preisschrift des Jahres 1762 mit Händen zu greifen. Dabei geht es nicht um die genauere inhaltliche Ausformulierung der obersten Grundsätze, die sich 1762 noch stark an Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten anlehnt, und auch nicht um die kritische Terminologie des Alterswerks – als Kant die Grundlegung nach so vielen Ankündigungen9 endlich zu Papier bringt, ist er immerhin sechzig Jahre alt. Beide sind in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral allenfalls in Ansätzen aufzuspüren. Was dagegen in der Preisschrift von 1762 schon deutlich artikuliert ist, das ist die grundlegende Zweiteilung im Sollenscharakter praktischer Sätze: „Man soll dieses oder jenes tun, und das andre lassen; dies ist die Formel, unter welcher eine jede 7

Emil Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen nebst darauf bezüglichen Notizen und Bemerkungen, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1909, S. 173–344, hier S. 181 u. S. 335. 8 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 414. 9 Giorgio Tonelli, Kant’s Ethics as a Part of Metaphysics: a Possible Newtonian Suggestion? With Some Comments on Kant’s ‚Dream of a Seer‘, in: Philosophy and the civilizing arts, hg. v. Craig Walton u. John Peter Anton, Athens, Ohio 1974, S. 236–263.

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Moralphilosophie

Verbindlichkeit ausgesprochen wird. Nun drückt jedes Sollen eine Notwendigkeit der Handlung aus, und ist einer zwiefachen Bedeutung fähig. Ich soll nämlich entweder etwas tun (als ein Mittel), wenn ich etwas anders (als einen Zweck) will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) tun, und würklich machen. Das erstere könnte man die Notwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam), das zweite die Notwendigkeit der Zwecke (necessitatem legalem) nennen. Die erstere Art der Notwendigkeit zeigt gar keine Verbindlichkeit an, sondern nur die Vorschrift als die Auflösung in einem Problem, welche Mittel diejenige sind, deren ich mich bedienen müsse, wie [wenn?] ich einen gewissen Zweck erreichen will. Wer einem andern vorschreibt, welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse, wenn er seine Glückseligkeit befördern wollte, der konnte wohl zwar vielleicht alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdenn nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche Teile zerfällen will, d.i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will“.10 Dagegen muss ein „Satz, wenn er eine Regel und Grund der Verbindlichkeit sein soll, die Handlung als unmittelbar notwendig, und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks gebieten“.11 Zwischen bloßer Glückseligkeitslehre und Moral besteht daher ein wesentlicher Unterschied. Eine gewisse Distanz gegenüber dem Eudämonismus, der das Wesen der moralischen Verbindlichkeit verfehlt, kündigt sich allem Anschein nach bereits an dieser Stelle an. Wie stark diese Überlegungen des Jahres 1762 jedenfalls noch 1785 weiterwirken, zeigt unter anderem das von Kant gebrauchte Beispiel des Kreuzbogens. Noch in der Grundlegung heißt es: „Daß, um eine Linie nach einem sichern Prinzip in zwei gleiche Teile zu teilen, ich aus den Enden derselben zwei Kreuzbogen machen müsse, das lehrt die Mathematik freilich nur durch synthetische Satze; aber daß, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz“.12 Übrigens sind es die beiden einzigen Stellen, an denen Kant das Wort ‚Kreuzbogen‘ in seinen Werken gebraucht.13

10

Immanuel Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: AA II 298. 11 Ebd. 12 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 417. 13 Vgl. Gottfried Martin, Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften, Bde. 16 u. 17: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, bearb. v. Dieter Krallmann u. Hans Adolf Martin, Berlin 1967, S. 552.

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

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Nicht ganz so weit lässt sich die anschließende Dreiteilung in Handlungsanweisungen der Geschicklichkeit, der Klugheit und der Sittlichkeit – beziehungsweise, wie es an der dritten Stelle anfangs noch heißt, der Weisheit – zurückverfolgen, an die 1762 noch mit keiner Silbe gedacht ist. Spätestens 1772, also etwa zehn Jahre nach der Preisschrift, scheint jedoch auch diese Dreiteilung festzustehen. Das Motiv nämlich, das zu ihrer Ausarbeitung geführt hat, war allem Vermuten nach Kants Versuch einer Standortbestimmung der philosophischen Anthropologie;14 Kants erste selbständige Anthropologievorlesung aber fällt in das Wintersemester 1772/73.15 So heißt es beispielsweise in Kants Vorlesungen über Menschenkunde oder philosophische Anthropologie: „Es gibt dreierlei Arten von Lehren, die alle zu unserer Vollkommenheit beitragen. Die eine Art macht uns geschickt, die andere klug, die dritte weise. Zum Geschicktwerden dienen alle Wissenschaften der Schule ... Wollen wir einen Schritt in die Welt tun, so müssen wir lernen, wie wir klug werden sollen. // Die höchste Stufe der Weisheit ist der Geist der Vollkommenheit, aber sie wird selten erreicht.“16 Parallel dazu liest man im Anthropologienachlass in den Collegentwürfen aus den 70er Jahren: „Dreierlei Lehren: 1. Die geschickt; 2. die klug; 3. die weise machen: scholastische, pragmatische und moralische Kenntnis“.17 Während die Zweiteilung also in der Frage nach der unterschiedlichen Art der Verbindlichkeit ihren Ursprung hat, erwächst die Dreiteilung aus der Frage nach dem verschiedenartigen Sinn praktischer Sätze im Ganzen menschlichen Handelns. Schon die hier nur flüchtig skizzierte entwicklungsgeschichtliche Durchleuchtung des vorliegenden Abschnitts zeigt damit zugleich: Bei den genannten beiden Aufgliederungen der verschiedenartigen Imperative, der Zwei- und der Dreiteilung, handelt es sich ursprünglich um zwei miteinander konkurrierende Einteilungen, deren treibende Kräfte auf ganz verschiedener Ebene zu suchen sind. Aus dem Blickwinkel des systematischen Kopfes ist die erneute Aufteilung der hypothetischen Imperative in problematische und assertorische,18 die den Übergang von der Zwei- zur Dreiteilung bewerkstelligt, ohne Zweifel eine elegante Lösung. Sachlich gesehen

14

Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 1980, S. 99 ff. 15 Vgl. Norbert Hinske, Kants Idee der Anthropologie, in: Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, hg. v. Heinrich Rombach, Freiburg u. München 1966, S. 410–437, hier S. 413. 16 Immanuel Kant’s Menschenkunde oder philosophische Anthropologie, hg. v. Friedrich Christian Starke [= Johann Adam Bergk], Quedlinburg u. Leipzig 1831, 21838, Neudr. Hildesheim u. New York 1976, S. 4. 17 Reflexion 1482, in: AA XV 659. 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 414 f.

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Moralphilosophie

aber fügen sich beide Einteilungen keinesfalls so nahtlos ineinander, wie es die systematische Anordnung der Imperative bei flüchtiger Lektüre glauben machen kann.

3

Die „Ratschläge der Klugheit“ als Richtigstellung der Interpretation der Ethik als Glückseligkeitslehre

Bis zu einem gewissen Grade fasst der vorliegende Textabschnitt also Gedanken zusammen, die für Kant seit langem eine ausgemachte Sache sind. Aber die Grundlegung ist dennoch etwas anderes als der krönende Abschluß eines geradlinigen Reflexionsprozesses, als die reife Frucht am Baum der Erkenntnis. Auch die Gedankenentwicklung im Felde der praktischen Philosophie ist bei Kant von schwerwiegenden „Umkippungen“19 und Selbstkorrekturen gekennzeichnet. „Wenn man mit wirklichem Ernst, die Wahrheit zu finden, nachdenkt, so verschont man zuletzt seine eigene Produkte nicht mehr“,20 das gilt auch für sie. Eine solche Selbstkorrektur spiegelt sich beispielsweise in der scheinbar beiläufigen, in einer Anmerkung untergebrachten Unterscheidung zwischen Welt- und Privatklugheit.21 Das einseitige Verständnis von Klugheit als Geschicklichkeit im Umgang mit anderen, das vor allem die ersten Anthropologievorlesungen bestimmt, wird damit stillschweigend zurechtgerückt.22 Die vielleicht folgenschwerste Änderung aber verbirgt sich hinter der Formel von den „Ratschlägen der Klugheit“, die in unserem Textabschnitt23 zum ersten Mal auftaucht, aber erst an späterer Stelle24 ihre sachliche Rechtfertigung erhält. Was auf den ersten Blick wie eine harmlose Klassenbeschreibung im Ganzen eines Systems der Imperative aussieht, ist in Wahrheit Ausdruck einer der brisantesten Kurskorrekturen, die in der Geschichte der Ethik vorgenommen worden sind. Deren Auslegung als Glückseligkeitslehre erhält durch jene Korrektur eine neue, drastisch eingeschränkte Funktion. Alle Sätze, die sich auf die Idee der Glückseligkeit stützen, werden zu bloßen Vorschlägen heruntergestuft oder heruntergespielt; gegen sie zu verstoßen, ist jetzt nicht mehr Schuld, sondern Mangel an Nachdenklichkeit. Erst damit aber gewinnt der Pflichtgedanke seinen singulären, unangefochtenen Rang als Grundlage aller Ethik. Quellengeschichtlich gesehen geht diese Neubestimmung, mit 19

AA X 55. Reflexion 5116, in: AA XVII 95. 21 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 416. 22 Vgl. Norbert Hinske, Lebenserfahrung und Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 41 ff. 23 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 416. 24 Ebd., 418. 20

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

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der Kant die alte Auslegung der Ethik als Glückseligkeitslehre endgültig beiseiteschiebt, allem Vermuten nach auf den unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss von Xenophons Erinnerungen an Sokrates zurück. So gesehen wird die alte Ethik durch eine ältere zurechtgerückt. Klaus Reichs immer noch grundlegende Abhandlung über Kant und die Ethik der Griechen25 ist daher um einen dritten, nicht weniger wichtigen Abschnitt zu ergänzen. Die Rede von „Ratschlägen der Klugheit“ führt, aus diesem Blickwinkel betrachtet, mitten in einen Gedankenkomplex, der im Ganzen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine unableitbar eigenständige Stellung einnimmt. Seine Begründung liegt nicht etwa in der Analyse der Idee eines vernünftigen Willens, sondern in einer Reflexion auf die Glücksidee. Um die entscheidende Aussage in den Blick zu bekommen, die sich hinter jener Redeweise verbirgt, muss man sich zunächst klarmachen, dass in ihr zugleich ein affirmatives und ein negatives Moment enthalten sind. Isoliert betrachtet macht jedes von beiden nur die halbe Wahrheit aus. Nur zusammengenommen bringen sie zum Ausdruck, was der sechzigjährige Kant in Sachen Glück zu sagen weiß.

a) Das Moment der Sicherheit innerhalb der Klugheitsanweisungen – alle wollen tatsächlich Glück Auf der einen Seite handelt es sich bei den Ratschlägen der Klugheit um Handlungsanweisungen, deren letztes Ziel in Wahrheit niemanden gleichgültig lassen kann. Sie reden nicht von irgendwelchen „bloß möglichen, d.i. problematischen, Zwecken“, sondern von einem Zweck, der „nicht unter die bloß beliebigen Zwecke gehöret“, sondern wirklich vorhanden, ja für den Menschen sogar „subjektiv-notwendig“ ist,26 und gebieten daher assertorisch. So unterschiedlich die Lebensvorstellungen der Menschen auch sein mögen – Horaz, Carmina, I, 1, weiß ein Lied davon zu singen – , alle durch die Bank sind mit dem Wunsch beschäftigt, glücklich zu sein. Die Mittel, die dieser oder jener Ratschlag der Klugheit in Vorschlag bringt, mögen falsch gewählt sein, über das Ziel aber, das er letzten Endes zu erreichen sucht, kann kein Streit bestehen. Das unterscheidet die „Ratschläge der Klugheit“ von allen „Regeln der Geschicklichkeit“. Jedem anderen Lebensziel kann der Mensch mit Achselzucken gegenübertreten, von jedem anderen kann er sich wenn auch manchmal schweren Herzens, distanzieren – und er ist gut beraten, wenn er das nie ganz vergisst –, diesem Ziel gegenüber aber wäre alle Gleichgültigkeit nur gespielt.

25 26

Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Erste Einleitung, in: AA XX 200.

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Moralphilosophie

Das Moment der Sicherheit, das in allen Klugheitsanweisungen mitschwingt, gründet also in letzter Instanz nicht etwa in der souveränen Beherrschung der Mittel, sondern in dem Wissen, dass es den einen ‚Zweck‘ gibt, „den man bei allen vernünftigen Wesen ... als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit“.27 Es ist dies ein Gedanke, der sich bis zu Platon und Aristoteles zurückverfolgen lässt28 und der seither zu den immer wieder bekräftigten Grundprämissen praktischer Philosophie gehört. Deshalb ist es an dieser Stelle auch nahezu aussichtslos, die genaue Quelle ermitteln zu wollen, die Kant zu dieser Überzeugung geführt hat. Unter den Autoren, die ihm besonders nahegelegen haben, wäre beispielsweise Jean-Jacques Rousseau zu nennen. In seinem Emile erklärt der Erzieher: „Man soll glücklich sein, lieber Emile; das ist das Ziel jedes empfindsamen Wesens; das ist das erste Verlangen, das die Natur uns einprägte, und das einzige, das uns niemals verläßt.“ „Il faut être heureux, cher Émile: c’est la fin de tout être sensible; c’est le premier désir que nous imprima la nature, et le seul qui ne nous quitte jamais“.29 Aber auch Seneca käme für die erste Vermittlung des Gedankens infrage. Auch für ihn steht fest: „alle wünschen sich ein glückliches Leben“ – „omnes beatam vitam optent“ –.30 Für Seneca freilich ist mit diesem Axiom, wie dann übrigens auch für Rousseau, untrennbar eine Aporie verknüpft; der vollständige Text lautet: „Was also ist es, worin man sich irrt, da sich doch alle ein glückliches Leben wünschen?“ – „Quid est ergo, in quo erratur, cum omnes beatam vitam optent?“:31 „Alle, sage ich, streben nach Freude, aber sie wissen nicht, wo sie eine verlässliche und große erlangen könnten“ – „Omnes, inquam, illo tendunt ad gaudium, sed unde stabile magnumque consequantur, ignorant“ –.32 Eben diese Aporie führt unmittelbar an das zweite, negative Moment heran, das in den Ratschlägen der Klugheit nicht weniger elementar enthalten ist.

27

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 415. Vgl. Platon, Symposion, Kap. 24, 204e f.; Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch 1, Kap. 2, 1095a 14 ff. 29 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, hg. v. Martin Rang, Stuttgart 1963, S. 883. 30 L. Annaeus Seneca, Ad Lucilium epistulae morales, Buch 5, Brief 44, 7. 31 Ebd. 32 Ebd., Buch 6, Brief 59, 14. 28

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

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b) Das Moment der Unsicherheit innerhalb der Klugheitsanweisungen – niemand weiß mit Gewissheit, was er da will Die Absicht auf Glück also ist die gemeinsame Ausgangsbasis aller Menschen. Eben das war ja auch der Grundgedanke der überlieferten Ethik, sofern und soweit sie sich als Glückseligkeitsethik verstanden hat33 – von einer Ausgangsbasis her, die von allen geteilt wird, lässt sich trefflich argumentieren. Aber diese Basis – das nun ist das einschneidend Neue der Kantschen Position – bietet bei genauerem Hinsehen keine geeignete Grundlage für die Ausarbeitung einer praktischen Philosophie. Denn jene Glücksvorstellung ist für sich genommen nur ein leerer Traum von Glück. Trockener formuliert: Sie ist nur ein rein formaler Begriff. Jede inhaltliche Füllung dieses Traumes aber ist so vielen biographischen Zufälligkeiten, aber auch so vielen objektiven Unwägbarkeiten unterworfen, dass darüber überhaupt keine allgemeinverbindliche Aussage möglich ist. In Wahrheit stochert der Mensch bei der Suche nach Glück unentwegt im Nebel herum. Ein Hafen ist nicht in Sicht. Wer definitiv zu wissen meint, was Glück ist, hat sich selbst noch nicht begriffen. Die Einsicht in den wahren Sinn von Glück verlangte „Allwissenheit“,34 wahres Glück gehört, zugespitzt formuliert, in den Bereich der Noumena. In den durch unsere Lebenszeit abgesteckten Grenzen gibt es nur ein Glück zwischen Philosophie und Philatelie, und dazwischen liegt viel. Eben deshalb bietet die Glücksidee – im Unterschied zur Pflichtidee – keinen verlässlichen Maßstab, an dem sich der Mensch in seinem täglichen Handeln zu orientieren vermag. Was bleibt, sind Ratschläge – nicht mehr und nicht weniger. Der letzte Abschnitt war ein etwas freies Referat, das die Stoßrichtung des Kantschen Gedankens offenlegen wollte. Die entscheidende Textpassage, in der Kant diese Überlegungen entwickelt, sei daher zunächst noch einmal zum Vergleich und zur Kontrolle im Wortlaut angeführt: Kant schreibt in der Grundlegung: „Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande er-

33

Vgl. Klaus Jacobi, Zur Konzeption der praktischen Philosophie bei Leibniz, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover vom 17. bis 22. Juli, Bd. 3, Wiesbaden 1975, S. 145–173, sowie Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, a.a.O., S. 97 f. 34 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 418.

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Moralphilosophie

forderlich ist. Nun ist’s unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde.35 Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, z.B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung u.s.w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, daß die Imperativen der Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d.i. Handlungen objektiv als praktisch-notwendig darstellen können, daß sie eher für Anratungen (consilia) als Gebote (praecepta) der Vernunft zu halten sind, daß die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich sei, der im strengen Verstande geböte, das zu tun, was glücklich macht“.36

Analysiert man in einem ersten Schritt die Begrifflichkeit, die Kant in diesem Abschnitt der Grundlegung gebraucht, so gelangt man zu der überraschenden Feststellung, dass der Begriff der „Ratschläge der Klugheit“ ebenso wie der der „Anratungen“ innerhalb der sogenannten Druckschriften, also der von Kant selbst veröffentlichten Werke, hier zum ersten Mal auftaucht. „Anratungen der Klugheit“ ist daneben einmal im Anthropologienachlass belegt – nach der Datierung von Erich Adickes

35

Vgl. Johann Friedrich Zöllner, Ueber Moses Mendelssohn’s Jerusalem, Berlin 1784, S. 99 f.: „Wo ist da das Prinzip, wodurch ein Mensch berechtigt werden könnte, zu dem andern zu sagen: du sollst bei der Bestimmung deines Glückes dich dieses Maßstabes bedienen, du sollst zu Erreichung desselben diese Mittel anwenden? der Allweise allein konnte entscheiden, welche Art von Glückseligkeit den verschiedenen Klassen seiner Geschöpfe entspreche, und was mit der besonders modifizierten Natur eines jeden Einzelnen in Harmonie stehen sollte. Wo ist aber unter den Menschen der, der sich diesen Scharfblick, diese Übersicht des Ganzen, durch alle zukünftigen Zeiträume, in allen möglichen Verbindungen, anmaßen könnte?“ 36 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 418.

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

171

zwischen 1776 und 1778.37 Das dazugehörige Adjektiv „anratig“ vollends findet sich erst drei Jahre nach der Grundlegung in der Kritik der praktischen Vernunft.38 Dieser trockene begriffsgeschichtliche Befund nimmt der Rede von den „Ratschlägen der Klugheit“ ein Stück ihrer Selbstverständlichkeit; er entfernt gewissermaßen den Staub der Gewöhnung, mit dem die Kantinterpretation so oft zu kämpfen hat, und legt die Vermutung nahe, dass wir es hier innerhalb des Kantschen Entwicklungsprozesses mit einem relativ neuen Gedanken zu tun haben. Eben deshalb mag sich als zweiter Schritt auch die quellengeschichtliche Frage nahelegen: Handelt es sich bei den skizzierten Überlegungen zum Thema Glück um eine genuine Einsicht Kants, um einen Ausdruck philosophischer Originalität, oder lässt sich am Ende eine Quelle angeben, die Kant an dieser Stelle mehr oder minder stark beeinflusst und geleitet hat?

4

Der Einfluss Xenophons

Die nachfolgenden Überlegungen wollen den bereits angekündigten quellengeschichtlichen Nachweis erbringen, dass Kant an dieser Stelle unmittelbar oder mittelbar von Xenophons Erinnerungen an Sokrates beeinflusst worden ist, einem Text, der im Deutschland des 18. Jahrhunderts immer wieder herausgegeben, übersetzt und

37

Reflexion 1028, in: AA XVI 460. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: AA V 36: „Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an; das Gesetz der Sittlichkeit gebietet. Es ist aber doch ein großer Untersch1ed zwischen dem, wozu man uns anrätig ist, und dem, wozu wir verbindlich sind.“ Vgl. ferner ebd., AA V 80 u. AA V 163. 38

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Moralphilosophie

kommentiert worden ist.39 Mehr als Platon hat er das Sokratesbild des 18. Jahrhunderts geprägt.40 Dass daneben auch zahlreiche andere Einflüsse antiker oder zeitgenössischer Autoren, und zwar nicht etwa nur von Christian Garve und Moses Mendelssohn – beziehungsweise von Marcus Tullis Cicero und Platon –, sondern zum Beispiel auch von Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann Joachim Spalding oder Johann Friedrich Zöllner,41 mitgespielt haben werden, versteht sich angesichts der äußeren Entstehungsgeschichte der Grundlegung von selbst. Um den Einfluß Xenophons sichtbar zu machen, sei zunächst noch einmal an die beiden Grundgedanken erinnert, die im vorliegenden Textabschnitt den Ausgangspunkt der Kantschen Überlegungen bilden: (1.) Der Begriff der Glückseligkeit ist als Idee eines ‚absoluten Ganzen‘ ein ‚unbestimmter Begriff‘, der zu seiner inhaltlichen Füllung auf ‚Elemente‘ angewiesen ist, die ‚insgesamt empirisch sind‘.

39

Christian Thomasius, Xenophons Geschichte Von der Lebens-Art Und den Lehren des Weltweisen Socrates, darinn seine Lehre von den vornehmsten Stücken des menschlichen Lebens in lehrreichen Gesprächen, als so vielen Exempeln, vorgetragen wird; Nach Christian Thomasens Ubersetzung; Der beygefüget, Abhandlung von der Kunst und den Vortheilen der Socratischen Lehr-Art und Gespräche, Durch den Zürcherischen Zuseher, Zürich 1693, 1738. Johann Michael Heinze, Xenophons Vier Bücher Sokratischer Denkwürdigkeiten und Vertheidigung des Sokrates, Weimar 1777, 21784. Johann Caspar Küntzel, Xenophons Denkwürdigkeiten des Sokrates 2tes bis 4tes Buch, nebst einer Abhandlung über die vortheilhafte Anwendung der Sokratischen Lehr-Art, Jauer 1777, Breslau 2 1792. Es spricht einiges dafür, dass Kant die angeführte Übersetzung von Thomasius benutzt haben könnte. Vgl. Immanuel Kant’s Menschenkunde oder philosophische Anthropologie, a.a.O. S. 23: „Sokrates sagte, er sei die Hebamme seiner Zuhörer“ und die Abhandlung des „Zürcherischen Zusehers“, S. 4 (unpag): „Er pflegte öfters zu sagen, er sei einer Heb-Amme Sohn, und er treibe das Handwerk seiner Mutter, er habe die Kraft nicht selbst zu gebären, das ist, die Wahrheit zu finden; aber wohl andern bei ihrer Geburt behülflich zu sein.“ Auch diese Bemerkung geht also möglicherweise nicht auf Platons Theaitet, sondern auf eine allgemeine Einleitung zu Xenophon zurück. Angesichts der Unbekümmertheit, mit der Aussprüche dieser Art im 18. Jahrhundert von Autor zu Autor weitergegeben wurden, sind aus der vorliegenden Parallele aber keine irgendwie sicheren positiven Schlüsse zu ziehen. 40 Vgl. [anonym], Damm’s schriftliche Anmerkungen zum Xenophon, in: Berlinische Monatsschrift 27 (1796) 69–83; Friedrich Nicolai, Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn, in: Neue Berlinische Monatsschrift III (1800) 338–363. 41 Vgl. in diesem Aufsatz Anm. 35 sowie Norbert Hinske, La libertà di scegliersi la felicità. Il contributo di Kant alle fondazione dei diritti individuali di libertà, in: Rivista di Filosofia neo-scolastica 78 (1986) 198–210, hier S. 200.

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

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(2.) Bei allen empirischen Elementen aber, die für eine inhaltliche Füllung dieses ‚unbestimmten Begriffs‘ infrage kommen könnten – ‚Reichtum‘, ‚Erkenntnis und Einsicht‘, ‚langes Leben‘, ‚Gesundheit‘, ‚u.s.w.‘ –, handelt es sich bei genauerem Hinsehen um zweischneidige Dinge, deren Folgen, ob Glück oder Unglück, sich nicht mit Sicherheit vorausberechnen lassen. Beide Gedanken sind untrennbar miteinander verknüpft. Sie bilden sozusagen die Prämissen, aus denen Kant – nicht der Xenophontische Sokrates – dann die Schlußfolgerung zieht: (3.) In Sachen Glück ist kein ‚Imperativ‘ möglich, „der im strengen Verstande geböte, das zu tun, was glücklich macht“. Glück erlaubt nur Ratschläge. Denn nur Ratschläge lassen dem anderen die Freiheit – das präzise ist das Wesen eines Rats –, über sein eigenes, konkretes Glück in letzter Instanz selbst zu entscheiden, freilich um den Preis, damit auch zugleich alle Risiken einer falschen Entscheidung auf sich zu nehmen und alle Folgen derselben selbst tragen zu müssen. Die beiden Prämissen nun, von denen aus Kant zu eben diesem Resultat gelangt, bilden zugleich – in umgekehrter Reihenfolge – die Quintessenz eines längeren Gesprächs über das Gute, das Sokrates in einem der interessantesten Kapitel der Memorabilien mit Euthydemos führt: (1.) Im Buch IV – Kap. 2, 31–33 – zeigt Sokrates an den beiden Beispielen der Gesundheit und des Wissens, dass sich vieles von dem, was der Mensch auf den ersten Blick ganz fraglos für gut hält, bei näherem Hinsehen als eine überaus zweischneidige Sache – ἀμφισβήτητον, ἀμφίλογον, ἄδηλον – herausstellt. Krankheit kann jemanden vor der Teilnahme an einem scheiternden Feldzug oder Seeunternehmen bewahren – man denkt unwillkürlich an die zweite Sizilische Expedition, das Stalingrad Athens –, Gesundheit dagegen dazu veranlassen. Fachwissen, das sich andere nutzbar machen wollten, hat einen genialen Ingenieur wie Daidalos, aber auch zahlreiche Griechen während der Perserkriege, um Heimat und Freiheit gebracht – die technische Intelligenz ist offenbar nicht erst 1945 als Teil der Kriegsbeute betrachtet worden. Wenig später – im Buch IV, 2, 34 f. – wird die Liste solcher zweischneidigen Güter noch um Schönheit, Kraft, Reichtum, Ansehen und politischen Einfluss ergänzt. Bei allen diesen Gütern, so begehrt sie auch sein mögen, weiß man nicht, ob sie dem Menschen zu Glück oder Unglück gereichen werden. Dass in diesen Überlegungen der genuine, nur zu oft trivialisierte Sinn des Sokratischen Nichtwissens anklingt, sei hier nur am Rande hinzugefügt. (2.) In die Ecke gedrängt, wendet sich Euthydemos daher – im Buch IV, 2, 34 ff. – einem Gut zu, das auf ganz anderer Ebene liegt und allem Streit entzogen scheint:

174

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dem εὐδαιμονεῖν – beziehungsweise, wie es bei Johann Michael Heinze in einer der Übersetzungen des 18. Jahrhunderts, heißt – der „Glückseligkeit“.42 Bei ihr aber handelt es sich, so macht Sokrates im Gegenzug deutlich, um etwas, das sich allem Anschein nach überhaupt nicht anstreben lässt, ohne dass man es aus „zweifelhaften Gütern“ oder „Stücken“43 zusammensetzt: ἐξ ἀμφιλόγων ἀγαθῶν συντιθείη – beziehungsweise ohne dass wir irgendetwas Konkretes, nämlich die εὐδαιμονικά, „mit dazu rechnen“44 – προσθήσομεν . Εὐδαιμονικά fungiert dabei als Sammelbegriff für alle jene zweischneidigen Güter, von denen im vorangegangenen die Rede war. Xenophon unterscheidet in diesem Gespräch also sehr überlegt zwischen dem abstrakten εὐδαιμονεῖν als solchem und den einzelnen, konkreten εὐδαιμονικά – zwischen dem unbestimmten „Begriff der Glückseligkeit“ und den empirischen „Elementen, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören“, heißt es parallel dazu bei Kant. Bei beiden Autoren stößt man auf die gleiche Denkfigur: Glück beziehungsweise Glückseligkeit als immer schon vorgegebenes Lebensziel bedarf stets der Konkretisierung durch irgendwelche Elemente der Erfahrung; ‚reines‘ Glück ist Un-Glück im wörtlichen Sinne. Jedes dieser Elemente aber ist in Wahrheit eine dubiose Angelegenheit. Eben deshalb, so lautet die Schlußfolgerung Kants, ist niemand imstande, „mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde“. Auch das deckt sich noch bis zu einem gewissen Grade mit der Schlußfolgerung des Euthydemos bei Xenophon – im Buch IV, 2, 36 –, die die Problematik bewusst auf die Spitze treibt: „so weiß ich gar nicht, warum ich die Götter bitten soll“:45 ὁμολογῶ μηδ᾽ ὃ τι πρὸς τοὺς θεοὺς εὔχεσθαι χρὴ εἰδέναι.46 Vergegenwärtigt man sich, wie frei Kant in der Regel mit den Gedanken anderer Autoren umgeht, so sind die Parallelen wohl kaum zu übersehen. Aber die Parallelen beschränken sich nicht etwa auf den vorliegenden Textabschnitt. Eine vergleichende Lektüre der Memorabilien lässt vielmehr auch andere Passagen der Grundlegung in neuem Licht erscheinen. Das gilt vor allem für den vieldiskutierten Anfang des ersten Abschnitts, der den „Übergang von der gemeinen 42

Heinze, Xenophons Vier Bücher Sokratischer Denkwürdigkeiten, a.a.O. S. 312. Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 313. 46 Vgl. Reflexion 2190, in: AA XVI 265: „Sokrates vom Gebet“. Der Quellenverweis von Erich Adickes auf Xenophons Memorabilien, I, 3, 2, ist durch IV, 2, 36, zu ergänzen. Möglicherweise haben die Memorabilien Kants Denken auch noch in anderer Hinsicht angeregt; so findet sich beispielsweise in Xenophons Buch II, 6, 21, eine Beschreibung des Antagonismus der ‚ungeselligen Geselligkeit‘, wie sie Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht, A 392, entwickelt. 43

Die ‚Ratschläge der Klugheit‘ im Ganzen der Grundlegung

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sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“47 zum Thema hat. In einem früheren, in seiner Fragestellung eng benachbarten Kapitel der Memorabilien – Buch III, Kap. 8 – behandelt Xenophon nämlich das Problem, ob es überhaupt etwas gebe, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden“.48 Der Xenophontische Sokrates verneint diese Frage auch hier, wohl wissend, dass alles, was gut ist, „zuweilen auch schlecht ist“ – κακὸν ἐνίοτε, heißt es in den Memorabilien, Buch III, 8, 2 –: „Alles ist in Absicht auf dasjenige gut und schön, wozu es gut paßt, schlecht und mißlich aber in Absicht auf das, wozu es schlecht paßt“: πάντα γὰρ ἀγαθὰ μὲν καὶ καλά ἐστι πρὸς ἂ ἃν εὖ ἔχῃ, κακὰ δὲ καὶ αἰσχρὰ πρὸς ἂ ἃν κακῶς, heißt es später in Buch III, 8, 7. Weitgehend übernimmt Kant diese Sokratische oder Xenophontische Position. Ja sogar bestimmte Tugenden wie „Mäßigung“ oder „Selbstbeherrschung“49 werden von ihm, in krassem Gegensatz zur Denkweise der Antike, auf solche Art und Weise relativiert. Aber er macht eine, für den Entwurf einer Metaphysik der Sitten ganz entscheidende Ausnahme – eine Ausnahme, die wohl auch Sokrates und Platon gemacht hätten50: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“.51 Es spricht manches dafür, dass sich Kant an dieser Stelle stillschweigend mit dem Xenophontischen Sokrates auseinandersetzt. Eine solche Interpretation kann vielleicht auch am ehesten plausibel machen, wieso Kant trotz des anspruchsvollen Anfangs des ersten Abschnitts der Meinung sein konnte, „von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“52 auszugehen – sie war für ihn durch Autoren wie Xenophon repräsentiert.

5

Die Konsequenzen der skizzierten Richtigstellung für die praktische Philosophie überhaupt

Worin aber besteht nun der philosophische Ertrag dieser mit so viel Aufwand vorgenommenen sachlichen und quellengeschichtlichen Analyse? Handelt es sich bei ihr

47

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 393. Ebd. 49 Ebd., AA IV 394. 50 Vgl. beispielsweise Platon, Apologie, 29b: „Im Vergleich also mit den Übeln, die ich als Übel kenne, werde ich niemals das, wovon ich nicht weiß, ob es nicht ein Gut sei, fürchten oder fliehen.“ Vgl. auch Aristoteles, Große Ethik, Buch 1, Kap. 2, 1183b 37 ff. 51 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV 393. 52 Ebd., AA IV 393. 48

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um ein Glasperlenspiel, das bloß den Regeln der Kunst genügen will, oder ist sie geeignet, die ethischen Grundfragen, um die es Kant zu tun war, in neuem Licht erscheinen zu lassen? Der sachliche Ertrag lässt sich vielleicht in vier Gedanken zusammenfassen: (1.) Die Analyse zeigt zunächst, dass die von Kant mehr entworfene als ausgeführte Klugheitslehre beziehungsweise die von ihm vorgenommene Neuinterpretation der Glückseligkeitslehre auf einem eigenständigen, von den anderen Überlegungen der Grundlegung unabhängigen Begründungszusammenhang beruht, und zwar gleichermaßen in sachlicher, entwicklungsgeschichtlicher und quellengeschichtlicher Hinsicht. Sie gilt aus eigenem Recht. Zwar haben die „Ratschläge der Klugheit“ – wie alle anderen Handlungsanweisungen auch – in dem systemischen Aufriss aller möglichen Imperative schließlich ihre feste Stelle gefunden, ihre sachliche Rechtfertigung aber folgt nicht der Hauptschiene der Argumentation. Auch wenn alle anderen Überlegungen, die Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorträgt, fragwürdig oder falsch wären – soweit ich erkennen kann, ist das bei den zentralen Argumentationsgliedern unbeschadet der vorgetragenen Einwände keineswegs der Fall –, würde die spezifisch Kantsche Version der Klugheitslehre nicht davon berührt. (2.) Dennoch aber kommt jener Neuinterpretation der Glückseligkeitslehre im Ganzen der Ethik Kants eine wichtige Funktion zu. Sie bereitet sozusagen den Boden, auf dem die Pflichtidee allererst ihre ganze Kraft entfalten kann. Sie räumt die Hindernisse beiseite, die den Menschen immer wieder davon abhalten wollen, seine Pflicht zu tun. Sie zeigt: Der Konflikt zwischen Pflicht und Glückseligkeit ist nicht gar so dramatisch, das dem Menschen abverlangte Opfer nicht gar so groß, wie es für eine naive, von Erfahrung und Nachdenken nicht beschwerte Glücksvorstellung aussehen muss. Kants Rigorismus, soweit diese Charakterisierung überhaupt zutreffend ist, ist zu einem guten Teil ein Rigorismus der Desillusionierung. Solange der Mensch davon überzeugt ist, sein Glück, jenes einzigartige Gut, à fonds perdu geben zu müssen, wird es ihm zumindest schwerfallen, dem kategorischen Anspruch des Sittengesetzes Folge zu leisten. Je mehr er dagegen einsieht, wie wechsel- und zweifelhaft alle jene Glücksvorstellungen sind, von denen er sich so selbstverständlich leiten lässt, um so leichteren Herzens wird er sie beiseiteschieben können. Die Leidenschaft, mit der der Mensch ein Leben lang der Maske des Glücks hinterherrennt, hat ja auch ihre tragikomischen Züge. Wer einmal stehengeblieben ist und das bemerkt hat, wird es vielleicht nicht mehr ganz so schwer haben, ein immer zweifelhaftes Glück zugunsten der zumindest in zahlreichen Fällen unzweifelhaften Pflicht dem

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Schicksal anheimzugeben. Das ist übrigens auch der wahre Kern der Sokratischen Tugend-Wissen-Gleichung. (3.) Hand in Hand damit ruft Kant hier eine Tradition in Erinnerung, die angesichts der beherrschenden Rolle der Aristotelischen Ethik nur zu leicht in Vergessenheit gerät. Neben Elementen, die letztlich auf Aristipp oder Epikur zurückgehen,53 enthalten Kants Überlegungen zum Thema Glück nämlich auch einen genuin Sokratischen Gedanken. Es ist dies die Einsicht, wie sehr alle jene Glücksvorstellungen, mit denen der Mensch seinen Traum von Glück so oder so konkretisiert, an die Biographie des Einzelnen gebunden, wie vielen Zufällen sie unterworfen, mit wie vielen Risiken sie beladen sind. Denn es ist ja keinesfalls so, dass die genannten Glücksgüter nur dem Narren – ἄφρων – oder dem Ungerechten und Unbeherrschten – ἄδικος ἢ ἀκόλαστος – zum Verhängnis werden können54 – auch dem Klügsten und Gerechtesten können sie, wie Sokrates betont, zum Schaden gereichen. Dass Glück sich in Unglück verkehren kann, ist ein allgemeiner Satz. Bis zu einem gewissen Grade knüpft der Sokratische Gedanke des Nichtwissens hier an die Tradition der griechischen Tragödie an. Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten basiert so gesehen auf anthropologischen Grundeinsichten, die keine ethische Reflexion ungestraft aus dem Blick verliert. (4.) Dennoch aber hat Kants Neuinterpretation der Glückseligkeitslehre auch ihre nicht unbedenklichen Seiten. Ihre Wahrheit ist ständig in Gefahr, sich in Unwahrheit zu verkehren und die Frage nach dem Glück zu einer Sache der Beliebigkeit zu machen. Ihr Resultat wäre dann eine Nacht, worin alle Glücke schwarz sind.55 Manche Formulierungen vor allem des alten Kant könnten in diesem Sinne verstanden oder missverstanden werden: „Nur die Erfahrung kann lehren, was uns Freude bringe. Die natürlichen Triebe zur Nahrung, zum Geschlecht, zur Ruhe, zur Bewegung, und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) die Triebe zur Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntnis u.d.gl., können allein und einem jeden nur auf seine besondere Art zu erkennen geben, worin er jene Freuden zu setzen ... habe“.56 „Was diese – sc. andere Menschen – zu ihrer Glückseligkeit zahlen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen

53

Vgl. Maximilian Forschner, Guter Wille und Haß der Vernunft, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hg. v. Otfried Höffe, Frankfurt am M. 1989, S. 66–82, hier S. 72 f. 54 Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik, Buch 7, Kap. 15 (= Buch 8, Kap. 3), 1248b 31. 55 Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, a.a.O., S. 98. 56 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tl. 1: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: AA VI 215.

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überlassen“.57 So wahr es aber auch ist, dass die Entscheidung über sein eigenes Glück zuletzt immer die unvertretbare Entscheidung des Einzelnen ist und bleiben muss, so wahr ist es auf der anderen Seite auch, dass der Mensch damit zugleich eine schwerwiegende Entscheidung über sein Leben als ganzes fällt. Der Rang seiner Lebensführung ist nicht unabhängig von seinem Geschmack für Glück. Eben deshalb ist und bleibt die Frage nach den menschlichen Lebensinhalten, wie sie insbesondere die antike Bioilehre gestellt hat, ein ernstes Thema der praktischen Philosophie. Die Frage nach dem Glück erlaubt keinen Dispens von der Vernunft. Nur wenn man sich bewusst macht, wie viel Vernunft, wie viel Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Lebens, freilich auch, wie viel Respekt vor dem Anderssein des Anderen in einem klugen Rat gespeichert sind, ist Kants Rede von den „Ratschlägen der Klugheit“ eine vernünftige Rede.

57

Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tl. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, in: AA VI 388.

Glück und Pflicht Überlegungen zu Xenophons Erinnerungen an Sokrates und ihrer Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert Glück und Pflicht

1

Die Aporie von Glückssuche und Glückserfüllung: Glück als formaler und als inhaltlich bestimmter Begriff

Zu den ältesten überlieferten Sätzen der europäischen Philosophie gehört die Aufforderung: „Erkenne dich selbst“ – γνῶθι σαυτόν – Die Ursprünge dieses Satzes liegen weithin im Dunkeln. Allem Vermuten nach geht er auf einen der sogenannten ‚Sieben Weisen‘ des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor Christus zurück. Er hat die Menschen über die Zeitalter hinweg immer wieder in seinen Bann geschlagen. Noch das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – von 1783 bis 1793 –, eine der Gründungsurkunden der modernen Psychologie, trägt in großen griechischen Buchstaben eben diesen Titel. Es ist nicht zuletzt dieses Programm der Selbsterkenntnis, das dem Fach Psychologie für viele bis heute seine Faszinationskraft verleiht. Wer sich auf den Versuch einlässt, sich selbst zu erkennen, stößt aber auch früher oder später auf die Frage, wie man das denn anstellen könne. So einfach die Aufforderung auf den ersten Blick auch scheinen mag – jeder Versuch einer Antwort führt in steiniges Gelände. Der Blick in den eigenen Personalsausweis reicht dazu ja offenbar nicht aus. Auch diese Einsicht hat ihre lange Geschichte. „Es ist schwer, sich selbst zu erkennen“ – δύσκολον ... τὰ σαυτὸν γνῶναι – ist bei Diogenes Laertios, 1, 36, im dritten nachchristlichen Jahrhundert als einer der Sätze überliefert, die Thales von Milet zugeschrieben worden sind. Einer der geistreichsten Antwortversuche findet sich bei den frühen Sokratikern, nämlich in den Erinnerungen an Sokrates, den Apomnemoneumata von Xenophon, und zwar im zweiten Kapitel des vierten Buches. In ihm geht es ganz ausdrücklich um die Frage, „an welchem Punkt man denn ansetzen müsse, um sich selbst zu erkennen“.1 Der überraschende Grundgedanke des Sokrates ist: Ich erkenne mich

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Xenophon, Memorabilien, Buch 4, 2, 30.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_13

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selbst, wenn ich erkenne, was ich ganz fraglos für gut halte, oder anders formuliert: Ich erkenne mich selbst, wenn ich erkenne, was ich mit letzter Entschiedenheit will, um was es mir in meinem Leben eigentlich geht. Die Schlüsselfrage lautet: Welche Lebensabsichten kann ich nicht zur Disposition stellen, ohne mich damit zugleich selbst zur Disposition zu stellen? Der Mensch erkennt sich selbst, sobald und soweit er seine wahren Wünsche in den Blick bekommt, also dasjenige, was ihm nicht bloß als Mittel zum Zweck, als Mittel zu etwas anderem, sondern um seiner selbst willen wichtig ist. Die Beantwortung dieser Frage stellt sich jedoch im Verlauf des Gesprächs Schritt für Schritt als ein schwieriges Unternehmen heraus. Das beginnt gleich bei der ersten, scheinbar ganz selbstverständlichen Antwort. Sie lautet: Ohne Frage gut ist Gesundheit. Das ist nun wahrlich eine zeitlose Antwort. ‚Hauptsache, man ist gesund‘ hat vermutlich jeder von uns schon irgendwann einmal gesagt. Sokrates aber weist seinen Gesprächspartner darauf hin, dass es in manchen Fällen paradoxerweise gerade die Gesundheit ist, die den Menschen in schlimme Dinge verwickelt, während ihn eine rechtzeitige Krankheit ‚zum Glück‘ davor bewahrt. Als Beispiel nennt Sokrates die „Teilnahme an einem verfehlten Feldzug oder an einer mißglückten Flottenexpedition“.2 Wenn nicht alles täuscht, ist das eine Anspielung auf die zweite Sizilische Expedition im Verlauf des Peloponnesischen Krieges, die den Zeitgenossen damals noch in lebendiger Erinnerung gewesen ist. Sokrates bringt hier jedoch eine zeitlose Erfahrung zur Sprache. So mancher deutsche Soldat ist aus dem Kessel von Stalingrad nur aufgrund einer schweren Verwundung in letzter Minute ausgeflogen worden. Aber auch die Alltagserfahrung hält an dieser Stelle, wenn man nur nachdenkt, Beispiele genug bereit. Natürlich ist Gesundheit ein hohes Gut und Krankheit eine Last. Aufs Ganze gesehen aber handelt es sich bei der Gesundheit um etwas, was, wie Sokrates es ausdrückt, „manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist“.3 Der Irrtum liegt nicht in dem Urteil als solchen, sondern in seiner unreflektierten Verallgemeinerung. Sokrates spricht denn auch nicht etwa – wie in der Folge die Stoa – von Adiaphoron – es macht keinen Unterschied; es ist gleichgültig –, sondern von „zweischneidig“ – ἀμφίλογον – oder von „undurchschaubar“ – ἄδηλον –. Dieser zweite Begriff taucht auch bei Platon immer wieder auf; allem Vermuten nach handelt es sich bei ihm um ein genuines Sokratisches Erbe.4 Das Gesagte gilt aber nicht etwa nur für die Gesundheit. Es gilt genauso – um schon an dieser Stelle die Pointe des ganzen Gesprächs zur Hälfte vorwegzunehmen 2

Ebd., 4, 2, 32. Ebd. 4 Vgl. Norbert Hinske, Der Sinn des Sokratischen Nichtwissens, in: Gymnasium 110 (2003) 319–332, hier S. 331. 3

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– für alle die Dinge, die wir im Alltag so fraglos für gut halten. Der zweite Lebensinhalt nämlich, den der Gesprächspartner für fraglos oder „unstrittig“ gut erklärt, ist das Wissen.5 Auch hier bietet sich jedoch bei näherem Hinsehen das gleiche Bild. Sokrates verweist an diesem Punkt des Gesprächs beispielsweise auf Daidalos, den sagenumwitterten Ingenieur der Antike, der gerade aufgrund seines Wissens erst seine Heimat und seine Freiheit und schließlich auch noch seinen Sohn verloren hat. Auch das gilt nicht etwa nur für die Lebensverhältnisse im antiken Griechenland. Man braucht an dieser Stelle nur an die Zeit nach 1945 zu erinnern, um zu bemerken, von welcher Zeitlosigkeit auch dieses zweite Beispiel ist. Als letzte mögliche Antwort bleibt dem Gesprächspartner des Sokrates schließlich nur der Hinweis auf das Glücklichsein – εὐδαιμονεῖν –:6 So etwas wie Glück scheint nun tatsächlich ein allen Anfechtungen und Zweifeln entzogener Lebensinhalt zu sein. Die auf den ersten Blick schier unverständliche Antwort des Sokrates aber lautet, und damit gelangt das Gespräch an seinen springenden Punkt: Ja, gewiss, das Glück – oder, etwas textnäher formuliert: die gelungene, vom Atem des Glücks beflügelte Lebensführung –, das ist ein Gut, das über alle Zweifel erhaben ist – aber nur dann, „wenn man es nicht aus zweifelhaften Gütern zusammensetzt“.7 Als Beispiele für solche zweifelhaften Lebensinhalte oder Lebensziele nennt Sokrates in der Folge Schönheit, Kraft, Vermögen sowie gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluss, also lauter Dinge, die wir zunächst ganz unreflektiert mit dem Wort ‚Glück‘ assoziieren. Für alle diese Lebensinhalte aber gilt bei näherem Hinsehen eben das, was anfangs von der Gesundheit gesagt wurde: Sie sind „zweischneidige“ Dinge, also etwas, was „manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist“. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte wie in der Gegenwart genug. Viele Menschen, die man zunächst vielleicht beneidet hat, erregen am Ende nur noch unser Mitleid. Ein schönes Leben, so denken wir dann, sieht anders aus. Hinter den skizzierten Ausführungen des Sokrates steht eine grundlegende Einsicht – und diese macht die zweite Hälfte der Pointe aus: Auf der einen Seite ist Glück etwas, auf das jeder Mensch sozusagen mit Naturnotwendigkeit aus ist. Jeder möchte glücklich sein. Dieser Wunsch ist gewissermaßen das Apriori unseres Willens und daher von grundsätzlich anderer Art als alle konkreten, inhaltlich bestimmten Lebensziele. Um das festzustellen, bedarf es keiner kostspieligen empirischen Untersuchungen. Es ist eine Binsenweisheit. Auf der anderen Seite aber ist Glück ein völlig inhaltsleerer Begriff, den man so oder so mit Inhalt füllen muss – für den gelegentlich oft so gedankenlos gebrauchten Begriff ‚Gier‘ gilt übrigens das gleiche. Dass er 5

Xenophon, Memorabilia, 4, 2, 33. Ebd., 4, 2, 34. 7 Ebd. 6

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glücklich werden will, steht für jeden Menschen stillschweigend fest. Um an dieser Stelle stellvertretend für zahllose andere Autoren, die alle in dieser oder jener Form dasselbe sagen, nur aus Blaise Pascals Penseés zu zitieren: „Alle Menschen ohne Ausnahme streben danach, glücklich zu sein, wie verschieden die Wege auch sind, die sie einschlagen; alle haben dieses Ziel.“ „Tous les hommes recherchent d'être heureux; cela est sans exception; quelques differénts moyens qu'ils y emploient, ils tendent tous à ce but.“ „Zu keiner Handlung sonst ist der Wille zu bewegen, jede zielt auf das Glück. Es ist der Beweggrund aller Handlungen aller Menschen, selbst derer, die im Begriff stehen, sich zu erhängen.“ „La volonté [ne] fait jamais la moindre démarche que vers cet objet. C'est le motif de toutes les actions de touts les hommes, jusqu'à ceux qui vont se pendre“.8 Auf welchem Wege der Mensch aber tatsächlich glücklich werden kann, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Aporie, an der keiner auf die Dauer vorbeikommt. So gesehen weiß niemand, was Glück ist. Es ist dies, das sei an dieser Stelle hinzugefügt, ein zentraler Aspekt, wenn nicht gar das Zentrum des Sokratischen Nichtwissens. Vielleicht besteht die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen darin, auf diese Frage für sich selbst wenigstens eine provisorische Antwort zu finden. Dabei sollte er sich gerade heute tunlichst davor hüten, in die von der Werbung und von der öffentlichen Meinung aufgestellten Fallen zu tappen. Die innere Selbständigkeit des Menschen besteht nicht zuletzt darin, dass er sich die Antwort nicht von außen vorgeben lässt. Glück ist heutzutage fast schon so etwas wie ein Modethema. Die Literatur dazu ist geradezu uferlos. Die meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema, allem voran die sogenannten ‚empirischen Untersuchungen‘, kranken jedoch daran, dass ihre Verfasser ganz selbstverständlich davon ausgehen, sie wüssten, was Glück ist. In Wahrheit aber weiß kein Mensch diese Frage endgültig zu beantworten. Nicht selten ändert er seine Vorstellung von Glück von einem Tag auf den anderen. Sicher, es gibt Stunden in unserem Leben, kostbare Stunden, da glauben wir es zu ahnen, und wir versuchen immer wieder, diese Stunden wiederzuholen. Thomas von Aquin spricht in seiner Summa contra gentiles nicht von ungefähr von umbrae felicitatis, von „Schatten“ von Glück.9 Ein dauerhaftes Wissen von Glück aber ist dem Menschen versagt. Irgendwann stellt sich jede Antwort als fragwürdig heraus.

8

Die Übersetzung folgt weitgehend der Ausgabe von Ewald Wasmuth, Blaise Pascal. Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), Heidelberg 1954, 81978, Frgm. 425, S. 189. 9 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, I, 102.

Glück und Pflicht

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Glück und Moral: der Sokratische Impuls im Kontext von Kants Moralphilosophie

Die Schriften Xenophons gehörten im 18. Jahrhundert mehr oder weniger zur Standardlektüre.10 Zu den zahlreichen Übersetzern seiner Erinnerungen an Sokrates zählte auch ein so prominenter Kopf wie Christian Thomasius, der Vater der deutschen Frühaufklärung. Nicht Platon, sondern Xenophon ist es gewesen, der das Sokratesbild jenes Jahrhunderts in erster Linie geprägt hat. So kann es auch nicht überraschen, dass die Gedanken Xenophons, und zwar gerade des hier analysierten Kapitels, auch in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten über Seiten hinweg wiederkehren. Kant schreibt: „es ist ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.“ Es ist „unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er [der Mensch] hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u.s.w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde“.11 Kant gebraucht hier, wenn auch in etwas anderer Reihenfolge, genau die gleichen Beispiele für suspekte Glücksinhalte, die schon Xenophon in diesem Zusammenhang angeführt hatte: „Reichtum“, „Erkenntnis und Einsicht“ (das heißt Wissen) und „Gesundheit“ – verschärft durch den Zusatz „langes Leben“. Nur die Argumente, mit denen Kant die Zweischneidigkeit aller dieser Glücksinhalte zu zeigen versucht, haben sich geändert. Sie sind sozusagen der Problemlage des 18. Jahrhunderts angepasst – die Anspielung auf

10

Vgl. insbesondere Benno Böhm, Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeitsbewusstseins, 1929, Neumünster ²1966, passim. 11 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 46 f.

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Moralphilosophie

die Sizilische Expedition zum Beispiel hat Kant möglicherweise überhaupt nicht bemerkt. Aufs Ganze gesehen kann aber kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Kant an dieser Stelle seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Überlegungen Xenophons wiederaufnimmt. Für das Verständnis der Ethik Kants sind diese quellengeschichtlichen Hinweise jedoch nicht nur von historischer, sondern von zentraler sachlicher Bedeutung. Sie legen den Grund frei, auf dem sich Kants Ethik ausgebildet hat. Denn die Einsicht in die Ambivalenz unserer konkreten Glücksvorstellungen nimmt diesen zumindest ein Stück weit ihre suggestive Kraft. Sie bereitet damit sozusagen den Boden, auf dem die Pflichtidee allererst ihre ganze Kraft entfalten kann. Sie räumt die Hindernisse beiseite, die den Menschen immer wieder davon abhalten wollen, seine Pflicht zu tun. Sie zeigt: Der Konflikt zwischen Pflicht und Glückseligkeit ist nicht gar so dramatisch, das dem Menschen abverlangte Opfer nicht gar so groß, wie es für eine naive, von Erfahrung und Nachdenken nicht beschwerte Glücksvorstellung aussehen muss. Kants Rigorismus, soweit diese Charakterisierung überhaupt zutreffend ist, ist zu einem guten Teil ein Rigorismus der Desillusionierung. Solange der Mensch davon überzeugt ist, sein Glück, jenes einzigartige Gut, um das sich alles in seinem Leben dreht, à fonds perdu geben zu müssen, wird es ihm zumindest schwerfallen, dem kategorischen Anspruch des Sittengesetzes Folge zu leisten. Je mehr er dagegen einsieht, wie wechsel- und zweifelhaft alle jene Glücksvorstellungen sind, von denen er sich so selbstverständlich leiten lässt, um so leichteren Herzens wird er sie, wenn es hart auf hart kommt, beiseiteschieben können. Was Glück ist, bleibt für uns in tiefe Nebel gehüllt. Was dagegen Pflicht ist, wissen wir unbequemerweise zumindest in vielen Fällen nur zu genau. Kant hat das in seiner Kritik der praktischen Vernunft genau so formuliert: „was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt“.12

3

Zu Begriff und Geschichte des Wortes ‚Glück‘

Abschließend seien hier noch einige allgemeine Anmerkungen zum Begriff und zur Begriffsgeschichte des Wortes ‚Glück‘ angefügt. Ein solches Vorgehen scheint allen Regeln der Kunst zu widersprechen: Die Klärung der Begriffe scheint an den Anfang und nicht an das Ende einer Untersuchung zu gehören. Im vorliegenden Fall aber liegen die Dinge anders: Man begreift die Tragweite der Begriffsanalysen erst, wenn 12

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 64.

Glück und Pflicht

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man wenigstens ansatzweise die sachlichen Probleme erfaßt hat, die sich mit dem Wort ‚Glück‘ verbinden. Wir haben im Deutschen heute nur noch das eine dumme Wort ‚Glück‘, und wir können es normalerweise nur im Singular gebrauchen. Im heutigen Wissenschaftsenglisch entspricht dem in der Regel das Wort ‚happiness‘. Noch für Kant dagegen lagen die Dinge anders: Er konnte mit der Sprache des 18. Jahrhunderts ganz ungezwungen zwischen ‚Glück‘ – Friedrich Gottlob Born verwendet dafür in seiner lateinischen Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft den Doppelbegriff ‚fortunae fatique‘ –, ‚Glückseligkeit‘ – ‚felicitas‘ – und ‚Seligkeit‘ – ‚beatitas‘ – unterscheiden.13 Jedes dieser drei Wörter meinte etwas anderes. Das deckt sich mit dem Griechischen und Lateinischen. Das Altgriechische unterschied scharf zwischen ‚eutychia‘, ‚eudaimonia‘ und ‚makariotes‘, das Lateinische zwischen ‚fortuna‘, ‚felicitas‘ und ‚beatitudo‘. Die ‚makariotes‘ war dabei den Göttern vorbehalten. Aber auch ‚eutychia‘ und ‚eudaimonia‘, ‚fortuna‘ und ‚felicitas‘, die beiden menschlichen Formen von Glück, waren durch eine Welt voneinander getrennt. ‚Eutychia‘ beziehungsweise ‚fortuna‘ bezeichnete das äußere, sich den Umständen verdankende Glück. Es kommt oft wie aus heiterem Himmel. Beispiele für eine solche Art von Glück wären etwa ein überraschendes Geschenk, eine völlig unerwartete Ehrung oder ein Lottogewinn. Dabei stand das in ‚eutychia‘ enthaltene Substantiv ‚tyche‘ zumindest bei den frühen Griechen dem christlichen Begriff der Gnade näher als dem des Zufalls. Wer ‚tyche‘ bei den ‚Sieben Weisen‘ – wie die neue Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft14 es tut – mit ‚Zufall‘ übersetzt, gelangt zu der bizarren Aufforderung: ‚Zum glücklichen Zufall beten‘. Das hat Kleobulos nun gewiss nicht gemeint. ‚Eudaimonia‘ beziehungsweise ‚felicitas‘ dagegen meinte diejenige Form von Glück, die aus der Anlage der eigenen Lebensführung resultiert. Für sie ist ausschlaggebend, für – und gegen – welchen Lebensinhalt sich ein Mensch entschieden hat. Schon die bildlichen Darstellungen der Fortuna und der Felicitas zeigen, wie tief der Mensch der Antike zwischen beiden Formen unterschieden hat; um das zu erkennen, genügt es, sich in die im ersten Band der L’Antiquité expliquée von Bernard de Montfaucon15 enthaltenen einschlägigen Kupferstiche zu vertiefen. Vielleicht rächt sich der Verlust der alten Sprachen nirgends schlimmer als in den sogenannten empirischen Untersuchungen der heutigen Sozialwissenschaften. Sie sind häufig genug ein

13

Immanuelis Kantii opera ad philosophiam criticam, übers. v. Friedrich Gottlob Born, 4 Bde., Leipzig 1796–1798, Bd. 1, S. 81, S. 550 u. S. 554. 14 Jochen Althoff, Dieter Zeller, Die Worte der Sieben Weisen, Darmstadt 2006, S. 27. 15 Bernard de Montfaucon, L’Antiquité expliquée. Et représentée en figures, Bd. 1.2, Paris 1719, S. 312 ff. u. S. 336 f.

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Moralphilosophie

Ritt über den Bodensee. Denn sie ahnen oft gar nicht, von wie vielen stillschweigenden Vorentscheidungen schon allein der Sprache ihre Erhebungen geleitet werden: ob sie es mit demjenigen Glück zu tun haben, das sich den äußeren Umständen verdankt, oder mit jener so ganz anderen Form von Glück, die ihren Grund in der eigenen Lebensführung hat. Beispiele für diese zweite Form von Glück wären etwa das Glück des Gärtnerns, des Musizierens oder des Sammelns, und man ist gut beraten, bei der Lebenseinrichtung das eine Glück nicht mit dem anderen zu verwechseln. Ganz ohne das Glück der Fortuna freilich kommt wohl niemand von uns aus. Vielleicht hat Aristoteles eben das in seiner Nikomachischen Ethik, Buch 1, Kap. 11, gemeint. Xenophon und Kant jedenfalls reden nicht von der Fortuna, sondern von der Felicitas. Es geht ihnen um die Lebensführung des Menschen. Ihre Grundthese lautet, kurz zusammengefasst: Solange der Mensch nichts anderes im Sinn hat als das eigene Glück, stochert er im Nebel herum. Natürlich sollen wir uns immer wieder gut überlegen, in welchem Lebensinhalt wir unser Glück suchen wollen und in welchem lieber nicht. Glücksstrategien sind ein wichtiges Thema. Doch man täusche sich nicht: Glück gibt es in diesem Leben immer nur als schönes Nebenbei.

Rechtsphilosophie

Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1784 – Das Naturrecht Feyerabend als Kurzfassung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung

Zu den von Kant mehr oder minder regelmäßig gehaltenen Vorlesungen zählen auch seine Vorlesungen über Naturrecht. Nach den Angaben Emil Arnoldts „hat Kant wahrscheinlich 12 Male Naturrecht gelesen, und zwar als vierstündiges Collegium privatum an den vier Haupttagen der Woche von 8–9“.1 Von allen diesen Vorlesungen ist jedoch, so wie es heute aussieht, nur eine einzige Nachschrift erhalten geblieben, das sogenannte Naturrecht Feyerabend. Es geht auf Kants Vorlesung des Sommersemesters 1784 zurück.2 Eben das aber gibt dieser Nachschrift im Rahmen der Kantinterpretation eine schier einzigartige Bedeutung. Denn die Vorlesung, die ihr zugrundeliegt, fällt in eben jene Monate, in denen Kant seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu Papier gebracht hat. Wir wissen das aus dem Briefwechsel Johann Georg Hamanns. Am 10. August 1784 schreibt er an Kants Verleger Johann Friedrich Hartknoch: „Kants amanuensis, Jachmann, arbeitet fleißig an dem Prodromo der Metaphysik der Sitten; vielleicht wißen sie wie stark das Werk werden wird.“3 ‚Prodromus‘ ist dabei ein anderes Wort für das spätere ‚Grundlegung‘, einen Begriff, den Kant erst in letzter Minute gefunden hat und deshalb auch nur in der

1

Vgl. Emil Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen nebst darauf bezüglichen Notizen und Bemerkungen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Otto Schöndörffer, Bd. 5, Berlin 1909, S. 173–344, hier S. 336. 2 Vgl. Michael Oberhausen, Riccardo Pozzo, Vorlesungsverzeichnisse der Universität von Königsberg (1720-1804), Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, Teilbd. 2, S. 500 [Sommersemester 1784], S. 500: „Ius naturae ad Achenwallium h. VIII“. 3 Vgl. Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Bd. 5: 1783–1785, hg. v. Arthur Henkel, Frankfurt am M. 1965, S. 182.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_14

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Rechtsphilosophie

Vorrede des Werks verwendet.4 Es geht nicht um die nachträgliche Grundlegung einer schon bestehenden, sondern um die Grundsteinlegung einer allererst zu entwickelnden Wissenschaft. Der genannte Umstand macht das Naturrecht Feyerabend, auch wenn es wie die meisten Vorlesungsnachschriften so manche dunkle Stelle enthält, zu einem Text, dem für das Verständnis von Kants Ethik ein besonderes Gewicht zukommt. Es ist geradezu ein Schlüsseltext. Denn Kant beginnt seine Naturrechtsvorlesung nicht etwa mit einer Einleitung in die spezifischen Probleme der Rechtsphilosophie, sondern mit einer langen „Einleitung“ in die grundlegenden Probleme der Ethik überhaupt. Dabei hat ihm seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, an deren Niederschrift er gerade arbeitete, ganz offenkundig als Orientierungsrahmen gedient. Die Hörer seiner Naturrechtsvorlesung haben die Entstehung der Grundlegung sozusagen lebendig miterlebt. Manche Seiten der „Einleitung“ des Naturrechts Feyerabend lesen sich nachgerade wie ein Kommentar des Werks, ein Kommentar, der die Gedanken Kants gelegentlich sogar leichter verständlich macht, als die gedruckte Schrift. Er kann nicht etwa nur zur Bestätigung, sondern auch zur Klärung von Kants Auffassungen beitragen. Umgekehrt hat aber auch Kants „Abhandlung“ des Jus naturae Gottfried Achenwalls, das Kant seiner Vorlesung als Kompendium zugrundelegte, auf die Abfassung der Grundlegung zurückgewirkt. Ein gutes Beispiel dafür sind Kants Ausführungen zum Problem des „Marktpreises“,5 ein Thema auf das Achenwall in dem

4

Vgl. die Einleitung in die Grundlegung von Paul Menzer im Rahmen der Akademie-Ausgabe, IV 623–630, sowie Heinrich P. Delfosse, Kant-Index, Bd. 15: Stellenindex und Konkordanz zur ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. LXIII. 5 AA IV 434 f.

Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung

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Abschnitt „De pretio et pecunia“ eingeht.6 „Marktpreiß“ ist einfach Kants Übersetzung von Achenwalls ,,pretium vulgare“.7 Die klugen und kenntnisreichen Ausführungen von Wladimir K. Schokhin über Tetens und Kant vom ‚absoluten Wert‘ bedürfen daher an dieser Stelle der Ergänzung.8

Preis und Würde Der Unterschied zwischen ‚Preis‘ und ‚Würde‘, eines der zentralen Themen der Ethik Kants, kann zugleich auch dazu dienen, das Verhältnis zwischen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und dem Naturrecht Feyerabend anhand eines konkreten Textbeispiels etwas näher zu beleuchten. In der Grundlegung schreibt Kant: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; [...] das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d.i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d.i. Würde“.9 Parallel heißt es im Naturrecht Feyerabend: „Der Mensch nemlich ist Zweck an sich selbst, er kann daher nur einen innern Wert d.i. Würde haben, 6

Vgl. Gottfried Achenwall, Jus naturae, Göttingen 11750–52, 51763, S. 174–179. Vgl. ebd. § 204, S. 177, und das Naturrecht Feyerabend, AA XXVII 1357: „Dessen Werth nach dem gemeinen Urtheil der Menschen bestimmt ist, ist pretium vulgare, Marktpreiß.“ Kant wird in diesem Beitrag durchgängig nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Da der Abdruck des Naturrecht Feyerabend in Bd. XXVII der Akademie-Ausgabe im Ganzen zahllose sinnstörende Transkriptionsfehler enthält, erfolgte eine Neuedition im Rahmen des Kant-Index: Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Gianluca Sadun Bordoni, Kant-Index, Bd. 30: Stellenindex und Konkordanz zum ‚Naturrecht Feyerabend‘, Teilbd. 1: Einleitung des ‚Naturrecht Feyerabend‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010; Teilbd. 2: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Text und Hauptindex, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014; Teilbd. 3: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Konkordanz und Sonderindices, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014. Zitiert wird der Text des Naturrecht Feyerabend nach der neuen Ausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010–2014, die Seitenangaben und Zeilenzählungen folgen der Akademie-Ausgabe Bd. XXVII, 2.2, deren Paginierung in der neuen Edition im Rahmen des Kant-Index vermerkt ist. 8 Wladimir K. Schokhin, Tetens und Kant vom ‚absoluten Wert‘, in: Kant im Spiegel der russischen Kantforschung heute, hg. v. Nelly Motroschilowa u. Norbert Hinske, Stuttgart-Bad Cannstatt 2008, S. 127–143. 9 AA IV 434 f. 7

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Rechtsphilosophie

an dessen Stelle kein Äquivalent gesetzt werden kann. Andre Dinge haben äußern Werth d.i. Preis, dafür ein jedes Ding, das zu eben den – recte: dem – Zweck tauglich ist, als Aequivalent gesetzt werden kann“.10 Dreh- und Angelpunkt ist der schon von Achenwall gebrauchte Begriff des Äquivalents. Da Kant 1784 bereits neun Mal Naturrecht anhand von Achenwalls Jus naturae gelesen hatte,11 war ihm dieser Begriff natürlich geläufig. Für alles, was einen „Preis“ hat, gibt es ein Äquivalent. Es kann durch irgendetwas anderes ersetzt werden. Aber es gibt etwas am Menschen, für das schlechterdings kein Ersatz denkbar ist, die innere Moralität: „Die Tugend hat gar keinen Preis, sondern Würde“.12 Nicht zuletzt in diesem Gedanken liegt das Neue der Ethik Kants. Es gibt etwas am Menschen, das sich der Welt der „Neigungen und Bedürfnisse“13 schlechterdings entzieht. Diese Einsicht ist es wohl auch, die Kant den künftigen Beamten Preußens in seiner Naturrechtsvorlesung vor allem einschärfen wollte. Kant benutzt das Begriffsinstrumentar Achenwalls, aber er geht in der Sache weit über diesen hinaus. Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und das Naturrecht Feyerabend sagen so gesehen hier wie an zahlreichen anderen Stellen dasselbe und sie sagen es nahezu mit denselben Worten. Was am Naturrecht Feyerabend jedoch bemerkenswert ist, das ist eine gewisse Präzisierung der Grundlegung. Dort schreibt Kant nur: „[…] an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden“.14 In der Vorlesung dagegen fügt Kant hinzu: „das zu eben dem Zweck tauglich ist“.15 Ansonsten ist das Naturrecht Feyerabend natürlich sehr viel konkreter und realitätsnäher als die Grundlegung. In der Vorlesung heißt es beispielsweise: „Viele Menschen haben für ihre Tugenden einen Preis, wenn man ihnen den dafür giebt, so verlassen sie die Tugend.“ „Des Menschen Körper hat auch keinen Preis. Er kann nichts als Aequivalent dafür nehmen“.16

10

AA XXVII 1319, 5 f. Vgl. oben Anm. 1. 12 AA XXVII 1357. 13 AA IV 434. 14 Ebd. 15 AA XXVII 131936 f.. 16 AA XXVII 1357. 11

Ein unbeachtet gebliebener Kommentar zu Kants Grundlegung

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Die grundlegende Bedeutung von Kants Dreiteilung der Imperative In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant zwischen drei ganz verschiedenen Arten von Handlungsanweisungen. Die grundlegende Bedeutung dieser Dreiteilung, die ihre lange Vorgeschichte hat,17 ist in der Kantforschung oft unterschätzt worden. Dabei steht und fällt mit ihr für Kant die praktische Philosophie als ganze. Nur auf diesem Wege vermag der Mensch die „Ungleichheit der Nöthigung“18 zu erkennen, die von jenen so verschiedenartigen Handlungsanweisungen ausgeht, und nur auf diesem Wege vermag er sich der Einzigartigkeit der moralischen Verpflichtungen bewusst zu werden. Kant schreibt: „Das Wollen nach diesen dreierlei Principien wird auch durch die Ungleichheit der Nöthigung des Willens deutlich unterschieden. Um diese nun auch merklich zu machen, glaube ich, daß man sie in ihrer Ordnung am angemessensten so benennen würde, wenn man sagte: sie wären entweder Regeln der Geschicklichkeit, oder Rathschläge der Klugheit, oder Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit. Denn nur das Gesetz führt den Begriff einer unbedingten und zwar objectiven und mithin allgemein gültigen Nothwendigkeit bei sich“.19 Wichtig ist in diesen Sätzen nicht zuletzt die Formulierung „merklich zu machen“. Sie bringt sozusagen den Grundansatz der Kantschen Ethik zur Sprache. Es geht Kant offenbar nicht nur darum, die verschiedenartigen Handlungsanweisungen, mit denen sich der Mensch in seinem Handeln konfrontiert sieht, trennscharf voneinander abzugrenzen, sondern auch darum, auf diesem Wege den einzigartigen Charakter herauszuarbeiten, der der moralischen Verpflichtung zukommt. Die Unterscheidung entspringt nicht etwa Kants angeblichem Hang zum Schubladendenken. Sie will dem Menschen vielmehr bewusst machen, dass die Regeln, von denen er sich zunächst ganz selbstverständlich leiten lässt, unterschiedlichen Ranges sind. Von den einen kann er sich notfalls dispensieren, indem er auf die ihnen zugrundeliegenden Zwecke verzichtet. Von anderen dagegen kann er es nicht. Sie gelten als ganz unabhängig von den Plänen und Absichten, die er verfolgt. Wer ethische Normen für so etwas ähnliches wie Skatregeln hält, hat von der Sache nichts begriffen. Er ist zu genuin moralischem Handeln gar nicht in der Lage.

17

Vgl. Clemens Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, insbes. S. 142 ff. 18 AA IV 416. 19 AA IV 416.

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Rechtsphilosophie

Das Naturrecht Feyerabend unterstreicht die zentrale Bedeutung jener so oft vernachlässigten20 Dreiteilung für die Ethik Kants mit großem Nachdruck: „Wir haben 3 Imperative, technische, pragmatische und moralische, Regeln der Geschicklichkeit, Klugheit, und Weisheit“.21 „Alle Imperative sind bedingt oder unbedingt, die bedingten sind entweder problematisch, ein Imperativ der Geschicklichkeit, oder aßertorisch, ein Imperativ der Klugheit. Der unbedingte Imperativ der Weisheit ist apodictisch“.22

Die durch die Grundlegung nachgerade klassisch gewordenen begrifflichen Unterscheidungen – „technisch-pragmatisch-moralisch“, „Geschicklichkeit-KlugheitWeisheit (statt Sittlichkeit)“ und „problematisch-assertorisch-apodiktisch“ – sind hier nahezu vollständig präsent und werden von Kant auch im Einzelnen ganz ähnlich wie im gedruckten Werk erläutert. Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass die Nachschrift ja nur eine stichwortartige Zusammenfassung der von Kant tatsächlich gehaltenen Vorlesung ist, so wird man davon ausgehen können, dass er den Hörern seiner Naturrechtsvorlesung im Sommer 1784 zunächst den Inhalt seines anschließend veröffentlichten Werks vorgetragen hat. Er war offenbar der Überzeugung, dass die Studenten als erstes begreifen müssten, was Ethik überhaupt wolle, bevor sie sich dann in die spezifischen Probleme der Rechtsphilosophie vertiefen könnten. Das Naturrecht Feyerabend kann daher nicht zuletzt auch dazu dienen, sich die grundlegende Rolle zu vergegenwärtigen, die der Dreiteilung der Handlungsanweisungen bei der Konstituierung von Kants Metaphysik der Sitten zukommt. Nur wer sich zunächst die ganz verschiedenartigen „Grundformen der Praxis“23 klarmacht, ist zu sittlichem Handeln befähigt. Auch hier freilich gilt für Kant: „Es ist keine Tugend bei dem Menschen erfunden, wo nicht könnte ein Grad der Versuchung erfunden werden, der sie stürzen könnte. Daher ist die Bitte: führe uns nicht in Versuchung ein herrlicher Gedanke“.24 20

Vgl. Schwaiger, Kategorische und andere Imperative, a.a.O., S. 172: „Während die Zweiteilung in hypothetische und kategorische Imperative auch für den bloß oberflächlichen Kenner Kants vertraut, ja populär ist, gilt das ungleich weniger für die Dreiteilung der Imperative. Dabei dürfte ihr für die Entstehung von Kants praktischer Philosophie sogar die wichtigere Rolle zukommen“. 21 Naturrecht Feyerabend, AA XXVII 1323, 9 f. 22 Ebd., AA XXVII 1324, 10; zu den Einzelheiten vgl. das „Parallelstellenverzeichnis zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ im ersten Teilbd. des Kant-Index zum ‚Naturrecht Feyerabend‘, hg. v. Delfosse, Hinske u. Sadun Bordoni, a.a.O., S. XL f. 23 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, S. 86–120: IV: Grundformen der Praxis. 24 AA XXVII 132330 f..

Kants Beantwortung der Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts Feyerabend ‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts Feyerabend

Kants mittlerweile zu einem klassischen Text der Philosophie avancierte Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung? aus dem Jahre 1784, also aus demselben Jahr, auf das auch das Naturrecht Feyerabend zurückgeht,1 ist aus aktuellem Anlass entstanden und war ursprünglich eine Sache der Tagesdiskussion. Sie ist, quellengeschichtlich gesehen, gleich in dreifacher Weise von der damals gerade gegründeten Berlinischen Monatsschrift abhängig: in ihrer Fragestellung, in ihrem Lösungsmodell und in der Anwendung eben dieses politischen Lösungsmodells auf die zunächst ganz anders gelagerten Gewissensprobleme, die jedes öffentliche Glaubensbekenntnis insbesondere für Geistliche mit sich bringen kann. Es waren drei ganz verschiedene Beiträge eben dieser Zeitschrift, die Kant zu seinem eigenen Aufsatz inspiriert haben. Ihre Autoren waren alle drei Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft, der „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“, wie sie sich selbst nannte, und Kants Antwort ist denn auch ausführlich in diesem Kreis diskutiert worden.2

1

Zum Naturrecht Feyerabend und zu seiner Datierung vgl. Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Gianluca Sadun Bordoni, Kant-Index, Bd. 30: Stellenindex und Konkordanz zum ‚Naturrecht Feyerabend‘, Teilbd. 1: Einleitung des ‚Naturrechts Feyerabend‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. IX ff.; die gesamte Edition des Naturrecht Feyerabend umfasst zwei weitere Bände: Teilbd. 2: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Text und Hauptindex, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014; Teilbd. 3: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Konkordanz und Sonderindices, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014. Zitiert wird das Naturrecht Feyerabend im Folgenden nach der neuen Transkription, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010–2014; die Seitenangaben folgen der Akademie-Ausgabe Bd. XXVII, 2.2, deren Seitenzählung in der neuen Edition – wenn auch mit anderer Zeilenzählung – übernommen wurde. 2 Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet u. mit Anmerkungen versehen v. Norbert Hinske, Darmstadt 1973, 4 1990, S. LVII; zur Berliner Mittwochsgesellschaft generell vgl. Norbert Hinske, Öffentlichkeit und Geheimhaltung. Zum Wahrheitsverständnis der deutschen Spätaufklärung, in: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des Lumieres et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, hg. v. Reinhard Bach, Roland Densé u. Gerda Haßler, Tübingen 1999, S. 59–83.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_15

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1

Rechtsphilosophie

Die Fragestellung

Die Fragestellung geht auf einen Aufsatz von Johann Friedrich Zöllner, damals Diakon an der Berliner Marienkirche, zurück. In einem Beitrag über den Sinn der kirchlichen Trauung mit dem Titel Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren? hatte er im Dezember 1783 in einer Anmerkung geschrieben: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“3 Kant – oder die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift – nimmt ausdrücklich auf diese Frage Zöllners Bezug. Direkt unter der Überschrift von Kants Beitrag heißt es in Klammem: „S.[iehe] Decemb. 1783. S.[eite] 516.“4 Die Akademie-Ausgabe hat diesen Klammerzusatz, aus welchen Gründen auch immer, kommentarlos weggelassen. Auch in den Anmerkungen5 findet sich keinerlei Hinweis. Vielleicht hat der Herausgeber Heinrich Maier ihn überhaupt nicht mehr verstanden. Seitdem geistert durch die Literatur die Annahme, bei dem Beitrag Kants handele es sich um die Antwort auf eine Preisfrage der Berliner Akademie. Wer der eigentliche Urheber dieses einigermaßen kenntnislosen Missverständnisses gewesen ist, lässt sich heute wohl kaum noch feststellen. Einer hat es unbekümmert vom anderen übernommen. Scheinbar harmlose Editionsfehler können, langfristig gesehen, schlimme Folgen haben.

2

Das Lösungsmodell

Eines der zentralen Probleme, mit denen sich Kant in seinem Aufklärungsaufsatz beschäftigt, ist die damals besonders brisante Frage, wie sich die freie Meinungsäußerung zu politischen Themen mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vereinbaren lasse. Diese setzt ja, angefangen beim Strassenverkehr bis hin zum Rechtswesen als ganzen, einen für alle verbindlichen Ablauf des öffentlichen Lebens voraus. Alle müssen sich an allgemeinverpflichtende Regeln halten. Wenn jeder das tut,

3

Berlinische Monatsschrift, Bd. 11, S. 516, hier zitiert nach Was ist Aufklärung?, a.a.O., S. 115. Ebd., S. 452. 5 AA VIII 470. 4

‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts Feyerabend

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was er nach seiner eigenen Überzeugung für richtig hält, ist das Chaos vorprogrammiert. Kants klassisch gewordene Antwort lautet: „räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“6 Kant unterscheidet demgemäß zwischen öffentlichem Gebrauch und Privatgebrauch der Vernunft – wobei er unter öffentlichem Gebrauch paradoxerweise die privaten Veröffentlichungen eines Einzelnen versteht, unter Privatgebrauch dagegen die Wahrnehmung des öffentlichen Amtes, das jemand bekleidet. Das Kriterium für Öffentlichkeit ist für Kant also gerade nicht das öffentliche Handeln, sondern die Teilnahme am öffentlichen Diskussionsprozess, wie er sich damals in exemplarischer Form in der Berlinischen Monatsschrift abspielte. Die skizzierte Unterscheidung hat sich Kant jedoch nicht selbst ausgedacht. Er greift mit ihr vielmehr auf ein Lösungsmodell zurück, das Ernst Ferdinand Klein im April 1784 in einem zunächst anonym erschienenen7 Beitrag Ueber Denk- und Druckfreiheit an Fürsten, Minister, und Schriftsteller vorgeschlagen hatte.8 Klein wiederum verschanzt sich, politisch höchst geschickt, hinter Friedrich dem Großen selbst, dessen politische Auffassungen er, sozusagen als die Quintessenz des Preußischen Staates, nur kurz zusammenfassen wolle. So erklärt sich denn auch Kants Formulierung: „Nur ein einziger Herr in der Welt sagt ... “.9 Klein entwickelt dabei ein spannungsreiches ,Einerseits – Andererseits‘. Auf der einen Seite stehe die Einsicht: „Die Freiheit laut zu denken, ist die sicherste Schutzwehr des preußischen Staats.“10 Auf der anderen Seite aber werde die staatliche Ordnung durch diese Art von Freiheit in keiner Weise tangiert: „Auf Subordination beruht die unwiderstehliche Gewalt des preußischen Kriegsheeres. Von der Subordination hängt die Ordnung ab, welche im preußischen Civilstande herrscht. Subordination ist die Seele des ganzen preußischen Staats. – Diese auf der einen Seite so unentbehrliche, auf der anderen so lästige Subordination, wird durch die Freiheit laut zu denken gemäßigt, aber nicht gehemmet. Kein Vorgesetzter wird dadurch gehindert, zu thun was er will, sondern nur zu wollen, was er nicht soll. – Scheu von dem Urtheile des Publikums kann unter solchen Umständen die Stelle des Patriotismus vertreten. Der Untergebene wird freilich dadurch von der Pflicht des Gehorsams nicht entbunden, und was geschehen soll,

6

Was ist Aufklärung?, a.a.O., S. 445; AA VIII 37. Vgl. ebd., S. 517. 8 Ebd., S. 389–407. 9 Ebd., S. 455; AA VIII 37. 10 Was ist Aufklärung?, a.a.O., S. 403. 7

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Rechtsphilosophie

geschieht; aber man wird doch nur gezwungen den Befehl zu befolgen, nicht zu billigen; zu thun, nicht, zu urtheilen; nachzugeben, nicht, beizustimmen.“11 Kants lakonisches Diktum „räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt, aber gehorcht“ ist nur die lapidare Zusammenfassung dieser Ausführungen.

3

Kants Übertragung des politischen Lösungsmodells auf das Gebiet des Religiösen

Bis zu diesem Punkt handelt es sich bei Klein wie bei Kant um ein Lösungsmodell für bestimmte Probleme des politischen Lebens. Was Kant von Klein jedoch grundlegend unterscheidet, ist der Umstand, dass Kant dieses Lösungsmodell auf den Bereich der Religion überträgt. Auch hier gebe es eine ähnliche Spannung wie im politischen Leben: Auf der einen Seite sei jede religiöse Gemeinschaft auf bestimmte gemeinsame Formulierungen ihres Glaubens angewiesen. Ohne sie sei so etwas wie ein kirchliches Leben überhaupt nicht denkbar. Auf der anderen Seite aber seien Glauben und Gebet etwas höchst Persönliches, das vom Glaubenden in einem nie zum Abschluss zu bringenden Prozeß immer wieder neu reflektiert und formuliert werden müsse. Das Glaubensbekenntnis ist nicht von ungefähr im Singular – credo, nicht credimus – formuliert. Für den im kirchlichen Dienst stehenden Funktionsträger habe diese Spannung naturgemäß ein besonderes Gewicht. Denn als „Geistlicher“ sei er „verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem Symbol – sc. Glaubensbekenntnis – der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu thun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions und Kirchenwesens, dem Publikum mitzutheilen.“12 Auch dieser dem heutigen Kantforscher so geläufige, in Wahrheit aber alles andere als selbstverständliche Übergang vom politischen zum religiösen Leben ist durch einen Beitrag der Berlinischen Monatsschrift veranlaßt worden. Im Januar 1784 nämlich hatte Moses Mendelssohn dort einen – übrigens glänzend geschriebenen – Beitrag Ueber die 39 Artikel der englischen Kirche und deren Beschwörung veröffentlicht.13 In ihm hatte er noch einmal seine schon in seiner Schrift Jerusalem

11

Ebd., S. 403 f. Ebd., S. 457; AA VII 39. 13 Was ist Aufklärung?, a.a.O., S. 426–443. 12

‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts Feyerabend

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oder über religiöse Macht und Judentum vertretene14 Auffassung bekräftigt, „daß in Absicht auf Glauben und Nichtglauben keine Verbindlichkeit, kein Kontrakt, und folglich keine Beeidigung schlechterdings statt finde; daß die Freiheit zu denken, und das Recht, seine Meinungen zu ändern, auf keine Weise veräußert und einem andern übertragen werden könne.“15 Wie aber soll eine religiöse Gemeinschaft ohne ein gemeinsames religiöses Bekenntnis überhaupt möglich sein? Auf eben diese Frage sucht Kant in seinem Aufklärungsaufsatz eine Antwort zu geben, indem er die Unterscheidung zwischen öffentlichem Gebrauch und Privatgebrauch der Vernunft aus dem Bereich des politischen auf den des religiösen Lebens überträgt. In Wahrheit ist Kants Aufklärungsaufsatz eine Antwort auf Mendelssohn. Erst das gibt auch der Schlußanmerkung Kants16 ihre eigentliche Bedeutung.

4

Kants Aufklärungsaufsatz und das Naturrecht Feyerabend

Dass Kant Mendelssohns Beitrag vom Januar 1784 relativ bald nach Erscheinen gelesen hat, wird durch das Naturrecht Feyerabend unmissverständlich bezeugt. In dem Abschnitt ,,De juramento“, also im zweiten Drittel der Vorlesung,17 heißt es: „In Engelland müssen die Geistlichen 39 Artikel beschwüren, von denen keiner sie annimmt.“18 Der Nebensatz ist übrigens eine grobe Verzeichnung der Auffassung Mendelssohns. Dieser hatte ausdrücklich geschrieben: „Ich glaube allerdings, daß manche

14

Vgl. ebd., S. LIII f. Ebd., S. 438. 16 Ebd., S. 465; AA VIII 42. 17 Kants Naturrechtsvorlesung fällt nach den Angaben Emil Arnoldts in die Zeit vom 29. April bis zum 24. September 1784; vgl. Emil Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen nebst darauf bezüglichen Notizen und Bemerkungen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Otto Schöndörffer, Bd. 5, Berlin 1909, S. 173–344, hier S. 278. – Wann Kant den Beitrag Mendelssohns erhalten hat, ist schwer abzuschätzen. Denn der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift Johann Erich Biester hatte die Angewohnheit, drei Hefte zusammen zu verschicken – vgl. beispielsweise AA X 429 f. –. Unsicher ist aber auch das genaue Erscheinungsdatum der einzelnen Hefte und die Dauer des Postwegs. 18 Naturrecht Feyerabend, AA XXVII 136610–11. Der Text des Naturrecht Feyerabend wird nach der neuen Transkription im Rahmen des Kant-Index zitiert: vgl. oben Anm. 1; um der besseren Auffindbarkeit willen werden hier und im Folgenden Seitenzahlen und gegebenenfalls Zeilenzählung der Akademie-Ausgabe XXVII, 2.2, übernommen, wobei die neue Edition die Seitenzählung der Akademie-Ausgabe – bei abweichender Zeilenzählung – vermerkt. 15

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Rechtsphilosophie

Bischöfe des Oberhauses sehr orthodox sind; ja ich glaube, zur Ehre der Menschheit, daß sie es alle damals gewesen, als sie eingesetzt worden“.19 Dass dieses Missverständnis auf Kant selbst zurückgeht, ist nicht sehr wahrscheinlich. Denn Kant hatte ja nicht nur Mendelssohns Aufsatz, sondern auch dessen Schrift Jerusalem gelesen. Am 16. August 1783 schreibt er an diesen: „Sie haben zugleich die Nothwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreyheit zu jeder Religion so gründlich und so hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kan, von der ihrigen absondere.“20 Auch in Kants Notizen zu Achenwall taucht das Problem mehrfach auf. So heißt es in der Reflexion 7796:21 „Aber gleichwohl ist es eine Pflicht der Billigkeit auch in Ansehung der Religion, nicht solche Einschränkungen der Freyheit zu machen, welche dem menschlichen Geschlecht den Fortgang zur Vollkommenheit unmöglich machen, e.g. daß Prediger gewisse Artikel beschweeren – sc. beschwören – müssen.“ Freilich ist die Reflexion in der Akademie-Ausgabe offenkundig falsch datiert, nämlich in die Jahre 1772 bis 1778. Das Problem der Beschwörung von Glaubensartikeln wird erst durch Mendelssohns 1783 erschienene Schrift Jerusalem und durch seinen nachfolgenden Aufsatz zu einem öffentlich diskutierten Problem. Des genaueren behandelt Kant die genannten Probleme dann im dritten Teil seiner Naturrechtsvorlesung, dem ,,Jus civitatis universale speciatim“, und zwar trotz des Zeitdrucks, in den er gegen Ende der Vorlesung geraten war, mit bemerkenswerter Ausführlichkeit. Dabei unterscheidet er auch hier zwischen dem ,,Lehrer im Amt“ – beziehungsweise dem ,,Priester“ – auf der einen und dem ,,Gelehrten“ auf der anderen Seite. In dem Abschnitt ,,De jure circa religionem et ecclesiam“ heißt es: „Wie aber wenn ein Geistlicher in der Folge andern Einsichten folgt, und brachte eine Lehre vor, die seinem Contracte widerstritte? Sein Contract geht nicht dahin, daß er nicht anders denken, sondern daß er nicht anders reden soll: zu dissimulieren – sc. zu verschweigen – hat er Verbindlichkeit, zu simulieren – sc. zu heucheln – aber nicht. Inzwischen – sc. Indessen – aber ist er nicht verbunden, etwas zu lehren, was seinen Grundsätzen entgegen ist. Der Landsherr kann daher sagen: lhr könnt als Gelehrter eure Einsichten vergrössern, aber als Priester müsst Ihr dissimuliren. Dem Lehrer muß es als Gelehrten immer frei stehen, alle Vorschläge zur Verbesserung der Religion thun zu können, dieses geht dem – sc. die Tatsache – nichts an, daß er Lehrer

19

Was ist Aufklärung?, a.a.O., S. 434. AA X 347. 21 Reflexion 7796, in: AA XIX 519. 20

‚Was ist Aufklärung?‘ im Spiegel des Naturrechts Feyerabend

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im Amte ist. Man kann ihn deswegen gar nicht für einen Heuchler im Amte schelten, noch ihn von seinem Amte absetzen.“22 Der Sache nach ist das eben die Auffassung, die Kant kurz darauf in seinem Aufklärungsaufsatz vertreten wird. Was noch fehlt, ist die Unterscheidung zwischen öffentlichem Gebrauch und Privatgebrauch der Vernunft. Das mag damit zusammenhängen, dass Kleins Beitrag Ueber Denk- und Drukfreiheit erst im April 1784, also drei Monate nach dem Beitrag Mendelssohns, erschienen war. Es ist daher gut möglich, dass es sich bei dem angeführten Abschnitt des Naturrechts Feyerabend um die erste Fassung von Kants Aufklärungsaufsatz handelt.

22

Naturrecht Feyerabend, AA XXVII 1386; vgl. dazu die Reflexion 8008, in: AA XIX 580: „Der Staat kann verhindern, daß niemand anders lehre, als worauf er berufen worden, aber kann nicht verhindern, daß nicht jedermann vorschläge zur allgemeinen Verbesserung öffentlich thue.“ – Auch an diesem Punkt stellt sich freilich das Problem des ‚Strukturwandels‘ der Öffentlichkeit. Es fragt sich, ob sich die Trennung zwischen der Sprache des Amtsträgers und der des Autors in einem Zeitalter der Massenmedien noch durchhalten lässt. Für die Behandlung der Gewissensprobleme dagegen ist Kants Lösungsmodell nach wie vor wegweisend: Es braucht das Gewissen nicht zu belasten, wenn jemand im Gemeindegottesdienst oder im Religionsunterricht überlieferte Formeln gebraucht, deren ursprüngliche Bedeutung und deren eigentlicher Sinn sich seinem eigenen Verstehen nicht erschließen.

Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie Kants

1

Immanuel Kant und Gottfried Achenwall

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sollen nicht etwa Kants eigene Veröffentlichungen zur Ethik und Rechtsphilosophie sein, also nicht Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und seine anderen einschlägigen Schriften. Vielmehr sollen Kants Vorlesungen über Naturrecht den Ausgangspunkt bilden, in denen die anstehenden Probleme besonders pointiert zum Ausdruck kommen. Sie haben einen nicht unwichtigen Teil von Kants Lehrtätigkeit ausgemacht. Nach den minuziösen Angaben Emil Arnoldts nämlich „hat Kant wahrscheinlich 12 Male Naturrecht gelesen, und zwar als vierstündiges Collegium privatum an den vier Haupttagen der Woche von 8–9“.1 Von allen diesen Vorlesungen ist jedoch, so wie es heute aussieht, nur eine einzige Nachschrift erhalten geblieben, das sogenannte Naturrecht Feyerabend. Es spricht viel dafür, dass es sich dabei nicht etwa um eine unmittelbare Nachschrift handelt, sondern um die Abschrift einer Nachschrift, wenn nicht gar um die Abschrift einer Abschrift.2 Der Text ist also durch zahlreiche Hände gegangen. Die philologischen Probleme, die das naturgemäß mit sich bringt, sollen hier jedoch nicht erörtert werden.

1

Vgl. Emil Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen nebst darauf bezüglichen Notizen und Bemerkungen, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Otto Schöndörffer, Bd. 5, Berlin 1909, S. 173–344, hier S. 336. 2 Vgl. Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske, Gianluca Sadun Bordoni, Kant-Index, Band 30: Stellenindex und Konkordanz zum ‚Naturrecht Feyerabend‘, Teilbd. 1: Einleitung des ‚Naturrechts Feyerabend‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. XII f.; die gesamte Edition des Naturrecht Feyerabend umfasst zwei weitere Bände: Teilbd. 2: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Text und Hauptindex, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014; Teilbd. 3: Abhandlung des Naturrecht Feyerabend: Konkordanz und Sonderindices, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014. Zitiert wird das Naturrecht Feyerabend nach der neuen Transkription, hg. v. Delfosse, Hinske u. Sadun Bordoni, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010–2014, die Seitenangaben folgen der Akademie-Ausgabe Bd. XXVII, 2.2, deren Seitenzählung auch die neue Edition aufnimmt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_16

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Rechtsphilosophie

Als Kompendium hat Kant seiner Vorlesung das Ius Naturae von Gottfried Achenwall zugrunde gelegt,3 das Werk eines Autors, der auch um seiner selbst willen eine aufmerksame Lektüre verdient;4 Kant hat bei der Auswahl seiner Kompendien offenbar eine glückliche Hand gehabt. Achenwalls Text enthält auch einen relativ kurzen, insgesamt zehn Paragraphen umfassenden Abschnitt „Über Preis und Geld“: „De pretio et pecunia“.5 Achenwall geht davon aus, dass alles und jedes einen bestimmten Wert und deshalb auch einen bestimmten Preis habe. Alles, genauer: alle Sachen, alle Rechte und alle Dienstleistungen haben ihren Wert.6 Er bemisst sich an dem Nutzen, den etwas für mich selbst oder für einen anderen hat. Naturgemäß fällt seine Schätzung von Person zu Person ganz verschieden aus. Die Bedürfnisse der Menschen sind verschieden. Deshalb ist der Wert zunächst so etwas wie eine Fiktion, eine „ficta quantitas“.7 Man kann aber auch von einer durchschnittlichen Schätzung des Wertes ausgehen. Dann gelangt man zu einem „pretium vulgare“.8 Das Mittel, dieses „pretium vulgare“ in die Praxis umzusetzen, ist das Geld.9 Eben deshalb ist der durch Geld festgelegte Preis der Preis von etwas in ausgezeichneter Bedeutung, das „pretium eminens“.10 In einem solchen Sinne könnte man sagen: Geld regiert die Welt. Kants Erläuterungen dieses Abschnitts im Naturrecht Feyerabend sind unterschiedlicher Art. Zum Teil handelt es sich bei ihnen natürlich einfach um den Versuch, seinen Hörern den konzentrierten Text Achenwalls zu erklären und durch Erfahrungen aus dem Alltag nahezubringen. Daneben galt es, einzelne schwierige Termini zu erklären. Dazu gehört auch, dass Kant für den Begriff des „pretium vulgare“ 3

Das Werk ist in zwei Teilen erschienen: Gottfried Achenwall, Ius naturae, Göttingen 51763, und Ders., Iuris naturalis pars posterior, complectens Ius familiae Ius publicum et Ius gentium, Göttingen 5 1763. Der zweite Teil ist wiederabgedruckt in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern, Bd. XIX, Berlin u. Leipzig 1934, S. 325–442. 4 Vgl. Clemens Schwaiger, Art. Achenwall, Gottfried, in: The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers, hg. v. Heiner F. Klemme u. Manfred Kuehn, 3 Bde., London 2010, Bd. 1, S. 10–15. 5 Naturrecht Feyerabend, AA XXVII 1356 f. Kant wird durchgängig nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Da der Abdruck des Naturrechts Feyerabend im Bd. XXVII der Akademie-Ausgabe zahllose, nicht selten sinnstörende Transkriptionsfehler enthält, wird der Text hier und im Folgenden nach der Neuedition im Rahmen des Kant-Index unter Angabe der dort übernommenen Seitenzählung der Akademie-Ausgabe zitiert. 6 Achenwall, Ius naturae, § 200. 7 Ebd., § 204. 8 Ebd. 9 Ebd., § 205. 10 Ebd., § 206

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nach einer griffigen Übersetzung gesucht hat. Sie lautet: „Marktpreis“: „Dessen Werth nach dem gemeinen Urtheil der Menschen bestimmt ist, ist pretium vulgare Marktpreiß“.11 Als Repräsentant für ihn fungiert das Geld: „Es ist ein Aequivalent für alle andre Dinge“.12 Es sei hinzugefügt: „Marktpreis“ ist eine fast schon geniale Übersetzung, die die schwierigen Überlegungen Achenwalls genau auf den Punkt bringt. In der Folge wird sich zeigen: Sie wird rasch Karriere machen. 13 Zugleich aber bricht bei Kant in diese nüchterne Analyse einer Welt, die von Preis und Geld bestimmt wird, ein ganz anderer Gedanke ein, ein Gedanke, der Achenwalls Dreiergruppe von valor, pretium und pecunia sozusagen aufsprengt und einer ganz anderen Ordnung angehört. Es ist dies der Schlüsselbegriff der Würde, der bei Achenwall in diesem Zusammenhang nicht einmal andeutungsweise auftaucht. Sicher, in unserem Alltag bestimmt sich der Wert einer Sache durch ihren Nutzen. Etwas kann aber auch noch eine ganz andere Art von Wert haben: „Der Werth der Sache ist ein Grund der Nutzlichkeit“ – möglicherweise ist zu lesen: gründet in ihrer Nützlichkeit –. „Würde ist der innere Werth, der auf dem Wohlgefallen an dem Dinge selbst“ – und nicht auf seinem Nutzen – „beruht“.14 „Eine Sache hat gar keinen Preis, obgleich immer bestimmten Werth, wenn nur kein Aequivalent dafür gesetzt werden kan“;15 „die Tugend hat gar keinen Preis, sondern Würde“,16 auch wenn viele Menschen „für ihre Tugenden einen Preis“ haben.17 Mit anderen Worten: Wer bei allem und jedem immer nur auf den eigenen Nutzen aus ist, ist nicht etwa der Realist, der er zu sein glaubt. Er übersieht vielmehr gerade das Wesentliche. Er verkürzt die Realität, ja er lebt in Wahrheit an ihr vorbei. Das gilt für das individuelle Handeln genauso wie für das politische. Diese Idee der Würde hat für Kant auch ihre juristischen Konsequenzen, Kant fügt ausdrücklich hinzu: „Des Menschen Körper hat auch keinen Preis. Er – sc. der Mensch – kann nichts als Aequivaltente dafür nehmen“.18 Die Authentizität der Nach-

11

Naturrecht Feyerabend, Teilbd. 2: Abhandlung des ‚Naturrechts Feyerabend‘: Text und Hauptindex, a.a.O., AA XXVII 1357. 12 Ebd., AA XXVII 1357. 13 Vor Kant, der mit seiner Übersetzung in der Grundlegung den weiteren Sprachgebrauch bestimmt hat, wurde der sperrige Terminus ganz anders übersetzt: vgl. das Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum, hg. v. Ken Aso, Masao Kurosaki, Tanehisa Otabe u. Shiro Yamauchi, Tokio 1989, S. 291. 14 Naturrecht Feyerabend, Teilbd. 2, a.a.O., AA XXVII 1357. 15 Ebd., AA XXVII 1357. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.

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Rechtsphilosophie

schrift wird an dieser Stelle durch Kants handschriftliche Notizen zu Achenwall bezeugt. In der Reflexion 7565 heißt es: „Würde das Recht der Menschheit nicht die freyheit über seine Persohn zu disponiren einschränken, so müßte man einer Kuplerin zugestehen, die Persohn, die ihre Keuschheit verkauft hat, zu zwingen, contract zu halten“.19 Zwar sind die Pflichten gegenüber sich selbst für Kant besonnenerweise nicht eine Sache der Rechtslehre, sondern der Tugendlehre. Der Staat kann in aller Regel niemanden zwingen, mit sich selbst vernünftig umzugehen. Dennoch aber gilt für Kant ganz generell: Die Idee der Würde legt dem Menschen auch Pflichten auf und schränkt seine Rechte ein. Der Glaube, man könne sich nach Belieben zum bloßen Mittel machen, solange das nur im wechselseitigen Einvernehmen geschehe, ist ein Irrglaube. Die Idee Kants geht bei dem heute so verbreiteten inflationären Gerede von Würde nur zu leicht verloren. Das ‚anything goes‘ ist jedenfalls nicht das, was Kant mit dem Begriff der Mündigkeit gemeint hat.

2

Das Naturrecht Feyerabend und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Die Frage, worin jene Würde des Menschen denn nun bestehe und auf welchem Wege sie sich begründen lasse, wird von Kant im vorliegenden Zusammenhang nicht noch einmal erörtert. Sie bildete ja ein zentrales Thema seiner großangelegten „Einleitung“ in seine Naturrechtsvorlesung als Ganze.20 Eben deshalb aber ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, wann Kant jene Vorlesung gehalten hat, auf die das Naturrecht Feyerabend zurückgeht. Die Vorlesung fällt nämlich in das Sommersemester 1784, und das bedeutet zugleich: Sie fällt genau in die Monate, in denen Kant mit der Niederschrift seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beschäftigt gewesen ist. Am 10. August 1784 schreibt Johann Georg Hamann an Kants Verleger Hartknoch: „Kants amanuensis, Jachmann, arbeitet fleißig an dem Prodromo der Metaphysik der Sitten; vielleicht wißen Sie wie stark das Werk werden wird.“21 Das damals geläufige Wort ‚Prodromus‘ wird Kant in der Folge, offenbar in letzter Minute, durch das Wort

19

Reflexion 7565, in: AA XIX 456; vgl. im Naturrecht Feyerabend insbesondere den Abschnitt „De Matrimonio“, in: AA XXVII 1379. 20 Vgl. unten Abschnitt 3: Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Spiegel des Naturrechts Feyerabend. 21 Vgl. Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Bd. 5: 1783–1785, hg. v. Arthur Henkel, Frankfurt am M. 1965, S. 182.

Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie Kants

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‚Grundlegung‘ ersetzen.22 Dieses zeitliche Zusammentreffen hatte zur Folge, dass sich in Kants Naturrechtsvorlesung auf weiten Strecken das Gedankengut seiner Grundlegung widerspiegelt. Offenkundig ist in die Vorlesung in vielen Passagen eben das eingeflossen, was Kant daheim kurz zuvor zu Papier gebracht hatte. Umgekehrt ist es aber wohl auch so gewesen, dass manche Fragestellungen seiner Naturrechtsvorlesung, wie sich im Folgenden zeigen wird, die Thematik der Grundlegung in dieser oder jener Form mitbestimmt haben. Der akademische Lehrer und der Schriftsteller haben sich wechselseitig inspiriert. Die Frage nach der Würde des Menschen ist dafür ein gutes Beispiel. Zu den zentralen Begriffspaaren des Werks gehört nämlich seine Unterscheidung zwischen Preis und Würde. Kant schreibt in der Grundlegung: „Im Reiche der Zwecke“ – sehr vereinfacht könnte man vielleicht unter Absehung von allen historischen Bezügen sagen: in einer Welt, in der kein Mensch ein bloßes Mittel ist – „hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte gemäß ist, einen Affectionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d.i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d.i. Würde“.23 Der Grund jener Würde liegt für Kant in der Sittlichkeit. Für alles andere gibt es, mit Achenwall gesprochen, ein „Äquivalent“. Es lässt sich durch etwas anderes ersetzen. Solange das möglich ist, aber hat es eben deshalb nur einen relativen Wert. Die Sittlichkeit dagegen lässt sich durch nichts in der Welt ersetzen: „Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinct) haben einen innern Werth“.24 Kein Mensch ist unersetzlich, das wissen wir leider nur zu gut. Für bestimmte Eigenschaften des Menschen aber gilt das nicht. Kant rechnet an dieser Stelle wohl auch mit der unmittelbaren Evidenz der Beispiele. Für Menschen, denen sie nicht einleuchten, ist seine Grundlegung nicht geschrieben. Der tieferliegende Grund für jene äquivalentlose Rolle der Sittlichkeit aber ist in dem Umstand zu suchen, dass der Mensch durch sie aus eigener Einsicht an einer 22

Vgl. die Einleitung in die Grundlegung von Paul Menzer im Rahmen der Akademie-Ausgabe, AA IV 623–630, sowie Heinrich P. Delfosse, Kant-Index, Bd. 15: Stellenindex und Konkordanz zur ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. LXIII. 23 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 434 f. 24 Ebd., AA IV 435.

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Rechtsphilosophie

allgemeinen Gesetzgebung teilnimmt, an einer Gesetzgebung im strikten Sinne des Wortes, das heißt einer Gesetzgebung, die von dem „Begriff einer unbedingten und zwar objectiven und mithin allgemein gültigen Nothwendigkeit“ geleitet wird.25 Der Mensch hat Würde, weil er der Ort des Unbedingten ist. Nur das gibt der Rede von der Würde des Menschen einen Sinn. Sonst wird sie zu einer bloßen ideologiegetränkten und eben deshalb gedankenlosen Parole. Die moralischen Gesetze, von denen im vorliegenden Zusammenhang die Rede ist, werden jedoch nicht von außen an den Menschen herangetragen. Sie gründen vielmehr in seiner eigenen Vernunft: „Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen“ – gemeint sind die Rechtspflichten gegenüber anderen –, „und auch auf jede Handlung gegen sich selbst“ – gemeint sind die Tugendpflichten gegenüber sich selbst –, „und dies zwar nicht um irgend eines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vortheils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst giebt“.26 Als Abschluß aller dieser Überlegungen zum Stichwort Würde macht Kant allem Anschein nach den Versuch, seine Überlegungen zu diesem Thema in einem einzigen Satz lapidar zusammenzufassen: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“.27 Möglicherweise ist Kant in keinem Satz mehr er selbst gewesen. Autonomie bedeutet für Kant freilich etwas ganz anderes als im heute gängigen Sprachgebrauch. Autonomie bedeutet für ihn gerade nicht irgendeine Form von Beliebigkeit. Autonomie heißt nicht, dass man munter tun und lassen kann, was man will. Autonomie bedeutet aber auch nicht, dass man seine eigenen privaten oder politischen Überzeugungen unreflektiert in die Wirklichkeit umsetzen darf. Autonomie heißt für Kant in der genauen Bedeutung des griechischen Wortes: Der Mensch ist dazu befähigt, alle seine Wünsche, Interessen und Überzeugungen, so wichtig sie ihm auch sein mögen, aus eigener Einsicht in die Gesetze der Moralität so weit einzuschränken, dass sie sich in eine Welt der Vernunftmoral einfügen, das heißt in eine Welt, in der kein Mensch „bloß als Mittel“28 gebraucht oder richtiger missbraucht wird. Kant verwendet dafür den für seine Zeit gut verständlichen, heute aber mit zahlreichen sprach- und philosophiegeschichtlichen Implikationen belasteten Begriff eines „Reichs der Zwecke“.

25

Ebd., AA IV 416. Ebd., AA IV 434. 27 Ebd., AA IV 436. 28 Ebd., AA IV 433. 26

Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie Kants

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Bemerkenswert an Kants Ausführungen ist nicht zuletzt der Umstand, dass er den Terminus ‚Würde‘ im Unterschied zu zahlreichen anderen Autoren in enger Anlehnung an die ursprüngliche Verwendung des Begriffs gebraucht. Denn der Begriff der Würde beziehungsweise der dignitas stammt ja zuerst und zunächst aus der Welt des Politischen. ‚Würde‘ hat der Kaiser oder der König und dann jeder politische Machtträger. Sie äußert sich am sichtbarsten in der Befugnis, Gesetze zu geben. Kant überträgt das in die Welt des Moralischen: Der Mensch hat Würde, weil er das Vermögen besitzt, selbst Gesetze zu geben. ‚Würde‘ ist für Kant daher nicht irgendeine mehr oder weniger naheliegende Metapher, die man auch ebensogut, je nach dem gerade herrschenden Zeitgeschmack, durch eine andere ersetzen könnte. ‚Würde‘ ist vielmehr eine genaue Beschreibung eines anthropologischen Sachverhalts. Man braucht nur darüber nachzudenken, was den Menschen in seiner Substanz ausmacht, um zu diesem Begriff zu gelangen. Man kann sich die Frage stellen, von wo bei den skizzierten Überlegungen der erste Impuls ausgegangen ist: ob Kant durch seine Beschäftigung mit Achenwall dazu veranlaßt worden ist, die Frage nach dem Grund der Würde des Menschen in seiner Grundlegung so ausführlich zu erörtern, oder ob ihn hier, genau umgekehrt, die Arbeit an seiner Grundlegung zu der Auseinandersetzung mit Achenwall inspiriert hat. War der akademische Lehrer oder war der Schriftsteller Kant der Stichwortgeber? Möglicherweise gehört auch das zu jenen Fragen, bei denen „einer [...] den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält“.29 Einigermaßen sicher ist wohl nur, dass der Begriff ‚Marktpreis‘ die Übersetzung von Achenwalls ‚pretium vulgare‘ ist. Von da her ist er dann auch früher oder später in Kants Anthropologie hinübergewandert.30 Aber auch der Begriff ‚Äquivalent‘, den Kant vor der Grundlegung in seinen Veröffentlichungen nie gebraucht hat, geht wohl auf Achenwall zurück.

29

Kant, Kritik der reinen Vernunft, 21787, AA III 79. Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 292: „Alle andere gute und nutzbare Eigenschaften desselben – sc. des Menschen – haben einen Preis, sich gegen andere, die eben so viel Nutzen schaffen, austauschen zu lassen; das Talent einen Marktpreis, denn der Landesoder Gutsherr kann einen solchen Menschen auf allerlei Art brauchen; – das Temperament einen Affectionspreis; man kann sich mit ihm gut unterhalten, er ist ein angenehmer Gesellschafter; – aber – der Charakter hat einen inneren Werth und ist über allen Preis erhaben.“ 30

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3

Rechtsphilosophie

Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Spiegel des Naturrechts Feyerabend

Das Naturrecht Feyerabend beginnt mit einer langen „Einleitung“ – nicht etwa in die Fragen der Rechtsphilosophie, sondern, vielleicht überraschenderweise, in die Ethik als Ganze. Erst dann folgt unter dem Titel „Abhandlung“ die – zum Teil ungewöhnlich detaillierte – Auseinandersetzung mit dem Kompendium Achenwalls. Kant ist offenbar der Meinung gewesen, die künftigen Beamten des preußischen Staates müssten zunächst einmal begreifen, was mit Moralität oder Sittlichkeit – beides bedeutet für Kant im Unterschied zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein- und dasselbe – überhaupt gemeint sei. Dabei hat ihm seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, an deren Niederschrift er ja gerade arbeitete, offenkundig als Leitfaden gedient. So kommt es, dass die ersten vierundzwanzig Seiten der Handschrift des Naturrecht Feyerabend so etwas wie eine gedrängte Zusammenfassung der Grundlegung enthalten. Manche Gedanken Kants treten dabei klarer und kantiger zutage als in dem gedruckten Werk. Der Begriff der Würde spielt dabei bemerkenswerterweise eine führende Rolle. Gleich auf der dritten Seite der Handschrift heißt es: „Der Mensch nemlich ist Zweck an sich selbst, er kann daher nur einen innern Werth d.i. Würde haben, an dessen Stelle kein Aequivalent gesetzt werden kann. Andre Dinge haben äußern Werth d.i. Preis, dafür ein jedes Ding, das zu eben dem Zweck tauglich ist, als Aequivalent gesetzt werden kann“.31 Die Würde des Menschen – das ist das erste, was Kant seinen Studenten einzuschärfen sucht. Deshalb ist die Vorlesung auch ganz anders aufgebaut als das gedruckte Werk. Mit diesem Gedanken der Würde ist für Kant zugleich eine negative und eine positive Antwort auf die Frage, worin denn nun die Würde des Menschen bestehe, verbunden: „Wenn nur vernünftige Wesen können Zweck an sich selbst seyn; so können sie es nicht darum seyn, weil sie Vernunft, sondern weil sie Freiheit haben. Die Vernunft ist bloß ein Mittel“;32 „die Freyheit, nur die Freyheit allein macht, daß wir Zweck an sich selbst sind“.33 Gemeint ist, wie der Kontext zeigt,

31

Naturrecht Feyerabend, Teilbd. 1: Einleitung des ‚Naturrechts Feyerabend‘, a.a.O., AA XXVII 1319. 32 Ebd., AA XXVII 1321. 33 Ebd., AA XXVII 1322; vgl. Gianluca Sadun Bordoni, Kant e il diritto naturale. L’Introduzione al Naturrecht Feyerabend, in: Rivista internazionale di filosofia del diritto 84 (2007) 201–282, hier S. 225: „Questa tesi – che è il fulcro dellʼ argomentazione sviluppata da Kant nellʼ introduzione – compare, con queste nettezza, solo in questo corso, ed ha unʼ importanza che è difficile sopravvalutare per la comprensione del pensiero kantiano“.

Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie Kants

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die Freiheit des Menschen, aus eigener Einsicht nach moralischen Gesetzen zu handeln. Kant erläutert diesen Gedanken in seiner Vorlesung an dem so oft diskutierten Beispiel des Depositums: „Wenn jemand was bei mir deponirt, und er will es wieder haben, ich gebe es ihm aber nicht, und sage, ich kann es mehr zum Weltbesten nützen als er, so brauche ich sein Geld und ihn bloß als Mittel. Soll er Zweck seyn; so muß sein Wille auch den Zweck, als ich – zu lesen ist: denselben Zweck wie ich – haben“.34 Auch das „Weltbeste“ ist keine Rechtfertigung für Enteignung. „Wenn ich das zu einer allgemeinen Regel machte, daß ein jeder das Depositum, wenn es ihm gefiele, behalten wollte und könnte; so könnte das nie ein allgemeines Gesetz werden, denn alsdenn würde keiner was deponiren“.35 Dieser Gedanke braucht an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft zu werden. Es hieße Eulen nach Athen tragen. Giampaolo M. Azzoni hat ihn und seine lange Wirkungsgeschichte in seinem Buch Filosofia dell’ atto guiridico in Immanuel Kant36 mustergültig dargestellt.

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Kants negative Antworten

Warum Kant es sich mit der Begründung der Würde des Menschen so schwer gemacht hat, wird vielleicht etwas besser verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Formen der Begründung der Menschenwürde er für unzureichend gehalten hat. Im zweiten Teil seiner Metaphysik der Sitten, den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, geht Kant ausdrücklich darauf ein und gibt sozusagen zwei negative Antworten. Beide stehen in schroffem Widerspruch zu dem, was heute en vogue ist. Kant schreibt: „Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth (pretium vulgare). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das giebt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, ein[en] Preis, als einer Waare“.37 Es ist für 34

Naturrecht Feyerabend, Teilbd. 1, a.a.O., AA XXVII 1321. Ebd., AA XXVII 1327. 36 Giampaolo M. Azzoni, Filosofia dell’ atto guiridico in Immanuel Kant, Padua 1988. 37 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tl. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI 434; schon in der Kritik der praktischen Vernunft – AA V 61 f. – heißt es: „Denn im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn – sc. den Menschen – das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinct verrichtet; sie wäre alsdann 35

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Rechtsphilosophie

Kant also keineswegs damit getan, darauf hinzuweisen, dass der Mensch ein ζῷον λόγον ἔχον, ein animal rationale sei, so ehrwürdig diese Tradition auch sein mag. In der „Einleitung“ in das Naturrecht Feyerabend ist das ja schon klipp und klar ausgesprochen.38 Aber auch die Tatsache, dass der Mensch sich seine Zwecke, das heißt seine Lebensziele, selber setzen kann, mithin dass er selber bestimmen kann und muss, was er aus seinem Leben machen will beziehungsweise was er für Glück hält, reicht nach Auffassung Kants nicht aus, um die Rede von der Würde des Menschen zu rechtfertigen. Auf den ersten Blick ist das eine höchst überraschende Feststellung. Denn es ist ja gerade Kant gewesen, der nicht müde geworden ist, darauf hinzuweisen, dass nur der Einzelne darüber entscheiden könne, worin er sein Glück suchen wolle und worin nicht. Kants Kampf gegen den Paternalismus – heute würde man sagen: gegen den Wohlfahrtsstaat – hat hier seine Wurzeln.39 Und noch in der Tugendlehre heißt es: „Was diese – sc. die einzelnen Menschen – zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurtheilen überlassen“.40 Kant ist aus den ernstesten Gründen davon überzeugt gewesen, dass jeder Einzelne das Recht haben müsse, über sein Glück selbst zu verfügen. Der Mensch besitzt die Freiheit der Selbstbestimmung, die jeder andere – und auch der Staat – zu respektieren hat. Sie setzt dem Handeln des anderen eine Grenze. Aber Respekt vor der Entscheidung des anderen und Anerkennung seiner Würde sind zwei verschiedene Dinge. Die Freiheit der Selbstbestimmung ist eine wesentliche Voraussetzung des Glücks des Einzelnen. Aber sie begründet nicht die Würde des Menschen. Der Mensch kann sich ja sogar selbst, so schreibt Kant fast paradox, als Mittel zu „seinen eigenen Zwecken“ gebrauchen.41 Die Würde des Menschen besteht vielmehr darin, nach eigenem Wissen und Gewissen zu entscheiden, was im Einklang mit allgemeinen Vernunftgesetzen – das heißt in Übereinstimmung mit dem Verallgemeinerungsgebot – moralisch geboten ist und was nicht. Eine sehr persönliche Bemerkung sei

nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Thiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen.“ Vgl. auch die provozierende Bemerkung im Naturrecht Feyerabend, AA XXVII 1382: es ist falsch, anzunehmen, „daß Gott die Menschen ihrer Glückseeligkeit wegen erschafft habe.“ 38 Naturrecht Feyerabend, Teilbd. 1, a.a.O., AA XXVII 1321 f. 39 Vgl. Norbert Hinske, Kants Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat und sein Plädoyer für den Sozialstaat, in: Fiat iustitia. Recht als Aufgabe der Vernunft. Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag, hg. v. Maximilian Wallerath, Berlin 2006, S. 627–637. 40 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Tl 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI 388; vgl. Naturrecht Feyerabend, Teilbd. 2, a.a.O., AA XXVII 1334: „Ein jeder kann, wenn er nur die allgemeine Freiheit nicht beleidigt, sein Glück suchen, wie er will“, sowie insbesondere ebd., AA XXVII 1385. 41 Kant, Metaphysik der Sitten, Tl 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI 435.

Würde als Schlüsselbegriff der Philosophie Kants

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hinzugefügt: Wer das Dritte Reich noch selbst miterlebt hat, weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr Kant damit recht hat.

Religionsphilosophie

Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens Dem Menschen ist aller Wert geraubt, Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. Friedrich von Schiller, Die Worte des Glaubens

1

Zur Problemstellung1

„Freiheit gegen Fatalismus“2 beziehungsweise Freiheit gegen Determinismus3 – das war eines der großen, bewegenden Diskussionsthemen im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Die Frage lautete: Sind wir durch psychische, soziale, klimatische, lebensgeschichtliche und andere Gegebenheiten in unserem Handeln unausweichlich determiniert oder bleibt uns trotz allem die Freiheit der eigenen Entscheidung? Sind wir mit unseren Selbstentschuldigungen im Recht oder mit den Selbstvorwürfen, die wir uns machen? Wie zahlreiche andere Autoren seines Jahrhunderts war auch Kant der Überzeugung, dass sich für beide Auffassungen gleich starke – wohlgemerkt: gleich 1

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um ein mit Anmerkungen versehenes, aber im Vortragsstil belassenes Referat, das am 5. Juni 2000 anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät Trier im Rahmen einer Festakademie zum 50. Jahrestag ihrer Wiedererrichtung vorgetragen wurde. 2 Vgl. Bruno Bianco, Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus, hg. v. Norbert Hinske, Heidelberg 1989, S. 111–155; in überarbeiteter Fassung jetzt in: Bruno Bianco, Fede e Sapere. La parabola dell’ ‚Aufklärung‘ tra pietismo e idealismo, Neapel 1992, S. 31–84. 3 Der heute so geläufige Begriff des Determinismus macht erst überraschend spät Karriere. In Kants Druckschriften findet sich nur ein einziger Beleg, und zwar in seiner Religionsschrift von 1793 – in: AA VI 49 –. Zwei zusätzliche Belege finden sich in: Kraus’ Recension von Ulrich’s Eleutheriologie – in: AA VIII 451–460, hier 455 – von 1788, die die Akademie-Ausgabe mit in die Werke aufgenommen hat, ein weiterer schließlich in Kants Vorarbeit zur Ulrich-Rezension – in: AA XXIII 79 –. Es spricht viel dafür, dass in Johann August Heinrich Ulrich viel diskutierter Schrift Eleutheriologie oder über Freiheit und Nothwendigkeit, Jena 1788, die eigentliche Quelle für die Karriere des Begriffs zu suchen ist. Der Artikel Determinismus/Indeterminismus im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel u. Stuttgart 1972, Sp. 150 ff., ist dementsprechend zu ergänzen. Vgl. ferner Wolfgang Ertl, Kants Auflösung der ‚dritten Antinomie‘. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre, Freiburg u. München 1998, S. 23 Anm. 26.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_17

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Religionsphilosophie

starke und nicht etwa gleich schwache – Argumente ins Feld führen lassen, dass es sich bei dieser Frage also, wie Kant es dann in der Kritik der reinen Vernunft auf den Begriff bringt, um eine Antinomie im strengen Sinne handele, bei der sich Thesis und Antithesis, Behauptung und Gegenbehauptung, gleich gut beweisen lassen. Das alles ist wie gesagt trotz der neuen, die Zeitgenossen befremdenden Terminologie4 wenig originell, sondern mehr oder minder verbreitetes Gedankengut des 18. Jahrhunderts.5 Selbst bei Johann Georg Heinrich Feder, Kants Göttinger Gegenspieler, heißt es zu dieser „Klippe der Systeme“, ja zu diesem „Labyrinth“ mit seinem Gewirr der „Gründe und Gegengründe“, es handele sich hier um einen „Streit, wobei jedweder Theil, so bald er etwas behauptet, schweren Einwürfen seines Gegners ausgesetzet ist“.6 Was Kant von seinen Zeitgenossen unterscheidet, ist vielmehr die frappierende Auffassung, dass beide Behauptungen zugleich wahr sein können, dass wir uns also in unserem Handeln zugleich als frei und als determiniert, und zwar als „ganz frei“7 und ganz determiniert verstehen können und müssen. Nicht: ‚entweder – oder‘, sondern: ‚sowohl – als auch‘ lautet also Kants Auflösung der Freiheitsantinomie. Kants generelle Bemühung um ‚Konziliation‘ zwischen verfeindeten Standpunkten,

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Vgl. Norbert Hinske, Kants neue Terminologie und ihre alten Quellen. Möglichkeiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbeitung im Felde der Begriffsgeschichte, in: Kant-Studien 65 (1974) Sonderheft: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 6. bis 10. April 1974, Teil I, S. 68*–85*. 5 Vgl. Katsutoshi Kawamura, Spontaneität und Willkür. Der Freiheitsbegriff in Kants Antinomienlehre und seine historischen Wurzeln, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, Kap. I. – Die Rezension von Dieter Schönecker, in: Philosophischer Literaturanzeiger 52 (1999) 45–48, hat von den Problemen der Quellengeschichte schier nichts begriffen. Nur wenn es der quellengeschichtlichen Forschung gelingt, die Ausgangslage eines Autors zu rekonstruieren, lässt sich die Frage beantworten, wo seine originären Leistungen tatsächlich liegen und was in Wahrheit Traditionsgut ist. Angemerkt sei aber auch, dass Schönecker, der immer wieder eine „wirklich textgenaue Interpretation“ einfordert, paradoxerweise schon das Thema der Arbeit von Kawamura verfehlt. Leitthema ist nicht etwa Kants „Freiheitstheorie“, sondern, wie der Titel ausdrücklich sage, der „Freiheitsbegriff in Kants Antinomienlehre“. 6 Johann Georg Heinrich Feder, Logik und Metaphysik, Göttingen 1769, 31771, § 51, S. 326 ff. 7 AA V 95; vgl. Reflexion 4229, in: AA XVII 467: „Die freyheit läßt sich nicht theilen. Der Mensch ist entweder gantz oder gar nicht frey“. – Kants Schriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern zitiert; römische Ziffern bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Bei Zitaten aus der Kritik der reinen Vernunft wird die Seitenangabe der zweiten Auflage – B – vorangestellt.

Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens

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ein charakteristischer Zug seines Denkens,8 findet hier ihren vielleicht zugespitztesten Ausdruck. In der Sprache unserer angelsächsischen Kollegen wäre das die sogenannte Kompatibilismusthese.9 Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen die Absicht, eben diese Auffassung der Kritik der reinen Vernunft, jenseits aller Detailfragen der Kantforschung, in ihren großen Gedankenschritten nachzuzeichnen, zu verteidigen und in ihrer Bedeutung für die Gegenwart zu skizzieren. Ein solches Unterfangen scheint nun freilich die These Arthur Schopenhauers zu bestätigen, dass es nicht etwa nur einen Leichtsinn der Jugend, sondern auch einen Leichtsinn des „spätern Alters“ gebe.10 Unverdiente Ehrungen scheinen solchen Altersleichtsinn noch zu beflügeln. Ein gefährlicheres Glatteis nämlich lässt sich kaum denken. Wie aussichtslos die Lage aussieht, wird schlaglichtartig sichtbar, wenn man sich eine Anmerkung von Erich Adickes, einem der verdienstvollsten Kantforscher des vergangenen Jahrhunderts, in Erinnerung ruft: „Kant will [...] das Problem lösen, wie eine Handlung zugleich empirisch dem Kausalitätsgesetz gemäss bedingt sein und doch als intelligible Wirkung eines Dinges an sich aus Freiheit entspringen kann. Eine derartige völlig undenkbare zwiefach bedingte Handlung begreiflich zu machen, gelingt natürlich auch der Scharfsinnigkeit Kants nicht. Er bewegt sich in fortwährenden Wiederholungen, die das Problem auseinander setzen, ohne es verständlicher zu machen, die übrigens auch wohl aus verschiedenen Zeiten stammen, wenn es mir auch nicht gelungen ist, bestimmte Unterscheidungsmerkmale aufzufinden.“11 Auf Recht und Grenzen der sogenannten

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Vgl. Hans Vaihinger, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1881, 21922, Neudr. Aalen 1970, S. 58: „Die Vermittlung zwischen Gegensätzen ist eine sehr hervorstechende Tendenz von Kant, ohne welche sein Streben und sein Wirken nicht verständlich ist.“ 9 Vgl. Allen W. Wood, Kant’s Compatibilism, in: Self and Nature in Kant’s Philosophy, hg. v. Allen W. Wood, Ithaca u. London 1984, S. 73–101. 10 Brief an Rosenkranz und Schubert vom 24. August 1837, in: Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hg. v. Paul Deussen, Bd. 14: Der Briefwechsel Arthur Schopenhauers, hg. v. Carl Gebhardt, 1. Bd., München 1929, S. 475. 11 Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, mit einer Einleitung u. Anmerkungen hg. v. Erich Adickes, Berlin 1889, S. 437. Ähnlich, wenn auch behutsamer, heißt es auch bei Hans Wagner, Kants ergänzende Überlegungen zur Möglichkeit von Freiheit im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie (Kr. d. r. V., AA III 366–377), in: Realität und Begriff. Festschrift für Jakob Barion zum 95. Geburtstag, hg. v. Peter Baumanns, Würzburg 1993, S. 225–235, hier S. 226: „Es ist beeindruckend, zu sehen, wie Kant sich über lange Zeit hinweg immer noch einmal um eine ihn voll befriedigende Begründung für seine Überzeugung von unserer Freiheit im Wollen und Handeln bemüht.“

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Religionsphilosophie

‚patchwork theory‘: zur Kritik der reinen Vernunft,12 die im letzten Satz anklingt, kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht eingegangen werden. Die nachfolgenden Überlegungen wollen demgegenüber die These vertreten, dass es sich bei dem fraglichen Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft – einem Abschnitt von nicht weniger als dreißig Seiten Länge – keinesfalls um „fortwährende Wiederholungen“ handelt, sondern um fünf grundlegende Unterscheidungen, die in wohldurchdachter Reihenfolge Schritt für Schritt zu einer immer genaueren Ausarbeitung der Sachprobleme führen, um dann schließlich zu der Einsicht zu gelangen, dass sich der Gedanke der Freiheit sehr wohl mit dem des Determinismus vereinbaren lasse. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es demzufolge nicht, die zahlreichen Einzelfragen, die gerade dieser Textabschnitt mit sich bringt, zu diskutieren. Auch die Klärung wichtiger Schlüsselbegriffe – Spontaneitat, Maxime, Charakter, Gewissen – und die Auseinandersetzung mit der schier uferlosen Sekundärliteratur muss, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Es geht hier vielmehr darum, die Gedankenführung oder, wie Kant schreibt, den „Schattenriß“13 dieses unverhältnismäßig langen und unübersichtlichen Abschnitts so textnah wie möglich zu klären und den Nachweis zu erbringen, dass keine jener fünf Unterscheidungen für die Lösung des Freiheitsproblems entbehrlich ist. Erst wenn der Text als ganzer verstanden ist, lassen sich die Einzelfragen lösen und die Dunkelheiten, die der Text bietet, aufklären. Im einzelnen handelt es sich um fünf auf den ersten Blick hochabstrakte Begriffspaare, deren Brisanz nicht erst heute der sorgfältigen Entschlüsselung bedarf: 1. um die grundsätzliche Unterscheidung zwischen zwei ganz verschiedenen Arten oder „Classen“14 von Antinomien, die ihren je eigenen Umgang mit den Problemen verlangen; 2. um die gedankliche Unterscheidung zwischen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit oder anders formuliert: um die Einsicht in die Mehrdimensionalität des Kausalitätsbegriffs;15 12

Zur ‚patchwork theory‘ vgl. Alfons Kalter, Kants vierter Paralogismus. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zum Paralogismenkapitel der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, Meisenheim am Glan 1975, S. 2 ff., insbes. S. 13 ff. 13 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 570 – AA III 368 –. 14 AA IV 343; vgl. auch AA XX 289. 15 Die Unterscheidung zwischen „Freiheit im kosmologischen Verstande“ – transzendentaler Freiheit – und „Freiheit im praktischen Verstande“ – psychologischer Freiheit – in Kants Kritik, hier B 561 f., AA III 363, die sich übrigens gleichfalls ganz ähnlich schon bei Feder, Logik und Metaphysik, a.a.O., S. 326 ff., findet, hat demgegenüber bloß eine untergeordnete Funktion. Sie dient nur dazu, die Frage

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3. um Kants klassische Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich, die erst bei der Frage nach der Stimme des Gewissens beziehungsweise der praktischen Vernunft ihren eigentlichen Sinn enthüllt; 4. um die Unterscheidung zwischen sensibler und intelligibler Kausalität, die auf der vorangegangenen Unterscheidung aufbaut; sowie 5. um die Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter, zwischen Sinnes- und Denkungsart, und ihren jeweiligen Maximen. Kant hat sein Leben lang, aus welchen Gründen auch immer, gegen den Rückgriff auf Distinktionen gewettert. Die „Knoten der Spitzfindigkeiten und Unterscheidungen“;16 „ein Bollwerk von verwickelten metaphysischen Unterscheidungen“;17 „die subtilen, obzwar ohnmächtigen, Unterscheidungen subjectiver und objectiver praktischer Nothwendigkeit“18 – die Liste solcher und ähnlicher polemischer Ausfälle ließe sich fast beliebig verlängern. Um so bemerkenswerter ist es, dass Kant an entscheidender Stelle selber auf die Distinktionsmethode zurückgreift. In der Tat gehört diese alte, scholastische Methode, so oft sie auch missbraucht worden sein mag, zu dem Kostbarsten, was uns aus dem Mittelalter überliefert worden ist. Die Philosophie der Gegenwart wäre gut beraten, pfleglich mit diesem Erbe umzugehen.

2

Die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien

Die Dunkelheiten fangen gleich beim ersten Abschnitt an. Denn Kant beginnt die Diskussion der Freiheitsantinomie mit einer „Vorerinnerung“19, einem „praemonitum“,20 also einer Art Entschärfung, die man eigentlich bereits am Anfang des ganzen Antinomiekapitels erwartet hätte. Sie enthält nämlich eine generelle Einteilung nach der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit vor der Verwechselung mit ähnlich aussehenden Fragestellungen zu schützen. 16 AA I 98. 17 AA I 99. 18 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXXII; AA III 20. 19 Ebd., B 556; AA III 360. 20 So Friedrich Gottlob Born in seiner lateinischen Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft: Immanuelis Kantii opera ad philosophiam criticam, übers. v. Friedrich Gottlob Born, Bd. 1, Leipzig 1796, Neudr. Frankfurt am M. 1965, S. 369.

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Religionsphilosophie

aller – kosmologischen – Antinomien in zwei verschiedene Klassen, in mathematische und dynamische Antinomien, eine Unterscheidung, die für die Lösung des Antinomieproblems „eine ganz neue Aussicht“ eröffne.21 Allein schon diese merkwürdige Platzierung könnte ein Hinweis darauf sein, dass jene etwas rätselhafte Zweiteilung, die übrigens in der Kritik der praktischen Vernunft22 einen anderen systematischen Platz erhalten wird, von Kant nicht etwa, wie Adickes gemeint hat,23 aus systematischen Gründen entwickelt worden ist, sondern von Anfang an die spezifischen Probleme der Freiheitsantinomie im Auge hat und demzufolge auch erst an dieser Stelle ihren ursprünglichen Sinn verrät.24 Heinz Heimsoeth betont mit Recht, dass jene Zweiteilung erst hier „ihre eigentliche Aktualität“25 erhält. Ausgangspunkt bildet dabei das scheinbar rein erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Problem der Erfassung von Zusammenhängen, der Synthesis, und ihrer Quantifizierbarkeit: Geht es um nichts anderes als um Sachverhalte der Anschauung in Raum und Zeit, so haben wir es immer mit prinzipiell gleichartigen Bestandteilen zu tun, die demzufolge „mathematisch erwogen“26 werden können. Das ist beispielsweise bei der leidigen Frage nach einem zeitlichen Weltanfang der Fall, bei der nur von dem Quantum der verflossenen Zeit die Rede ist. Ganz anders verhält es sich dagegen bei den ursächlichen Bedingungen des Daseins, wie etwa bei der Frage nach

21

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 557; AA III 361. AA V 104. 23 Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 434 Anm. 1. 24 Dafür könnte auch die Tatsache sprechen, dass Kant die parallele Unterscheidung zwischen „mathematischen“ und „dynamischen Kategorien“ – B 110; AA III 95 – erst nachträglich, das heißt erst bei Gelegenheit der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787, an ihrem eigentlichen systematischen Ort, nämlich in die Erläuterung der Kategorientafel, eingefügt hat. Ein wichtiges, von Anfang an in systematischer Absicht entwickeltes Scharnier hätte Kant bei der ersten Abfassung des Werks wohl schwerlich vergessen. Dagegen wird alles viel verständlicher, wenn man davon ausgeht, dass Kant die Unterscheidung zunächst an eben der Stelle behandelt hat, wo sie aus sachlichen Gründen ihren Platz hatte. 25 Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Tl. 2: Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter, Berlin 1967, S. 331. Vgl. Heinz Röttges, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, in: Kant-Studien 65 (1974) 33–49, hier S. 42: „Das Kategorienkapitel ließ sich also zumindest in der Ausgabe A ohne jenen Unterschied entwickeln, so daß die Behauptung gerechtfertigt erscheint, diese Unterscheidung sei für das Kategorienkapitel unerheblich [...] Damit entsteht der [...] Verdacht, Kant führe es hier nur ein, um später im Zusammenhang der Freiheitsantinomie, wo es seine eigentliche Funktion und Bedeutung hat, auf es als ein längst gerechtfertigtes zurückgreifen zu können“. Von einer gewissenhaften Textinterpretation und von einer sorgfältigen Analyse der anstehenden Sachprobleme ist der Beitrag von Röttges freilich trotz mancher anregender Hinweise gleich weit entfernt. 26 Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, B 201; AA III 148. 22

Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens

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einem möglichen ersten Anfang des Handelns, also der freien Entscheidung. Hier können auch höchst ungleichartige Bedingungen mit im Spiele sein. Gleichartig – homogeneus – meint dabei etwas anderes als gleich – aequalis –. Ohne Zweifel ist das Bischöfliche Palais in Trier weniger weit von der Trierer Universität entfernt als der Vatikan. In beiden Fällen aber handelt es sich um räumliche Entfernungen. Sie sind zwar gewiss nicht gleich, aber sie sind von gleicher Beschaffenheit und lassen sich daher quantifizieren. Ganz anders können die Dinge bei Kausalverhältnissen liegen. Die Kälte des Winters kann zum Gefrieren des Wassers führen, dessen eben dadurch verursachte Ausdehnung zum Platzen der Schüssel der alten Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur, dieses Malheur wiederum zu einem Rechtsstreit mit der Versicherung usw. usw. In diesem zweiten Fall handelt es sich um eine Reihe von höchst ungleichartigen Ereignissen, die dynamisch zu einer und derselben Kausalreihe verknüpft sind; ‚heterogeneus‘ lautet der entsprechende lateinische Terminus. Erst an diesem Punkt der Überlegung enthüllt sich das Gewicht der skizzierten ersten Unterscheidung. Die mathematische Synthesis der beiden ersten Antinomien bildet für Kant offenbar die Folie, vor der sich die einzigartige Rolle des Freiheitsproblems nur um so deutlicher abzeichnet. Es ist gewissermaßen der Extremfall der Synthesis des Ungleichartigen. Wo uns das Gewissen als die tiefste Wurzel der freien Entscheidung wirklich in Anspruch nimmt, da prallen in unserem Handeln nämlich die unterschiedlichsten Bestimmungsgründe aufeinander: auf der einen Seite neuronale, psychische, soziale, lebensgeschichtliche und andere Faktoren, die der empirischen Forschung zugänglich sind, auf der anderen Seite das unerbittliche Gebot unserer praktischen Vernunft, die Stimme des Gewissens, die in der Handlungssituation wie aus einer anderen Welt zu uns spricht. Jede Theorie, so wird sich im Fortgang der Untersuchung herausstellen, die diese prinzipielle Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe unseres Handelns aus methodologischen oder aus ideologischen Motiven einfach ignoriert und alles von Anfang an über einen Leisten schlägt, trifft nach Auffassung Kants in Wahrheit eine dogmatische Vorentscheidung, und zwar eine Vorentscheidung, die zugleich auch am Selbstverständnis des Gewissens vorbeigeht. Aufgabe der kritischen Philosophie ist es, solchen dogmatischen Vorentscheidungen, so wissenschaftlich sie sich auch gerieren mögen, ihre Naivität zu nehmen. Zugleich aber lässt die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe, mit der wir es beim Freiheitsproblem zu tun haben, die Auflösung der Antinomie für Kant in völlig neuem Licht erscheinen. Für die ersten beiden Antinomien, also für die mathematischen Antinomien, galt unwiderruflich, „daß beide entgegengesetzte Behauptungen

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Religionsphilosophie

für falsch erklärt wurden“.27 Die Lösung bestand sozusagen in der „gänzlichen Abschneidung des Knotens“.28 Beide Parteien befinden sich auf dem Holzweg. Für die Freiheitsantinomie dagegen zeichnet sich aufgrund jener Ungleichartigkeit die Möglichkeit ab, dass beide entgegengesetzte Behauptungen „alle beide wahr sein können“.29 Für Kants Versuch, Determinismus und Freiheit friedlich schiedlich miteinander zu vereinbaren, ist damit der Weg vorgezeichnet. Dass es ein steiniger Weg mit mancherlei Hürden sein wird, sei schon an dieser Stelle hinzugefügt. Die Kritik der reinen Vernunft ist zwar ein unglaublich spannendes Buch, aber sie fällt nicht unter die Rubrik der Unterhaltungsliteratur.

3

Die Unterscheidung zwischen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit

Die zweite Unterscheidung, von der hier zu handeln ist, der zweite Gedankenschritt auf dem Weg zur Beilegung der Freiheitsantinomie, ist von ganz anderer Beschaffenheit. Es ist die scheinbar bloß formale, ja spitzfindige Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen denkbaren Formen von Kausalität, zwischen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit. Auf den ersten Blick könnte es fast so aussehen, als beschreibe oder verdeutliche Kant damit nur noch einmal den Inhalt der beiden entgegengesetzten Behauptungen der Freiheitsantinomie, so dass Adickes’ Rede von den „fortwährenden Wiederholungen“ zumindest an dieser Stelle gerechtfertigt wäre. Tatsächlich bringt diese zweite Unterscheidung jedoch einen wesentlichen Gedankenfortschritt mit sich. Sie weist darauf hin, dass der Kausalitätsbegriff keineswegs so eindeutig ist, wie er in den handelsüblichen Diskussionen verwandt wird. In Wahrheit nämlich lassen sich zwei ganz verschiedene Formen von Kausalität denken – wobei ‚Kausalität‘ für Kant in diesem Zusammenhang, abweichend vom heutigen Sprachgebrauch, nicht einfach ‚Ursächlichkeit‘, sondern das Wirksamwerden der Ursache, eben die „Causalität der Ursache“30 beziehungsweise die „Handlung“ bedeutet31 –: „Man kann sich nur zweierlei Causalität in Ansehung dessen, was geschieht, 27

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 556; AA III 360. Ebd., B 557; AA III 361. 29 Ebd., B 560; AA III 362. 30 Ebd., B 560; AA III 363. 31 Ebd., B 570; AA III 368. Das besagt zugleich, dass mit Kausalität in dieser Bedeutung des Wortes nicht die Kategorie der Kausalität als bloßer Ordnungsbegriff der Erscheinungswelt gemeint sein kann. 28

Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens

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denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit“.32 Während es sich bei der Naturkausalität um die bloße „Fortsetzung“33 einer vorgegebenen Reihe von Zuständen handelt, meint Kausalität aus Freiheit das Vermögen, eine Reihe „von selbst anzufangen“,34 also Spontaneität im wörtlichen Sinne. Wo immer der Mensch in Freiheit entscheidet, beginnt buchstäblich eine neue Welt.35 Der eigentliche Unterschied zwischen beiden Formen der Kausalität, so führt Kant aus, bestehe darin, dass die erstere „auf Zeitbedingungen“36 beruht – und eben deshalb zwangsläufig in einen unendlichen Regress führt –, während bei der letzteren keinerlei Ursache mit ins Spiel kommt, „welche sie – sc. die Handlung – der Zeit nach bestimmte“.37 Kausalität unter Zeitbedingungen auf der einen, Kausalität jenseits aller Zeitbedingungen auf der anderen Seite, darin besteht der Gedankenfortschritt dieser zweiten Unterscheidung, ein Motiv, das in den folgenden Abschnitten immer wieder und immer lauter anklingen wird. Kant betont freilich selbst, dass eine solche zeitlose Form von Kausalität naturgemäß „nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält“ und dass ihr „Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt [!] gegeben werden kann“.38 Warum Kant der seltsame Gedanke einer zeitlosen Kausalität dennoch so wichtig ist und was er mit ihm im Schilde führt, wird sich erst im Zuge der letzten Unterscheidung herausstellen.

4

Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich

Die dritte Unterscheidung berührt den Dreh- und Angelpunkt der Kantischen Philosophie als ganzer, sozusagen das, was als Nachschlage- oder Schlagwortwissen über 32

Ebd., B 560; AA III 362. Ebd., B 571; AA III 369. 34 Ebd., B 561; AA III 363. 35 ‚Welt‘ als ‚Reihe‘ ist der Grundansatz der Definition der Welt bei Christian Wolff, der sich bei ihm durch alle Veränderungen und Selbstkorrekturen durchhält: vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Halle 1719, 111751, § 544, S. 332 [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u. a., Abt. I, Bd. 2, Hildesheim, Zürich u. New York 1997.]: Die Welt ist „eine Reihe veränderlicher Dinge […], die neben einander sind, und auf einander folgen, insgesamt aber mit einander verknüpfet sind“. Eben diese Definition der Welt als Reihe bildet den Hintergrund des gesamten Antinomienkapitels der Kritik der reinen Vernunft. 36 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 560; AA III 363. 37 Ebd., B 561; AA III 363. 38 Ebd., B 561; AA III 363. 33

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Religionsphilosophie

sie mehr oder minder unverstanden in den Köpfen herumgeistert, Kants berühmtberüchtigte Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich, also den transzendentalen Idealismus im ursprünglichen und engen Sinne: die These von der bloßen Idealität des Raumes und der Zeit. Bei beiden handelt es sich um bloße, wenn auch notwendige Vorstellungsweisen des Subjekts. Die Zeitbedingungen, von denen die Rede war, können demzufolge immer nur die Erfassung der Kausalverhältnisse betreffen und nicht diese selber. Bis zu einem gewissen Grade könnte man sagen, dass alle fünf Unterscheidungen, von denen hier zu handeln ist, Entfaltungen oder Folgerungen jener einen Grundunterscheidung sind. Das aber zeigt nur, wie facettenreich Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich in Wahrheit ist. Von besonderem Interesse ist die Frage, aus welchem Blickwinkel Kant jene grundlegende Unterscheidung in dem speziellen Zusammenhang des Freiheitsproblems aufnimmt. Es geht ihm um die Aufdeckung einer keineswegs selbstverständlichen Vorentscheidung, die der empirischen Arbeit vorausliegt. Es geht ihm darum, „die zwar gemeine – sc. verbreitete –, aber betrügliche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen“39 als ein „gemeines Vorurtheil“40 zu entlarven und eben damit die „Täuschung des transcendentalen Realismus“41 zu durchschauen. Eben dieses gängige Vorurteil sei es, das den Gedanken der Freiheit unmöglich mache: „[...] sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die sammt ihrer Wirkung unter dem Naturgesetze nothwendig sind“;42 ,,da der durchgängige Zusammenhang aller Erscheinungen in einem Context der Natur ein unnachlaßliches Gesetz ist“ müsste „dieses alle Freiheit nothwendig umstürzen“.43 In Wahrheit aber handele es sich bei unserer Erfahrungswelt, so selbstverständlich wir uns auch in ihr bewegen mögen, um „bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen“.44 Die Determinismusthese beruht daher 39

Ebd., B 564; AA III 365. Ebd., B 768; AA II 485. Den quellengeschichtlichen Hintergrund solcher Äußerungen bildet allem Vermuten nach die Schrift von Georg Friedrich Meier, Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle 1766; vgl. Norbert Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, Kap. VIII: Georg Friedrich Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis. Noch eine unbemerkte Quelle der Kantschen Antinomienlehre, S. 118–128. 41 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 571; AA III 369. 42 Ebd., B 564; AA III 365. 43 Ebd., B 565; AA III 365 f. 44 Ebd., B 565; AA III 365. 40

Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens

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nicht etwa auf gesicherten empirischen Ergebnissen, sondern auf einem immer schon als wahr vorausgesetzten vorwissenschaftlichen Vorurteil. Der Versuch einer Gesamtdarstellung der Freiheitsantinomie ist gewiss nicht der passende Ort für detailliertere Textexegesen der Kritik der reinen Vernunft. Nur ein einziger Satz sei etwas ausführlicher analysiert. Er betrifft die Rolle der empirischen Forschung im Kontext des Determinismusproblems. Kant schreibt: „Die Wirkung – sc. die Handlung des Menschen – kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg – sc. als Konsequenz – aus denselben nach der Nothwendigkeit der Natur angesehen werden“.45 Interessant ist an diesem Satz nicht zuletzt die Formulierung „kann [...] angesehen werden“.46 Kant schreibt nicht etwa ‚ist‘. Es handelt sich für ihn bei der empirischen Forschung also nicht etwa um eine gesicherte Erfassung des menschlichen Handelns, sondern um so etwas wie mögliche Rekonstruktionsversuche. In der Tat entwickeln die verschiedenen Einzelwissenschaften ja auch höchst unterschiedliche, wenn nicht gar unvereinbare Perspektiven. Die Kategorie der Kausalität dient dazu, zwischen den Gegebenheiten der Erfahrungswelt mögliche Zusammenhänge zu rekonstruieren, nicht mehr und nicht weniger. Sie hat gerade hier eine bloße Ordnungsfunktion. Der Determinismus ist nicht etwa das Resultat der empirischen Forschung – und kann es als Allaussage auch gar nicht sein –, sondern er ist für sie so etwas wie eine unverzichtbare regulative Idee, eine Leitidee, eine „notio directrix“, die an ihrem Anfang steht.47 Die strenge empirische Forschung muss so vorgehen, als ob alles Handeln des Menschen determiniert wäre. Das gängige Verständnis der Öffentlichkeit geht heute dahin, als handele es sich bei der empirischen Forschung um gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse, auf die man sich unbesehen berufen könne, während die Philosophie es mit waghalsigen Gedankenkonstruktionen zu tun habe. In Wahrheit aber riskiert gerade die empirische Forschung Kopf und Kragen, wenn sie sich nicht auf Schritt und Tritt des Perspektivencharakters ihrer Arbeit bewusst ist. Die kritische Philosophie dagegen, die zunächst einmal nach der spezifischen Funktion solcher Ideen fragt, mahnt zur Besonnenheit. 45

Ebd., B 565; AA III 365. Vgl. ebd., B 572; AA III 369 f.: „Wir bedürfen des Satzes der Causalität der Erscheinungen unter einander, um von Naturbegebenheiten Naturbedingungen, d.i. Ursachen in der Erscheinung zu suchen und angeben zu können“. Hervorhebungen nicht im Original. 47 Der Zusammenhang zwischen Kants Begriff der regulativen Idee und Wolffs Begriff der notio directrix, darauf kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden, bedarf noch der genaueren begriffsgeschichtlichen Analyse. Zu dem letzteren vgl. beispielsweise Christian Wolff, Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata, qua ad solidam, inprimis Dei atque naturae, cognitionem via sternitur, Frankfurt u. Leipzig 1731, 21737, S. 11* ff. und öfter [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. v. Jean École u. a., Abt. II, Bd. 4, Hildesheim 1964.]. 46

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Selbstverständlich wissen nachdenkliche Natur- und Sozialwissenschaftler das alles selbst und bedürfen nicht der Nachhilfe durch den Kantianer, so hellsichtig Kants frühe Warnungen auch gewesen sein mögen.48 Das Fußvolk der empirischen Sozialwissenschaften aber glaubt munter weiter, mit seinen Methoden die Wirklichkeit des menschlichen Handelns so erfassen zu können, wie sie tatsachlich ist. Allenfalls ist es bereit, eine Falsifizierung im Einzelfall mit in Rechnung zu stellen. Doch nicht nur die Metaphysik, auch die Einzelwissenschaften, so nüchtern sie sich auch geben mögen, haben nach Auffassung Kants ihren geheimen Dogmatismus und bedürfen daher nicht weniger der Grenzbestimmung durch die Vernunftkritik.49 Wer meint, der Theologie mit etwas Psychologie oder Soziologie auf die Sprünge helfen zu können, hat wenig begriffen.

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Die Unterscheidung zwischen sensibler und intelligibler Kausalität

Kants vierte Distinktion ist die Unterscheidung zwischen sensibler und intelligibler Kausalität beziehungsweise, wie es an anderer Stelle in einer für Kant höchst bezeichnenden Formulierung heißt, zwischen „causa phaenomenon“ und „causa noumenon“.50 Sie setzt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich, zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis, in die konkrete Handlungssituation eines und desselben Menschen um. Während es sich jedoch bei der Unterscheidung zwischen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit zu Beginn der „Auflösung“51 auf den ersten Blick um zwei ganz verschiedene Formen von Kausalität handelte, geht es jetzt um „zwei Seiten“52 eines und desselben Kausalvorgangs und deren Zusammenspiel. Kant führt diese neue Unterscheidung mit einer Art Schlüsselsatz ein, dessen umständliche, bewusst hypothetische Satzkonstruktion die Brisanz der Aussage leicht

48

Vgl. Andreas Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit, Bern u. Stuttgart 1989, S. V. 49 Vgl. Norbert Hinske, Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens. Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus, Erlangen u. Jena 1995, S. 8 ff. – wiederabgedruckt in diesem Band S. 241–255, hier S. 246. 50 AA XX 291; AA XX 328; Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 573; AA III 370; 51 Ebd., B 560 f.; AA III 362 f. 52 Ebd., B 566; AA III 366.

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verdeckt. Die Formulierung „dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß“53 meint den konkreten handelnden Menschen inmitten der vielfältigen Bedingtheiten, die sein Tun und Lassen bestimmen; die Rede von einem „Vermögen“ dagegen, „welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann“,54 zielt auf das Vermögen der reinen praktischen Vernunft beziehungsweise des Gewissens55, dessen Handlungsprämissen so oder so auf die konkrete Handlungssituation Einfluss nehmen. Es ist dies eine Instanz, die sich ihrem eigenen Auftreten nach nicht in die empirischen Bedingtheiten einordnen lässt. Sie artikuliert ein ‚Sollen‘, das innerhalb der Natur ein Fremdkörper ist: „Das Sollen drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“.56 Diese Ortlosigkeit des Gewissens innerhalb der Erfahrungswelt aber verhindert keinesfalls, dass es in Form einer intelligiblen, jedem empirischen Zugriff entzogenen Kausalität „die Ursache von Erscheinungen sein kann“.57 Ganz im Gegenteil, die Geschichte zeigt, dass die Stimme des Gewissens, sie mag nun Fiktion sein oder Realität, immer wieder dramatisch in das Geschehen eingegriffen hat. Sie setzt gegen die Macht der Lebensumstände die Macht des Gedankens. In eben diesem Sinne schreibt Kant in der anschließenden „Erläuterung“ seines Lösungsversuchs: „Bisweilen aber finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, daß die Ideen der Vernunft wirklich Causalität in Ansehung der Handlungen des Menschen als Erscheinungen bewiesen haben, und daß sie – sc. die Handlungen – darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren“.58 Für den empirischen Wissenschaftler freilich sind ihre Äußerungen, und zwar nicht etwa aufgrund gesicherter Forschungsergebnisse, sondern aufgrund seiner methodologischen Vorentscheidungen, ein bloßer Faktor der Erfahrungswelt wie alle anderen auch. Bei dem angeführten Satz handelt es sich also trotz seiner umständlichen Verschachtelungen, die es dem Leser nicht gerade leichtmachen, um alles andere als um eine wirklichkeitsfremde Gedankenkonstruktion. Er ist vielmehr eine genaue Beschreibung der Ausgangslage des handelnden Menschen. Auf der einen Seite sieht

53

Ebd., B 566; AA III 366. Ebd. 55 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tl. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 37 f., AA IV 400: „Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft“. 56 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 575; AA III 371. 57 Ebd., B 566; AA III 366. 58 Ebd., B 578; AA III 373. 54

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sich der Mensch, wo immer er über sein Handeln nachdenkt, in seinem Tun und Lassen von den unterschiedlichsten Einflüssen bestimmt. Entschuldigungen gibt es daher für ihn in Hülle und Fülle. Auf der anderen Seite aber meint der Mensch eine Instanz in sich wahrzunehmen, die sich ihrem eigenen Auftreten nach unantastbar jedem empirischen Zugriff entzieht: das kategorisch gebietende Urteil seiner reinen praktischen Vernunft oder, einfacher formuliert, die Stimme des Gewissens. Deren intelligible Kausalität wird in der Welt der Erscheinungen sichtbar, sie selbst aber entzieht sich jedem empirischen Zugriff und bleibt daher auf der Ebene der theoretischen Philosophie ein bloß problematischer Gedanke, eine riskante Gedankenkonstruktion. Erst die praktische Philosophie zeigt, dass es sich tatsächlich so verhält. Kants prinzipielle Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich kann hier nicht weiter verfolgt werden. Sie ist fürwahr ein zu schwieriges Thema, als dass man sie en passant auch noch mitbehandeln könnte. Nur eine grundsätzliche Anmerkung sei erlaubt: Die Kantforschung wäre vermutlich nicht schlecht beraten, wenn sie Kants nicht selten merkwürdige Aussagen über das Verhältnis von Erscheinung und Ding an sich, deren Schwierigkeiten die Kantrezeption seit ihren Anfängen in Jena begleiten, immer auch zugleich als Aussagen über das „wundersame Vermögen in uns, welches wir Gewissen nennen“,59 zu verstehen versuchte.

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Die Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter und ihre Weiterführung durch Kants Moral- und Religionsphilosophie

Wie aus heiterem Himmel geht Kant von der Unterscheidung zwischen sensibler und intelligibler Kausalität zum Problem des Charakters über. Der Begriff des Charakters ist dabei im ersten Satz noch in jenem weiten ontologischen Sinne zu verstehen, wie ihn Kant als akademischer Lehrer in seinen Handbüchern vorgefunden hat60, und meint einfach soviel wie ‚Gepräge‘: „Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde“.61 Grundlegend an diesem Satz ist die Feststellung, dass Kausalität und Handeln schon allein aus rein ontologischen Gründen überhaupt nur als Wirksamkeit 59

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 98. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 1739, 41757, wiederabgedruckt in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XVII, Berlin u. Leipzig 1926, § 67, S. 18 – AA XVII 41 –. 61 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567; AA III 366. 60

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nach bestimmten, so oder so beschaffenen Gesetzen vorstellbar ist, ja der Charakter einer Sache meint zunächst überhaupt nichts anderes als das „Gesetz ihrer Causalität“, durch das jede einzelne Wirkung in eine bestimmte Bahn gelenkt wird. Handeln, das nicht diesen oder jenen Gesetzen unterliegt, ist völlig unmöglich.62 Erst in den folgenden Sätzen ist vom Menschen und dessen spezifischen Handlungen die Rede.63 Der eigentliche Angelpunkt ist dabei die Unterscheidung zwischen „empirischem“ und „intelligibelem Charakter“ beziehungsweise zwischen dem „Charakter eines [...] Dinges in der Erscheinung“ und dem „Charakter des Dinges an sich selbst“.64 Beides meint eine Grundeigenschaft des handelnden Menschen überhaupt und ist vom Charakter im emphatischen Sinne, dem „Charakter [...] schlechthin“,65 einer Auszeichnung einiger weniger Menschen, streng zu unterscheiden – ähnlich wie jeder Mensch irgendwelche Maximen hat, während feste, konsequente Maximen eine Sache weniger sind. „Charakter und Maximen“66 sind für Kant geradezu dasselbe.67 Der empirische Charakter eines Subjekts meint das „Gesetz seiner Causalität“, so wie es durch die verschiedensten Naturursachen bestimmt und demgemäß „durch Erfahrung erkannt“68 wird, die typische Art seines Verhaltens. In diesem empirischen Sinne kann das Subjekt des Handelns, der Mensch, „diesen oder jenen (physischen)

62

Vgl. Reflexion 4783, in: AA XVII 726: „Freye handlungen geschehen nach einer Regel eben so wie natürliche“; Reflexion 5375, in: AA XVIII 165: „Es steht alles [...] unter einer Regel, entweder der Nothwendigkeit oder Freyheit“. 63 Vgl. Reflexion 1517, in: AA XV 865.: „Alle Dinge haben etwas characteristisches in sich, der Mensch hat allein einen inneren Character. [...], 1, Naturell. Talent und Sinnesart. [...]. [2.], Character, Denkungsart: bezieht sich auf Willen, giebt innern Werth, ist der moralisirung fähig“. 64 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567; AA III 366 f. 65 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 292. 66 AA XV 205. 67 In seinem anregenden Beitrag über Kants Maximenethik und ihre Begründung, in: Kant-Studien 85 (1994) 129–146, hat Michael Albrecht Kant die „Überzeugung“ zugeschrieben, S. 137, „daß längst nicht jeder nach Maximen handelt“. Aus dem Blickwinkel einer pragmatischen Anthropologie mag eine solche Aussage ein Moment der Wahrheit enthalten. Längst nicht jeder Mensch hält konsequent an allen seinen Maximen fest. Freilich heißt es auch hier nicht etwa, wie Albrecht, ebd., S. 132 Anm. 13, schreibt, „Nach Grundsätzen zu handeln“, sondern „nach festen Grundsätzen zu handeln“ sei „etwas Seltenes“: so AA VII 292. Transzendental- und moralphilosophisch gesehen dagegen ist für Kant alles Handeln im eigentlichen Sinne Handeln nach subjektiven Gesetzen beziehungsweise Maximen, der Mensch mag sich seiner Maximen bewusst sein oder nicht. Kants Ethik ist in sehr viel tieferem Sinne Maximenethik, als Albrecht ahnt. 68 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 568; AA III 367.

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Charakter“69 haben, der für Kant insbesondere durch sein „Naturell“ und sein „Temperament“70 geprägt wird. Der entsprechende deutsche Begriff bei Kant ist „Sinnesart“.71 Von eben diesem empirischen Charakter gilt, ,,daß seine Handlungen als Erscheinungen durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhang“ stehen „und von ihnen als ihren Bedingungen abgeleitet werden“ können „und also mit diesen in Verbindung Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung“ ausmachen.72 „So wie äußere Erscheinungen in dasselbe – sc. Subjekt des Handelns – einflössen, wie sein empirischer Charakter, d. i. das Gesetz seiner Causalität, durch Erfahrung erkannt wäre, müßten sich alle seine Handlungen nach Naturgesetzen erklären lassen, und alle Requisite – sc. Erfordernisse – zu einer vollkommenen und nothwendigen Bestimmung derselben müßten in einer möglichen Erfahrung angetroffen werden“,73 das heißt vorhersehbar und empirisch erforschbar sein. Ihre zeitliche Ordnung bedeutet zugleich auch ihre Determiniertheit. Von so etwas wie Freiheit kann hier also schlechterdings nicht die Rede sein. Ganz anders dagegen liegen die Dinge bei dem intelligiblen Charakter, der „Denkungsart“,74 also jenem Charakter, der den Menschen in der Tiefe seines Daseins bestimmt. Kennzeichnend für ihn ist vor allem der Umstand, dass das handelnde Subjekt hier keinerlei Zeitbedingungen unterworfen ist: „Dieses handelnde Subject würde nun nach seinem intelligiblen Charakter unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst. In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen unterworfen sein: daß alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe“.75 Sätze wie diese, die Rezeptionsgeschichte zeigt es, lassen sich leicht dahingehend missverstehen, als sei damit eine völlige Unwandelbarkeit gemeint. Heimsoeth hat demgegenüber mit Nachdruck betont, dass damit bei Kant selber keinesfalls etwas „Statisch-Seiendes“ gemeint sei.76 Um so mehr aber drängt sich die Frage auf,

69

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 285. Ebd. 71 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 579; AA III 373; Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 292. 72 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567; AA III 366. 73 Ebd., B 568; AA III 367. 74 Ebd., B 579; AA III 373; Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 285. 75 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567 f.; AA III 367. 76 Heinz Heimsoeth, Freiheit und Charakter. Nach den Kant-Reflexionen Nr. 5611–5620, in: Tradition und Kritik. Festschrift für Rudolf Zocher zum 80. Geburtstag, hg. v. Wilhelm Arnold u. Hermann 70

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was um alles in der Welt Kant bei jener ominösen Freiheit von Zeitbedingungen im Sinne gehabt habe. Kant betont nun zwar selbst, dass jener intelligible Charakter nach dem Gesetz seines Handelns „niemals unmittelbar gekannt werden“ kann, „weil wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint“.77 Nicht nur der Beobachtung von außen, sondern auch der Selbstreflexion bleibt er weitgehend verschlossen. Je mehr wir über uns selbst und die Leitlinien unseres Handelns nachdenken, um so mehr erschrecken wir: Wir wissen nicht, wer wir in der Tiefe unseres Daseins sind. Das ist einer der dramatischsten Aspekte der These Kants von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich. Dennoch aber ist der Gedanke eines solchen, allen Zeitbedingungen entzogenen Handlungscharakters, wie vor allem Kants moralphilosophische Schriften zeigen, alles andere als eine müßige Gedankenspielerei. Denn das „Gesetz der Causalität“, das Kant bei seiner Rede von einem intelligiblen Charakter vorschwebt, ist offensichtlich nichts anderes als die „sittliche Vorschrift“, die „zugleich meine Maxime ist“78 oder jedenfalls nach dem Urteil meiner praktischen Vernunft sein soll,79 ‚Maxime‘ verstanden als das „subjective Princip des Wollens“,80 als der eigentliche Schauplatz der Freiheit. Was Kant vor Augen hat, das sind also jene intimen Verhaltensregeln des Einzelnen, von denen er sich in seinem Handeln noch vor jeder konkreten Entscheidung stillschweigend leiten lässt, und die Stimme des Gewissens, die auf sie Einfluss zu nehmen sucht. Sie sind es, die über gut und böse seines Handelns entscheiden. In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant im vorliegenden Zusammenhang:

Zeltner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, S. 123–144, hier S. 132, wiederabgedruckt in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hg. v. Gerold Prauss, Köln 1973, S. 292–309, hier S. 299. 77 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 568; AA III 367. 78 Ebd., B 856; AA III 536. 79 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 84; AA IV 438: „Ein Reich der Zwecke ist [...] nur möglich nach der Analogie mit einem Reiche der Natur, jenes aber nur nach Maximen, d.i. sich selbst auferlegten Regeln“. Vgl. auch George Samuel Albert Mellin, Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, 6 Bde., Jena u. Leipzig 1797–1804, Neudr. Aalen 1970–1971, Bd. 5.1, S. 303 ff. s. v. Sinnesart. Mellins Wörterbuch, das hier wie an zahlreichen anderen Stellen weit mehr ist als ein bloßes Nachschlagewerk, fasst den inneren Zusammenhang von intelligiblem Charakter, Maximen und moralischem Gesetz aufs klarste zusammen; vgl. ebd., S. 304. „Der Charakter überhaupt, intelligibele Charakter oder die Denkungsart ist das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines mit Freiheit begabten vernünftigen Wesens (intelligibeln, übersinnlichen Wesens oder eines Dinges an sich). Der Mann von Grundsätzen hat einen Charakter (schlechthin), eine praktische consequente Gesinnung, nach unveränderlichen Maximen, wovon das moralische Gesetz der Grund ist“. 80 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 400; vgl. ebd., AA IV 420; Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 577; AA III 372.

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„ebendasselbe Subject, das sich“ seiner nicht nur als Glied der Erfahrungswelt sondern „anderseits auch seiner als Dinges an sich selbst bewusst ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze die es sich durch [praktische] Vernunft selbst giebt“.81 Statt Gesetz seiner Kausalität' hätte Kant daher mit Bezug auf das „handelnde Subject [...] nach seinem intelligibelen Charakter“82 genausogut auch schreiben können: ‚(Grund)maxime seines Handelns‘. Dass er diesen Sprachgebrauch in der Kritik der reinen Vernunft vermeidet, hängt allem Vermuten nach mit seinem Bemühen zusammen, die Fragestellungen der reinen theoretischen Vernunft nicht mit denen der reinen praktischen Vernunft zu vermischen. Seine erste Kritik ist ja bewusst als „Kritik der reinen speculativen Vernunft“83 angelegt. Das Sittengesetz beziehungsweise die Stimme des Gewissens aber sagt in letzter Instanz, sozusagen in seinem unantastbaren Kern, unbeirrt von allen Zeitumständen immer dasselbe. Es ist die „beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen“.84 „Sie, die – sc. sittliche – Vernunft ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumstanden gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit“.85 Sie steht quer zur Zeit. Man kann ihre Botschaft, wie Kant selbst gezeigt hat, in verschiedenster Form zu artikulieren versuchen. In ihrer Substanz aber ist sie, unberührt von allen Zeitbedingungen, immer dieselbe. Der Kürze halber sei hier nur, eine ganze Reihe von Zwischenschritten überspringend, eine der klassischen Formulierungen des kategorischen Imperativs in Erinnerung gerufen: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.86 Eben dieser Satz formuliert eine zeitlose Einsicht der praktischen, das heißt über das Handeln reflektierenden Vernunft, die Einsicht, dass jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen von Glück hat, seine eigenen Absichten und Pläne, seine eigenen Hoffnungen und Träume, seinen eigenen Ehrgeiz und seine eigenen Niederlagen, aber auch seine eigenen Ängste und Nöte, und seine eigene Stimme des Gewissens, so dass jeder seinen eigenen Weg zu gehen hat. Wer darauf in seinem Handeln nicht Rücksicht nimmt und den Anderen zum bloßen Mittel seiner eigenen Absichten macht, der handelt am anderen Menschen vorbei, er handelt im buchstäblichen Sinne unmenschlich. Kant wäre gewiss damit einverstanden gewesen, wie ein gern überlesener Abschnitt seiner Grundlegung zur 81

Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 97. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 567; AA III 367. 83 Ebd., B XXII; AA III 15. 84 Ebd., B 581; AA III 374. 85 Ebd., B 584; AA III 376. 86 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 429. 82

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Metaphysik der Sitten87 zur Genüge zeigt, statt dessen mit Mt 22, 39,88 die Formel zu gebrauchen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Nicht zuletzt die Rede von der „Menschheit [...] in deiner Person“ geht vermutlich auf das biblische „wie dich selbst“ zurück. Was Kant vom Gebrauch der Formel abgehalten hat, war vermutlich nur das missverständliche Verb ‚lieben‘, eine Schwierigkeit, die das griechische ἀγαπᾶν so nicht mit sich bringt. Kants Versuch einer Neuformulierung des moralischen Gebotes mit Hilfe seines kategorischen Imperativs ist alles andere als ein Konkurrenzunternehmen zum Christentum. Es ist eher schon der Versuch, dessen Botschaft vor Missverständnissen und gedankenloser Routine zu schützen. Sicher kann diese allen Zeitbedingungen entzogene moralische Grundeinsicht in verschiedenen kulturellen, geschichtlichen oder biographischen Konstellationen die unterschiedlichsten Konsequenzen haben. Ein ganz ähnlich gelagerter Satz zum Beispiel wie der des Publius Syrus „Homo, qui in homine calamitoso est misericors, meminit suo“:89 „Ein Mensch, der gegenüber einem Menschen in Not Mitleid übt, vergegenwärtigt sich nur seine eigene mögliche Situation“, hatte in der antiken Sklavengesellschaft gewiss eine andere Bedeutung als in der modernen Industriegesellschaft. Schließlich ist es ja Kant selbst gewesen, der die Idee einer „moralischen Geographie“ entwickelt hat, „in der von den verschiedenen Sitten und Charakteren der Menschen nach den verschiedenen Gegenden geredet wird“.90 Für die berechtigten Anliegen des Relativismus ist da Platz genug. In ihrem unantastbaren Kern aber sagt uns die praktische Vernunft beziehungsweise die Stimme unseres Gewissens, jenseits alles Entstehens und Vergehens mit seinen Zeitbedingungen, immer dasselbe. In diesem Sinne „gebietet“ die Vernunft quer zu aller Zeit, dass die objektive „sittliche Vorschrift“ „zugleich meine Maxime ist“,91 das heißt die subjektive Regel meines 87

AA IV 399. Vgl. George Samuel Albert Mellin, Marginalien und Register zu Kants Critik der Erkenntnißvermögen. Zur Erleichterung und Beförderung einer Vernunfterkenntniß der critischen Philosophie, Teil 2: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Critik der practischen Vernunft und Urtheilskraft, Züllichau 1795, Neudr. Brüssel 1969, S. 8; Mellin verweist zu diesem Abschnitt ausdrücklich auf Matthäus 22, 39 – und 5, 44 – hin. 89 Die Sprüche des Pubilius Syrus, hg. v. Hermann Beckby, München 1969, S. 30. 90 Immanuel Kant, Physische Geographie, AA IX 164; vgl. M.[agister] Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766, in: AA II 312 f.: „Die zweite Abtheilung – sc. die moralische Geographie – betrachtet den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde; eine sehr wichtige und eben so reizende Betrachtung, ohne welche man schwerlich allgemeine Urtheile vom Menschen fällen kann, und wo die unter einander und mit dem moralischen Zustande älterer Zeiten geschehene Vergleichung uns eine große Karte des menschlichen Geschlechts vor Augen legt“. 91 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 856; AA III 536. 88

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Verhaltens. Eben diese Zeitlosigkeit der praktischen Vernunft aber zeigt zugleich, dass der Mensch sehr viel tiefer gebaut ist, als es die Vermessungsdirigenten unseres Jahrhunderts auch nur ahnen. Zur Freiheit des Menschen gehört nun aber auch die abgründige Möglichkeit, sich der sittlichen Vorschrift seiner eigenen praktischen Vernunft, so unmissverständlich sie auch sein mag, zu verweigern und sich statt dessen eine ganz andere, ja geradezu entgegengesetzte Grundmaxime zu machen. Er kann den Anderen auch als bloßes Mittel zur Verfolgung seiner eigenen Ziele benutzen, anstatt ihn zugleich um seiner selbst willen zu respektieren. Auch diese entgegengesetzte Grundmaxime kennt die unterschiedlichsten Formulierungen: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘; ‚Jeder muss selber zusehen, wo er bleibt‘; ‚Um mich kümmert sich ja auch keiner‘ und andere. Weniger ichbezogen, aber moralisch auch nicht viel besser kann die Maxime auch lauten: ‚Ich muss zunächst einmal zusehen, dass ich meine eigene Familie, Firma, Ordensgemeinschaft, Partei, mein Krankenhaus, Bistum, Regiment, Volk über die Runden bringe‘. Zum bloßen Mittel wird der Andere, sofern er nicht zu der betreffenden Gemeinschaft dazugehört, auch hier. In allen diesen Maximen widersetzt sich der Mensch seiner eigenen moralischen Einsicht in das, was das Personsein des Anderen uns abverlangt. In diesem Sinne schreibt Kant in seiner Religionsschrift: „Der Satz: der Mensch ist böse, kann [...] nichts anders sagen wollen als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewusst und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen“.92 Auch diese „Abweichung“ oder Verweigerung geschieht, wo es um die Wahl der Grundmaxime geht, jenseits aller Zeitbedingungen. Wenige Seiten später bezeichnet Kant die Entscheidung für die „oberste Maxime der freien Willkür“ denn auch als „intelligibele That“93 des Menschen. Die Grundentscheidung zwischen Maximen der Rücksicht und Maximen der Rücksichtslosigkeit geschieht nicht morgens um 8.35 Uhr, so wie sich auch die vom Gewissen geforderte Umkehr des Einzelnen, die Metanoia, das Herzstück aller Religion, ohne das Religiosität zur Beliebigkeit verkommt, jenseits aller Zeitbedingungen vollzieht. ‚Rücksichtslos‘ war eines der Lieblingswörter Adolf Hitlers. In seiner Gestalt wird jedoch nur in exemplarischer – ich fürchte: keinesfalls einmaliger – Weise sichtbar, welches Potential des Bösen in den Maximen der Rücksichtslosigkeit enthalten ist, die jeden Einzelnen in Versuchung führen, sich der Stimme seines Gewissens zu widersetzen. Man braucht gar nicht an Plätze wie Auschwitz, Dresden oder Srebrenica zu erinnern, sondern nur die eigenen Grundmaximen, soweit das uns Menschen möglich ist, zu erforschen, um vor dem Abgrund des Bösen zu erschrecken, der jeden 92 93

Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI 32. Ebd., AA IV 39.

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Menschen bedroht. Kant hat gewusst, warum er allen Stimmungen seines Zeitalters zum Trotz so entschieden an dem Gedanken des „radicalen Bösen in der menschlichen Natur“94 festgehalten hat. Und er wird nicht müde, die Abgründe der Freiheit zu betonen. Sie ist der „innere Wert der Welt“, aber sie ist auch „das Schrecklichste, was nur sein kann“.95 Der Begriff der Rücksicht, mit dessen Hilfe hier, einen Steinwurf weit vom Wortlaut der Texte entfernt, die Grundintention der Kantischen Ethik verdeutlicht werden soll, meint nicht die kühl kalkulierende pragmatische Rücksicht des Verstandes, der „Weltklugheit“96, die auf noble Weise an den eigenen Vorteil denkt. In diesem Sinne kann man auf Bündnispartner und deren Verletzlichkeiten Rücksicht nehmen, auf Geschäftsfreunde, Kollegen, Kunden, Wähler. Das alles ist nichts Ehrenrühriges, au contraire. Aber es ist eine Sache der pragmatischen Anthropologie und nicht der Moral. Es ist nicht jene interesselose Rücksicht der praktischen Vernunft, die den Menschen um seiner selbst willen im Blick hat und deshalb den eigenen Vorteil notfalls beiseite lässt. Eben sie ist das Elixier einer menschlichen Welt. Eine Welt dagegen, in der jeder in jedem nur noch ein Mittel zur Verfolgung seiner eigenen Absichten sieht, der Arzt im Leidenden, im Patienten, der Politiker im Bürger, der Anwalt im Klienten, der Liebhaber im Liebenden – eine solche Welt wäre, nein ist eine Welt des universellen Misstrauens, der Kälte, der Unbarmherzigkeit, ja sie ist ein Abglanz der Hölle. Wo wir sie, blind für die Folgen unseres Tuns, durch unsere stillschweigenden Verhaltensregeln selbst heraufbeschwören, können wir wenigstens sagen, wir haben die Hölle durch die freie Wahl unserer Maximen selbst geschaffen. In der zweiten Bitte des Vaterunsers beten wir darum, dass diese Welt nie definitive Gestalt annehme, weder in uns noch um uns herum.97 Mit der Frage, ja „Antinomie“,98 ob der Mensch jenen Wechsel der Maximen, den die sittliche Einsicht ihm abverlangt, jene Metanoia, aus eigener Kraft zu leisten vermag oder ob er dazu auf so etwas wie Gnade und Offenbarung angewiesen ist, hat sich Kant sein Leben lang herumgequält.99 Welcher nachdenkliche Mensch täte es nicht?

94

Ebd., AA VI 19. Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. v. Paul Menzer, Berlin 1924, S. 151 f. Wegen der Editionsprobleme des entsprechenden Bandes der Akademie-Ausgabe wird hier nach wie vor nach der Ausgabe von 1924 zitiert; vgl. AA XXVII 344. 96 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA VI 416. 97 Vgl. ebd., AA VI 195 u. 101. 98 Ebd., AA VI 116. 99 Vgl. Eine Vorlesung Kants über Ethik, a.a.O., S. 79 f. – AA XXVII 294 –: „Alle alten Philosophen forderten vom Menschen nichts mehr, als was seine Natur leisten konnte, daher hatte ihr Gesetz keine Reinigkeit.“ „Seit der Zeit des Evangelii ist nun die völlige Reinigkeit und Heiligkeit des moralischen 95

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7

Religionsphilosophie

Die Auflösung der Freiheitsantinomie

Die Auflösung der Freiheitsantinomie mit ihrer Versöhnung von Determinismus und Freiheit ergibt sich aus den skizzierten Überlegungen fast schon wie von selbst. Der eigentliche Ort der freien Entscheidung und der eigentliche Schauplatz der ethischen Konflikte sind nicht etwa die einzelnen Handlungen des Menschen, sondern eben jene obersten Maximen, von denen er sich jenseits aller Zeitbedingungen im Guten wie im bösen in seinem Handeln leiten lässt. Diese Maximen brechen nicht an irgendeiner Stelle in den Naturzusammenhang ein, sondern färben die vorgegebene Kausalkette als Ganze.100 Eine und dieselbe Temperamentseigenschaft wie zum Beispiel die Kaltblütigkeit kann sich je nach Maxime zu unerschrockener Gerechtigkeit oder zu eiskalter Kriminalität entwickeln. In diesem Sinne heißt es in der Kritik der praktischen Vernunft: „das Sinnenleben hat in Ansehung des intelligibelen Bewusstseins seines Daseins (der Freiheit) absolute Einheit eines Phänomens“ und ist „blos Erscheinungen von der Gesinnung, die das moralische Gesetz angeht, (von dem Charakter)“.101 Kants Ethik ist Gesinnungsethik, weil nur die Gesinnung in die Freiheit des Menschen gestellt ist. Der Mensch ist für seine Handlungen nur deshalb verantwortlich, weil er für die obersten Maximen seines Handelns – seine Gesinnung – Verantwortung trägt. Er hat nicht die Freiheit, den Naturzusammenhang, in den er gestellt ist, an dieser oder jener Stelle zu durchbrechen, aber er hat die Freiheit, ihn als Ganzen so oder so ein Stück weit zu formen. In der Sprache der Stoa formuliert: Die Freiheit des Menschen bezeugt sich in der Art und Weise, wie er mit seinem Schicksal umgeht. Deshalb lassen Sie mich mit einer Anmerkung Kants zur Freiheitsantinomie schließen, die vielleicht, bewusst oder unbewusst, an Mt 7, 1, anknüpft und zu dem Nachdenklichsten und Menschlichsten zählt, was in der deutschen Philosophie geschrieben worden ist: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher

Gesetzes eingesehen, ob es gleich in unserer Vernunft liegt. Das Gesetz muß – sc. darf – nicht nachsichtig, sondern die größte Reinigkeit und Heiligkeit muß darin gezeigt werden, und wir müssen wegen unserer Schwäche den göttlichen Beistand erwarten, daß er uns dem heiligen Gesetze ein Genüge zu leisten geschickt mache, und das, was der Reinigkeit unserer Handlungen fehlt, ersetze“. 100 Es geht also gerade nicht, wie Röttges, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, a.a.O., S. 46 f., meint, um eine „Einordnung [des intelligiblen Charakters] als Ursache [...] in die Zeitreihe“, sondern um die Formung der Zeitreihe als ganzer durch unsere obersten Maximen. 101 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 99.

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Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten“.102 Kants Beharren auf der Unerkennbarkeit der Dinge an sich gewinnt erst an dieser Stelle seinen vollen anthropologischen Ernst.

102

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 579; AA III 373.

Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens Zur Kantinterpretation des Jenaer Frühkantianismus Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens

1

Die unterschiedliche Aufnahme der Kritik der reinen Vernunft um 17851

Selten ist ein Buch so gegensätzlich aufgenommen und verstanden worden wie Kants Kritik der reinen Vernunft. Diese Gegensätze lassen sich bis in die ersten Jahre nach Erscheinen des Werks zurückverfolgen. Will man auch nur die äußersten Pole jener schwierigen Rezeptionsgeschichte markieren, so kann man auf der einen Seite Moses Mendelssohn in Berlin nennen. Gleich im Vorbericht seiner Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes spricht er 1785 von dem „alles zermalmenden Kant“,2 und er fügt ein paar Seiten später hinzu, er hoffe nur, dass dieser „mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat“.3 Für Mendelssohn, der aufgrund seiner Krankheit Kants Werk freilich nur vom Hörensagen kennt 1

Die vorliegende Studie, die an den Sammelband Der Aufbruch in den Kantianismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, anknüpft und die Arbeiten zum Jenaer Frühkantianismus sowie der Sokratischen Kantrezeption weiterzuführen sucht, wurde ursprünglich als Eröffnungsvortrag für die Tagung Kant e la religione, In occasione del Bicentenario della pubblicazione della ‚Religione nei limiti della semplice ragione‘, die vom 26. bis zum 28. Januar 1994 am ‚Istituto di Scienze Religiose‘ in Trient stattfand, geschrieben. Die italienische Fassung ist in den Tagungsakten erschienen. Die ursprüngliche deutsche Fassung wurde in der Festschrift für Günter Gawlick Aufklärung und Skepsis, Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, hg. v. Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 95–106, veröffentlicht. Der heutige Wissenschaftsbetrieb mit seinen zahllosen Tagungen, Kongressen, Festschriften und Sammelbänden bringt es jedoch mit sich, dass das Obst gelegentlich, noch bevor es reif ist, gepflückt wird und der Aktenaustausch den Gedankenaustausch ersetzt. Umso dankbarer bin ich, dass die vorliegende Studie über zentrale Fragen der Kantrezeption des Jenaer Frühkantianismus hier mit einem gewissen Abstand noch einmal in erweiterter und, wie ich hoffe, verbesserter Form erscheinen kann. 2 Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, begonnen v. Ismar Elbogen, Julius Guttmann u. Eugen Mittwoch, fortgesetzt v. Alexander Altmann, Bd.3.2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 3. 3 Ebd., S. 5.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_18

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– „aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde oder aus gelehrten Anzeigen, die selten viel belehrender sind“4 –, ist die Kritik also ein Werk, das alle „vernünftige Erkenntniß Gottes“5 zu zerstören droht. Mendelssohns Rede vom „alles zermalmenden Kant“ hat Karriere gemacht. Schon Ludwig Ernst Borowski erwähnt sie 1804 in seiner immer wieder nachgedruckten Kantbiographie.6 Zum Substantiv verschärft, ist das Wort vom ‚Alleszermalmer‘ dann zu einer der geläufigsten Charakterisierungen Kants avanciert. Um dieses Kantbild zu veranschaulichen, sei hier nur an Heinrich Heines Skizze Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland erinnert: „Man sagt, die Nachtgeister erschrecken, wenn sie das Schwert eines Scharfrichters erblicken – wie müssen sie erst erschrecken, wenn man ihnen Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ entgegenhält! Dieses Buch ist das Schwert, womit der Deismus hingerichtet worden in Deutschland.“7 Vermutlich in bewusster Anspielung auf die Formulierung Mendelssohns fährt Heine fort: „Sonderbarer Contrast zwischen dem äußeren Leben des Mannes und seinen zerstörenden, weltzermalmenden Gedanken!“8 „Wenn aber Immanuel Kant, dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf, so hat er doch mit diesem manche Aehnlichkeiten [...] – die Natur hatte sie bestimmt Kaffe und Zucker zu wiegen, aber das Schicksal wollte daß sie andere Dinge abwögen, und legte dem Einen einen König und dem Anderen einen Gott auf die Wagschaale …“.9 Denn was ist die Quintessenz der Kantschen Vernunftkritik im Hinblick auf die Frage nach Gott? „Gott ist, nach Kant, ein Noumen. In Folge seiner Argumentazion, ist jenes transzendentale Idealwesen, welches wir bisher Gott genannt, nichts anders als eine Erdichtung. Es ist durch eine natürliche Illusion entstanden. Ja, Kant zeigt wie wir von jenem Noumen, von Gott, gar nichts wissen können, und wie sogar jede künftige Beweisführung seiner Existenz unmöglich sey. Die Danteschen Worte: ‚Laßt die Hoffnung zurück!‘ schreiben wir über diese Abtheilung der Kritik der reinen Vernunft.“10

4

Ebd., S. 3. Ebd. 6 Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, Königsberg 1804, Neudr. Brüssel 1968, S. 149. 7 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 8.1, Hamburg 1979, S. 80 f. 8 Ebd., S. 81; vgl. die Erläuterungen in Bd. 8.2, Hamburg 1981, S. 892: „vermutlich eine Lesefrucht aus Borowski, wo berichtet wird, daß Mendelssohn Kant den ‚alles Zermalmenden‘ genannt habe“. 9 Ebd., Bd. 8.1, S. 82. 10 Ebd., S. 86. 5

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Vielleicht den äußersten Gegenpol zu einem solchen Kantverständnis, das bis in die jüngste Gegenwart hinein weiterwirkt, bilden die Jenaer Frühkantianer. Es handelt sich bei ihnen großenteils um protestantische Theologen, und zwar um Theologen, denen es mit ihrer Sache ernst war. Für sie bedeutet die Kritik der reinen Vernunft nicht etwa die Zerstörung der Religion, sondern geradezu eine Sicherung des eigenen Glaubens. Vor allem sehen sie in ihr eine Schutzwehr gegen jede Form von Materialismus und Freigeisterei. So erklärt Christian Gottfried Schütz, der spätere Herausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung, bereits 1783 in einer Anmerkung zu Antoine Jacques Roustans Briefen zur Vertheidigung der christlichen Religion, die der Jenaer Theologe Ernst Jakob Danovius11 noch kurz vor seinem Tod ins Deutsche übersetzt hatte: „wenn auch alle speculative Beweise dieser und ähnlicher Wahrheiten – sc. von Gott und Unsterblichkeit – vor dem strengsten Scepticismus die Probe nicht halten sollten, so hat doch noch neuerlich Hr. Kant in der Critik der reinen Vernunft ganz deutlich gezeigt, daß die Gegner eben so wenig speculative Beweise für das Gegentheil aufbringen können, und daß denn doch der Glaube an Gott und Unsterblichkeit vermöge des argumenti a tuto, und des ganzen moralischen Interesse einen grossen Vorzug unter den – sc. gegenüber dem – Unglauben habe.“12 Nur ein Jahr später nennt der Theologe Johann Christoph Doederlein, zu diesem Zeitpunkt (Pro)Rektor der Universität Jena, im Vorlesungsverzeichnis Kant in einem Atemzug mit Francis Bacon und schreibt: „Baco verissime dixit, philosophiam leviter gustatam id efficere, ut a divini numinis cognitione aberrent hominum mentes; penitus haustam ad eam reducere.13 […] Et nuper Kantius, acutissimus philosophorum, Astronomiam hac potissimum laude celebrandam censuit, quod una omnium

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Zu Ernst Jakob Danovius vgl. Horst Schröpfer, Danovius und Kant, Einige ergänzende Anmerkumgen zu dem Brief von Ernst Jakob Danovius an Immanuel Kant vom 12. Januar 1770, in: Aufklärung, Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 7 (1992) 77–83. 12 Zit. nach Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von I 785-1800 und seine Vorgeschichte, hg. v. Norbert Hinske, Erhard Lange u. Horst Schröpfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 34; vgl. auch ebd. S. 20 f. 13 Vgl. Francis Bacon, Advancement of Learning, Buch I, in: The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis u. Douglas Denon Heath, Bd. 3, London 1859, Neudr. StuttgartBad Cannstatt 1963, S. 267 f.: „it is an assured truth and a conclusion of experience, that a little or superficial knowledge of philosophy may incline the mind of man to atheism, but a farther proceeding therein doth bring the mind back again to religion“; vgl. Ders., Of Atheism, in: The Essays or Counsels, Civil and Moral of Francis Bacon, hg. v. Samuel Harvey Reynolds, Oxford 1890, S. 111: „It is true, that a little philosophy inclineth man's mind to atheism, but depth in philosophy bringeth men's minds about to religion“.

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maxime immensam ignorantiae nostrae profunditatem aperuerit ac detexerit.“14 „Bacon hat mit viel Wahrheit gesagt, eine flüchtig aufgenommene Philosophie führe dazu, daß der Sinn der Menschen von der Erkenntnis des göttlichen Waltens abgelenkt werde, eine tief erfaßte aber führe zu ihr zurück. [...] Und erst neulich ist Kant, der scharfsinnigste der Philosophen, zu dem Urteil gelangt, die Astronomie sei vornehmlich aus dem Grunde zu schätzen, daß sie als einzige von allen Wissenschaften den unermeßlichen Abgrund unserer Unwissenheit aufgedeckt und enthüllt habe.“ Gemeint ist die Anmerkung Kritik der reinen Vernunft A 575/B 603 in dem Abschnitt „Von dem transzendentalen Ideal“.15 Dass Texte wie diese eine erstaunlich frühe und eingehende Vertiefung in die Kritik der reinen Vernunft bezeugen, die dem geläufigen Bild von einer zögerlichen, erst mit Karl Leonhard Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie in den Jahren 1786 folgende einsetzenden Aufnahme des Werks aufs entschiedenste widersprechen, sei hier nur am Rande hinzugefügt. Schillers Gedicht von 1797 Die Worte des Glaubens – gemeint sind die drei Ideen von Freiheit, Tugend und Gott – mit den eindringlich warnenden Versen „Dem Menschen ist aller Werth geraubt, Wenn er nicht mehr an die drey Worte glaubt“16

bringt diese Bewusstseinslage der Jenaer Frühkantianer vielleicht am unmissverständlichsten zum Ausdruck. Für sie aber war es die Kritik der reinen Vernunft gewesen, die allererst den Freiraum zu solchem Glauben eröffnet hatte.

2

Kants doppelte Grenzbestimmung der reinen Vernunft

Fragt man nach den Gründen für dieses gegensätzliche Verständnis der Kritik der reinen Vernunft, so könnte man zunächst versucht sein, darauf hinzuweisen, dass sich das Werk ja aus den unterschiedlichsten Bausteinen zusammensetzt, die sich keinesfalls immer nahtlos ineinanderfügen. Die ‚patchwork theory‘ zählt heute bei allen 14

Zit. nach Der Aufbruch in den Kantianismus, a.a.O., S. 5; vgl. auch ebd., S. 241 f. Kants Druckschriften werden nach der Ausgabe seiner Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956– 1964, 51983, zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben; A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage. Kants Briefe, Nachlass und Vorlesungsnachschriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolger – abgek. AA – zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen sowie tiefergestellte arabische Ziffern die Zeilenzahlen dieser Ausgabe. 16 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, Weimar 1943, S. 379. Zu den Bezügen auf Kant vgl. die Anmerkungen ebd., Bd. 2, Teil II A, Weimar 1991, S. 614 f. 15

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Einwänden im Einzelnen, und deren gibt es nicht wenige, zu den unverzichtbaren Interpretationsmustern der Kritik der reinen Vernunft. So könnte es naheliegen, gegensätzliche Elemente der Kritik für ihre gegensätzliche Aufnahme durch die Zeitgenossen verantwortlich zu machen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Paradoxerweise ist es zu einem guten Teil ein und derselbe Grundgedanke Kants, der beiden diametral entgegengesetzten Auffassungsweisen der Kritik der reinen Vernunft zugrundeliegt: der Gedanke einer „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“.17 Die erste Auffassung, die in Kant den Alleszermalmer sieht, den Maximilien Robespierre der Vernunfttheologie, versteht die Grenzbestimmung der reinen Vernunft einzig und allein als einen Kampf gegen die Metaphysik. Die reine Vernunft ist – zumindest im Felde der theoretischen Philosophie – nicht in der Lage, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten und den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ihre objektive Realität zu sichern. Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, wie sie die herrschende Metaphysik des Zeitalters mit Christian Wolff zu entwickeln versucht hatte, überschreiten daher die Grenzen, die der menschlichen Vernunft gesetzt sind. Eben deshalb ist Kant der Alleszermalmer, der den stolzen „Pallast“18 der Wolffschen Metaphysik dem Erdboden gleich gemacht hat und dem Glauben damit jede Stütze der Vernunft zu entziehen droht. „Altius volantem arcuit“: „Sie hält zu hoch Fliegende zurück“, heißt es denn auch in Anspielung auf Kritik der reinen Vernunft B 8 auf der zweiten von Abraham Abramson geschlagenen Gedenkmünze zu Ehren Kants.19 Diese Auffassung trifft ohne Zweifel einen zentralen Gedanken der kritischen Philosophie. Sie übersieht aber nur zu leicht, dass Kant in Wahrheit eine doppelte Grenzbestimmung vornimmt. Der eine Adressat ist in der Tat die Metaphysik, der andere, nicht weniger wichtige aber sind die Erfahrungserkenntnis überhaupt und die Wissenschaften insbesondere. Während die erste Grenzbestimmung nur die Metaphysik infragestellt, das alltägliche Verhalten des Menschen in der Welt dagegen ungeschoren lässt, bedeutet die zweite zugleich so etwas wie eine Verunsicherung, ja Beleidigung des gemeinen Menschenverstands, des common sense. Beide Grenzbestimmungen aber sind in Wahrheit untrennbar miteinander verbunden und ergeben erst zusammengenommen ein zureichendes Bild von den Absichten und Leistungen 17

Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 163. 18 [Dietrich Hermann Hegewisch], Die beiden Führerinnen, in: Berlinische Monatsschrift 13 (1789.1) 197–198, hier S. 197; vgl. aber auch J.[ohann] A.[ugust] v. B.[eyer], An Wolfia, in: ebd., S. 358–359. 19 Vgl. Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters lmmanuel Kant’s, a.a.O., S. 95; Friedrich Wilhelm Schubert, Immanuel Kant’s Biographie, in: Immanuel Kant’s sämmtliche Werke, hg. v. Karl Rosenkranz u. Friedrich Wilhelm Schubert, Teil 11, Abt. 2, Leipzig 1842, S. 210.

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der Philosophie Kants. Dazu heißt es in den Prolegomena unter dem Titel „Von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ in einer auffälligen Doppelung: „Nach den allerkläresten Beweisen, die wir oben gegeben haben, würde es Ungereimtheit sein, wenn wir von irgend einem Gegenstande mehr zu erkennen hoffeten, als zur möglichen Erfahrung desselben gehört, oder auch von irgend einem Dinge, wovon wir annehmen, es sei nicht ein Gegenstand möglicher Erfahrung, nur auf das mindeste Erkenntnis Anspruch machten, es nach seiner Beschaffenheit, wie es an sich selbst ist, zu bestimmen“.20 Das ist nicht etwa nach der Devise ‚Doppelt genäht hält besser‘ formuliert. Kant unterscheidet vielmehr ganz bewusst zwischen Gegenständen „möglicher Erfahrung“ und solchen Gegenständen oder Dingen, die überhaupt nicht ein Gegenstand möglicher Erfahrung werden können. Eben das aber hat zwei ganz verschiedene Stoßrichtungen jener Grenzbestimmung zur Folge. Auf der einen Seite gilt mit Blick auf die Wissenschaften insgesamt: „Mathematik geht nur auf Erscheinungen“; „Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge, d.i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, [...] entdecken“.21 Auf der anderen Seite gilt mit Bezug auf die Metaphysik das strikte „Verbot, sich nicht in transzendente Ideen zu verlieren“.22 Das aber bedeutet: Die Kritik der reinen Vernunft ist nicht nur eine Kritik der metaphysischen, sondern zugleich und gleich wesentlich eine Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Die Grenzbestimmung der Wissenschaften ist dabei nicht weniger wichtig als die gegenüber der Metaphysik. Denn wie jeder Mensch unterliegt auch der Wissenschaftler ohne die Hilfe der Vernunftkritik dem „gemeinen Vorurteile [...], Erscheinungen für Sachen an sich selbst“ zu nehmen,23 und ist daher auf Schritt und Tritt der Gefahr der Hypostasierung ausgesetzt. Der Materialismus, der ja zu wissen meint, was die Dinge eigentlich und ‚an sich‘ sind, ist, bei Lichte betrachtet, eine solche Form der Hypostasierung;24 der Determinismus, der die endlose Reihe der Bedingungen menschlichen Handelns für die definitive Antwort auf die Frage nach dem Menschen und dem letzten Beweggrund seines Handelns hält, eine andere.

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Kant, Prolegomena, A 163. Ebd., A 167. 22 Ebd., A 166. 23 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 768. 24 Vgl. ebd., A 379 f. u. A 384 ff. 21

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Wissenschaft als Konstitution der Erscheinungswelt

Kants Gedanke einer rigorosen Einschränkung der Wissenschaften insgesamt auf den Bereich der Erscheinungswelt ist älteren Datums als seine Grenzbestimmung gegenüber der Metaphysik. Er lässt sich bis in seine Inauguraldissertation des Jahres 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis zurückverfolgen, in der er einen eigenen, gern überlesenen oder unterschätzten Paragraphen gefunden hat. Im Paragraphen 12 der Sectio II, die die eigentlichen Weichenstellungen der Schrift vornimmt, heißt es: „Phaenomena recensentur et exponuntur, primo, sensus externi in PHYSICA, deinde, sensus interni in PSYCHOLOGIA empirica.“25 „Die Erscheinungen prüft und erörtert man, erstlich, sofern sie dem äußeren Sinn zugehören, in der PHYSIK, sodann, sofern dem inneren Sinn, in der empirischen PSYCHOLOGIE.“ Physik und Psychologie also sind parallel angeordnete Erfahrungswissenschaften, die es nur mit der Erscheinungswelt zu tun haben. Für die reinen sinnlichen Anschauungen von Raum und Zeit als konstitutive Formen des mundus sensibilis aber gilt: „MATHESIS PURA spatium considerat in GEOMETRIA, tempus in MECHANICA pura“.26 „Die REINE MATHEMATIK betrachtet den Raum in der GEOMETRIE, die Zeit in der reinen MECHANIK.“ „Accedit hisce conceptus quidam, in se quidem intellectualis; sed cuius tamen actuatio in concreto exigit opitulantes notiones temporis et spatii (successive addendo plura et iuxta se simul ponendo), qui est conceptus Numeri, quem tractat ARITHMETICA“.27 „Zu diesen kommt noch ein gewisser Begriff hinzu, der an sich zwar intellektuell ist, dessen Umsetzung in concreto aber dennoch die Hilfsbegriffe von Zeit und Raum verlangt (dadurch, daß man mehreres nacheinander hinzutut und nebeneinander zugleich setzt); das ist der Begriff der Zahl, den die ARITHMETIK behandelt.“28 Damit sind ziemlich genau die Leitwissenschaften des achtzehnten Jahrhunderts genannt. Für sie alle aber gilt: „Sensualium itaque datur scientia, quanquam, cum sint Phaenomena, non datur intellectio realis, sed tantum logica“.29 „Im Bereich der Sinneserkenntnisse gibt es demnach Wissenschaft, obgleich es bei ihnen, da es sich um Erscheinungen handelt, keine reale, sondern nur eine logische Verstandestätigkeit gibt“. Wirkliche, reale Verstandestätigkeit, die die

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Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 13. Ebd., A 13. 27 Ebd. 28 Vgl. dazu auch Giorgio Tonelli, Kant’s ‚Critique of Pure Reason‘ Within the Tradition of Modern Logic. A Commentary on its History, hg. v. David H. Chandler, Hildesheim, Zürich u. New York 1994, S. 226 ff. u. S. 326. 29 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 13. 26

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res „sicuti sunt“,30 die Dinge an sich, die den mundus intelligibilis erreicht, bedarf offenbar ganz anderer Wege. Die Quellengeschichte dieses eigentümlichen Paragraphen, wenn er denn überhaupt auf Anregungen anderer zurückgeht, liegt einstweilen noch völlig im Dunkeln. Es ist jedoch nicht gänzlich auszuschließen, dass auch hier die Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts von Georg Friedrich Meier, dem Nachfolger Wolffs in Halle, eine gewisse Rolle gespielt haben mögen, und zwar auch hier wieder dessen Ausführungen zu dem von ihm so genannten „Grundvorurtheil“ der Erfahrungserkenntnis.31 Dieses Grundvorurteil nämlich ist die Quelle anderer Vorurteile, von denen es bei Meier unter anderem heißt: „Zuvörderst entsteht daraus das Vorurtheil, vermöge dessen wir dasjenige nicht für würklich halten, was wir nicht empfinden, und dasjenige den Gegenständen unserer Empfindungen absprechen, was wir an ihnen nicht empfinden. Sind etwa unsere Sinne allwissend? Es können demnach unendlich viele Dinge, Sachen und Veränderungen, in der Welt würklich seyn, von denen wir weder eine klare Empfindung haben, noch eine solche Empfindung haben können.“32 Es spricht viel dafür, dass hier einer der Anstöße zu suchen ist, die Kant 1770 dazu veranlaßt haben, die sinnliche Erkenntnis auf die Erscheinungswelt einzuschränken. Aber auch der Paragraph 12 der Inauguraldissertation könnte durch Meiers Abhandlung veranlasst sein. Hat Kant am Ende die eher skizzenhaften Gedanken Meiers ihrer Wolffianischen Elemente entkleidet und aus ihnen dann die grundsätzlichen Konsequenzen für die Arbeit der Wissenschaften gezogen? Liegt hier der Impuls, warum Kant die Wissenschaften generell der Erscheinungswelt, dem mundus sensibilis, zugeordnet hat? Mehr als eine vage Vermutung, die eher ein Merkposten für die weitere quellengeschichtliche Arbeit als eine Antwort sein will, ist an dieser Stelle jedoch nicht möglich. Wissenschaft also ist und bleibt unaufhebbar eine Sache der Erscheinungswelt. Was aber bedeutet das? Und was bedeutet es elf Jahre vor Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft, in Kants Phase des „kritischen Rationalismus“,33 im Kontext der

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Ebd., A 8. Georg Friedrich Meier, Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle 1766, § 16, S. 34. Zum Einfluss dieser Schrift auf Kant vgl. Norbert Hinske, Georg Friedrich Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis, Noch eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantschen Antinomienlehre, in: Kant und sein Jahrhundert, Gedenkschrift für Giorgio Tonelli, hg. v. Claudio Cesa u. Norbert Hinske, Frankfurt am M., Berlin, Bern, New York, Paris u. Wien 1993, S. 103–121. 32 Meier, Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen, a.a.O., § 16, S. 34. 33 Vgl. Friedrich Paulsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnisstheorie, Leipzig 1875, S. 101 ff.; Benno Erdmann, Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philo31

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Inauguraldissertation? Warum widmet Kant dieser These trotz der militärischen Kürze der Schrift einen eigenen Paragraphen? Um das Gewicht jener Aussage zu erkennen, muss man sich die leitende Fragestellung der Dissertation vergegenwärtigen, wie sie ihr wohlüberlegter Titel auf das genaueste zum Ausdruck bringt. Thema dieser genialen Schrift ist nicht etwa die Frage nach den Prinzipien der Sinnen- und Verstandeswelt, wie es die seit langem eingerissene Übersetzung des Titels Von der Form und den Principien der Sinnenund Verstandes-Welt nahelegt. ‚Principiis‘ ist, wie die Überschrift der Sectio III und IV aufs unmissverständlichste zeigt, nicht auf ‚mundus‘, sondern auf „forma“ zu beziehen.34 Thema der Schrift ist die sehr viel originellere und tieferreichende Frage nach den Gründen der Form der Sinnenwelt und nach dem Grund der Form der Verstandeswelt. Grund der raum-zeitlichen Form der Sinnenwelt ist der Mensch als sinnengebundenes Wesen mit seinen reinen sinnlichen Anschauungsformen von Zeit und Raum. Grund der Form der Verstandeswelt, der Welt der ‚res sicuti sunt‘, der Dinge an sich, ist Gott als „Architectus“ und „creator“ mundi.35 Eben damit aber ist die Grundsituation des Menschen beschrieben, an der Kant über alle Veränderungen und Umbrüche seiner Philosophie hinweg zeitlebens festhalten wird. Es ist das Schicksal des Menschen, in zwei ganz verschiedenen Welten zu leben: einer Welt, die er mittels seiner apriorischen Erkenntniselemente selbst hergestellt hat und ständig neu herstellt, und einer Welt, deren unerbittliches Gesetz – deren ‚Form‘ – seiner Verfügungsgewalt entzogen ist und an den Satz erinnert: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.36 Wer diese Spannung nach der einen oder nach der anderen Seite hin aufzuheben sucht, verkürzt den Menschen um eine elementare Dimension seines Daseins. Für die Wissenschaften bedeutet das: Sie sind eine der grundlegenden Formen der Konstitution der Sinnenwelt mit Hilfe der apriorischen Erkenntnisfunktionen des Menschen. Sie sind eine Sache der – transzendentalen – Subjektivität. Die Welt, von sophie, in: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen, hg. v. Benno Erdmann, 2 Bde., Leipzig 1882 u. 1884, Neudr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, Bd. 2, S. XXIII ff. 34 Vgl. auch Reflexion 3717, in: AA XVII 2603: „Das principium der Form aller erfahrungen sind Raum und Zeit“; vgl. auch Norbert Hinske, Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens. Erwiderung auf Lothar Kreimendahl, in: Von Christian Wolff bis Louis Lavelle, Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Festschrift für Jean Ecole zum 75. Geburtstag, hg. v. Robert Theis u. Claude Weber, Hildesheim, Zürich u. New York 1995, S. 102–121, hier S. 112 f.; wiederabgedruckt in diesem Band S. 73–94, hier S. 88 f. 35 Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, A 26. 36 Vgl. Kants späteren Zusatz zur Reflexion 4135, in: AA XVII 42916 f.: „Das Phänomenon von einem Dinge ist ein Product unserer Sinnlichkeit. Gott ist Urheber der Dinge an sich“.

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der sie reden, ist eine vom Menschen hergestellte Welt. Über andere Dimensionen menschlichen Daseins vermögen die in einem solchen Sinne verstandenen Wissenschaften nichts auszusagen, weder positiv noch negativ. Letzterklärungen, wie immer sie geartet sein mögen, sind ihre Sache nicht. Je weiter die Verwissenschaftlichung des menschlichen Daseins fortschreitet, desto hermetischer schirmt sie ihn demgemäß zwangsläufig gegen andere Dimensionen der Wirklichkeit ab. Ein Zeitalter, das keine andere Orientierungsinstanz mehr kennt als die Wissenschaft, ist ausweglos in den mundus sensibilis verfangen. Es kreist nur noch in sich selbst. Zu den immer wieder diskutierten Problemen der Kantforschung gehört die Frage, ob oder inwieweit Kant überhaupt die Absicht gehabt habe, mit der Kritik der reinen Vernunft so etwas wie eine Wissenschaftstheorie zu liefern. Diese Frage, eine der vielschichtigsten Fragen der Kantforschung überhaupt, kann hier nicht erörtert werden, sie böte Stoff für ein ganzes Buch. Zumindest einen Aspekt aber, den die Wissenschaftstheorie heute gern vergisst oder verdrängt, hat Kant in seiner Vernunftkritik mit äußerster Eindringlichkeit zum Thema gemacht: die Frage nach den Grenzen der Wissenschaft. Diese Leistung ist kaum hoch genug zu veranschlagen: Eine Wissenschaft, die nicht mehr von der Frage nach ihren prinzipiellen Grenzen beunruhigt ist, hat längst aufgehört, Wissenschaft zu sein. Sie ist auf dem Weg zur Ideologie. Es hat fast den Anschein, als sei Kant einer der ersten gewesen, die die Probleme einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Daseins hellsichtig erkannt haben. Wissenschaft ist eine unentbehrliche Form der Daseinsbewältigung. Sie ist zugleich eine Schutzwehr gegen Aberglaube und Schwärmerei, die in jedem Zeitalter ihr eigenes Gesicht annehmen. Aber sie reduziert den Menschen unerbittlich auf die Erscheinungswelt und bringt ihn damit im Falle ihrer Verabsolutierung um seinen metaphysischen Rang. Ähnlich wie sich in der griechischen Mythologie für den lydischen König Midas, den Inbegriff des Geizes, alles, was er anfasste, eben dadurch unweigerlich in Gold verwandelte, gerät der Wissenschaft alles, was sie ihren Methoden unterwirft, zu einem Element des mundus sensibilis.

4

Zur Kantrezeption der ersten Kantianer in Jena

Grenzbestimmung der reinen Vernunft bedeutet daher zugleich: einen vernünftigen Freiraum schaffen, in dem sich der Mensch seiner Eingebundenheit in den mundus intelligibilis allererst bewusst werden kann. Es scheint eben dieser Aspekt der Kritik der reinen Vernunft gewesen zu sein, der das spontane Interesse der Jenaer Kantianer der ersten Stunde in besonderem Maße geweckt hat. Auch für Doederlein führt ja,

Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens

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freilich noch ganz im Sinne des ‚Sokratischen Jahrhunderts‘, gerade eine „genauere und reichere Erkenntnis der Dinge“ – „exquisitior pleniorque rerum cognitio“ – die Menschen dazu, „ut scirent, quantum esset illud, quod ignorarent“: „daß sie sich bewusst würden, von welchem Umfang dasjenige sei, was sie nicht wüssten“.37 Und noch Johann Wilhelm Schmid, Professor für Homiletik, Katechetik und Pastoraltheologie an der Universität Jena und zugleich einer der unbedingtesten und unbedenklichsten Kantianer unter den dortigen Theologen, sieht in einer dreifachen Grenzbestimmung der Vernunft offenbar die erste, grundlegende Leistung der Philosophie Kants: „Die kritische Philosophie hat das Verdienst, daß sie dem Wissen, Erkennen und Glauben die gehörigen Grenzen angewiesen“.38 Besonderes Interesse jedoch verdient in diesem Zusammenhang der Brief von Schütz an Kant vom 10. Juli 1784, der erste Brief in dieser für die Geschichte der Kantrezeption so wichtigen Korrespondenz überhaupt. Schütz berichtet hier von denjenigen Passagen des Werks, die ihn bei der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft offenbar besonders bewegt haben: „Ich habe in verschiednen meiner Collegien schon Aufmerksamkeit fähiger Köpfe darauf – sc. auf die Kritik der reinen Vernunft – zu lenken gesucht; und besonders Stellen, wie S. 753–756, S. 312 u. f. (bey deren Lesung ich Sie gern hätte adoriren mögen) ihnen vorgelesen“.39 Die erste der beiden Passagen fällt in die Methodenlehre. Diese ist für Schütz offenbar kein bloßer Anhang, sondern das eigentliche Fazit der Kritik der reinen Vernunft. In ihr heißt es an der von Schütz genannten Stelle: „Wenn ich höre, daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des menschlichen Willens, die Hoffnung eines künftigen Lebens, und das Dasein Gottes wegdemonstriert haben solle, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, denn ich erwarte von seinem Talent, daß er meine Einsichten weiter bringen werde. Das weiß ich schon zum voraus völlig gewiß, daß er nichts von allem diesem wird geleistet haben, nicht darum, weil ich etwa schon im Besitze unbezwinglicher Beweise dieser wichtigen Sätze zu sein glaubete, sondern weil mich die transzendentale Kritik, die mir den ganzen Vorrat unserer reinen Vernunft aufdeckte, völlig überzeugt hat, daß, so wie sie – sc. die reine, theoretische Vernunft – zu bejahenden Behauptungen in diesem Felde ganz unzulänglich ist, so wenig und noch weniger [!] werde sie wissen, um über diese Fragen etwas verneinend behaupten zu können“.40 Mit eben dieser negativen Leistung der „transzendentalen Kritik“ aber ist so etwas wie ein Freiraum eröffnet, der es jetzt allererst erlaubt, jene

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Zit. nach Der Aufbruch in den Kantianismus, a.a.O., S. 5. Vgl. oben Anm. 13. Johann Wilhelm Schmid, Christliche Moral wissenschaftlich bearbeitet, 3 Bde., 1. Bd., Jena 1797, 264. 39 Kants Brief an Christian Gottfried Schütz v. 10. Juli 1784, in: AA X 394. 40 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 753/B 781. 38

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„wichtigen Sätze“ auf andere, der Sache angemessenere Weise zu sichern.41 Die zweite Stelle, auf die Schütz in seinem Brief anspielt, ist denn auch der berühmte Abschnitt „Von den Ideen überhaupt“42 am Anfang der transzendentalen Dialektik. Die ganze transzendentale Analytik dagegen wird von Schütz in seinem Brief mit keinem Wort erwähnt. Der sachliche Ertrag einer historischen Erforschung des Jenaer Frühkantianismus könnte demzufolge nicht zuletzt darin bestehen, das schwierige Verhältnis von Elementar- und Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft neu zu überdenken.43 Es könnte sein, dass Heinrich Heine gerade die wichtigsten Passagen der Kritik überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Den vielleicht plastischsten Einblick in die frühe Aufnahme der Kritik der reinen Vernunft in Jena bietet Schütz’ umfangreiche, im Frühsommer 1785 erschienene44 Rezension der Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft von Johann Schultz, dessen Kantinterpretation sich in wichtigen Punkten mit den Auffassungen deckt, zu denen auch Schütz von sich aus gelangt war.45 Diese 41

Vgl. Kants Brief an Marcus Herz von Ende 1773, in: AA X 144: „Es leuchtet mir aber davor – sc. dafür – eine Hofnung entgegen die ich niemand ausser Ihnen ohne Besörgnis der größesten Eitelkeit verdächtig zu werden eröfne nemlich der Philosophie dadurch auf eine dauerhafte Art eine andere und vor – sc. für – Religion und Sitten weit vortheilhaftere Wendung zu geben“. Vgl. auch Immanuel Kant, Philosophische Enzyklopädie, AA XXIX 4311-14: „Die Metaphysic [...] hat [...] nur einen negativen Nutzen, und dient dazu uns von – vor? – dem Frevel und den Eingriffen der Vernünfteley zu sichern.“ 42 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 312 ff./B 368 ff. 43 Auch in Schütz’ Studienführer sind es wohl nicht zufällig Überlegungen aus der Methodenlehre, hier aus der Architektonik, die die Gedankenführung bestimmen: vgl. Norbert Hinske, Ein kantischer Studienführer der Universität Jena aus dem Jahre 1785. Über eine für verschollen gehaltene Quelle der frühen Kantrezeption, in: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 7 (1992) 85–92. Offenbar hat Schütz die Methodenlehre nicht etwa als eine Art Supplement zur Kritik der reinen Vernunft verstanden, sondern geradezu als Schlüssel zum ganzen Werk. 44 Rezension zu: [...] Erläuterungen über des Herrn Professor Kant ‚Critik der reinen Vernunft‘ von Johann Schulze [...] in Beziehung auf die Critik der reinen Vernunft von Immanuel Kant [...] und die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können von Immanuel Kant [...], in: Allgemeine Literatur-Zeitung 3 (1785) 41–44, 53–56, 117 f., 121–124 u. 125–128, wiederabgedruckt in Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781-87, hg. v. Albert Landau, Bebra 1991, S. 147–182. Zur Verfasserschaft von Schütz vgl. Kants Brief an Christian Gottfried Schütz v. 13. September 1785, in: AA X 406, und die Anmerkungen der Akadademie-Ausgabe in AA XIII 148. 45 Vgl. Johann Schultz, Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, Königsberg 1791, sowie Frankfurt u. Leipzig 11784, 1791, Neudr. Brüssel 1968, S. 252 f.: „Gesezt also, diese Demonstration wäre richtig, […] so wäre es entschieden, daß auch die theoretischen Grundwahrheiten der natürlichen Religion nicht eine Sache des dogmatischen Wissens, sondern eines vernünftigen Glaubens sind, [...] der nun zugleich den Vortheil hätte, daß er wider alle speculative

Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens

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nicht weniger als 18 Druckseiten umfassende Rezension hätte längst einen kommentierten Neudruck verdient.46 In Wahrheit nämlich handelt es sich bei ihr, wie ja schon der gewählte Titel zeigt, zugleich und zuvor um eine „Anzeige der Kantischen Kritik der reinen Vernunft“'47 selber, um eine großangelegte Darstellung ihrer ‚Ideen‘, zu der die gerade erschienenen Erläuterungen von Schultz nur die „Gelegenheit“ bieten.48 Schütz hat hier offenbar die Resultate seiner mehrjährigen Beschäftigung mit der Kritik der reinen Vernunft, „einem Buche, das in sich selbst Licht genug hat“,49 in gedrängter Form zusammengefaßt. Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie50 borgen von ihr an mehr als einer Stelle. Schütz schließt diese Darstellung nicht etwa wie Heine mit Kants „Critik aller rationalen Theologie“.51 Vielmehr bietet ihm diese nur die Folie für eine ausführliche Erörterung und Weiterführung der Moraltheologie, wie Kant sie ja bereits 1781 im „Kanon der reinen Vernunft“, also im zweiten Hauptstück der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, mit groben Strichen skizziert hatte. Schütz schreibt mit Kant: „diese Moraltheologie“ – gemeint ist so etwas wie eine Theologie, die die Selbsterfahrung des Menschen im moralischen Handeln zum Ausgangspunkt nimmt52 – hat „den eigenthümlichen Vorzug vor der speculativen – sc. theoretischen –, daß sie unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und

Angriffe, von welcher Art sie immer seyn mögen, schon a priori gesichert wäre [...]. Und hängt nicht dieses System selbst mit der Christlichen Religion sehr vortreflich zusammen?“ Vgl. auch ebd., S. 109 f.: Die rationale Psychologie hat „doch den wichtigen negativen Nuzzen, daß sie unser denkendes Selbst wider die Gefahr des Materialismus völlig sichert.“ 46 Vgl. Horst Schröpfer, „… zum besten der Teutschen Gelehrsamkeit und Litteratur …“. Die ‚Allgemeine Literatur-Zeitung‘ im Dienst der Verbreitung der Philosophie Kants, in: Der Aufbruch in den Kantianismus, a.a.O., S. 85–100, hier S. 90 f. 47 Rezension zu: [...] Erläuterungen, a.a.O., S. 128. Vgl. Rezension zu: [...] Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Immanuel Kant, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 3 (1785) 21–23, hier S. 23: „[...] weil wir uns vorbehalten, bey Gelegenheit der Schulzischen Erläuterungen der Kantischen Critik der reinen Vernunft, erst die Ideen des Vf. [...] darzulegen.“ – Wiederabdruck in Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781-87, a.a.O., S. 135–139. Die Rezension stammt demnach gleichfalls von Schütz. 48 Rezension zu: [...] Grundlegung, a.a.O., S. 23. Vgl. auch Cristiana Bonelli Munegato, Johann Schultz e la prima recezione del criticismo kantiano, Trient 1992, S. 140: „La recensione alle Erläuterungen [...] è in realtà solo un pretesto per poler perorare [...] la causa del criticism“. 49 Rezension zu: [...] Erläuterungen, a.a.O., S. 41. 50 Vgl. Der Aufbruch in den Kantianismus, a.a.O., S. 114 ff. 51 Rezension zu: [...] Erläuterungen, a.a.O., S. 127. 52 Zum Begriff der Moraltheologie vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 632/B 660.

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Religionsphilosophie

vernünftigen Urwesens führet, worauf speculative Theologie nicht einmal aus objectiven Gründen hinweiset, geschweige davon überzeugen könnte.“53 Den Ausgangspunkt jener ‚Moraltheologie‘ bildet für Schütz interessanterweise nicht etwa ein tatsächliches unangemessenes Verhältnis von Glück und Moralität, das hier auf Erden zu beobachten wäre. Darüber ließe sich ohnehin nur ein definitives Urteil fällen, wenn dem Menschen der Blick in das Innere, in den intelligiblen Charakter, in das Ansich des Menschen verstattet wäre. Ausgangspunkt ist für Schütz offenbar die Diskrepanz von pragmatischen Handlungsanweisungen, die auf Glückseligkeit, und von moralischen Handlungsanweisungen, die auf Sittlichkeit ausgerichtet sind, also eben jener Handlungskonflikt, den Kant in seinen Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie auf die einprägsame Formel gebracht hat: „Wer sich wohl verhalten will, handle wie Socrates, und wer glücklich seyn will wie Caesar“.54 Diese Diskrepanz von „Klugheitsregel“ und „Sittengesetz“55 ist durch nichts aus der Welt zu schaffen. Sie bildet eine der Grundtatsachen des menschlichen Lebens, die dem Menschen im eigenen Handeln immer wieder schmerzlich bewusst wird, und führt schließlich auf einem Weg, der hier nicht in seinen einzelnen Schritten rekonstruiert werden kann, zu dem Gedanken, dass ,,die nothwendige Verknüpfung der Hoffnung glücklich zu seyn, mit dem unablässigen Bestreben sich der Glückseligkeit würdig zu machen [...] nur gehofft werden“ kann, „wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird [...], d.i. wenn man das Daseyn eines Gottes annimmt. Zugleich aber muß man annehmen, da die itzige Sinnenwelt uns den wirklichen Erfolg dieser Uebereinstimmung der Würdigkeit glücklich zu seyn, und der Glückseligkeit nicht darbietet, daß eine solche moralische Welt für uns zukünftig sey. Gott also und ein künftiges Leben, sind zwey von der Verbindlichkeit die uns reine Vernunft auferlegt nach Principien eben dieser Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“56 In der Sprache der Dissertation von 1770 formuliert: Grund der Form „einer intelligibeln d.i. einer moralischen Welt“57 ist nicht die Vernunft des Menschen, sondern eine „höchste Vernunft“, die „zugleich als Ursache“, als principium formae, „der Natur zum Grunde 53

Rezension zu: [...] Erläuterungen, a.a.O., S. 128; vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 814/B 842. 54 Immanuel Kant, Philosophische Enzyklopädie, AA XXIX 4332 f.; vgl. Joseph Addison, Cato. A Tragedy. Erster Akt, Vierte Szene, in: The miscellaneous Works of Joseph Addison, hg. v. Adolf C. Guthkelch, 2 Bde., London 1914, Neudr. St. Clair Shores, Michigan 1978, Bd. l, S. 380: „Dost thou love watchings, abstinence, and toil / Laborious virtues all? learn them from Cato: / Success and fortune must thou learn from Caesar.“ 55 Rezension zu: [...] Erläuterungen, a.a.O., S. 127. 56 Ebd., S. 128. 57 Ebd., S. 127.

Die Kritik der reinen Vernunft und der Freiraum des Glaubens

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gelegt wird“. Der Zugang zum mundus intelligibilis und dem Grund seiner Form aber eröffnet sich dem Menschen nun nicht mehr wie noch 1770 im realen Verstandesgebrauch des theoretischen Erkennens, sondern in der Selbsterfahrung des moralischen Handelns, die eine selbständige – unableitbare und unreduzierbare – Erkenntnisquelle eigenen Ranges ist.58 Mit Friedrich Schiller gesprochen: „Das Herz nur giebt davon Kunde.“59 Eben diese Neubegründung des Glaubens an Gott und Unsterblichkeit ist für Schütz die Quintessenz jener „Neuordnung der Dinge“, jenes „novi rerum ordinis, der sich in der Philosophie angefangen“.60 Allem Vermuten nach liegt eben hier die Antwort auf die Frage, warum sich Schütz trotz zahlreicher anderer Verpflichtungen für die Verbreitung der Kritik der reinen Vernunft, dieses Werks des „hellsten Tiefsinns“,61 mit solcher Leidenschaft in die Schanze geschlagen hat.

58

Vgl. Reflexion 4349, in: AA XVII 5161–9 „Es [...] kan uns keine andere Welt als die sensible gegeben werden; also ist ieder mundus physicus (materialiter) sensibilis; nur der Mundus moralis (formaliter) ist intelligibilis. Darum, weil die freyheit das einzige ist, was a priori gegeben wird und in diesem Geben a priori besteht; die Regel der freyheit a priori in einer Welt überhaupt macht formam mundi intelligibilis aus. Diese führt nach [...] Gründen der freyheit auf die praesumtion der intelligibilium: Gott und eine künftige welt, darin alles (die Natur) den Moralischen Gesetzen gemäß seyn wird“; vgl. auch Reflexion 4256, in: AA XVII 484 f. 59 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, a.a.O., S. 379. 60 Rezension zu: [...] Grundlegung, a.a.O., S. 23. 61 Rezension zu: [...] Erläuterungen, a.a.O., S. 128.

An den Grenzen unseres Wissens: Zur Deutung der Beziehung zwischen Mensch und Gott aus dem Blickwinkel des Gebets – Eine antike Quelle der christlichen und modernen Welt An den Grenzen unseres Wissens

1

Das Problem der Selbsterkenntnis des Menschen im Spiegel der antiken Philosophie

Zu den ältesten überlieferten Sätzen der europäischen Philosophie gehört die Aufforderung: Erkenne dich selbst: γνῶθι σαυτόν. Die Ursprünge dieses Satzes liegen weithin im Dunkeln. Allem Vermuten nach geht er auf einen der sogenannten ‚Sieben Weisen‘ des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor Christus zurück. Er hat die Menschen über die Zeitalter hinweg immer wieder in seinen Bann geschlagen. Noch das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – erschienen in den Jahren 1783 bis 1793 und eine der Gründungsurkunden der modernen Psychologie – trägt in großen griechischen Buchstaben eben diesen Titel. Es ist nicht zuletzt dieses Programm der Selbsterkenntnis, das dem Fach Psychologie für viele bis heute seine Faszinationskraft verleiht. Wer sich auf den Versuch einlässt, sich selbst zu erkennen, stößt aber auch früher oder später auf die Frage, wie man das denn anstellen könne. So einfach die Aufforderung auf den ersten Blick auch scheinen mag – jeder Versuch einer Antwort führt in steiniges Gelände. Der Blick in den eigenen Personalsausweis reicht zur Selbsterkenntnis ja offenbar nicht aus. Auch diese Einsicht hat ihre lange Geschichte. „Es ist schwer, sich selbst zu erkennen“ – δύσκολον τὸ ἑαuτὸν γνῶναι – ist bei Diogenes Laertios1 im dritten nachchristlichen Jahrhundert als einer der Sätze überliefert, die Thales von Milet zugeschrieben worden sind. Von Bias von Priene, einem anderen der ,Sieben Weisen‘, wird ähnliches berichtet.2 Ob es dabei primär um den Menschen als Individuum oder um den Menschen als Gattungswesen geht, bleibt offen. 1

Diogenes Laertios, Von dem Leben und den Meinungen berühmter Philosophen, I, 36. Gnomologium Vaticanum, hg. v. Leo Sternbach, 1887–1889, neu hg. v. Otto Luschnat, Berlin 21963, S. 169, Nr. 445; vgl. auch ebd., S. 125, Nr. 321. 2

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5_19

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Einer der geistreichsten Antwortversuche findet sich bei den frühen Sokratikern, nämlich in den Erinnerungen an Sokrates, den Apomnemoneumata von Xenophon, und zwar im zweiten Kapitel des vierten Buches. In ihm geht es ganz ausdrücklich um die Frage, „an welchem Punkt man denn ansetzen müsse, um sich selbst zu erkennen“: περὶ πολλοῦ ποιητέον εἶναι τὸ ἑαυτὸν γιγνώσκειν, οὕτως ἴσθι ὁπόθεν δὲ χρὴ ἄρξασθαι ἐπισκοπεῖν ἑαυτόν.3 Der überraschende Grundgedanke des Sokrates ist: Ich erkenne mich selbst, wenn ich erkenne, was ich ganz fraglos für gut halte, oder anders formuliert: Ich erkenne mich selbst, und zwar offenbar zunächst mich selbst als Individuum, wenn ich erkenne, was ich mit letzter Entschiedenheit will, um was es mir in meinem Leben letzten Endes wirklich geht. Die Schlüsselfrage lautet: Welche Lebensabsichten kann ich nicht zur Disposition stellen, ohne mich damit zugleich selbst zur Disposition zu stellen? Der Mensch erkennt sich selbst, sobald und soweit er seine wahren Wünsche in den Blick bekommt, also dasjenige, was ihm nicht bloß als Mittel zum Zweck, als Mittel zu etwas anderem, sondern um seiner selbst willen wichtig ist. Die Beantwortung dieser Frage stellt sich jedoch im Verlauf des Gesprächs Schritt für Schritt als ein schwieriges, ja halsbrecherisches Unternehmen heraus. Das beginnt gleich bei der ersten, scheinbar ganz selbstverständlichen Antwort. Sie lautet: Ohne Frage gut ist Gesundheit. Das ist nun wahrlich eine zeitlose Antwort. ‚Hauptsache, man ist gesund‘, hat vermutlich jeder von uns schon irgendwann einmal gesagt. Sokrates aber weist seinen Gesprächspartner darauf hin, dass es in manchen Fällen paradoxerweise gerade die Gesundheit ist, die den Menschen in schlimme Dinge verwickelt, während ihn eine rechtzeitige Krankheit ‚zum Glück‘ davor bewahrt. Als Beispiel nennt Sokrates die „Teilnahme an einem verfehlten Feldzug oder an einer misslungenen Flottenexpedition“.4 Wenn nicht alles täuscht, ist das eine Anspielung auf die zweite Sizilische Expedition im Verlauf des Peloponnesischen Krieges, das Stalingrad Athens, das den Zeitgenossen damals noch in lebendiger Erinnerung gewesen ist. Sokrates bringt hier jedoch eine zeitlose Erfahrung zur Sprache. So mancher deutsche Soldat ist aus dem Kessel von Stalingrad nur aufgrund einer schweren Verwundung in letzter Minute ausgeflogen worden. Aber auch die Alltagserfahrung hält an dieser Stelle, wenn man nur nachdenkt, Beispiele genug bereit. Jemand hat ein Preisausschreiben gewonnen und ist dadurch in den Tod geflogen, solche und ähnliche Meldungen findet man in der Zeitung immer wieder. Natürlich ist Gesundheit ein hohes Gut und Krankheit eine Last, an der wir oft schwer zu tragen haben. Aufs Ganze gesehen aber handelt es sich bei der Gesundheit um etwas, was,

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Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, IV, 2, 30. Ebd., IV, 2, 32.

An den Grenzen unseres Wissens

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wie Sokrates es ausdrückt, „manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist“.5 Der Irrtum liegt nicht in dem Urteil als solchen, sondern in seiner unreflektierten Verallgemeinerung. Sokrates spricht denn auch nicht etwa – wie in der Folge beispielsweise die Stoa – von Adiaphoron – will heißen: es macht keinen Unterschied; es ist gleichgültig –, sondern von ‚zweischneidig‘ – ἀμφίλογoν, oder von ‚undurchschaubar‘ – ἄδηλoν –. Dieser zweite Begriff taucht auch bei Platon immer wieder auf;6 allem Vermuten nach handelt es sich bei ihm um ein genuines Sokratisches Erbe. Das Gesagte gilt nun aber nicht etwa nur für die Gesundheit. Es gilt genauso – um schon an dieser Stelle die Pointe des ganzen Gesprächs zur Hälfte vorwegzunehmen – für alle anderen Dinge, die wir im Alltag so fraglos für gut halten. Der zweite Lebensinhalt nämlich, den der Gesprächspartner für „unstrittig“ – ἀναμφισβητήτως7 – oder fraglos gut erklärt, ist das Wissen, insbesondere das Fachwissen. Auch hier bietet sich jedoch bei näherem Hinsehen das gleiche Bild. Sokrates verweist an diesem Punkt des Gesprächs zum Beispiel auf Daidalos, den sagenumwitterten Ingenieur der Antike – heute wäre er vermutlich Nobelpreisträger –, der gerade aufgrund seines Wissens erst seine Heimat und seine Freiheit und schließlich auch noch seinen Sohn verloren hat. Auch das gilt nicht etwa nur für die Lebensverhältnisse im antiken Griechenland. Man braucht an dieser Stelle nur an die Zeit nach 1945 zu erinnern, um zu bemerken, von welcher Zeitlosigkeit auch dieses zweite Beispiel ist. Als letzte mögliche Antwort bleibt dem Gesprächspartner des Sokrates schließlich nur der Hinweis auf das Glücklichsein – εὐδαιμονεῖν8 –: So etwas wie Glück scheint nun tatsächlich ein allen Anfechtungen und Zweifeln entzogener Lebensinhalt zu sein. Die auf den ersten Blick schier unverständliche Antwort des Sokrates aber lautet, und damit gelangt das Gespräch an seinen springenden Punkt: Ja, gewiss, das Glück, das ist ein Gut, das über allen Zweifel erhaben ist – aber freilich auch nur dann, „wenn man es nicht aus zweifelhaften Gütern zusammensetzt“.9 Als Beispiele für solche zweifelhaften Lebensinhalte oder Lebensziele nennt Sokrates in der Folge Schönheit, Kraft, Vermögen sowie gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluss, also lauter Dinge, die wir zunächst einmal ganz unreflektiert mit dem Wort ‚Glück‘ assoziieren. Für alle diese Lebensinhalte aber gilt bei näherem Hinsehen eben das, was anfangs von der Gesundheit gesagt wurde: Sie sind ‚zweischneidige‘ 5

Ebd., IV, 2, 32. Vgl. Norbert Hinske, Der Sinn des Sokratischen Nichtwissens, in: Gymnasium 110 (2003) 319–332, hier S. 329. 7 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, IV, 2, 33. 8 Ebd., IV, 2, 34. 9 Ebd. 6

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Dinge, also etwas, was „manchmal von Nutzen und manchmal von Schaden ist“, wie es bei Xenophon wörtlich heißt.10 Beispiele dafür gibt es in der Geschichte wie in der Gegenwart genug. Viele Menschen, die man zunächst vielleicht beneidet hat, erregen am Ende nur noch unser Mitleid. Ein schönes Leben, so denken wir dann, sieht anders aus. Hinter den skizzierten Ausführungen des Sokrates steht eine grundlegende Einsicht – und sie macht die zweite Hälfte der Pointe aus: Auf der einen Seite ist Glück etwas, auf das jeder Mensch sozusagen mit Naturnotwendigkeit aus ist. Jeder möchte glücklich sein. Dieser Wunsch ist gewissermaßen das Apriori unseres Willens und daher von grundsätzlich anderer Art als alle konkreten, inhaltlich bestimmten Lebensziele, die wir uns im Laufe des Lebens setzen mögen. Um das festzustellen, bedarf es keiner kostspieligen empirischen Untersuchungen. Es ist eine Binsenweisheit. Auf der anderen Seite aber ist Glück ein völlig inhaltsleerer Begriff, den man so oder so mit Inhalt füllen muss. Dass er glücklich werden will, steht für jeden Menschen stillschweigend fest. Auf welchem Wege er aber tatsächlich glücklich werden kann, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Aporie, an der keiner auf die Dauer vorbeikommt. So gesehen weiß niemand, was Glück ist.

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Das Sokratische Nichtwissen und seine Konsequenzen für das Bittgebet

In unmittelbarem Anschluss an die skizzierten Überlegungen nimmt das Gespräch jedoch eine überraschende Wendung. Der Gesprächspartner des Sokrates zieht daraus nämlich den Schluss, unter solchen Umständen „wisse er nicht einmal, was er von den Göttern erbitten solle“: μηδ̕ ὃ τι πρὸς τοὺς θεοὺς εὔχεσθαι χρὴ εἰδέναι.11 Spätestens an dieser Stelle schlägt die Frage nach der Selbsterkenntnis des Menschen als Individuum um in die Frage nach der des Gattungswesens Mensch. Jetzt geht es um die grundsätzliche Frage nach der Situation des Menschen als Mensch, gestern wie heute. Die Frage lautet nun nicht mehr: Wie erkenne ich mich am Leitfaden meiner eigenen Glücksvorstellungen als dieses konkrete Individuum im Unterschied zu anderen? Jetzt lautet die Frage: Wer ist der Mensch überhaupt? Das Gebet verrät nicht nur etwas über den einzelnen Menschen, es verrät auch etwas über die Verfasstheit des Menschen als Mensch.

10 11

Ebd., IV, 2, 32. Ebd., IV, 2, 36.

An den Grenzen unseres Wissens

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Bei dem Gesagten geht es nun aber nicht etwa um irgendeine Randbemerkung des analysierten Gesprächs. Es führt vielmehr mitten in das Zentrum des Sokratischen Denkens. Im ersten Buch der Memorabilien nämlich äußert sich Xenophon grundsätzlich zu dem Thema. Er schreibt: Sokrates „betete zu den Göttern einfach darum, sie möchten das Gute geben: ηὔχετο δὲ πρὸς τοὺς θεοὺς ἁπλῶς τἀγαθὰ διδόναι; „die Götter wüssten ja am besten, was im Einzelfall gut ist; diejenigen dagegen, die um Gold, Silber, politische Macht oder etwas anderes dieser Art beteten, die beteten seiner Meinung nach um nichts anderes, als wenn sie um ein Würfelspiel, eine Schlacht oder sonst etwas von demjenigen beteten, bei dem der Ausgang offenkundig unklar – τῶν φανερῶς ἀδήλων ὅπως ἀποβήσοιτο – sei“.12 Mit anderen Worten: Wer in solcher Weise betet, spielt Roulette. Vielleicht kommt der ursprüngliche Sinn des Sokratischen Nichtwissens nirgends deutlicher als in diesem kurzen Textstück zum Ausdruck. Erst beim zweiten Lesen aber bemerkt man, dass sich in ihm zugleich auch ein frappierendes Vertrauen artikuliert. Nichtwissen und Gottvertrauen gehen Hand in Hand. Wir wissen nicht, ob Sokrates der erste gewesen ist, der so gedacht hat. Die Situation, die er zur Sprache bringt, gehört ja seit eh und je zum Leben des Menschen. Zahlreiche Texte aber zeigen, dass sein Gedanke die Welt der Antike aufs nachhaltigste beeinflusst hat. Die Analyse aller dieser Texte böte Stoff genug für eine ganze Tagung.13 Im Gnomologium Vaticanum heißt es zum Beispiel über Aristipp: „Er sagte, es sei lächerlich, überhaupt – καθόλον – um etwas Gutes zu beten und von dem Gott etwas zu verlangen; denn auch die Ärzte gäben nicht dann etwas, wenn der Kranke um Essen oder Trinken bäte, sondern wenn sie den Eindruck hätten, es helfe.“14 Es ist nicht auszumachen, ob es sich hier um den bekannten Aristipp handelt, den Xenophon so wenig gemocht hat,15 oder um dessen Neffen oder um irgendeinen anderen Aristipp. Wenn es darum geht, die Gedankenwelt eines antiken Denkers zu rekonstruieren, ist das genannte Gnomologium eine lausige Quelle: Zahlreiche Aussprüche werden zugleich den verschiedensten Personen zugeschrieben. Wenn es sich dagegen darum handelt, die Breiten- und Langzeitwirkung bestimmter Gedanken abzuschätzen – die Handschrift der Sammlung stammt aus dem 14. Jahrhundert –, ist es von schier unschätzbarem Wert. Die skizzierte Fassung des Sokratischen Nichtwissens hat mehr als zwei Jahrtausende weitergewirkt und die christliche wie die moderne Welt bis hin zu Immanuel 12

Ebd., I, 3, 2. Zur Wirkungsgeschichte vgl. Olof Gigon, Kommentar zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien, Basel 1953, S. 97 f. 14 Gnomologium Vaticanum, S. 16, Nr. 32. 15 Vgl. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, II, 1, sowie III, 8. 13

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Kant beeinflusst. Es ist wohl kein Zufall, dass in dem berühmten Marmorfußboden des Domes von Siena nicht etwa Petrus, sondern Sokrates die Erdenpilger am Ende ihres Weges erwartet. Die Darstellung stammt aus dem 16. Jahrhundert. Von den antiken Quellen seien hier nur noch die Epistulae morales von Lucius Annaeus Seneca genannt. Sie variieren den Gedanken aus einer ganz anderen Perspektive. In einem dieser Briefe heißt es: „Taub zeige dich denen gegenüber, die du am meisten liebst. Sie meinen es gut und erbitten für dich schlechtes. Willst du glücklich sein, dann bete zu den Göttern, dass dir nichts von alledem widerfährt, was sie erflehen.“ „Surdum te amantissimis tuis praesta: bono animo mala precantur. Et si esse vis felix, deos ora, ne quid tibi ex his, quae optantur, eveniat“.16 Die Stoa hat aus dieser Situationsbeschreibung die vernünftige Folgerung gezogen, dass es nur das moralische Handeln und die Pflichterfüllung seien, die das glückliche Leben, die ‚vita beata‘, und die ‚tranquillitas animi‘ ausmachten. Etwas anderes bleibe ja nicht. Wie sehr Seneca damit auch die christliche Welt geprägt hat, zeigt der Seneca christianus17 des Jesuiten Johann Baptist Schellenberg, der von 1586 bis 1645 lebte, eines der großen, immer wieder aufgelegten und übersetzten Erfolgsbücher des 17. Jahrhunderts. Das Werk ist in Wahrheit nichts anderes als eine wortgetreue Auswahl aus den philosophischen Schriften Senecas. Ob die ebenso unerbittliche wie radikale Antwort der Stoa das letzte Wort in dieser Sache ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

3

Die Anverwandlung des antiken Erbes im Christentum

Jesus hat sich immer wieder zum Gebet zurückgezogen. Für die Menschen in seiner näheren Umgebung war das offenbar so selbstverständlich nicht. Sie hatten nicht von ungefähr ihre Schwierigkeiten mit dem Beten. Denn die Sokratische Auffassung vom Gebet hat schwerlich an den Grenzen des damaligen Palästina haltgemacht und ihr Argument ist von entwaffnender Einfachheit. Im Alexanderreich wimmelte es ja von Wanderphilosophen unterschiedlichsten Couleurs. So kommt es, dass einer seiner Schüler zu Jesus sagt: „Herr, lehre uns, wie man betet“:18 Kύριε, δίδαξον ἡμᾶς πρoσεύχεσθαι. Die Antwort Jesu ist das Vaterunser. Aus dem Blickwinkel des Bittgebets betrachtet ist es das Antigebet schlechthin. Es setzt allem gewohnten Bitten 16

Lucius Annaeus Seneca, Briefe an Lucilius, IV, 31, 2. Seneca christianus. Das ist: Richt-Schnur eines Christlich-Tugendhafften Lebens, aus denen Episteln L. Annaei Senecae gezogen, um dessen Fürtrefflichkeit willen zum abermaligen Druck, auf vieles Verlangen, in Lateinisch- und Teutscher Sprach heraus gegeben, 11637, Frankfurt 1730. 18 Lk 11, 1. 17

An den Grenzen unseres Wissens

263

und Beten ein Ende. Denn wir sorgen uns ja, von schlimmen Notfällen abgesehen, gerade nicht um das Brot für heute, sondern um das Brot für morgen. Und wer könnte schon ernsthaft wollen, dass man mit ihm so umgeht, wie wir selber, zumindest in unserem Inneren, mit denen umgehen, die uns irgendwann einmal verletzt haben? Das Vaterunser überbietet alles, was die Antike zum Thema des Gebets gedacht hat. Aber es setzt die Antike als Problemhorizont voraus. Paulus bringt die Schwierigkeiten des Betens ganz ausdrücklich im Römerbrief zur Sprache. Er schreibt: „wir wissen nicht, was wir erbitten sollen, so wie man es soll“: καθὸ δεῖ οὐκ οἴδαμεν.19 Das könnte so auch bei Xenophon stehen. Klaus Haacker bemerkt dazu in seinem Handkommentar zum Römerbrief und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Memorabilien: „Damit greift er – sc. Paulus – ein Thema auf, das seit Sokrates von Griechen, Römern und Juden diskutiert wurde.“20 Für die weitere Wirkungsgeschichte wäre zum Beispiel der Brief von Aurelius Augustinus an Anicia Faltonia Proba zu nennen. Im Mittelalter hat Meister Eckhart die Probleme mit besonderer Schärfe zum Ausdruck gebracht. In seinem Kommentar zum Johannesevangelium schreibt er: „wer um dieses oder jenes bittet, weiß nicht, um was er bittet, weil er um einen schlechten Inhalt und in schlechter Form bittet“; „petens hoc aut hoc nescit, quid petat, quia malum et male“.21 Johannes XXII. hat diesen Satz im Jahr 1329 in seiner Bulle In agro dominico als irrig beziehungsweise häretisch verurteilt.22 Im Kontext der Sokratischen Tradition aber ergibt der Satz, so überspitzt er auch formuliert sein mag, durchaus einen guten Sinn. Die Kirche hat den genannten Problemen in ihren großen Gebeten immer wieder Rechnung getragen. Sie atmen bewusst oder unbewusst den Geist des Sokratischen Nichtwissens. Das Kyrie beschränkt sich auf das bloße ‚eleison‘ und die Litanei auf Formeln wie ‚audi nos‘, ‚exaudi nos‘, ‚miserere nobis‘ und ähnliche Bitten. Damit ist alles gesagt. Nach dem Zweiten Vaticanum sind an ihre Stelle häufig die Fürbitten getreten. Vor allem, wenn sie als sogenannte ‚pro-ut‘-Bitten formuliert werden, sind sie von dem Sokratischen Selbstverständnis des Menschen oft weit entfernt. Wer das Gebet aber zu volkspädagogischen oder gar politischen Zwecken missbraucht, verlässt den Raum des Gebets und beschädigt die religiöse Dimension des menschlichen Daseins. Beten heißt: sich Gott anvertrauen. Nur das sollen wir im Bittgebet lernen, sonst nichts. 19

Röm 8, 26. Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, Leipzig 1999, S. 166 f. 21 Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, 3. Bd., Stuttgart 1994, S. 533. 22 Vgl. ebd., 5. Bd., Stuttgart 2006, S. 598: „Septimus articulus: Item quod ‚petens hoc aut hoc malum petit et male, quia negationem boni et negationem Dei petit, et orat deum sibi negari‘.“ 20

264

Religionsphilosophie

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hinzugefügt: Eine zweite, nicht weniger wichtige Säule des jüdischen und christlichen Glaubens ist das Almosengeben – ein heute törichterweise in Misskredit gebrachtes Wort. Aber Gebet und Almosengeben sind zwei ganz verschiedene Säulen, die man nicht miteinander verwechseln darf.

4

Kant und die Moderne

Kant wird oft als Prototyp des neuzeitlichen Denkens gesehen. Aber auch bei ihm ist das Sokratische Verständnis des Gebets auf Schritt und Tritt präsent. Der so gern zitierte Satz seiner späten Religionsschrift: „Das Beten … ist ein abergläubischer Wahn“23 zeigt nur einmal mehr – selbst wenn die Weglassung durch Pünktchen angezeigt wird –, wie gründlich man die Auffassungen eines Autors auch durch korrekte Zitate auf den Kopf stellen kann. Dass Kant immer wieder von dem „Geist des Gebets“24 spricht, der unser Leben als ganzes bestimmen solle, wird dabei häufig mit Stillschweigen übergangen. Auch die Äußerungen Kants zum Gebet sind ohne einen Rückgriff auf die antiken Quellen nur halb zu verstehen. In einer frühen Reflexion heißt es bei Kant: „Socrates vom Gebeth“.25 Der Herausgeber Erich Adickes verweist dazu in der Akademie-Ausgabe ausdrücklich auf Xenophon Memorab., I, 3, 2, und zitiert die ganze Passage im Original.26 Für Kant war das jedoch weit mehr als eine bald wieder vergessene Jugendlektüre. Die Beschäftigung mit Xenophons Erinnerungen an Sokrates zieht sich bei ihm vielmehr wie ein roter Faden fast durch sein ganzes Werk. Noch in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1785 kehrt das eingangs ausführlich erörterte Gespräch aus dem vierten Buch der Memorabilien in aller Breite wieder.27 Ähnliches gilt für Xenophons Äußerungen zum Problem des Betens. In Kants Vorlesung zur Moralphilosophie heißt es: „unsere Bedürfniß ist dem höchsten

23

Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 302. Ebd. 25 Reflexion 2189, in: AA XVI 265. 26 Ebd. 27 Vgl. Norbert Hinske, Glück und Pflicht. Überlegungen zu Xenophons ‚Erinnerungen an Sokrates‘ und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert, in: Endlichkeit und Transzendenz. Perspektiven einer Grundbeziehung, hg. v. Jakub Sirovátka, Hamburg 2012, S. 13–23; wiederabgedruckt in diesem Band S. 179–186. 24

An den Grenzen unseres Wissens

265

Wesen besser bekannt als uns. Der Wunsch der Creatur, er mag durch Worte ausgedrukt seyn oder nicht, ist Gott bekannt.“28 Eher an Senecas Epistulae morales dagegen erinnern Formulierungen wie: „ich würde selbst erschrekken, wenn Gott mir besondere Bitten gewähren möchte; denn ich könnte nicht wissen, ob ich mir nicht selbsten das gröste Unheil auf den Hals gewünscht hätte.“29 Auch Seneca nämlich war allem Anschein nach Kants ständiger Begleiter. Bei Kant wird das Sokratische Nichtwissen also wieder aus einer unmittelbaren Lektüre der antiken Quellen gespeist; ohne ihre Kenntnis bleiben viele seine Äußerungen unverstanden. Die Tiefe jenes Nichtwissens gegen alle ideologischen Verengungen offenzuhalten, zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Gegenwart. Nur so geschieht Bildung. Wer den Bildungsbegriff dagegen stillschweigend auf bloße Berufsausbildung verkürzt, nimmt dem Menschen die Tiefendimension seiner Existenz und liefert ihn gleichermaßen den Ideologien wie der Werbung aus.

28

Immanuel Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, hg. v. Werner Stark, Berlin u. New York 2004, S. 143. 29 Ebd.

Erstveröffentlichungsnachweise

Europäische Kultur als Gesprächskultur, Erstveröffentlichung in: Diritti dell’uomo e Dialogo interculturale nel mediterraneo / Human Rights and intercultural Dialogue in the Mediterranean, hg. v. Gianluca Sadun Bordoni, Neapel u. Rom 2009: Edizioni Scientifiche Italiane, S. 83–93. Wer sind die Erben der Aufklärung?, Erstveröffentlichung unter dem Titel: Wer sind die Erben der Aufklärung? Kriterien für eine Antwort, in: Kant und die Aufklärung. Akten der Tagung in Sulmona, 24. bis 28. März 2010, hg. v. Luigi Cataldi Madonna u. Paola Rumore, Hildesheim, Zürich u. New York 2011: Olms, S. 9–21. Vom richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen, Erstveröffentlichung unter dem Titel: Vom richtigen Umgang mit den Gedanken der Anderen. Gesprächs- und Lesekultur von Wolff bis Kant, in: Critica della ragione e forme dell’esperienza. Studi in onore di Massimo Barale, hg. v. Leonardo Amoroso, Alfredo Ferrarin u. Claudio La Rocca, Pisa 2011: Edizioni ETS, S. 47–59. Principium formae oder principium mundi – von wessen Prinzipien ist die Rede? Zum Streit um die richtige Übersetzung des Titels von Kants Dissertation des Jahres 1770, Erstveröffentlichung in: Kants Schriften in Übersetzungen, hg. v. Gisela Schlüter, Hamburg 2020: Meiner, S. 603–608. Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens, Erstveröffentlichung unter dem Titel: Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens. Erwiderung auf Lothar Kreimendahl, in: De Christian Wolff à Louis Lavelle: métaphysique et Histoire de la Philosophie. / Von Christian Wolff bis Louis Lavelle. Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Festschrift für Jean Ecole zum 75. Geburtstag, hg. v. Robert Theis u. Claude Weber, Zürich u. New York 1995: Olms, S. 102–122. Ontologie oder Analytik des Verstandes? Kants langer Abschied von der Ontologie, Erstveröffentlichung in: Quaestio. Annuario di storia della metafisica, Bd. 9: Origine e sviluppi dell’ontologia (secoli XVI-XXI), hg. v. Costantino Esposito, Turnhout 2009: Brepols u. Bari 2009: edizioni di pagina, S. 303–310. Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff, Erstveröffentlichung unter dem Titel: Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff. Einige Anmerkungen zu KrV B 866 ff. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5

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Abkürzungsverzeichnis

A

Paginierung der 1. Auflage der Werke Immanuel Kants

a.

articulus

AA

Akademie-Ausgabe der Werke Immanuel Kants, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern, Berlin 1922 ff.

a.a.O.

am angegebenen Ort

abgek.

abgekürzt

B

Paginierung der 2. Auflage der Werke Immanuel Kants

begr.

begründet

bes.

besonders

DK

Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Hermann Diels u. Walther Kranz, Berlin 1903, 71951, 3 Bde.

dt.

deutsch

ebd.

ebenda

Ed.

Editio(n)

eingel.

eingeleitet

f.

folgende

ff.

nachfolgende

Frgm.

Fragment

Hg.

Herausgeber

hg.

herausgegeben

insbes.

insbesondere

Joh

Evangelium nach Johannes

Kap.

Kapitel

komm.

kommentiert

lat.

lateinisch

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272

Abkürzungsverzeichnis

Lk

Evangelium nach Lukas

Mt

Evangelium nach Matthäus

Neudr.

Neudruck

o. J.

ohne Jahr(esangabe)

o. O.

ohne Ort(sangabe)

Röm

Brief des Apostel Paulus an die Römer

s.

siehe

S.

Seite

sc.

scilicet

Sp.

Spalte

Tl.

Teil

u.

und

u. a.

und anderswo, unter anderem

u. ö.

und öfter

übers.

übersetzt

V.

Vers

v.

vom/von

vgl.

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Z.

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Personenregister

Abramson, Abraham 245 Achenwall, Gottfried 190ff., 200, 203ff., 209f., 273, 293 Addison, Joseph 254, 273 Adickes, Erich 17, 78f., 81ff., 96, 114, 170, 174, 219, 222, 224, 264, 284 Adler, Hans 46, 289 Adorno, Theodor W. 46 Aepinus, Franz Albert 102 Agostini, Igor 71f., 284 Albrecht, Michael 46f., 113, 195, 231, 273, 282ff., 287, 289, 296f. Althoff, Jochen 185, 273 Altmann, Alexander 44, 241, 288 Amoroso, Leonardo 267 Antiseri, Dario 22, 281 Anton, John Peter 163, 295 Anton, Paul 120ff., 273 Aristipp 177, 261 Aristoteles 12, 36f., 100, 168, 175, 177, 186, 273 Arndt, Hans-Werner 49, 58, 77f., 161, 288, 297 Arnold, Wilhelm 232, 279 Arnoldt, Emil 83, 92, 163, 189, 199, 203, 273 Aso, Ken 105, 205, 290 Astolfi, Philipp Gisbertz 16, 293 Augustinus, Aurelius 25, 263, 274 Aulus Gellius 156, 274 Azzoni, Giampaolo M. 211, 274 Bach, Reinhard 195, 282 Bacon, Francis 243f., 274

Baier, Johann Wilhelm 118, 120f., 274 Balbiani, Laura 60, 284 Balthasar, Hans Urs von 25, 274 Barion, Jakob 219, 295 Basedow, Johann Bernhard 115, 274 Bauer, Emmanuel J. 294 Baumanns, Peter 219, 295 Baumgarten, Alexander Gottlieb 45, 57, 78, 80, 109, 163, 172, 230, 274, 287f. Baumgartner, Hans Michael 75, 110, 281 Beck, Jacob Sigismund 24 Beck, Lewis White 93, 285 Beckby, Hermann 235, 294 Benn, Gottfried 328 Bergk, Johann Adam 153, 165, 284 Bertani, Corrado 113, 142, 279 Beutel, Albrecht 114, 293 Beyer, Johann August von 245, 274 Bianchi, Massimo 82, 282 Bianco, Bruno 61, 91, 217, 275, 285 Bias von Priene 257 Biester, Johann Erich 46, 82, 199 Bohatec, Joseph 125, 275 Böhm, Benno 183, 275 Böhme, Gernot 151, 275 Böhme, Hartmut 151, 275 Böhr, Christoph 11f., 20ff., 26, 102, 111, 269, 275, 277, 289, 291, 294, 330, 334 Borchers, Stefan 123, 295 Borinski, Ludwig 134, 282

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5

300 Born, Friedrich Gottlob 185, 221, 285 Borowski, Ludwig Ernst 80, 124, 147ff., 157, 242, 245, 275 Boswell, Terry 82, 107, 275, 280 Brague, Rémi 20, 269, 289, 333f. Brandt, Reinhard 78f., 87, 107, 110f., 275, 280 Breithaupt, Joachim Justus 121 Buchenau, Arthur 149, 278 Buchmüller, Wolfgang 102, 294 Büchner, Georg 25, 276, 278 Budde, Johann Franz 41, 60, 276 Burkert, Walter 297 Busolt, Gotthilf Christoph Wilhelm 82 Caesar, Gaius Julius 254 Cassirer, Ernst 43 Cato, Marcus Porcius 254 Cattaneo, Mario A. 268 Cesa, Claudio 75, 100, 142, 248, 276, 280, 295 Chandler, David H. 247, 294 Ciafardone, Raffaele 37, 48, 71, 281f., 284 Cicero, Marcus Tullius 35, 172, 276 Conrad, Elfriede 83f., 276 Crusius, Christian August 57, 105f., 109, 276, 287 Daidalos 173, 181, 259 Damm, Christian Tobias 172, 273, 289 Damnjanovic, Milan 162 Danovius, Ernst Jakob 243, 292 Dante Alighieri 242 Darge, Rolf 294 Delfosse, Heinrich P. 12, 27, 40, 67, 82, 113, 133, 190f., 194f., 203, 207, 275ff., 280, 285, 288, 330 Densé, Roland 195, 282 Deussen, Paul 219, 292

Personenregister

Diels, Hermann 35, 277 Dietzsch, Steffen 268 Diogenes Laertios 179, 257, 276 Doederlein, Johann Christoph 243, 250 Earl of Chesterfield 156 Ecole, Jean 17f., 45, 49, 57, 78, 109, 136, 161, 225, 227, 249, 267, 276, 278, 282, 296f. Elbogen, Ismar 44, 241, 288 Ellis, Robert Leslie 243, 274 Engel, Eva J. 44, 46, 113, 282, 288 Engel, Johann Jakob 111f., 115, 276 Engfer, Jürgen 102, 294 Epikur 177 Erdmann, Benno 78, 80, 107, 126, 248f., 277 Ertl, Wolfgang 217, 277 Esposito, Costantino 267 Euthydemos 173f. Fattori, Marta 82, 282 Feder, Johann Georg Heinrich 51, 59, 63, 218, 220, 277 Feldkeller, Paul 151, 292 Ferrarin, Alfredo 267 Ferraris, Maurizio 18 Fichte, Johann Gottlieb 24, 55f., 142, 276f., 283 Fiorillo, Vanda 268 Fischer, Kuno 85, 277 Fischer, Norbert 16, 104, 268, 277, 287 Forschner, Maximilian 177, 277 Francke, August Hermann 121 Franco, Giuseppe 22, 281 Frank, Günter 294 Friedrich der Große 45, 92, 197 Gadamer, Hans-Georg 12, 277

301

Personenregister

Ganz, Sabine 82 Garve, Christian 46, 172 Gause, Fritz 151, 278 Gawlick, Günter 74, 241, 274, 278 Gebhardt, Carl 219, 292 Gedicke, Friedrich 82, 278 Gerteis, Klaus 268 Gigon, Olof 261, 278 Giovannozzi, Delfina 18, 110, 131, 268, 281, 290 Goethe, Johann Wolfgang von 33, 55, 278, 287 Gorgias von Leontinoi 35 Gottsched, Johann Christoph 45, 109, 278 Gunkel, Andreas 228, 278 Guthkelch, Adolf C. 254, 273 Guttmann, Julius 44, 241, 288 Haacker, Klaus 263, 278 Hamann, Johann Georg 74, 79, 91, 189, 206, 278 Hartknoch, Johann Friedrich 189, 206 Hartmann, Eduard von 75, 278 Hasse, Johann Gottfried 149, 151, 278 Haßler, Gerda 195, 282 Hattrup, Dieter 16, 277 Hazard, Paul 43 Heath, Douglas Denon 243, 274 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44, 123, 210, 278 Hegewisch, Dietrich Hermann 245 Heidegger, Martin 64 Heilsberg, Christoph Friedrich 124 Heimsoeth, Heinz 28, 90, 103, 125, 222, 232, 279, 287, 294 Heine, Heinrich 242, 252f., 279 Heinze, Johann Michael 172, 174, 279 Henkel, Arthur 189, 206, 278 Hennings, Justus Christian 131, 295 Henrich, Dieter 28, 125, 279, 294

Herder, Johann Gottfried 134f. Hergewisch, Dietrich Hermann 279 Herz, Marcus 70, 81, 99f., 104, 112f., 252 Hinske, Jutta 5 Hinske, Norbert 9, 11ff., 17ff., 36f., 40, 44ff., 50, 52f., 61, 64, 75, 81f., 85f., 89, 91, 93, 101, 107ff., 113, 118, 125, 132ff., 137ff., 142, 148, 152, 154, 165f., 169, 172, 177, 180, 191, 194f., 203, 212, 217f., 226, 228, 243, 248f., 252, 259, 264, 274ff., 279ff., 292, 296f., 327f., 330 Hitler, Adolf 141, 236 Höffe, Otfried 177, 268, 277 Hoffmann, Lars 10 Hollmann, Georg 124f., 283 Horatius Flaccus, Quintus Siehe Horaz Horaz 11, 82, 167, 283, 288 Horkheimer, Max 46 Hume, David 74ff., 78f., 91, 278, 283, 287 Jachmann, Reinhold Bernhard 28, 148ff., 156, 189, 206, 283, 286 Jacobi, Klaus 169, 283 Jacobs, Wilhelm G. 75, 110, 281 Jäsche, Gottlob Benjamin 49, 56, 106ff., 135, 280, 283f. Jáuregui, Claudia 268 Jesus Christus 262 Johannes XXII. 263 Kahlo, Michael 268 Kalter, Alfons 96, 220, 283 Kant, Immanuel 9ff., 35ff., 44, 46ff., 55ff., 59ff., 63f., 67ff., 87 ff., 117f., 120ff., 131ff., 147ff., 161ff., 183ff., 189ff., 203ff., 217ff., 241ff., 262,

302 264f., 267ff., 273, 275ff., 292ff., 297, 332 Kaulbach, Friedrich 28, 134, 279, 287 Kawamura, Katsutoshi 218, 287 Keitel, Wilhelm 141 Kerber, Walter 51, 287 Kim, Chang Won 57, 109, 287 Kirchkowski, Daniela 114, 293 Klein, Ernst Ferdinand 197f., 201, 287 Klemme, Heiner F. 204, 293 Knittermeyer, Hinrich 103, 287 Kommerell, Max 55, 287 Krallmann, Dieter 105, 164, 273 Kranz, Walther 35, 277 Kraus, Christian Jacob 217 Krause, Peter 53, 212, 281 Kreimendahl, Lothar 17, 73ff., 79ff., 85ff., 89ff., 241, 249, 267, 274, 278, 282f., 287 Krier, Birgit 82, 280 Krouglov, Alexei N. 135, 139, 287 Krug, Wilhelm Traugott 82 Kuehn, Manfred 204, 293 Küntzel, Johann Caspar 172, 287 Kurosaki, Masao 105, 205, 290 Laeven, Hubert A. 62, 296 Laeven, Lucy J. M. 62, 296 Lamarra, Antonio 93, 290 Lambert, Johann Heinrich 49, 89, 287, 329 Landau, Albert 23, 252, 291, 293 Landmann, Michael 47, 288 Lange, Erhard 21, 243, 274, 282f., 286, 292 Lange, Joachim 58, 91, 109, 124, 275 Langthaler, Rudolf 22, 288 Lasson, Georg 123, 278 Lavelle, Louis 17, 249, 267, 282 Lehmann, Gerhard 80, 149, 288 Lehmann, Werner R. 25, 276, 278

Personenregister

Lehrke, Wilfried 268 Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 26, 77, 169, 286 Levinas, Emmanuel 16, 277 Lipperheide, Franz von 132, 293 Locke, John 45, 293 Löwisch, Dieter Jürgen 108, 291 Luschnat, Otto 257, 278 Macor, Laura Anna 29, 288 Madonna, Luigi Cataldi 267 Marcucci, Silvestro 98 Martens, Wolfgang 25, 278 Martin, Gottfried 105f., 108, 131, 164, 273, 291 Martin, Hans Adolf 105, 164, 273 Masham, Lady Damaris 45 Maurach, Gregor 11, 288 Meier, Georg Friedrich 38, 40, 45, 49, 58, 75, 83f., 114, 226, 248, 280, 288, 290 Meister Eckhart 263, 288 Meixner, Uwe 46, 292 Mellin, Georg Samuel Albert 149, 233, 235, 288 Mendelssohn, Moses 44, 46, 52, 78, 112f., 170, 172, 198ff., 241f., 279, 282, 288f., 297 Menzer, Paul 190, 207, 237, 286, 295 Mittwoch, Eugen 44, 241, 288 Moledo, Fernando 268 Montfaucon, Bernard de 185, 289 Moritz, Karl Philipp 179, 257, 289 Motroschilowa, Nelly 191, 283, 286, 292 Müller, Max 152, 165, 281 Munegato, Cristiana Bonelli 253, 289 Nadler, Josef 74, 278 Nehren, Birgit 82, 280 Newen, Albert 46, 292

Personenregister

Nicolai, Friedrich 172, 289 Nietzsche, Friedrich 45 Nonnenmacher, Burkhard 22, 289 Oberhausen, Michael 98, 138, 189, 289 Olearius, Johannes 120, 122, 290 Otabe, Tanehisa 105, 205, 290 Palaia, Roberto 131, 290 Pascal, Blaise 153, 182, 290 Paulsen, Friedrich 248, 290 Paulus von Tarsus 45, 263 Petrone, Guiseppe Landolfi 60, 284 Petrus Lombardus 36 Petrus, Apostel 262 Pfordten, Dietmar von der 16, 293 Pieper, Josef 37, 290 Pimpinella, Pietro 93, 290 Pinder, Tillmann 107, 284 Pirillo, Nestore 101, 281 Platon 33, 46, 168, 172, 175, 180, 183, 259, 290, 292, 328 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 23f., 108, 115, 134f., 275, 280, 290 Pope, Alexander 25 Popper, Karl R. 33 Pozzo, Riccardo 49, 92, 189, 289f. Pranteda, Maria Antonietta 113, 142, 279 Prause, Dennis 114, 293 Prauss, Gerold 233, 279 Preiswerk, Rudolf 297 Pringe, Hernán 268 Proba, Anicia Faltonia 263 Publius Syrus 235, 294 Rang, Martin 168, 291 Reich, Klaus 70, 93, 167, 284, 290 Reicke, Rudolf 124, 286 Reimarus, Hermann Samuel 134, 282

303 Reinardt, Elfriede 82, 280 Reinhold, Karl Leonhard 244, 291 Reusch, Christian Friedrich 150, 291 Reusch, Johann Peter 64, 291 Reynolds, Samuel Harvey 243, 274 Ricken, Ulrich 195, 282 Riehl, Alois 110, 117, 291 Ritter, Joachim 28, 279, 287 Robespierre, Maximilien 242, 245 Rocca, Claudio La 104, 267, 291 Rodrigues, Manuel Sánchez 109 Rombach, Heinrich 152, 165, 281 Rosenbach, Manfred 293 Rosenkranz, Karl 219, 245, 292 Röttges, Heinz 222, 238, 291 Rousseau, Jean-Jacques 133, 168, 291 Roustan, Antoine Jacques 243, 291 Rumore, Paola 40, 267, 288 Sadun Bordoni, Gianluca 27, 113, 191, 194f., 203, 210, 267, 276, 285, 291 Savi, Marina 36, 291 Schad, Johann Baptist 24 Schaeffler, Richard 26, 291, 334 Schellenberg, Johann Baptist 262 Schiller, Friedrich 33, 217, 244, 255, 278, 291 Schleiermacher, Friedrich 64 Schlüter, Gisela 14, 267, 282, 287 Schmid, Carl Christian Erhard 55, 277 Schmid, Johann Andreas 120, 291 Schmid, Johann Wilhelm 251, 291 Schmucker, Josef 81 Schoenau, Susanne 82, 280 Schokhin, Wladimir K. 191, 292 Scholz, Oliver R. 46, 48, 292 Schöndörffer, Otto 81, 83, 151, 189, 199, 203, 273, 291 Schönecker, Dieter 218 Schopenhauer, Arthur 219, 292

304 Schröpfer, Horst 21, 136, 243, 253, 274, 282f., 287, 292 Schubert, Friedrich Wilhelm 219, 245, 292 Schultz, Franz Albert 123ff. Schultz, Johann 252f., 289, 293 Schulze, Johann 252, 293 Schütz, Christian Gottfried 21, 23, 136, 243, 251ff., 292 Schwaiger, Clemens 193f., 204, 293 Schweidler, Walter 16, 293 Schwentzel, Johann Ulrich 120, 123, 273 Seneca, Lucius Annaeus 72, 168, 262, 265, 293 Sirovátka, Jakub 264, 268, 280 Smith, Kemp 96 Soilé, Chryssoula 162, 277, 280 Sokrates 167, 171ff., 177, 179ff., 183, 241, 254, 258ff., 268, 275, 279f., 287, 297 Spaemann, Robert 15, 293 Spalding, Johann Joachim 45, 112ff., 172, 293 Sparn, Walter 60 Specht, Rainer 45, 48, 282, 293 Spedding, James 243, 274 Stark, Werner 107, 265, 280, 286 Starke, Christian Siehe Bergk, Johann Adam Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 141 Stavenhagen, Kurt 151, 294 Steinfeld, Thomas 14, 294 Sternbach, Leo 257, 278 Tetens, Johannes Nikolaus 96, 100, 102, 191, 292, 294 Thales von Milet 179, 257 Theis, Robert 17, 28, 249, 267, 282, 286

Personenregister

Thisted, Marcos 268 Thomas von Aquin 36ff., 182, 294 Thomasius, Christian 172, 183, 294, 332 Tieftrunk, Johann Heinrich 86, 88, 93, 284 Tietz, Udo 268 Tolksdorf, Ulrich 149, 294 Tommasi, Francesco Valerio 24, 102, 275, 294, 297 Tonelli, Giorgio 44, 75, 100, 125, 163, 247f., 280, 294 Ulrich, Johann August Heinrich 217, 295 Vaihinger, Hans 68, 96, 219, 295 Veneziani, Marco 18, 110, 131, 268, 281, 290 Vorländer, Karl 91, 295 Walch, Johann Georg 131, 295 Wallerath, Maximilian 53, 212, 281 Walter, Wolfgang 134, 282 Walton, Craig 163, 295 Warda, Arthur 71, 106, 295 Wasianski, Ehregott Andreas Christoph 124, 148ff., 296 Wasmuth, Ewald 182, 290 Weber, Claude 17, 249, 267, 282 Weber, Ludwig 37, 296 Weischedel, Wilhelm 9, 16, 71, 74, 112, 156, 286, 328 Wenzel, Gottfried Immanuel 103, 296 Windfuhr, Manfred 242, 279 Wlömer, Ernst Ludwig 124 Wolff, Christian 17f., 22, 26, 40, 45, 49, 55ff., 67f., 77f., 91, 95f., 105, 109f., 112, 122ff., 131, 134, 136f., 161, 163, 217, 225, 227, 245, 248f., 267, 275f., 278, 282, 286f., 295ff.

Personenregister

Wood, Allen W. 219, 297 Xenophon 167, 171f., 174f., 179, 181, 183f., 186, 258ff., 263f., 268, 273, 278ff., 287, 294, 297 Yamauchi, Shiro 105, 205, 290

305 Zedler, Johann Heinrich 124 Zeller, Dieter 185, 273 Zeltner, Hermann 233, 279 Zenon von Kition 12 Zocher, Rudolf 232, 279 Zöllner, Johann Friedrich 170, 172, 196, 297

Sachverzeichnis

Aberglaube · 48, 74, 158, 250, 283 Analytik - des Verstandes · 95ff., 99, 267 - transzendentale · 95, 252 Anthropologie · 16, 19, 24f., 40, 46, 51, 69f., 112f., 118, 129, 131, 140, 152ff., 165f., 170, 172, 177, 209, 231f., 237, 239, 275, 281ff. Anthropozentrismus - der Wirklichkeit · 15 Antinomien · 74f., 81, 86f., 90f., 94, 100, 108f., 117 f., 120, 125 f., 134, 137, 217 ff., 222 f., 225 f., 237, 248, 277, 280, 287 - Auflösung der - · 223 - der reinen Vernunft · 87 Antithetik · 90, 117 f., 120 ff., 125, 127 f., 142, 218, 268 - der reinen Vernunft · 117 Atheismus · 20, 22, 45 Aufklärung · 9, 21, 26, 36, 40, 43 ff., 62 f., 74, 82, 91, 127, 129, 134, 158, 195 ff., 200 f., 217, 226, 241, 267 f., 274 f., 276, 278 f., 282 f., 284, 287, 289, 292, 295 f. - Dialektik der - · 46 Aufklärungsforschung · 43 Aufklärungsideen · 47 Autonomie · 46, 208, 228, 278 Bestimmung des Menschen · 29, 45, 48, 111 ff., 274 f., 288

Charakter - empirischer · 140 f., 231, 232, 238 - empirischer und intelligibler · 140, 221 f., 230 f. - intelligibler · 140 f., 232 f., 254 - physischer · 140, 232 Christentum · 185, 235, 243, 257, 262, 264, 269 conceptus cosmicus · Siehe Weltbegriff von Philosophie Delphisches Orakel · 16 Determinismus · 140, 142, 217, 220, 224, 226 f., 232, 238, 246 Ding an sich · 17, 19, 70, 88, 98, 100, 137, 140, 219, 221, 225 f., 228, 230 ff., 239, 248 f. Dinge an sich · Siehe auch res sicuti sunt Dogmatismus · 20, 26, 74, 77, 125, 128, 137, 223, 228, 252, 275 Egoismus - logischer · 16 ens inquantum ens · 96 Erkenntnisinteresse · 34, 39, 50, 59 Erkenntnislehre · 15, 18, 102 Erkenntnisvermögen - sinnliches · 69, 70 Ethik · 117, 163, 166, 168, 175, 186, 194, 203, 210, 237 f., 273, 286 - aristotelische · 36, 177

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5

308 - der Griechen · 161, 167, 268 - Gesinnungsethik · 238 - Glückseligkeitsethik · 169 - kantische · 163, 176, 184, 190 ff., 237 f. Maximenethik · 231 Fortschrittsidee · 46 Freiheit · 18 f., 23 f., 44, 47, 91, 110, 131, 134 f., 137, 139, 141, 143, 155, 162, 173, 181, 197 ff., 210, 212, 217 ff., 222 ff., 226, 228, 231 ff., 236 ff., 244 f., 251, 259, 268, 275, 277 ff., 281 - transzendentale · 137, 140, 142 Freiheitsantinomie · 13, 19, 27, 91, 134, 137 ff., 142, 217 f., 221 f., 224, 227, 238, 269, 280, 291 - Auflösung der - · 224, 238 Geschichtsphilosophie · 46, 113, 114, 142, 282 Geschicklichkeit · 69, 108, 165 ff., 193, 194 Gesprächskultur · 33 ff., 39 f., 51, 55, 158, 267 Gewissen · 13, 19, 27, 137 ff., 162, 200 f., 212, 217, 220 f., 223, 229 f., 233 ff., 269, 280 Glaube · 11, 19 f., 22 ff., 26, 101, 121, 198 f., 217, 228, 241, 243 ff., 251, 252, 255, 264, 269, 281 Glück · Siehe Glückseligkeit, Glückseligkeitslehre Glückseligkeit, Glückseligkeitslehre · 154, 164, 166 ff., 172, 174, 176 f., 183 ff., 212, 254 Glückseligkeitsethik · 169 Glücksvorstellung, Glückserwartung · 169, 176, 177, 184, 260

Sachverzeichnis

Gott · 17 f., 23, 24, 26, 45, 67, 69 f., 76, 88, 95, 106, 109, 133, 135, 154, 212, 225, 241 ff., 249, 251, 254 f., 257, 261, 263, 265, 269, 284 Grenzbestimmung - der Vernunft · 19, 20, 101, 137, 228, 244 ff., 250 f. Hermeneutik · 12, 277 Imperative - Dreiteilung der - · 193, 194 - Typologie der - · 162 f., 165 f., 193 Irrtum · 26, 36 ff., 47, 49 f., 76, 83, 111, 121 ff., 127, 180, 259, Siehe auch Unmöglichkeit des totalen Irrtums - Irrtumstheorie · 49 - Vermeidung des - · 10 Jenaer Frühkantianismus · 12, 19, 21 f., 24, 27, 101, 136, 228, 241, 243 f., 250, 252, 269, 281, 282 Kantforschung · 9, 12, 17, 22, 24, 27, 68, 71 f., 88, 91, 102 ff. 108, 132, 151, 191, 193, 219, 230, 250, 275, 277, 283, 286, 292, 319, 321 Kantianismus · 21 ff., 241, 243 f., 251, 253, 274, 282 f., 287, 292 Kategorischer Imperativ · 69, 163, 176, 184, 193 f., 234 f. Kausalität · 18, 135 ff., 139 f., 219 f., 224 f., 227, 229, 233 f., 287, Siehe auch Naturkausalität - aus Freiheit · 224 f., 228 - intelligible · 138, 230 - intelligible und sensible · 221, 228, 230

Sachverzeichnis

Klugheit · 161, 165 ff., 170 f., 176, 178, 193 f., 268 Kontroverstheologie · 117 f., 120 ff., 125 f., 268 Kritizismus · 24, 110, 117 Lebensführung · 25, 28, 40, 147, 149, 152 f., 158, 178, 181, 185 f. Lesekultur · 55, 61, 267 Menschenvernunft - allgemeine · 48, 121, 147, 150, 152, 154, 158, 268 Menschenverstand - gemeiner · 19, 245 Menschenwürde · 16, 191, 203, 205 ff., 268 Metaphysik · 16 f., 19 f., 22 ff., 26, 28, 37, 49, 50, 60, 63, 67, 75 f., 78, 87, 91 f., 95, 100 f., 104, 108 f., 114, 122, 126, 128 f., 132 f., 135, 137 f., 142, 156, 162 ff., 175, 177 f., 183, 189 ff., 203, 206 f., 210 ff., 218, 220, 228 f., 233 f., 235, 237, 245 ff., 249 f., 252 f., 264, 267 ff., 273, 275, 277 ff., 282, 284 ff. Methode - polemische · 125 ff. - scholastische · 221 - skeptische · 37, 90, 122, 126 f. Moral · 34, 39, 61, 90, 114, 133, 138, 163 f., 183, 230, 237, 243, 251, 262, 274 Moralität · 19 f., 39, 50, 133, 141, 143, 157, 192, 208, 210, 238, 254 Mündigkeit · 44, 48, 206, 276 mundus intelligibilis · 17, 21, 23, 69 f., 87 ff., 99, 154, 228, 248, 250, 255 mundus moralis · 70, 154 mundus phaenomenon · 69 f.

309 mundus sensibilis · 20, 69, 70, 87 f., 99, 154, 228, 247 f., 250 Natur · 18, 25, 114, 131 ff., 135, 136 f., 141, 154, 168, 170, 211 f., 226 f., 229, 233, 238, 242, 254 f. - als Regelwerk · 134 - Dasein der Dinge · 135 - der Menschenvernunft · 121 - der Vernunft · 110 - des Menschen · 123 - Gesetze der - · 18, 133 - Gesetzmäßigkeit der - · 134 f., 139 - menschliche · 131, 237 - Naturkausalität · Siehe Naturkausalität - Naturzweck · 131 - Ordnung der - · 133 - und Freiheit · 18, 19, 110, 131, 134, 137, 222, 268, 281 - und Geschichte · 142 - und Gnade · 28, 134 - und Welt · 135 - vernünftige · 208 Naturauffassung Kants · 18, 136 Naturgesetz · 18, 131, 136, 140, 226, 232 Naturgesetze · Siehe Natur:- Gesetze der Naturkausalität · 21, 139, 142 f., 220, 224 f., 228 Neoplatonismus · 25 Neukantianismus · 14 Nichtwissen - sokratisches · 21, 173, 177, 180, 182, 259 ff., 263, 265, 282 Noumena · 87 f., 169, 242 novus rerum ordo · 12, 22 f., 26, 255, 275

310 Ontologie · 46, 63, 77, 95 f., 98, 100 ff., 139, 230, 267, 292 - und Logik · 100 Pflicht · 44, 157, 161, 169, 176 f., 179, 184, 196 f., 200, 206, 229, 262, 264, 268, 280 - Gewissenspflicht · 52, 279 - moralische · 193 - Rechtspflichten · 208 - Tugendpflichten · 206, 208 Phaenomena · 87, 131, 247 Pluralismus · 16, 50 f., 158, 287 - logischer · 15 f. - moralischer · 15 Politik · 46 f., 209, 237, 292 Radikaler Konstruktivismus · 18 Rechtsphilosophie · 190, 194, 203, 210 Reich der Zwecke · 70, 191, 207 f., 233 Religion · 43, 45, 52, 74, 118, 120, 125, 131, 182, 196, 198 ff., 236, 242 f., 252, 263 f., 275, 283 Religionsphilosophie · 28, 114, 124 f., 230, 275, 283 res sicuti sunt · 20, 98, 248 f. Rezeptionsgeschichte Kants · 9, 12, 21, 23 f., 27, 74, 98, 125, 195, 230, 232, 241, 250 ff., 278, 280, 282 Rigorismus Kants · 176, 184 sapere aude · Siehe Selbstdenken Scholastik · 77 Schulbegriff von Philosophie · 103, 106 ff., 110 Schwärmerei · 44, 48, 74, 250, 283 Selbstbestimmung · 212 Selbstdenken · 10, 26, 44, 48, 276 Selbsterfahrung · 12, 21 ff., 253, 255, 275

Sachverzeichnis

Selbsterkenntnis · 15, 25, 179, 257, 260 Sinnenwelt · 17, 24, 88, 229, 249, 254, Siehe auch mundus sensibilis Sittengesetz · 141 f., 176, 184, 234, 254 Sittlichkeit · 45, 165, 171, 193 f., 207, 210, 254 Skeptizismus · 26, 122, 127 Stoa · 180, 238, 259, 262 Studium Polemicum · Siehe Antithetik Transzendentalphilosophie · 37, 75, 81, 86, 89, 91, 95, 100, 102, 118, 125, 142, 268, 281, 294, 318 Tugend · 40, 59, 175, 192, 194, 205, 244 - sokratische · 177 Unglaube · 20 Universalisierung · 16 Unmöglichkeit des totalen Irrtums · 36 f., 49 Vernunft · 11, 20, 22, 26, 36, 47, 50, 53, 60, 106, 123, 125, 127 f., 131, 135, 151, 154, 156, 161, 170, 177 f., 208, 210, 212, 236, 238, 244, 264, 275, 277, 281, 283, 287, Siehe auch Grenzbestimmung der Vernunft - Antinomien der - · 90 f., 94, 100, 109, 117 f., 126, 134, 137, 218, 220 ff., 226, 237 f., Siehe auch Freiheitsantinomie - der Anderen · 16, 36, 51, 56, 155 - entfremdende · 47 - fremde · 155 - höchste · 254

311

Sachverzeichnis

- menschliche · 20, 22, 26, 28 f., 50, 107 f., 112, 114, 132, 136, 154, 269 - öffentlicher und privater Gebrauch · 197, 199, 201 - praktische · 15, 21, 24, 138, 171, 184, 211, 221 ff., 229 f., 233 ff. - reine · 14, 18 ff., 23, 27, 29, 64, 68, 73, 81, 83, 87, 90, 93, 95 f., 98 ff., 108, 110 ff., 117, 120 f., 126, 128 f., 131, 135 ff., 161, 185, 209, 218 ff., 224 ff., 239, 241 ff., 248, 250 ff., 269 - reine praktische · 68, 138 f., 229 f., 234 - reine theoretische · 68, 234 - sittliche · 234 - und Glaube · 22 - und ihre letzten Zwecke · 106 f. - und ihre Selbsterhaltung · 26 - und Naturgesetz · 136 - vor aller Erfahrung · 101 - Widerstreit der - · 86 f. Vernunftglaube · 129 Vernunftkritik · 23 f., 27, 48, 142, 226, 228, 242, 246, 250, 283 Vernunftunglaube · 26

Verstandesbegriffe - reine · 98, 101 Verstandesgebrauch - logischer · 69, 97 - realer · 23, 97 ff., 101, 255 - transzendentaler · 99, 101 Verstandeswelt · 70 f., 88, 109, 249, Siehe auch mundus intelligibilis Vorurteil · 16, 20, 36, 40, 48, 58, 93, 100, 120, 129, 154, 226, 246, 248 Wahrheit · 12, 15, 18 f., 26, 34 ff., 41, 50, 57 ff., 61, 77, 122 f., 127 f., 136, 155, 166, 172, 177, 196, 277 - empirische · 136 - transzendentale · 63 Weisheit · 114, 165, 194 Weltbegriff von Philosophie · 29, 57, 103 f., 107 ff., 115, 267, 287 Wissen · 11, 15, 20, 34, 168, 177, 181 f., 212, 251, 259 Wohlfahrtsstaat · 47, 52 f., 212, 281 Würde · Siehe Menschenwürde Zweck an sich · 191, 207, 210 Zwei-Welten-Theorie · 17, 88

Zum Verfasser

Norbert Hinske, Lic. phil., Dr. phil. Dr. h. c. theol., geb. 1931 in Berlin, war von 1970 bis 1997 o. Professor der Philosophie an der Universität Trier. Er studierte Philosophie, Katholische Theologie und Gräzistik von1949 bis 1956 in Sankt Georgen, in Pullach am Berchmans Kolleg und an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Ab 1958 war er Assistent bei Wilhelm Weischedel an der Freien Universität Berlin, ab 1969 dort Wissenschaftlicher Rat und Professor; 1970 wurde er ordentlicher Professor der Philosophie an der Doppeluniversität Trier-Kaiserslautern – seit 1975 Universität Trier. Seine Lieblingsautoren sind Platon und Gottfried Benn. Im Sommer 1991 war Hinske Gastprofessor an der Friedrich Schiller-Universität Jena. Er ist ordentliches Mitglied der Italienischen Akademie der Wissenschaften – Accademia Nazionale dei Lincei –, korrespondierendes Mitglied der Accademia Senese degli Intronati, Ehrenmitglied der Japanischen Kant-Gesellschaft und Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Hinske ist Herausgeber des häufig zitierten Sammelbandes Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, 1973, 41990, sowie der von ihm 1982 begründeten Reihe Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Neben zahlreichen Aufsätzen und Herausgeberschaften zählen zu seinen wichtigsten Buchveröffentlichungen: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, 1970, italienisch 1987; Kant als Herausforderung an die Gegenwart, 1980, japanisch 1985, 21987, koreanisch 2004; Lambert-Index, 4 Bde., 1983–1987; Lebenserfahrung und Philosophie, 1986, japanisch 1993; Kant-Index, 1986 ff., bisher 26 Bde.; Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, 1998, italienisch 1999, russisch 2007; Hinske ist Herausgeber mehrerer Reihen und zahlreicher Einzeleditionen; sein Schriftenverzeichnis umfasst nahezu 300 Titel von Büchern, Aufsätzen, Zwischenrufen und Buchbesprechungen; es findet sich in Facetten der Kantforschung. Ein internationaler Querschnitt. Festschrift für Norbert Hinske zum 80. Geburtstag, hg. v. Christoph Böhr u. Heinrich P. Delfosse, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 143–170.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5

Zum Herausgeber

Böhr, Christoph, Professor Dr., geb. 1954, ao. Professor am Institut für Philosophie der Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz/Wien, Gründer und Leiter der Forschungsstelle ‚Colloquium Metaphysicum Sancrucense‘ ebendort, arbeitete nach seinem Studium der Philosophie, Politikwissenschaft, Germanistik und Neueren Geschichte zunächst im Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages sowie als Mitarbeiter an der Universität und war von 1987 bis 2009 Abgeordneter – und Oppositionsführer – im Landtag. Er wurde mit einer Arbeit über die Philosophie für die Welt promoviert; Böhr ist Herausgeber der Reihe Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, Wiesbaden 2012 ff., bisher 24 Bände, der Wojtyła Studien, Berlin 2016 ff., der 2022 neu begründeten Reihe Colloquium Metaphysicum sowie Mitglied im International Editorial Advisory Board der Zeitschrift Ethos, Lublin. Neben einer Vielzahl von Zeitungsbeiträgen und Aufsätzen liegen von ihm zahlreiche Buchveröffentlichungen zu philosophischen und politischen Fragen vor, zuletzt: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003; Der Maßstab der Menschenwürde. Christlicher Glaube, ethischer Anspruch und politisches Handeln, Köln 2003; Gesellschaft neu denken, Frankfurt am M. 2004; Arbeit für alle – kein leeres Versprechen; Köln 2005; Friedrich Spee und Christian Thomasius. Über Vernunft und Vorurteil. Zur Geschichte eines Stabwechsels im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Trier 2005, 2006; Eine neue Ordnung der Freiheit, Osnabrück 2007 (Mitherausgeber und Koautor); Facetten der Kantforschung. Ein internationaler Querschnitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (Mitherausgeber und Koautor); Glaube, Gewissen, Freiheit. Lord Acton und die religiösen Grundlagen der liberalen Gesellschaft, Wiesbaden 2015 (Mitherausgeber und Koautor); Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes. Das Symbol, seine Anthropologie und die Kultur des säkularen Staates, Wiesbaden 2016 (Herausgeber und Koautor); Europa und die Anthropologie seiner Politik. Der Mensch als Weg der Geschichte – Zur Philosophie Karol Wojtyłas, Berlin 2016 (Mitherausgeber und Koautor); Zum Grund des Seins. Metaphysik und Anthropologie nach der Postmoderne – Rémi Brague zu Ehren, Wiesbaden 2016 (Herausgeber und Koautor); Gott denken. Zur Philosophie von Religion.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 N. Hinske, Vernunft, Wissen, Glaube, Colloquium Metaphysicum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40632-5

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Zum Herausgeber

Richard Schaeffler zu Ehren, Wiesbaden 2019 (Mitherausgeber u. Koautor); Christentum und Politik – Kohärenzen und Dissonanzen: eine russisch-deutsche Sicht auf die Geschichte im 20. Jahrhundert, hg. v. Christoph Böhr, Wiesbaden 2019 (Mitherausgeber u. Koautor); Metaphysik – von einem unabweislichen Bedürfnis der menschlichen Vernunft. Rémi Brague zu Ehren, hg. v. Christoph Böhr, Wiesbaden 2020 (Herausgeber und Koautor); Das Gute, Wahre und Schöne. Zur Aktualität der Lehre von den Transzendentalien, Heiligenkreuz 2020 (Mitherausgeber und Koautor); Anthropologie und Ethik der Biomedizin. Grundlagen und Leitfragen, Wiesbaden 2021 (Mitherausgeber und Koautor); Sein und Seiendes. Ens, unum, bonum, verum: die Erkenntnislehre der Transzendentalien als Seinsbestimmungen und ihre fortwirkende Bedeutung in der Gegenwart, Wiesbaden 2022 (Mitherausgeber und Koautor).