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German Pages 575 Year 2000
Europäische Sozialgeschichte Festschrift für Wolfgang Schieder
Historische Forschungen Band 68
Europäische Sozialgeschichte Festschrift für Wolfgang Schieder
Herausgegeben von Christof Dipper, Lutz Klinkhammer und Alexander Nützenadel
Duncker & Humblot . Berlin
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Friedrich Ebert Stiftung, der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Vereins der Freunde und Förderer der Universität zu Köln e.V.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Europäische Sozialgeschichte: Festschrift für Wolfgang Schieder / Hrsg.: Christof Dipper .... - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Historische Forschungen; Bd. 68) ISBN 3-428-09843-9
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-09843-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 00
Vorwort Wolfgang Schieder vollendet am 2. September 2000 sein 65. Lebensjahr. Freunde, Schüler und Kollegen möchten ihm zu diesem Anlaß eine Festschrift widmen, die seine wissenschaftlichen Leistungen würdigen soll. Herausgeber und Autoren waren sich einig, daß dies am besten dadurch geschehen könne, daß sie sozialhistorische Fragen der europäischen Geschichte aufgreifen. Wolfgang Schieder gehört zu den Mitbegründern der modernen Sozialgeschichte in Deutschland. Als Schüler Werner Conzes hat er dazu beigetragen, daß diese Forschungsrichtung seit den späten sechziger Jahren eine führende Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft erlangte. Schieder hat dabei stets auf die Notwendigkeit hingewiesen, die historische Entwicklung anderer Länder vergleichend mit in den Blick zu nehmen. Diesem Anspruch ist er während seiner langjährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit an den Universitäten Trier und Köln eindrucksvoll gerecht geworden. Archivstudien und Gastprofessuren führten ihn mehrfach ins Ausland, und Doktoranden, die über internationale Themen promovieren wollten, waren ihm stets willkommen. Auch Schieders Engagement in zahlreichen Gutachtergremien und Wissenschaftsorganisationen zeugt von seiner internationalen Orientierung. So erwarb er sich bleibende Verdienste im deutsch-israelischen Wissenschaftsaustausch und war über viele Jahre hinweg Mitglied im Auswahlausschuß der Alexander von Humboldt-Stiftung. Besonders intensiv hat er sich um die Beziehungen zur italienischen Geschichtsforschung gekümmert. Seit vielen Jahren ist er dem Deutschen Historischen Institut in Rom verbunden. Die von ihm 1974 gegründete "Arbeitsgemeinschaft für die neueste Geschichte Italiens" hat entscheidende Impulse für die deutsche Italienforschung gegeben. Dafür wurde er 1996 von der Universität Bologna mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Der Titel "Europäische Sozialgeschichte", der für die Festschrift gewählt wurde, entspricht dem wissenschaftlichen Selbstverständnis des Geehrten daher in besonderer Weise. Sozialgeschichte wird hier so weit gefaßt, wie es Wolfgang Schieder stets gefordert hat. Denn sein Interesse blieb nie auf die "klassischen" Themen der Sozialgeschichte begrenzt, obschon seine grundlegenden Forschungen zur Arbeiterbewegung, zur napoleonischen Säkularisationspolitik und zum italienischen Faschismus dieser Ausrichtung verpflichtet sind. Darüber hinaus hat er sich stets um die Anschlußfähigkeit der Sozialgeschichte an neue Fragestellungen und Gegenstandsbereiche bemüht. Seine begriffsgeschichtlichen Studien haben in ihm frühzeitig ein Gespür für die eigenständige Bedeutung von Sprache geweckt - lange bevor dies unter dem Einfluß moderner Diskurstheorien zu einer allgemeinen Forderung wurde. Und schließlich war Schieder einer der ersten Historiker, der sich in
VI
Vorwort
den siebziger Jahren mit der Rolle von Religion und Volksfrömmigkeit in der Neuzeit befaßt hat. Es ist auch sein Verdienst, daß sich die modeme Kirchen- und Religionsgeschichte inzwischen zu einem viel beachteten und innovativen Forschungszweig entwickelt hat. Auch der vorliegende Band dokumentiert, daß sich die Sozialgeschichte in einer Phase des Umbruchs und der Neuorientierung befindet. Die ersten drei Abschnitte - Politische Bewegungen und Regime, Revolutionen und Umbrüche, Klassen und Professionen - sind eher dem Spektrum klassischer sozialhistorischer Forschung zuzuordnen, auch wenn einzelne Beiträge methodisch darüber hinausweisen. Noch stärker gilt letzteres für die darauffolgenden Themengruppen Mentalitäten und Kulturen sowie Diskurse und Identitäten. Und wenn der Abschnitt Methodik und Historiographie der Sozialgeschichte viele Beiträge vereint, so mag dies ebenfalls ein Anzeichen für die Neuorientierung der Disziplin sein. Die Herausgeber haben dies begrüßt, zumal der Geehrte stets die Notwendigkeit einer theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft betont hat. Die Herausgeber möchten allen Autoren für ihre Beiträge und die reibungslose Zusammenarbeit danken. In diesen Dank seien ausdrücklich alle diejenigen Kollegen eingeschlossen, die sich gerne an der Festschrift beteiligt hätten, aber schließlich doch aus Zeitmangel oder wegen Arbeitsüberlastung absagen mußten. Für finanzielle Unterstützung danken wir der Friedrich Ebert Stiftung, der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem Verein der Freunde und Förderer der Universität zu Köln e. V. Unser Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. h. c. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot für die Bereitschaft, die Festschrift in seinem Hause zu veröffentlichen. Ein Buch wie dieses hätte ohne die tatkräftige Unterstützung zahlreicher Helfer nie entstehen können. Die Herausgeber bedanken sich daher herzlich bei Giuseppina Amenta in Darmstadt sowie bei Anita Clages, Desirt!e Schauz und Birgit Schmitz in Köln. Christof Dipper, Darmstadt Lutz Klinkhammer, Rom Alexander Nützenadel, Köln
Inhaltsverzeichnis I. Politische Bewegungen und Regime Armin Heinen
Erscheinungsformen des europäischen Faschismus
3
Alexander Nützenadel
Faschismus als Revolution? Politische Sprache und revolutionärer Stil im Italien Mussolinis ..........................................................................
21
Hans Mommsen
Die nationalsozialistische Machteroberung: Revolution oder Gegenrevolution
41
Brunello Mantelli
Die Italiener auf dem Balkan 1941-1943
57
Klaus von Beyme
Stalinismus und Post-Stalinismus im osteuropäischen Vergleich
75
11. Revolutionen und Umbruche Pierangelo Schiera
Überlegungen zum Problem des Konstitutionalismus in Europa im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert.............................................................
93
Wolfgang J. Mommsen
Die zweite Revolution, die nicht sein sollte: Die Reichsverfassungskampagne: die letzte Phase der Revolution von 1848/1849 ......................................... 113 Jürgen Heideking
t
Zwei Amerikabilder in der deutschen Verfassungsdebaue 1848/49 .................. 127
VIII
Inhaltsverzeichnis
Christoph Nonn Ländlicher Kommunalismus und liberaldemokratische Bewegung in der Revolution von 1848/49 ........................................................................ 141
Helmut Berding Aufbruch zur Demokratie im Hessen der Nachkriegszeit.............................
157
III. Klassen und Professionen Rainer Hudemann Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf? Zu deutsch-französischen Spannungsfe1dem seit dem 19. Jahrhundert ............................................................ 173
AmoldEsch Namenlose auf Italienreise. Handwerker, Arbeitssuchende, Vagabunden in der Dokumentation eines deutschen Hilfsvereins in Rom 1896-1903 ......................... 185
Calixte Hudemann-Simon L'exercice de la medecine liberale et le statut des medecins au XIXe siede (GrandeBretagne, France, Allemagne et Russie) ............................................. 203
Hans-Peter Ullmann "Der Kaiser bei Wertheim" - Warenhäuser im wilhelminischen Deutschland ........ 223
Eberhard Kolb Streikrecht für Beamte? Der Februarstreik 1922 der Reichsbahnbeamten ............ 237
IV. Mentalitäten und Kulturen Hartmut Lehmann Säkularisierung und Gewalt in der modemen Welt ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 259
Innocenzo Cervelli Medor, der jakobinische Hund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 269
Inhaltsverzeichnis
IX
Lutz Klinkhammer
Der junge Friedrich Engels als Kritiker seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 275 Hansl1Ulrtin Schwarzl1Ulier
Die Großherzöge von Baden und Italien - Haustradition und Denkfonnen in der Zeit der nationalen Einheitsbewegung. Mit einern Brief von Ferdinand Gregorovius ...... 297 Gabriele B. Clemens
"Schläfriger und geistloser als Konstantinopel im Mittelalter" - Das römische Assoziationswesen(l815-1870) ......................................................... 317 Moshe Zimmermann
Die Religion des 20. Jahrhunderts: Der Sport ........................................ 331
V. Diskurse und Identitäten Walter Rummel
,Weise' Frauen und ,weise' Männer im Kampf gegen Hexerei. Die Widerlegung einer modemen Fabel ................................................................. 353 Volker Sellin
Napoleon auf der Säule der Großen Annee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals
377
Stuart Woolf
The political discourse of Italian regionalism: the example of the Valle d' Aosta . . . . .. 403 Martin H. Geyer
Die Sprache des Rechts, die Sprache des Antisemitismus: "Wucher" und soziale Ordnungsvorstellungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik ..................... 413 Jost Dülffer
Krieg und Frieden bei Max Scheler . . . . .. . . . .. .. .. . .. . . . .. . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . . . . . ... 431 Heinrich August Winkler
Das Paradox als Paradigma. Von der Weimarer Republik zu den Lehren aus Weimar 447
x
Inhaltsverzeichnis VI. Methodik und Historiographie der Sozialgeschichte
Hans-Ulrich Wehler
Emotionen in der Geschichte. Sind soziale Klassen auch emotionale Klassen? ....... 461 Jürgen Kocka
Zivilgesellschaft als historisches Projekt: Moderne europäische Geschichtsforschung in vergleichender Absicht ........................................................... 475 Christo! Dipper
Italien und Deutschland seit 1800: Zwei Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne 485 Jens Petersen
Der Ort Mussolinis in der Geschichte Italiens nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 505 Claus D. Kernig
Überlegungen zur Globalisierung der Sozialgeschichte .............................. 525 Wilhelm Voßkamp
Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften ............................................................................. 543
Veröffentlichungen von Wolfgang Schieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 547
Von Wolfgang Schieder betreute Dissertationen und Habilitationen ................ 555
Tabula Gratulatoria Abelshauser, Werner (Bielefeld)
Dann, Otto (Köln)
Adler, Winfried (Stuttgart)
Dilcher, Gerhard (Königstein/Ts.)
Alexander, Manfred (Köln)
Dipper, Christof (Darmstadt)
Alexander von Humboldt-Stiftung (Bonn)
Dowe, Dieter (Bonn)
Anton, Hans Hubert (Trier)
Düding, Dieter (Köln)
von Aretin, Karl Otmar Frh. (München) Aschheim, Steven E. (Jerusalem) Bade, Klaus 1. (Osnabrück) Bauer, Franz (Regensburg) Behnen, Michael (Göttingen) Berchem, Theodor (Bonn) Berding, Helmut (Gießen) von Beyme, Klaus (Heidelberg) Birtsch, Günter (Trier) Blackbourn, David (Cambridge/ Mass.) Bock, Gisela (Berlin) Böhme, Helmut (Darmstadt) Bollmus, Reinhard (Trier) Borchardt, Knut (München) Borejsza, Jerzy (Warschau) Bracher, Karl Dietrich (Bonn)
Duchhardt, Heinz (Mainz) Düljfer, Jost (Köln) Düwell, Kurt (Düsseldorf)
Eck, Werner (Köln) Elze, Reinhard (München) Engelhardt, Ulrich (Heidelberg) Engels, Odilo (Köln) Esch, Amold (Rom) Fait, Barbara (Köln) Falter, Jürgen (Mainz) Fischer, Wolfram (Berlin) Foerster, Cornelia (Bielefeld) Frei, Norbert (Bochum) Frevert, Ute (Bielefeld) Fried, Johannes (Frankfurt a. M.) Frühwald, Wolfgang (München) GaU, Lothar (Frankfurt a. M.)
Braun, Rudolf (Basel)
Gerteis, Klaus (Trier)
von den Brincken, Anna-Dorothee (Köln)
Geyer, Martin H. (München)
Burian, Peter (Köln)
Gherardi, Raffaella (Bologna)
Cervelli, Innocenzo (Rom)
Gilcher-Holtey, Ingrid (Bielefeld)
Clemens, Gabriele (Gutweiler)
Graf, Friedrich Wilhelm (München)
Clemens, Lukas (Trier)
Grimm, Dieter (Karlsruhe)
Geyer, Dietrich (Tübingen)
XII
Tabula Gratulatoria
Grunwald. Reinhard (Bonn)
Kaschuba. Wolfgang (Berlin)
Hammermann. Gabriele Elisabeth (München)
Kasper-Holtkotte. Cilli (Mannheim)
Hardtwig. Wolfgang (Berlin)
Kaufmann. Doris (Berlin)
Harstick. Hans-Peter (Braunschweig) Haupt. Heinz-Gerhard (Bielefeld) Haupts. Leo (Köln) Haverkamp. Alfred (Trier) Heideking. Jürgen (Köln) Heil. Peter (Bonn) Heinen. Arrnin (Aachen) Heinen. Heinz (Trier) Heinz. Joachim Paul (Hettenleide1heim) Hellmuth. Eckhart (München) Helmrath. Johannes (Berlin) Hemfort. Elisabeth (Düsseldorf) Hempe. Mechthild (Köln) Herbert. Ulrich (Freiburg i. Br.) Herres. Jürgen (Berlin) Hertner, Peter (Halle) von Hesberg. Henner (Köln) Heyen. Franz-Josef (Koblenz) Hildermeier, Manfred (Göttingen) Hirschfeld. Gerhard (Stuttgart) Hölkeskamp. Karl-Joachim (Köln)
Kater, Michael H. (Toronto) Kelter, Hagen (Münster) Kernig. Claus-Dieter (Müllheim / 8.) Kershaw. lan (Sheffield) Kleßmann. Christoph (Potsdam) Klinkhammer, Lutz (Rom) Klueting. Harm (Köln) Kocka. Jürgen (Berlin) Kohle. Hubertus (Köln) Kolb. Eberhard (Köln) Költing. Bemd (Berlin) Koltes. Manfred (Weimar) König. Bemhard (Köln) Koselteck. Reinhart (Bielefeld) Kuck. Gerhard (Rom) Kunisch. Johannes (Köln) Lammers. Karl Christian (Kopenhagen) Langewiesche. Dieter (Tübingen) Lehmann. Hartmut (Göttingen) Lepenies. Wolf (Berlin) Lepsius. M. Rainer (Heidelberg) Lilt. Johannes (Köln)
Hudemann. Rainer (Saarbrücken)
Lüst. Reimar (Hamburg)
Hudemann-Simon. Calixte (Saarbrükken)
Mandt. Hella (Trier) Mangoni. Luisa (Rom)
Hunecke. Volker (Berlin)
Mantelli. Brunello (Turin)
Irsigler, Franz (Trier)
Mares. Detlev (Darmstadt)
Jenal. Georg (Köln)
Matheus. Michael (Mainz)
Kabagema. Innocent (Abidjan)
Matzerath. Horst (Köln)
Kaelble. Hartmut (Berlin)
Mault. Hanns W. (Trier)
Kalmer, Georg (München)
Merkei. Wolfgang (Heidelberg)
Kappeier, Andreas (Wien)
Meuschel. Sigrid (Berlin)
Tabula Gratulatoria
Meuthen, Erich (Köln)
Romani, Luigi (Köln)
Mommsen, Hans (Bochum)
Rummel, Walter (Koblenz)
Mommsen, Wolfgang J. (Düsseldorf)
Rürup, Reinhard (Berlin)
Mooser; Josef (Basel)
Rusconi, Gian Enrico (Turin)
Moraw, Peter (Gießen)
Schauz, Desiree (Köln)
Morkel, Amd (Trier)
Schieffer; Rudolf (München)
Müller; Heribert (Frankfurt a. M.)
Schiera, Pierangelo (Berlin)
Müller; Michael (Bonn)
Schneider; Gabriele (Berlin)
N(ünkler; Herfried (Berlin)
Schneider; Ute (Darmstadt)
Nonn, Christoph (Köln)
Schölzel, Stephan (Hagen)
XIII
Nünning, Vera (Köln)
Schänhoven, Klaus (Mannheim)
Nützenadel, Alexander (Köln)
Schreiner; Reinhard (Sankt Augustin)
Oestereich, Christopher (Berlin)
Schulz, Günther (Bonn)
Oexle, Dtto Gerhard (Göttingen)
Schulze, Reiner (Münster)
Olesen, Thorsten Borring (Arhus )
Schulze, Winfried (München)
Osten, Manfred (Bonn)
Schwarz, Hans-Peter (Bonn)
@stergaard, Uffe (Arhus)
Schwarzmaier; Hansmartin (Karlsruhe)
Osterhammel, Jürgen (Konstanz)
Sellin, Volker (Heidelberg)
Pabst, Klaus (Aachen)
Sheehan, James (Stanford/Cal.)
Pape, Walter (Köln)
Siegenthaler; Hansjörg (Zürich)
Paravicini, Wemer (Paris)
Steinbach, Peter (Berlin)
Pelger; Hans (Trier)
Stollberg-Rilinger; Barbara (Münster)
Petersen, Jens (Rom)
Stolleis, Michael (Frankfurt a. M.)
Petri, Rolf (Halle)
Strupp, Christoph (Düsseldort)
Pierenkemper; Toni (Köln)
Struve, Tilman (Köln)
Prien, Hans-Jörg (Köln)
Szöllösi-Janze, Margit (München)
Prodi, Paolo (Bologna)
Tanner; Jakob (Zürich)
Puhle, Hans-Jürgen (Frankfurt a. M.)
Tenfelde, Klaus (Bochum)
Pyta, Wolfram (Stuttgart)
Thamer; Hans-Ulrich (Münster)
Raphael, Lutz (Trier)
Tilly, Richard H. (Münster)
Regge, Jürgen (Köln)
Ullmann, Hans-Peter (Köln)
Retallack, James (Toronto)
Ullrich, Hartmut (Kassel)
Richter; Ludwig (Köln)
Vierhaus, Rudolf (Göttingen)
Ridder; Helmut (Gießen)
Volkov, Shulamit (Tel-Aviv)
Ritter; Gerhard A. (München)
Vones, Ludwig (Köln)
XIV
Tabula Gratulatoria
Voßkamp, Wilhelm (Köln)
Winkler, Dörte (Berlin)
Wapnewski, Peter (Berlin)
Winkler, Heinrich August (Berlin)
Wehler, Hans-Ulrich (Bielefeld)
Woller, Hans (München)
Weis, Eberhard (München)
Wollstein, Günter (Köln)
Weisbrod, Bemd (Göttingen)
Woolf, Stuart (Venedig)
Wende, Peter (London)
?ahmt, Michael (Köln)
WentzlaJf-Eggebert, Christian (Köln)
Zeuske, Michael (Köln)
Wemer, Karl Ferdinand (RottachEgem)
Zwahr, Hartrnut (Leipzig)
Zimmermann, Moshe (Jerusalern)
I. Politische Bewegungen und Regime
Erscheinungsformen des europäischen Faschismus* Von Armin Reinen Während in den sechziger und siebziger Jahren der Faschismusverdacht einen Gutteil der zeitgeschichtlichen Debatte in der Öffentlichkeit bestimmte, hat die Auseinandersetzung in den letzten Jahren eine andere Richtung genommen. Vor allem der sogenannte Ristorikerstreit' und zuletzt die Goldhagen-Debatte 2 waren es, die das Einzigartige des nationalsozialistischen Terrorregimes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zurückgebracht haben.
* Der Beitrag ist aus einem Vortragsmanuskript entstanden. Der Stil der Darlegung wurde beibehalten. 1 Dan Diner (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1989; Richard J. Evans, Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und VergangenheitsbewäItigung in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1991; Bernd Faulenbachl Rainer Bölling, Geschichtsbewußtsein und historisch-politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum "Historikerstreit", Düsseldorf 1988; Helmut Fleischer; Zur Kritik des Historikerstreits, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41, 1988, S. 3 - 14; Imanuel Geiss, Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit, Beriin 1988; ders., Der Hysterikerstreit. Ein unpolemischer Essay, Bonn 1992; Eike Hennig, Zum Historikerstreit. Was heißt und zu welchem Zweck studiert man Faschismus?, Frankfurt am Main 1988; Harold James, Vom Historikerstreit zum Historikerschweigen, Berlin 1993; Jürgen Kocka, Deutsche Identität und historischer Vergleich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41, 1988, S. 15 - 28; Charles Maier; Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und die nationale Identität der Deutschen, Frankfurt am Main 1992; Wolfgang Marienfeld, Der Historikerstreit, Hannover 1987; Ernst Nolte, Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, 2. Aufl., Beriin 1988; Ernst Nolte, Streitpunkte - heutige und zukünftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Berlin 1993; Wolfgang Schieder; Der Nationalsozialismus im Fehlurteil philosophischer Geschichtsschreibung. Zur Methode von Ernst Noltes "Europäischer Bürgerkrieg", in: Geschichte und Gesellschaft 15, 1989, S. 89-114; Hans-Ulrich Wehler; Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum "Historikerstreit", München 1988. Zur italienischen Variante des "Historikerstreits": Wolfgang Schieder; Faschismus als Vergangenheit. Streit der Historiker in Italien und Deutschland, in: Walter H. Pehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt am Main 1990, S. 135 -154. 2 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Die Debatte: Volker Peseh, Die künstlichen Wilden. Zu Daniel Goldhagens Methode und theoretischem Rahmen, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 152-162; Dieter Pohl, Die Holocaust-Forschung und Goldhagens These, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 45, 1997, S. 1-48; Julius H. Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996. 2 FS Schieder
4
Armin Heinen
Wenngleich sich also das Interesse verschoben hat, bleibt festzuhalten, daß die internationale Faschismusforschung3 inzwischen eine ausreichend präzise Vorstellung von ihrem Gegenstand gewonnen hat. Demnach sind die in der Vergangenheit diskutierten allgemeinen Faschismustheorien (Faschismus als Ideologie4 , Faschismus als Ausdruck reaktionärer Klassenherrschaft, Faschismus als Revolte des Mittelstandes, Theorie der Massengesellschaft, Totalitarismus, Faschismus als Aufstand gegen die Modeme) nur bedingt hilfreich. Wolfgang Schieder5 , Stanley G. Payne6 , Hans Mommsen 7 , Martin Broszat8 , lan Kershaw 9 , Hans-Ulrich Thamer JO , Emilio Gentile 11 und andere rekurrieren in ihren Erklärungsansätzen auf Elemente der Modernisierungstheorie, der Theorie sozialer Bewegungen, der Bonapartismustheorie, der Deutung des Faschismus als politischer Religion, schließlich der Theorie charismatischer Herrschaft. Zugleich betonen sie den spezifischen Epochencharakter des Faschismus. Der Faschismusbegriff wird so zur Bezeichnung eines genau zu bestimmenden historischen Phänomens. Der nachfolgende Beitrag will unter Berücksichtigung der genannten Erklärungsansätze auf acht Fragen Antwort geben. 3 Literatumachweis: Jerzy W. Borejsza, Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt am Main 1999; Renzo De Felice (Hrsg.), Bibliografia orientativa dei fascismo, Rom 1991; Philip Rees, Fascism and Pre-Fascism in Europe, 1890-1945. A Bibliography of the Extreme Right, Brighton 1984; Michael Ruck, Bibliographie zum Nationalsozialismus, Köln 1995; neuere Überblickswerke: Roger Eatwell, Fascism. A History, 1996; Pierre Milza, Les fascismes, Paris 1985; Stanley G. Payne, A History of Fascism, 1914-1945, Madison 1995; Marco Tarco (Hrsg.), Fascisti. Le radici di un fenomeno europeo, Florenz 1996; Wolfgang Wippennann, Europäischer Faschismus im Vergleich, 1922-1982, Frankfurt am Main 1983; Hans Woller, Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung, München 1999. 4 So zuletzt noch: Roger Griffin, The Nature of Fascism, London 1991. 5 Wolfgang Schieder, Diskussionsbeitrag, in: Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte. Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München 1983, S. 60-67; ders., Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung, in: Gerhard Schulz (Hrsg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum 2. Weltkrieg, Göttingen 1985, S. 44 - 71; ders., Faschismus, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 177 -195. 6 Stanley G. Payne, A History ofFascism, 1914-1945, Madison 1995. 7 Hans Mommsen, National Socialism. Continuity and Change, in: Walter Laqueur (Hrsg.), Fascism. A Reader's Guide. Analyses, Interpretations, Bibliography, London 1976; ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze zum 60. Geburtstag, Reinbek 1991. 8 Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 2. Aufl., München 1971; ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988. 9 lan Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, München 1980; ders., Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992; ders., Le "mythe du Führer" et la dynamique de I'Etat nazi, in: Annales 43,1988, S. 593-614. 10 Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland, 1933-1945, Berlin 1986. 11 Emilio Gentile, Il culto dei littorio. La sacralizzazione della politica nell' Italia fascista, Rom 1993.
Erscheinungsfonnen des europäischen Faschismus
5
I. Warum ist es so schwierig, den Faschismus zu definieren?
Auf den ersten Blick scheint es ein einfaches Vorhaben, den Faschismus zu beschreiben. Er war Diktatur oder strebte sie an. Extrem nationalistische Einstellungsmuster verbanden sich mit Antikommunismus, Antikapitalismus und einer Kritik an der alten Welt. Die Faschisten trugen Uniformen, neigten zur Gewalt und erklärten die militärisch-hierarchische Organisation als allein geeignet, die vermeintliche politische Unordnung der Gegenwart zu beheben. Freilich, eine solche Aufzählung - das ist der erste Gesichtspunkt - hat den Nachteil, daß eine Vielzahl von politischen Organisationen und Bestrebungen als faschistisch bezeichnet würde, die man keinesfalls mit dem Begriff Faschismus belegen möchte l2 : a) Die konservativ-autoritäre Rechte war nationalistisch, antidemokratisch, antikommunistisch und durchaus offen gegenüber Modellen des Korporatismus. Sie umgab sich vielfach mit den typischen Insignien des Faschismus, mit den Hemden, mit den paramilitärischen Verbänden. Nennen möchte ich beispielsweise den Frontul romanesc Vaida Voevods in Rumänien 13 oder den Frontul renasterii nationale, also die Einheitspartei des Königs Caro1 14 . Ebenso muß die Falange unter Franco als konservativ-autoritär bezeichnet werden l5 . b) Die extreme Rechte hatte z.T. bereits, bevor es faschistische Bewegungen gab, deren ideologische und organisatorische Stilelemente entwickelt. Auffallend ist dies bei Intellektuellenzirkeln wie der Action Fran~aisel6 in Frankreich oder der Associazione Nazionalista ltaliana 17 in Italien, aber auch bei antisemitischen Regionalparteien wie der LANC und PNC in Rumänien 18 oder der stramm anti parlamentarischen, national-chauvinistischen DNVP unter Hugenberg. Vom Faschismus unterschieden sich diese Gruppen und Bestrebungen freilich durch ihren Rationalismus, ihren Elitismus und ihre Orientierung auf den Staat im Unterschied zur Führerdemokratie der Faschisten. 12 Ähnlich bereits: Stanley G. Payne, Fascism. Comparison and definition, Madison 1980, S. 14 ff. 13 Armin Heinen, Die Legion "Erzengel Michael" in Rumänien. Soziale Bewegung und politische Organisation. Ein Beitrag zum Problem des internationalen Faschismus, München 1986, S. 269. 14 Ekkehard Völkl, Rumänien, Regensburg 1995, S. 119 f. 15 Walther L. Bernecker, Spaniens verspäteter Faschismus, in: Geschichte und Gesellschaft 12,1986, S. 197 ff. 16 Nach wie vor in der Darstellung überzeugend, wenn auch mit anderer Bewertung: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 5. Aufl., München 1979, S. 61 ff. S. a. Pierre Milza, Fascisme fran~ais. Passe et present, Paris 1987; Jean-Franrois Sirinelli (Hrsg.): Histoire des droites en France, 3 Bde., Paris 1992; Eugen Weber, Action fran~aise, Stanford 1962. 17 Wilhelm Alff, Die Associazione Nazionalista Italiana von 1910, in: ders., Der Begriff Faschismus und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1971, S. 51-90. 18 Gheorghe T. Pop, Caracterul antinational si antipopular al activitatii Partidului National Crestin, Cluj-Napoca 1978.
2*
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Armin Heinen
c) Die antikommunistischen Ligen waren ebenfalls nationalistisch und gewalttätig. Die Kriegserfahrung prägte ihre Erscheinungsform, sie kannten Uniformen, sie veranstalteten martialisch anmutende Aufmärsche, und sie bewiesen sich im Kampf um die Straße. Die Lapua-Bewegung in Finnland l9 , die französischen Ligen 20 , die Heimwehren in Österreich21 , die Liga der Freiheitskämpfer in Estland 22 könnte man hierzu zählen. Jene Streiter gegen die Linke blieben freilich der bürgerlichen Ordnung verhaftet. Sie wollten den Parteieneinfluß schmälern, doch nicht das politisch-soziale System grundsätzlich abschaffen. Ihre Bewegung verlor die Dynamik, sobald prominente Repräsentanten bürgerlicher Ordnungsvorstellung die politischen Geschicke leiteten (so etwa Konstantin Päts in Estland 23 oder Pehr Evind Svinhufvud in Finnland24 bzw. Gaston Doumergue in Frankreich). d) Auch die Innere Makedonische Revolutionäre Organisation wird man nicht zu den faschistischen Gruppierungen zählen können, trotz ihres nationalistischen Terrorismus. Viel eher entspricht sie dem Typus der balkanischen extrem gewaltsamen Geheimbünde 25 • Ist dieser Sachverhalt - zweiter Gesichtspunkt - für das Vorhaben einer klaren Faschismusdefinition bereits schwierig genug, so wird die Lage dadurch noch komplizierter, daß es keine strikte personelle und organisatorische Trennung zwischen der faschistischen und nichtfaschistischen Rechten gab. An die Stelle der Lapua-Bewegung trat die Vaterländische Volksbewegung, der man durchaus faschismusähnliche Züge nachweisen kann, die steirischen Heimwehren liefen zur NSDAP über, und die rumänische Eiserne Garde erwuchs aus der LANC. Idealtypisch betrachtet - dritter Gesichtspunkt - durchlief der Faschismus in der Bewegungsphase verschiedene Organisationsstufen. Er war National-Sozialismus im eigentlichen Sinne, war Squadrismus, Wahlpartei, terroristische Kaderorganisation. Auch dort, wo er an der Macht beteiligt wurde, kam es zur Ausbildung höchst unterschiedlicher Regime. Darauf wird später zurückzukommen sein. Jedenfalls
19 Lauri Karvonen, From white to blue-and-black. Finnish fascism in the Inter-War Era, Helsinki 1988. 20 Milza (Fn. 16); J. Sirinelli (Hrsg.), Histoire des droites en France, Paris 1993; Robert o. Paxton, Le temps des Chemises vertes. Revoltes paysannes et fascisme rural, 1929 - 1939, Paris 1996; Jean-Christian Petitfils, L'extreme droite en France, Paris 1983; Dieter Wolf, Die Doriot-Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte des französischen Faschismus, Stuttgart 1967. 21 Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung?, Wien 1985. 22 Andres Kasekampf, Das Päts-Regime in Estland, 1934 - 1940, in: Erwin Oberländer u. a. (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmitteleuropa, 1919-1944, Mainz 1995, S. 95-102. 23 Joseph Rothschild, East Central Europe Between the Two World Wars, Seattle 1974, S. 172 f. 24 Karvonen (Fn. 19) S. 24 f. 25 Stefan Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte, 1922-1930, Köln 1987, S. 103 ff.; Rothschild (Fn. 23) S. 323 ff.
Erscheinungsfonnen des europäischen Faschismus
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erklärt der Gestaltwandel einen weiteren Grund, warum es so schwierig ist, den Faschismus zu definieren. Wie also den Faschismus von anderen Erscheinungsformen abgrenzen? Zunächst: Eine Definition darf nicht mit der Beschreibung der Staats struktur einsetzen - sie ist abhängig von der jeweiligen Machtverteilung -, sondern muß die Bewegung zur Grundlage haben. Dann: Der Faschismus war kein klassischer "-ismus", er beruhte nicht auf einer intellektuellen Doktrin, er war soziale Praxis. Wolfgang Schieder26 , Robert Paxton27 , Hans-Ulrich Thamer28 , Emilio Gentile 29 haben diese soziale Praxis beschrieben. Es ist der militaristische Aktionsstil, welcher den Faschismus kennzeichnet, das Selbstverständnis als Bewegung, die Hinwendung zu den Massen, die bündisch-klientelistische Gefolgschaftsstruktur. Der Faschismus war Kampfbund, fascio di combattimento. Alles andere folgt hieraus: der Nationalismus, der Glaube an die Machbarkeit der Welt, der pseudoreligiöse Anspruch, die Ästhetisierung der Politik, die Opposition gegen Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus, der revolutionäre Impetus, der Kult der Jugendlichkeit. Die faschistische Organisation war keine Partei klassischen Typus'. Ihre Funktion resultierte nicht aus dem inneren Willensbildungsprozeß. Sie war Kampfinstrument, glich einem Orden, der sich seiner Rolle als politisch-geistige Elite bewußt war und in Zeremonien und Gelübden bestätigte. Indem der Faschismus auf eine höchst innerweltliche Weise bestrebt war, die säkularisierte Welt wieder zu verzaubern, war er politische Religion 30, allerdings eine ganz besondere, in welcher soldatische Tugenden zum Selbstzweck wurden. "Massenhaft praktizierte Opferbereitschaft, Treue, Unterwerfung und Pflichterfüllung" sollten ein neues, schöneres, gesünderes Land hervorbringen, dessen Gestalt freilich selbst vollkommen unbestimmt blieb. "Aus diesem Grund spielte die gläubige ,Haltung' eine wichtigere Rolle als der Glaubensinhalt,,31. In einer ersten Differenzierung zwischen verschiedenen faschistischen Bewegungen wird man (a) von Imitationsversuchen sprechen können (erwähnt seien: der Francisme Marcel Bucards oder der Partidul national-socialist Stefan Tatarescus). Solche Organisationen blieben immer bedeutungslos. Andere Gruppierungen wie die British Union of Fascists, die Rexisten in Belgien oder die Vaterländische Volksbewegung in Finnland besaßen (b) zumindest gewisse innenpolitische S. o. Fn. 5. Robert O. Paxton, Les fascismes. Essai d'histoire comparee, in: Vingtieme Siecle 45, 1995, S. 3-13. 28 Hans-Ulrich Thamer, Faschismus. Nationalsozialismus. Autoritäre Regime, in: Oberländer (Fn. 22) S. 6-16. 29 S. o. Fn. 5. 30 Philippe Burrin, Die politischen Religionen. Das Mythologisch-Symbolische in einer säkularisierten Welt, in: Michael Ley I Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997, S. 168 -185. 31 Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow 1996, S. 185. 26
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Wurzeln. Aber je mehr sie dem faschistischen Idealbild nacheiferten, um so stärker isolierten sie sich von ihrer Umgebung. So gab es in vielen Ländern faschistische oder dem Faschismus nacheifernde Gruppen, nur in wenigen aber solche (c) von eigenständiger Kraft. Zusammenfassend: Den Faschismus kann man nicht über seine äußeren Merkmale definieren, sondern nur über seinen inneren Strukturzusammenhang. Die äußere Ähnlichkeit mit der Rechten, der gleitende Übergang zu den Rechtsgruppierungen, sein innerer Gestaltwandel erklären die Schwierigkeit einer griffigen Definition. 11. Warum sind überall im Europa der Jahre 1918 bis 1945 faschistische Gruppierungen entstanden? Warum hatte der Faschismus eine solch starke Ausstrahlungskraft?
Der Faschismus - das bleibt mit Nolte festzuhalten - war ein Phänomen seiner Epoche 32 • Er fand sein Fundament in der Krise des bürgerlichen Fortschrittsglaubens, welche überall in Europa Anfang des Jahrhunderts ängstliche Abwehrstellung hervorrief, gegen die venneintliche Enge rationaler Ordnung, gegen das Ausgeliefertsein an die anonyme Masse. Der Faschismus war keine intellektuelle Reaktion, aber er gewann Anerkennung, Respektabilität aus der Fundamentalkritik der Modeme seit Ende des 19. Jahrhunderts. Die Oktoberrevolution erschütterte das Selbstbewußtsein der bürgerlichen und konservativen Kräfte, provozierte irrationale Gegenwehr selbst dort, wo der Kommunismus keine wirkliche Gefahr darstellte. Am wichtigsten wurde der Erste Weltkrieg. Er bot das Vorbild einer im Kampf geeinten Nation. prägte jenen neuen Politikstil, welcher den Faschismus maßgeblich beeinflußte. Er stand am Anfang ungelöster sozialer Probleme, u. a. der Wiedereingliederung ehemals hochgeachteter. jetzt mißtrauisch beäugter. orientierungsloser Frontkämpfer. Er riß in nicht wenigen Ländern die politisch bedrückten Massen aus ihrer Apathie heraus. Hoffnung auf eine bessere Zukunft gab es, auf soziale Refonnen, auf demokratische Erneuerung. Stand der Erste Weltkrieg am Anfang eines allgemein demokratischen Europas, so war er ebenso die Ursache des Zusammenbrechens dieser Ordnung. An Stelle der ehemaligen großen Drei (Österreich, Deutschland, Rußland) belegten jetzt elf Staaten den Platz, revisionistisch die einen, in ängstlicher Abwehrstellung die anderen. Sie sahen sich konfrontiert mit der schwierigen Integration höchst unterschiedlich strukturierter Provinzen, der Wiedereingliederung von Flüchtlingen, der Notwendigkeit des Zusammenlebens mit auffallenden ethnischen Minderheiten. Wirtschaftliche Bande waren mit einem Male zerrissen. Fehlender Grundkonsens, die mangelnde Erfahrung mit demokratischen Verhaltensweisen, Unfähigkeit zur Konfliktregulierung, die Fortführung des "Parlamentarismus der Notabeln" unter 32 Ernst Nolte. Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action fran