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German Pages [752] Year 2021
Juristische
Kurz-Lehrbücher
Gra benwa rter / Pa bei
Europäische Menschen rechtskonvention 7. Auflage
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C.H.BECK
MANZ '1
Europäische Menschenrechtskonvention Ein Studienbuch
von
Dr. Dr. Christoph Grabenwarter Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien Präsident des Verfassungsgerichtshofs Österreich und
Dr. Katharina Pabel Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien
7. Auflage, 2021
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Zitiervorschlag: Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 5
www.beck.de ISBN ISBN ISBN ISBN
(C. H. Beck) Print 978 3 406 75106 6 (C. H. Beck) E-Book 978 3 406 75967 3 (Helbing Lichtenhahn) 978 3 7190 4440 4 (MANZ) 978 3 214 12046 7
© 2021 Verlag C. H. Beck oHG Wilhelmstraße 9, 80801 München Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck Nördlingen (Adresse wie Verlag)
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Vorwort zur 7. Auflage
Vor 70 Jahren wurde die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, in einem Nachkriegseuropa, das sich der Menschenrechtsverletzungen, die die Herrschaft der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg verursacht hatten, nur allzu bewusst war. Mir der Europäischen Menschenrechtskonvention, die drei Jahre später in Krafr trat, wurde ein gemeinsames Fundament an Menschenrechten geschaffen, auf deren Einhaltung und Schutz sich die Konventionsstaaten verpflichteten und zu deren Durchsetzung sie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schufen. Dieses Konventionssystem entwickelte sich - vor allem nach der Etablierung des ständigen Gerichtshofes - zu einem Erfolgsmodell, das Vorbild für andere Systeme des regionalen Menschenrechtsschutzes war und ist. Die heutige Situation in Europa stelle das Konvemionssystem vor große Herausforderungen. Zum einen ist der Gerichtshof immer noch mit einer sehr großen Zahl von Beschwerden belastet. Auf verschiedenen Ebenen - der Organisation des Gerichtshofes, der strikteren Fassung der Zulässigkeitsprüfung und Einführung neuer Unzulässigkeitsgründe, der Stärkung des Verfahrens zur Umsetzung von Urteilen des Gerichtshofes und etlichem mehr - sind Maßnahmen gesetzt worden, die Verbesserungen gebracht haben, an dem grundsätzlichen Befund der hohen Belastung aber nichts geändert haben. Vor allem strukturelle menschenrechtliche Defizite in einer Reihe von Mitgliedstaaten führen zu einer großen Zahl an Beschwerden an den Gerichtshof. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Individualbeschwerderecht nach wie vor als „Hen.stück" des Konventionssystems, wie Christian Tomuschat 2003 formulierte, das es zu bewahren gilt. Zum anderen ist es nicht mehr so sicher, dass die in der Konvention verankerten Rechte in der Auslegung durch den EGMR von allen Konventionsstaaten als gemeinsames Fundament verstanden und akzeptiere werden. Die politischen EnrwickJungen in einigen Staaten lassen Zweifel daran aufkommen, wie tragfähig das gemeinsame Fundament tatsächlich ist. Der EGMR betont immer wieder den Zusammenhang von Rechtsstaat, Demokratie und der Gewährleistung von Menschenrechten, wie er auch in der Satzung des Europarates niedergelegt ist. Die zu beobachtende Tendenz, etablierte demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze zu hinterfragen, führe zu einer Fragilität einzelner politischer Systeme, aber auch der Gemeinschaft der im Europarat zusammengeschlossenen Staaten Europas und sogar zu Konflikten untereinander. Die zunehmende Zahl von Staatenbeschwerden, die an den EGMR herangetragen werden, zeugt davon. Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention als gemeinsamer menschen~echclicher Standard in Europa kann angesichts dieser Entwicklungen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit der über Jahrzehnte entstandenen Rechtsprechung des EGMR hat die Konvention eine prägende Kraft für die Staaten, die sich auf die Einhaltung der in ihr verbürgten Menschenrechte verpflichtet haben, entfaltet und setzt Maßstäbe für die Zukunft von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte in Europa. Mit diesem Buch soll auch in der 7. Auflage die reichhaltige Rechtsprechung des EGMR erfassbar gemacht werden. Wir wollen Zusammenhänge sichtbar machen, RechtsprechungsenrwickJungen beschreiben und auch kritisch beleuchten, dies mit V
Vorwon zur 7. Auflage
dem übergeordneten Ziel, die Standards des gemeineuropäischen Grund- und Menschenrechtsschutzes herauszuarbeiten. Die mit der Erstellung der Neuauflage verbundene Arbeit konnte nur mir· tatkräftiger und engagierter Unrersrürzung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Linz und Wien bewältige werden. Wir bedanken uns bei Mag.' Nicole Dannerbauer, Mag.• Nina Felbinger-Forsrer, Lisa Fuchs, LL.M., Mag.• Theresa Ganglbauer, Mag.• Marlene Haderer, Mag.' Daniela Kraschowerz, LL.M., Julia Reiner, LL.M., Stephan Reisenberger, LL.M. und Mag.' Eva Rom, M.Phil. für ihren großen Einsatz bei der Erfassung der aktuellen Judikatur, bei der Erstellung der Verzeichnisse und der Betreuung des Manuskripts. Trotz der Einschränkungen und der damit verbundenen besonderen Belastungen während der Corona-Pandemie konnte die 7. Auflage im üblichen Zeitrahmen abgeschlossen werden. Wien, im Dezember 2020
Christoph Grabenwarter Katharina Pabel
Aus dem Vorwort der 1. Auflage
Am 3. September 2003 werden genau fünfzig Jahre vergangen sein, seit die Europäische Menschenrechtskonvention in Kraft getreten ist. Vor bald fünf Jahren wurde ihr Rechrsschurzsystem mit der Einrichtung eines neuen ständigen Gerichtshofs grundlegend neu gestaltet. Diese beiden Umstände sind äußere Zeichen für die Bedeutung und den Erfolg der EMRK. Der Bedeutungszuwachs dieses internationalen Menschenrechtsverrrags seit dem Jahr 1990 manifestiert sich aber noch in einigen weiteren Entwicklungen. Zum Ersten wurde die Grenze des Gebiets jener Staaten, die Mitglieder sind, vom ehemaligen „Eisernen Vorhang" weit über das geographische Europa hinaus in den Kaukasus hinein und bis an den Pazifik verschoben, im „Europäischen Menschenrechtsraum" leben heute rund 800 Millionen Menschen. Zum Zweiren hat die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs in diesem Zeitraum in einem Maße zugenommen und eine Breite wie Tiefe erreicht, dass nahezu alle Bereiche der nationalen Rechtsordnungen von ihr betroffen sind. Zum Dritten haben fast alle Mitgliedstaaten die EMRK auf die eine oder andere Weise auch innerstaatlich zum verbindlichen und unmittelbar geltenden Maßstab gemacht. Und viertens schließlich gewinnt die EMRK über das Recht der Europäischen Union an Bedeutung: Seit dem Vertrag von Maastricht findet sich ein ausdrücklicher Verweis auf die EMRK im heutigen An. 6 Abs. 2 des Unionsvertrages; der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nimmt mehr und mehr auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR Bezug; und die Grundrechte-Charta nimmt schließlich den „acquis conventionnel" gleichsam in sich auf. Dementsprechend verwundert es nicht, dass die EMRK auch in der Lehre an den Universitären Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gleichermaßen an Bedeutung gewonnen hat. Das vorliegende Buch soll eine Grundlage für das Studium der Grundund Menschenrechte im Allgemeinen bilden, aber auch den Einstieg in die spezialisierte Befassung mit der EMRK erleichtern. Darüber hinaus soll es aber auch der Praxis einen Einblick in das weltweit erfolgreichste System des internationalen Menschenrechtsschutzes geben und weiterführende Hinweise auf Rechtsprechung und Literatur bieten.
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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ..................................... . Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur ...................... .
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1. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag § 1. Entstehungsgeschichte und Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die EMRK im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vom völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz zur europäischen Menschenrechtsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kernbestand von Rechten und stufenweise Ergänzung durch die Zusatzprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Vorbehalte nach An. 57 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen der Gültigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Suspendierung im Notstandsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen der Suspendierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Notstandsfeste Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Günstigkeitsprinzip und der gleichwertige Grundrechtsschutz 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Inhalt des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Die EMRK im Recht der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Stellung der EMRK im Recht der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . 1. Die EMRK im Verfassungsrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die EMRK im Rang zwischen Gesetz und Verfassung . . . . . . . 3. Die EMRK im Gesetzesrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Die Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typologie der Einwirkungen der EMRK auf das Recht der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Die EMRK und das Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . l. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten nach der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die EMRK und die Grundrechte-Charta..... . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einfluss der EMRK auf den Inhalt der Grundrechte-Charta 2. Das Verhältnis zwischen EMRK, Grundrechte-Charta und nationalen Verfassungen nach Art. 52 und 53 GRC . . . . . . . . . III. Die Grundrechte der EMRK als „allgemeine Grundsätze" . . . . . . . IV. Der Beitritr der Europäischen Union zur EMRK . . . . . . . . . . . . . § 5. Allgemeine Fragen der Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I_. Besonderheiten der Wortlautinterpretation: Authentische Sprachen statt Staatssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten der historischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . .
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III. Besonderheiten der systematischen Interpretation . . . . . . . . 1. Das Regelungsumfeld der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. ,,Auronome lnrerpretation" ...................... IV. Besonderheiten der teleologischen Interpretation . . . . . . . . .
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1. Kapitel. Organisation und Struktur des EGMR Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Richter ........................................... _. Die Gliederung des Gerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Einzelrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Dreier-Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Große Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Teil. Verfahrensrecht und Organe der EMRK
§ 6. § 7. § 8.
2. Kapitel. Das Beschwerdeverfahren vor dem EGMR § 9. Die Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Form der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Prozessvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10. Die Staatenbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstand der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Form der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11. Das Gutachtenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12. Maßnahmen zur Sicherung der Effektivität von Beschwerden . . . . . . . . . 1. Vorläufige Maßnahmen (,,inrerim measures") . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorrangige Behandlung von Beschwerden (,,prioricy cases") . . . . . III. Dringliche Mitteilung (,,urgent notification") . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Ablauf des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der äußere Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Prozessvoraussetzungen im Verfahren der Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Partei- und Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Juristische Personen und Personengruppen . . . . . . . . . . . . . 2. Die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . 3. Erschöpfung des innerstaarlichen Rechtswegs . . . . . . . . . . . . . a) Vertikale Rechtswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Horizonrale Rechcswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wahrung der Beschwerdefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sonstige formelle Gründe der Unzulässigkeit einer Beschwerde . . . 1. Anonymität der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Res iudicata und Litispendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Missbrauch des Beschwerderechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die inhalrliche Prüfung der Beschwerde im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X
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Inhaltsveruichnis
V. VI. VII. VIII. IX.
X. XI.
1. Unvereinbarkeit der Beschwerde mit der Konvention . . . . . . . a) Ratione personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ratione loci . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ratione temporis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ratione materiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offensichtliche Unbegründetheit der Beschwerde . . . . . . . . . . 3. Unzulässigkeit wegen Geringfügigkeit des Nachteils . . . . . . . . Drittbeteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung der Rechtssache und Ermittlung der Tatsachen . . . . . . . . Gücliche Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streichung der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zuständigkeit der Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beginn des Verfahrens vor der Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgabe an die Große Kammer durch die Kammer . . . . . . . . . . 3. Verweisung an die Große Kammer auf Antrag einer Partei . . . . Mündliche Verhandlung .............................. Besonderheiten im Verfahren der Staatenbeschwerde . . . . . . . . . .
3. Kapitel. Das Urteil des EGMR und seine Wirkungen § 14. Das Urteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Gerechte Entschädigung und Ersatz der Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. formale Anforderungen und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materieller Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Immaterieller Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kostenersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16. Rechtswirkungen und Durchsetzung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtswirkungen der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtskraftwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Orientierungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtswirkungen der Urteile in Deutschland . . . . . . . . . II. Die Durchsetzung der Urteile durch das Ministerkomitee . . . . . . III. Authentische Interpretation der Urteile durch den Gerichtshof . . IV. Verfahren bei Verstößen gegen die Befolgungspflicht nach Art. 46 EMRK (,,infringement proceedings") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Teil .. Die Garantien der EMRK 1. Kapitel. Grundrechtslehren für die Garantien der EMRK 17. Der Geltungsbereich der Garantien der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Persönlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Verantwortlichkeit bei extraterritorialen Akten anderer Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verantwortlichkeit für extraterritoriale Akte . . . . . . . . . . . .
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lnhaftsveruichnis
a) Wirksame Kontrolle eines Gebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befehlsgewalt und Kontrolle durch Staatsorgane . . . . . . . . . c) Ausübung extraterrirorialer Gewalt im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18. Struktur der Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Allgemeines ........................................ ll. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . lll. Der Eingriff in ein Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesetzliche Grundlage ............................... _. 1. Rückführbarkeit der Eingriffsgrundlage auf ein vom Parlament beschlossenes Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hinreichende Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage.. . . . . V. Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Besondere Beschränkungen der Rechte von Ausländern . . . . . . . . Vill. Das Missbrauchsverbot des Art. 18 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Besonderheiten bei Justizgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung des Schutzbereichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfung der Vereinbarkeit mit Organisations- und Verfahrensgarantien i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Eingriffs-Rechtfertigungs-Prüfungsschema und Abwägungsvorgänge bei den Justizgarantien . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19. GewährleistungspAichten (,,positive obligations") . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtliche GewährleisrungspAichcen als Oberbegriff und Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. SchutzpAichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. SchurzpAichtdogmatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ,,Drittwirkung" und SchutzpAichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. GewährleistungspAichten bei Organisation und Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verpflichtungen zur Gewährleistung von Teilhaberechten . . . . . . .
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2. Kapitel. Die Rechte und Freiheiten der EMRK § 20. Fundamentalgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Recht auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vollstreckung eines Todesurteils . . . . . . . . . . b) Die Ausnahmen des Art. 2 Abs. 2 . . . . . . . . . aa) Tötung zur Verteidigung eines Menschen bb) Tötung anlässlich der Festnahme . . . . . .
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lnhaltsveruichnis
cc) Tötung zur Unterdrückung eines Aufruhrs oder eines Aufstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafrechtlicher und zivilrechtlicher Schutz des Lebens . . 66) Präventiver Schurz vor Tötungsdelikren . . . . . . . . . . . . cc) Schutzmaßnahmen bei Lebensgefährdungen durch äußere Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Schutzpflichten gegenüber besonders schuczbedürftigen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Schutzmaßnahmen gegenüber Personen im Näheverhälcnis zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewährleisrungspflichren zur Organisation von Polizeieinsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewährleistungspflichten zur Untersuchung von Todesfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folcerverbot und Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich und Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6) Unmenschliche Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erniedrigende Behandlung und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 3 als absolutes Reche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Polizeieinsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Behandlung lnhafrierrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Misshandlungen durch Private . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ausweisung und Auslieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff der Zwangs- und Pflichtarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ausnahmen des Are. 4 Abs. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arbeiten in der Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Militärdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Notstandspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übliche Bürgerpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verbot des Menschenhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . ~ 21. Freiheit und Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Garantie der persönlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zulässigkeit von Eingriffen in die persönliche Freiheit . . . . . . .
180 181 181 181 183 184 185 187 188 191 198 199 199 200 202 206 209 211 21 5 21 5 216 222 224 232 233 233 234 234 236 236 237 23 7 238 238 239 241 241 242 243 245 248
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a) b) c) d)
Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einhaltung des innerstaatlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . Beachtung des Willkürverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorliegen eines Haftgrunds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer gesetzlichen Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Präventiv- und Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Hinreichender Tatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gefahr der Begehung einer Straftat .............. (c) Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) lnhaftnahme Minderjähriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Unterbringung von Kranken und Landstreichern . . . . . ff) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschiebungs- und Auslieferungshaft . . . . e) Verbot der Schuldhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechte der festgenommenen Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Informationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftdauer und richterliche Vorführung . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf richterliche Haftprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . 11. Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 1. Aufenthaltsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Ausweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verbot der Kollektivausweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22. Rechte der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz des Privat- und Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Privatleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Selbstbestimmungsrecht über den Körper . . . . . . . . . . . bb) Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Freie Gestaltung der Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . b) Familienleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Schutzgut Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gewährleistungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIV
248 249 250 252 252 255 257 258 260 260 261 262 265 268 268 268 270 276 280 281 281 281 282 283 285 288 288 288 288 289 289 290 292 292 294 295 295 296 296 296 297 299 30 l 304 304 307
Inhaltsverzeichnis
c) Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Schuczgut Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66) Gewährleiscungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Privadeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Privacleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66) Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wohnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Grundrechdiche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewährleiscungspflichten bei Organisation und Verfahrensgestalcung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Recht auf Eheschließung .............................. 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Recht aufBildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bildungsrecht des Kindes ............................ a) Gewährleistungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingriffe und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundrechrliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . 3. Elternrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gewährleiscungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingriffe und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . IV. Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gedanken- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 66) Religions- und Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308 308 309 309 310 310 314 316 3 17 318 318 321 322 322 329 336 338 341 341 348 354 356 362 363 363 366 366 369 370 371 371 372 374 377 377 379 380 381 381 382 382 383 383 384 388 391 391 XV
Inhaltsverzeichnis b) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechcliche Gewährleistungspflichten .............. , § 23. Politische und gemeinschafrsbezogene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kommunikationsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Freiheit der Meinungsäußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Informationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rundfunkfreiheit ............................... e) Kunstfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung ................................... a) Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimes Ziel ................................. c) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung und Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66) Besonderheiten bei Eingriffen in die Pressefreiheit . . . . . cc) Besonderheiten bei Eingriffen in die Freiheit des Rundfunks und sonstiger elektronischer Medien ................................... dd) Besonderheiten bei Eingriffen in die Kunstfreiheit und in die Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Vorbehalt nach Are. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechcliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewährleistungspflichten bei Organisation und Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Versammlungsfreiheit ................................. l. Allgemeines ..................................... 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Eingriffsvoraussetzungen nach An. 11 Abs. 2 S. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Beamtenvorbehalt nach Arr. 11 Abs. 2 S. 2 . . . . . . . . . . c) Der Vorbehalcnach An. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechrliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . III. Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schurzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVI
391 393 396 399 399 400 400 401 404 406 · 407 408 408 409 412 412 414 416 419 434
448 452 453 454 454 455 457 458 458 460 461 463 463 463 463 463 467 467 468 468 469 470
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3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhälmismäßigkeir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Vorbehalt nach An. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechrliche Gewährleisrungspflichren . . . . . . . . . . . . . . . IV. Recht auf freie Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechrliche Gewährleisrungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . § 24. Verfahrens- und Justizgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfahrensgarantien in Zivil- und Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Anwendungsbereich des Art. 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungen über "civil righrs" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entscheidung über ein "Reche" . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der „zivilrechrliche" Charakter des Rechts . . . . . . . . . . cc) Die Entscheidung der „Streitigkeit" über ein Recht . . . . b) Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen . . . . . . . . . . aa) Der Begriff des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Organisationsgarantie: das Entscheidungsorgan „Gericht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) ,,Auf Gesetz beruhend" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unabhängigkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unparteilichkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Subjektive Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Objektive Unparreilichkeir . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gebot angemessener Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . e) Öffenrlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66) Ausschluss der Öffentlichkeit nach Art. 6 Abs. 1 S. 2 . . . cc) Die einzelnen Ausschlussgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeine Ausschlussgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Interesse der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Interesse der nationalen Sicherheit . . . . . . . . . (cc) Interesse der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . (b) Prozessbezogene Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Jugendschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Schurz des Privarlebens . . . . . . . . . . . . . . . . .
473 474 474 475 475 481 481
483 483 485 485 485 487 489 495 496 498 498 499 499 500 503 504 505 507 509 509 510 511 514 51 5 517 522 530 540 545 54 5 546
548 548 549
549 549 550 550 550 XVII
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(c) Ausschlussgründe zugunsten der Rechtspflege . . . . . 551 dd) Nichcöffenclichkeic wegen Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung ..................... : 551 ee) Das Gebot der öffentlichen mündlichen Verhandlung im Rechcsmiccelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 ff) Die VeröfTenclichung der Entscheidung . . . . . . . . . . . . 554 f) Besondere Verfahrensgarantien im Strafprozess . . . . . . . . . . 555 aa) Information über Art und Grund der Beschuldigung . . . 555 bb) Ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 cc) Recht auf Anwesenheit und eigene Verteidigung ...... · 558 dd) Waffengleichheit im Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . 565 (a) Fragen an Zeugen und Sachverständige . . . . . . . . . . 565 (b) Die Beiziehung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 ee) Beiziehung eines Dolmetschers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 ff) Nemo cenetur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 g) Die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Nulla poena sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 3. Gewährleistungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 a) Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verurteilungen . . . . . . . . . 580 b) Rückwirkungsverbot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 aa) Strafbarkeit nach innerscaaclichem Reche . . . . . . . . . . . 581 bb) Strafbarkeit nach internationalem Recht . . . . . . . . . . . . 582 c) Bestimmrheits- und Klarheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 d) Verbot der rückwirkenden Verhängung höherer Strafen . . . . 587 Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung . . . . . . . . . . . . 588 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 3. Der Inhalt der Garantie ............................. 591 4. Zulässige Beschränkungen der Garantie . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Das Recht auf Überprüfung von Strafurteilen . . . . . . . . . . . . . . . 594 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 3. Gewährleistungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 4. Beschränkungen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Das Reche auf Entschädigung bei Fehlurteilen . . . . . . . . . . . . . . . 597 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 2. Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs . . . . . . . . . . . . 598 3. Inhalt des Entschädigungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 Verfahrensgarantien in Ausweisungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 599 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 3. Die einzelnen Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 4. Beschränkungen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Das Recht auf wirksame Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
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2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewährleiscungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 25. Wirtschaftliche Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigentumsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigentumsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Regelungen der Eigentumsnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonstige Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfenigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigentumsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nutzungsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonstige Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) GewährleiscungspAichten bei Organisation und Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich und Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtliche GewährleiscungspAichten . . . . . . . . . . . . . . . § 26. Gleichheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschränktes Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Feststellung einer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ungleichbehandlung von vergleichbaren Sachverhalten . . . . b) Differenzierungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtfertigung ................................... a) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Diskriminierung aufgrund des Geschlechts . . . . . . . . . . cc) Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache oder der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . dd) Diskriminierung aus religiösen Gründen . . . . . . . . . . . ee) Diskriminierung aufgrund politischer oder sonstiger Überzeugungen ............................. ff) Diskriminierung aufgrund der Geburt oder der sozialen Herkunft: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Diskriminierung aus sonstigen Gründen . . . . . . . . . . . . 6. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderer Gleichheitssatz in Zusammenhang mit der Ehe . . . . . .
604 609 621 621 622 624 624 628 629 629 631 632 633 633 640 643 645 645 647 648 648 649 651 651 652 652 652 653 654 657 657 659 661 661 663 663 665 667 668 669 669 671 675 678 XIX
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III. Der allgemeine Gleichheitssatz des 12. ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Verzeichnis der Abkürzungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Verzeichnis der Entscheidungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
Abkürzungsverzeichnis a. A., A. A. . . . . . . a. a. 0. . . . . . . . . a. F. . . . . . . . . . . ABI. . . . . . . . . . . Abs . . . . . . . . . . . AEMR . . . . . . . .
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. . . . . . . . .
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anderer Ansicht am angegebenen Ort alter Fassung Amtsblatt Absatz Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 194 8 Archiv für Presserecht Actualite juridiquc üroit adminimarif Akruelle Juristische Praxis(~ PJA, Prarique Juridique Acruelle) American Journal of lnternarional Law Albanien Amerikanische Menschenrechrskonvenrion Andorra Anmerkung Österreichisches Anwaltsblart Archiv des ölfenrlichen Rcchrs Argumentum Bundesgesetz vom 4. Dezember 1979 über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen (Auslieferungs- und Rechtshilfegeserz), StF: BGBI. Nr. 529/ 1979 Armenien Anikcl (bei Vorschriftenzitaten) Auflage Arbeit und Recht ausführlich Österreich Archiv des Völkerrechts Aserbaidschan Bundes-Verfassungsgesetz (Österreich) in der Fassung von 1929, StF: BGB(. 1930/ I Beiträge zum ausländischen ölfenrlichen Recht und Völkerrecht Band, Bände Belgien Bericht Beschwerdeführer (Schweizerisches) Bundesgericht Entscheidungen des Bundesgerichts Bürgerliches Geserzbuch (Deutschland) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002, BGBI. 1 S. 42 Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtsho& in Strafsachen (Band, Seite) Bosnien und Herzegowina Geserz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (Deutschland) Bonner Rechtsjournal Bundestag Bundestagsdrucksache Beispiel beispielsweise Bulgarien (Schweizerische) Bundesverfassung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) Geserz über das Bundesverfassungsgericht in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.8.1993, BGBI. I S. 1473
XXI
Abkürzungsveraichnis BVerwG . . . . . . . Bundesverwaltungsgericht BVerwGE . . . . . . Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Band, Seite) BWG . . . . . . . . . Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.7.1993, BGB!. I S. 1288, her. S. 1594 BYBIL . . . . . . . . British Year Book of International Law bzw. beziehungsweise Colleccion ofDecisions, Sammlung der Entscheidungen der EKMR (bis 1975) CD Cv1LR . . . . . . . . Common Market Law Review Corr. Cosc . . . . . . Corre Costituzionale (Italienischer Verfassungsgerichtshof) CPT ......... . European Commirtee for the Prevencion ofTorcure and Inhuman or Degrading "li-eatment or Punishment, Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter UJJd unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe CRO . . . . . . . . . Kroatien CYP . . . . . . . . . . Zypern CZE . . . . . . . . . . Tschechische Republik d. h. . . . . . . . . . . DEN . . . . . . . . . ders. . . . . . . . . . . dgl. . . . . . . . . . . DOV . . . . . . . . . DR . . . . . . . . . . DRiZ . . . . . . . . . Drs. . . . . . . . . . . DVBI. . . . . . . . . . dzt. . . . . . . . . . .
das heißt Dänemark derselbe dergleichen Die öffentliche Verwaltung Decisions and Reports, Sammlung der Entscheidungen der EKMR (seit 1975) Deucsche Richterzeitung Drucksache Deutsches Verv.·alrungsblart derzeit
EG . . . . . . . . . . . Europäische Gemcinschafr(en); Verrrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EGMR . . . . . . . . Europäischer Gerichtshof fur Menschenrechte EHRLR ...... . European Human Righrs Law Review EJIL . . . . . . . . . . European Journal of lnrernacional Law EKMR . . . . . . . . Europäische Kommission fur Menschenrechte ELR . . . . . . . . . . European Law Review EMRK . . . . . . . . Konvention zum Schurz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BG BI. II 2010, S. 1198; Österreich: BGB!. 1958/210 engl. . . . . . . . . . . englisch(e, er, es) Entsch . . . . . . . . . Entscheidung EI' .......... . Europäisches Parlament ESA . . . . . . . . . . European Space Agency ESP . . . . . . . . . . Spanien EST . . . . . . . . . . Estland etc . . . . . . . . . . . . et cetera ETS . . . . . . . . . . European Trearies Series EU .......... . Europäische Union EuGH . . . . . . . . Europäischer Gerichtshof EuGRZ . . . . . . . . Europäische Grundrechte Zeitschrift EL'I . . . . . . . . . . European University lnsrirure EuR . . . . . . . . . . Zeitschrift Europarecht EL'R . . . . . . . . . Euro n.:v ........ . Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift fur Wimchafrsrechr EuZW f. (ff.) . . . . . . . . . und der (die) folgende(n) 1-'amRZ . . . . . . . . Zeitschrift fur das gesamte familienrechc mir Berreuungsrechr. Erbreche, Verfahrensrecht, öffentlichem Recht
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Abkürzungsveruichnis FIN . . . . . . . . . . Fn. . . . . . . . . . . . FPR . . . . . . . . . . FRA . . . . . . . . . . franz. . . . . . . . . . FS . . . . . . . . . . .
Finnland Fußnote(n) Familie Pannerschaft Recht hankreich französisch(e, er, es) Festschrift (bei fremdsprachigen Festschriften: Essays in Honour ofN. N.; Melanges offcns a N. N.; Miscellanea N. N.)
GA . . . . . . . . . . GBR . . . . . . . . GEO . . . . . . . . GER . . . . . . . . GG
(;oltdammcr's Archiv für Strafrecht Großbritannien Georgien Deutschland Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949, BG BI. 1 S. 1 gegebenenfalls Große Kammer (des EGMR) German Law Journal Zeicschrift für Gemeinschaftsprivacrccht Charta der Grundrechte der Europäischen Union Griechenland Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht. Internationaler Teil Gedächtnisschrift, Gedenkschrift Gutachten Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975, BGBI. I S. 1077 German Yearbook oflnternational Law
. . . .
ggf. GK . . . . . . . . . GLJ . . . . . . . . . GPR . . . . . . . . . GRC . . . . . . . .
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Halbband Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Human Rights Act Human Rights Law Journal Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (www.hrr-strafrechr.de) Hrsg. . . . . . . . . . Herausgeber Hs. . . . . . . . . . . Halbsatz HCN . . . . . . . . . Ungarn i. d. R. . . . . . . . . . i. E. . . . . . . . . . . i. e. S. . . . . . . . . . iFamZ . . . . . . . . i. R. v. . . . . . . . . . i. S. d. . . . . . . . . . i. S. v. . . . . . . . . . i. V. m. . . . . . . . . i. Z. m. : . . . . . . . IAG~1R . . . . . . . Im.Am. & Eur. Hum. Rts. J. . ... ICLQ . . . . . . . . . ILC . . . . . . . . . . lnfAuslR . . . . . . . insb. . . . . . . . . . . IPBPR . . . . . . . . IRL ... .- . . . . . . ISL . . . . . . . . . . . ITA . . . . . . . . . .
in der Regel im Erscheinen im engeren Sinn Interdisziplinäre Zeitschrift für Familienrecht im Rahmen von im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit in Zusammenhang mit Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte lnrer-American & European Human Rights Journal International and Comparative Law Quanerly International Law Commission Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966 Irland Island Italien
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Abkürzungwer:uichnis J BI . . . . . . . . . . . J urisrische Blärrer JGG . . . . . . . . . . Jugendgerichrsgeserz in der l'assung der Bekannrmachung vom 11. Dezember 1974, BGB!. 1 S. 3427 JöR . . . . . . . . . . Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart J RP . . . . . . . . . . Journal für Rechtspolitik JuS . . . . . . . . . . . Juristische Schulung JZ . . . . . . . . . . . Juristenzeitung Kammerbeschl. . . . Kammerbeschluss KartG . . . . . . . . . Bundesgeserz gegen Kartelle und andere Wercbewerbsbeschränkungen (KarcG 2005), Sri': BGB!. 2005/61 KFG . . . . . . . . . . Bundesgeserz vom 23. Juni 1967 über das Krafrfahrwesen (Krafrfahrgeserz), StF: BGB!. Nr. 267/1967 km . . . . . . . . . . . Kilometer LAT . . . . . . . . . . LI E . . . . . . . . . . lit . . . . . . . . . . . . LTU . . . . . . . . . . LUX . . . . . . . . . .
Lettland Liechtenstein Litera Litauen Luxemburg
m. . . . . . . . . . . . m. a. W. . . . . . . . . m.w.H. m.w. N. . ...... M DA . . . . . . . . . MedienG . . . . . . .
mit mir anderen Worten mit weiteren Hinweisen mit weiteren Nachweisen Moldawien Bundesgeserz vom 12. Juni 1981 über die Presse und andere publiz.istische Medien (Mediengesetz.), StF: BGBI. Nr. 314/1981 Maastricht Journal of European and Comparative Law Nordmaz.edonien Malta Montenegro Monaco Menschenrechtskonvention Medien und Recht
MJ . . MKD MLT MNE MON MRK M&R
. . .. . .. . . ......... ......... ......... ......... ......... .........
NEO . . . . . . . . . NGO . . . . . . . . . NJ . . . . . . . . . . . NJOZ . . . . . . . . NJW . . . . . . . . . NJW-RR . . . . . . . NOR . . . . . . . . . Nr. . . . . . . . . . . . NSrZ . . . . . . . . . NVwZ . . . . . . . .
Niederlande Nicht-Regierungsorganisation Neue Justiz. Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Norwegen Nummer Neue Zeicschrifr für Strafrecht Neue Zeitschrifr für Verwahungsrecht
ÖA . . . . . . . . . . ODIHR . . . . . . . OGH . . . . . . . . . ÖJK . . . . . . . . . . ÖJZ . . . . . . . . . . OLG . . . . . . . . . OZOR . . . . . . . . ÖZW . . . . . . . . .
Der Österreichische Armsvormund Office for Democratic lnstitutions and Human Rights (österreichischer) Obemer Gerichtshof Österreichische Juristenkommission Österreichische Juristenz.eitung Oberlandesgericht Österreichische Zeitschrift für ötfenclichcs Reche Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
XXIV
Abkürzungsveruichnis PartG . . . . . . . . . Bundesgesetz über die Aufgaben, Finanzierung und Wahlwerbung politischer Parteien (Parteiengesetz), StF: BGBI. Nr. 404/1975 Pkt . . . . . . . . . . . Punkt POL . . . . . . . . . . Polen POR . . . . . . . . . Portugal RabelsZ . . . . . . . RDA . . . . . . . . . Rd C ......... RDH . . . . . . . . . RdM . . . . . . . . . RDP. . . . . . . . . . RFDC . . . . . . . . RGBI. . . . . . . . . . RGDIP . . . . . . . . RIDC . . . . . . . . . RI\Xl . . . . . . . . . . RJD . . . . . . . . . . Rn. . . ROM . ROW . Rs. . . . Rspr. . RTDH RUDH RUS . . RW . . RZ . . .
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S. . . . . . . . . . . . . s. . . . . . . . . . . . . s. a. . . . . . . . . . . SDÜ . . . . . . . . . Serie A . . . . . . . . Slg. . . . . . . . . . . SLO . . . . . . . . . . SMR . . . . . . . . . sog. SPG SRB StF . . . . . . . . . . . StGB . . . . . . . . .
StGG StPO St. Rspr. . . . . . . . StV . . . . . . . . . SUI . . . . . . . . . SV ..... ·. . . . . SVK . . . . . . . . . SWE . . . . . . . .
. . . . . .
Rabcls Zeitschrih für ausländisches und internationales Privatrecht Revue de Droit Administratif Recueils des Cours de l'Academie de Droit International de la Haye Revue des droits de l'homme Recht der Medizin Revue de droit public Revue fran~aise de droit constitutionnel Reichsgeserzblatt Revue Generale de Droit International Public Revue Internationale de Droit Compare Recht der Internationalen Wirtschaft Reports ofJudgments and Decisions; Entscheidungssammlung des EGMR (seit I 996) Randnummer(n) Rumänien Recht in Ost und West Rechtssache Rechtsprechung Revue trimestrielle des droics de l'homme Revue universelle des droits de l'homme Russland Rechtswissenschah Österreichische Richterzeitung Satz; Seite(n) siehe siehe auch Schengener Durchführungsübereinkommen Serie Ades publications de la Cour europeenne des droits de l'homme: Arrets et decisions (bis Ende 1995) Sammlung Slowenien San Marino sogenannt(e, er, es) Bundesgesetz über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigeserz), ScF: BGBI. 1991 /566 Serbien Stammfassung Deutschland: Strafgesetzbuch in der Bekanntmachung vom 2. 1. 1975, BGBI. 1 S. 1; Österreich: BG über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch), StF: BGBI. 1974/60 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, StF: RGBI. 1867/142 Deutschland: StraJprozeßordnung in der Bekanntmachung vom 7.4.1987, BGBI. I S. 107 4; Österreich: Strafprozeßordnung 1975, StF: BGBI. 1975/631 (WV) ständige(r) Rechtsprechung Strafrerteidiger Schweiz Sondervotum Slowakei Schweden
XXV
Abkürzungsveruichnis Trav. Prep. . . . . . . Conseil de l'Europe, Recueil des Travaux Preparatoires de la Convention Europeenne des Droits de l'Homme {1985, Bd. I bis Vlll) TUR . . . . . . . . . Türkei u . . . . . . . . . . . . . und u. a. . . . . . . . . . . und andere; unter anderem u.U . . . . . . . . . . . unter Umständen UKR . . . . . . . . . Ukraine UN . . . . . . . . . . United Nations, Vereinte Nationen t.:NTS . . . . . . . . Unitcd Nations Treaty Series Un. Uneil V• • • • • • • • • • • • •
von, vom
VA . . . . . . . . . . . Verwaltungsarchiv vcrb . . . . . . . . . . . verbunden(e, er) VerfO . . . . . . . . . Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Verfahrensordnung v. 1.7.2006, BGBI. II 2006. S. 693; Österreich: BGBI. 2007/ I 9 VfCH . . . . . . . . . (österreichischer) Verfassungsgerichtshof V!Slg . . . . . . . . . Sammlung der Erkenn misse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofs vgl. . . . . . . . . . . . vergleiche vo ......... . Verordnung Vol. . . . . . . . . . . Volume VVDStRL ..... . Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WE ......... . Venrag über eine Verfassung für Europa. ABI. EU 2004, C 310/01 VwGO . . . . . . . . Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Män 1991,BGBI.IS.686 wbl . . . . . . . . . . Winschafisrechdiche Blärrer WRV . . . . . . . . . Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Reichsverfassung) v. 11.8.1919, RGBI. S. 1383 WVK Wiener übereinkommen über das Recht der Vemäge, BGBI. 1985 II S. 927; Österreich: BGB!. 1980/49 Yb . . . . . . . . . . . Yearbook YEL . . . . . . . . . . Yearbook ofEuropean Law Z. . . . z. B. . . ZaöRV ZAR . . ZBJV . ZEuS . ZEV . .
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ZN . . . . . . . . . . ZGB . . . . . . . . . ZIAS . . . . . . . . . ZLW . . . . . . . . . ZÖR . . . . . . . . . ZP . . . . . . . . . . . ZRP . . . . . . . . . . ZSR . . . . . . . . . . ZStR . . . . . . . . . ZStW . . . . . . . . . ZUM . . . . . . . . . ZVglRWiss . . . . . ZVR . . . . . . . . . .
XXVI
Ziffer, 7...ahl zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für europan:chrliche Studien Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Verwaltung Zivilgesetzbuch (Schweiz) Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht Zeitschrift für öffentliches Recht Zusarzprotokoll zur EMRK Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Zeitschrift für die gesamte Srrafrechtswissenschafi Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschafi Zeitschrift für Verkehrsrecht
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Bearbeiter, FS Bratza Josep Casadevall/Egbert Myjer/Michael O'Boyle/Anna Austin (Hrsg.), Freedom of Expression, Oisterwijk 2012. Bearbeiter, FS Costa Patrick Titiun (Hrsg.), La conscience des droits, Melanges en l'honneur de Jean-Paul Costa. Paris 2011. Bearbeiter, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak Pieter van Dijk/Godefridus J. H. van Hoof/Arjen van Rijn/Leo Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of ehe Europcan Convention on Human Rights, 5. Aufl. Cambridge u. a. 2018. Bearbeiter, in: Dörr/Grote/Marauhn Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanz.kommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. Tübingen 2013. Bearbeiter, in: Ehlers Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. Berlin 2014. Frowein/Peukert Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. Kehl 2009. Grabenwarter, Commentary Christoph Grabenwarter, European Convention on Human Rights. Commenwy, München 2014. Harris/O'Boyle/Warbrick David Harris/Michael O'Boyle/Edward Bates/Carla Buckley (Hrsg.), Harris, O'Boyle & Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl. Oxford 2018. Bearbeiter, in: Karpenstein/Mayer Ulrich Karpcnstein/hanz Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Kommentar, 2. Aufl. München 2015. Bearbeiter, in: Kneihs/Lienbacher Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Wien, Loseblatt, Stand: 2020. Bearbeiter, in: Korinek/Holoubek et al. Karl Korinek/Michael Holoubek/Christoph Bezemek/Claudia Fuchs/Andrea Martin/Ulrich E. Zellenberg (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien, Loseblatt, Stand: 2019. Bearbeiter, in: vande Lanotte/Haeck Johan vande Lanotte/Yves Haeck (Hrsg.), Handbock EVRM, Dccl 1, Antwerpen, Oxford 2005; Deel 2, Vol. 1, Deel 2, Vol. 2, Antwerpen, Oxford 2004. Bearbeiter, in: Leutheusser-Schnarrenberger Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde. 60 Jahre Europäische MenschenrechtskonYention, Tübingen 2013. Bearbeiter, in: Meyer-Ladewig et al. Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan von Raumer (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention Handkommentar, 4. Aufl. Baden-Baden u. a. 2017. IK-Bearbeiter Katharina Pabd/Stefanie Sehmahl (Hrsg.), Inrernationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln, Loseblatt, Stand: 2020. Peters/Altwicker Anne Peters/Tilmann Alrwickcr, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. München 2012. Bearbeiter, in: Peniti/Decaux/lmbert Louis-Edmond Pettiti/Emmanuel Decaux/Pierre-Henri lmbert (Hrsg.), La Convention Europeenne des Droits de l'Homme. Commentaire article par artide, 2. Aufl. Paris 1999. Reid Karen Reid, A Practitioner's Guide to ehe ECHR, 6. Aufl. London 2019. Bearbeiter, in: de Salvia/Villiger Michele de Salvia/Mark Eugen Villiger (Hrsg.), The Birth of European Human Rights Law, Liber Arnicorum Carl Aage N0rgaard, Baden-Baden 1998. Schabas, ECHR William A. Schabas (Hrsg.), The European ConYention on Human Rights: A Commentary, Oxford 2015. Velu/Ergec Jacques Vdu/Rusen Ergec, La Convention Europeenne des Droits de l'Homme, 2. Aufl. Brüssel 201:4. Villiger Mark Eugen Villiger, Handbuch zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. Zürich 2020.
XXVII
Veruichnis tkr abgekürzt zitierten Literatur Bearbeiter, FS Wildhaber Stephan Breitenmoscr/Bernhard Ehrenzeller/Marco Sassoli/W'alter Stoffel/Beatrice Wagner-Pfeifer (Hrsg.), Human Righ1S, Democracy and the Rule of Law, Li her Amicorum Luzius Wildhaber, Zürich u. a. 2007. Bearbeiter, Liber Arnicorum Wildhaber Lucius Caflisch/Johan Callewaerr/Roderick Lidddl/Paul Mahoney/Mark Villiger (Hrsg.), Human Rights - Scrasbourg Views, Kehl u. a. 2007. Bearbeiter, in: Zimmermann Andreas Zimmermann (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrech1Skonvenrion. Die Konvention als ..living instrumenr", Berlin 2014.
1. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag
§ 1. Entstehungsgeschichte und Entwicklung der Europäischen
Menschenrechtskonvention Li1era1ur: Baus, The Evolution of ehe Europcan Convention on Human Rights, 201 0; Klein, 50 Jahre Europarat, AVR 2001, 121; Partsch, Die Enmehung der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZaöRV 1953/54, 631; Russo, The Drafting History of ehe Europcan Convention on Human Rights and Fundamental Freedoms, FS Cremona, 1999, S. 234; Weiß. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist das älteste Vertragswerk seiner Are im Rahmen des regionalen Menschenrechtsschurz.es. Ihre Entstehung ist eng verknüpft mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bildet eine Antwort auf die systematische Missachtung von Menschenrechten vor allem im Dritten Reich. Unmircelbar nach dem Krieg wurden auf universeller wie auf regionaler europäischer Ebene verschiedene Anstrengungen zur Entwicklung internationaler Menschenrechtsdokumente mit vertraglich-bindender Wirkung unternommen. Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 gelang es angesichts der Gräuel des Nationalsozialismus zunächst in Europa, ein verbindliches Menschenrechtsinstrumentarium zu etablieren. Dies geschah einerseits aus der Einsicht heraus, dass sich nationaler Grund- und Menschenrechtsschutz als unzureichend erwiesen hatte, andererseits als Ausdruck des Selbstbehauptungswillens der demokratischen Staaten Europas gegenüber dem totalitären Kommunismus sowjetischer Prägung. 1 Die Entstehungsgeschichte der EMRK ist mit der Entstehung des Europarats auf das 2 Engste verbunden. Anfang Mai 1948, drei Jahre nach Kriegsende, veranstaltete das internationale Komitee der Europäischen Bewegung, eines Zusammenschlusses privater Organisationen unter Beteiligung führender Politiker wie Winston Churchill oder Konrad Adenauer, einen „Congress of Europe" in Den Haag. Dort wurde eine Resolution verabschiedet, welche die entscheidenden Weichen für die Gründung des Europarats im Jahr 1949 und die Ausarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention in unmircelbarem Anschluss daran stellte. 2 Nach Are. 1 der Satzung des Europarats hat dieser die Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutz und zur Förderung der gemeinsamen Ideale und Grundsätze herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschrirc zu fördern. Nach Art. 3 der Satzung anerkennt jeder Mitgliedstaat den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz, dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Nach An. 1 lit. b der Sarz.ung wird die Aufgabe der Förderung der gemeinsamen !deale und Grundsätze durch Beratung von Fragen von gemeinsamem Interesse, durch den Abschluss von Abkommen und durch gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf dem Gebiet 1
2
Umfassend Bau,, The Evolution of ehe European C..onvention on Human Rights, 201 0; Grou, in: Dörr/ Grote/Marauhn, Kap. 1 Rn. 10. Weiß. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954, S. 4; Klein, 50 Jahre Europarat, AVR 2001, 121 (122).
1. Teil. Die EMRK als völkemchtlicher \.i-rtrag
des Rechts und der Verwaltung sowie durch den Schurz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten erfüllt. 3 Nachdem sich die Beratende Versammlung (heute: die Parlamentarische Versammlung) des Europarats in ihren Sirzungen am 8. und 9. August 1949 allgemein mit der Ausarbeitung eines Menschenrechtskatalogs beschäftigt hatte, beauftragte sie noch im selben Monat ihren Ausschuss für Rechts- und Verwaltungsfragen damit, im Detail die Frage einer kollektiven Garantie von Menschenrechten zu beraten. Diese Beratungen gingen zügig voran, wobei die parallel stattfindenden Beratungen auf der Ebene der Vereinten Nationen maßgeblich auch in die Beratungen über den Text der Europäischen Menschenrechtskonvention einflossen. 3 Schon im September 1949 nahm die Beratende Versammlung einen Bericht des Ausschusses an, in dem bereits zehn Rechte enthalten waren und in dem die Einrichtung einer Europäischen Menschenrechtskommission und eines Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes vorgeschlagen wurde. 4 Auf dieser Basis bestellte das Ministerkomitee des Europarats einen weiteren Ausschuss von Regierungsexperten, welcher einen Textentwurf auf der Basis des Berichts vom September 1949 ausarbeiten sollte. Dieser Ausschuss beendete seine Arbeiten im Frühling 1950. Eine Reihe von Fragen blieb ungelöst, auch ein weiteres Komitee von Beamten konnte in einigen Fragen keine endgültige Entscheidung treffen. In dieser Situation nahm das Ministerkomitee am 7. August 1950 eine revidierte Fassung des Entwurftextes an, welcher jedoch in einigen zentralen Punkten deutlich weniger weitreichend war als die ursprünglichen Vorschläge. 5 So entfielen aus dem Text der Konvention die Eigentumsgarantie, das Recht auf Bildung sowie das elterliche Erziehungsrecht und schließlich das Recht auf freie Wahlen. 6 Das Individualbeschwerderecht war ebenfalls umstritten. Man einigte sich schließlich darauf, es den Mitgliedstaaten freizustellen, ob sie die Zuständigkeit der Menschenrechtskommission sowie des Gerichtshofes anerkannten und damit die Individualbeschwerde zuließen. Die Möglichkeit der Staatenbeschwerde war dagegen mit der Ratifikation zwingend verbunden. 7 Am 4. November 1950 wurde die Konvention im Wesentlichen in der Fassung des Ministerkomitees vom August in Rom unterzeichnet, und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen sowie die Satzung des Europarats. 8 Nach Erreichen der erforderlichen Zahl von zehn Ratifikationen trat die Konvention am 3.9.1953 in Kraft. Deutschland hatte die Konvention am 5.12.1952 ratifiziert und gehörte damit gemeinsam mit den skandinavischen Staaten (mit Ausnahme Finn3
4 5 6
Dazu eingehend Grou, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 1 Rn. 16ff. Die Beratungen über die Europäische Menschenrechrskonvencion sind in einem mehrbändigen Werk publiziert, Conseil d'Europe, Recueil des TravaUJ1 Preparatoires de la Convention Europeenne des Droits de l'homme, Bd. I bis VIII. Weiß. Konvencion, S. 6. Näher Grotr, in: Dörr/Grotc/Marauhn, Kap. 1 Rn. 21 ff Vgl. Partsch, Die Entstehung der Europäischen Menschcnrechtskonvenrion, ZaöRV 1953/54, 631 (633ff.). Diese Rechte wurden in das 1. Zu.saaprotokoll zur EMRK aufgenommen, das bereits 1954 in
Krah 7
8
2
trai.
Für die Individualbeschwerde vgl. Art. 25 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 1 EMRK i. d. F. vordem ln-Krali:-Treten des 11. Zusatzprotokolls. Vgl. dazu Pamch, ZaöRV 1953/54. 655 f.
.1$
1. Entstehungsgeschichte und Entwicklung da Europäischen Memchenrechtskonvention
lands) sowie mit Belgien, Großbritannien, Irland und Luxemburg zu den Mitgliedstaaten der ersten Stunde. Im Gegensatz zu Großbritannien anerkannte Deutschland bereits 1955 das Individualbeschwerderecht, Großbritannien folgte erst 1966. Österreich ratifizierte mit gleichzeitiger Anerkennung des Individualbeschwerderechts am 3.9.1958, die Schweiz folgre ebenso wie Frankreich im Jahr 1974, wobei Frankreich erst im Jahr 1981 das Individualbeschwerderecht anerkannte. Liechtenstein ratifizierte die Konvention im Jahr 1982. Als einziges Land ist Griechenland vorübergehend, nämlich für die Dauer von vier Jahren (während der Zeit des Obristenregimes) zwischen 1970 und 1974, aus der EMRK ausgetreten. Am Vorabend der politischen Wende in den damals kommunistischen Staaten Osteu- 4 ropas waren mit Ausnahme von Finnland, das noch 1990 folgre, sowie Andorra und Monaco alle demokratischen Staaten Europas der EMRK beigetreten. Zählte die EM RK am Beginn des Jahres 1990 noch 22 Mitgliedstaaten, so hat sich die Zahl in den neunziger Jahren bis heute auf 47 mehr als verdoppelt. Die neunziger Jahre wurden zu einer bewegten Zeit für die Konvention und ihre Organe. Bereits das „alte" System der Konvention war noch ohne die neuen Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas in eine Krise geraten. Eine Vielzahl von Beschwerden, insbesondere wegen überlanger Verfahrensdauer vor allem gegen Italien, und die Folgen der Anerkennung des Individualbeschwerderechts durch die beiden bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten Frankreich und Türkei in den achtziger Jahren führten zu einer Belastung des Konventionssystems, die Reformen unabweisbar machte. In dieser Situation entschloss man sich zu einer Reform des Rechtsschutzmechanismus dergestalt, dass das Nebeneinander von zwei Organen, Kommission und Gerichtshof, beseitigt und ein neuer ständiger Gerichtshof geschaffen wurde. Diese Änderungen traten am 1. 1 1. 1998 mit dem 11. Zusatzprotokoll in Kraft. Schon kurz nach dem Inkrafttreten zeigte sich, dass weitere Reformen des Rechtsschutzmechanismus erforderlich sind. Es begann daher im Europarat erneut eine Diskussion über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und sein Verfahren. 9 Sie mündete in das 14. Protokoll, mir dem wesentliche Änderungen im Verfahren, aber auch in der Organisation des Gerichtshofes herbeigeführt wurden. Es trat mit erheblicher Verzögerung am 1. 6.2010 in Kraft. Ein zwischenzeitig zwischen den Mitgliedstaaten als vorübergehende Alternative ausverhandeltes „Protokoll Nr. 14bis" trat gleichzeitig außer Kraft. 10 In den letzten Jahren war die Effektivität des Straßburger Rechtsschutzsystems Gegen- 5 stand intensiver Diskussion. Gleichzeitig war die Rechtsprechung des EGMR teils heftiger Kritik von Seiten einzelner Mitgliedstaaten ausgesetzt, die sich zum Teil mitunter an einzelnen spektakulären Entscheidungen festmachen ließ. Eine Folge dessen waren verschiedene Konferenzen in lncerlaken (2010), in lzmir (2011) und in Brighton (2012): Weitere Reformdiskussionen folgten, die bisher aber nur in zwei Protokollen von eingeschränkter Bedeutung mündeten. Das 15. Protokoll sieht primär Änderungen bei der Amtsdauer der Richter und eine Verschärfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen von Individualbeschwerden vor. Das 15. Protokoll, das von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss, ist bislang nicht in Kraft getreten. 11 Mit dem 16. Protokoll 9 10
11
Vgl. die Beiträge in EuGRZ 2003, 93ff. Protocol No. 14bis to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, CETS No. 204. Es fehlt nur die Ratifikation von Italien (Stand: Oktober 2020).
3
I. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher ~rtrag
ist ein Gutachtenverfahren über Initiative von nationalen Höchstgerichten eingefühn worden. 12 6 Bereits mit dem 14. Protokoll war in An. 59 Abs. 2 EMRK die Möglichkeit eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK geschaffen worden. Im Juli 2011 wurden die Verhandlungen über ein Abkommen zum Beitritt der Europäischen Union abgeschlossen. Der Entwurf eines Übereinkommens enthielt insbesondere in einem neuen An. 59 Abs. 2 EMRK eine Reihe von Sonderbestimmungen für die Union sowie Anpassungen der explizit auf „Staaten" bezogenen Bestimmungen der Konvention. Das negative Gucachten des EuGH vom 18.12.2014 zu diesem Entwurf brachte den Beicrimprozess vorläufig zum Stillstand. 13 7 Daneben hat sich die Konvention in den gut fünfzig Jahren ihres Bestehens auch inhaltlich weiterentwickelt. Anders als bei Verfassungen konnte jedoch keine Änderung der materiellen Garantien der Konvention durch Änderung des Normtextes vorgenommen werden. Vielmehr wurde der Grundrechtsbestand durch Zusatzprotokolle ergänzt. Das l. Protokoll enthält jene Rechte, die während der Entstehung der Konvention aus der Stammfassung herausgefallen sind, nämlich die Eigentumsgarantie, das Erziehungs- und Bildungsrecht sowie das Reche auf freie Wahlen. 14 Es trat bereits im Mai 1954 in Kraft. Die Schweiz ist diesem Protokoll bis heute fern geblieben. Das 4. Zusatzprotokoll trat im Jahr 1968 in Kraft und betrifft die Freizügigkeit von In- und Ausländern sowie Ausweisungsverbote für eigene Staatsangehörige bzw. in eingeschränkter Form für Ausländer. In den achtziger Jahren folgten das 6. und das 7. Zusatzprotokoll. Das 6. Protokoll ergänzt das Recht auf Leben um die Abschaffung der Todesstrafe und trat im Jahr 1985 in Kraft. Das 7. Zusatzprotokoll trat im Jahr 1988 in Kraft und enthält im Wesentlichen Ergänzungen der Justiz- und Verfahrensgarantien der An. 5 bis 7 EMRK. Deutschland hat es bis heute nicht ratifiziert. Das 12. Zusatzprotokoll, das am 1.4.2005 in Kraft trat, aber bis heute nur von einer Minderheit von Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, enthält einen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, der das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK ergänzen soll. Das von fast allen Mitgliedstaaten ratifiziene 13. Zusatzprotokoll trat am l. 7. 2003 in Kraft und dehnt das Verbot der Todesstrafe auch auf Kriegszeiten aus. § 2. Die EMRK im Völkerrecht
1. Vom völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz zur europäischen Menschenrechtsverfassung
Die EMRK nimmt als multilateraler völkerrechtlicher Vemag in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung im völkerrechtlichen Vemagsrecht ein. In inhaltlicher Sicht heben sich Menschenrechtsvemäge vom sonstigen Völkerrecht dadurch ab, dass sie nicht Beziehungen und Austauschverhältnisse zwischen Staaten zum Gegenstand haben, son12
Das 16. Protokoll ist am 1. August 2018 in Kraft getreten, wofür zehn Ratifikationen erforderlich waren; bislang haben 15 Staaten das 16. Prorokoll ratifiziert. Deutschland, Österreich und die Schweiz haben derzeit noch nicht ratifiziert. n S. näherunren ~4 Rn.13ff. 14 Dazu Partsch, ZaöRV 1953/54, 656 ff.; Weiß. Konvention, S. 9; Grote, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 1 Rn. 31 ff.
4
§ 2.
Die EMRK im Völken-echt
dem regelmäfüg das Verhälmis zwischen Individuen, die sich auf Menschenrechte berufen, und Staaten, die zur Einhalrung der Garantien völkerrechrlich verpflichtet sind, regeln. Im besonderen Fall der EMRK isr ein Rechrsschurzsysrem zur gerichrlichen Überprüfung der Einhaltung der Garantien mir der seit dem 11. Zusatzprotokoll für alle Mirgliedsraaren obligatorischen Einräumung eines Individualbeschwerderechts vor einem ständigen Gerichtshof gegeben. 1 Man spricht bei Verträgen dieser Art von „law making treaties" oder „Geset:usverträgen", für deren lnterprecacion Besonderheiten gelcen. 2 Die EMRK steht jedoch als Menschenrechrsinscrument nicht allein da. Auf der Ebene der Vereinten Nationen sind die beiden Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirrschafrliche und soziale Rechte zu erwähnen. 3 Sie verfügen indes über kein vergleichbares Kontrollsvsrem; der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen arbeitet in einem Be richrssyscem, eine Unterwerfung unter dieses System findet nur nach Maßgabe der Rarifikarion eines Fakulrarivprotokolls srarr. 4 Auf regionaler Ebene gibt es einen vergleichbaren Vertrag etwa in Gestalr der Amerikanischen Menschenrechtskonvention mir dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichrshof und der Menschenrechrskommission als Rechtsschurzeinrichrungen. 5 0
Neben dem System der EMRK gibt es in Europa und speziell im Rahmen des Europa- 2 racs noch weitere Instrumente des Menschenrechcsschuczes. Außerhalb des Europarats ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hervorzuheben. Sie war während der Zeit des Kalten Kriegs gekennzeichnet durch die prozesshafre und völkerrechrlich unverbindliche Ausgestalrung der Garantien. Gemeinsam mit der EMRK ist dem System der OSZE, dass ihr Ziel die Wahrung der Menschenrechte gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten ist. Im Rahmen des Europarats ist als weitere Verbürgung die Europäische Sozialcharta von 1961 zu erwähnen, welche eine Reihe von sozialen und wircschafrlichen Rechten umfasst und in institutioneller Hinsicht ein Überwachungssystem mit Staatenberichten vorsieht (An. 21 ff.). Sie trat am 26.2.1965 in Kraft, Deutschland gehörte zu den Gründungsmitgliedern. Österreich ratifizierte im Jahr 1969, allerdings mit Erfullungsvorbehalt, sodass sie innerstaaclich nicht unmittelbar anwendbar ist. 6 Die Schweiz unterzeichnete zwar im Jahr 1976, ratifizierte jedoch bis heure nicht. Die revidierte Sozialcharta aus dem Jahr 1996 enrwickelce die ursprüngliche Sozialcharta weiter und trat im Jahr 1999 in Kraft. Österreich ratifizierte auch diese nur mir Erfüllungsvorbehalt, Deucschland unterzeichnete bisher bloß. Als weiteres wesenrliches Instrument ist das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe 1
Vgl. Tomwcha1. Human Righcs Becween ldealism and Realism, 2003, S. 198. Vgl. unten § 5. 3 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1966 (BGBI. II, 1973, S. 1534); Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 1966 (BGB!. II, 1973, S. 1570). 4 Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in: Klein (Hrsg.), The Monitoring System ofHuman Rights Treary Obligations, 1998. s Vgl. dazu Kokott, Das interamerikanische System zum Schun der Menschenrechte, 1986; Rrnsmann, Menschenrechtsschun im Inter-Amerikanischen System: Modell für Europa?, VRÜ 33 (2000), 137ff.; Krmpm/Hillgrubrr, Völkerrecht, 2012, § 54 Rn. 42 ff. 6 Vgl. Öhlingrr!Ebrrhard, Verfassungsrecht, 12. Aufl. 2019, Rn. 682.
s
/. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher \.-ertrag aus dem Jahr 1987 (CPT) zu erwähnen. Das Kontrollverfahren ist auf Prävention gerichtet und basiert auf einem System von Besuchen von Haftanscalten in den Micgliedstaaten. Die Ausschüsse erscatten Berichte, die im Konsens mit dem koncrolliercen Venragsstaac auch veröffentlicht werden können. 7 Jenseits der genannten Verträge liegt der Schwerpunkt des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats im Bereich des Minderheitenschutz.es. Zu erwähnen sind hier die Europäische Chana der Regional- und Minderheitensprachen von 1992 (Inkrafttreten für die Schweiz 1997, für Deutschland 1999 und für Österreich 2001) und das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 (lnkraftcreten für Deutschland und Österreich 1998, für die Schweiz 1999). Eine weitere menschenrechtsschützende Konvention im Bereich des Europarats isc die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin von 1997 mit einem Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von Menschen ( 1998). Die Biomedizinkonvention ergänzt die EMRK in wesentlichen Bereichen im Hinblick auf den medizinischen Fortschritt und die damic einhergehenden Gefahren. 8 Sie trat am 1. 12. 1999 in Kraft, 29 Staaten haben bis Ende 2015 ratifiziert, die deutschsprachigen Staaten üben sich in Zurückhaltung. Hat die Schweiz die Konvention immerhin Ende 2008 ratifiziert, liegt in Österreich bislang lediglich eine Empfehlung zur Ratifikation der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt vor. In Deutschland ist man im Hinblick auf das angeblich zu geringe Schutzniveau noch deutlich skeptischer. 3 Die EMRK hat sich aber im Lauf der Zeit aus dem rein völkerrechtlichen Kontext emanzipiert. Durch vielfältige Einflüsse auf die Rechtsordnungen und Rezeptionsprozesse in den Verfassungen europäischer Staaten hat eine enge Verklammerung zwischen der EMRK, den nationalen Verfassungen und dem Recht der Union stattgefunden. Diese Verflechtungen werden unten in den §§ 3 und 4 im Einzelnen dargestellt. Vorweg kann festgehalten werden, dass grundrechtliche Garantien heute in Europa als "unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur ... gehörendes Essentiale" 9 auf verschiedene rechtliche Systeme verteilt sind. Die EMRK ist neben den Verfassungen der Mitgliedstaaten jedenfalls ein solches. Die in der EMRK verbundenen Mitgliedstaaten haben einen Teil ihres materiellen Verfassungsrechts in die „Komplementärverfassung" 10 oder „Nebenverfassung" 11 EMRK ausgelagert, sodass es zutreffend erscheine, diese mit dem EGMR als Verfassungsinstrumenc 12 und mit Stimmen aus der Literatur als 7
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Vgl. zum Syscem Krirbaum, Folcerprävention in Europa, 2000, S. 98ff.; Kickrr, The European Comminee for the Prevenrion ofTorture (CPT) - developing European Human Rights Law?, FS Ginrher, 1999, s. 595 ff. S. dazu uufi, Das Menschenrechrsübereinkommcn zur Biomedizin und das deutsche Recht, NJW 1997, 776; Kopttzki, Die Biomedizinkonvention des Europarates und das Transplanracionsrecht, in: Barta/Webcr (Hrsg.), Rechcsfragcn derTransplanracionsmedizin in Europa, 2001, S. 121 ff. BVerfGE 37,271 (280); zu Grundrechten als Verfassungsinhalt vg).jmardt, Grundrechtsenrf.utung im Geserz, 1999, S. 8 ff., 42 ff. Zum Begriff üiufrr, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union - Notwendigkeit einer offenen Debane, Integration 1994, 204 (207); vgl. auch Prrnicr, Kompecenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, 866. Urrpmann-Wittzack, Völkerrechtliche Vcrfassungselemcnce, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 177 ( 182, 186, 199). EGMR. 23.3.1995. !AJizidou (Prrliminary Objmions) ./. n.:R, Nr. 15318/89, Z. 75 (.,constiturional instrumenr of European public order").
§ 2. Die EMRK im Völkerrecht
Teil des "ordre public europcen" ,1 3 als Europäische Menschenrechtsverfassung, 14 als „materielle gemeineuropäische Verfassung" 15 als „Grundrechtsverfassung" 16 oder als ,,Konstitutionalisierungsprozess" 17 zu bezeichnen. Vor allem nach Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK kann im lichte der Rechtsprechung des EGMR von gut 60 Jahren von einem europäischen Verfassungsinstrument der Menschenrechte, mithin von einer völkerrechtlichen Teilverfassung im Bereich der Menschenrechte 18 gesprochen werden. II. Kernbestand von Rechten und stufenweise Ergänzung durch die Zusatzprotokolle
Ein Charakteristikum der EMRK, das diese von Grundrechtskatalogen nationaler Ver- 4 fassungen unterscheidet, ist es, dass nur ein Kernbestand von Rechten für alle Staaten verbindlich isr. Die Garamien der Zusatzprotokolle, die neue menschenrechtliche Garantien enthalten, verpflichten hingegen nur jene Staaten, die diese auch ratifiziert haben. Der Ratifikationserfolg der einzelnen Zusatzprotokolle ist indessen sehr unterschiedlich. Das 1. ZP mit drei ganz unterschiedlichen Menschenrechten (Eigentumsgarantie, Recht auf Bildung und Recht auf freie Wahlen) und das 6. ZP mit dem Verbot der Todesstrafe wurden von fast allen Mitgliedstaaten ratifiziert, 19 darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Anders ist die Lage beim 4. und 7. ZP, welche von einigen Mitgliedstaaten nicht ratifiziere wurden. 20 Das 7. ZP wurde von drei Staaten nicht ratifiziert. 21 Das 12. ZP wurde bislang nur von 20 Staaten ratifiziert, unter diesen befinden sich nur zehn Mitgliedstaaten der EU. Das 13. ZP, das ein generelles Verbot der Todesstrafe enthält, trat am 1.7.2003 in Kraft. 44 Staaten haben das Protokoll ratifiziert. 111. Die Vorbehalte nach Art. 57 EMRK Literatur: Camnon/Hom, Reserva1ions IO 1he European Convention on Human Rights: The Belilos Case, in: GYIL 1990, 69; Wildhaber, Rund um Belilos. Die schweizerischen Vorbehahe und auslegenden Erklärungen zur Europäischen Menschenrechtskonvention im Verlaufe der Zeit und im lichte der Rechtsprechung, FS Barliner, 1993, S. 325. Rechuprechung: EGMR. 29.4.1988, Be/i/os ./. Sül, Nr. 10328/83 = EuGRZ 1989, 21; EGMR. 25.8.1993, Chorherr./. AU1~ Nr. 13308/87 = Jßl 1994, 104; EGMR, 23.10.1995, Gradinger ./. AUT, Nr.15963/90 = JBI 1997, 577; EGMR, 3.10.2000, Eismstecken ./. AUT, Nr.29477/95 = ÖJZ2001, 1·'
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IS 16
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Häber/.e, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 261 (265). Frowein, Der europäische Menschenrechtsschutz als Beginn einer europäischen Verfu.ssungsrechcsprechung, JuS 1986, 845. Hi/Jgn,ber, Staat und Religion, DVBI. 1999, 1155 ( 1176). Ho/frrieister. Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeu1ung in Deutschland, Der S1aat 2001, 349 (353ff.). Wa/ur, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstirutionalisicrungsprozcß, ZaöRV 1999, 961.
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Zu ihrer Charakterisierung vgl. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, WDStRL 60 (2001), 290 (294f., 316f.). Das 1. ZP wurde überwiegend zeitgleich oder in zeirlichem Zusammenhang mit der EMRK selbst von allen Mi1gliedstaa1en ratifiziert. Die Schweiz und Monaco haben das Protokoll bis heute nicht ratifiziert. Russland hat als einziger Staat das 6. ZP nicht ratifiziert. Das 4. ZP, das im Wesentlichen aufemhalrsrechrliche Garantien enthält, ist immerhin von vier Staaten nicht ratifiziert worden, unter diesen Griechenland und das Vereinigte Königreich. Deutschland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich haben das 7. ZP nicht rarifizien.
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I. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher \-ertrag 194; EGMR. 23.10.2001, Kozlova u. Smimova ./. LAT, Nr. 57381/00; EGMR. 2.11.2010, LupäjniekJ.!. LAI; Nr. 375116/06; EGMR, 4.3.2014, Graruk Stroms./. ITA. Nr. 18640/10; EGMR, 23.6.2015, Marie u. Pownia DOO ./. SRB, Nr. 23001/08.
1. Allgemeines
5 Ein weiteres völkerrechtliches Instrument unterscheidet die EMRK von nationalen Verfassungen, nämlich die - in An. 19 WVK vorgesehene - Möglichkeit, Vorbehalte zu erklären. Are. 19 \VVK formuliert Bedingungen für Vorbehalte nach allgemeinem Völkerrecht. Danach sind Vorbehalte zulässig, sofern nicht der Vertrag den Vorbehalt verbietet (lir. a), dieser vorsieht, dass nur bestimmte Vorbehalte gemache werden dürfen und der betreffende Vorbehalt den Anforderungen des Vertrags nicht entspricht (lic. b), und schließlich der Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar ist (lic. c). Gemäß Art. 57 EMRK können zu einzelnen Bestimmungen der EMRK unter bestimmten Voraussetzungen Vorbehalte erklärt werden, soweit ein „Gesetz" 22 nicht mit der betreffenden Vorschrift übereinstimmt. Darin liegt eine Regelung i. S. des An. 19 lit. b WVK. Wenn ein Vorbehalt erklärt wurde, der Art. 57 EMRK entspricht, verstößt er auch nicht gegen Ziel und Zweck der EMRK i. S. v. Art. 19 lit. c WVK. 6 Die meisten Vorbehalte betreffen die Verfahrensgarantien der An. 5 und 6 EMRK, hier wiederum häufig Verfahrensrechre in Disziplinarverfahren und Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten. Vorbehalte im Bereich der Freiheitsrechte sind dagegen heute nur mehr in geringem Maße vorhanden und betreffen zumeist historische Besonderheiten der Mirgliedsraaten, die aus dem Übergang von früheren Staats- und Regierungsformen zur parlamentarischen Demokratie herrühren. 23 2. Voraussetzungen der Gültigkeit
7 Are. 57 lässt Vorbehalte nur in engen Grenzen zu. Erstens sind „Vorbehalte allgemeiner Art" nach Abs. 1 S. 2 nicht zulässig. Zweitens müssen Vorbehalte nach Abs. 2 mit einer „kurzen Darstellung" 24 des betreffenden Gesetzes verbunden sein. In diesen Vorgaben liegt ein Bestimmtheirsgebor für Vorbehalte. Mit diesem Bestimmtheitsgebor haben die Straßburger Organe erst in den achtziger Jahren Ernst gemacht. 25 Auf dem Boden der neueren Judikatur erweisen sich viele - von den „alten" Mitgliedstaaten abgegebene - Vorbehalte und Erklärungen als ungültig2 6 oder wenigstens in ihrer Wirkung eingeschränkt. 27
n Die Praxis der Mitgliedstaaten lligt, dass mit Gesetz vielfach ein Verfassungsgesetz gemeint ist. Vgl. die zu An. 3 4. ZP abgegebene Erklärung Österreichs bezüglich der Mitglieder des Hawes Habsburg-Lothringen (öBGBI. 1969/434); dazu l'abel, 60 Jahre Österreich in der Europäischen Menschenrcchcskonvencion - eine Bilanz, in: PabelNasek (Hrsg.), Menschenrechte 1948/ l 958. Die Entwicklung und Bedeutung der Menschenrechte in Österreich, 2020, S. 187 (191 ff.). 2~ Engl .• brief sta1emenc"; franz. ,,bref expose"; Übersetzungen der Schweiz und Österreichs: ,,kurze(n) Inhaltsangabe". lS Oettr, Die „auslegende Erklärung" der Schweiz zu An. 6 Abs. 1 EMRK und die Unzuläs.sigkeic von Vorbehalten nach An. 64 EMRK. ZaöRV 1988, 514 (518); Frowein/Peukm. Art. 57 Rn. 5; Villiger, Rn. 27[ 26 EGMR. 23.10.1995. Gradinger ./. Alff, Nr. 15963/90 = JBI 1997, 577, Z. 55; EGMR. 3.10.2000, Eiunsttcken ./. ALIT, Nr. 29477/95 = ÖJZ 2001, 194, Z. 28f. z, Vgl. EGMR, 25.8.1993, Chorherr./. AU·1; Nr. 13308/87 =JBl 1994, 104, Z.21. 23
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§ 2. Die EMRK im Völkerrecht
Was mic einem Vorbehalc „allgemeiner Art" gemeine isc, ergibc sich aus An. 57 Abs. 1 S. 1. Danach müssen Vorbehalte zu „einzelnen" Arcikeln der Konvencion abgegeben werden und sie müssen sich auf ein oder mehrere bestimmte Gesetze beziehen, indem sie dem menschenrechclichen Defizit dieser Gesetze die Rechtsfolge der Völkerrechtswidrigkeit nehmen. Das Verbot allgemeiner Vorbehalte schließt insbesondere die Gültigkeit von auslegenden Erklärungen der Mitgliedstaaten weitgehend aus. Diese sind vielfach so allgemein gehalten, dass sie die Kriterien des An. 57 Abs. 1 EMRK nicht erfullen. Die entscheidende Hürde fur die meisten Vorbehalte bildet jedoch das Erfordernis einer kurzen Darstellung des Inhalts des Gesetzes. Dieses bildet sowohl ein Beweiselemenc als auch einen Faktor der Rechtssicherheit und soll gegenüber den anderen Vertragsstaaten und den Organen der Konvention sicherstellen, dass der Vorbehalt nicht über die vom betroffenen Staat ausdrücklich ausgenommenen Vorschriften hinausgeht. 28 Auch die Bezugnahme auf die Fundstelle im offiziellen Publikacionsorgan fur Gesetze verbunden mit der Angabe des Gegenstands der betreffenden Regelungen erfullc denselben Zweck, weil sie es jedermann ermöglicht, die konkreten betreffenden Gesetze zu idencifizieren und jede Information über sie zu erhalten. Überdies gewährt sie auch Schutz gegen eine ausdehnende Auslegung des Vorbehalts. 29 Uncer Anwendung dieser Kriterien wertete der EGMR die beiden schweizerischen Vorbehalte zu An. 6 EMRK10 sowie den Vorbehalc Österreichs zu An. 6 EMRK 31 und die einander ähnelnden Erklärungen Österreichs und Italiens zu Are. 4 7. ZP als ungültige Vorbehalte.32 Vorbehalte Estlands und Litauens zu Art. l 1. ZP und Serbiens und Moncenegros zu den Artikeln 5 und 6, die eine präzise Aufzählung der Gesetze enthalten, befand der EGMR hingegen fur gülcig. 33 Vorbehalte, die ein Staat zu einem bestimmten Artikel der EMRK erklän hat, beziehen sich nicht auf andere Artikel, mag auch der Gewährleistungsinhalt der beiden Konventionsgarantien Überschneidungen aufweisen. 34 Dagegen bleibt der Vorbehalt auch bei geringfugigen Änderungen der Rechtslage auf die vom Gesetz ursprünglich erfassten Verfahren oder Sachverhalte anwendbar. 35 Schließlich enthält Art. 57 EMRK (ebenso wie An. 19 WYK) eine zeitliche Grenze fur die Erklärung von Vorbehalten: Vorbehalce dürfen nur anlässlich der Ratifikation der 28
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3 '
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EGMR, 29.4.1988, Be/ilos ./. SUI, Nr. 10328/83 = EuGRZ 1989, 21, Z. 59; EGMR, 22.5.1990, ~ber ./. SUI, Nr. 11034/84 = EuGRZ 1990, 265, Z. 38. So zum österreichischen Vorbehalt zu An. 5 EMRK und zum Bundesgesetzblatt EGMR, 25.8.1993, Chorherr./. AUT, Nr. 13308/87 = JBI 1994, 104, Z. 21. EGMR. 29.4.1988, Belilos ./. SUI, Nr. 10328/83 = EuGRZ 1989, 21, Z. 59; EGMR. 22.5.1990, ~ber .!."SUI, Nr. 11034/84 = EuGRZ 1990, 265, Z. 38. EGMR. 3.10.2000, Eismsteckm ./. AUT, Nr. 29477/95 = ÖJZ 2001, 194, Z. 28f. EGMR, 23.10.1995, Gradinger ./. AUT, Nr.15963/90 = JBI 1997, 577, Z. 55; EGMR, 4.3.2014, Granek Stevens./. ITA, Nr. 18640/10, Z. 204 ff. Vor diesem Hintergrund sind auch die entsprechenden Erklärungen Frankreichs und Portugals zu Artikeln des 7. ZP ungültig. EGMR, 15.6.2000, Shmjorkin ./. EST, Nr. 49450/99; EGMR, 23.10.2001, Kozlova u. Smirnova ./. LAl: Nr. 57.~81/00; EGMR, 2.11.2010, Liepäjneks ./. LAT, Nr. 37586/06; EGMR, 23.6.2015, Matic u. Polonia DOO ./. SRB, Nr. 2300 l /08, Z. 35 ff EGMR, 22.2.1994, Burghartz ./. SUI, Nr. 16213/90, Z. 27, 23. EGMR, 23.10.1995, Gradinger ./. AUT, Nr. 15963/90 = JBI 1997, 577, Z. 39; dazu Grabenwarter, Entscheidungsanmerkung, JBI 1997, 578. EGM R, 23. 6.2015. Matic u. Polonia DOO ./. SRB, Nr. 23001 /08, Z. 41.
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1. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher Vt-rtrag EMRK oder eines Zusatzprotokolls erklärt werden. Ihre Erneuerung oder Anpassunginsbesondere in Reaktion auf die strengeren Anforderungen der jüngeren Judikatur ist nicht zulässig. Dies führt zu der merkwürdigen Konsequenz, dass Vorbehalte von später beigetretenen Staaten gültig sind, während zum selben Rechtsgebiet und Konventionsrecht erklärte ältere Vorbehalte anderer Mitgliedstaaten ungültig sind. In zeitlicher Hinsicht ist zu beachten, dass die spätere Zurückziehung eines Vorbehalts nichts an der Unzulässigkeit einer Beschwerde im Hinblick auf die vom Vorbehalt betroffene Konventionsgarantie ändert. 36 IV. Suspendierung im Notstandsfall Literatur: Ergec, Les droits de l'homme a l'epreuve des circonstances exceprionnelles. Erude sur l'arricle 15 de la CEDH, 1987; Kitz. Die Nomandsklauscl des Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvencion, 1982; O'Boyk, Emergency Governmenc and Derogation under ehe ECH R, EH RLR 2016, 331; Polzin, Der verrechclichte Ausnahmezustand. Art. 15 EMRK und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZaöRV 2018, 635; Wum, Die völkerrechtliche Sicherung der Menschenrechte in Zeiten staaclichen Notstandes -Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1967. Rechtsprechung: EGMR, 1.7.1961, lawkss ./. IRL, Nr. 332/57 (Definition von „Notstand"); EGMR. 18.1.1978, IRL ./. GBR, Nr. 5310/71 = EuGRZ 1979, 149 (Ermessensspielraum der Vertragsstaaten); EGMR. 26.5.1993, Brannigan u. McBride ./. GBR, Nr. 14553/89 u. a. = ÖJZ 1994, 64 (eigene Beurteilung durch Konvencionsorgane; Art. 15 Abs. 3 EMRK); EGMR. 18.12.1996, Aksoy ./. TUR, Nr. 21987/93; EGMR, 19.2.2009 (GK), A. u. a. ./. GBR, Nr. 3455/05 (Verhältnismäßigkeit der :--l"otstandsmaßnahmen).
1. Allgemeines
8 Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Mitgliedstaat für eine begrenzte Zeit das Ausmaß seiner völkerrechtlichen Verpflichtung nach der EMRK reduzieren. Nach Art. 15 EMRK kann jeder Mitgliedstaat im Fall eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedrohe, Maßnahmen treffen, welche die in der EMRK vorgesehenen Verpflichtungen außer Kraft setzen (,,derogating"/ .,derogeant"), jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert, und unter der weiteren Voraussetzung, dass die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. Die Möglichkeit des ,.AußerKrafr-Setzens" nach Art. 15 EMRK bedeutet, und zwar anders als es die Formulierung ,,abweichen" in der Übersetzung Deutschlands nahe legt, dass die Konvention im Ausmaß der Erklärung - ihre Rechtsgültigkeit vorausgesetzt - unanwendbar ist.37 Auf diese Weise erweitert Art. 15 EMRK die Möglichkeit von nach der Konvention zulässigen Grundrechtseingriffen der Mitgliedstaaten. Zuletzt hat Frankreich im Gefolge der Anschläge vom 13. November 2015 eine Erklärung nach Art. 15 abgegeben. In der früheren Praxis haben Griechenland, Irland, die Türkei, Großbritannien, Albanien, Armenien und Frankreich zu diesem Instrument gegriffen, und zwar überwiegend, um einzelne Verfahrensgarantien nach den An. 5 und 6 EMRK außer Kraft zu setzen. 38 Großbritannien halte im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und der darauf folgenden Geserzgebung eine entsprechende Suspendierungscrklärung abgegeben. Da die Anschläge nicht direkt gegen Großbritannien gerichtet waren und sich
¼ 37
EGMR, 23.6.2015, Ma11l' u. Polonia DOO ./. SRB, Nr. 23001/08, Z.41. EGMR, 26.5.1993, Brannigan u. McBride ./. GBR, Nr. 14553/89 u. a. = ÖJZ 1994, 64, Sondervotum
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Maiseher. Kitz. Die Notstandsklausel des An. I S der Europäischen Menschenrech1skonven1ion, 1982, S. 96ff.; Krieger, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 8 Rn. 2 m. w. N.
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§ 2. Die EMRK im Völkerrecht die vom englischen Geserzgeber ergriffenen Maßnahmen im Vergleich zu dem Verhalten der übrigen Konvenrionssra.acen unverhältnismäßig erwiesen, war die Erklärung ungültig. 3' Auch Frankreich hat nach den Terroranschlägen vom November 2015 eine Derogacionserklärung nach Art. 15 EMRK abgegeben. ◄ 0 Die Türkei hat nach dem Pucschversuch vom Juli 2016 den innema.arlichen Ausnahmezustand ausgerufen und eine Dcrogacionserklärung abgegeben. ◄ 1 Eine Reihe von Micgliedscaaren hat im Zusammenhang mit der Gesetzgebung, die zur unminelbaren Bekämpfung der Covid 19-Pandemie verabschiedet wurde, Derogacionserklärungen nach Art. 15 EMRK abgegeben. Suspendiere wurden im Besonderen das Recht aus Are. 8 und 11 EMRK sowie da~ Reche auf Bildung (Are. 2 1. ZP EMRK) und das Reche auf Freizügigkeit (Art. 2 4. ZP EMRK).
2. Voraussetzungen der Suspendierung
Zu den Voraussetzungen einer Suspendierung gehört zunächst der Fall eines Krieges. 9 Unter einem Krieg ist in der völkerrechtlichen Terminologie eine Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staaten zu verstehen, die nach Auffassung der beteiligten Parteien den Kriegszustand auslöst.42 Der Krieg bildet einen Sonderfall des öffentlichen Notstands im Sinn von Art. 15 Abs. l zweite Alternative. Auch für den Krieg muss qualifizierend hinzutreten, dass er das Leben der Nation bedroht, das heiße, dass ein aktuelles Bedrohungsbild vorliege. Eine hypothetische Bedrohung ist ebenso wenig ausreichend wie ein Angriff auf einen anderen, wenn auch befreundeten Staat. Eine formelle Kriegserklärung ist freilich nicht erforderlich. Eine Suspendierung kann ferner erfolgen, wenn ein anderer öffentlicher Notstand vor- l 0 liegt. Ein solcher ist dann gegeben, wenn eine außergewöhnliche Krisen- oder Nocscandssicuation vorliegt, welche die ganze Bevölkerung betrifft und eine Bedrohung des organisierten Lebens der Gemeinschaft, aus der sich der Staat zusammensetzt, bildec. 43 Allerdings muss nicht das gesamte Hoheitsgebiet eines Staates tatsächlich bedrohe sein, es reicht auch ein lokal begrenzter Konflikt oder Notstand aus, der in seinen Auswirkungen die Gesamtheit der Bevölkerung berührt. 44 Im Fall l.Awlm wurden solche Auswirkungen im Hinblick auf das Bestehen einer Untergrundarmee, die auch außerhalb des irischen Territoriums tätig war, und auf die krisenhafte, sich zunehmend verschlechternde Situation bejaht. 4 ~ Der Notstand in den sechs nordirischen Grafschaften wurde später ohne weiteres als ein Notstand im Sinn des Art. 15 angesehen.◄ 6
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House of Lords, A. u. a. v. Secmary ofStau far the Horne Department, EuGRZ 2005, 488; GrabenwarRighc eo a Fair Trial and Terrorism, in: Sociece Fran~aise pour le Droic International (Hrsg.), Les nouvelles menaces contre la paix et la securite internationales, 2004, S. 211 (223 f.). •• Polzin, Der verrechrlichce Ausnahmezustand. Are. 15 EMRK und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZaöRV 2018, 635 (652ff.); s. auch O'BoylL, Emergency Government and Derogation under ehe ECH R. EH RLR 2016, 331 (331 f., 334 f.). 41 Vgl. ~ber, Die Europäische Menschenrechcskonvenrion und die Türkei. Zum Notstand sowie zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe, DÖV 2016, 921 (922); Polzin, ZaöRV 2018, 636, 6571I ◄ z Lukan, in: Kneihs/Lienbacher, Art. 15 EMRK Rn. 7f.; Borhe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Virzchum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Aufl. 2019, Rn. 9; s. dazu auch v. Heinrgg, Recht des bewaffneten Konflikts, in: lpsen (Hrsg.), Völkerrechc, 7. Aufl. 2018, § 61 Rn. 2. 0 EGMR, 1.7.1961, IAwiLJJ .1. IRL, Nr. 332/57, Z. 28; s. auch Luka11, in: Kneihs/Lienbacher, Are. 15 EMRK Rn. 9ff. 44 EGMR. 18.1.1978, IRL ./. UK, Nr. 5310/71, Z. 205; EGMR. 26.5.1993, Brannigan u. McBriat' ./. UK. Nr. 14553/89, 14554/89, Z. 44ff.; EGMR. 18.12.1996, Akroy .1. TUR, Nr. 21987/93, Z. 69ff.; EGMR: 23.9.1998, Demir u. a. .1. TUR. Nr. 21380/93 u. a., Z. 45. 4 s EGMR. 1.7.1961, Lawkrd. IRL, Nr. 332/57, Z. 43f. 46 EGMR. 18.1.1978, IRL ./. GBR. Nr. 5310/71 = EuGRZ 1979, 149, Z. 78. rn;
11
/. Teil. Die EMRK als völken-echtlicher Vertrag Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 und der Londoner Bombenanschläge vom Juli 2005 stellte der Gerichtshof im Fall A. u. a. fest, dass Großbritannien angesichts aufrechter Terrorgefahr zu Recht vom Vorliegen einer Nocstandssituation i. s. d. Art. 15 ausgegangen war. 47 Auch die Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung und des öffentlichen Gesundheitssystems durch die (°,0vid 19-Pandemie kann die Voraussetzung für eine Notstandssituation i. S. v. Art. 15 Abs. 1 2. i\.lc. EMRK erfüllen.• 8
Der Gerichtshof räumt zwar ein, dass die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung, ob ein entsprechender Notstand vorliege, über einen Beurreilungsspielraum verfügen. 49 Allerdings weist der Worclauc, nach dem das Außer-Kraft-Setzen der Garantien auf den unbedingt erforderlichen Umfang beschränkt ist, darauf hin, dass der Beurteilungsspielraum von einer europäischen Kontrolle begleitet werden muss. 50 11 Weitere Voraussetzung ist die Erfüllung des Verhältnismäßigkeitsgrondsatzes. 51 Suspen-
dierungserklärungen sind nur in dem Umfang zulässig, den die Lage unbedingt erfordere. Bei der entsprechenden Prüfung geht der Gerichtshof mehrstufig vor. Zunächst prüft er, ob und welche normalen Maßnahmen dem Staat zur Verfügung gestanden hätten, um die entsprechende Situation zu beherrschen. Erst wenn diese nicht ausreichen, darf zu weiterreichenden Maßnahmen gegriffen werden. Kriterien für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit sind die Bedeutung des derogierten Konventionsrechts, die Umstände des Notstands und die Dauer der Situation. 52 Der Gerichtshof prüft die Verhältnismäßigkeit der Suspendierung von Konventionsrechten im Rahmen der Prüfung einer möglichen Konventionsrechtsverletzung. 53 Auch insofern verbleibt den Mitgliedstaaten ein weiter Beurteilungsspielraum. 54 Die Erforderlichkeit bejahte der EGMR in den Fällen lawkss, lrla11d ./. Großbrita1111irn sowie Brannigan und McBritk. welche allesamt die Situation in Nordirland betrafen. 55 In den beiden Fällen Aksoy und Drmir gegen die Türkei verneinte der Gerichtshof hingegen das Vorliegen von unbedingt erforderlichen Maßnahmen u. a. deswegen, weil die Regierung keine genauen Gründe dafür anführen konnte. weshalb der Kampf gegen den Terrorismus die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle der Anhaltung von Personen erfordert häne. ~
Eine weitere Zulässigkeitsvorausserzung ist, dass der Staat seine sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen einhält. Dabei ist insbesondere an die Genfer Konventionen sowie den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) zu denken. 57 Freilich ist zu beachten, dass auch Art. 4 Abs. 2 IPBPR eine Aufzählung von nocstands7
EGMR, 19.2.2009 (GK),A. u.a. ./. GBR, Nr.3455/05, Z. IBl;Schabas, ECHR, S. 595. S. hierzu . 9 • EGMR. 19.2.2009 (GK),A. u. a. ./. GBR, Nr. 3455/05, Z. 180; vgl. auch Krirgrr. in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 8 Rn. 8ff., 22; O'Boylr, EHRLR 2016, 338f.; Polzin, ZaöRV 2018, 641 f., 649/f. w EGMR. 1.7.1961, Lawkss ./. IRL, Nr. 332/57, Z.43f.; EGMR, 18.1.1978, IRL ./. GBR, Nr. 5310/71, Z. 78; EGMR, 26.5.1993, Brannigan u. McBritk ./. GBR, Nr. 14553/89 u. a. = ÖJZ 1994, 64, Z. 43. 51 lukan, in: Kneihs/Lienbacher, Art. 15 EMRK Rn. 16ff.; S,haba.1, ECHR, S. 598f. ~2 EGMR. 18.12.1996. Aksoy.l. TUR, Nr. 21987/93, Z. 68; EGMR, 26.5.1993, Brannigan u. McBn"de ./. GBR, Nr. 14553/89 u. a. = ÖJZ 1994, 64, Z. 43; dazu Polzin, ZaöRV 2018, 651. )j EGMR, 20.3.2018, Mrhmrt Hasan Alran ./. TL'R, Nr. 13237/17, Z. 140, 213. ~◄ Polzin, ZaöRV 2018, 650/f.; Wrbrr, DÜV 2016, 925f. ss EGMR. 26.5.1993, Brannigan u. McBridr ./. GBR. Nr. 14553/89 u. a. = ÖJZ 1994, 64, Z. 54f. ¾ EGMR. 18.12.1996, Aks~y./. TUR, Nr. 21987/93, Z. 83f.; EGMR, 23.9.1998, Drmiru. a. ./. TUR, Nr. 21380/93 u. a., Z. 49ff. 7 ~ Krirgrr. in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 8 Rn. 31 f.; lukan, in: Kneihs/Lienbacher, Arr. 15 EMRK Rn.22/f. •
48
12
§ 2. Die EMRK im Völkmecht
festen Rechten enthält. Da dort etwa die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit genannt ist, ist eine Außer-Kraft-Setzung von Rechtspositionen nach Art. 9 EMRK mit Blick auf den UN-Pakt regelmäßig ausgeschlossen. 3. Notstandsfeste Rechte
An. 15 Abs. 2 EMRK zählt - abschließend - verschiedene Rechte auf, die selbst unter 12 den Voraussetzungen des An. 15 Abs. 2 EMRK nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Dazu gehören uneingeschränkt das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei und die Garantie „keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 EMRK). In Bezug auf das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben sind ausdrücklich Ausnahmen für Todesfälle in Folge rechtmäßiger Kriegshandlungen zulässig. Darüber hinaus darf auch diese Garantie nicht außer Kraft gesetzt werden. 58 4. Verfahren
Bei der Erklärung eines Notstands hat der betreffende Staat das Verfahren nach Art. 15 13 Abs. 3 EMRK einzuhalten. Er hat den Generalsekretär des Europarats umfassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe zu unterrichten. Eine exakte Bezeichnung des suspendierten Konventionsrechts ist nicht zwingend erforderlich. 59 Die Einhaltung dieser PAicht ist konstitutiv für die Gültigkeit der Erklärung. 60 Mit dieser UnterrichtungspAicht wird auch bestätigt, dass dem EGMR eine inhaltliche Überprüfungsbefugnis hinsichtlich der Erforderlichkeit der Maßnahmen zukommt. Die zeitliche Begrenztheit der Maßnahmen wird in Art. 15 Abs. 3 S. 2 EMRK verdeutlicht. Dort ist die PAicht des Vertragsstaats normiert, den Generalsekretär des Europarats auch über den Zeitpunkt zu informieren, zu dem die Maßnahmen außer Kraft getreten sind und folglich die Konvention wieder volle Anwendung findet. Die Information nach An. 15 Abs. 3 EMRK muss nicht nur umfassend, sondern auch in möglichst kurzer Zeit nach Ergreifen der Maßnahmen erfolgen. Ein Zeitraum von vier Monaten zwischen Ergreifen der Maßnahmen und Information des Generalsekretärs wurde als zu lang gewercet. 61
V. Das Günstigkeitsprinzip und der gleichwertige Grundrechtsschutz Literatur: Grabmwaner, Menschenrechtliche Verschlechterungsverboce als Integrationshindernisse?, FS Jarass. 2015, S. 43. Rechtsprechung: EGMR. 29.10.1992, Open door u. Dubli11 Wr/1 WtJman ./. IRL. Nr. 14234/88 u. a. EuGRZ 1992, 484 (Kollision von Art. 10 E.\1RK und Schutz des ungeborenen Lebens nach der irischen Verfassung); ösc. VfGH, V~lg 15 39411998 = EuGRZ 1999, 600 (Religionsfreiheit nach Are. 63 Z. 2 ScV von Sc. Germain und Art. 9 EMRK). =
1. Allgemeines
Nation~es Verfassungsrecht und das Recht der EMRK treffen im Günstigkeitsprinzip 14 des Art. 53 EMRK zusammen. Nach Art. 53 EMRK darf die Konvention nicht so ausgelegt werden, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, \o Krieger, in: Dörr/Groce/Marauhn, Kap. 8 Rn. 36f. s9 EGMR. 20.3.2018. Mehmet Hasa11Alta11 ./. TUR, Nr. 13237/17, Z. 89. 60 Krieger, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 8 Rn. 41. 61 EK,\1R, Ber. v. 18.11.1969, Dii11emark, Norwegen, Schwedm und die Niedrrl.a11dr ./. Griechenl.a11d, Yb 12, Bd.11, 1 (41 ff.).
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1. Teil. Die EMRK als völkerrechtlicher \.-ertrag deren Vertragspartei diese ebenfalls ist, anerkannt werden. Mit dieser Bestimmung soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Grundrechtsgarantien der nationalen Verfassungen bzw. Menschenrechtsgarantien anderer internationaler Verträge im Einzelfall günstigere Regelungen enthalten können. Durch Are. 53 wird klargestellt, dass die EMRK lediglich einen Mindeststandard bildet und dass durch sie keine Absenkung des gegebenenfalls auf höherem Niveau gewährleisteten Schutzes erfolge. Die Vorschrift belässt den Verfassungen Spielraum, ein höheres Schutzniveau als nach der EMRK zu garantieren. Wenn die EMRK beispielsweise die Todesstrafe nur für Friedenszeiten verbietet, die nationale Verfassung aber ein Verbot auch für Kriegszeiten enthält (Art. 102 GG, Art. 85 B-VG), so kann sich ein im Krieg Verurteilter vor den nationalen Instanzen - nicht aber vor dem EGMR auf die günstigere nationale Garantie berufen. Dem Are. 53 vergleichbare Vorschriften finden sich auch im Recht der Europäischen Union und in föderalen Systemen, in denen Grundrechte verschiedener Gebietskörperschaften zusammentreffen. Art. 53 der GRC bildet eine ausführlichere, im Wesentlichen aber struktur- und inhalcsgleiche Variante der EMRK-Regelung. Wegen der Komplexität der Union und des Nebeneinanders von (übrigem) Unionsrecht und Charta werden nicht nur die Verfassungen der Mitgliedstaaten, sondern auch die Union und die von der Union oder den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge in die Günstigkeitsklausel einbezogen. Die EMRK wird besonders hervorgehoben. 62 Auch Art. 142 GG ist dem Art. 53 EMRK vergleichbar; er hat - bezogen auf das Verhältnis zwischen den Grundrechten des GG und günstigeren Landesgrundrechten - einen ähnlichen Inhalt und vergleichbare Rechtswirkungen. 63 2. Der Inhalt des Günstigkeitsprinzips
l 5 Art. 53 EMRK ordnet an, dass Menschenrechte in nationalen „Gesetzen" keine
Beschränkung oder Minderung durch die EMRK erfahren dürfen. Mit dem Begriff „Gesetz" wird nicht auf eine bestimmte Normstufe verwiesen. Regelmäßig wird man darunter jedenfalls die Verfassungen der Mitgliedstaaten anzusehen haben, eine Beschränkung auf einfache Gesetze ist dem Art. 53 EMRK nicht zu entnehmen. Sowohl die deutsche als auch die schweizerische und die österreichische Verfassung enthalten Beispiele für günstigere Bestimmungen als jene der EMRK. Das Bonner Grundgesetz enthält eine Reihe von Bestimmungen, die günstiger sind als jene der EMRK; zu verweisen ist etwa auf die umfassende Menschenwürdegarancie (Are. 1 Abs. 1), auf die weitergehenden Anforderungen des An. 14 für Enteignungen, auf die Familien stärker schützenden Vorschriften des Are. 6 GG, auf die umfassenderen Rechte von Kirchen und Religionsgesellschaften sowie das Reche auf Religionsuncerrichc als ordentlichem Lehrfach (Art. 7 Abs. 3 GG), weitergehende Rechte im Zusammenhang mir der Koalirionsfreiheit (An. 9 Abs. 2 und 3 GG) oder die nicht auf bestimmte Rechtsgebiete heschränkre Rechtsweggarantie. - In Österreich sind das absolute Zensurverbot, die ein Genehmigungsverfahren kategorisch ausschließende Versammlungsfreiheit insbesondere nach Ziffer 3 des Beschlusses der provisorischen Nationalversammlung vom 30. 10. 1918 sowie das Recht auf persönliche Freiheit zu nm-
62
63
14
Zur Tragweite der Bestimmung vgl. Grabrowann; Die Menschenrechtskonvention und GrundrechteChana in der Europäischen Verfassungsenrwicklung, FS Sreinberger, 2002, S. 1129 (1142f.); ders., Menschenrechcliche Vcrschlechterungsverbote als Integrationshindernisse?, FS Jarass, 2015, S. 43. Vgl. stan aller Pietukn; Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: lscnsee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR VI, 3. Aufl. 2008, Rn. 60 ff.
§ 3. Die EMRK im Recht der Mitgliedstaaten nen, welches im BVG Persönliche Freiheir (An. 6) einen verfu.ssungsgesetzlichen Anspruch auf Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung auch bei kurLfristigen Maßnahmen enrhält. 64
Unter einer anderen „Übereinkunft" sind völkerrechtliche Verträge des Mitgliedstaates 16 zu verstehen. Solche Verträge sind im Fall Österreichs beispielsweise der Staatsvertrag von St. Germain 1920 und der Staatsvertrag von Wien 1955, die jeweils auch menschenrechtliche Garantien enthalten. Günstigere Grundrechtsbestimmungen im Recht der Europäischen Union sind ebenfalls solche einer anderen Übereinkunft und bleiben daher unberühn. Der Spielraum nationaler Verfassungen erweise sich bei näherer Berrachrung aber insoweit als eingeschränkt, als im Kollisionsfall günstigere Vorschriften des innerstaatlichen Rechts EMRK-Garantien beschränken können. Immer dann, wenn zum StaatBürger-Verhältnis ein Dritter mit kollidierenden Grundrechtsansprüchen hinzutritt, lässt sich die Günstigkeit hinsichtlich des einen Grundrechts nur dann durchhalten, wenn der kollidierende Anspruch nicht das Niveau der EMRK unterschreitet. In aller Regel heißt das aber, dass der Grundrechtsschutz bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen - jenseits eines allenfalls bestehenden besonderen nationalen Beurteilungsspielraums - (von beiden Seiten) an das Niveau der EMRK heranzuführen ist. 65 Diese Konsequenz mag den EuGH bewogen haben, auch im Hinblick auf das Nebeneinander von An. 53 EMRK und Art. 53 GRC ein (weiteres) Problem für einen Beitritt der EU zur EMRK zu erblicken. 66 § 3. Die EMRK im Recht der Mitgliedstaaten Literatur: Blackburn/Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, 2001; Frowrin, Das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Menschenrechtskonvention, FS Zeidler II. 1987, S. 1763; Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrechr, WDStRL 60(2001 ), 290; Langmftld. Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Bröhmer (Hrsg.}, Der Grundrechrsschutz in Europa, FS Ress, 2002, S. 95; Mah/.rr/Weiß Die EMRK und narionales Recht: Deutschland eine Spurensuche/Österreich - ein Königs-.veg?, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, 2004, S. 148; Pache, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung. EuR 2004, 393; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1992; Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993; Walter. Die Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungspro:reß, ZaöRV 1999, 961. Rechuprechung: Deutschland: BVerfGE 74, 358; 82, 106 (Unschuldsverrnurung); BVerfGE 111, 307 (Görgülii- Umsetzung von Urteilen des EGMR); BVerfGE 128, 326 ff. (Sicherungsverwahrung); Frankreich: Conseil d'Erat CE 20.11.1989 (Nico/o); CE 30.10.1998 (Lorrnzi) = ROP 1999, 649; Österteich: Vft;H, VfSlg 11 500/1987 (Mi/mer); Schweiz: BGE 117 lb 367,371 (Eidg. Steuerverwaltung gegen Erben X).
1. Die Stellung der EMRK im Recht der Mitgliedstaaten
Im Gegensatz zum Recht der Europäischen Union enthält die EMRK keine Vorgaben über ihre Stellung, ihren Rang und ihre Wirkungsweise im nationalen Reche. Die Seel64
Vgl. Sim-Scherz. in: Korinek/Holoubek et al., An. 53 EMRK Rn. 13.
6
Im Fall Open Door und Dublin Wt/1 W0man ist dies deutlich geworden, EGMR. 29.10.1992, Open
~
66
Doorand Dublin We/1 Woman ./_ IRL, Nr. 14234/88 u. a. = EuGRZ 1992, 484; zur Entscheidung Langenft/a/Zimmnmann, Vereinbarkeir eines Ausreiseverbors für Schwangere mit EG-Rcchr und EMRK. EuGRZ 1992, 335ff. EuGH Gur. v. 18. 12.2014 - GA-2/ l 3, Rn. 190; näher zum Gutachten unrer ~ 4 Rn. 15. 15
1. Teil. Die EM RK al.s völkerrechtlicher Vt-rtrag lung der EMRK im Recht der Mitgliedstaaten und im Besonderen ihr Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht sind daher uneinheitlich. 1 Ansätze, die einen allgemeinen Anwendungsvorrang der EMRK ähnlich dem Vorrang des Unionsrechts zu begründen versuchten, 2 haben sich nicht durchgesem. 3 Ohne dass eine rechtliche Verpflichtung hierzu bestünde, 4 haben alle Mitgliedstaaten heute die Konvention inkorporiert. Unter ihnen kann man drei Gruppen von Staaten unterscheiden: Staaten, in denen die Konvention insgesamt Bestandteil der Verfassung ist oder einen vergleichbaren Status genießt; Staaten, in denen die Rechte im Rang über den Gesetzen, nicht aber im Verfassungsrang stehen; schließlich Staaten, in denen die EMRK selbst nur im Rang eines einfachen Gesetzes steht, gleichwohl aber als Hilfe für die Auslegung nati~naler Grundrechte herangezogen wird. 1. Die EMRK im Verfassungsrang
2 Verfassungsrang kommt der EMRK nur in Österreich zu. Mit einem eigenen Bundesverfassungsgesetz wurde die EMRK im Jahr 1964 rückwirkend in den Verfassungsrang gehoben. 5 Alle Rechte der EMRK können wie genuin innerstaatliche Grundrechte vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden. Eine darüber hinausgehende Stellung nimmt die EMRK im niederländischen Recht ein. Sie genießt dort Vorrang vor allem nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts. 6 2. Die EMRK im Rang zwischen Gesetz und Verfassung
3 In den meisten Mitgliedstaaten steht die EMRK heute im Rang über den einfachen Gesetzen, aber unter dem Verfassungsrecht. Beispiele sind die Schweiz,'.' Liechtenstein, Belgien und Frankreich, 8 Griechenland, 9 Luxemburg, Malta, Por1
Vgl. den Überblick bei Keller u. a. (Hrsg.), A Europc of Righrs, The Impact of rhe ECHR on National Legal Sysrems, 2008, S. 31 ff. 2 Polakirwicz. Die Vcrpflichrungen der Sraaren aus den Urteilen des Europäischen Gerichrshofs für Menschenrechte, 1992, S. 360. 3 Vgl. nur van Dijk, Domesric srarus ofhuman-rights rrearies and the arrirude of rhe judiciary: rhe Dutch c.ase, FS Ermacora, 1988, S. 631 (635) m. w. H. auf die Rechrsprechung des EGMR in Fn. 22; mit Symparhie für diese Auffassung Girgrrich, in: Dörr/Grore/Marauhn, Kap. 2 Rn. 16. 4 A. A. Girgerich, in: Dörr/Grore/Marauhn, Kap. 2 Rn. JOff. ~ öBGBI. 1964/59; Mahln/Weiß. Die EMRK und narionales Rechr: Deurschland - eine Spurensuche/ Osrerrcich - ein Königsweg?, Menschenrechrsschurz im Spiegel von Wissenschafr und Praxis, 2004, S. 148 (i 59ff.); zum Verfassungsrang sowie zu den Auswirkungen der Rspr. des EGMR auf die österreichische Rechtslage s. Schäffer, Die Grundrechrc im Spannungsverhä.lrnis von narionaler und europäischer Perspckrive, ZÖR 2007, 1 (11 ff.); Pabel, 60 Jahre Österreich in der Europäischen Menschenrechrskonvenrion - eine Bilanz, in: Pabcl/Va.sek (Hrsg.), Menschenrechre 1948/1958. Die Enrwicklung und Bedeutung der Menschenrechre in Österreich, 2020, S. 187 (188 f.); Struth, 'Principled Resisrance' ro ECtHR Judgmcnrs in Ausrria, in: Breuer (Hrsg.), Principled Resisrance 10 ECrHR Judgmenrs - A New Para 2 S.dazu§25Rn.37ff. 5(,J EGMR. 4.6.2015, ChitoJ./. GRE, Nr. 51637/12, Z. 94, 101, 104, 109. ™ EGMR, 23.11.1983, van tkr MuJJe/e ./. BEL, Nr. 8919/80 = EuGRZ 1985, 477, Z. 38; vgl. Andrro;1, Currenr Survey, Council of Europe, ELR 1984, 132 ( 134). 5'>~ S. dazu unren § 21 Rn. 1 ff. sr.6 EGMR. 7.7.2011 (GK), Stummer./. AUT, Nr.37452/02, Z.13l ff.; EGMR, 9.2.2016, Meier./. SUI, Nr. 10109/14, Z. 77. % 7 EGMR. 9.2.2016,Meier.l. SUI, Nr.10109/14, Z. 72ff. 168 Vgl. Marauhn, in: Oörr/Grote/Marauhn, Kap. 12 Rn. 20. 169 EGMR. 18.6.1971, De Wilde, Ooms u. Vmyp ./. BEL, Nr. 2B32/66 u. a., Z. 44ff. 5'.I
236
§ 20. Fundamentalgarantien
einzelner Gefangener mit besonderer Arbeic. 570 Ein Anspruch auf Entlohnung ist aus An. 4 nicht ableicbar. 571 Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des Art. 4 Abs. 3 lit. a sind auch dann erfülle, wenn die inhaftierte Person für die Zeit der verpflichtenden Arbeit in Haft nach nationalem Recht keine Rentenansprüche erwirbt. Ein Anspruch auf Aufnahme in die Rentenversicherung während jener Zeit bestehe daher nichc. 572
bb) Militärdienst. Art. 4 Abs. 3 lic. b stelle klar, dass eine militärische Dienstpflicht 97 keine verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 2 darstellt. Diese Ausnahme ist nach der Rechtsprechung des EGMR nur auf aus der Wehrpflicht resultierende Dienstpflichten anwendbar, nicht aber auf die Dienstpflichten von Berufssoldaten. 573 Diese sind am Maßstab des Art. 4 Abs. 2 zu messen. Ausdrücklich ist in Art. 4 Abs. 3 lic. b auch die Pflicht zur Ableistung eines Ersatzdienstes als zulässige Dienstpflicht erwähnt. Nach Entscheidungen der Kommission wurde Are. 4 Abs. 3 lic. b dahingehend interpretiert, dass diese Vorschrift keine Verpflichtung der Staaten auf Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung statuieren wollte. Ein Reche auf Ersarzdienst enthielr Are. 4 Abs. 3 lic. b danach nicht. In ausdrücklicher Abkehr von dieser Auslegung vertritt der EGMR nunmehr unter Bezugnahme auf die Travaux Preparacoires, dass die Bestimmung ein Reche auf Wehrdienstverweigerung weder anerkennt noch ausschließe. 574 Ob im Einzelfall eine Konventionsrechtsverleczung vorliege, wenn ein Wehrpflichtiger entgegen seiner religiösen Überzeugung ohne Befreiungsmöglichkeit zum Wehrdienst verpflichtet ist, muss an der Religionsfreiheit nach Are. 9 gemessen werden. 575 Ein verpflichtender „Sozialdienst" anstelle eines Ersatzdienstes im Fall der Abschaffung der Wehrpflicht wäre nicht von Abs. 3 lic. b gedeckt. 576 cc) Notstandspflichten. Bei Notständen oder Katastrophen, die das Leben oder das 98 Wohl der Gemeinschaft bedrohen, können die Mitgliedstaaten den Bürgern Notstandspflichten auferlegen, das heißt, sie zu bestimmten Diensten verpflichten, ohne dass damit ein Verstoß gegen das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit nach Are. 4 Abs. 2 vorliege. Anders als für die Notstandsregelung des Are. 15, der sich auf die Nation insgesamt bezieht, können Dienstpflichten nach Art. 4 Abs. 3 lir. c auch bei lokalen Notständen verhängt werden. Eine solche Notstandspflicht hat die Kommission etwa für deutsche Jagdpächter eines bestimmten Regierungsbezirks angenommen, die verpflichtet wurden, zum Zweck der Tollwutverhütung an der Begasung von Fuchsbauten teilzunehmen. 577
4570
EGMR. 18.6.1971. De Wil.de. Ooms u. Versyp ./. REL, Nr.2832/66 u.a., Z.89f.; EGf\1R, 24.6. i 982, ,,an Droogmbroeck ./. BEL, Nr. 7906/77, Z. 59. m EGMR, 12.3.2013, Floroiu ./. ROM, Nr.15303/10, Z.29ff.; vgl. auch Mryer-latkwig/Huber, in: Meyer-Ladewig et al., An. 4 Rn. 11. 572 EGMR, 7.7.2011 (GK), Srummer.l. AUT, Nr. 37452/02, Z. 132. 573 EGMR, 4.6.201 S, Chitos.l. GRE, Nr. S 1637/12, Z. 87ff. 574 EGMR, 7.7.2011 (GK), Ba_yaryan ./. ARM, Nr. 23459/03, Z. 9Bff. 175 S. dazu ~ 22 Rn. 115. 576 Vgl. hierzu Karl Zur Verfusungsmäßigkeit eines verpAichtenden Sozialdienstes in Osterreich, FS Schäffer, 2006, S. 352 (357 ff.); Vafek, Verpflichtender Sozialdienst und MRK, ÖJZ 201 I, 158 ff.; Beznnek. Services Exacted lnstead of Compulsory Military Service: The Strucrure of the .Prohibition of Forced or Compulsory Labour" according to Article 4 (2) of the ECH R, EH RLR 2014, 263 ff. m EI0.1R. 4.10.1984, X Nr. 9686/82, DR 39, 90 (92).
237
3. Teil. Die Garantien der EMRK 99 dd) Übliche Bürgerpflichten. Arbeiten oder Dienstleistungen, die zu den üblichen Bürgerpflichten im Sinn des Art. 4 Abs. 3 lit. d gehören, fallen ebenfalls nicht unter das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit nach Art. 4 Abs. 2. Zu diesen Bürge.rpflichten zählen noch bestehende Hand- und Spanndienste in den Kommunen, Pflichten zur Deichhilfe und zum Feuerwehrdienst. 578 Auch die Pflichten des Arbeitgebers zur Abführung von Steuern und Sozialabgaben sind durch die Ausnahme des Art. 4 Abs. 3 lit. d gedeckt. 579 Eine Rolle spielte diese Ausnahme im Fall Karlheinz Schmidt gegen Deutschland, wo die Pflicht zum Dienst in der Feuerwehr und die daran anknüpfende Ersarlabgabe unter Art. 4 Abs. 3 lic. d subsumiert wurden, um eine Diskriminierung von Männern hinsichtlich dieser Bürgerpflicht nach Art. 14 zu begründen. 580 Die Frage der Konventionskonformität eines verpflichtenden Sozialdienstes wird auch im Rahmen des An. 4 Abs. 3 lit. d diskuciert. 581 4. Verbot des Menschenhandels
100 Art. 4 enthält dem Wortlaut nach weder in Abs. 1 noch in Abs. 2 ein Verbot des Menschenhandels. Im Fall Rantsev hat der EGMR ein solches Verbot jedoch im Regelungszusammenhang des Art. 4 entwickelt, ohne die beanstandete Behandlung einer der drei in Are. 4 verankerten Verbote - Verbot der Sklaverei, der Zwangs- oder Pflichtarbeit oder der Leibeigenschaft- zuzuordnen. 582 Er verweist insofern auf die Notwendigkeit, die Konvention im lichte der heutigen Verhältnisse (,,in ehe light of presentday condicions") auszulegen. m Er begründet das Verbot des Menschenhandels damit, dass dieser ohne Zweifel die Würde des Menschen und fundamentale Freiheiten der Opfer bedrohe. Menschenhandel könne nicht mit den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft und den Werten, die der Konvention zugrunde liegen, vereinbart werden. Diese Argumentation wird im Urteil S. M. durch eine systematischteleologische Interpretation von An. 4 ergänzt, wonach das Konzept des Menschenhandels ohne weiteres in den Anwendungsbereich des Art. 4 aufgenommen werden kann. 584 In diesem Zusammenhang ist auf Art. 5 GRC zu verweisen, der Art. 4 EMRK entspricht, in seinem Abs. 3 aber um das Verbot des Menschenhandels ergänzt ist. 585 101
Den Begriff des Menschenhandels bestimmt der EGMR unter Bezugnahme auf das Palermo-Protokoll zur Bekämpfung des Menschenhandels und die insoweit identische
Vgl. EGMR, 18.7.1994, Karlheinz Schmidt./. GER, Nr. 13580/88 = EuGRZ 1995, 392, Z. 23, 28f.; dazu Bkclrmarm, Bundesverfassungsgericht versus Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuGRZ 1995, 387 (390); Warbrick, The European Convemion on Human Rights, YEL 14 (1994), 601 (652f.); s. auch§ 26 Rn. 5. ~79 EMKR, 27.9.1976, Fourcompanirs, DR 7,148 (151). ~80 EGMR, 18.7.1994, KarlheinzSchmidJ ./. GER, Nr. 13580/88, Z. 23. m Karl FS Schäffer, S. 357ff.; s. auch Rn. 97. 182 EGMR. 7.1.2010, Ramuv ./. CYP u. RUS, Nr.25965/04 = NJW 2010, 3003, Z.272/[, 279; EGMR. 31.7.2012, M. u. a. ./. ITA u. BUL, Nr. 40020/03, Z. 150; Mryer-uuuwig/Hubrr. in: Meyer-Ladewig et al., Art. 4 Rn. 6. 583 EGMR, 7.1.2010, Rantsro.l. CYP u. RUS, Nr. 25965/04 = NJW 2010, 3003, Z. 277; s. dazu Alktin, Ranrsev v Cyprus and Russia: The European Court of Human Rights and Trafficking as Slavery, HRLR 2010, 546 (550ff.); Pati, Der Schutz der EMRK gegen Menschenhandel, NJW 2011, 128 (130); Lindner, Die Effektivität transnationaler Maßnahmen gegen Menschenhandel, 2014, S. 224ff. ~R 4 EGMR, 25.6.2020 (GK), S. M. ./. CRO, Nr. 60561/14, Z. 292. m Vgl. Jar,w, Art. 5 Rn. 11; Höfling!Kempny, in: Stern/Sachs, Art. 5 GRC Rn. 4. S?B
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§ 20. Fundamentalgarantien
Europaratskonvention gegen Menschenhandel. 586 Hinsichtlich des Gewährleistungsumfangs des aus Art. 4 entwickelten Verbots des Menschenhandels - in Bezug auf diesen unterscheiden sich die beiden genannten Abkommen - folgt der EGMR in der jüngeren Rsp. dem Ansatz der Europaratskonvention gegen Menschenhandel. Damit erstreckt der EGMR den Anwendungsbereich von Art. 4 sowohl auf den nationalen als auch auf den internationalen Menschenhandel und zwar unabhängig davon, ob dieser der organisierten Kriminalität zuzuordnen ist oder nicht. 587 Charakteristisch für Menschenhandel sei, dass er auf eine Ausbeutung von Menschen abziele, die auf einer dem Eigentumsrecht nahekommenden Form der Machtausübung gegenüber Opfern beruhe. Menschen würden wie Güter behandelt, ge- und verkauft und zur Arbeit gegen wenig oder kein Entgelt - typischerweise, aber nicht nur in der „Sexindustrie" - gezwungen. Merkmal des Menschenhandels ist nach der Rechtsprechung die strenge Überwachung der Aktivitäten der Opfer, deren Handlungsmöglichkeiten oft eingeschränkt sind. Typisch ist darüber hinaus die Ausübung von Drohungen oder Gewalt gegenüber den unter schlechten Bedingungen lebenden und arbeitenden Opfern. 588 Die bloße Zahlung einer Geldsumme zwischen Familien im Zuge einer Hochzeit ist kein zwingender Grund für die Annahme von Menschenhandel. Der EGMR gehe davon aus, dass es auch in der heurigen Gesellschaft eine in vielen Kulturen übliche Tradition sein kann, dass sich die Familien bei einer Hochzeit gegenseitig Geldgeschenke machen. Dies allein könne nicht ohne weiteres als Indiz für eine Behandlung eines Menschen als Eigentum gewertet werden. 589 5. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten
Auch aus Art. 4 leitet der EGMR - wie aus Art. 2 und Art. 3 - positive Verpflichrun- 102 gen der Mitgliedstaaten ab. Die Gewährleistungspflichten umfassen die Prävention, den Schutz des Opfers in der konkreten Gefahrensituation und die Verfolgung und Bestrafung der Täter sowie Untersuchungspflichten. So sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, einen gesetzlichen und administrativen Rahmen zu schaffen, der Menschenhandel verbietet und bestraft. 590 Die straf- und verfahrensrechdichen Bestimmungen müssen so konkret sein, dass die Behörden effektive Ermittlungs- und Verfolgungsbefugnisse haben. Insbesondere müssen spezielle Regelungen zum Vorgehen gegen Leibeigenschaft in Privathaushalten vorgesehen sein, da sich diese wesentlich von Menschenhandel und anderen Ausbeutungsformen unterscheidec. 591 Wie bei Art. 2 und Art. 3 haben die Behörden konkrete Schutzmaßnahmen für Opfer oder 586
Zusatzprotokoll vom 15. 11. 2000 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Palermo Prorokoll); Konvention des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels; s. IK-Krebber/Birk, Art. 4 Rn. 123. m EGMR, 25.6.2020 (GK), S. M. ./. CRO, Nr.60561/14, Z.295ff., 303; vgl. auch EGMR, 30.3.2017, Chowdury u. a. ./. GRE, Nr. 21884/15, Z. 104. c;ss EGl\1R, 7.1.2010, Rantsev.l. CYP u. RUS, Nr.25965/04 = NJW 2010, 3003, Z.281; EGMR, 17.1.2017,j. u.a . ./. AUT, Nr.58216/12, Z.104; EGMR, 30.3.2017, Chowdury u.a. ./. GRE, Nr. 21884/15. Z. 93 (Zwangsarbeit von Bangladeschi auf einer griechischen Erdbeerplantage); EGMR, 25.6.2020 (GK), S. M. ./. CRO, Nr. 60561/14, Z. 291. 589 EGMR. 31.7.2012. M. u. a. ./. ITA u. BUL. Nr. 40020/03, Z. 161. 590 EGMR, 11.10.2012, CN. u. V./. FRA. Nr. 67724/09, Z.105fl; EGMR, 21.1.2016, L.E. ./. GRE, Nr. 71545/12, Z. 65ff.; EGMR. 30.3.2017, Chowdury u. a. ./. GRE. Nr. 21884/15, Z. 87; EGMR. 25.6.2020 (GK). S. M. ./. CRO, Nr. 60561/14, Z. 306. 591 EGMR, 13.11.2012, CN. ./. GBR. Nr. 4239/08, Z. 80.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK
potentielle Opfer zu treffen, sobald sie Umstände erfahren, die den Verdacht begründen, dass sich eine Person in einer unmittelbaren Bedrohungssituation befindet oder befunden hat. 592 Eine Verletzung von Art. 4 liegt dann vor, wenn der Staat· nicht alle in seiner Macht stehenden notwendigen Maßnahmen criffi, um eine Person aus dieser Bedrohungssituation zu befreien. 593 103 Die Mitgliedstaaten sind außerdem dazu verpflichtet, potentielle Fälle von Menschen-
handel bzw. von anderen durch Art. 4 verbotenen Verhaltensweisen zu untersuchen. Die Untersuchung muss effektiv und unabhängig sein und die übrigen, auch bei Art. 2 und Are. 3 angenommenen Voraussetzungen erfüllen. 594 Im Hinblick auf die beschränkten Kapazitäten dürfen den Behörden allerdings keine unverhältnismäßigen Pflichten auferlegt werden. 595 Die Verpflichtung, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und Vorgänge zu untersuchen, bestehe erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden zum ersten Mal Kenntnis von den verdächtigen Umständen haben oder haben müssten. Eine Anzeige durch das Opfer ist hierfür nichc zwingend notwendig, eine Verpflichtung zur Vornahme von Schutz- und Ermittlungsmaßnahmen besteht auch dann, wenn die Behörden auf andere Art und Weise auf die Umstände aufmerksam werden. 596 Die Behörden müssen alle angemessenen Schrittesetzen, um Beweise zu sammeln und den Fall aufzuklären. Im Einzelnen richten sich die Untersuchungspflichten nach den Besonderheiten des Falls. 597 Erforderlich ist auch, dass die Untersuchung des Falls und seine Anerkennung als Menschenhandel ohne unnötige Verzögerung erfolgen. 598 Der fall Ranrsev betraf eine Russin, die mit einem .Künsclervisum" nach Zypern eingereist war und dort in einem sog. ,,Kabarerc" arbeitete. Nach einem Fluchtversuch wurde sie von ihrem Arbeitgeber aufgefunden, der sie der Polizei zur Abschiebung übergeben wollte. Die Polizei wies dessen Anliegen jedoch ab und überließ Frau Rantsroa wieder ihrem Arbeitgeber, der diese in eine Wohnung brachte und sie dort in ein Zimmer einsperrte. Wenig später wurde sie tot auf der Stralk vor der Wohnung, die sich im sechsten Stock befand, aufgefunden. Der EC.MR beanstandete insbesondere das System der .Künsclervisa", in dem die zukünftigen Arbeitgeber den Antrag auf Einreiseerlaubnis stellen und eine Bankgaraniie für etwaige zukünftige Kosten beibringen müssen. Das System bringe sog.• Künscler", bei denen es sich meist um junge Frauen handle, in eine Abhängigkeitssituation und biete daher keinen geeigneten und effektiven Schun vor Menschenhandel und Ausbeutung. 599
m EGMR. 13.11.2012, C.N. ./. GBR. Nr. 4239/08, Z. 69; s. auch EGMR, 11. 10. 2012, C.N. u. V../. FRA. Nr.67724/09, Z. l !0f.; EGMR, 25.6.2020 (GK), S. M. ./. CRO, Nr. 60561/14, Z. 306. 593 EGMR. 7.1.2010, Rantsev.l. CYP u. RUS, Nr. 25965/04 = NJW 20 l 0, 3003, Z. 285 f.; s. duu Lindner, Anspruch aufumfusenden Schurz vor Menschenhandel nach Art.4 EMRK, ZAR 2010, 137 (140(). EGMR, 7.1.2010, Rantsro.l. CYP u. RUS, Nr.25965/04 = NJW 2010, 3003, Z.288; EGMR. 30.3.2017, Chowdury u. a. ./. GRE, Nr. 21884/15, Z. 89, l 16; EGMR, 25.6.2020 (GK), 5. M. ./. CRO, Nr.60561/14, Z. 308ff.; s. oben Rn. 31, 56. 595 EGMR, 7.1.2010, Rannro ./. CYP u. RUS, Nr. 25965/04 = NJW 2010, 3003, Z. 287; EGMR. 13.11.2012, C.N. ./. GBR. Nr.4239/08, Z.68. 596 EGMR, 13. 11.2012, CN. ./. GBR. Nr. 4239/08, Z. 69; vgl. auch EGMR, 25.6.2020 (GK). 5. M. ./. CRO, Nr. 60561/14, Z. 314. m EGMR. 25.6.2020 (GK), S. M. ./. CRO, Nr.60561/14, Z. 316ff 598 EGMR. 21.1.2016, L.E. ./. GRE, Nr. 71545/12, Z. 73ff 599 EGMR. 7.1.2010, Rantuv.l. CYP u. RUS, Nr. 25965/04 = NJW 2010, 3003, Z. 290ff. 594
240
§ 21. Freiheit und Freizügigkeit In grenzüberschreitenden Sachverhalten, die bei Menschenhandel typisch sind, rriffi die Verpflichtung alle daran beteiligten Staaten, vom Herkunftsstaat über etwaige Durchreisestaaten bis hin zum Zielstaat. Zusärzlich besteht aufgrund des grenzüberschreitenden Elements eine Verpflichtung zur effektiven Kooperation jener Behörden, die zur Untersuchung in den jeweiligen Staaten zuständig sind. 600 Aus An. 4 folgt jedoch keine Pflicht der Staaten, eine universelle Zuständigkeit für im Ausland begangene Straftaten von ~1enschenhandel vorzusehen. Ein Mitgliedstaat ist daher nicht verpflichtet, die Anwerbung oder angebliche Ausbeutung eines Opfers von Menschenhandel in einem anderen Staat zu untersuchen. 601 Im Fall S. M. stellte der EGMR eine Verlerzung der pr01.eduralen Pflichten zur Untersuchung eines Falls von Menschenhandel in Verbindung mit Zwangsprostitution fest, in dem er insbesondere Versäumnisse der Behörden bei der sorgfältigen Erminlung des Sachverhalts darlegte. 602
§ 21. Freiheit und Freizügigkeit
1. Garantie der persönlichen Freiheit Literatur: Essrr, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002; Hoffmann, Konventionskonformität des Präventivgewahrsams, NVwZ 201 S, 720; Pöschl Wieviel Prävention verträgt Are S EMRK?, FS Koperzki, 2019, S.499; Reindl Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention, 1997; 1rautwein, Freiheitsentzug im Verwaltungsrecht. Ein Rechtsvergleich im lichte der EMRK, 2003; Trechsel Human Rights in Criminal Proceedings, 2005; Unfried, Die Freiheits- und Sicherheitsrechte nach An. 5 EMRK, 2006. Rechtsprechung: Vorliegen einer Freiheitsentziehung: EGMR, 6. I 1.1980, Gu=rdi ./. ITA, Nr. 7367/76 (Festhalten eines Mafia-Verdächtigen auf einer Insel); EGM R. 12.5.2005 (GK), Öcal.an ./. TUR, Nr. 46221 /99 (Festnahme auf fremdem ·1erricorium); EGMR, 7. 7.2011 (GK), Al-jedda ./. GBR, Nr.27021/08 (fongescrzte Untersuchungshaft auf Grundlage einer Resolution des UN-Sicherheitsrats; konfligierende Verpflichtungen aus Resolutionen des UN-Sicherheitsrats bzw. der EMRK); EGMR. 15.3.2012 (GK), Austin u. a . . /. GBR, Nr. 39692/09 (Einkesselung friedlicher Demonstranten in polizeilicher Absperrung); EGMR, 13.12.2012 (GK), El-Ma.sn ./. MKD, Nr.39630/09 = NVwZ 2013, 631 (geheime Inhaftierung); EGMR, 23.7.2013, M. A . ./. CYP, Nr.41872/10 (Transport zur Befragung ins Polizeihauptquartier; de facco-Freiheitsenrziehung); EGMR, 16. 9.2014 (GK), Hassan ./. GRR, Nr. 29750/09 (Festnahme nach EMRK bzw. humanitärem Völkerrecht); EGMR, 23.2.2017 (GK), De Tommaso ./. ITA, Nr.43395/09 (Einschränkung der Freizügigkeit durch polizeiliche Überwachung); EGMR, 21.11.2019 (GK), llias u. Ahmtd ./. HUN, Nr. 47287/15 (Anhaltung von Migranten in einer Transirzone an einer Landgrenze). Veruneilung: EGMR. 28. S. 2002 (GK), Stajford ./. GBR, Nr. 46295/99 (Aufhebung der Haftentlassung wegen erneuter Straffälligkeit); EGMR, 17.12.2009, M. ./. GER, Nr. 19359/04 = EuGRZ 2010, 25 (nachträgliche Sicherungsverwahrung); EGMR, 18.9.2012 (GK), James, Welfs u. Lee ./. GBR, Nr.25119/09 u. a. (Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen, die für Enclassung norwendig sind). Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer gesetzlichen Verpflichtung: EGMR, 7. 3.2013, Ostrodorf.!. GER. Nr. 15598/08 = EuGRZ 2013, 489 (Unterbindungsgewahrsam). Präventiv- oder Untersuchungshaft: EGMR, 22.10.2018, S., V u. A . ./. DEN, Nr. 35553/12 u. a. (Haft von Hooli"gans während eines Fußballspiels); EGMR, 5.7.2016 (GK), Buzadji ./. MOL, Nr. 23755/07 (Präzisierung des Zeitpunkts, ab dem Vncersuchungshaft nicht mehr nur auf'facverdacht beruhen darf). Freiheitsentziehung Minderjähriger: EGMR, 23.3.2016 (GK), Blokhin ./. RUS, Nr.471 52/06 (Anhaltung eines murmaßlichen minderjährigen Straftäters nach unfairem Verfahren); EGMR, 19.5.2016, D. L. ./. RUL, Nr. 7472/14 (Uncerbringung Minderjähriger in geschlossenem Erziehungsheim).
600
601 602
EGMR, 7.1.2010, RantJev ./. CYP u. RUS, Nr. 25965/04 = NJW 2010, 3003, Z. 289; EGMR, 31.7.2012, M. u. a . ./. ITA u. BUL, Nr. 40020/03, Z. 167. EGMR. 17.1.2017,/. u. a. .!. AUT, Nr.58216/12, Z. 114, 118. EGMR, 25.6.2020 (GK), S. M. .!. CRO, Nr. 60561/14, Z. 333ff.
241
104
3. Teil Die Garantien drr EMRK Kranke und Landstreicher: EGMR, 24.10.1979, Winrerwerp ./. NED, Nr.6301/73 (Freiheitsentziehung bei einem psychisch Kranken); EGMR, 11.5.2004, Monink ./. NEO, Nr.48865/99 (Unterbringung von psychisch kranken Strafgefangenen); EGMR, I 7.1.2012 (GK), Sranro ./. BCL, Nr. 36760/06 (Einweisung in Heim fur psychisch Kranke); EGMR, 4.12.2018 (GK), 1/meher ./. GER, Nr. 10211/12 u. a. (nachträgliche Sicherungsverwahrung); EGMR, 31.1.2019 (GK), Rooman ./. BEL, Nr. 18052/11 (unzureichende Behandlung eines psychisch kranken Straftäters).
Abschiebungs- und Auslieferungshaft, unberechtigtes Eindringen in das Staatsgebiet: EGMR, 25.6.1996, Amuur ./, FRA, Nr. 19776/92 = EuGRZ 1996, 577 (Transitzone eines Flughafens); EGMR, 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR, Nr. 13229/03 (Auslieferungshaft aus Gründen der Ver.valtungseffizienz); EGMR, 23.7.2013, Swo Musa./. ML.:r, Nr. 42337/12 (unbefugte Einreise; unverhältnismäßig lange Haft während anhängigem Asylverfahren); EGMR, I 5. 12. 2016, Khlaifia u. a. ./. !TA, Nr. 16483/ 12 (Anhaltung von Migranten aufLampedusa und Ausweisung). Rechte der festgenommenen Personen: EGMR, 22. 5.2012 (GK), /da/,ov .1. RUS, Nr. 5826/03 (mehrere nicht aufeinander folgende Zeiten von Untersuchungshaft; Erfordernis angemessener Haftdauer); EGM R, 8.1.2013, Wi/lcox u. Hu,ford .1. GBR. Nr. 43759/10 u. a. (Vollzug einer in Thailand verhängten Haftstrafe in (;roßhritannien; "olfenkundige Verweigerung einer gerichtlichen Überprüfung").
1. Allgemeines
Die in An. 5 gewährleistete persönliche Freiheit schützt als Menschenrecht vor willkürlicher Freiheitsentziehung durch den Staat. Darüber hinaus wird die richterliche Kontrolle des Freiheitsentzugs garantiert. Das Grundrecht der persönlichen Freiheit ist im Gegensatz zu anderen Garantien der EMRK präzise und detailliert formuliert. Es enthält eine abschließende Auflistung der Fälle, in denen Festnahme und Haft zulässig sind, und der Bedingungen, unter denen sie erfolgen dürfen. Das Recht auf Freiheit ist elementarer Bestandteil jedes Grundrechtskatalogs. Das Bonner Grundgesetz enthält in Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 die entsprechenden Garantien. In Österreich wurde 1988 ein eigenes Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit 1 erlassen, um den Anforderungen, die Art. 5 EMRK insbesondere an die gerichrliche Überprüfung von freiheitsentziehenden Maßnahmen stellt, Genüge zu tun. 2 In der Schweiz wird die persönliche Freiheit in An. 10 Abs. 2 und Art. 31 der Bundesverfassung gewährleistet. 3 Die GRC enthält in Art. 6 das Recht auf Freiheit und Sicherheit. 4 Die Garantie des Art. 5 EMRK lässt sich in drei Teile gliedern. Art. 5 Abs. 1 S. 1 enthält die allgemeine Garantie der Freiheit der Person, Satz 2 stellt die Voraussetzungen auf, unter denen die Entziehung der Freiheit zulässig ist. Art. 5 Abs. 2 bis Abs. 5 sieht 1
BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit 1988, BGBI. 1988/684. Vgl. Berka, Verfassungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. l 3561f. Der Vorbehalt, den Österreich zu Art. 5 EMRK erklärt hat (BGBI. 1958/210), läuft aufgrund der Rspr. des EGMR weitgehend leer. Zur Rechtslage in Osterreich und zu den Unterschieden zwischen dem Gewährleistungsumfang von Art. 5 EMRK und den übrigen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Freiheit in Österreich vgl. umfassend Koperzki, Das Recht auf persönliche l'reiheit, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. III, 1997, S. 260 (2881f.). 3 Vgl. Haller, Menschenwürde, Reche auf Leben und persönliche Freiheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. Vll/2, 2007, § 209 Rn. 24 ff. 4 Zum Gewährleiscungsumfang vgl. Grabenwaner, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBI. 2001, 1 (4); jarllJs, Charta der Grundrechte der Europäischen lJnion, 3. Aufl. 2016, An. 6 Rn. ! ff.; K/.ement, Freiheit der Person, in: Grabcnwaner (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, EnzEuR Bd. 2, 2014, § 8 Rn. I lf.; Tettinger. in: Stern/Sachs (Hrsg.), Europäische GrundrechteCharta, 2016, Art. 6 GRC Rn. I ff. 2
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§ 2 /. Freiheit und Freizügigkeit
schließlich besondere Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen und die Garantie der richterlichen Kontrolle des Freiheitsentzugs vor. 5 2. Schutzbereich
An. 5 Abs. 1 gewährt seinem Wortlaut nach jeder Person ein Recht auf „Freiheit" und 2 "Sicherheit". Schutzgut ist die persönliche Freiheit des Einzelnen. 6 .,Freiheit" im Sinne dieser Vorschrift meint die körperliche Bewegungsfreiheic, 7 d. h. 3 das Reche, seinen Aufenchalcsorc frei zu bestimmen und beliebige Ortsveränderungen vorzunehmen. Geschürzt ist also die Freiheit der physischen Bewegung von einem Ort weg an einen anderen Ort. 8 Eine Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit enthält An. 5 nicht. 9 Die genaue Reichweite der garantierten Bewegungsfreiheit lässt sich durch mögliche Eingriffe in das Grundrecht näher bestimmen: Nicht jede Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit stelle einen Eingriff in Art. 5 Abs. I dar, sondern nur eine solche, die die Intensität einer Freiheitsentziehung (,,deprivacion of liberty") erreiche. Are. 5 schützt demnach nur vor willkürlicher Festnahme und Freiheitsentziehung. Bloße Beschränkungen der Bewegungsfreiheit werden hingegen von An. 2 4. ZP erfasst, der die Freizügigkeit im Sinne der Bewegungsfreiheit garantiert. 10 Are. 5 Abs. I erfasst grundsätzlich nicht die Bedingungen der Haft und gewährt kein Recht auf angemessene Behandlung während der Inhaftierung. 11 Insoweit gewährleisten die Grundrechte des Art. 3 und des Are. 8 Schurz. Allerdings hat die Rechtsprechung für Fälle der Freiheitsentziehung von psychisch Kranken (lit. e) und von Abzuschiebenden (lic. f) mit Blick auf die besondere Schutzbedürftigkeit der Betroffenen und die Zielsetzung der Inhaftierung Anforderungen auch an deren Bedingungen enrwickelc. 12 Die Rechtsprechung geht davon aus, dass Art. 5 Abs. 1 als einheicliche Gewährleistung 4 zu verstehen ist und der Begriff „Sicherheit" stets in Zusammenhang mit dem Begriff ,,Freiheit" zu sehen ist. Die ausdrückliche Erwähnung der Sicherheit soll die Verpflichtung der staatlichen Behörden zur Beachrung rechtsstaatlicher Grundsätze und elementarer Formen des Rechtsschutzes bei der Durchführung von Freiheitsentziehungen zum Ausdruck bringen. 13 In wenigen Fällen hat der EGMR dem Recht auf Sicherheit dennoch eine eingeschränkte eigenständige Bedeutung zugesprochen. 14 So hat er auf das Recht auf Sis S. dazu unten Rn. 56ff. PabeL Sicherheit als Schurzgur in der grundrechrlichen Güterabwägung. in: Lienbachcr/Wielingcr (Hrsg.), Jahrbuch Öffenrliches Recht, 2008, S. 173 (175ff.). 7 EGMR. 23.2.2017 (GK), De 1ommaso ./. ITA, Nr. 43395/09, Z. 80; Dön; in: Oörr/Grore/Marauhn, Kap. 13 Rn. 28. • 1K-Rmzikowrki. Art. 5 Rn. 17 f.; Mryer-Ladrwig!Harrrnda,f!König. in: Meyer-Ladewig er al., An. 5 Rn. 8. 9 Traurwein, Freihei1senrzug im Verwal1ungsrechr. Ein Rechtsvergleich im Lich1e der EMRK, 2002, S. 53; Prtm!Alrwicker, § 18 Rn. 3. 10 EGMR. 23.2.2017 (GK}, De 1ommaro ./. ITA. Nr. 43395/09, z. 80 (s. näher unten Rn. 8). 11 EGMR, 24.10.1979, Winterwnp ./. NEO, Nr.6301/73, Z. 51; EGMR, 28.5.1985, khingdane ./. GBR. Nr. 8225/78, Z. 44; EGMR, 2.8.2001, Vitt.orio u. Luigi Mancini ./. ITA, Nr. 44955/98, Z. 16. 12 S. dazu näher umer Rn. 44, 49. 13 EGMR.- 13.1.2009, Giorgi Nikolairhvili ./. GEO, Nr. 37048/04, Z. 52. 14 Im Urteil EGMR, 18.12.1986, &zano ./. FRA, Nr. 9990/82, Z. 54 u. 60, wird das .Recht auf Sicherheit" erwähne, ohne dass Konsequenzen daraus gezogen werden; EGMR, 1.6.2004, Altun ./. TUR, 6
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3. Teil. Die Garantien tkr EMR.K
cherheit abgestellt, wenn eine Verhaftung durch Organe eines Konventionsstaates auf dem Territorium eines anderen Staates ohne dessen Einverständnis erfolgt.•~ Das Recht auf Sicherheit bewirkt somit einen gewissen Schutz vor staaclichen Maßnahmen außerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaates. Aus der Erwähnung der Sicherheit in Art. 5 folgt hingegen keine Pflicht des Staates, dem Einzelnen Schutz zu gewährleisten. Ein Recht auf Sicherheit der Person (.,security of person") ist nicht garantiert. 16 Daher bestehen keine Gewährleistungspflichten gegenüber Personen, die in einem Konventionsstaat Schutz vor Bedrohung ihrer Sicherheit durch staatliche oder nichtstaatliche Organisationen suchen. Aus der Gewährleistung des Art. 5 lässt sich weder ein Einreiserecht, noch ein Anspruch auf Nicht-Ausweisung oder ein allgemeines Asylrecht von Personen ableiten, deren Sicherheit in ihrem Herkunftsland bedrohe ist. In solchen Fällen gewährleistet insbesondere das Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung gemäß Art. 3 Rechte gegen aufenthaltsbecndende Maßnahmen der Mitgliedstaaten. 17 Im Fall somalischer Flüchtlinge, die sich aus Syrien kommend in der Transitzone eines Pariser Flughafens aufhielten, ging der EGMR allerdings von der Anwendharkeit des Art. 5 aus. Ihnen wurde die Einreise nach Frankreich verwehrt, eine Ausreise nach Syrien war nur nach diplomatischen Verhandlungen zwischen Frankreich und Syrien möglich. Diese theoretische Ausreisemöglichkeit allein führte nicht dazu, das Vorliegen eines Eingriffi in die Garantie des Art. 5 zu verneinen. Zudem hesranden für die Flüchtlinge in Syrien, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert harre, keine vergleichbaren Garantien wie in Frankreich. 18 Anders heurteilre der EGMR die Anhalrung von Flüchrlingen in einer Transitzone an der ungarisch-serbischen Landgrenze, deren Einreise nach Ungarn die ungarischen Behörden untersagten. Weil die theoretische Möglichkeit der Ausreise nach Serbien weiterhin bestand, ging der EGMR von keiner Freiheitsentziehung und somit der Unanwendharkeit von Art. 5 aus. 19
5 Fraglich ist, wie weit die Verpflichtungen aus Art. 5 reichen, wenn ein Mitgliedstaat an kämpferischen Auseinandersetzungen im Ausland beteiligt ist, die von UN-Recht gedeckt sind. Diese Frage stellte sich in der Rechtsprechung bei der konventionsrechtlichen Beurteilung von Freiheitsentziehungen durch die britische Armee während der Invasion im Irak. Dass die Betroffenen britischer Hoheitsgewalt (,,jurisdiction") unterstanden, wurde zutreffend angenommen. Im !'all AI-Jedda harre sich der EGMR mir der Frage zu befassen, ob eine Inhaftierung, die Großbritannien in Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates vornahm, gegen An. 5 versrieß, 20 Der Gerichtshof ging davon aus, dass bei der Auslegung von UN-Resolutionen anzunehmen sei, dass sie den Mitgliedstaaten keine Verpflichtungen auferlegen wollten, die grundlegende menschenrechrliche Prinzipien verletzen würden. Im Falle eines Spielraums bei der Auslegung der Resolutionen habe der Gerichtshof daher jene Auslegung zu wählen, die mir den Anforderungen der Konvention am ehesten in Einklang scehe und
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Nr.24561 /94, Z. 57; Pabtl, in: Lienbacher/Wielinger, S. 175 ff.; Dön; in: Dörr/Grore/Marauhn, Kap. 13 Rn. 32f.; IK-Rrozikowski, An. 5 Rn. l 9ff.; Bkichrodt, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S.441. EGMR, 12.5.2005 (GK), Öcal.an ./. TUR, Nr. 46221/99, Z. 85. EGMR, 30.11.2010, Hajduovd ./. SLO, Nr. 2660/03, Z. 55. Vgl. oben§ 20 Rn. 77f. EGMR, 25.6.1996, Amuur.l. FRA, Nr. 19776/92 = EuGRZ 1996, 577, Z.48; Kokorr, Zur Rechtsstellung von Asylbewerbern in Transitzonen, EuGRZ 1996, 569ff. EGMR, 21.11.2019 (GK), Ilias u. Ahmed ./. HUN, Nr. 47287/15, Z. 219f[; kritisch, weil der EGMR im gleichen Zuge feststellte, dass die Abschiebung der Bf. nach Serbien An. 3 verletzte, BrandL Anhalcung von Asylwerbern in Transitzentren: Zum Urteil der Großen Kammer im Fall Ilias und Ahmed gg. Ungarn, NLMR 2020, 85; s. auch EuGH, 14.5.2020, C-924/19 u. a. (FMS u. a.). EGMR. 7.7.2011 (GK), Al~Jedaa ./. GBR. Nr. 27021/08, Z. 102ff.; vgl. dazu oben§ 17 Rn. 11.
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§ 21. Freiheit und Freizügigkeit einen Konflikt zwischen verschiedenen Verpflichtungen vermeide. In diesem Sinne nahm der Gerichtshof an, dass die in Frage stehenden Resolutionen weder ausdrücklich noch implizit zur zeiclich unbegrenzten Festnahme von Personen ohne Anklage verpßichteten, die als Sicherheitsrisiko eingestuft wurden. Are. 5 fand daher uneingeschränkt Anwendung. Der Gerichtshof stellte im Ergebnis eine Verletzung des Are. 5 fest. 21 Im Fall Hassan ging es um die Internierung einer Person im Irak, die eine Sicherheitsgefahr darstellte. 22 Der EGMR legte hier Are. 5 im Licht des humanitären Völkerrechts, insbesondere der Genfer Konvention, aus und kam zu dem Ergebnis, dass eine Freiheitsentziehung entsprechend der Genfer Konvention auch nach der EMRK zulässig sein könne, selbst wenn keiner der Tatbestände der lit. a bis f erfüllt sei. 23 Nach einer Prüfung der ,·er&hrensrechilichen Absicherung der Freiheitsentziehung und der Einhaltung des Willkürverbors14 kam der EGMR zum Ergebnis, dass die Freiheitsentziehung konventionskonform war. 25 Problematisch ist, dass der EGMR unter Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht den Gewährleistungsgehalt des An. 5 reduzierte, obwohl der betreffende Staat von der Möglichkeit der Suspendierung von Konventionsgarantien im Kriegs- oder Notstandsfall (An. 15) keinen Gebrauch gemacht hatte (s. § 2 Rn. 8ff.). Anders als im Fall Al-Jrdda ging es im Fall Has,an nicht um die Verhinderung einer Pflichtenkollision für den betroffenen Mitgliedstaat. Die Auslegung des EGMR trägt hier vielmehr dazu bei, dass der Mitgliedstaat die ihm durch das Völkerrecht zugestandenen Möglichkeiten der Freiheitsentziehung ohne Beschränkung durch die VerpAichrungen aus der EMRK nutzen kann.
Die Anwendbarkeit des Art. 5 bejaht der EGMR auch in Fällen der Ausweisung in 6 Länder, in denen den Betroffenen eine Inhaftierung unter offenkundiger Verletzung der Garantien des Art. 5 droht. Die hierbei zu überschreitende Schwelle ist allerdings hoch. 26 Wie in der entsprechenden Rechtsprechung zu Art. 2, 3 und 6 kommt es dadurch zu einer Vorverlagerung der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten auf den Zeitpunkt der Ausweisung. 27 Eine offenkundige Verletzung des Art. 5 im Zielstaat wäre nach Ansicht des EGMR etwa eine drohende langjährige Inhaftierung ohne jegliche richterliche Überprüfung oder die Inhaftierung aufgrund eines bereits abgeschlossenen unfairen Verfahrens. 28 Der persönliche Schutzbereich der Garantie des Art. 5 erstreckt sich auf alle natürlichen 7 Personen, 29 unabhängig von ihrem Alter. 30 3. Eingriffe
Ein Eingriff in die durch Art. 5 Abs. 1 garantierten Rechte liegt in jeder Freiheitscnt- 8 ziehung (,,deprivation of liberty") durch staatliche Organe. Als Freiheitsentziehungen sind Maßnahmen der staatlichen Gewalt zu verstehen, durch die jemand gegen seinen Willen an einem bestimmten, begrenzten Ort für eine gewisse Dauer festgehalten wird. 31 Der Katalog von gerechtfertigten Beschränkungen der persönlichen Freiheit, den Art. 5 Abs. 1 lic. a bis lit. f emhälc, zähle typische Arten von Eingriffen in das Grundrecht auf.
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EGMR. 7.7.2011 (GK), Al-jrdda ./. GBR, Nr. 27021/08, Z. I09f. EGMR. 16.9.2014 (GK), Hassan ./. GBR, Nr. 29750/09. 23 EGMR, 16.9.2014 (GK), Has,an ./. GBR, Nr. 29750/09, Z. 104. 24 S. dazu unten Rn. 17 f. 25 EGMR, 16.9.2014 (GK), Hassan ./. GBR, Nr. 29750/09, Z.105ff. lh EGMR, 17.1.2012. Othman (Abu Quatada) ./. GBR. Nr. 8139/09 = NVwZ 2013, 487, Z. 233. 27 Vgl. dazu§ 20 Rn. 6, 77ff. sovt'ie § 24 Rn. 80. 2 • EGMR, 17.1.2012, Othman (Abu Quatada) ./. GBR. Nr. 8139/09 = NVwZ 2013, 487, Z. 233. 29 EGMR;2.3.1987, Werks./. GBR. Nr. 9787/82, Z. 40. 30 EGMR. 28.11.1988, Nielsm ./. DEN, Nr. 10929/84, Z. 58. '' Definition im Anschluss an Frowrin!Peukert, Art. 5 Rn. 10. 22
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3. Teil. Die Garantien der EMRK
Bei der Beurteilung, ob im Einzelfall eine Freiheitsentziehung im Sinn des An. 5 vorliegt, ist von der konkreten Situation des Betroffenen auszugehen und eine Gesamtbetrachtung von Ausmaß und Intensität der Maßnahme vorzunehmen. 32 Der Unterschied zwischen einer bloßen Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die keinen Eingriff in Are. 5 Abs. 1 darstelle, und einer unzulässigen Freiheitsentziehung ist oft nur graduell; 33 er liegt nicht in der Art, sondern in der Intensität des Eingriffs. 34 Für die Abgrenzung berücksichtigt der EGMR vor allem die An der Maßnahme, ihre Dauer, ihre Auswirkungen und die An und Weise der Durchfuhrung. 35 Die räumliche Ausdehnung des Gebiets, auf das der Betroffene beschränkt ist, die Intensität der Aufsicht, die Möglichkeit, soziale Kontakte zu pflegen, und der Kontext, in dem die Maßnahme vorgenommen wurde, sind ebenso relevanc. 36 Nicht entscheidend für die Beurteilung, ob tatsächlich eine Freiheitsentziehung vorliegt, ist der Zweck der Freiheitsentziehung.37 Auch Beschränkungen zum Schutz oder im Interesse des Betroffenen können als Freiheitsentziehung angesehen werden. 38 Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Ausländern aufgrund ihres aufenchalcsrechrlichen Stams sind nicht an Art. 5 zu messen. 39 Kein Eingriff in Art. 5 wird auch im Falle eines nächrlichen Ausgehverbots angenommen. ◄u Die VerpAich111ng eines auf Bewährung entlassenen Strafgefangenen, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, scellc ebenfalls keinen Freiheitsentzug dar. 41 Schließlich fälle auch der Militärdienst als solcher nicht in den Schutzbereich von Art. 5, denn dieser wird ausdrücklich in Art. 4 Abs. 3 lit. b zugelassen. 42 Anhand der vom EGMR encwickclcen Kriterien wird auch zu messen sein, ob die von edichen Konventionsscaaten zur Bekämpfung der Covid 19-Pandemie verhängten Quarancänemaßnahmen bzw Ausgangsbeschränkungen als Freiheitsentziehungen oder als Beschränkungen der Freizügigkeit zu werten sind.
9 An. 5 erfasst auch kurzzeitige Freiheitsenrziehungen. 43 Dies gilt insbesondere dann, wenn physischer Zwang oder andere verschärfende Umstände hinzukommen. 44 Schwierigkeiten bei der Einordnung, ob eine kurzfristige Aufhebung der Bewegungsfreiheit eine Freiheitsentziehung i. S. v. Art. 5 darstellt, bereiten insbesondere Konstellationen, in denen der Betroffene festgehalten wird, um eine bestimmte polizeiliche Maßnahme - etwa eine Identitätsfeststellung, eine Blutprobenentnahme oder eine 32
EGMR. 6.11.1980, Gu=rdi ./. ITA, Nr. 7367/76 = EuGRZ 1983, 633, Z. 92; EGMR, 28.5.1985, Ashingdane .!. GBR. Nr. 8225/78, Z. 41; EGMR, 5.10.2004, H. L. ./. GBR. Nr. 45508/99, Z. 93; EGMR, 23.2.2012 (GK), Crrangii .1. ROM, Nr.29226/03, Z.91; Dön; in: Dörr/Grotc/Marauhn, Kap. 13 Rn. 120. H EGMR. 8.6.1976, Engel u.a. ./. NED, Nr.5100/71 u.a. = EuGRZ 1976, 221, 2.59; EGMR. 6.11.1980, Guuardi ./. ITA, Nr. 7367/76 = EuGRZ 1983, 633, Z. 93; s. auch EGMR. 15.3.2012 (GK), Awtin u. a. ./. GBR, Nr. 39692/09 u. a., Z. 57, 67; dazu IK-Renzikowski. Art. 5 Rn. 49ff. ·" EGMR. 15.12.2016 (GK), Khlaifia u.a . ./. ITA, Nr. 16483/12, Z.64; EGMR, 23.2.2017 (GK), De Tommaso ./. ITA, Nr. 43395/09, Z. 80 . .,s EGMR. 15.12.2016 (GK), Khlaifia u. a. ./. ITA, Nr. 16483/12, Z. 64; EGMR. 23.2.2017 (GK), De Tommaso ./. ITA. Nr. 43395/09, Z. 80 . .16 EGMR. 23.2.2017 (GK), De Tommaso ./. ITA, Nr. 43395/09, Z. 88. 37 EGMR. 31.1.2017, Rozhkov.l. RUS, Nr. 38898/04, Z. 74. 38 EGMR. 15.12.2016 (GK), Khlaifia u. a. ./. ITA. Nr. 16483/12, Z. 71. 39 EKMR, 2.3.1994, S. F. ./. SUI, Nr. 16360/90. 40 Vgl. Frowein/Peukm. Art. 5 Rn. 13. 41 EKMR, 27.5.1991, Ciancimino, DR 70, l03ff. 42 EGMR. 8.6.1976, Engel u. a. ./. NEO, Nr. 5100/71 u. a. = EuGRZ 1976, 221, Z. 59. 41 · EGMR. 31.1.2017, Rozhkov ./. RUS, Nr. 38898/04, Z. 74. 44 EGMR. 7.1.2010, Rantrev.l. RUS, Nr. 25965/04, Z. 317.
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§ 21.
Freiheit und Freizügigkeit
Vernehmung - durchzuführen. Die Frage der Zuordnung solcher Maßnahmen zum Schutzbereich von Art. 5 ist von besonderer Bedeurung, da häufig die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme nach Art. 5 nicht vorliegen. Für die Abgrenzung zwischen zulässiger Freiheitsbeschränkung und unzulässiger Freiheitsentziehung ist der Schwerpunkt der Zielsetzung der in Frage stehenden Maßnahme maßgeblich. Liege dieser nicht im Freiheitsentzug an sich, sondern stelle sich dieser lediglich als unumgängliche Nebenfolge dar, liege kein Eingriff in das Reche nach An. 5 vor. Darüber hinaus nimmt der EGMR dann eine Freiheitsentziehung an, wenn polizei- 10 liehe Zwangsgewalt ausgeübt wird. 45 Eine allgemein akzeptierte Beschränkung der Bewegungsfreiheit (etwa beim Besuch von Fußballspielen oder im öffentlichen Verkehr) aus unvermeidbaren Gründen, die außerhalb des Einflusses der Behörden liegen, stelle für den EGMR allerdings keinen Eingriff in das Reche auf Freiheit und Sicherheit dar, wenn sie der Gefahrenabwehr von Verletzungen und Schäden diene und außerdem auf das unbedingt nötige Mindestmaß begrenzt ist. 46 Das Einkesseln von Demonstranten für mehrere Stunden, um gewalttätigen Ausschreitungen vor,ubeugen, qualifizierte der EGMR nicht als Freiheitsenniehung i. S. v. Art. 5.47 Bereits in mehreren Fällen hingegen erkannte der EGMR die Zeiten von Hausarrest als Freiheitsentziehung an. Maßgeblich hierfür war neben dem Verbot das Haus zu verlassen auch die Untersagung der Benutzung von Kommunikationsmitteln.48
Wenn es zu keiner direkten Anwendung staatlicher Gewalt kommt, allerdings trotz- 11 dem gewisse Zwangselemente vorliegen, die den Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Betroffenen wesentlich einschränken, liegt für den EGMR eine de factoFreiheitsentziehung im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 vor. 49 Das Vorliegen einer de facto-Freiheitsentziehung stellte der EGM R etwa im Fall des Abtransports von Teilnehmern einer Demonstration in einem Bus zur Befragung und Identitätsfeststellung im Polizeihauptquartier fest, da auch ohne Gewaltanwendung kein Handlungsspielraum für die Betroffenen mehr gegeben war.'°
Ein Eingriff in Art. 5 Abs. 1 liegt nicht vor, wenn der Betroffene in die Freiheitsenrzie- 12 hung, etwa die Unterbringung in eine Klinik, eingewilligt har. Allerdings sind an die Rechtswirksamkeit einer solchen Einwilligung bestimmte Anforderungen zu stellen. So ist eine Einwilligung in eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik nur dann wirksam, wenn die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person objektiv festgestellt wurde und sie hinreichend über die geplante Behandlung informiert wurde. 51 ◄1
EGMR. 24.6.2008, Foka ./. TUR, Nr. 28940/95, Z. 74ff.; EGMR. 12.1.2010, Gi/Jan u. Quimon ./. GBR. Nr. 4158/05, Z. 57; EGMR, 21.6.2011, Shimolnvos ./. RUS, Nr. 30194/09, Z. 50; s. jedoch EGMR, 15.3.2012 (GK), Ausrin u. a. ./. GBR, Nr. 39692/09 u. a., Z. 64, 68. 46 EGMR. 15.3.2012 (GK), Ausri11 u. a. ./. GBR. Nr. 39692/09 u. a., Z. 59. 47 EGMR. 15.3.2012 (GK), Austin u. a. .!. GBR, Nr. 39692/09 u. a., Z. 67. 48 EGMR. 11.1.2001, N C ./. ITA, Nr.24952/94, Z.33; EGMR. 8.7.2004, Vachev.l. BL'L. Nr.42987/98, Z.62; EGMR, 30.9.2004, Nikolnva (Nr.2) ./. BUL, Nr.40896/98, Z.60; EGMR. 30.6.2009, Bdrkdnyi ./. HUN, Nr.37214/05, Z.27; EGMR. 7.11.2013, Ermakov ./. RUS, Nr. 43165/10, Z. 238. •• EGMR. 23.7.2013, M. A . .!. CYP, Nr. 41872/10, Z. 195; EGMR, 26.6.2014, Krupko u. a. ./. RUS, Nr. 26587/07, Z. 36. so EGMR. 23.7.2013, M. A . ./. CYP.Nr.41872/10, Z. 193ff. 11 EGMR. 19.4.2012, M. ./. UKR. Nr. 2452/04, Z. 75ff.
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3. Teil. Die Garantien tkr EMRK
Die fehlende Geschäftsfähigkeit einer Person führt dann nicht zur Unwirksamkeit der Einwilligung, wenn die betreffende Person ihre Situation tatsächlich versteht. 52 Es kann allerdings auch zulässig sein, auf den Willen einer dritten Person abzustellen, wenn Schutzmaßnahmen zugunsten des Betroffenen ergriffen werden sollen. 53 4. Zulässigkeit von Eingriffen in die persönliche Freiheit
13 Ein Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit ist nur zulässig, wenn erstens die für alle Arten von Freiheitsentziehungen geltenden allgemeinen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 gegeben sind und zweitens einer der Haftgründe der lir. a bis lir. f vorliegt. Die allgemeinen Voraussetzungen sind das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage, die Einhaltung des innerstaaclichen Verfahrens sowie die Beachtung des Willkürverbots. 54 Ein generelles Verbot der Schuldhaft enthält Art. 1 4. ZP. 55 a) Gesetzliche Grundlage
14 Zulässige Eingriffe in die persönliche Freiheit erfordern zunächst eine gesetzliche Grundlage; das innerstaacliche Recht - unter bestimmten Voraussetzungen genügen auch völkerrechcliche56 bzw. europarechcliche 57 Bestimmungen - muss also den Eingriff in die persönliche Freiheit vorsehen. 58 Auch wenn die Rechtsordnungen der meisten Konventionsstaaten insofern ein formelles Gesetz verlangen, genügt es nach der EMRK, wenn ein Gesetz im materiellen Sinn die Beschränkung der Freiheit vorsiehr. 59 Jedenfalls aber muss das Gesetz - wie jedes eine Garantie der EMRK einschränkende Gesetz60 - hinreichend präzise sein, um es dem Betroffenen zu ermöglichen, gegebenenfalls unter Einholung von Rechtsrat die Folgen seines Handelns vorherzusehen. 61 Der EGMR betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Rechtssicherheit, die als Teil des Rechtsstaatsprinzips implizit in der Konvention enthalten isr. 62 Die gesetzlichen Grundlagen für eine Freiheitsentziehung müssen das Verfahren, nach dem die Haft angeordnet bzw. verlängert wird, und die zeitliche Begrenzung der Haft regeln. 63 Für die Vorsehbarkeit der Dauer der Haft, einschließlich der
12
EGMR. 27.3.2008, Shtukaturov ./. RUS, Nr. 44009/05, Z. 108; EGMR. 17.1.2012 (GK), Stanev ./. BUL, Nr. 36760/06, Z. 130; EGMR, 14.2.2012, D. D . ./. LTU, Nr. 13469/06, Z. 150. 13 EGMR, 17.1.2012 (GK), Stanev.l. BUL, Nr. 36760/06, Z. 130. 14 St. Rspr., z.B. EGMR, 29.2.1988, Bouamar ./. BEL, Nr. 9106/80, Z. 47; EGMR, 28.5.2002 (GK), Stajford ./. GBR, Nr.46295/99, Z.63; EGMR. 17.12.2009, M. ./. GER, Nr. 19359/04 = EuGRZ 2010, 25, Z. 90; EGMR. 21.10.2013 (GK). tkl Rio Prada ./. ESP. Nr. 42750/09, Z. 125. 51 S. unten Rn. 55. 56 EGMR. 29.3.2010 (GK). Medvedyev u. a. ./. FRA, Nr. 3394/03, Z. 79. 17 EGMR. 4.4.2017, Thimothawed. BEL, Nr.39061/11, Z. 70. 58 S. sran vieler EGMR. 29.3.2010 (GK), Medvedyev u. a. ./. !'RA. Nr. 3394/03. Z. 79; EGMR. 3.9.2013, ÜmitBilgir.l. TUR. Nr.22398/05,Z.93, 101. 19 EGMR. 5.10.2004, H. L. ./. GBR. Nr. 45508/99, Z. 116fl 60 S. dazu allgemein§ 18 Rn. ?ff. 61 EGMR. 23.9.1998, Steel u. a. ./. GBR. Nr. 24838/94, Z. 54; EGMR. 28.3.2000, Baranowski ./. POL. Nr.28358/95, Z.56; EGMR. 23.2.2012 (GK), Crtanga ./. ROM, Nr.29226/03, Z. 120; EGMR. 21.10.2013 (GK), de/ Rio Prada ./. ESP, Nr. 42750/09, Z. 125. 62 EGMR. 28.3.2000, Baranowski ./.POL.Nr. 28358/95, Z. 55; EGMR. 13.7.2004, Ciszrwski ./. POL. Nr. 38668/97, Z. 29. 6-' EGMR. 22.9.2009, Abdolkhani u. Kanninia ./. TCR. Nr.30471/08 = lnfAuslR 2010, 47, Z.133; EGMR. 13.4.2010, Trherani u. a. ./. TUR, Nr. 32940/08 u. a., Z. 70; EGMR. 10.2.2011, Kharchenko ./. UKR. Nr. 40107/02, Z. 74.
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§ 21. Freiheit und Freizügigkeit
Voraussetzungen für einen Straferlass, ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der ursprünglichen Anordnung der Haft, erwa der Verurteilung, maßgeblich. 64 Ist die Rechtslage unklar, so stellt dies als solches einen Verstoß gegen An. 5 dar. 6 ~ Allerdings kann bei geringer Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage eine gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung verfahrensrechclicher Normen den Mangel an Bestimmtheit kompensieren. 66 Eine bloße Verwaltungspraxis kann hingegen, auch wenn sie auf behördeninternen allgemeinen Weisungen beruhe, bei mangelnder Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage und fehlen einer Rechtsprechungspra.xis den Anforderungen an die rechcliche Grundlage nicht genügen. 67 Völkerrechcliche Verträge, die noch nicht in Kraft getreten sind, können keine gesetzliche Grundlage für Eingriffe in die persönliche Freiheit darscellen. 68 Dasselbe gilt für völkerrechcliche Verträge, die nicht vollständig veröffenclichr wurden und für die Betroffenen daher nicht zugänglich sind. 69 Auch zwischen zwei Staaten getroffene ad hoc Vereinbarungen in der Form eines diplomatischen Briefs sind keine geeignete gesetzliche Grundlage, da sie im Hinblick auf die Verhaftung bestimmter Personen nicht hinreichend bestimmt sind und überdies die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit nicht erfüllen. 70 b) Einhaltung des innerstaatlichen Verfahrens
Eine Freiheitsentziehung ist nur zulässig, wenn sie in Übereinstimmung mit dem ge- 15 seczlich vorgeschriebenen innerstaatlichen Verfahren erfolge. Diesbezüglich verlange der EGMR, dass das innerstaarliche Reche selbst konventionskonform ist, also die in An. 5 enthaltenen Zulässigkeitsvoraussetzungen umgesetzt hat, und dass das gesetzlich vorgesehene Verfahren im Einzelfall tatsächlich eingehalten wurde. 71 Die Kontrolle der Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung, das heißt die Überprüfung, ob das nationale Recht im Einzelfall rechtmäßig angewendet wurde, erfolge in erster Linie durch die nationalen Gerichte. Im Anwendungsbereich von Art. 5 nimmt der EGMR allerdings auch für sich die Kompetenz in Anspruch, die Einhaltung des nationalen Rechts zu überprüfen, zumal dann, wenn das innerstaatliche Höchstgericht die mögliche Rechtswidrigkeit nicht aufgreifen kann. 72 Er begründet dies damit, dass die EMRK selbst auf das innerscaarliche Reche verweist. 73 Die detailreiche Regelung des Are. 5 enthält genaue Vorgaben für die Ausgestaltung des nationalen Rechts. 74 Dies impliziert gleichzeitig eine genauere Kontrolle durch den EGMR. 64
EGMR. 21.10.2013 (GK), d.el Rio Prada ./. ESP. Nr. 42750/09, Z. 130. s EGMR, 5.11.2009, Kokvi ./. BUL, Nr. 1108/02, Z. 178; EGMR, 9.7.2013, Ciobanu ./. ROM u. ITA, Nr. 4509/08, Z. 64 f. 66 EGMR. 8.11.2001, I.Aumom ./. FRA, Nr. 43626/98, Z. 51; EGMR, 29.11.2011, A. u. a. ./. BUL, Nr. 51776/08, Z. 68. 67 EGMR, 8.6.2004, Hil.da Hafireindottir ./. ISL, Nr. 40905/98, Z. 56. 68 EGMR. 7.10.2009, Grori ./. ALB, Nr. 25336/04, Z. 158ff. 69 EGMR. 15.12.2016 (GK), Khlaifia u. a. ./. ITA, Nr. 16483/12, Z. 102. 6
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ECMR. 29.3.2010 (GK), Medvedyev u. a . . /. FRA, Nr. 3394/03, Z. 99f.
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EGMR. 24.11.1994, Kemmache (Nr.3) .!. FRA. Nr. 17621/91. Z. 37. EGMR. 30.6.2005, Nakach ./. NEO, Nr. 5379/02, Z. 37/f.; EGMR. 23.2.2012 (GK), Creangä .!. ROM, Nr. 29226/03, Z. 101. EGMR. 24.10.1979, Winterwerp ./. NED. Nr. 6301/73, Z. 46; EGMR, 18.12.1986, Bomno .!. FRA. Nr.9990/82, Z.58; EGMR, 29.2.1988, Bouamar.l. BEL, Nr.9106/80, 2.48; EGMR, 10.6.1996 (GK). Benham ./. GBR. Nr. 19380/92, Z. 39ff.; EGMR, 1.3.2005, Beet u. a. ./. GBR. :-.Ir. 47676/99 u.a., Z. 26ff. EGMR. 24.11.1994, Kemmache (Nr. 3) .!. FRA, Nr. 17621/91, Z. 37.
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3. Teil Die Garantien der EMRK
Bei der Beuneilung der Vereinbarkeit einer Freiheitsentziehung mit Art. 5 Abs. l unterscheidet der EGMR zwischen unwirksamen Haftbefehlen und solchen Haftbefehlen, die zunächst rechtsgültig und wirksam sind, soweit sie nicht von einem übergeordneten Gericht aufgehoben werden. Ein Haftbefehl ist von vornherein (,,ex facie") als unwirksam anzusehen, wenn er „offensichtlich grob fehlerhaft" (,,gross and obvious irregularity") im besonderen Sinn der Rechtsprechung des Gerichtshofes isc. 75 Das ist etwa der Fall, wenn das Gericht beim Erlass des Haftbefehls seine Zuständigkeit überschritten hat oder wenn dem Betroffenen der Anhörungstermin nicht ordnungsgemäß mitgeteilt wurde. 76 „Einfache Rechtswidrigkeiten" von Haftbefehlen können im Rechtsmittelverfahren vor den nationalen Gerichten aufgegriffen werden und die Haftbefehle können geheilt werden. 77 ·
16 Besondere Probleme werfen Fälle auf, in denen ein Konventionsscaat eine Festnahme auf dem Gebiet eines anderen, möglicherweise nicht an die Konvention gebundenen Staates vornimmt. Solche Maßnahmen sind grundsätzlich nach Völkerrecht zu beurteilen. Die Konvention stehe Awlieferungen nicht entgegen. Wenn und soweit es sich um Auslieferungen handelt, ergeben sich aus der Konvention auch keine Bedingungen oder Verfahrensgarantien. Zwar ist es nicht Aufgabe des EGMR, die Souveränitätsrechte des Staates zu sichern, in dem die Verhaftung stattfand. Stellt der EGMR aber „ohne jeden vernünftigen Zweifel" fest, dass der inhaftierende Staat unter Verletzung der Souveränität des anderen Staates gehandelt und damit gegen internationales Recht verstoßen hat, liegt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 vor. 78 Führt umgekehn ein Mitgliedstaat auf seinem Gebiet eine Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls aus einem anderen Mitgliedstaat durch, so hat er zu überprüfen, ob der Haftbefehl und der Auslieferungsantrag nach den Maßstäben des innerstaatlichen Rechts materiell und prozedural rechtmäßig sind. Im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens muss der angesuchte Staat unterstellen können, dass die vom ansuchenden Staat vorgelegten Rechtsdokumente rechtmäßig sind. Ist der Haftbefehl jedoch von einem unzuständigen Gericht erlassen worden, was im ersuchenden Staat übersehen wurde, ist dieser Mangel dem ersuchten Staat zuzurechnen. 79 c) Beachtung des Willkürverbots
17 Der EGMR leitet aus dem Zweck des An. 5 ein ungeschriebenes Willkürverbot ab, das zum Gesetzmäßigkeitsgebot hinzutritt. Die Anforderungen des Willkürverbots sind in den meisten Fällen bereits in den anderen Voraussetzungen des Art. 5 enthalten und werden durch die Überprüfung der gesetzlichen Grundlage und der Einhaltung des innerstaatlichen Verfahrens mit abgedeckt. Insbesondere erfasst das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage im nationalen Recht auch den Schurz vor willkürlichen behördlichen Eingriffen. Mir dem Willkürverbot har der EGMR Kriterien entwickelt und in die Prüfung einer Verletzung von An. 5 Abs. 1 eingebracht, die Fälle erfassen, in denen das Abstellen auf die eher formalen Anforderungen einer gesetzlichen GrundEGMR 6.12.2007, Liu ./. RUS, Nr.42086/05, Z.81; EGMR, 9.7.2009 (GK), Moorm ./. GER. Nr. 11364/03 = EuGRZ 2009, 566, Z. 75. 76 EGMR. 8.11.2005, Khudoyorov ./. RUS, Nr. 6847/02, Z. 129; s. auch EGMR, 31.5.2011, KhodorkoVJkiy ./. RUS, Nr. 5829/04 = NJW 2012, 3422. Z. 155 ff.; EGMR. 23.7.2013. M. A. ./. CYP, Nr.41872/10, Z. 211 ff. n EGMR, 9.7.2009 (GK), Moorm ./. GER, Nr. 11364/03 = EuGRZ 2009, 566, Z. 75. 78 EGMR, 12.5.2005 (GK), Öcalan ./. TUR, Nr. 46221 /99, Z. 85 ff. 9 ' EC;MR. 14.9.2009,Suphen.s ./. MLT, Nr.11956/07, Z. 52;vgl. Rn.47Jf. 75
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§ 21. Freiheit und Freizügigkeit
lage und der Einhaltung des Verfahrens nicht genügt, um das Verhalten eines Staates im Hinblick auf die effektive Gewährleistung des Grundrechts der persönlichen Freiheit zu beurteilen. Eine Freiheitsentziehung ist willkürlich, wenn sie zwar mit dem Buchstaben des Gesetzes im Einklang steht, aber das Handeln der Behörden ein Element der Arglist oder Täuschung enthält. Das Willkürverbot verlangt außerdem, dass sowohl die Anordnung der Haft als auch ihre Vollstreckung insgesamt tatsächlich mit dem Zweck der Beschränkungen des jeweiligen Tatbestands in Art. 5 Abs I lit. a bis lit. f im Einklang stehen. Weicht der angegebene Zweck einer Freiheitsencziehung jedoch vom tatsächlich beabsichtigten ab, so kann eine Freiheitsentziehung trotz Übereinstimmung mit dem Gesetzesworclaut konventionswidrig sein. Einen Verstoß gegen das Willkürverbot stellte für den EGMR etwa die Anhalrung eines Beschwerdeführeß als Zeugen mit der eigenrlichen Absicht der Ermiuler, ihn als Beschuldigten zur Verancwortung zu ziehen, dar. 80 Ähnlich gelagert war der Fall einer Inhaftierung, die offiziell auf einer Vcrwahungsübcmetung beruhte, obwohl der Beschwerdeführer als Verdächtiger in einem Mordfall galt. 81
Zudem muss eine gewisse Beziehung zwischen dem jeweiligen Haftgrund einerseits und dem Unterbringungsort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung andererseits bestehen. 82 Eine geheim gehaltene Anhaltung von Personen an einem unbekannten Ort (,,unacknowledged detention") stelle eine schwerwiegende Verletzung von Are. 5 dar, weil die aus dem Willkürverbot folgenden Rechte vollkommen missachtet werden. 83 Fehlt ein Bericht, der Informationen über das Datum, die Zeit und den Ort der Festnahme sowie den Namen des Festgenommenen, den Grund für die Festnahme und den Namen des festnehmenden enchält, so bildet dies für sich einen Verstoß gegen das Willkürverbor. 84 Darüber hinaus gebietet das Willkürverbot dem EGM R zufolge die Einhaltung einzel- 18 ner Teile des Grundsatus der Verhältnismäßigkeit i. S. d. deutschen Grundrechtsdogmatik, wobei die Anforderungen je nach Haftgrund erheblich differieren: 85 - Für die Haftgründe der lit. b, lit. d und lic. e impliziere das Willkürverboc den Grundsatz der Erforderlichkeit und der Verhälcnismäßigkeit i. e. S., mithin das Gebot des Einsatzes des gelindesten Mittels (Prüfung des Ausreichens weniger strenger Maßnahmen) und der Abwägung zwischen dem öffenclichen Interesse an der sofortigen Erfüllung einer Verpflichtung und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person, wobei die Dauer der Freiheitsencziehung und die Umstände, die zur Haft geführt haben, 86 eine maßgebliche Rolle für das Ergebnis der Abwägung spielen.
80 81 82
83
84
8\ 86
EGMR. ·3 I. 5.2011, KhodorkovJkiy .1. RUS, Nr. 5829/04 = NJW 2012, 3422, Z. 142. EGMR, 21.4.2011, Nechiporuk u. Yonkalo .1. UKR, Nr.42310/04, Z. 173, 178, 181. EGMR, 29.1.2008 (GK), .'iaaa'i ./. GBR, Nr. 13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. 69 m.w. N. der Rspr. EGMR. 5.2.2009, KhadiJovu. Tiechoyev.l. RUS, Nr.21519/02, Z. 138; EGMR, 17.9.2009, AJadulayeva u. a. ./. RUS, Nr. I 5569/06, Z. 120; EGMR, 13.12.2012 (GK), EI-Masri ./. MKD, Nr.39630/09 = NVwZ 2013, 631, Z.233, 236tf.; EGMR, 24.7.2014, Al Nashiri ./. POL, Nr. 28761/11, Z. 529; EGMR, 24.7.2014, HUJayn (Abu Zubaydah) ./. POL, Nr. 7511/13, Z. 523. EGMR, 2.10.2008, Belousov ./. RUS, Nr. 1748/02, Z. 72; EGMR, 13.12.2012 (GK), E/-Masri ./. MKD, Nr. 39630/09 = NVwZ 2013, 631, Z. 176. Zum folgenden EGMR, 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR, Nr.13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. ?Off. ECMR. 27.7.2010. Gatt./. MAL. Nr.28221/08. Z.40; EGMR, 22.10.2018, S., V, u.A . ./. [)EN. Nr. 35553/12 u. a., Z. 82.
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3. Teil Die Garantien der EMRK
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Für die Strafhaft nach lit. a reicht es aus, wenn die allgemeinen Bedingungen des Willkürverbocs erfülle sind. Insbesondere wird die Länge der Haft nicht in einer Abwägung durch den EGMR nachgeprüft; dies ist vielmehr Sache der innerstaatlichen Gerichte. In Bezug auf den Haftgrund der lic. c ist im Zuge der Verhälmismäßigkeicsprüfung eine Interessenabwägung der Gründe für bzw. gegen eine Haft zu treffen sowie die Norwendigkeit anhand der Umstände des Einzelfalls darzulegen und durch Beweise zu untermauern. 87 Einen wesentlichen Abwägungsgrund stellt dabei das Alcer einer Person dar. So sollte die Untersuchungshaft von Minderjährigen nur ultima ratio und von kürzest möglicher Dauer sein. 88 Für die Haft i. Z. m. aufenthalcsbeendenden Maßnahmen nach lit. f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit, wohl aber eine (zurückgenommene) Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer stattzufinden: Die Haft ist nur solange angemessen, als das in lic. f Bezug genommene Verfahren Fortschritte macht und mit angemessener Sorgfalt geführt wird (,,wich due diligence"). 89
d) Vorliegen eines Haftgrunds
19 Neben den Anforderungen an die gesetzliche Grundlage und die Einhaltung des innerstaatlichen Verfahrens muss die Haft auch materiell rechtmäßig sein. Die nach der EMRK zulässigen Eingriffe in die persönliche Freiheit sind im Katalog des Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lic. f abschließend geregelt. Die entsprechenden Tatbestände sind restriktiv auszulegen. 90 Im Einzelfall kann eine Freiheitsentziehung auch unter mehreren Tatbeständen des Art. 5 Abs. l lit. a bis lit. f gerechtfertigt sein. Die Anwendbarkeit eines Tatbestands schließt nicht die der anderen aus. 91 20 aa) Verurteilung. Lit. a betrifft den Fall der Inhaftierung nach Verurteilung des Betroffenen durch ein zuständiges Gericht. Der Begriff der Vernrteilung in An. 5 Abs. 1 lit. a ist autonom, also unabhängig vom nationalen Recht, auszulegen. 92 Er umfasst die Sanktionierung aufgrund von straf- oder disziplinarrcchtlichen Tatbeständen und setzt die Feststellung einer Schuld voraus. 93 Gemeint ist die Haft ab der erstinstanzlichen Verurteilung, nicht erst ab Rechtskraft des Urteils. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. a reicht die 87
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?2 93
EGMR. 4.10.2005, Becciev ./. MOL, Nr. 9190/03, Z. 56, 59; EGMR, 18.3.2008, latunt .!. POL, Nr. 11036/03, Z. 55; EGMR, 19.1.2012, Komrykova ./. UKR, Nr. 39884/05, Z. 43ff. EGMR, 10.1.2006, Sef+uk ./. TUR, Nr.21768/02, Z.35ff; EGMR, 6.5.2008, Nart ./. TUR, Nr. 20817/04, Z. 31, 33; EGMR, 19.1.2012, Komrykova ./. CKR, Nr. 39884/05, Z. 43ff. Vgl. aber EGMR. 2.10.2008, Rusu ./. AlIT, Nr. 34082/02 = ÖJZ 2009, 426, Z. 58. St. Rspr., s. etwa EGMR, 29.2.1988, Bouamar ./. BEL, Nr. 9106/80, Z. 43; EGMR, 22.2.1989, Ciu!IA ./. !TA, Nr. 11152/84, Z.41; EGMR, 22.3.1995, Quinn ./. FRA, Nr. 18580/91, Z. 42; EGMR, 20.3.1997, Lukanov.l. BUL, Nr.21915/93, Z.41; Elberling, in: Karpenstein/Mayer, An.5 Rn.28; IK-Rmzikow1ki, Art. 5 Rn. 131 ff. EGMR. 2.9.1998, Erka/.o .!. NEO, Nr.23807/94, Z.50; EGMR, 4.4.2000, Lirwa ./, POL, Nr. 26629/95, Z. 49; etwas anderes gilt, wenn die innerstaatlichen Entscheidungen erkennen lassen, dass die Hafc nur unter einem Tatbestand zulässig ist, EGMR, 4.8.2005, hciri ./. ITA, Nr. 55764/00, Z. 41. EGMR. 8.6.1976, Engel u. a. ./. NEO, Nr. 5100/71 u. a. = EuGRZ 1976, 221. Z. 68. Zur autonomen Auslegung vgl. oben§ 5 Rn. 9ff. EGMR. 6.11.1980, Gu=rdi ./. ITA, Nr. 7367/76 = EuGRZ 1983, 633, Z. 100; EGMR, 28.3.1990, B. ./. AUI; Nr. 11968/86, Z. 38; EGMR, 17.12.2009, M. ./. GER, Nr. 19359/04 = EuGRZ 2010, 25, Z. 100; Mryer-Latkwig!Harrendorf!König, in: Meyer-Ladewig et al., An. 5 Rn. 28.
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§ 21. Freiheit und Freizügigkeit
bloß formale Rechrferrigung der Freiheitsentziehung durch eine Verurteilung aus. 94 Die Frage der Strafbarkeit überhaupt und die Angemessenheit der Bestrafung mir einer Freiheirssrrafe richten sich allein nach nationalem Recht. 95 Eine rechtswidrige Freiheitsentziehung entgegen An. 5 Abs. 1 lit. a liegt nicht vor, wenn die durch ein Gericht verhängte Strafe später von einem Rechrsmirrelgerichr aufgehoben wird. 96 Der EGMR überprüfe lediglich, ob eine solche Verurteilung erfolgte, nicht aber, ob die Entscheidung berechtigterweise ergangen ist. 97 Erforderlich ist, dass zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung ein Kau- 21 salzusammenhang besteht. Die Freiheitsentziehung muss sich gerade aus der Verurteilung ergeben. 98 Das Fehlen des Kausalzusammenhangs ("c.ausal link") führte zur Kom·entionswidrigkeic der Verhängung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nach deucschem Reche. 99 Die zunächsr mic der Verurteilung gegen den Bf. verhängce Sicherungsverwahrung, die aufgrund der zum Zeicpunkc der Verurceilung gehenden Rechtslage auf 10 Jahre beschränkt war, entsprach den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1. Die über den Zeitraum von 10 Jahren hinausreichende Freiheitsenrziehung, die durch die zwischenzeitliche Ändemng der Rechtslage zur Sichemngsverwahrung ermöglicht wurde, wies allerdings den norwendigen Konnex zur Verurteilung nicht mehr auf. 100 Der norwendige Konnex fehlte laut EGMR auch in Fällen, in denen nach über zehn Jahren Haft eine fortdauernde Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, ohne dass der Geisteszustand des Verurteilten nichc erneut im Zuge eines medizinischen Gurachtens untersuche wurde. 101 Dieser Eingriff in das Grundrechc auf Freiheic kann nach Auffassung des EGMR auch nicht uncer Hinweis auf eine Schurzpflichr des Staates gegenüber Dricten gerechcfertigt werden. 102 Eine fort94
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Harris/O 'Boyk/Warbrick, S. 311 f. Vgl. auch Art. 49 Abs. 3 GRC, der ein Verboc unverhälcnismäßiger Strafen enchält. EKMR, Ber. v. 9.3.1978, KrZ'jcki, DR 13, 57 (61). EGMR, 2.3.1987, WrrkJ ./. GBR, Nr. 9787/82, Z. 50. EGMR, 18.12.1986, Bo:zano ./. FRA, Nr. 9990/82, Z. 53; EGMR, 2.3.1987, ~rks ./. GBR, Nr. 9787/82, Z. 42; EGMR, 2.3.1987, Monnr/J u. MorriJ ./. GBR, Nr. 9562/81 u. a., Z. 40; EGMR, 28.3.1990, B. ./. AUT, Nr.11968/86, Z.38; EGMR. 17.12.2009, M. ./. GER, Nr.19359/04 = EuGRZ 2010, 25, Z. 96ff. Vgl. zur Sicherheitsverwahrung nach deutschem Recht Elbrrling, in: Karpenscein/Mayer, Art. 5 Rn. 35ff. EGMR. 17.12.2009, M. ./. GER, Nr. 19359/04 = EuGRZ 2010, 25, Z. 96ff.; zu den Konsequenzen dieses Urteils vgl. Grabmwartn; Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechce - am Beispiel des Falls M. gegen Deutschland, JZ 2010, 857ff.; Kinzig, Das Reche der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR in Sachen M. gegen Deutschland, NStZ 2010, 233ff.; Windojfn; Die Maßregel der Sicherungsverwahrung im Spannungsfeld von Europäischer Menschenrechtskonvention und Grundgesetz, DÖV 2011, 590ff.; Grabmwartt'r, Die deutsche Sicherungsverwahrung als Treffpunkt grundrechtlicher Parallelwelten, EuGRZ 2012, 507ff.; LruthrwmSchnarrmbergrr, Zwischen Freiheit und Sicherheic - das Reche der Sicherungsverwahrung und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: dies. (Hrsg.), Vom Reche auf Menschenwürde, 2013, 175 lf.; 'Rmzikowski. Abstand halcen! - Die Neuregelung der Sicherungsverwahrung, NJW 2013, 1638ff.; s. zum fehlenden Kausalzusammenhang im Zuge der Anordnung einer Sicherungsverwahrung nach deutschem Reche ebenso EGMR, 21.10.2010, GrOJskopf.l. GER, Z.45ff.; EGMR. 13.1.2011, Haidn ./. GER, Nr. 6587/04 = NJW 2011, 3423, Z. 88 sowie EGMR. 24.11.2011, 0. H. ./.GER.Nr. 4646/08, Z. 82; EGMR. 19.9.2013, H. W ./. GER, Nr. 17167/11, Z. 74ff.; keine Verlerzung im Zuge einer Sicherungsverwahrung hingegen in EGMR, 16.5.2013, Radu ./. GER. Nr. 20084/07 = EuGRZ 2013, 584, Z. 96ff. EGMR, 19.9.2013, H. W .!. GER. Nr.17167/11, Z. 113f. EGMR. 14.4.2011,/enrlrowia.k ./. GER, Nr. 30060/04 = DÖV 2011, 570, Z. 37; EGMR. 24.11.2011, 0. H. ./. GER, Nr. 4646/08, Z. 94; zur Abwägung zwischen Opfer- und Täcerschurz s. auch Möl.lm, Die ,.Einkesselung" des EGMR durch BVeriG und BGH bei der nachcräglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung- ,.Präventionshaftu als lnscrumenc grenzenloser Sicherheie, ZRP 2010, 153 ( 154).
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3. Teil. Die Garantien tkr EMRK dauernde lnhafcierung ist dagegen konventionsmäßig, wenn bereits im Urteil die Möglichkeit zur Hafrverlängerung vorgesehen war. 103 Das Bundesverfassungsgericht gelangte zum Ergebnis einer Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung durch die Annahme eines Abs1andsgebots im Verhältnis zwischen dieser und der Freiheitss1rafe, wobei die in der Verhältnismäßigkeicsprüfi.mg zu berücksichtigenden Gemeinwohlschutzbelange mit Wertungen aus Art. 7 und 5 EMRK aufgeladen wurden. 104 Auch die Regelung des englischen Strafrech1s, derzufolge ein zu lebenslanger Haft Verurteiher zwar nach einer gewissen, individuell bestimmten Zeit aus der Haft entlassen wurde, seine lebenslange Haft jedoch jederzeit - etwa bei erneuter Straffälligkeit - wieder auAeben konnte, warf erhebliche Probleme auf Der EGMR verlangte im Hinblick auf die notwendige Kausalität zwischen der Verurteilung und der Haft, dass sich bei der Begehung der zweiten Straftat der Haftgrund für die erste, etwa die besondere Gefährlichkeit für die Allgemeinheit, verwirklicht hat. 10s Auch wenn der EGMR die Änderungen der Rechtslage in England in dieser Frage bis zum Human Rights Act 106 in Betracht wg, die gerade auch von der Srraßburger Rechtsprechung bes1immt waren, stelhe er im fall Stafford erneue eine Verletzung von An. 5 Abs. 1 fes1. Zwischen der ursprünglichen Verurteilung wegen Mordes und der erneuten Straff.illigkeit wegen eines gewalclosen Delikts bes1ehe kein ausreichender kausaler Zusammenhang, so dass eine erneute Inhaftierung nicht auf die frühere Verurteilung gestützl werden konnte. io7
22 Art. 5 Abs. 1 lit. a verlange eine gerichtliche Verurteilung. Ein „Gericht" im Sinn des Art. 5 Abs. 1 lic. a liege nur bei einem von der Exekucive unabhängigen Organ vor, das durch Gesetz eingerichtet ist 108 und das zur Einhaltung von angemessenen Verfahrensrechten verpflichtet ist. 109 Besondere Schwierigkeiten treten auf, wenn in einem Konventionsscaat eine Haftstrafe vollstreckt wird, die auf der gerichtlichen Entscheidung eines Staates beruhe, der nicht Mi1glied der EMRK ist. Der EGMR ha1 entschieden, dass - auch wenn die Verurteilung möglicherweise unter Verletzung von Verfa.hrensrech1en zustande gekommen ist - die Freiheitsentziehung rech1mäßig is1. 110 Arr. 5 Abs. 1 lit. a gewährt sohin keinen Anspruch darauf, im Wege der Kontrolle der Zulässigkeit der Freiheitsentziehung die Gewährleis1ung von Verfahrensrechten in Drim1aa1en zu überprüfen. Diese Annahme kann allerdings dann nich1 mehr aufrechterhalten werden, wenn die Verurteilung offensichtlich unter erheblicher Verletzung grundlegender Verfahrensrech1e erging. 111 In derartigen Fällen wird vom EGMR jedoch nicht der gleiche strenge Prüfungsmaßstab angelegt, wie bei einer Verletzung der verfahrensrechclichen Garantien in den Mitgliedstaa1en. Vielmehr muss es sich um fundamentale Konventionsverletzungen handeln, die einer Nich1igkeit gleichkommen bzw. zu einer Verletzung des Kerngehalts der Garantien des An. 6 fuhren. 112 Eine solche "offenkundige Verweigerung einer gerichdichen Überprüfung" (.. Aagrant denial of justice") liegt etwa in Fällen einer Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ohne die Möglichkeit, eine neuerliche Entscheidung in der Sache erwirken zu können, vor. Auch bei bloß überblicksarrigcn Verfahren, in
io3
EGMR, 13.10.2009, De Schepper./. BEL, Nr. 27428/07, Z. 42. BVerfG 128, 326ff. = EuGRZ 2011, 297 (315f.); s. dazu Grabenwartrr, EuGRZ 2012, 507ff.; Nowak!Krilprr, Der österreichische Maßnahmenvollzug und das Recht auf persönliche Freiheit, EuGRZ 2013, 645ff. rns EGMR. 2.3.1987, ~eks ./. GBR, Nr. 9787/82, Z. 42, 50ff. 106 S. oben§ 3 Rn. 6f. 107 EGMR. 28.5.2002 (GK), Sta/Jord.l. GBR. Nr.46295/99, Z. 81; dazu Massias, Peine perpetuelle obligatoire e1 maintien de la de1ention, RTDH 2003, 945 ff. ,os EGMR, 12.2.2013, Yrfimmko.l. RUS, Nr.152/04, Z.108ff. 109 EGMR. 18.6.1971, De Wilde, Ooms u. Vmyp ./. BEL, Nr. 2832/66 u. a., Z. 78; EGMR. 8.6.1976, Engel u. a. ./. NEO, Nr. 5100/71 u. a. = EuGRZ 1976, 221, Z. 68. Vgl. dazu HarrislO'BoylL!Warbrick, S.312. 110 EGMR. 26.6.1992, Droui u.Janousek ./. FRA, Nr. 12747/87, Z. 110. 111 EGMR. 24.3.2005, Stoichkov.l. BUL, Nr. 9808/02, Z. 51; EGMR, 17.1.2012, Othman (Abu Quatada) ./. GBR. Nr. 8139/09 = NVwZ 2013, 487, Z. 259; EGMR. 8.1.2013, Willcox u. Hurford ./. GBR, Nr. 43759/10 u. a., Z. 95; vgl. Harris/O'BoylLIWarbrick, S. 3l2f 112 EGMR, 17.1.2012, Othman (Abu Quatada) ./. GBR, Nr.8139/09 = NVwZ 2013, 487, Z.260; EGMR. 8.1.2013. Wi//cox u. Hurford ./. GBR, Nr. 43759/10 u. a., Z. 95. 104
254
§ 21. Freiheit und Freizügigkeit denen die Verteidigungsrech1e der Angeklag1en missach1e1 werden, bei Hafts1rafen, die ohne Zugang zu rich1erlicher Haftprüfung verhäng1 werden, bei der absichdichen und sys1ema1ischen Verweigerung eines Anwal1s, im Speziellen in Fällen der lnhahierung in einem fremden S1aar, oder bei der Zulassung von Beweisen, die durch Fol1er erlangt wurden, kann von einer offenkundigen Verweigerung der gerichdichen Überprüfung ausgegangen werden. 113
Ein Recht auf Aussetzung der Haft, zum Beispiel bei einer lebenslangen Freiheits- 23 strafe, lässt sich aus Art. 5 Abs. I lit. a nicht ableiten. 114 Ebenso wenig enthält Art. 5 Abs. I lit. a ein Recht auf vorzeitige Haftentlassung, außer in jenen Fällen, in denen die Behörden aufgrund der nationalen Bestimmungen gesetzlich dazu verpflichtet sind. 115 Eine Hafmrafe von unbes1imm1er Dauer zum Schu1z der ölfemlichen Sicherhei1, wie sie etwa nach der Rech1slage in Großbrirannien möglich ist, kann gemäß Art. 5 Abs. 1 li1. a zulässig sein. Der kausale Zusammenhang zwischen dem Zweck der lnhaf1ierung und der Freihci1senrziehung muss allerdings während der gesam1en Dauer der Freiheicsenrziehung bes1ehen. Dies is1 besonders in jenen Fällen wich1ig, in denen eine Person aufgrund einer gesenlichen Vermutung im Verdacht sieht, eine Gefahr für die öffendiche Sicherheit darzustellen, und es nur geringe Möglichkei1en gibt, diese Vermu1ung zu emkräften, bzw. der zuständige Richter auf die Verhängung bes1imm1er Strafen beschränke ist. 116 Der Fall Jamrs, Wrlls und lrr be1raf drei zum Schurz der ölfendichen Sicherheit auf unbestimmte Zei1 verurteil1e Beschwerdeführer, denen der Zugang zu Resozialisierungskursen aufgrund unzureichender Ressourcen nich1 möglich war. Die Absolvierung derartiger Kurse war nach Verbüßen einer gewissen Mindes1haftmafe allerdings Vorausserzung, um endassen werden zu können. Aufgrund dessen kam der EGMR zum Ergebnis, dass die lnhaf1ierung nach Ablauf der Mindes1haftdauer und vor der Schaffung der Möglichkei1, Zugang zu den Resozialisicrungskursen und dami1 eine Chance auf Endassung zu erhal1en, willkürlich war. 117
bb) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer gesetzlichen Verpflich- 24 tung. Art. 5 Abs. I lit. b enthält zwei verschiedene Tatbestände. Nach dieser Bestimmung ist eine Festnahme oder Freiheitsentziehung konventionskonform, wenn sie wegen der Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung erfolge. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Haftarten liege in ihrem Charakter. Während die auf die Nichtbefolgung eines gerichtlichen Beschlusses hin angeordnete Haft repressiven Charakter hat, 118 weist die Haft aufgrund der Nichtbefolgung des Zwangs, eine gesetzliche Verpflichtung zu erfüllen (z. B. der Pflicht, einen Pass bei sich zu tragen 11 ?), keinen Strafcharakter auf: 120 Sobald der Betroffene die ihm obliegende Verpflichtung erfüllt hat, entfällt der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 lit. b. 121
113
EGMR, 17.1.2012, Othm,in (Abu Quatada) .1. GBR. Nr.8139/09 = NVwZ 2013, 487, Z.259 m. w. N., 267; EGMR, 8.1.2013, Willcox u. Hurford ./. GBR, Nr. 43759/10 u. a., Z. 95. II ◄ ViUign; Rn. 405. 115 EGMR, 21.10.2013 (GK), tiL/ Rio Prada ./. ESP, Nr. 42750/09, Z. 126 m.w. N. der Judikatur. 116 EGMR, 18.9.2012 (GK),james, We/ls u. ler .1. GBR, Nr. 25119/09 u. a., Z. 204. 117 EGMR. 18.9.2012 (GK),jamrs. We/ls u. iLr.l. GBR, Nr. 25119/09 u. a., Z. 2181f. 118 Frowrin/Prukrrt, An. 5 Rn. 51. 119 EKMR. 13.5.1987, 8., Nr.10179/82, DR52, 111(118). 120 EGMR, 8.6.1976, Engelu. a. ./. NEL), Nr. 5100/71 u. a., Z. 69; EGMR, 22. 12.2005,A. D. ./. TUR, Nr. 29986/96, Z. 20. 121 EKMR: Ber. v. 18.3.1981, McVrigh, O'Nri// u. E11ans, DR 25, 15(81); Koprtzlti, Persönliche Freiheit, S. 330. lnsowei1 umerscheide1 sich die Rech1slage nach Are. 2 BVG Persönliche Freiheit in Ös1errcich s. Koprrzlti, in: Korinek/Holoubek er al., An. 2 PersFrG Rn. 47.
255
3. Teil. Die Garantien dn EMRK
Der Begriff des „Gerichts" im ersten Tatbestand entspricht dem des Are. 5 Abs. 1 lic. a. 122 Das vorgeschriebene und nicht befolgte Handeln muss also durch einen Gerichtsbeschluss - etwa im zivilgerichclichen Verfahren - festgelegt worden sein. 123 Dieser muss seinerseits nach nationalem Reche rechtmäßig und hinreichend bestimme sein.' 24 25 Mir dem Eingriffsvorbehalt bei Nichtbefolgung einer geserzlichen Verpflichtung wird nicht die Möglichkeit eröffnet, bei Verstoß gegen die allgemeine Pflicht des Bürgers, Reche und Ordnung zu respektieren, Einschränkungen der persönlichen Freiheit anzuordnen. Damit würde die Beschränkungsmöglichkeic nach lic. b komurenlos werden und sich zu einem allgemeinen Eingriffsvorbehalt entwickeln. Der EGMR verlange vielmehr, dass nur in solchen Fällen eine Freiheitsentziehung nach Are. 5 Abs. 1 lic. h zulässig ist, in denen es das Gesetz gestanet, jemanden in Haft zu behalten, um ihn zur Erfullung einer spezifischen und konkreten Pflicht anzuhalten, der nachzukommen er bislang unterlassen hat. m In Berracht kommen eine Verletzung der Wehrpflicht oder der Pflicht zum Ersaruiienst (Zivildienst) 126 sowie die gesetzwidrige Verweigerung der Identitätsfeststellung. 127 Auch eine Freiheitsenrziehung mit dem Zweck, die Aussage eines Zeugen aufzunehmen, kann auf An. 5 Abs. I lit. b gestützt werden. 128 Unter An. 5 Abs. 1 lit. b subsumierte der EGMR auch die PAicht, sich während eines Fußballspiels friedlich zu verhalten und keine strafbaren Handlungen zu serzen. 129 Die einem der Mafia-Zugehörigkeit Verdächtigen auferlegte Pflicht, sein Verhalten zu ändern, war hingegen nicht hinreichend konkret. 1·'° Auch die Pflicht, in unminclbarer Zukunft keine Straftat rn begehen, kann nicht als hinreichend konkret angesehen werden, solange keinen spezifisch angeordneten Maßnahmen zuwidergehandelt wurde. rn
26 Are. 5 Abs. 1 lit. b bezieht sich auch auf die Nichterfullung einer gesetzmäßigen Anordnung eines Gerichts. Der Wortlaut unterstellt der inhaftierten Person dabei, dass sie die Möglichkeit hatte, der Verpflichtung nachzukommen, dies jedoch verabsäume hat. 132 Somit kann eine Person nicht konventionskonform wegen der Nichterfüllung einer gerichtlichen Anordnung festgehalten werden, wenn sie darüber nie informiere wurde. 133 Der Begriff „gesetzmäßig" ist in diesem Zusammenhang weit zu verstehen. Die Anordnung muss nach einem fairen Verfahren und vom zuständigen Gericht getroffen worden sein, um die von der Freiheitsentziehung betroffene Person vor Will-
122
Dazu oben Rn. 22. Beispiele bei Trautwrin, Freihcitsenrzug, S. 119; Harris/O'Boyk!Warbrick, S. 315. 1 2◄ EGMR. 23.9.1998, Ster! u. a. ./. GBR, Nr. 24838/94, Z. 76f. 12 E(;MR. 8.6.1976, Engrlu.n . ./. NEO, Nr.5100/71 u.a. = EuGRZ 1976, 221, Z.69; EGMR. 27.3.2012. Lolova-Karaazhova ./. BUL, Nr. I 7835/07 = NVwZ 2014, 43, Z. 29; vgl. ausführlich Frowrin/Prukrrt. Art. 5 Rn. 56; Essn; Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 216f. 126 EKMR, 14. 10. 1985, Johansm, DR 44, 155 (163). Weitere Fallkonstellationen bei Trautwrin, Freiheitsentzug, S. 125 f. 127 EKMR, 13.5.1987, B., Nr. 10179/82, DR 52, 111 (\ 18). 128 EGMR. 22.2.2011, Soar~ u. a. ./. FRA, Nr. 24329/02, Z. 237ff. 129 EGMR. 7.3.2013, O,undorf.l. GER, Nr. 15598/08 = EuGRZ 2013, 489, Z.93; s. dazu Waechter, Unterbindungsgewahrsam mit EMRK vereinbar, NVwZ 2014, 995. 130 EGMR. 22. 2. 1989, CluJ/a ./. ITA, Nr. 11152/84, Z. 36; vgl. schon E(;MR. 6.11.1980, Guv.Ardi ./. ITA, Nr. 7367/76 = EuGRZ 1983, 633, Z. 101. 131 EGMR. 22.10.2018, 5., V. u. A . ./. DEN, Nr. 35553/12 u. a., Z. 83. 132 EGMR, 29.11.201 I. &im.!. LÄI: Nr. 30954/05, Z. 49. i.u EGMR. 29.11.2011, Brierr ./. LAT, Nr. 30954/05, Z. 50; EGMR, 2.5.2013, Petukhova ./. RUS, Nr. 28796/07, Z. 60 ff. 123
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256
§ 2 J. Freiheit und Freizügigkeit
kür zu schützen. 134 Darüber hinaus muss das Gericht vor Verhängung der Haftstrafe alle nötigen Ermicclungen vornehmen, um nachzuprüfen, ob der Betroffene seiner Verpflichtung nicht bereits nachgekommen isc. 135 Keine gesetzliche Verpflichtung im Sinn des An. 5 Abs. 1 lit. b stellt die Verpflichtung zur Zahlung von Schulden dar. Dies ergibt sich aus Art. 1 4. ZP, der die Verhängung einer Gefängnisstrafe wegen Schulden ausdrücklich verbietet.
Fraglich isc, ob nach Are. 5 Abs. l lic. b auch die kurzfristige Freiheitsentziehung in Si- 27 cuacionen zulässig ist, in denen eine Gesetzesübertretung noch nicht feststehe und die Anhalcung der Person dazu dient, gerade das Vorliegen einer Gesetzesübertretung fesczuscellen. Zu denken ist an das kurzfristige Festhalten einer Person zur Durchführung einer Blutprobe oder einer Identitätsfeststellung. Wenn nicht schon ausdrücklich eine gesetzliche PAicht bestehe, diese Maßnahmen zu dulden, ist auch die Freiheitsentziehung zur weiteren Erforschung der Möglichkeit einer Gesetzesübertretung zulässig, wenn sie aus einem konkreten Anlass erfolgt und nur von kurzer Dauer ist. 1.16 cc) Präventiv- und Untersuchungshaft. Art. 5 Abs. I lic. c betrifft den Fall der Prä- 28 ventiv- oder Untersuchungshaft. Die Untersuchungshafi beginnt mit der Verhafiung und endet mit dem Urteil erster lnstanz. 137 Die verfahrensrechtlichen und materiellen Voraussetzungen, die die Konventionsstaaten für die Zulässigkeit der Verhängung von Präventiv- und Untersuchungshafi verlangen, reichen oh weiter als die der EMRK. Arr. 5 Abs. I lic. c stellt insofern Mindestvoraussetzungen für die Rechtmäßigkeit einer solchen Freiheitsentziehung auf. Die Präventiv- und Untersuchungshafi gemäß Are. 5 Abs. l lit. c dient der Sicherung der strafrechtlichen Untersuchung und steht stets in einem strafrechtlichen Kontexr. 138 Ihre Zielsetzung muss die Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde sein. 139 Der Wortlaut des Are. 5 Abs. 1 lit. c ist in Verbindung mic lit. a und mit Are. 5 Abs. 3 zu lesen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Maßstäbe des An. 5 Abs. 3 automatisch auf Are. 5 Abs. 1 lic. c übertragen werden können.140 Der Begriff der "Gerichtsbehörde" entspricht dem des „Richter" bzw. dem des .,richterlichen Beamten" in Art. 5 Abs. 3. Als "Gerichtsbehörde" kann auch ein Gericht angesehen werden, das einer international nicht anerkannten Entität angehört, wenn das Gerichtssystem auf einer Verfassungs- und Rechtsgrundlage beruht, also 134
EGMR. 24.10.1979, Wintrrwrrp ./. NEO, Nr. 6301/73, Z. 45; EGMR, 23.7.2008, Shrukarurov ./. RUS, Nr.44009/05 ; FamRZ 2008, 1734, Z.113; EGMR, 29.11.2011, Beirre .!. LAT, Nr. 30954/05, Z. 52. m EGMR, 19.9.2013, Vrlinov.l. MKD, Nr. 16880/08, Z. 56. 136 EKMR. Ber. v. 18.3.1981. McVrigh, O'NriU u. Evam. DR 25, 15 (42); EKMR. 13.5.1987, B., Nr. 10179/82, DR 52. 111 (118); vgl. auch Harris/O'Bo_yk!Warbrick. S. 317f. 137 S. Mryrr-Ladrwig/Hamndorf/König, in: Meyer-Ladcwig et al., Art. 5 Rn. 40; a. A. Rrind/, Probleme der Untersuchungshaft in der jüngeren Rechtsprechung der Scraßburger Organe, in; Grabcnwarterffhienel (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der EMRK. 1998, S. 45 (46/f.). 138 EGMR, 22.2.1989, Ciulla ./. ITA. Nr. 11152/84, Z. 38; vgl. dazu Hrinemann/Hilkrr. Zur Vereinbarkeit von Präventivhaft mit Artikel 5 EMRK. DVBI. 2012, 1467. 1J 9 EGMR. 1.7.1961, lawkss (Nr.3) ./. IRL, Nr. 332/57. Z. 13(; EGMR, 18.1.1978, IRL ./. GBR. Nr.5310/71, Z.199; EGMR, 28.10.1994, Murra_y.l. GBR. Nr.14310/88. Z.68; EGMR. 1. 12.201 l, Schwabe u. M. G. .1. GER, Nr. 8080/08 ; EuGRZ 2012, 141, Z. 71 f.; s. dazu Rmzikowski/Schmidr-De Ca/uwr, Menschenrechtliche Grenzen des polizeilichen Unterbindungsgewahrsams, JZ 2013, 289. 140 S. dazu EGMR, 31.5.2011, Khodorkovskiy.l. RUS, Nr. 5829/04 = NJW 2012,3422, Z.159.
257
3. Teil. Die Garantien tkr EMRK insbesondere als unabhängig und unparteiisch angesehen werden kann, und auf der Grundlage des Rechtsstaatsprinzips arbeitet. 141
Die EMRK verlangt nicht, dass die Untersuchungshaft durch den Richter angeordnet wird. Vorgesehen ist lediglich die unverzügliche Vorführung vor den Richter (Art. 5 Abs. 3). 29 Neben der dem Art. 5 Abs. 1 lic. c entsprechenden Zielsetzung der Festnahme muss einer der in lit. c genannten Haftgründe vorliegen, um die Untersuchungshaft zu rechcfercigen. 142 Danach sind Festnahmen zur Vorführung vor das zuständige Gericht in drei Fällen zulässig: erstens bei hinreichendem Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde, zweitens, wenn die Festnahme zur Verhinderung der Begehung einer Straftat erforderlich ist, und drittens, wenn die Festnahme zur Verhinderung der Flucht nach der Begehung einer Straftat erforderlich ist. Problematisch dagegen ist die Anordnung von Untersuchungshaft aufgrund der Weigerung, als Zeuge auszusagen bzw. ein Geständnis abzulegen, da dies den grundlegenden Garantien eines fairen Verfahrens (etwa dem Reche, sich nicht selbst belasten zu müssen, bzw. dem Prinzip der Unschuldsvermucung) zuwiderläuft. 143 30 (a) Hinreichender Tatverdacht. Die lnhaftnahme zur Vorführung vor ein Gericht ist zunächst zulässig, wenn der Haftgrund des hinreichenden Tatverdachts (.,reasonable suspicion "/"raison plausible") besteht. Dauere die Untersuchungshaft an, sind darüber hinaus noch die in An. 5 Abs. 3 enthaltenen Verfahrensgarantien zu beachten. 144 Hinreichender Tatverdacht ist gegeben, wenn genügend Tatsachen vorliegen, die objektiv darauf schließen lassen, dass der Betroffene die strafbare Handlung möglicherweise begangen hat. 145 Stammen die belastenden Informationen nur aus einer Quelle, die zudem nicht besonders verlässlich ist, müssen zur Aufrechterhaltung der Haft die Anschuldigungen durch weitere Beweise erhärtet werden. 146 Für die Annahme des hinreichenden Tatverdachts ist es nicht erforderlich, dass der Sachverhalt schon vollständig aufgeklärt ist. 147 Der Grad, der für die Verhängung der Untersuchungshaft erforderlich ist, muss noch nicht jenen Grad erreicht haben, der für eine Anklage oder Veruneilung vorliegen muss. 148 Der Tatverdacht muss sich auf die Begehung einer Straftat beziehen. Wann der Tatbestand einer Straftat erfüllt ist, richtet sich nach nationalem Rechc. 149 Ein hinreichender Tatverdacht bestehe jedenfalls dann nicht, wenn die einer Person vorgeworfenen Handlungen zum Zeitpunkt ihres Eintretens nich c strafbar waren. 150 141 142
lH 144
14
~
146 147
148
EGMR. 23.2.2016 (GK), Mour.l. MOL u. RUS, Nr. 11138/10, Z. 144. EGMR. 28.10.1994, Murray.l. GBR. Nr. 14310/88, Z. 55. EGMR. 3.7.2012, Lursmko.l. UKR, Nr.6492/11 = NJW 2013, 2409, Z. 72. EGMR, 10.11.1969, Stögmüll.er .1. AUT, Nr. 1602/62, Z. 4; s. zu den verfahrensrechdichen Garantien unten Rn. 56ff. EGMR. 30.8.1990, Fox, Campbr/J u. Harrky.l. GBR, Nr. 12244/86 u.a., Z. 32ff.; EGMR, 6.4.2000, Labita ./. ITA. Nr. 26772/95, Z. 155; EGMR. 16.10.2001, O'Hara ./. GBR. Nr. 37555/97, Z. 35ff.; EGMR. 17.3.2016, Ra.Juljaforov.l. AZE. Nr. 69981/14, Z. 116. EGMR. 6.4.2000, Labita ./. !TA, Nr. 26772/95, Z. 158. EGMR. 29. 11. 1988, Brogan u. a. ./. GBR, Nr. 11209/84 u. a., Z. 53; EGMR, 22. 10. 1997. Erdagöz ./. TUR. Nr. 21890/93, Z. 51; EGMR. 6.12.2011, RafigA/iyrv.l. AZE, Nr.45875/06, Z. 75. EGMR. 28.11.2017 (GK), Merabishvi/1.1. GEO, Nr. 72508/13, Z. 184.
149
Frowrinll'rukm. Art. 5 Rn. 59.
1~0
EGMR. 10.12.2019, Kaval.a ./. TUR, Nr.28749/18, Z. 128.
258
§ 21. Freiheit und Freizügigkeit
Für die Feststellung und Wertung des Tatverdachts sind in erster Linie die inner- 31 staatlichen Behörden und die sie kontrollierenden nationalen gerichtlichen Instanzen zuständig. Der EGMR beschränkt sich insofern auf eine Willkürkontrolle. 151 Die Untersuchungshaft ist rechtmäßig, wenn sie in einem ordnungsgemäßen Verfahren angeordnet und der Tatverdacht plausibel dargelegt wurde. 152 Es genügt jedoch nicht, wenn der Tatverdacht auf eine gesetzliche Vermutung gestützt und nicht mit Beweismaterial untermauert wird. 153 Der EGMR überprüft auch, ob der Tatverdacht bis zum Ende der Untersuchungshaft bestehen bleibt. Selbst wenn es nicht zur Anklageerhebung kommt, kann nach den Umständen des Einzelfalls die vorherige Annahme eines die Haft rechtfertigenden Grundes gerechtfertigt sein. 154 Bei der Verfolgung von Personen, die im Verdacht stehen, terroristische Straftaten begangen zu haben und in Zukunft wieder zu begehen, berücksichtigt der EGMR die besondere Situation, in der sich ein Staat b,,findet, der den Schutz vor Terroristen zu gewährleisten hat. So lässt es der EGMR genügen, wenn zur Belegung des Tatverdachts auf geheime, nicht offen gelegte Erkenntnisse Bezug genommen wird. Jedoch verlangt der EGMR auch in diesen Fällen, dass gewisse Fakten dem Gericht vorgelegt werden müssen, um den Tatverdacht plausibel zu machen. 155
Der hinreichende Tatverdacht ist Mindestanforderung für die lnhaftnahme nach der 32 EMRK. Art. 5 Abs. I lit. c fordert eine „rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung" und verweist damit auf die Anforderungen für die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft nach innerscaarlichem Recht. Sieht das nationale Recht eine höhere Eingriffsschwelle vor, so muss dieser Rechnung getragen werden. 156 Daraus kann man ableiten, dass neben dem in Art. 5 Abs. 1 lit. c ausdrücklich genannten hinreichenden Tatverdacht und der Fluchtgefahr auch die klassischen Haftgründe der Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr konventionsrechtlich erheblich sind, soweit sie nach dem innerstaatlichen Recht Voraussetzung für die Untersuchungshaft sind. 157 Aber selbst dann, wenn nach An. 5 Abs. 1 lit. c der hinreichende Tatverdacht zunächst für die lnhaftnahme ausreicht, müssen zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über eine gewisse Dauer hinweg auch nach der EMRK zusätzliche Gründe hinzutreten, etwa die ebenfalls in An. 5 Abs. 1 lit. c erwähnte Fluchtgefahr. 158 Diese Annahme, für die es im Wortlaut der Vorschrift keinen ausdrücklichen Anhaltspunkt gibt und die auch der EGMR nicht weiter begründet, entspricht einer gegenüberstellenden Gewichtung der Freiheitsbeschränkung einerseits und des mit ihr verfolgten Ziels ande-
151
Vgl. EGMR. 30.8.1990, Fox, Campbe/1 u. Harrky .!. GBR, Nr. 12244/86 u. a., Z. 34; EGMR, 22.10.1997, Erdagöz .!. TUR. Nr. 21890/93, Z. 51 f.; Frowein/Peukm, Arr. 5 Rn. 63ff. 152 EGMR, 6.11.1980, Guzzardi .!. ITA, Nr. 7367/76 = EuGRZ 1983, 633, Z. 102; EGMR, 30. 8. ·1990, Fox, Campbe/1 u. Harrky .!. GBR, Nr. 12244/86 u. a., Z. 32; EGMR, 28.10.1994, Mu"ay ./. GBR. Nr. 14310/88, Z. 55. 153 EGMR, 26.7.2001, 1/ijkov.!. BlJL, Nr.33977/96, Z.83ff.; EGMR, 8.4.2004, Hamanov.l. BUL, Nr. 44062/98, Z. 71; EGMR, 22.5.2014, JlgarMammadov.l. AZE, Nr. 15172/13, Z. 96. 154 EGMR. 29.11.1988, Brogan u.a. .!. GBR, Nr.11209/84 u.a., Z. 52f.; EGMR. 28.10.1994, Mu"ay ./. GBR, Nr. 14310/88, Z. 50ff. m EGMR. 30.8.1990, Fox. Campbe/1 u. Harrky .!. GBR, Nr.12244/86 u.a., Z.32; EGMR. 16.10.2001, O'Hara ./. GBR, Nr. 37555/97, Z. 34; vgl. auch Europäisches Strafverfahrensrecht, s. 228f. 156 EGMR: 24.11.1994,Kmimache(Nr.3).I. FRA, Nr.17621/91, Z.42. 157 Kopetzki, in: Korinek/Holoubek et al., Put. 2 PersFrG Rn. 37. 158 EGMR. 10.11.1969, Stögmüller.l. AliT, Nr. 1602/62, Z.4. Vgl. zu Art. 5Abs.3 unten Rn. 58ff.
wer,
259
3. Teil. Die Garantien der EMRK
rerseits, also einer mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung verbundenen Abwägung. 159 Nach An. 5 Abs. 1 lit. c müssen Entscheidungen über die Verhängung von Untersuchungshaft allerdings nicht deren Dauer festlegen. 160 33 (b) Gefahr der Begehung einer Straftat. Gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c isc eine Freiheitsentziehung zulässig, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, eine Person an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern (Präventivhaft). Aufgrund des Wortlauts der lit. c ist es unklar, ob diese 2. Alternative der lic. c als gesonderter Grund für eine Freiheitsentziehung anzusehen ist, der unabhängig vom Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts (als Grundlage für die Untersuchungshaft) existiert. Während der EGMR in seiner früheren, nicht ganz einheitlichen Rechtsprechung rein präventive Maßnahmen nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. c subsumierte, 161 hat er nunmehr klargestellt, dass die Anhalcung einer Person außerhalb des Kontexts eines Strafverfahrens nach dieser Bestimmung zulässig sein kann. Der in Art. 5 Abs. 1 lic. c vorgesehene Zweck der Vorführung vor einen Richter soll in diesen Fällen mir einer gewissen Flexibilität angewendet werden. 162 Vor diesem Hintergrund hat der EGMR im Fall 5., V. und A. die Festnahme ,·on Fußball-Hooligans während eines Fußballländerspiels fur die Dauer von ca. 7,5 Srunden zur Verhinderung von Straftaten wie Gewalrtätigkcitcn, Sachbeschädigung und schweren Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung an einem öffentlichen Ort als rechtmäßig angesehen. 163
Der Haftgrund der Präventivhaft nach Art. 5 Abs. 1 lit. c gibt den Mitgliedstaaten ein Minel zur Verhinderung einer konkreten und spezifischen Straftat an die Hand, die insbesondere durch Ort, Zeit und Opfer gekennzeichnet ist. Die Festnahme von Personen oder Personengruppen aufgrund eines allgemeinen Verdachts der Gefährlichkeit oder der Neigung zur Begehung von Straftaten ist hingegen nicht zulässig. 164 Eine Festnahme zur Verhinderung einer Straftat ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Behörden plausibel darlegen, dass die betreffende Person wahrscheinlich an einer konkreten Straftat beteiligt wäre, würde ihre Begehung nicht durch die Festnahme unterbunden. 165 Gemäß Art. 5 Abs. 1 lic. c genügt bereits die bloße Ausführungsgefahr, eine Wiederholungsgefahr ist für die Anordnung der Präventivhaft nicht erforderlich. Wiederum sind die Anforderungen des nationalen Rechts maßgeblich, wenn diese für die Verhängung der Präventivhaft eine höhere Eingriffsschwelle vorsehen. 34 (c) Fluchtgefahr. Die Festnahme zur Vorführung vor ein Gericht ist auch dann zulässig, wenn nach der Begehung einer Straftat Fluchtgefahr bestehe. Da nach An. 5 Abs. 1 lic. c bei hinreichendem Tatverdacht eine lnhaftnahme auch ohne weitere Haftgründe zulässig ist, findet diese Alternative nur dann Anwendung, wenn es um die Frage der Zulässigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft gehc. 1C•6 1 9 ~
160 161
162 163 164
16 ~ 166
Reindl. Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention. 1997, S. 67f. EGMR. 28.11.2017 (GK), Merabishvili ./. GEO, Nr. 72508/13, Z. 198. EGMR. 7 ..'l.2013. Ostendo,f.l. GER. Nr. 15598/0R = EuGRZ 2013, 489, Z.66ff., 82 m.w.N. der Judikatur; s. dazu Waechur, NVwZ 2014, 995. EGMR 22.10.2018 (GK), S.• V. u. A . ./. DEN, Nr. 35553/12 u. a., Z. 116, 126. EGMR 22.10.2018 (GK), S.• V. u. A . ./. DEN, Nr. 35553/12 u. a., Z. 1381f. EGMR 22.10.2018 (GK), S., V. u.A . ./. DEN, Nr.35553/12 u.a., Z.91. EGMR22.10.2018 (GK), S., V. u.A . ./. DEN, Nr.35553/12 u.a., Z.89. Ausführlich ReindL Untersuchungshaft. S. 65 ff.
260
§ 21. Freiheit und Freizügigkeit Der Rechcsprechung des EGMR ist eine abstrakte Definition der Fluchtgefahr nicht zu entnehmen. Sie zieht verschiedene Kriterien, die auch aus der innerstaatlichen Rechcsordnung bekannt sind, heran, um im Einzelfall das Vorliegen der Fluchtgefahr zu überprüfen. 167 Zu diesen zählen die Persönlichkeit des Betroffenen, sein Wohnsin, sein Beruf und seine familiären Bindungen sowie eventuelle Verbindungen zum Ausland. Auch die Höhe der zu erwartenden Strafe kann eine Rolle spielen. 168 Mit fortdauernder Untersuchungshaft nimmt die Fluchtgefahr in der Regel ab. 169
dd) lnhaftnahme Minderjähriger. Nach Are. 5 Abs. 1 lic. d ist die Inhaftierung eines 35 Minderjährigen zum Zwecke der überwachten Erziehung oder seiner Vorführung vor die zuständige Behörde zulässig. Die Möglichkeit der lnhafi:nahme Minderjähriger besteht ungeachtet dessen, ob sie in Verdacht stehen, eine strafbare Handlung begangen zu haben oder sich seihst in Gefahr hefinden. 170 Die Frage, wann eine Person minderjährig im Sinne der EMRK ist, wird zumindest insofern autonom bestimmt, als das nationale Recht den Kreis der Betroffenen zu weit ziehen könnte. Are. 5 Abs. 1 lit. d enthält keinen abschließenden Haftgrund für Minderjährige, sondern schließt eine lnhafi:ierung aus einem anderen als den in Abs. 1 genannten Gründe nicht aus. 171 Die Inhafi:nahme nach An. 5 Abs. 1 lit. d kann auch von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden. 172 Eine elterliche Entscheidung, einen Minderjährigen in ein psychiatrisches Kinderkrankenhaus einweisen zu lassen, fällt nicht in den Anwendungsbereich des Art. 5. 173 Die sogenannte „überwachte Erziehung" nach der ersten Alternative in lit. d umfasst 36 Maßnahmen der Fürsorge und des Jugendstrafrechts. 174 „überwachte Erziehung" meint nicht nur den schulischen Unterricht, sondern erfasst auch Aspekte der Ausübung der Erziehungsberechtigung zum Wohl und zum Schutz des Minderjährigen.175 Eine Freiheitsentziehung für erzieherische Zwecke ist nur rechtmäßig, wenn sie in einer geeigneten Einrichtung erfolgt, welche die Ressourcen hat, um die erzieherischen Ziele umzusetzen und die Sicherheitserfordernisse zu erfüllen. 176 Die vorübergehende Unterbringung eines Minderjährigen in einer eigentlich ungeeigneten Einrichtung ist von Are. 5 Abs. 1 lic. d gedeckt, wenn sie nur ein Zwischenstadium bis zur Unterbringung in einer adäquaten Einrichtung darstellt. m Beim Aufbau eines staatlichen Systems der Fürsorge mit entsprechenden Einrichtungen steht den Konventionsstaaten ein Ausgestaltungsspielraum zu. 178 Um Lücken in der Ausbildung zu vermeiden, ist den Minderjährigen schulische Bildung entsprechend dem üblichen Curriculum zu vermitteln. 179 Der EGMR überprüft, ob eine Freiheitsent167
Vgl. Reind/, Untersuchungshaft, S. 85. Vgl. EGMR, 27.6.1968, Neumeister.!. AUl: Nr. 1936/63, Z. 10; EGMR, 27.6.1968, Wemhoff.l. GER. Nr. 2122/64, Z. 14. 169 EGMR. 31.7.2001,Zannouti./. FRA, Nr.42211/98, Z.45. 170 EGMR, 29.11.2011.A. u.a. ./. BUL, Nr. 51776/08, Z.66. 171 EGMR. 12. 10. 2006, Mubil.anzil.a Mayeka u. &niki Mitunga .!. BEL, Nr. 13178/03, Z. 100. 172 E1berling. in: Karpensrein/Mayer, Art. 5 Rn. 58. 173 EGMR, 28.11.1988, Nielsen ./. DEN, Nr. 10929/84, Z. 72. l'.'4 EGMR, 29.2.1988, Bouamar.l. BEL, Nr. 9106/80, Z. 50, 52. 17 i; E(;~1R. 23.3.2016 (C;K), Blokhin ./. RUS, Nr. 47152/06, Z. 166; EGMR, 19.5.2016, D.L. ./. BL'L, Nr. 7472/14, Z. 74. 176 EGMR. 23.3.2016 (GK), Blokhin ./. RUS, !\lr.47152/06, Z.167. m EGMR, 29.2.1988, Bouamar ./. BEL, Nr. 9106/80, Z. ,o; s. dazu jedoch EGMR, 21.12.2010, lchin u. a. ./. UKR. Nr. 28189/04 u. a., Z. 39f. 178 EGMR: 19.5.2016, D.L . ./. BUL, Nr. 7472/14, Z. 77. 179 EGMR, 23.3.2016 (GK), 8/nkhin ./. RUS, Nr. 47152/06, Z. 166; EGMR, 19.5.2016, D.L. .1. BL:L. Nr. 7472/14, Z. 74. 168
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3. Teil. Die Garantien der EMRK
ziehung zu erzieherischen Zwecken im Einzelfall gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig ist. 180 Das ist nur dann der Fall, wenn die Freiheitsentziehung als letztes Mittel vorgenommen wurde, im Kindeswohl liegt und darauf abzielt', ernsten Gefahren für die Entwicklung des Kindes zu begegnen. 181 Unzulässig ist eine Unterbringung dann, wenn sie bloß zur „Besserung des Verhaltens" oder zum Zweck, einen jugendlichen Straftäter an der Begehung weiterer Straftaten zu hindern, erfolgt.182
37 Die zweite Alternative der lit. d ermöglicht eine lnhafmahme mit dem Zweck der Vorführung vor die zuständige Behörde. Aus dem systematischen Zusammenhang wird ersichtlich, dass auch diese Maßnahme nur bei Minderjährigen ergriffen werden darf, bei denen eine überwachte Erziehung im Sinne der ersten Alternative in Betracht kommt. 183 Erfasst sind hier etwa Fälle, in denen die Betroffenen aus sozialen Gründen aus der Familie, in der sie leben, genommen werden sollen.
38 ee) Unterbringung von Kranken und Landstreichern. Art. 5 Abs. 1 lit. e eröffnet die Möglichkeit der Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- otkr Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern. Die lnhaftnahme der genannten Personengruppen dient in erster Linie dem Schutz der Öffentlichkeit, kann aber auch zum Schutz der Betroffenen selbst verfügt werden. 184 Zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung sind vorrangig die nationalen Behörden zuständig. 185 Verabsäumen diese es, die im nationalen Recht niedergelegten Garantien einzuhalten, liegt eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 vor. 186
39 Auf die erste Alternative der lit. e können insbesondere Quarantänemaßnahmen gestützt werden. Eine Freiheitsentziehung wegen einer ansteckenden Krankheit ist nur dann zulässig, wenn die Verbreitung der ansteckenden Krankheit eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit darstellt und die Festhaltung das letzte Mittel ist, um die Verbreitung der Krankheit zu vermeiden, weil weniger einschneidende Mittel erwogen, aber als unzureichend erachtet wurden. 187 40 Obwohl Art. 5 Abs. 1 lic. e keine ausdrücklichen inhaltlichen Anforderungen an die Festnahme psychisch kranker Personen enthält, hat der EGMR im Fall Winterwerp drei Mindestvoraussetzungen entwickelt: Einer Person darf die Freiheit nur auf Grundlage eines objekriven ärLClichen Anesrs, das die psychische Krankheit nachweist, entzogen werden. Außerdem muss die Art und das Ausmaß der psychischen Krankheit
180
EGMR, 29.11.2011, A. u. a. ./. BUL, Nr. 51776/08, Z. 72f.; EGMR.29.11.2012, P. u. S. ./. POL. Nr. 57375/08, Z. 148; EGMR. 19.5.2016. D.L. ./. BUL, Nr. 7472/14, Z. 74. 181 EGMR. 19.5.2016, D.L. ./. BUL, Nr. 7472/14, Z. 74. 182 EGMR. 23. 3.2016 (GK), B/okhin ./. RUS, Nr.47152/06, Z. 171. 183 Ebenso Frowrin/Peukm, Art. 5 Rn. 75. iM EGMR. 6.11.1980, Guuardi ./. ITA, Nr. 7367/76 = EuGRZ 1983, 633. Z. 98; EGMR. 4.4.2000, Litwa ./. POL, Nr. 26629/95, Z. 60. 18 ~ EGMR. 24.I0.1979, Winterwerp ./. NEO, Nr.6301/73, Z.40; EGMR, 5.11.1981, X./. GBR. Nr. 7215/75, Z. 43: EGMR, 24.9.1992, Hercugfalvy ./. AlJI; Nr. 10533/83, Z. 63. uui EGMR, 14.10.2003, Tluicik .1. SVK, Nr. 42472/98, Z. 34 f. IR? EGMR, 25.1.2005, Enhom ./. SWE, Nr. 56529/00, Z. 44; s. dazu Khakwt:kh-Leil.er, in: Kneihs/Lienbacher, Art. 2 PersFrSchG, Art 5 EMRK Rn. 67.
262
§ 21. Freiheit und Freizügigkeit
eine zwangsweise Anhalcung rechtfertigen. Die Freiheicsencziehung darf ferner nur solange andauern, wie die psychische Krankheit fortdauere. 188 Der Begriff der „psychisch kranken Person" lässt sich nicht abschließend definieren. 41 Der EGMR verlangt, dass bei der Beurteilung einer Person der gesellschaftliche Wandel in der Einstellung gegenüber psychischen Krankheiten und der medizinische Fortschritt zu berücksichtigen sind. 189 Eine bestimmte Auffassung von psychischer Krankheit liegt der EMRK nicht zugrunde. Nicht ausreichend für die Annahme einer psychischen Erkrankung ist jedenfalls eine lediglich von der herkömmlichen Meinung abweichende Sichtweise. Dies folgt aus dem begrenzenden Charakter der Haftgründe des An. 5 Abs. 1. 190 Ob eine psychische Erkrankung vorliegt, ist in erster Linie durch die nationalen Behörden und die sie kontrollierende Gerichtsbarkeit festzustellen. Einern Gericht müssen hinreichende Beweise vorliegen, um die Zwangseinweisung einer Person in eine psychiatrische Einrichtung rechtfertigen zu können. Grundlage für die Entscheidung ist ein aktuelles ärztliches Gucachcen. 191 Der relevante Zeitpunkt, an dem unzweifelhaft feststehen muss, dass eine Person an einer Geisteskrankheit leidet, ist jener Zeitpunkt, an dem freiheitsencziehende Maßnahmen ergriffen werden. 192 Nur in dringenden Fällen, insbesondere bei gewalttätigem Verhalten, kann es ausnahmsweise akzeptabel sein, die Expertenmeinung erst nach der Festnahme einzuholen. 193 Während der Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung ist in regelmäßigen Abständen von Psychiatern zu überprüfen, ob die Gründe für eine fortdauernde Freiheitsentziehung gemäß Are. 5 Abs. 1 lic. e noch vorliegen. 194 Dass im Zeitpunkt der Einweisung in ein Wohnheim für geistig Kranke seit der Erlassung des psychiatrischen Gutachtens, auf das sich das Gericht in seiner Entscheidung stüczce, ein Zeitraum von zwei Jahren vergangen war, in dem der Geisteszustand nicht neuerlich überprüft wurde, stellte für den EGMR im fall Sranro eine zu lange Zeitspanne dar. Der EGMR erachtete die Einweisung aufgrund fehlender aktueller medizinischer Indikation als rechtswidrig. 19 s
Die psychische Krankheit muss eine zwangsweise Anhalcung notwendig machen. Dies 42 ist insbesondere dann der Fall, wenn sie das Gewicht einer „echten Geistesstörung" erreicht und der Betroffene Therapie, Medikamente oder eine sonstige Behandlung brauche oder aber beaufsichtigt werden muss, um davon abgehalten zu werden, sich 188
189
190 191
192
1 3 ~
194
195
EGMR, 24.10.1979, Winterwerp ./. NEO, Nr.6301/73, Z. 39; EGMR, 24.3.2009, Pumw ./. GER. Nr. 1241/06; EGMR, 17.1.2012 (GK), St.anev ./. BUL, Nr. 36760/06, Z. 145; EGMR, 4.12.2018 (GK), Ilnsehrr.l. GER, Nr. 10211/12 u. a., Z. 127. EGMR, 24.10.1979, Winterwerp ./. NEO, Nr. 6301/73, Z. 37; EGMR, 28.10.2003, Rakevich ./. RUS,.Nr. 58973/00, Z. 26; EGMR, 24.11.2011, 0. H. ./. GER, Nr. 4646/08, Z. 77. EGMR. 24.10.1979, Wintenuerp ./. NED, Nr.6301/73, Z. 37. EGMR, 12.6.2003, Herz.!. GER, Nr. 44672/98, Z. 45ff.; EGMR, 23.7.2008, Shtukaturov.l. RUS, Nr.44009/05 = FamRZ 2008, 1734, Z. l 15f.; EGMR, 3.3.2015, Consumcia ./. NEO, Nr. 73560/12, Z. 25. 30. EGMR, 23.2.1984, lubmi ./. ITA, Nr.9019/80, Z.28; EGMR, 24.11.2011, 0. H. ./. GER, Nr. 4646/08, Z. 78; EGMR, 17.1.2012, Biziuk ./. POL (Nr. 2), Nr. 24580/06, Z. 54; EGMR. 22.1.2013, Mihailovs ./. LAT, Nr. 35939/10, Z. 146. EGA1R, 20.4.2010, C. B. ./. ROM, Nr. 21207/03, Z. 48. EGMR, 17.1.2012 (GK). Sranev ./. BUL, Nr. 36760/06, Z. 158; EGMR, 22.1.2013, Mihailovs ./. LA"I; Nr. 35939/10, Z. 146. EGMR, 17.1.2012 (GK),Stanro.l. BUL, Nr.36760/06, Z.156.
263
3. Teil. Die Garantien der EMRK oder anderen Schaden zuzufügen. 196 Insbesondere ist es erforderlich, weniger eingriffsinrensive Maßnahmen zu prüfen und ausschließen zu können. 197 43 Im Verfahren hinsichtlich einer Inhaftierung psychisch Kranker ist den Betroffenen bzw. deren bestellten Venretern jeweils Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. 198 Ein vom Gericht bestellter Rechtsvertreter muss zuvor von sich aus in Kontakt mir dem von einer Inhaftierung Betroffenen treten und ein persönliches Gespräch suchen, um eine effektive Vertretung vor Gericht zu gewährleiscen. 199 44 Are. 5 Abs. 1 verlangt auch, dass zwischen dem Grund für die Freiheirsencziehung und dem Orc und den Bedingungen der Haft ein angemessenes Verhältnis besrehr. 200 Folglich ist eine Inhaftierung von psychisch kranken Personen nur zulässig, we~n sie in einer Klinik oder einer ähnlichen geeigneten Einrichtung erfolgc. 201 Darüber hinaus haben die Betroffenen das Recht auf eine angemessene und individualisierte Behandlung. Jede Behandlung einer psychisch kranken Person hat einen therapeutischen Zweck zu verfolgen, der darauf abziele, die Krankheit zu lindern oder die Gefährlichkeit zu reduzieren und den Betroffenen auf eine mögliche Entlassung vorzubereiten. 202 Das unkooperative Verhalten einer Person, wie etwa die Verweigerung einer Behandlung in einer geeigneten Einrichtung, enrbindet die Behörden genauso wenig von dieser Pflicht wie die Tatsache, dass eine Krankheit nicht heilbar ist. 203 Der Staat kann somit durch An. 5 Abs. 1 lit. e verpflichtet sein, in hinreichendem Umfang Plätze in derartigen Einrichtungen bereitzustellen, damit die sich in Gewahßam befindlichen Personen dem Zweck ihrer Freihei1Sen12iehung angemessen untergebracht werden.Z04 Allerdings billigt der EGMR dem Staat zu, dass eine gewisse Differenz zwischen den verfügbaren und den benötigten Klinikplätzen unvermeidbar und daher gerechtfertigt ist. 20~ Das zumutbare Maß für eine Wartezeit ist überschrinen, wenn diese auf einen bekannten, strukturell bedingten Mangel an Einrichtungskapazitäten zurückzuführen ist. 206 Ungeeignet war für den EGMR die Unterbringung eines psychisch Kranken in einem separaten Teil eines Geflingnisses.20'
196 EGMR, 4.12.2018 (GK), Ilnuher.l. GER, Nr.1O211/12 u.a., Z.129, 133. 197 EGMR, 26.5.2011, fupa ./. CZE, Nr. 39B22/O7, Z. 56[, 60; vgl. ebenso EGMR, 15.4.2014, Djundiks ./. LAI', Nr. 14920/05, Z. 95. 198 EGMR, 24.10.1979, Winrerwerp ./. NED, Nr.63O1/73, Z.45; EGMR, 2.5.2013, Zagidulina .!. RUS, Nr. 11737/06, Z. 61 [; EGMR, 19.2.2015, M.S. (Nr. 2) ./. CRO, Nr. 75450/12, Z. 159. 199 EGMR, 19.2.2O15,M.5. (Nr.2}./.CRO,Nr.7545O/12,Z.1511f. 200 EGMR, 31.1.2019 (GK), Rooman ./. BEL, Nr. 18052/11, Z. 190. 201 EGMR, 20.5.2003, Hutchuon Reid ./. GBR, Nr. 50272/99, Z. 48; EGMR, 18.9.2012 (GK),}ames. Wells u. Lee./. GBR, Nr. 25119/09 u. a., Z. 194; EGMR, 2.12.2012, L. B. ./. BEL, Nr. 22831/OB, Z.93. 202 EGMR, 31.1.2019 (GK), Rooman ./.BEL.Nr. 18052/11, Z. 194,208. 20-1 EGMR. 24.11.2011, 0. H. ./. GER, Nr. 4646/OB, Z. 89; s. ebenso EGMR, 10.1.2013, Clars ./. BEL, Nr. 4341 B/O9, Z. 119; EGMR, 10.1.2013, Swennen .!. BEL, Nr. 5344B/ 10, Z. 80; EGMR. 2B.11.2O13, Glien ./. GER, Nr.7345/12, Z.96; EGMR, 31.1.2019 (GK), Rooman .!. BEL. Nr.1BO52/11, Z. 197. 204 EGMR. 11.5.2004, Brand./. NED, Nr. 49902/99, Z. 65f.; EGMR, 11.5.2004, Morrink .!. NED, Nr. 48865/99, Z. 68 f. S. dazu auch Esser. Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 251 [ 20~ EGMR, 11.5.2004, Brand.!. NED, Nr. 49902/99, Z. 64; EGMR, 11.S. 2004, Morrink ./. NED, Nr. 48865/99, Z. 67. 106 EGMR, 11.5.2004, Brand./. NED, Nr. 49902/99, Z. 66; EGMR, 1 l. 5. 2004, Morrink ./. NED, Nr. 48865/99, Z. 69. 207 EGMR. 13. 1.2011. Haidn .1. GER, Nr. 6587 /04 = N JW 2011, 3423, Z. 94; EGMR. 28. 11.2013, Glien .!. GER, Nr. 7345/12, Z. 921f.
264
§ 21.
Freiheit und Freizügigkeit
Auch die Sicherungsverwahrung nach deutschem Recht kann unter bestimmten Bedin- 45 gungen auf Art. 5 Abs. 1 lit. e gestützt werden. 208 Voraussetzung ist zum einen, dass die gesetzlichen Vorschriften die Freiheitsentziehung nicht von der in der Vergangenheit begangenen strafbaren Handlung, sondern vom gegenwärtigen psychischen Zustand des Betreffenden abhängig machen, und zum anderen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Zweck der Freiheitsentziehung und der Einrichtung, in der dieser untergebracht ist, besteht. 209 Demgemäß bestehen enge Grenzen für die rückwirkende Anordnung oder Verlängerung der Sicherungsverwahrung, nicht nur nach dem GG, 210 sondern auch nach Art. 5 Abs. I EMRK. 211 Für die Freiheitsentziehung aufgrund von Alkoholsucht ist nicht erforderlich, dass die 46 medizinische Diagnose einer Alkoholkrankheit vorliegt. ßereits bei Volltrunkenheit kann eine Festnahme nach Art. 5 Abs. I lit. e zulässig sein, wenn dadurch Gefahren für den Betroffenen selbst und für die Allgemeinheit verhindert werden. 212 Eine Inhaftierung aus dem Grund, dass das äußere Erscheinungsbild aufgrund von Alkoholeinfluss einen Angriff auf die öffentliche Moral darstellt, ist mit Art. 5 Abs. I lit. e nicht vereinbar. 213 Allgemeine Intoleranz bzw. Feindseligkeit können keinen Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit rechtfertigen. Den Staaten stehen vielfältige Möglichkeiten offen, Regelungen bzw. Beschränkungen im Hinblick auf übermäßigen Alkoholkonsum, der zu Schäden für die bzw. durch die alkoholisierten Personen führen kann, zu erlassen. So können etwa zum Schutz der Betroffenen bzw. der Öffentlichkeit verpflichtende Entzugsprogramme oder auch Inhaftierungen von kurzer Dauer für Alkoholabhängige vorgesehen werden. 214
ff) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschie- 47 bu.ngs- und Auslieferungshaft. Art. 5 Abs. 1 lic. f lässt die Inhaftierung von Ausländern in zwei verschiedenen Fällen zu: Der erste Fall betrifft die Verhinderung der unerlaubten Einreise in das Staatsgebiet, der zweite Fall die Abschiebungs- oder Auslieferungshaft. Die Rechtmäßigkeit dieser lnhafoerungen erfordert über die Einhaltung der verfahrens- und materiellrechclichen Vorschriften hinaus auch die Beachtung des Gesamtziels des Art. 5, nämlich des Schutzes des Einzelnen vor Willkür. 215 Der EGMR hat sich in seiner Rechtsprechung zur ersten Alternative vor allem mit der 48 Anhalcung von Asylwerbern an Flughäfen auseinandergesetzt. 216 Der Haftgrund der 208
209
210
211 212
2 '-1 211 215
216
EGMR. 7.1.2016, Brrgma11n ./. GER, Nr. 23279/14 = NJW 2017, 1007, Z. 133; EGMR, 4.12.2018 (GK), Ilnseher ./. GER, Nr. 10211/12 u. a., Z. 141. EGMR, 4.12.2018 (GK), l/nsehn-.1. GER, Nr.10211/12 u.a., Z.164; BVerfGE 128,326 (398f.) = EuGRZ 2011, 297. BVerfGE 128,326 (365) = EuGRZ 2011, 297. Vgl. dazu Grabmwaner, EuGRZ 2012, 507ff.; Nowak/Kri.sper, EuGRZ 2013, 645. EGMR. 4.4.2000, litwa ./. POL, Nr. 26629/95, Z. 60ff.; so auch EGMR. 8.6.2004, Hi/da Hafirei11ddttir ./. ISL, Nr. 40905/98, Z. 42; EGMR. 3.2.2011, Kharin ./. RUS, Nr. 37345/03, Z. 34, 40ff.; kritisch zu dieser weiten Auslegung von Are. 5 Abs. 1 lir. e 3. Alt. Trautwein, Freiheitsentzug, S. 302 f. EGMR. 4.4.2000, Litwa ./. POL, Nr.26629/95, Z.62; EGMR, 3.2.2011, Kharin ./. RUS, Nr. 37345/03, Z. 43. EGf\.1R. 3.2.2011, Kharin ./. RUS, Nr. 37345/03, Z. 42. EGMR, 15.11.1996, Ghahal ./. GBR, Nr.22414/93, Z. 129; E(;MR, 9.10.2003 (GK), Slivenko ./. LAT, Nr:48321/99, Z. 147. EGMR. 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR. Nr. 13229/03; EGMR. 21.11.2019 (GK), Z. A. ./. RUS, Nr.61411/15 u.a.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK unerlaubten Einreise in das Staatsgebiet ist weit auszulegen. Er ist so lange gegeben, bis die Person eine Bewilligung zum Verbleib in dem Staat - etwa durch Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung oder durch positive Erledigung des Asylantrags .:... erhalten hat. Allein die Tatsache, dass die Person sich sofort bei ihrer Einreise an die Einwanderungsbehörden gewandt hat, führt nicht dazu, dass sie fortan „erlaubten" und eben keinen "unerlaubten" Eintritt in den Staat sucht, wie es der Haftgrund vorsieht. 217 Staaten können daher auch mögliche Zuwanderer, die eine Einreiseerlaubnis (etwa durch einen Asylantrag) beantragt haben, inhaftieren. 218 Sie können jedoch im Sinne des Art. 53 EMRK über ihre konventionsrechdichen Verpflichtungen hinausgehend Immigranten mit noch anhängigem Asylverfahren gesetzlich den Eintritt in i]:ir Staatsgebiet bzw. den Aufenthalt dort gewähren. 219 Ob dann der Haftgrund der unerlaubten Einreise in das Staatsgebiet im Einzelfall vorliegt, hängt maßgeblich vom innerstaatlichen Recht ab. 49 Die Prüfung der Willkürfreiheit ist in diesen Fällen relativ streng. Um dem Vorwurf der Willkür zu entgehen, müssen folgende Voraussetzungen vorliegen: Die Freiheitsentziehung muss in gutem Glauben vorgenommen werden und strikt auf den Zweck abstellen, eine unerlaubte Einreise zu verhindern. Außerdem müssen der Ort und die Bedingungen der Unterbringung im Hinblick darauf angemessen sein, dass die Freiheitsentziehung regelmäßig Personen betrifft, die keine Straftat begangen haben, sondern aus ihrem Heimatland geflohen sind. Schließlich muss die Dauer der Freiheitsentziehung zur Erreichung des Zwecks angemessen sein. 220 Im Fall von Asylbewerbern, die sich im Transitbereich eines incernationalen Flughafens aulhidten, deren Aufcnrhaltsbedingungen aber keiner gerichclichen Kontrolle unterlagen und denen keinerlei Zugang zu rechtlicher, humanitärer oder sozialer Betreuung gewähn wurde, erkannte der Gerichtshof eine Verletzung von An. 5 Abs. 1 lir. f.2 21
An. 5 Abs. l lit. f erlaubt den Mitgliedstaaten, in ihren Rechtsordnungen Bestimmungen vorLusehen, die eine Freiheitsentziehung in Transitzonen für einen begrenzten Zeitraum mit der Begründung vorsehen, dass die Anwesenheit von Asylbewerbern bis zur Prüfung ihrer Asylanträge erforderlich sei, um die Zulässigkeit von Asylanträgen zügig zu prüfen. 222 Im Fall Saadi kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass es angesichts der schwierigen Vcrwalrungspro· blcme (enormer Anstieg der Zahl von Asylwerbern) nichr unvereinhar mir An. 5 Abs. 1 lit. f war, den Bf. sieben Tage lang unter angemessenen Bedingungen anzuhalten, um die rasche Behandlung seines Asylantrags zu ermöglichen. Dabei wurde auch der Umstand berücksichtige, dass die Bereimellung eines effektiven Systems zur Encscheidung einer großen Zahl von Asylanträgen die weiterreichende Inanspruchnahme von Haftbefugnissen entbehrlich machte. 22 .l
217
218 219 220 221
222
223
EGMR. 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR. Nr. 13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. 65f.; dazu Carlin-. L:acces au terricoire et la detention de l'etranger demandeur d'asile, R.TDH 2009, 795 IT. EGMR, 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR, Nr. 13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. 64. EGMR. 23.7.2013, SusoMusa ./. MLT, !'Ir. 42337/12, Z. 97. EGMR, 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR, Nr. 13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. 74. EGMR, 25.6.1996, Amuur.l. FRA, Nr. 19776/92 = EuGRZ 1996, 577, Z. 53; EGMR. 24.1.2008, Riad u. !diab .!. BEL. Nr. 29787/03 u. a., Z. 78/f. EGMR, 21.11.2019 (GK), Z. A . ./. RUS, Nr. 61411 /l 5 u. a„ Z. 162, 163. EGMR. 29.1.2008 (GK), Saadi ./. GBR. Nr. 13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. 80.
266
§ 21.
Freiheit und Freizügigkeit
Die Inhaftierung zum Zweck der Abschiebung sem voraus, dass ein schwebendes Ver- 50 fahren besteht, in dem über die Ausweisung des Betroffenen entschieden werden soll. 224 Nicht erforderlich ist, dass die Inhaftnahme notwendig ist, um den Betroffenen etwa daran zu hindern, eine Straftat zu begehen oder untenutauchen. 225 Ob die Ausweisung selbst rechtmäßig ist, ist für die Anwendung von An. 5 Ab. 1 lic. f irrelevanc.126 Der Haftgrund nach lic. f besteht für die Dauer des Ausweisungsverfahrens. 227 Zwar 51 schreibe die Bestimmung keine bestimmte Dauer für das Ausweisungsverfahren vor. Wenn das Verfahren allerdings nicht mit der notwendigen Sorgfalt geführt wird, liegt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. f vor. 228 Benötigen auszuweisende Personen, die aufgrund von Art. 5 Abs. 1 lic. f inhaftiert sind, Reisedokumente von einem anderen Staat, so ist deren Ausstellung mit Nachdruck zu verfolgen bzw. sind Verhandlungen mit den zuständigen Behörden zu führen, um die Übermittlung der Dokumente zu beschleunigen. 229 Ferner sind die Staaten verpflichtet, die Einreiseerlaubnis der Auszuweisenden in die Zielländer sicherzustellen. 230 Im Übrigen verlangt das Gebot der Rechtssicherheit, dass klar ist, in welches Land der Betroffene abgeschoben werden soll.2.ll Auch bei der Inhaftierung zum Zweck der Ausweisung (Abschiebung) ist zu berück- 52 sichtigen, dass es sich meist um Personen handele, die unter Lebensgefahr aus ihren Heimatländern geflohen sind. Insofern verlangt der EGMR angemessene Haftumstände und -bedingungen. Auch die Dauer der Haft muss mit Blick auf das verfolgte Ziel angemessen sein, wobei die angemessene Verfahrensdauer wiederum von den jeweiligen Haftumständen abhängt. 232 Da Kinder in Abschiebungshaft als außerordentlich schutzbedürftig (,,position of extreme vulnerability") gelten, ist insofern ein strengerer Maßstab anzulegen. 233 Dies gilt auch dann, wenn sie von einem Elternteil begleitet werden. 234 m EGMR, 1S.11.1996, Chahal.l. GBR, Nr. 22414/93, Z. 112; EGMR, 9.10.2003 (GK), 5/ivmko ./. LAT, Nr. 48321/99, Z. 146. 22 j
EGMR, 15.12.2016 (GK), Kh/aijia u. a. ./. ITA, Nr. 16483/12, Z. 90. EGMR, 9.10.2003 (GK), Slivmko ./. LAT, Nr. 48321/99, Z. 146. Die Rechcmäßigkeic des Ausweisungs- und Auslieferungsverfahrens richcec sich nach Art. 1 7. ZP, welches von Österreich, der Schweiz und Liechcenscein, nichc jedoch von Deucschland racifizierc wurde. 227 EGMR, 9.10.2003 (GK), Slivmko ./. l.AT, Nr. 48321/99, Z. 146. 228 EGMR, 15.l 1. 1996, Chaha/ .1. GBR, Nr.22414/93, Z.1I3; EGMR. 8.1.2009, Khudyakova ./. RUS, Ne. 13476/04, Z. 59; EGMR, 11.10.2011, Auad .!. BUL, Nr.46390/10, Z. 130(; EGMR, 24.3.2015, Ga/1.ardo Sanchez ./. ITA, Nr. 11620/07, Z. 40; EGMR, 15.12.2016 (GK), Khlaifia u. a. ./. ITA, Nr. 16483/12, Z. 90. 229 EGMR, 17.7.2014, Kirn./. RUS, Nr. 44260/13, Z. SO. 230 EGMR, 11.10.2011, Auad ./. BUL, Nr. 46390/10, Z. 130/f. 231 EGMR, 11.10.201 l,Auad.l. BUL. Nr.46390/10, Z.133. 232 EGMR. 25.6.1996, Amuur ./. FRA, Nr. 19776/92 = EuGRZ 1996, 577, Z. 43; EGMR. 29.1.2008 (GK), SOJJdi ./. GBR, Nr. 13229/03 = NVwZ 2009, 375, Z. 74; EGMR. 19.2.2009 (GK), A. u. a . ./. GBR, Nr. 3455/05, Z. 164; EGMR, 13.12.201 l, Kanagaramam u. a. ./. BEL, Nr. 15297/09, Z. 94f.; EGMR, 17.7.2014, Kim ./. RUS, Nr.44260/13, Z. 53fE; s. zur angemessenen Haftdauer unccn Rn.60ff m EGMR, 12.10.2006, Mubilanzila Mayeke u. Kaniki Mirunga ./. BEL, Nr. 13178/03, Z. 103; EGMR, 19.1.2012, Popov.l. FRA, Nr. 39472/07, Z. 119. 234 EGMR, 19.1.2010, Mwkhadzhiyeva u. a. ./. BEL, Nr. 41442/07, Z. 74f.; EGMR, 13.12.2011, Kanagaramam u. a. ./. BEL, Nr. 15297/09, Z. 86f[ 226
267
3. Teil Die Garantien der EMRK Unverhälmismäßig lang und in Zusammenschau mit den unangemessenen Haftbedingungen nicht in Einklang mir den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 lit. f war für den EGMR eine dreimonatige Haft während eines anhängigen Asylverfahrens. 235
53 Die Anwendung einer vorläufigen Maßnahme im Rahmen des An. 39 VerfO, die das Verfahren zur Abschiebung einer Person temporär unrerbrichr, har keinen Einfluss auf die Rechrmäßigkeir der Haft: als solche, wenn die Inhaftierung nach wie vor dem Zweck der Ausweisung dienr und die Verlängerung hinreichend gerechrferrigr isc. 236 Die Rechtferrigung fchlr in Fällen, in denen keine weniger drastischen Maßnahmen als eine Inhaftierung in Berrachc gezogen wurden. Insofern besrehc kein hinreichender Konnex mehr zwischen der Inhaftierung des Einzelnen und dem öffenrlichen Interesse an der Sicherstellung seiner Ausweisung aus dem Staat. 237 54 Auch Inhaftierungen zum Zweck der Auslieferung sind nur während des Verfahrens zulässig, das von der Behörde sorgfältig zu führen ist. Hinsichtlich des Grads an Sorgfalt im Auslieferungsverfahren ist zwischen zwei Gruppen von Personen zu differenzieren: jene, die im Zielstaat bereits rechtskräftig verurreilc sind und zum Zwecke der Strafvollstreckung ausgeliefert werden sollen, und jenen, für die wegen eines noch anhängigen Gerichtsverfahrens die Unschuldsvermutung gilt. Für letztere ist eine besondere Sorgfalt an den Tag zu legen. 238 Staacliche Auslieferungsbestimmungen müssen adäquaten Schutz gegen willkürliche Inhaftierungen gewährleisten und die Voraussetzungen für eine Auslieferungshaft: hinreichend bestimmt vorschreiben. n 9 Eine anderthalbjährige Inhaftierung zum Zwecke der Auslieferung an einen Sraar, in dem der Bf. sich in einem Strafgerichrsvcrfahren erst zu veranrworren harre, dauerre unangemessen lang. 240
e) Verbot der Schuldhaft
55 Nach Art. 1 4. ZP darf niemandem die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen. Dieses Grundrecht ist bis heure ohne Bedeutung geblieben. Es schließt insbesondere die in Art. 5 Abs. 1 lit. b ausdrücklich anerkannte Beugehaft nicht aus. Auch gilr es nicht für aus dem Geserz folgende zivilrechtliche oder öffenclich-rechcliche Verpflichtungen. S. Rechte der festgenommenen Person
a) Informationsrecht
56 Arr. 5 Abs. 2 gewährt das Reche, dass jeder festgenommenen Person die Gründe für die Festnahme und die gegen sie erhobenen Beschuldigungen mitgeteilt werden. Diese Information muss in möglichst kurzer Frist und in einer dem Betroffenen verständlichen
m EGMR, 13.12.2011, Kanagaramam u.a . ./.BEL.Nr. 15297/09, Z.94f.; EGMR, 23.7.2013, Suso Musa./. MlC Nr. 42337/12, Z. 102f. 236 EGMR, 14.6.2011. 5. P. ./. BEL, Nr. 12572/08; EGMR. 20.12.2011, Yoh-Ekalr Mwanjr ./. BEL. Nr. 10486/10, Z. 120; EGMR, 14.11.2013, Kasymakhunov.l. RUS, Nr. 29604/12, Z. 173. 217 EGMR. 20.12.2011, Yoh-Ekalr Mwanje ./. BEL, Nr. 10486/10, Z. 123ff.; EGMR. 18.4.2013, Azimov.l. RUS, Nr. 67474/11, Z. 173. BR EGMR. 24.3.2015, Gtlllardo Sanchez ./. ITA, Nr. 11620/07, 2. 42. 239 EGMR.11. 10.2007, NaJru/loyrv.l. RUS, Nr.656/06, Z. 76ff.; EGMR. 24.4.2008, lsmoilov.l. RUS, Nr.2947/06. Z.140f.; EGMR. 12.6.2008, Shchebet ./. RUS, Nr. 16074/07, Z.69f.; EGMR. 19.6.2008, Ryabikin .!. RUS, Nr. 8320/04, Z. 129f. 240 EGMR, 24.3.2015, Ga/1.ardo Sa11chrz .!. ITA, Nr. 11620/07, Z. 44, 50f.
268
§ 2 /. Freiheit und Freizügigkeit
Sprache erfolgen. Nach dem Wortlaut des Arr. 5 Abs. 2 bezieht sich die Informationspflicht nur auf die "Festnahme". Diese Garantie gilt jedoch für alle in Art. 5 Abs. 1 vorgesehenen Formen der Freiheitsentziehung. 241 Art und Umfang der Unterrichtung richten sich nach den Umständen des Einzelfalls, im Vergleich zu Arr. 6 Abs. 3 lit. a sind die Anforderungen jedoch geringer. 242 Mir der Information soll vor Willkür geschützt und dem festgehaltenen die Möglichkeit gegeben werden, effektiven Rechtsschutz gemäß Abs. 4 zu erlangen. 243 Sie muss jedenfaJls in einer dem festgenommenen verständlichen Sprache erfolgen und die tatsächlichen und juristischen Gründe der Freiheitsentziehung darlegen,2 44 so dass die betroffene Person auf ihrer Grundlage die Rechtmäßigkeit des Eingriffs beurteilen und gegebenenfalls entsprechende Rechtsbehelfe ergreifen kann. 245 Es genügt nicht, wenn nur die Rechtsgrundlage der Freiheitsentziehung bekannt gegeben wird 246 oder der Festgenommene nur zufällig Kenntnis von den Haftgründen erlangt. 247 Eine vollständige Liste aller dem Beschuldigten zur Last gelegten strafbaren Handlungen ist aber nicht gefordert. 248 Eine Verletzung von Arr. 5 Abs. 2 stellte der EGMR im Fall einer Inhaftierung fest, bei der keine genauen Angaben über die Haftgründe gemacht wurden und der Häftling wie ein mutmaßlicher Straftäter behandele wurde, obwohl ihm bloß eine Verwaltungsübertretung zur Last gelegt wurde. 249 Geringere Anforderungen an die Informationspflichten bestehen in Fällen der Ab- 57 schiebungs- und Auslieferungshaft. 250 Bei Abschiebungshäftlingen reiche eine Information über die Tatsache der Ausweisung, ohne dass genaue Gründe angegeben werden müssen. 251 In Fällen der Auslieferungshaft ist es hinreichend, wenn dem Häftling mitgeteilt wird, dass er von den Behörden des Staates, an den er ausgeliefert werden soll, gesucht wird. 252
◄
2 1
EGMR. 5.11.1981,X ./. GBR, Nr.7215/75, Z.66; EGMR, 21.2.1990, vanderlm.l. NED, Nr. 11509/85, Z. 27f.; s. auch IK-Renzikow1ki, An. 5 Rn. 259ff 2◄2 Dörr, in: Dörr/Groce/Marauhn, Kap. 13 Rn. 37. 24 ·1 EGMR. 23. 7.2013, M. A . ./. CYP, Nr. 41872/10, Z. 227; Trech1el Libcrcy and Sccuricy of Person, in: Macdonald/Macscher/l'etzold (Hrsg.), The European syscem for ehe pro1ec1ion of human righcs, 1993, S.277 (315); EGMR, 15.12.2016 (GK), Kh!Aifiau.a . ./. !TA, Nr. 16483/12, Z. 115. 2 4◄ EGMR. 5.11.1981. X ./. GBR, Nr. 7215/75, Z. 66; EGMR, 21.2.1990, van fkr Lm ./. NEO, Nr. 11509/85, Z. 27f.; EGMR, 30.8.1990, Fox, Campbe/1 u. Hanlry ./. GBR, Nr. 12244/86 u. a., Z. 40; EGMR. 21.4.2011. Nechipon,k u. Yonkalo ./. UKR. Nr. 42310/04, Z. 208; EGMR. 3. 7. 26 EGMR, 25.7.2013, Rousk ./. SWE, Nr. 27183/04, Z. 137f.; EGMR, 17.10.2013, Winterstein u. a. ./. FRA, Nr.27013/07, Z. 148; vgl. auch EGMR, 21.4.2016, lvanova u. Chrrknov ./. BUL. Nr. 46577/15 = ÖJZ 2017, 806, Z. 53ff. (zur Abrissverfügung eines illegal errichteten Wohnhauses, das die einzige Wohnmöglichkeit bot). 357 EGMR, 10.5.2001 (GK), CYP./. TUR, Nr. 25781/94, Z. 171 ff.; EGMR, 22.12.2005, Xmidt-1-Amtis ./. TUR. Nr. 46347/99, Z. 19ff. 358 EGMR, 12.12.2017 (GK), Sargryan ./. AZE, Nr. 40167/06, Z. 257fF. m EGMR. 12.12.2017 (GK), Chiragov u. a. ./. ARM, Nr. 13216/05, Z. 207f.
336
§ 22. Rechte der Person
zu anderen sowie für einen srändigen und sicheren Ort fuhrt dazu, dass den Sraaten bei der Regelung von Wohnungsangelegenheiten gern. Art. 8 ein engerer Beurteilungsspielraum zukommt als bei Rechten gern. An. 1 1. ZP. 360 Allerdings ist es zulässig, ein Grundstück durch behördliche Räumung von einer Person wiederzuerlangen, die kein Recht darauf hatte, es in Besitz zu nehmen. 361 Die Zwangsräumung einer bereits über einen längeren Zeitraum bestehenden Gemeinschaft - wie z. B. einer ganzen Roma Siedlung - ist jedoch anders zu behandeln als die Entfernung einer widerrechtlich ein Grundstück besetzenden Person. 362
Für Durchsuchungen von Wohnungen gelten die Schranken des An. 8 Abs. 2. Anders 54 als Art. 13 Abs. 2 GG enthält die konventionsrechtliche Garantie weder einen ausdrücklichen Richtervorbehalt, noch stellt eine richterliche Anordnung nach der Rechtsprechung eine unabdingbare Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Durchsuchung dar. Jedoch müssen die maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Vollzugsprakriken angemessene und wirksame Sicherungen gegen Missbrauch bieten. 363 Die Anordnung der Durchsuchung durch einen Richter stellt ein wesentliches Element der Absicherung des Verfahrens dar. 364 Daher wird die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung dort besonders streng geprüft, wo es an einem Richtervorbehalt fehlt. 365 Zur Fesmellung, ob die angegriffene Maßnahme notwendig in einer demokratischen Gesellschaft i. S. v. Abs. 2 war, stellt der Gerichtshof auf die Art und Weise der Erteilung und den Inhalt der Durchsuchungsanordnung sowie auf deren Vollzug ab. 366 Von Belang sind hierbei die Beweislage, wegen derer die Durchsuchung angeordnet wurde, 367 die Reichweite der Anordnung, namentlich der Zweck, die Zahl und das Ausmaß der Augenscheine sowie andere Vorkehrungen, die darauf gerichtet sind, den Eingriff auf ein vernünftiges Maß zu beschränken. 368 Berücksichtigung findet weiterhin das Objekt der Durchsuchung. So kann es z. B. zu strengeren konvenrionsrechdichen Anforderungen an das Verfahren führen, wenn es um die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei geht. Der Gerichtshof betont, dass Durchsuchungen von Anwaltskanzleien Auswirkungen auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege und damit auf An. 6 EMRK haben können. Trotz richterlicher Anordnung sah der Gerichtshof die Durchsuchung einer deutschen Anwalts:lGO
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362
363
364 36) 366
367 368
EGMR, 6.12.2011, G/adyshroa ./. RUS, Nr. 7097/10, Z. 93; EGMR, 12.6.2014, &rger-Kra/J u. a. .!. SLO, Nr. 14717/04, Z. 268. EGMR. 27.5.2004, Connorr ./. GBR. Nr.66746/01, Z.69; EGMR, 13.5.2008, McCann ./. GBR. Nr. 19009/04, Z. 48; EGMR. 24.4.2012, Yordanova u. a. ./. BUL, Nr. 25446/06, Z. 111 II EGMR, 24.4.2012, Yordanova u. 11. .!. BUL, Nr. 25446/06, Z. 111, 121; EGMR, 17.10.2013, Wintentein u. a. ./. FRA, Nr. 27013/07, Z. 148. EGMR, 6.9.1978, Klass u.a. ./. GER, Nr.5029/71 = EuGRZ 1979, 278, Z.39ff.; EGMR, 16.12.1997, Camenzind ./. SUI, Nr.21353/93, Z.45; EGMR, 15.10.2013, Gutranovi ./. BUL, Nr. 34529/10, Z. 220. EGMR. 25.2.1993, Funke./. FRA. Nr. 10828/84 = ÖJZ 1993, 532, Z. 57; EGMR, 25.2.1993, CrimiM ./. FRA, Nr. 11471/85 = ÖJZ 1993, 534, Z. 40. EGMR, 16.12.1997, Camenzind ./. SUI, Nr. 21353/93, Z. 45; EGMR, 8.8.2006, H. M. ./. TUR, Nr. 34494/97, Z. 25. EGMR. 30.3.1989, Chappell .l. GBR, Nr. 10461/83, Z. 58ff. Zur Verhältnismäßigkeit einer weit gefassten Durchsuchungsanordnung bei Terrorgefahr vgl. EGMR. 20.10.2015, Sher u. a. ./. GBR, Nr.5201/11 =ÖJZ2016,861,Z.174. EGMR. 30.3.1989, Chappe/1./. GBR, Nr. 10461/83, Z. 59; ferner EGMR. 18.7.2006, Krrgan ./. GBR, Nr. 28867/03, Z. 33. EGMR, 30.3.1989, Chappell ./. GBR, Nr. 10461/83, Z. 60; EGMR. 16.12.1992, Niemim, ./. GER, Nr.13710/88 = EuGRZ 1993, 65, Z.37; EGMR, 25.2.1993, Funke.!. FRA, Nr.10828/84 = ÖJZ 1993, 532, Z. 57; EGMR, 25.2.1993, Crimieux ./. FRA, Nr. 11471/85 = ÖJZ 1993, 534, Z. 40; EGMR, 16.12.1997, Camenzind ./. SUI, Nr. 21353/93, Z. 46.
337
3. Teil. Die Garantien der EMRK kanzlei als unverhältnismäßig an, da die Durchsuchung nicht ausreichend beschränke war und keine speziellen Sicherungen für die Durchsuchung von Anwaltskanzleien vorhanden waren. 369 Auch Dokumente, die bei einer Wohnungsdurchsuchung beschlagnahmt worden sind und dem Schurz des Verr.rauens zwischen Anwalt und Klienten unterliegen, genießen dn erhöhtes Schutzniveau. 370 Wenn das nationale Reche die Möglichkeit von behördlichen Wohnungsdurchsuchungen vorsieht, müssen hinreichende und angemessene Sicherungen gegen Missbrauch vorgesehen sein. 371 Einern fehlenden Durchsuchungsbefehl kann auch durch eine nachträgliche richterliche Kontrolle der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Maßnahme entgegengewirkt werden. 372 Die bloße Untecschrifr des Richters zusammen mit seiner Zustimmung, der Stempel des Gerichts und die Datums- und Uhrzeitangabe genügen jedoch für eine effiziente richterliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Norwendigkeir der Maßnahme nicht. 373
55 dd) Korrespondenz. Eine gewichtige Rolle bei der Beurteilung der Notwendigkeit von Eingriffen in den Briefverkehr spiele die Frage, ob im innerstaatlichen Recht ausreichender Schutz gegen Missbrauch vorhanden ist. Hierfür komme es vor allem darauf an, dass den Betroffenen wirksame Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung scehen. 374 Die Anordnung der Einsichtnahme von Dokumenten im Rahmen von Hausdurchsuchungen muss so begrenzt wie möglich sein, indem etwa der Verfasser oder der Adressat der gesuchten Dokumente angegeben wird. Dies gilc insbesondere dort, wo Räumlichkeiten von besonders geschützten Berufsgruppen, wie z. B. Anwälcen, betroffen sind und somit das Berufsgeheimnis berührt ist. 375 Dieselben verfahrensrechtlichen Garantien sind auf die Durchsuchung und Sicherstellung elektronischer Daten anzuwenden. 376 56 Insbesondere zur Frage, wann Beschränkungen des Briefverkehrs Gefangener als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft erachtet werden können, liegt eine umfangreiche Rechtsprechung vor. 3n Der EGMR hac anerkannt, dass sich eine gewisse 369
EGMR, 16.12.1992, Niemirtz ./. GER, Nr. 13710/88 = EuGRZ 1993, 65, Z. 37; vgl. ferner EGMR, 22.5.2008, lliya Stefanov.!. BUL, Nr. 65755/01, Z. 34ff.; EGMR, 21.10.2010, Xavierda Silveira .!. FRA, Nr. 43757/05, Z. 36ff. Zur Durchsuchung der Wohnung eines Journalisten im Hinblick auf den lnformantenschutz vgl. EGMR, 25.2.2003, Roemm u. Schmit ./. LUX, Nr. 51772/99, Z. 52f. 370 EGMR, 2.4.2015, Vinci Construcrion u. GTM Ghlie Civil u. Services./. FRA. Nr. 63629/10, Z. 68/f. 371 EGMR. 2.10.2014, Delta PekdmyA.S. .!. CZE, Nr. 97/11, Z. 83f. 372 EGMR, 2.10.2014, Delta PekdmyA.S. ./. CZE, Nr. 97/11, Z. 87. 373 EGMR, 15.10.2013, Gutsanovi ./. BUL. Nr. 34529/10, Z. 222f. 374 EGMR, 6.9.1978, Kl,w u. a. .!. GER, Nr. 5029/71 = EuGRZ 1979, 278, Z. 50, 54, 55; EGMR, 25.2.1993, Miailhe .!. FRA, Nr.12661/87, Z.37; EGMR, 24.8.1998, Lambert .!. FRA. Nr. 23618/94, Z. 31; EGMR, 2.4.2015, Vinci Construction u. GTM Ghlie Civil u. Services./. FRA, Nr. 63629/10 u. a. = ÖJZ 2016, 860, Z. 78ff.; s. auch Bonrinck/Guilkrme, L'encadrement timide des .,perquistions concurrence" par la Cour europeenne des droics de l'homme, RTDH 2016, 261 (261 ff.) (nicht effektiv angewendete innersraacliche Sicherungen gegen Willkür); EGMR, 7.7.2015, M. N u. a. .!. SMR, Nr. 28005/12, Z. 73, 78; EGMR, 3.9.2015, Servulo & Associados -Sociedadnk Advogados, RL u. a . .!. POR, Nr. 27013/10 = ÖJZ 2016, 861, Z. 104/f. 375 EGMR, 16.12.1992, Ninnietz ./. GER, Nr. 13710/88 = EuGRZ 1993, 65, Z. 37; zur Niedecschrifr eines Gespräches zwischen Anwalt und Klienten, wobei die Vermutung bestand, dass der Anwalt selbst eine Strafrat begangen hat, vgl. EGMR, 16.6.2016, Versini-Campinchi u. Crasnianski .!. FRA, Nr.49176/11 = ÖJZ 2017, 804, 49 ff. 376 EGMR. 16.10.2007, Wieser u. Bicos Beteiligungen GmbH.!. AUT, Nr. 74336/01, Z. 63/f.; EGMR, 3.7.2012, Robathin ./. AUT, Nr.30457/06 = NJW 2013, 3081, Z.41; EGMR, 14.3.2013, Bernh Lanen HoldingASu. a. ./. NOR, Nr. 24117/08, Z. 163. 377 EGMR. 25.3.1983, Si/ver./. GBR, Nr. 5947/72 = EuGRZ 1984, 147, Z. 83ff.; EGMR, 25.3.1992, Campbe/1./. GRR. Nr. 13590/88, Z. 42/f.
338
§ 22.
Rechte der Person
Kontrolle des Briefverkehrs von Gefangenen empfiehlt und diese nicht per se gegen die Konvention verstößt. 378 Im Einzelfall müssen aber hinreichende Gründe dargelegt werden, um die Notwendigkeit der Kontrolle nachzuweisen. 379 Gerechtfertigt sind Eingriffe im Allgemeinen, wenn im Briefverkehr Gewalt oder kriminelle Handlungen angedroht werden oder zu solchen aufgefordert wird 380 oder zweckmäßige formale Regelungen zur Kontrolle des Briefverkehrs in Gefängnissen nicht eingehalten werden. 381 Im Hinblick auf das zulässige Maß einer Kontrolle ist zu berücksichtigen, dass der Briefverkehr für den Gefangenen mitunter die einzige Verbindung zur Außenwelt darstelle. 382 Ein Zurückhalten von Briefen kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass diese Beschwerden über die Behandlung im Gefängnis enthalten und nicht zuvor der Gefängnisverwaltung vorgelegt worden sind. 383 Der Gerichtshof misst der Möglichkeit Gefangener, Kontakt mit Familie und Freunden außerhalb des Gefängnisses zu halten, besondere Bedeutung zu. Auch wenn es sich um Briefverkehr mit ehemaligen Mitgefangenen handelt, ist jedenfalls ein pauschales Verbot nicht gerechtfertigt. Als ausreichend hat der Gerichtshof es angesehen, wenn Gefangene zwei bis drei Briefe pro Woche schreiben und zu jeder Zeit Briefe empfangen können und die Gefängnisbehörden die Kosten von Schreibmaterial und Porto tragen. 384
Beschränkungen des Rechts, während der Haft Telefongespräche zu führen, sind in 57 weitergehendem Umfang als die Beschränkung des Briefverkehrs zulässig. Es darf insbesondere dann eingeschränkt werden, wenn die Möglichkeit der schriftlichen Kommunikation besteht. 385 Der Briefverkehr von Gefangenen mit ihrem Anwalt bzw. Prozessvertreter386 oder dem EGMR387 ist unabhängig vom Inhalt der Kommunikation privater und vertraulicher Natur und genießt daher einen privilegierten Schutz. Die Vertraulichkeit der Beziehung, die auch durch die SchweigepAicht des Anwalts besonders geschützt wird, muss gewahrt bleiben. 388 Die besondere Schutzbedürftigkeit der 378
EGMR, 25.3.1983, Si/ver.!. GBR, Nr. 5947/72 = EuGRZ 1984, 147, Z. 98; EGMR, 25.2.1992, Pfeifer u. PIAnkl ./. AlIT, Nr. 10802/84, Z. 46; EGMR. 25.3.1992, Camphe/1 ./. GBR. Nr.13590188, Z.45. 379 EGMR, 14.3.2002, Puzinas ./. LTU, Nr.44800/98, Z.21; EGMR, 1.10.2009, Tsonyo Tronrv.l. BUL. Nr. 33726/03, Z. 39. 380 EGMR, 25.3.1983, Silvrr.l. GBR, Nr. 5947/72, Z.103. 381 EKMR, Ber. v. 18.10.1985, Fa"ant, Nr. 7291/75, DR 50, 5, Z. 48; EKMR, Ber. v. 17.5.1990, Chester. Nr. 12395/86, Z. 52ff.; EGMR. 11.1.2011, Mehmet Nuri Öun u. a. ./. TUR, Nr. 15672/08 u. a., z. 59. 382 EGMR, 25.3.1992, Campbell .l. GBR. Nr. 13590/88, Z. 45. 383 Sog.• prior ventilation rule~, s. EGMR, 25.3.1983, Silvrr ./. GBR. Nr. 5947/72, Z. 99; EGMR, 28.6.1984, Campbellu. Fell./. GBR. Nr. 7819/77 u.a. = EuGRZ 1985, 534, Z.110. 384 EGMR. 29.1.2002, A. B. ./. NEO, Nr. 37328/97, Z. 87, 91; EGMR, 24.2.2009, Gagiu ./. ROM, Nr. 63258/00, Z. 88ff. m EGMR. 29.1.2002, A. B. ./. NEO, Nr. 37328/97, Z. 92f.; EGMR, 22.4.2014, Nurset Kaya u. a. ./. TUR, Nr. 43750106 u. a., Z. 36; EGMR. 19.10.2017, lebois ./. BUL. Nr. 67482114, Z. 61. 386 EGMR. 6.9.1978, Klass u. a. ./. GER, Nr. 5029/71 = EuGRZ 1979, 278, Z. 41; EGMR, 20.6.2000, Foxley ./. GBR. Nr. 33274/96, Z. 43; EGMR, 9.4.2019, Altay Nr. 2 ./. TUR, Nr. 11236109, Z. 50; EGMR. 19.5.2016, D. L. .1. BUL, Nr. 7472114. Z. 105. 387 EGMR, 19.4.2001, Peers./. GRE, Nr.28524195, Z.84; EGMR, 24.7.2001, Valminas ./. LTU, Nr.44558198. Z.129; EGMR. 29.1.2002, A. B. ./. NEO, Nr.37328/97, Z.83; EGMR, 12.2.2013, Yefirnroko ./. RUS, Nr.152/04, Z. 160ff. 388 EGMR, 25.3.1992, Camphe/1./. GBR, Nr. 13590188, Z. 62; EGMR, 24.7.2001, Valminas ./. LTU, Nr. 44558198, Z. 129; EGMR, 29.1.2002, A. B. ./. NEO, Nr. 37328/97, Z. 83; EGMR, 22.5.2008, Pemn, ./. BUL. Nr. 15197/02, Z. 43. Das generelle Risiko, dass Briefe manipuliert sein könnten, um Gegenstände ins Gefängnis zu schmuggeln, erachtet der EGMR als zu gering. um eine Kontrolle zu
339
3. Teil Die Garantien der EMRK Korrespondenz zwischen einem Gefangenen und dem EGMR vor Einsichtnahme durch Gefängnisbedienstete ergibt sich daraus, dass die Korrespondenz möglicherweise auf Vorwürfe gegen die Gefängnisaufsicht oder Gefängnisbedienstete gerichtet ist. 389 Grundsätzlich darf der Briefverkehr zwischen einem Gefangenen und dessen Anwalt nur zur Kontrolle des Inhalts des Umschlags geöffnet, nicht aber gelesen werden. 390 Die Einhaltung dieser Regel kann etwa durch die Anwesenheit des Gefangenen beim Öffnen der Post gewährleistet werden. Das Verbot der Inhaltskontrolle der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant ist nicht absolut. Unter besonderen Umständen, etwa wenn aus der Sicht eines objektiven Dritten ein hinreichend begründeter Verdacht des Missbrauchs dieses privilegierten Kommunikationswegs besteht - was etwa bei Bedrohung der Sicherheit der Anstalt oder Dritter oder bei strafrechtlich relevantem Inhalt der Post der Fall ist -, kann auch das Lesen der Korrespondenz zwischen Anwalt und Gefangenem gerechtfertigt sein. 391 Ein Kontaktverbot zwischen Gefangenen und dessen Anwalt mittels E-Mail ist gerechtfertigt, solange andere effektive Kommunikationsmittel wie Briefverkehr, Telefon und Besuche ermöglicht werden und der Gefangene von der Nichtzustellung der E-Mail unverzüglich verständigt wird. 392 Die Einsicht in die an den EGMR gerichtete Korrespondenz eines Gefangenen ohne triftigen Grund durch Mitarbeiter der Hafteinrichtung sah der Gerichtshof als konvemionswidrig an, da der Gefangene abgehalten werden könnte, sein Recht auf Individualbeschwerde gern. Art. 34 ordnungsgemäß auszuüben.193 Die Überwachung des Briefverkehrs zwischen einem Gefangenen, der unter einer lebensbedrohlichcn Krankheit lin, und einem medizinischen Spezialisten sah der Gerichtshof als Verletzung des Art. 8 an, da nicht begründet werden konnte, weshalb das Risiko des Missbrauchs der Korrespondenz mit einem namhaft gemachten Atzt, dessen genaue Adresse, Qualifikationen und guter Ruf außer Frage standen, größer sein sollte als das Risiko des Missbrauchs der Korrespondenz mit Anwälten. 394 Spezielle Sicherheitsgründe - wie z. B. die Verhinderung von Ausbruchsversuchen - können es rechtfertigen, einem Gefangenen zu verbieten, mit seinen Familienangehörigen in der Sprache seiner Wahl zu kommunizieren. In der generellen Regelung, allen Insassen eines Gefli.ngnisses, ohne Rücksichtnahme auf eventuelle individuelle Voraussetzungen, den Kontakt zu ihren Familienangehörigen lediglich in türkischer Sprache zu gestacren, sah der EGMR jedoch eine Verletzung von Art. 8. 195
58 Die Überwachung des Briefverkehrs während eines Konkursverfahrens kann notwendig sein, um das Verheimlichen von Vermögenswerten zum Nachteil der Gläubiger zu verhindern. Solche Maßnahmen müssen allerdings von angemessenen und wirksamen Schutzbestimmungen begleitet sein, die gewährleisten, dass das Recht auf Achtung des Briefverkehrs nur eine minimale Beeinträchtigung erfährt. 396 rechtfertigen, EGMR, 19.4.2001, Peers./. GRE, Nr.28524/95, Z.84; EGMR, 1.10.2009, Tsonyo 1sonrv ./. BUL, Nr. 33726/03, Z. 40. 389 EGMR, 12.2.2013, Yrfimrnlro.l. RUS, Nr.152/04, Z. 160. 390 EGMR, 25.3.1992, Campbr/1.I. GBR, Nr. 13590/88, Z. 48. 391 EGMR, 25.3.1992, Campbr/1 ./. GBR, Nr. 13590/88, Z. 48; EGMR, 20.6.2000, Foxlry ./. GBR, Nr. 33274/96, Z. 44; s. auch EGMR, 13.12.2016, Eykm Kaya ./. TUR, Nr. 26623/07 = OJZ 2017, 805, Z. 46; EGMR, 9.4.2019,Aitay Nr. 2 ./. TUR, Nr. 11236/09, Z. 53/f. 392 EGMR, 10.9.2013, Hrfßndrr.l. FIN, Nr. 10410/10, Z. 53f. m EGMR, 12.2.2013, Yefi~nko ./. RUS, Nr. 152/04, Z. 164. 394 EGMR, 2.6.2009, Szululr ./. GBR, Nr. 36936/05, Z. 53. 395 EGMR, 22.4.2014, Nurm Kaya u. a. ./. TUR, Nr. 43750/06 u. a., Z. 59f. 396 EGMR, 20.6.2000, Foxlry.!. GBR, Nr. 33274/96, Z. 43.
340
§ 22. Rechte tkr Person
6. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten
An. 8 enthält auch Gewährleistungspflichten des Staates. Der EGMR stellte schon 59 früh fest, dass der Staat zweckmäßige und angemessene Maßnahmen zu treffen hat, um die durch An. 8 gewährleisteten Rechte der Bürger zu sichern. 397 Dabei hat der Staat zwischen den betroffenen Belangen, den Interessen des Einzelnen und jenen der Gemeinschaft, die als legitime Ziele in Are. 8 Abs. 2 veranken sind, eine gerechte Abwägung zu treffen. 398 Insofern genieße der Scaac einen Beurceilungsspielraum. 399 Die grundrechtlichen Gewährleiscungspflichcen lassen sich in scaacliche Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren, die dem Schutzguc durch Dricce drohen (Schuczpflichcen), in Gewährleiscungspflichcen bei Organisation und Verfahrensgestaltung sowie in Informacionspflichten gliedern. 400 a) Schutzpflichten
Im Bereich der Gewährleistung des Privatlebens hac die Rechtsprechung des EGMR 60 aus dem Recht aufsexuelle Selbstbestimmung Schutzpflichten des Staates abgeleitet. Wegen der Bedeutung des Rechtsguts und der Schwere potentieller Eingriffe verlange der EGMR, dass der Staat Straftatbestände gegen alle Formen von sexuellem Missbrauch, insbesondere Vergewaltigung, schaffe und diese auch effektiv vollziehc. 401 Ob der Staat einen hinreichenden rechclichen Rahmen gewährleistet, hänge im Wesenclichen davon ab, ob die nationale Rechtsordnung der Person unter den Umständen des Einzelfalls einen angemessenen Schutz gewährt. 402 Besonderes Gewicht misst der Gerichtshof dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Minderjährigen und einwilligungsunfähigen Personen zu. Zu diesem Zweck sind die Schaffung entsprechender Straftatbestände und deren wirksame Vollziehung erforderlich. 403 In weniger schweren Fällen kann der Staat seiner Schutzpflicht auch mittels zivilrechclicher Rechtsbehelfe nachkommen, sofern diese einen ausreichenden Schutz gewähren. 404 Auch wenn das heimliche Filmen von Minderjährigen nicht die Schwere einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Missbrauchs erreicht, sah der EGMR im Fall Sötkrman keinen ausreichenden Schutz des Privaclebens durch die schwedische Rechtsordnung gegeben, da der beim Duschen heimlich gefilmten Betroffenen weder ein strafrechtlicher noch einen zivilrechtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand. 405
m EGMR, 17.10.1986, Rm ./. GBR, Nr. 9532/81, Z. 37; EGMR, 21.2.1990, PoweU u. Rayner ./. 398
399
400
401
402 403
• 04 405
GBR. Nr.9310/81, Z.41; EGMR. 19.2.1998, Guma .1. ITA, Nr.14967/89, Z.58; EGMR, 8.7.2003 (GK), Hauon u. a. ./. GBR, Nr. 36022/97 = OJZ 2003, 73, Z. 95. EGMR. 11.7.2002 (GK), I. .1. GBR, Nr. 25680/94, Z. 52. EGMR. 17.10.1986, Rm .1. GBR, Nr. 9532/81, Z. 37; EGMR, 29.1.2013, Röman ./. FIN, Nr. f3072/05, Z. 45. S. allgemein § 19 Rn. 1 ff. EGMR, 4.12.2003, M. C ./. BUL, Nr. 39272/98, Z. 185; EGMR, 12.11.2013 (GK), Södnman ./. SWE, Nr. 5786/08 = NJW 2014, 607, Z. 82. EGMR, 12.11.2013 (GK), Södnman ./. SWE. Nr. 5786/08 = NJW 2014, 607, Z. 91. EGMR, 22.10.1981, Dudgeon ./. GBR, Nr. 7525/76, Z.49; EGMR, 26.3.1985, X u. Y. .1. NEO, Nr.8978/80, Z.27fF.; EGMR, 2.12.2008, KU. ./. FIN, Nr.2872/02, Z.45f.; EGMR. 20.03.2012, CA.S. u. C.S. ./. ROM, Nr.26692/05, Z.83; EGMR, 27.9.2011, M. u. C. ./. ROM, Nr. 29032/04, Z. l II; EGMR, 15.3.2016, M. G. C. ./. ROM, Nr. 61495/11, Z. 57f. EGMR, 12.11.2013 (GK), Södnman ./. SWE, Nr.5786/08 = NJW 2014, 607, Z.85; EGMR, 25.6.2019 (GK), Nico/a;, Virgiliu 1anase.l. ROM, Nr. 41720/13, Z. 127. EGMR. 12.11.2013 (GK), Södnman ./. SWE, Nr. 5786/08 = NJW 2014, 607, Z. 86, 117.
341
3. Teil. Die Garantien der EMRK Die staatliche Pflicht zum Schutz vor schwerwiegenden Eingriffen in wesentliche Aspekte des Privatlebens von Kindern und besonders hilfsbedürftigen Personen im lncernec kann es erforderlich machen, Serviceprovider zu verpflichren, die Inhaber von IP-Adressen bekannczugeben, um eine ldencifikation und Verfolgung von Srrafräcern zu ermöglichen. 4116
61 Fälle von häuslicher Gewalt, die zu einer Beeinträchtigung der physischen Integrität des Betroffenen führen, prüft der EGMR dann am Maßstab des An. 8, wenn eine aufwändige Analyse des Sachverhalts notwendig wäre, um Schutzpflichten aus An. 2 oder An. 3 zu begründen. Der Staat ist verpflichtet, die Betroffenen vor Eingriffen durch private Dritte zu schützen. 407 Die psychische Integrität einer Person kann sogar durch Drohungen beeinträchtigt werden, wenn keine bestimmten gewalttätigen H":11dlungen folgen. Die begründete Furcht, dass sie umgesetzt werden könnten, genügt, um eine Schutzpflicht des Staates auszulösen. 408 Staatliche Uncätigkeit gegenüber physischem und psychischem Quälen von Behindenen durch strafunmündige Minderjährige trotz Kenntnis der Polizei stelle eine Verletzung von An. 8 dar. 409
Im Fall der Verhaftung beider Elternteile trifft den Staat die Pflicht, für die Pflege des alleingelassenen 14-jährigen Kindes zu sorgen. 410 Der Staat ist außerdem verpflichtet, Regelungen zu erlassen, die Krankenhäuser dazu zwingen, angemessene Maßnahmen zum Schutz der physischen Integrität ihrer Patienten zu ergreifen. Diese Regelungen müssen sowohl öffentliche als auch private Krankenhäuser binden. 411 62 Eine weitere Fallgruppe von aus Art. 8 resultierenden Schutzpflichten aus dem Bereich der Gewährleistung des Privatlebens bildet die Pflicht des Staates, den guten Ruf' 12 einer Person und das Recht am eigenen Bild413 gegenüber Veröffentlichungen in der Presse und in anderen Medien angemessen zu schützen. Das Recht auf Schutz des eigenen Bildes setzt das Recht, die Nutzung des Bildes zu kontrollieren, voraus. In den meisten Fällen besteht die Kontrolle der Nutzung darin, dass der Einzelne die Veröffentlichung des Bildes untersagen kann. Unter Umständen kann das Einverständnis des Betroffenen jedoch bereits bei der Aufnahme und nicht erst bei der Ver-
406
EGMR. 2.12.2008, KU../. FIN, Nr.2872/02, Z.46; EGMR, 24.4.2018, Benedik ./. SLO, Nr. 62357/14, Z. 99. 407 EGMR, 14.10.2010, A . ./. CRO, Nr. 55164/08, Z. 57ff. 408 EGMR. 30.11.2010, Hajduovd .!. SLO, Nr. 2660/03, Z. 49. 409 EGMR, 24.7.2012, Dorgevic ./. CRO, Nr.41526/10, Z. 151f. Im Ergebnis anders EGMR, 19.7.2011, Durdn!ic' ./. CRO, Nr. 52442/09, Z. 109, 118. 4 w EGMR, 1.2.2018, Hadzhitva ./. BUL, Nr. 45285/12, Z. 58ff. 411 EGMR, 2.6.2009, Codarcea ./. ROM, Nr. 31675/04, Z. 102. 412 EGMR. 15.11.2007, Pfeifer./. AlJf, Nr. 12556/03, Z. 44; EGMR, 21.10.2010, Polanco Torrts u. Movilla Polanco ./. ESP, Nr.34147/06, Z.41; EGMR, 31.10.2013, Popovski .!. MKD, Nr. 12316/07, Z. 90f. 413 EGMR. 24.6.2004, v. Hannover./. GER. Nr. 59320/00 = NJW 2004, 2647, Z. 69; vgl. auch EGMR, 21.2.2002, Schüssel./. AlJf, Nr. 42409/98; EGMR, 3.2.2015, Apostu ./. ROM, Nr. 22765/12 = ÖJZ 2016, 860, Z. l 18ff. (Durchsickern von Informationen aus Strafakt); EGMR, 13.10.2015, Brnnner ./. TUR, Nr.37428/06 = ÖJZ2016, 861, Z.62 (Aufnahmen mit versteckter Kamera); EGMR, 10.11.2015 (GK), Coudm u. Hachme Filipacchi Associes .!. FRA, Nr.40454/07, Z.85; EGMR, 17.3.2016, Kahn./. GER, Nr. 16313/10 = ÖJZ 2017, 806, Z.63; EGMR. 20.6.2017, Bogomolova ./. RUS, Nr. 13812/09, Z. 51f.; EGMR, 7.11.2017, Egi/l Einamon ./. ISL, Nr. 24703/15, Z. 32ff. (Benennung als Vergewalciger auf lnstagram); EGMR, 10.10.2019, Lewit ./. AUT, Nr. 4782/18, Z. 46ff. (Diffamierungsvorwürfe eines KZ-Überlenden).
342
§ 22. Rechte der Person
öffenrlichung erforderlich sein. 414 Der Umfang der Verpflichtung, das Recht am eigenen Bild zu schützen, ist im Einzelfall in Abwägung mit dem durch Art. 10 geschützten Interesse an der Publikation solcher Fotos und dem Informationsinteresse zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, ob die abgebildete Person in der Öffentlichkeit steht und daher regelmäßig ein höheres Informationsinteresse anzunehmen ist 415 und in welcher Art und Weise sie dargestellr wird. Wegen eines fehlenden europäischen Standards beim Schutz des Rechts am Bild gegenüber Veröffentlichungen isr hinsichrlich der Erfüllung dieser Schurzpflicht grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum der Mirgliedstaaren anzunehmen. Der EGMR har hingegen im Fall von Hannover eine intensive Überprüfung der Abwägung der betroffenen Belange vorgenommen und mir wenig überzeugenden Argumenten die differenzierte Rechtsprechung des BVerfG in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre von Prominenren gegenüber der Publikation von Fotos in Zeitschriften als Verstoß gegen Art. 8 gewertet. 416 In den späteren Fällen zu vergleichbaren Sachverhalten nahm der EGMR die Kontrolldichte zurück. In Fällen, in denen eine Abwägung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf freie Meinungsäußerung erforderlich isr, soll es für den Ausgang des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich keinen Unterschied machen, ob die Beschwerde nach Art. 8 von der in ihrem Privatleben betroffenen Person oder von der den Artikel veröffentlichenden Person nach Art. 10 erhoben wird. Dementsprechend sollte der Beurteilungsspielraum in beiden Fällen gleich sein. Haben die nationalen Instanzen die Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Grundsätzen vorgenommen, bedarf es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene zu erserzen. ◄ 17
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4is 416
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EGMR. 15.1.2010, Reklm u. Davourlis ./. GRE, Nr. 1234/05, Z. 40. Zur Rechtsprechung zu sog.• public figures" s. unten§ 23 Rn. 46ff. EGMR. 24.6.2004, v. Hannover.!. GER, Nr. 59320/00 = NJW 2004, 2647, Z. 76ff. Dazu kritisch Grabmwarur, FS Ress, S. 979 lf.; derr., Schurz der Privatsphäre versus Pressefreiheit: Europäische Korrekrur eines deutschen Sonderweges?, AfP 2004, 309 ff.; Heldrich, Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 2634ff.; Howubek, .Carotine" und die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK, in: ÖJK (Hrsg.), Caroline und die Folgen: Medienfreiheit am Wendepunkt, Bd. 25, 2005, S. 9 (l 3ff.); zu den Folgen des Urteils s. etwa Srarck, Das Caroline-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seine rechtlichen Konsequenzen, JZ 2006, 76 (79 ff.); Teichmann, Abschied von der absoluten Person der Zeitgeschichte, NJW 2007, 1917 (1918/f.). EGMR, 7.2.2012 (GK), von Hannover./. GER (Nr. 2), Nr. 40660/08 u. a. = EuGRZ 2012, 278, Z. 105ff.; EGMR, 7.2.2012 (GK), Axel Springer AG./. GER, Nr. 39954/08 = EuGRZ 2012, 294, Z. 86ff.; EGMR, 19.9.2013, von Hannover./. GER (Nr.3), Nr. 8772/10 = EuGRZ 2014, 43, Z.45; EGMR. 10.11.2015 (GK), Couderc u. Hacherre Filipacchi Assodts ./. FRA. Nr. 40454/07, Z. 9lf.; EGMR. 17.5.2016, Fürst-Pfeifer./. AUl: Nr.33677/10 u.a. = ZÖR 2017, 730, Z.40; EGMR, 21.2.1017, Rubio Dosamantes ./. ESP, Nr. 20996/10 = ÖJZ 2018, 1002, Z. 30ff.; EGMR, 19.10.2017, Fuchsmann./. GER. Nr. 71233/13, Z. 33; EGMR, 28.6.2018, M. L. u. W W ./. GER, Nr.60798/10 u.a. = ÖJZ2019, 650, Z.92ff.; EGMR. 4.5.2019, Mityanin u. leonov.l. RUS, Nr.11436/06 u. a., Z. 108; vgl. zur Abwägung von Art. 8 und Art. 10 im Falle der Hassrede EGMR, 15.3.2012 (GK),Aksu ./. TUR. Nr. 4149/04 u. a., Z. 63ff.; Anm. Hochmann, RTDH 2013, 178; zur Abwägung im Fall ironischer Werbeanzeigen mit bekannten Personen s. EGMR, 19.2.2015, Ernst Augu.sr von Hannover./. GER, Nr. 53649/09 = ÖJZ 2016, 861, Z. 47ff.; EGMR, 19.2.2015, Bohlen ./. GER. Nr. 53495/09 = EuGRZ 2016, 17, Z.481f.; EGMR. 23.4.2019, Grasser ./. AUT, Nr. 37898/17, Z. 16; zur Haftung eines Online News-Portals für Userpostings s. EGMR. 16.6.2015 (GK), DelfiAS .!. EST, Nr. 64569/09 = NJW 2015, 2863, Z. 138ff.
343
3. Teil Die Garantien fkr EMRK
Die sich aus der Rechtsprechung für die Abwägung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Achtung des Privatlebens ergebenden Kriterien sind: 418 der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse die Bekanntheit der betroffenen Person und der Gegenstand der Berichterstattung das frühere Verhalten der betroffenen Person - Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung419 die Umstände, unter denen die Fotos aufgenommen wurden - die Art der Erlangung der Informationen und deren Wahrheitsgehalt die Schwere der verhängten Sanktion Auch bezüglich der Pflicht, den guten Rufeiner Person zu schützen, nimmt der EGMR eine Abwägung mit Art. l Ovor. Ausschlaggebend ist hier insbesondere, ob sich der Artikel mit einer Frage von öffentlichem Interesse beschäftigt und ob der Journalist in dem gutem Glauben handelt, dass seine Tatsachenbehauptungen korrekt sind, und er ausreichende Maßnahmen ergriffen hat, um den Wahrheitsgehalt der Informationen zu überprüfen. 420 Eine Abwägung zwischen den Rechten nach Art. 8 und jenen nach An. 10 hat auch dann zu erfolgen, wenn sich eine Person in einem literarischen Werk wiederzuerkennen glaubt. 421 Wurde von den nationalen Behörden unter korrekter Abwägung der Rechte von An. 8 und Art. 10 eine Rufschädigung durch ein Printmedium festgestellr, bedeutet dies jedoch keine automatische Verpflichtung für die Zeitung, den Artikel auch aus dem Onlinearchiv ihrer Homepage zu löschen. Der EGMR stellte hierzu fest, dass es nicht die Rolle der Gerichte sei, sich an der Neuschreibung der Geschichte zu beteiligen, indem sie die Beseitigung jeglicher Spuren von Veröffentlichungen anzuordnen hätten, welche in der Vergangenheit durch eine gerichtliche Entscheidung als ungerechtfertigte Verletzungen des guten Rufes einer Person festgestellt wurden. 422 63 Im Bereich des Schutus persönlicher Daten vor Veröffentlichung durch die Medien verfügt der Staat über einen gewissen Beurteilungsspielraum dahingehend, was die Achtung des Privatlebens im Einzelfall erfordert. Bei der Bemessung von Schadensersatz 418
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EGMR, 7.2.2012 (GK), von Hannover./. GER (Nr.2), Nr.40660/08 u.a. = EuGRZ 2012, 278, Z. 108ff.; EGMR, 7.2.2012 (GK), Axel Springer AG./. GER, Nr. 39954/08 = EuGRZ 2012, 294, Z. 89ff.; EGMR. 19.9.2013, von Hannover./. GER (Nr. 3), Nr. 8772/10 = EuGRZ 2014, 43, Z. 46; EGMR, 19.2.2015, Ernst August von Hannover./. GER, Nr.53649/09 = ÖJZ2016, 861, 2.48; EGMR, 19.2.2015, Bohlm .1. GER, Nr. 53495/09 = EuGRZ 2016, 17, Z. 49; EGMR. 10.11.2015 (GK), Coudercu. Hachem Filipacchiksocib ./. FRA, Nr. 40454/07, Z. 93; EGMR, 27.6.2017 (GK), Salllkunnan Markkinapömi 0y u. Satarrudia 0y ./. FIN, Nr.931/13, Z. 165; EGMR, 27.6.2017 (GK), MediJis lslamske ZAjednice Brcko u. a. ./. BIH, Nr.17224/11, Z. 88; EGMR, 19.10.2017, D . ./. GER. Nr.35030/13, 2.39; EGMR, 19.10.2017, Fuchsmann./. GER, Nr.71233/13, Z.33; EGMR. 28.6.2018, M. L. u. W. W. ./. GER, Nr. 60798/10 u. a., Z. 95; EGMR, 4.5.2019, Mityanin u. Leonov ./. RUS, Nr. 11436/06 u. a., Z. 115 ff. Vgl. EGMR, 13.1.2011, Hojferu. Annm ./. GER, Nr. 397/07 u. a., Z. 45, 48, wonach Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte eines Abcreibungsantes miccels Flugblättern mit dem Text "Damals: Holocaust/ heute: Babycaust" vor allem wegen des historischen und sozialen Kontextes der Aussage als sehr schwere Eingriffe zu werten sind. EGMR, 21.10.2010, Polanco Toms u. Movilla Polanco ./. ESP, Nr. 34147/06, Z. 40ff., 52; EGMR, 3.5.2011, Sipoi ./. ROM, Nr. 26125/04, Z. 30ff.; zu den geänderten Anforderungen durch das Internet vgl. Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz in der digitalen Ära: Neue Signale aus Straßburg, FS Karl, 2012, S. 77 (84ff.). EGMR, 11.3.2014,/eli'roar u. a. ./. SLO, Nr. 47318/07, Z. 33ff. EGMR, 16.7.2013, Wegrzynowski u. Smol.cuwski ./. POL, Nr. 33846/07, Z. 58f., 65.
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§ 22. Rechte der Pmon
und Schmerzensgeld wegen der unrechtmäßigen Veröffentlichung persönlicher Daten nimmt der EGMR auf gewisse finanzielle Standards Bedache, die auf der jeweiligen ökonomischen Situation der Micgliedscaacen beruhen. Wenn dies zur Abschreckung vor Begehung oder Wiederholung eines Missbrauchs der Pressefreiheit geboren ist, kann sich im Einzelfall allerdings die Festlegung von Obergrenzen für den Ersatz eines immateriellen Schadens als unvereinbar mir der scaaclichen Schutzpflicht nach Are. 8 erweisen. 423 Zum Schutz besonders sensibler Daten ergibt sich aus Are. 8 insbesondere auch die scaacliche Verpflichtung, positive Maßnahmen zur Verhinderung der Einsichtnahme durch unbefugte Dritte zu ergreifen. 424 Auch in den Entscheidungen, die eine Beeinträchtigung des Privatlebens durch Flug- 64 länn oder Umweltverschmutzung annehmen, hat der EGMR aus Are. 8 positive Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten abgeleitet. 425 Sie ergeben sich aus dem Recht auf Wohnung, das der Staat auch gegen Eingriffe durch Dritte zu schützen hat. So muss ein Staat zum Schutz der Rechte seiner Bürger angemessene Lärmvermeidungs- und Lärmschurzmaßnahmen und Maßnahmen zum Schutz vor Umweltverschmutzungen creffen. 426 Ob eine Schurzpflichc des Staates begründet wird, hänge vom Ausmaß der Belästigung ab. 427 Bei der Beurteilung, ob einem Staat eine Verletzung von Are. 8 vorgeworfen werden kann, komme es darüber hinaus darauf an, ob die konkreten Umstände bereits über einen längeren Zeitraum bekannt waren oder plötzlich aufgetreten sind; ob der Staat davon wusste oder hätte wissen können, dass das Risiko oder die Belästigung Einfluss auf das Privatleben der Person hatte; in welchem Umfang die betroffene Person selbst für die Situation verantwortlich war und ob sie die Situation ohne kostspieligen Aufwand selbst beseitigen hätte können. 428 In die Abwägung mit den Interessen der Betroffenen kann die wirrschafcliche Entwicklung eines Landes mit eingestellc werden, 429 so dass der Verpflichtung zur Abwehr von Lärmimmissionen wiederum Grenzen gesetzt werden. 430 Welche Maßnahmen im Einzelnen zu ergreifen sind, liege auch in Fällen einer vorangegangenen Verletzung einer aus An. 8 resultie423
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EGMR, 25.11.2008, Biriuk ./. LTU, Nr. 23373/03, Z. 45f. u. EGMR, 25.11.2008, Armonirne ./. LTU, Nr. 36919/02, Z. 45 f. (Veröffenclichung von Gesundheitsdaten der Bf. in einer Tageszeitung); s. auch EGMR. 5.7.2011,Avram u. a. ./. MDA, Nr. 41588/05, Z. 40, 43. EGMR. 17.7.2008, l ./. FIN, Nr. 20511/03, Z. 38/f. Vgl. Vi$ger, Rn. 666; Beyerlin, Umweltschurz und Menschenrechte, ZaöRV 65 (2005), 528. Neben Schutzmaßnahmen können auch Verfahrensrechte aus Art. 8 folgen, EGMR, 10.11.2004, Ta/Irin u. a. ./. TUR, Nr.46117/99, Z. 118/f.; EGMR, 7.4.2009, BrdndU/e.l. ROM, Nr. 6586/03, Z. 68ff. EGMR, 21.2.1990, PoweU u. Rayner.l. GBR, Nr. 9310/81, Z. 41 u. 45; EGMR, 9.12.1994, Ldpez Dura./. ESP, Nr. 16798/90, Z.51; EGMR, 8.7.2003 (GK), Hatton u.a. ./. GBR, Nr.36022/97 = ÖJZ 2003, 73, Z. 98; EGMR, 16.11.2004, Morroo Gomez ./. ESP. Nr.4143/02, Z. 58/f.; EGMR, 9.6.2005, Fadeyeva .1. RUS, Nr. 55723/00, Z. 89ff.; EGMR. 20.5.2010, O/uii ./. CRO, Nr. 61260/08, Z. 45; EGMR, 9.11.2010, Dds .1. HUN, Nr. 2345/06, Z. 21; vgl. auch Svaby. in: de SalviaNilliger, S. 221 ff.; Schmidt-Raruftldt, ökologische Menschenrechte, 2000, S. 95 ff. EGMR, 25.11.2010, Mileva u.a. ./. BUL, Nr.43449/02 u.a., Z.90; EGMR, 14.2.2012, Hardyu. Maile ./. GBR, Nr. 31965/07, Z. 188; EGMR, 13.7.2017.]ugheli u. a. ./. GEO, Nr. 38342/05, Z. 62. EGMR, 10.2.2011, Dubetska u. a. ./. UKR. Nr. 30499/03, Z. 108. EGMR, 21.2.1990, PoweUu. Rayner.l. GBR, Nr. 9310/81, Z.41 ff.; EGMR. 9.12.1994, Lopn Ostra ./. ESP, Nr. 16798/90, Z. 58; EGMR, 8.7.2003 (GK), Hatton u. a. ./. GBR, Nr. 36022/97 = ÖJZ 2003, 73, Z. 126. Vgl. Desgagne, AJIL 89 (1995), 276; Hobe/Giesecke, Zur Vereinbarkeit von nächclichem Fluglärm mir Artikel 8 EMRK. ZLW 2003, 501 (504 ff.). Kky-Stru/1.er, EuGRZ 1995, 513.
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3. Teil Die Garantien tkr EMRK
renden Schutzpflicht im Ermessen des Mitgliedstaates. 431 Auch in einem Fall betreffend einen Eingriff in das Recht auf Achtung der Wohnung durch Emissionen aus einer Mobilfunkanlage hat der EGMR eine grundsätzliche staatliche Schutzpflicht angenommen. Angesichts der Tatsache, dass es keine wissenschaftlichen Belege über gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Mobilfunkanlagen gebe, gesteht er dem Staat aber einen weiten Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Ergreifung von Schutzmaßnahmen zu. 432 Müssen Angehörige einer Minderheit (Roma), nachdem ihre Häuser (unter Beteiligung staatlicher Organe) organisiere in Brand gesetzt und sie selbst vertrieben wurden, als Folge jahrelanger Untätigkeit der staatlichen Behörden unter völlig unangemessenen Bedingungen (z. B. in Ställen und Kellern) leben, liegt eine Verletzung staatlicher Gewährleistungspflichten im Hinblick auf die Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung vor. 433
65 Aus der Verpflichtung zur Achtung des Familienlebens folgen ebenfalls positive Handlungspflichten des Staates. Ein wesentlicher Anwendungsfall ist die Pflicht zur Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern, die aus Are. 8 und Art. 14 EMRK folgt. Der Staat muss das innerstaatliche Familienrecht so ausgestalten, dass aus der Unehelichkeit 434 oder Adoption 435 eines Kindes keine Nachteile (etwa erbrechtlicher Natur) oder Diskriminierungen des Kindes und seiner Familie entstehen. Obwohl aus Art. 8 kein Recht aufAdoption abgeleitet werden kann, kann sich im Einzelfall die staatliche Verpflichtung ergeben, Entstehung und Entwicklung familiärer Beziehungen rechclich anzuerkennen. 436 Wenn Staaten zudem - über ihre Verpflichtung nach Art. 8 hinausgehend - ein Adoptionrecht einräumen, dürfen bei dessen Anwendung keine diskriminierenden Maßnahmen vorgenommen werden. 437 Staaten dürfen die Stiefkindadoption grundsätzlich auf verheiratete Paare beschränken, da sich gleichgeschlechcliche Paare nicht in einer vergleichbaren Sitacion befinden. 438 Ist EGMR, 9.12.1994, Ldpez Ostra./. ESP, Nr.16798/90, Z. 51; EGMR, 9.6.2005, Fadeyroa ./. RUS, Nr. 55723/00, Z.105; EGMR, 12.5.2009, Gmnpea.cee.v. u.11. ./. GER, Nr. 18215/06 = NVwZ 2011, 93; vgl. Hmnga, Private Life and ehe Proteccion of ehe Environment, MJ 1995, 196 (203). Allerdings verlangt der EGMR, dass bestehende Regelungen zum Schutz vor Lärm auch tatsächlich umgesetzt werden, EGMR, 16.11.2004, Moreno GtJmn ./. ESP. Nr. 4143/02, Z. 61. 432 EGMR, 17.1.2006, Luginbühi.l. SUI, Nr. 42756/02 = RdU 2006, 201. 433 EGMR. 12.7.2005, Moldovan u. 11. (Nr. 2) ./. ROM, Nr. 41138/98 u. a., Z. 102ff. 04 Vgl. EGMR, 13.6.1979, Marckx ./. BEL, Nr.6833/74 = EuGRZ 1979, 454, Z.45; EGMR, 18.12.1986,johnsron u.11. ./. IRL, Nr.9697/82 = EuGRZ 1987, 313, Z.74; EGMR. 8.7.2003 (GK), Sommerfeld./. GER, Nr.31871/96, Z.86; EGMR, 7.4.2009, Tumali ./. TliR, Nr.4914/03, Z.46. m EGMR. 3.5.2011, Ntgripontis-Giannisis ./. GRE, Nr. 56759/08, Z. 82. 436 EGMR. 13.12.2007, Emonet u.11. ./. SUI, Nr.39051/03 = FamRZ 2008, 377, Z.66 (Adoption durch den Lebensgefährten der Kindesmurcer); EGMR, 27.4.2010, Morrtti u. Bmedetti ./. ITA, Nr. 16318/07, Z.47ff.; EGMR, 20.7.2010, Dadouch ./. MLT, Nr.38816/07, Z.48; vgl. EGMR, 4.10.2012, Harroudj ./. FRA, Nr. 43631/09, Z. 47f. m EGMR. 22.1.2008 (GK), E. B. ./. FRA. Nr. 43546/02 = NJW 2009, 3637, Z. 49 (Adoption durch eine homosexuelle Frau); vgl. bereits EGMR, 26.2.2002, Frette./. FRA, Nr.36515/97, Z.32; Bracken, Unreasonable lntolerance: Arcide 14 as ehe Basis ofSexual Orientacion and Gender ldenticy Refugee Claims unter ehe European Convention on Human Rights, EHRLR 2017, 455 (463ff.). S. auch Grigol.o, Sexualicies and ehe ECHR: lnrroducing ehe Universal Sexual Legal Subjea, EJIL 2003, 1023 (1038). 438 EGMR. 15.3.2012, Gas u. Dubois ./. FRA, Nr.25951/07 = NJW 2013, 2171, Z.68; EGMR, 19.2.2013 (GK), X u.a. ./. AUT, Nr.19010/07 = NJW 2013, 2173, Z. 106, 136; EGMR. 7.5.2013, Boecktl u. Gmner-Boeckel ./. GER, Nr. 8017/11 = EuGRZ 2013, 668, Z. 28; s. näher 4Jt
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§ 22. Rechte der Person
jedoch eine Stiefkindadoption für unverheiratete heterosexuelle Paare möglich, so muss dies auch unverheirateten homosexuellen Paaren ermöglicht werden. 439 Eltern haben durch Art. 8 ein Recht darauf, dass der Staat Maßnahmen ergreift, um ein zukünftiges Zusammenleben mit dem Kind zu ermöglichen. 440 Dies gilt auch bei Streitigkeiten der Eltern über das Besuchs- und Aufenthaltsrecht des Kindes, wobei eine fehlende Kooperation der getrennten Eltern die Behörden nicht von den positiven Pflichten aus Art. 8 entbindet. Die Behörden sind zur Ergreifung konkreter Maßnahmen verpflichtet, um die widerstreitenden Interessen der Eltern in Einklang zu bringen, wobei die Interessen des Kindes den Interessen der Eltern vorgehen können. 441 Auch in den Fällen, in denen ein Kind in einer Einrichtung der öffentlichen Fürsorge untergebracht ist und der Kontakt mit den Eltern das Kindeswohl gefährden würde, sind die Behörden verpflichtet, alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um das Familienleben zu unterstützen. Auch hierbei ist ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen der Eltern und jenen der Kinder zu schaffen. 442 In Fällen einer Adoption von Kindern noch lebender Eltern sind die nationalen Behörden verpflichtet, vor Genehmigung einer sog.,, Volladoption", bei der ein vollständiger Abbruch der Beziehungen des Kindes zu seinen leiblichen Eltern stattfindet, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Beziehung zwischen leiblichen Eltern und Kindern aufrechtzuerhalten. 443 In Fällen, in denen der biologische und der rechtliche Vater nicht dieselbe Person ist, verpflichtet Art. 8 die Mitgliedstaaten, zu prüfen, ob es mit dem Kindeswohl vereinbar ist, wenn dem biologischen Vater erlaubt wird, eine Beziehung - etwa im Wege von Besuchsrechten - aufzubauen. Dementsprechend darf der biologische Vater nicht vollständig aus dem Leben des Kindes ausgeschlossen werden, es sei denn, es sprechen wichtige Gründe des Kindeswohls dafür. 444 Der ein Umgangs- und Auskunftsrecht begehrende biologische Vater hat auch keinen Anspruch auf Vaterschaftsfeststellung, sofern schon die Klärung dieser Vorfrage das Kindeswohl beeinträchtigt. 445 An. 8 verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, dem biologischen Vater ein Recht auf Anfechtung der rechtlichen Stellung des gesetzlichen Vaters zu gewähren. 446 Aus Art. 14 i. V. m. Art. 8 kann kein Gebot abgeleitet werden, homosexuellen Paaren 66 das Eingehen einer Ehe zu ermöglichen. Der EGMR verweise jedoch auf einen interLebm, Le „oui" fran~s au mariage homosexuel et le principe d'egalite: de la souverainete du legislareur quanr a l'opportunire de la rcforme au conrröle renforcc du juge quanr a ses dfers, RTDH 2014, 253 (271 f.); Tobin, The European Court of Human Rights' lnconsistenc and lncoherenc Approach to Second-Parenc Adoption, EH RLR 201 7, 59 ff. 09 EGMR, 19.2.2013 (GK), X. u. a . ./. AUT, Nr. 19010/07 = NJW 2013, 2173, Z. 105ff.; s. zum Verhältnis der Ent5cheidung zur Rspr. des BVerfG Maierhöfer, Homosexualität, Ehe und Gleichheit: Ein Missverständnis im Dialog der Gerichte, EuGRZ 2013, 105 ( 107 ff.). 440 S. hierzu auch Mathieu, RTDH 2013, 50ff. -wi EGMR, 27. 9.2011, Diamante u. Pelliccioni ./. SMR, Nr. 32250/08, Z. 173, 176; EGMR, 15.1.2015, M.A . .!. AUT, Nr. 4097/13 = ZÖR 2016, 700, Z. 105f., 132. -wi EGMR, 7.7.2014, T. ./. CZE, Nr.19315/11, Z. 123f. 4 EGMR, 21.1.2014,Zhou.l. ITA, Nr.33773/11, Z.49, 59. 444 Vgl. EGMR, 15.9.2011, Schneider./. GER, Nr. 17080/07 = EuGRZ 2011, 565, Z. 103f.; s. hierzu Hähnchen, JZ 2015, 709. 445 EGMR, 26.7.2018, Fröhlich./. GER, Nr. 16112/15, Z. 57ff. -wo EGMR, 22.3.2012, Kauraor ./. GER, Nr. 23338/09 = NJW 2013, 1937, Z. 76f.; EGMR, 22.3.2012,AhrenJ ./. GER, Nr. 45071/09 = ÖJZ 2015, 921, Z. 74.
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3. Teil Die Garantien der EMRK
nationalen Trend zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschafcen.447 Bei der Einführung eines alternativen Rechtsinstituts zur rechtlichen Anerkennung homosexueller Partnerschaften steht den Mitgliedstaaten ein Beurceilungsspielraum hinsichtlich dessen näherer Ausgestaltung zu. 448 Wenn ein Staat ein solches Rechtsinstitut, wie etwa eine eingetragene Partnerschaft, zusätzlich zur Ehe zur Verfügung stelle, muss er es jedenfalls auch für gleichgeschlechtliche Paare zugänglich machen. 449 Es stelle jedoch keinen Verstoß gegen Are. 14 i. V. m. Are. 8 dar, wenn verschiedengeschlechtlichen Paaren der Zugang zur eingetragenen Partnerschaft verwehre
wird. 450 Im Fall O/iari leitete der EGMR aus An. 8 eine positive Verpflichtung ab, homosexuellen Paaren einen rechdichen Rahmen zur Verfügung zu stellen, der auf die rechdiche Anerkennung und den Schurz homosexueller Paare in einer scabilen Partnerschaft gerichtet ist. 451
b) Gewährleistungspflichten bei Organisation und Verfahrensgestaltung
67 Aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens folgen bestimmte Verfahrensgarantien. 452 Auch wenn Art. 8 keine ausdrücklichen verfahrensrechtlichen Anforderungen enthält, müssen Entscheidungsfindungsprozesse, die zu Eingriffen in die von Art. 8 geschützten Rechte fuhren, fair sein und die geschützten Rechtsgüter achten. 453 Ein wesentlicher Grund für die Ableitung von besonderen Verfahrensrechten aus An. 8 liege in dem Umstand, dass Verfahren in diesem Bereich häufig zu irreversiblen Entscheidungen führen. 454 Um den Schutz des Privatlebens des Einzelnen zu rechtfertigen, sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichcec, ein angemessenes Rechcsschuczsyscem einzurichten. Dieses ist im Einzelfall so umzusetzen, dass der Schutz z. 8. vor Gewalttaten durch Dritte gewährleistet ist. 455 In Fällen, in denen Dritten Rassismus vorgeworfen wird, sind die Be-
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EGMR, 21.7.2015, O/iari u. a. ./. ITA, Nr. 18766/11 u. a. = ÖJZ 2016, 859, Z. 178; s. auch Fmwick, Same-sex Unions at ehe Scrasbourg Coun in a Divided Europe: Driving Forward Reform or Protecting ehe Coun's Authority via Consensus Analysis?, EHRLR 2016, 248/f. EGMR, 24.6.2010, Schalk u. Kopf./. AUT, Nr.30141104, Z.49 bis 64, 101, 108; EGMR, 15.3.2012, Gas u. Dubois ./. FRA, Nr.25951107 = NJW 2013, 2171, Z.66; EGMR, 19.2.2013 (GK), X u.a. ./. AUT, Nr.19010107 = NJW 2013, 2173, Z.104, 106; EGMR. 7.11.2013 (GK), VaUianato1 u.a. ./. GRE. Nr.29381/09 u.a. = DÖV 2014, 125, Z.91; EGMR, 21.7.2015, O/iari u. a. ./. !TA, Nr. 18766/11 u. a., Z. 192. EGMR, 7.11.2013 (GK), Val/ianato1 u. a. ./. GRE, Nr. 29381/09 u. a. = DÖV 2014, 125, Z. 92. EGMR, 26.10.2017, Ratunböck u. Sryd/.1. AUT, Nr. 28475/12 = ZÖR 2018, 898, Z. 42. EGMR, 21.7.2015, O/iari u. a. ./. ITA, Nr.18766/11 u.a. = ÖJZ 2016, 859, Z. 165, 177, 185; vgl. auch EGMR, 14.12.2017, Orlaruii u. a. ./. ITA, Nr. 26431/12 u. a., Z. 1921f S. hierzu auch Brötel, Familienleben, S. 163 ff. EGMR, 8.7.1987, W. ./. GBR, Nr. 9749/82, Z. 62; EGMR, 9.5.2003, Covez.zi u. Morsel/i ./. !TA, Nr.52763/99, Z.133; EGMR, 22.1.2013, UJ.Jhin ./. RUS, Nr.33117102, Z.81; EGMR, 19.2.2013, B. ./. ROM (Nr.2), Nr.1285103, Z.112; EGMR, 27.5.2014, Buch1 ./. SUI, Nr. 9929/12, Z. 53; EGMR, 3.6.2014, lopez Guio ./. SVK, Nr. 10280/12, Z. 94; s. auch IK-Wildhaber!Brei1rnmo1er, An. 8 Rn. 396ff. EGMR, 8.7.1987, W. ./. GBR, Nr.9749182, Z.62; EGMR, 8.7.1987, H. ./. GBR, Nr.9580181, Z.89. EGMR, 16.10.2008, Ta/iadouou u. Stylianou ./. CYP, Nr. 39627105 u. a., Z. 50; EGMR, 5.3.2009, ]ankovic ./. CRO, Nr.38478/05, 2.45; EGMR, 17.1.2017, Kirdly u. Dömötör ./. HUN, Nr. 10851113 = ÖJZ 2018, 1002, Z.60; EGMR. 25.6.2019 (GK), Nicolae Virgiliu Tänase ./. ROM, Nr.41720113, Z. 127.
348
§ 22. Rechte tkr Person
hörden verpflichtet, alle angemessenen Schritte zu unternehmen, um rassistische Motive aufzudecken und allenfalls zu ahnden. 456 Aus Art. 8 kann weiter eine Pflicht des Staates abgeleitet werden, die konventions- 68 rechtlich garantierten Rechte des Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens gegen den Arbeitgeber zu schützen. Dies gilt insbesondere, wenn dieser eine marktbeherrschende Stellung hat. Weiter muss ein angemessener staatlicher Rechtsschutz eröffnet werden, der dem Arbeitnehmer im Einzelfall die Möglichkeit gewährt, mit Hilfe eines staatlichen Verfahrens die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen oder Verhaltensweisen des Arbeitgebers, die ihn belasten, überprüfen zu lassen. 457 Im Fall Biirbukscu stellte der Gerichtshof durch die gerichtliche Bestätigung einer Kündigung eines Arbeitnehmers aufgrund unerlaubcer privacer Internetnutzung eine Verlerzung der positiven VerpAichcungen des Staates fest. Encscheidend dafür war, dass die innema.atlichen Gerichce nach Auffassung des Gerichcshofes keinen fairen Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen getroffen hauen, da sie nicht überprüft hacten, ob der Arbeitnehmer vorab über die Möglichkeic der Überwachung informiert wurde, und weder das Ausmaß der Überwachung noch die Möglichkeit weniger intensiverer Eingriffe ermictelt wurden. ◄ S& Die in diesem Urteil angeführten Faktoren für die Abwägung der Interessen (Vorabinformation über Maßnahmen, Umfang der Überwachung und Schwere des Eingriffs, Begründung der Überwachung, Möglichkeit weniger intensiverer Eingriffe, angemessene Sicherheitsvorkehrungen und Folgen der Überwachung) wurden auch im Fall lopez Riba/.da herangezogen, in dem es um die Bestätigung einer Entlassung aufgrund von geheim erlangten Videoaufzeichnungen ging. In diesem Fall haccen die nationalen Gerichte einen fairen Ausgleich gefunden und Are. 8 nicht verlerzr. ◄ s 9 Die Fälle Obst und Schüth betrafen die Kündigung von Kirchenangestellcen aufgrund von Handlungen, die dem Privacleben zuzuordnen waren. Der eine Beschwerdeführer war Gebiecsdirekcor der Mormonenkirche für Offenrlichkeicsarbeic in Europa, der andere Beschwerdeführer war Organist und Chorleiter einer katholischen Pfarrgemeinde. Beiden wurde auf Grund einer außerehelichen Beziehung gekündigt. Der EGMR stellte fest, dass in solchen Fällen die lnreressen sowohl des kirchlichen Arbeitgebers als auch des Arbeitnehmers zu berücksichtigen seien und daher einer Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechcsposirionen, dem Recht auf Selbstbestimmung der Kirchen und dem Schurz der freien Encfalcung des Beschwerdeführers, vorzunehmen sei. 460 Eine Abwägung der beiden Grundrechtspositionen harre der EGMR auch im Fall Ferndndez Martfnez vorzunehmen, nachdem einem staatlich angestellten Religionslehrer wegen öffentlich geäußerter Bedenken gegen die Regeln der Religionsgemeinschaft die Lehrbefugnis enrzogen wurde. Der EGMR scellce dabei fest, dass wegen der freiwillig eingegangenen LoyalicärspAichc zur Kirche das Reche auf Achtung des Privatlebens in einem gewissen Maß eingeschränkt werde. 461 Im Fall ihsan Ay sah der EGMR in der Abweisung der Anfechtung einer Kündigung eines Lehrers, die sich auf eine bereits aus dem Strafregister gelöschte Verurteilung scürzce, eine Verletzung von Are. 8. Im Zuge der Verhältnismäßigkeicsprüfung kam der EGMR zu dem Schluss, die nationalen Behörden häccen nicht präzisiert, welches spezifische Vergehen ◄S6 EGMR, 12.4.2016, R. B. ./. HUN, Nr.64602/12, Z. 83. m EGMR, 23.9.2010, Obst./. GER, Nr.425/03 = EuGRZ 2010, 571. Z.391f.; EGMR, 23.9.2010, Schüth ./. GER, Nr. 1620103 = EuGRZ 2010, 560, Z. 53ff.; Grabmwamr, Kirchliches Arbeicsrecht und Menschenrechcskonvenrion, FS Jaeger, 2011, S. 639 (645). m EGMR. 5.9.2017 (GK), Biirbukscu ./.ROM.Nr. 61496/08 = ÖJZ 2018, 1002, Z. 133ff. 459 EGMR. 17.10.2019 (GK), Loprz Riba/.da u. a. ./. ESP. Nr. 1874/13, Z. 1161f. ~ EGMR, 23.9.2010, Obst./. GER, Nr.425/03 = EuGRZ 2010, 571, Z.43; EGMR, 23.9.2010, Schüth ./. GER. Nr. 1620103 = EuGRZ 2010, 560, Z. 57; s. dazu Ri.rini!Böhm, Straßburg und das kirchliche Arbeicsrecht, DVBI. 2011, 14; zur Behandlung der Nichterneuerung eines Beschäftigungsverhältnisses als Eingriff in das Recht auf Achcung des Privatlebens vgl. EGMR, 12.6.2014 (GK), Ferruin.dri. Martinez ./. ESP, Nr. 56030107 = NZA 2015, 533, Z. l l 5f. 461 EGMR, 12.6.2014 (GK), Femdndez Martlnez ./. ESP. Nr. 56030107 = NZA 2015, 533, Z. 140f.; s. auch EGMR. 4.10.2016, 1ravai.l. CRO. Nr. 75581113 = ÖJZ 2017, 805, Z. 92ff.
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3. Teil Die Garantien der EMRK dem Beschwerdeführer vorgeworfen wurde. 462 Der EGMR stellte weiter fest, dass die Ablehnung der Klage vor den nationalen Gerichcen nicht begründet worden sei, obwohl es sich hierbei um eine wesentliche Verfahrensgarantie handle, die den Parteien zeige, dass ihr Vorbringen gehört wurde, ihnen die Möglichkeic gebe, gegen eine Entscheidung ein Rechcsmittel zu ergreifen, und dazu diene, die Entscheidung der Öffendichkeit gegenüber zu rechtfertigen. 463
69 Gerade im Rahmen der Achtung des Familienlebens sind die Vertragsstaaten verpflichtet, ihre Behörden und Bediensteten den Vorgaben der Konvention entsprechend zu organisieren und auszubilden. In einer derart sensiblen und intimen Angelegenheit wie dem Tod eines nahen Angehörigen hat der Staat ein besonderes Maß an Sorgfalt und Umsicht walten zu lassen. 464 Die Mitgliedstaaten sind nicht dazu verpAichtet, gesetzliche Regelungen über die Unwürdigkeit von Erben zu erlassen. 465 An. 8 ve~pAichtet die nationalen Gerichte, in Fällen der Rückführung eines Kindes nach dem Haager Übereinkomen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) effektiv zu prüfen und in der Entscheidung darzulegen, ob die Rückführung mit einer schwerwiegenden Gefahr (,.grave risk"/.,risque grave") für das Kind verbunden ist. 466 Aus An. 8 folgt ein Recht aufZugang zu Gericht in familienrechtlichen Angelegenheiten, das allerdings unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden darf. Dabei obliegt es dem Staat, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes, den Interessen der Eltern und der öffentlichen Ordnung herzustellen. 467 Grundsätzlich zulässig ist es demnach, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Feststellung der Vaterschaft durch Normierung von Verjährungsfristen zu begrenzen. 468 Die Festsetzung starrer Fristen, ohne den Behörden die Möglichkeit einzuräumen, auf die Umstände des Einzelfalls Bedacht zu nehmen, ist jedoch unverhälmismäßig. 469 In diesem Zusammenhang erkennt der EGMR einen Trend in den Mitgliedstaaten, das Recht des Kindes auf elterliche Zugehörigkeit stärker zu schützen. 470 Keinen gerechcen Ausgleich zwischen den Interessen sah der EGMR in einem Verfahren zur rechtlichen Feststellung der Vaterschaft gegeben, in dem der vermutliche Vater keine Möglichkeit harte, sich am Verfahren zu beteiligen. 471 Als ebenso unverhältnismäßig qualifiziert es der EGMR, wenn es einem Mann wegen einer gesetzlichen Vermutung der Vaterschaft entgegen wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse
462
463 464
465 466
467
4611
469
470
471
EGMR, 21.1.2014, ihsan Ay.l. TUR, Nr. 34288/04, Z. 38. EGMR, 21.1.2014, ihsan Ay.l. TUR, Nr. 34288/04, Z. 39f. EGMR, 14.2.2008, Haari-Vionnrt ./. SUI, Nr. 55525/00, Z. 56; s. auch EGMR, 24.4.2018, LoZ,0vyyr ./. RUS, Nr. 4587/09 = ÖJZ 2019, 649, Z. 38. EGMR, 1.12.2009, \.-i-laa u. Mazarr ./. ROM, Nr. 64301/01, Z. 129. EGMR, 26.11.2013 (GK), X.!. LAT, Nr. 27853/09, Z. 107, 115. EGMR, 26.11.2013 (GK), X ./. LAT, Nr. 27853/09, Z. 95; EGMR, 15.7.2014, Tsvnrlin Prtkov ./. BUL. Nr. 2641/06, Z. 53. EGMR, 24.11.2005, Shofman ./. RUS, Nr. 74826/01, Z. 39; EGMR, 12.1.2006, Mizzi ./. MLT, Nr.26111/02 = EuGRZ 2006, 129, Z. 83; EGMR, 29.1.2013, Röman ./. FIN, Nr. 13072/05, Z. 50, 57; EGMR, 3.4.2014, Konstantinidis ./. GRE, Nr. 58809/09, 2.46; vgl. EGMR, 18.2.2014, A.L ./. POL, Nr. 28609/08, Z. 78. EGMR, 20.12.2007, Phinikaridou .!. CYP, Nr. 23890/02, Z. 62f.; EGMR, 6.7.2010, Back/und./. FlN, Nr. 36498/05, Z. 56. EGMR, 29.1.2013, Röman ./. FIN, Nr. 13072/05, Z. 57; EGMR, 3.4.2014, Konstantinidis ./. GRE, Nr. 58809/09, Z. 44. EGMR, 15.7.2014, Tsvrulin Prtkov.l. BUL, Nr. 2641/06, Z. 57f.
350
§ 22. Rechte der Person über Jahre verwehrt wird, diese vor Gericht zu bestreiren. 472 Wurde die Vaterschaft hingegen durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung festgestellt, so kann die Verweigerung einer Anfechrung der Entscheidung mit den berechtigten Interessen der Rech1ssicherhei1, der Stabilirä1 der Familienbande sowie der No1wendigkeit, die Interessen des Kindes zu schünen, gerechtfertigt werden. Im Fall Ostaa sah der Gerichtshof dennoch eine Verlcrzung von An. 8, da alle Beteiligten ein Interesse an der Richtigstellung der Familienbeziehungen hanen. 473
Daneben umfasst Art. 8 ein besonderes Recht auf angemessene Verfahrensdauer in familienrechtlichen Encscheidungen, 474 da die Länge des Verfahrens maßgebliche Auswirkung auf die Bez.iehung zwischen Eltern und Kindern zeitigen und zu einer de facto-Entscheidung der Angelegenheit führen kann. 475 Verwaltungsinterne Schwierigkeiten, die zu einer Verzögerung des Verfahrens führen, können in einem so sensiblen Bereich wie dem des Familienlebens daher nur beschränke Berücksichtigung finden. 476 Der EGMR berücksichtigt, dass die Wiederzusammenführung von Kindern, die eine Zeit lang in einer Pflegefamilie gelebt haben, mit ihren natürlichen Eltern eine gewisse Vorbereitung erfordert. Die Arr und Dauer dieser Vorbereitung hängt von den Umständen des Falls ab, macht jedenfalls aber eine aktive und verständnisvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten erforderlich. Die Behörden müssen mit allen Mitteln versuchen, eine solche Zusammenarbeit zustande zu bringen, auch wenn ihre Möglichkeiten hier begrenzt sind.m Im Fall der Entführung eines Kindes durch den nicht sorgeberechtigten Elternteil haben die Behörden alle Maßnahmen zur Vollstreckung der angeordneten Rückgabe an den sorgeberechtigten Elternteil zu veranlassen. 478 Dies kann im Einzelfall den Einsarz von Zwangsgewalt rechrferrigen. 479 472
EGMR, 24.11.2005, Shofman ./. RUS, Nr. 74826/01, Z. 36ff.; EGMR, 12.1.2006, Mizzi ./. MLT, Nr. 26111/02 = EuGRZ 2006, 129, Z. 108ff.; EGMR, 17.9.2009, Ance/ ./. TUR, Nr. 28514/04, Z.61 ff.; s. auch unten § 26 Rn. 17 ff. 473 EGMR, 25.2.2014, Ostace ./. ROM, Nr. 12547/06, Z. 43. 474 EGMR, 8.7.1987, W ./. GBR, Nr.9749/82, Z.65; EGMR, 8.7.1987, H. ./. GBR, Nr.9580/81, Z. 89f.; EGMR, 9.5.2003, Covezzi u. Morselli ./. ITA, Nr. 52763/99, Z.137f.; s. auch EGMR, 29.6.2004, Voleskj.l. CZE, Nr.63627/00, Z. l 17ff. m EGMR, 18.1.2007, Kaplan./. AlJT, Nr. 45983/99 = ÖJZ 2007, 621, Z. 32 (Verbringung des Kindes in die Türkei durch dessen Vater nach Untätigkeit der ösrerr. Behörden); EGMR, 12.7.2007, Nanning ./. GER, Nr. 39741/02, Z. 44ff. (Prüfung der verfuhrensrechdichen Aspekte allerdings unter An.6); EGMR, 1.12.2009, Eberhard u. M ./. SLO, Nr.8673/05 u.a., Z.128f.; EGMR, 22.4.2010, Macmuiy ./. CZE, Nr.4824/06 u.a., Z.65; EGMR, 22.9.2010, Stochlak ./. POL. Nr.38273/02, Z.61; vgl. EGMR, 5.2.2015, Furman ./. SLO u. AUT, Nr. 16608/09 = ZÖR 2016, 695, Z. I IOff. 476 EGMR, 13.7.2000 (GK), Scouari u. Giunta ./. !TA, Nr. 39221 /98 u. a., Z. 173 . .n EGMR, 27.11.1992, O/sson (Nr. 2) ./. SWE, Nr. 13441/87, Z. 90; EGMR, 13.7.2000 (GK), Scozzari u. Giunta ./. ITA, Nr. 39221 /98 u. a., Z. 175. 478 EGMR, 24.4.2003, Sy/vmer.l. AUT, Nr. 36812/97 u. a., Z. 59; EGMR, 5.4.2005, Monory.l. ROM, Nr. 71099/01, Z. 69ff.; EGMR, 13.9.2005, H. N. ./. POL, Nr. n710/01, Z. 76ff.; ähnlich EGMR, 13.7.2006, Lafargue ./. ROM, Nr. 37284/02, Z. 104 (Unterlassen geeigneter staatlicher Maßnahmen zur Durchsenung des Rechts des Vaters auf persönlichen Kontakt zu seinem Sohn gegen den Widerstand der Mutter). Die diesbezüglichen aus An. 8 abgeleiteten Schurzpflichten des Staates sind im lichte des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung von 1980 (HKÜ) zu interpretieren, EGMR, 25.1.2000, Ignacco/o-Zmuk ./. ROM, Nr. 31679/96, Z. 95; EGMR, 24.4.2003, Sylvester./. AUT, Nr. 36812/97, Z. 57; EGMR, 6.11.2008, Carlson ./. SUI, Nr.49492/06, Z. 74ff.; s. EGMR, 27.7.2006, losub Cara.s ./. ROM, Nr. 7198/04, Z.33ff.; EGMR, 21.9.2017, St'vere.l. AUT, Nr. 53661/15 = ZÖR2018, 891, Z. 99, 116( Das rumänische Justizministerium als "zentrale Behörde" i. S. v. An. 6 H KÜ unterließ im gegenständlichen Fall die von An. 16 HKÜ geforderte Mitteilung an die rumänischen Gerichte, die in der Folge rron anhängigen Verfahrens nach dem Übereinkommen über das Sorgerecht des Kindes entschieden. Zudem stellte die Verfahrensdauer von mehr als 18 Monaten einen Verstoß gegen die von Art. 11 H KÜ geforderte „geborene Eile" dar (Z. 38 f.). 479 EGMR, 6.12.2007, Maumousuau u. a. ./. FRA, Nr. 39388/05, Z. 85.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK Die Pflicht des Staates zur Durchsetzung von umgangsrechclichen Entscheidungen ist jedoch nicht absolut; der Umstand, dass die Bemühungen der Behörden erfolglos blieben, fuhrt nicht automatisch zur Annahme einer Verletzung von An. 8. Unter Berücksichtigung eines Beurteilungsspielraums des Staates wird vielmehr geprüft, ob ein fairer Ausgleich zwischen den kollidierenden Interessen gefunden wurde. 480 Dabei muss berücksichtige werden, dass das Kindeswohl Vorrang genießt und die Ziele der Vorbeugung und sofortigen Rückkehr zum spezifischen Konzept des „vorrangigen Kindeswohls" gehören. 481 Die Auferlegung von Ordnungsstrafen bei der Verweigerung von Umgangskontakten mit dem Kind befreit die nationalen Behörden nicht von ihrer Pflicht, alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um den Umgang mit dem Kind zu ermöglichen. 482 70 Neben dem Erfordernis des raschen Behördenhandelns zum Schutz vor Entfremdung des Kindes kann sich auch aus der staatlichen Schuczpflicht vor einem gewalttätigen Elternteil die Verpflichtung ergeben, vor der förmlichen Entscheidung einstweilige Regelungen des Sorgerechts zu treffen. 483 Ferner gewährleistet An. 8 den Betroffenen ein Recht, in den Entscheidungsprozess als Ganzes hinlänglich eingebunden zu sein. 484 Insofern hat der EGMR in Verfahren über die Entziehung des Sorgerechts bzw. über das Umgangsrecht mit den Kindern oder über Fürsorgefragen besondere Verfahrensrechte der Eltern festgestellt. Aus der Notwendigkeit, die betroffenen Belange hinreichend zu würdigen, kann sich auch eine Pflicht der innerstaatlichen Gerichte ergeben, psychologische Sachverständigengutachten einzuholen, um die Position des Kindes richtig beurteilen zu können. 485 Richtige und vollständige Informationen über die Beziehung des Kindes zu dem Elternteil, der sich um Zugang zu seinem Kind bemüht, bilden die unverzichtbare Grundlage einer Beurteilung der Interessen des Kindes und damit für einen Ausgleich zwischen den betroffenen Interessen. Um diese Informationen zu erlangen, können die innerstaatlichen Gerichte nach den spezifischen Umständen des konkreten Falls auch verpflichtet sein, das Kind anzuhören, insbesondere wenn ein Sachverständigengutachten keine vollständigen Informationen enthält. Zu berücksichtigen sind besonders das Alter und die Reife des betroffenen Kindes. 486
480
481
482 48l 4114
485
486
EGMR. 12.1.2006, Mihaikwa ./. BUL, Nr. 35978/02, Z. 82f.; EGMR. 13.10.2009, Costrrir ./. ROM, Nr. 31703/05, Z.69f.; EGMR, 6.12.2011, CtngizKilic.l. TUR, Nr. 16192/06, Z. 122. EGMR, 26.11.2013 (GK). X./. LAl: Nr. 27853/09, Z. 95; EGMR. 3.6.2014, Upez Guio ./. SVK, Nr. 10280/ l 2, Z. 93. EGMR. 15.1.2015, Kuppingrr ./. GER, Nr. 62198/11 = EuGRZ 2015, 368, Z. 107. EGMR, 12.6.2008, Broacqua u. S. ./. BUL, Nr. 71127/01, Z. 66ff. EGMR, 8.7.1987, W. ./. GBR, Nr. 9749/82 = EuGRZ 1990, 533, Z.64; EGMR, 13.7.2000, Eisholz ./. GER, Nr. 25735/94 = EuGRZ 2002, 595. Z. 52; EGMR. 14.1.2003, K A. ./. FIN, Nr. 27751/95, Z. l04f.; EGMR, 9.5.2003, Covezzi u. Morsrlli ./. !TA, Nr. 52763/99, Z. l37f.; EGMR, 10.4.2012, KA.B. ./. ESP, Nr. 59819/08, Z. 98; EGMR, 3.9.2015, M. u. M. ./. CRO, Nr. 10161/13, Z. 167ff. EGMR. 13.7.2000, Eisholz./. GER, Nr.25735/94 = EuGRZ 2002, 595, Z.58f. u. EGMR, 8.7.2003 (GK), Sommerfeld./. GER, Nr.31871/96, Z. 71; vgl. aber EGMR. 25.8.2009, Pokruptowicz (I) ./.GER.Nr. 11328/06; EGMR, 2.3.2010, Orhan Sarican ./. GER, Nr. 14833/08 u. a. EGMR. 8.7.2003 (GK), Sahin ./. GER, Nr. 30943/96, Z. 73; EGMR. 18.12.2008, Saviny.l. UKR. Nr. 39948/06, Z. 51; vgl. auch EGMR, 13.10.2009, Achim Bayer/./. GER, Nr. 37395/08; EGMR. 3.9.2015, M. u. M. ./. CRO, Nr.10161/13, Z.167ff.
352
.~ 22. Rechte der Person Darüber hinaus stellt eine überlange Veifahrensdauer bei der Feststellung eines Vater- 71 schaftsverhälmisses eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens insbesondere der Mutter sowie des Kindes selbst dar. Das Selbstbestimmungsrecht des Vaters, sich nicht zwingend einem DNA-Test unterziehen zu müssen, tritt insoweit hinter das Recht der Mutter und des Kindes zurück, den Zustand der Unsicherheit über die Identität des Kindes beseitigen zu können; dies ist von den staatlichen Behörden auch in diesem Sinne zu vollziehen. 487 Im Fall einer durch schweizerische Gerichte verweigerten postmortalen DNA-Abs1ammungsuntersuchung räumte der EGMR der Bedeutung der Kenntnis der genetischen Abstammung für die persönliche Identität des bereits in fortgeschrittenem Al1er befindlichen Beschwerdeführers Vorrang vor den Pie1ätsgefühlen der Angehörigen des Verstorbenen ein. 488 Der Verstorbene selbst kann hingegen nicht durch die Untersuchung in seiner rechtlich geschützten Privatsphäre verletzt werden. 489
Die Achtung des Privat- und Familienlebens verbietet auch prohibitive Trennungsverfahren für Ehegatten. Art. 8 gebietet es, einen Rechtsbehelf vorzusehen, der Ehegatten unter bestimmten Voraussetzungen von der Pflicht zum Zusammenleben befreit. 490 Nach der bisherigen Rechtsprechung des EGMR besteht aber keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Ehescheidungen und erneute Heirat zu ermöglichen.491 In Fällen, in denen sich der Beschwerdeführer einer Geschl.echtsumwandlung unterzo- 72 gen hat, stellt sich die Frage, ob den Staat eine Pflicht trifft, diese Änderung in seiner Rechtsordnung anzuerkennen. Zunächst leitete der EGMR aus Art. 8 eine Pflicht des Staates ab, in den Dokumenten des täglichen Lebens wie dem Führerschein und dem Pass die Geschlechtsänderung vorzunehmen, um es dem Betroffenen zu ermöglichen, im Alltag im Einklang mit seinem Aussehen entsprechend dem geänderten Geschlecht zu leben. 492 Ein Anspruch auf vollständige rechtliche Anerkennung bestand hingegen nach Auffassung des EGMR nicht. 493 In ausdrücklicher Abwendung von der bisherigen Rechtsprechung entschied der Gerichtshof im Jahr 2002, dass die Mitgliedstaaten die Geschlechtsumwandlung in jeder Hinsicht rechtlich anerkennen und so den Betroffenen etwa auch das Eingehen einer Ehe oder die Berechnung der Rente nach dem neuen Geschlecht ermöglichen müssten. Eine gesetzliche Regelung, die für die Anerkennung des neuen Geschlechts die verpflichtende Vornahme einer Sterilisation des Antragstellers vorsieht, verstößt aus der Sicht des Gerichtshofes gegen An. 8. 494 Ausführlich setzt sich der EGMR mit der Bedeutung der Anerkennung für den Berrof487
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491 492 493
4~
EGMR. 30.5.2006, Ebru u.a. ./. TUR, Nr.60176/00, Z.93ff.; EGMR, 7.5.2009, Ka!dchroa ./. RUS, Nr. 3451/05, Z. 32ff.; s. bereits EGMR, 15.5.2006, Thr mau of Kmtm Filtroborg Mortrmm ./. QEN, Nr.1338/03; EGMR, 14.2.2012, A.M.M. ./. ROM, Nr.2151/10, Z.64; EGMR 29.1.2019, Mifiud ./. MLT, Nr. 62257/15, Z. 61 ff. EGMR, 13.7.2006,}ä,W ./. SUI, Nr. 58757/00 = FamRZ 2006, 1354, Z. 40ff. EGMR, 13.7.2006, Jäggi ./. SUI, Nr. 58757/00 = FamRZ 2006, 1354, Z. 42; s. berei1S EGMR, 15.5.2006, Thr mau ofKmt.ro Filtenborg Mortensm ./. DEN, Nr. 1338/03. EGMR, 9.10.1979, Air,y ./. IRL. Nr. 6289/73 = EuGRZ 1979, 626, Z, 33; EGMR, 18.12.1986, Johmton u. a. ./. IRL. Nr. 9697/82 = EuGRZ 1987, 313, Z. 57. EGMR. 18. 12.1986,johmton u. a. ./. IRL, Nr. 9697/82 = EuGRZ 1987, 313, Z. 57. EGMR, 25.3.1992, B. ./. FRA, Nr. 13343/87, Z. 49ff., 63. EGMR, 17.10.1986, Rm .!. GBR, Nr.9532/81, Z. 42 ff.; EGMR, 27.9.1990, Cossry ./. GBR, Nr. 10843/84, Z. 38 ff.; EGMR, 30.7.1998 (GK), Sheffirld u. Horsham ./. GBR, Nr. 22985/93 u. a., Z. S 1 ff.; vgl. auch Vi/Jigrr. Rn. 657 ff. EGMR, 6.4.2017,A.P, Ga,ron u. Nicot ./. FRA, Nr. 79885/13 u. a. = ÖJZ 2018, 1002, Z.116ff.
353
3. Teil. Die Garantien der EMRK fenen, aber auch den Schwierigkeiten, die eine Anerkennung für die staadichen Behörden bedeutet, abwägend auseinander. Auch die Entwicklung der europäischen und internationalen Regelungen der Transsexualität wird in die Begründung.der Entscheidung mit einbezogen. 495 Da weder An. 8 noch An. 12 die Mitgliedstaaten verpflichtet, gleichgeschlechdichen Paaren einen Zugang zur Ehe zu gewähren, ist es auch nicht unverhältnismäßig, wenn als Voraussetzung fur die rechtliche Anerkennung nach einer Geschlechtsumwandlung verlangt wird, eine bestehende Ehe in eine eingetragene Partnerschaft umzuwandeln, sofern diese einen annähernd gleichen rechtlichen Schutz gewährleister. 496 Die Konvention garantiert kein Reche auf Erstattung der Kosten, die durch die Durchführung einer geschlechtsumwandelnden Operation anfallen. Eine Konventionsverletzung sah der EGMR allerdings in der starren gesetzlichen Beobachtungsfrist von zwei Jahren zur Feststellung des Vorliegens „echter Transsexualität" als Voraussetzung für den Kostenersatz, ohne dass auf das fortgeschrittene Alter des Beschwerdeführers Bedacht genommen wurde. 497 73 Besondere Verfahrensgarantien folgen nach der Rechtsprechung auch aus dem Recht auf Wohnung. Wegen der besonderen Schwere des Eingriffs, den der Betroffene bei einem Verlust seiner Wohnung erleidet, hat er grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die entsprechende staatliche Maßnahme, wie etwa eine Zwangsversteigerung, von einem unabhängigen Gericht auf ihre Verhältnismäßigkeit i. S. d. An. 8 überprüft wird. 498 ls1 der von der Zwangsvemeigerung Be1roffene geschäftsunfahig, muss wegen der besonderen Schu12bedürfcigkei1 solcher Personen die Einhaltung von An. 8 durch spezifische verfahrensrechdiche Vorkehrungen gesichen werden. 499
c) Informationspflichten
74 Auch Ansprüche auf Information können sich aus Gewährleistungspflichten nach Art. 8 ergeben. Der EGMR erkennt zwar ein legitimes Ziel des Staates an, die Vertraulichkeit der gesammelten Informationen zur Sicherung der staatlichen Verfahren, aber auch zum Schutz der Betroffenen zu sichern, 500 im Einzelfall ergeben sich aber Ansprüche aus Art. 8, die sich zum Teil aus An. 10 nicht ableiten lassen. Grundsätzlich schützt Art. 10 das Recht auf lnformation. 501 Im Fall eines Waisen, über den die Behörde höchstpersönliche Informationen und Berichte über seine Kindheit und frühe Entwicklung gesammelt hatte, nahm der EGMR allerdings einen Anspruch auf Einsicht in dieses Material aus Art. 8 an. Von Bedeutung war hier, dass
495
EGMR. 11.7.2002 (GK), / . ./. GBR, Nr. 25680/94, Z. 51 ff.; EGMR, 11.7.2002 (GK), Christinr = ÖJZ 2003, 766, Z. 71 ff.; EGMR, 11.9.2007, L. ./. LTU, Nr. 27527/03, Z. 57ff. (Erfordernis der gesenlichen Regelung von Voraus.senungen und Verfahren der Geschlech1sumwandlung); EGMR. 16.7.2014 (GK), Hämäl.iiinm .!. FIN, Nr. 37359/09 = FamRZ 2014, 1529, Z. 721[ 496 EGMR, 16.7.2014 (GK), Hämäläinm .1. FIN, Nr. 37359/09 = FamRZ 2014, 1529, Z. 71, 87, 96. 497 EGMR. 8.1.2009, Schlumpf./. SUI, Nr. 29002/06, Z. 77, 112 ff. 498 EGMR, 16.7.2009, Zehrnmer.l. AUT, Nr. 20082/02 = ÖJZ 2010, 92, Z. 59f. 499 EGMR, 16.7.2009, Zehrnmer.l. AUT, Nr. 20082/02 = ÖJZ 2010, 92, Z. 63ff. 500 EGMR, 7.7.1989, Gaskin .1. GBR. Nr. 10454/83 = EuGRZ 1987, 534, Z. 43. 501 Vgl. § 23 Rn. 6f.
Goodwin ./. GBR. Nr. 28957/95
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§ 22. Rechte der Person
die gesammelten Daten für den Betroffenen, der bei unterschiedlichen Pflegefamilien aufgewachsen war, eine Hauptinformationsquelle bezüglich seiner Vergangenheit darstellten und unzweifelhaft den Bereich des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers betrafen. 502 Im Fall Odievre sah die Große Kammer keine Verletzung des An. 8 darin, dass der Staat einem anonym geborenen und nun erwachsenen Kind den Zugang zu Daten zur Identifizierung der leiblichen Eltern verweigert hatte. Es müssten nicht nur die berechtigten Interessen hinsichtlich des Rechts auf Kenntnis der persönlichen Herkunft des anonym geborenen Kindes, sondern auch der ausdrückliche Wunsch der leiblichen Mutter auf Wahrung ihrer Anonymität angemessen berücksichtigt werden. 503 Im gänzlichen Fehlen der Möglichkeit, anonymisierte Informationen über die eigenen familiären Wurzeln zu erhalten oder die Offenlegung der Identicät der Mutcer zu beantragen, sah der EGMR eine Verletzung von Art. 8, da kein angemessener lnceressensausgleich vorgenommen werden konnte.~
Eltern kommt ein Recht auf Einsicht in die in familienrechtlichen Verfahren eingeführten Akten 505 und ein Anhörungsrecht 506 zu. ferner haben sie ein Recht auflnformation über das Beweismaterial5°7 und Stellungnahme zu diesem. 508 Selbst wenn die Eltern es nicht ausdrücklich verlangen, muss der Staat das Beweismaterial, auf das sich eine Fürsorgeentscheidung gründet, den Eltern zur Kenntnis bringen. 509 Eine Ausnahme von dieser Informationspflicht kann gelten, wenn sich hieraus eine Gefahr für das Wohl des Kindes ergeben könnte. 510 Nicht mit Art. 8 vereinbar ist zudem die rechtliche Möglichkeit der Freigabe eines Kindes zur Adoption durch die Mutter, ohne dass der Vater zumindest davon Kenntnis hat bzw. dessen Zustimmung vorliegr. 511 Wurden einer Person die Elternrechte entzogen und besteht in der nationalen Rechtsordnung die Möglichkeit, diese wiederherstellen zu lassen, so stellt das Unterlassen der Information über eine solche Möglichkeit vor einem eventuellen Adoptionsverfahren eine Verletzung von Art. 8 dar. 512
soi EGMR, 7.7.1989, Gaskin ./. GBR. Nr.10454/83
= EuGRZ 1987, 534, Z.49; vgl. auch EGMR. 24.9.2002, M. G. ./. GBR. Nr. 39393/98, Z. 28ff. so3 EGMR, 13.2.2003 (GK), Odievre ./. FRA, Nr.42326/98 = EuGRZ 2003, 584, Z.44ff.; vgl. dazu Lux- ~smn; Anonyme Geburt mit EMRK vereinbar - Der Fall Odievre, EuGRZ 2003, 555; Moser, Völkerrechtliche u~d gemeinschafcsrechcliche Implikationen der anonymen Geburt, OA 2003, 200 (205 ff.); Bonnet, L'accouchemenc sous X et la Cour europeenne des droics de l'homme, RTDH 2004, 405 (405ff.); Stürmann, Europäischer Gcrichcshof für Menschenrechte und anonyme Geburten in Frankreich, KJ 2004, 54 (59 ff.). 564 EGMR, 25.9.2012, Godelli ./. ITA, Nr. 33783/09, Z. 57f.; Anm. Bonner, RTDH 2014, 153. ;o; EGMR. 24.2.1995, McMichul.!. GBR. Nr. 16424/90, Z. 92. 506 Im E'.inzelnen s. EGMR. 8.7.1987, W. ./. GBR, Nr. 9749/82, Z. 63f. S. auch EGMR, 26.5.1994, Kergan ./. IRL. Nr. 16969/90 = EuGRZ 1995, 113, Z. 55. so7 Der Scaat har die Pflicht sich rücksichcsvoll und fair zu verhalcen und die Elcern angemessen zu informieren, wenn er durch schwerwiegende Maßnahmen in den sensiblen Bereich des Familienlebens eingreife, EGMR, 13.7.2000 (GK), Scozzari u. Giunta ./. !TA, Nr.39221/98 u.a„ Z.208; s. auch EGMR, 15.10.2009, Tsourlakis ./. GRE, Nr. 50796/07, Z. 41 ff. 508 EGMR, 20.12.2001, Buchberger./. AUT, Nr. 32899/96, Z.43f. 509 EGMR, 10. 5.2001, T. P. u. K M . ./. GBR, Nr. 28945/95, Z. 82 (bzgl. einer Videoaufnahme von der Befragung des Kindes durch Psychologen). 510 EGMR, 10.5.2001, T. P. u. KM../. GBR, Nr. 28945/95, Z. 82. 511 EGMR, 26.5.1994, Keegan ./. IRL, Nr. 16969/90 = EuGRZ 1995, 113, Z. 55. m EGMR. 8.1.2013,A. Ku. L. ./. CRO, Nr.37956/11. Z. 78.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK Eine Informationspflicht über Umweltrisiken hat der EGMR im Fall Guerra ebenfalls aus An. 8 abgeleitet, nachdem er ein Recht aus An. 10 abgelehnt hatte. 513 Bereits vor Inbetriebnahme einer industriellen Anlage sind die Anwohner demnach im Rahmen einer öffentlichen Debatte über mögliche Gefahren in Kenntnis zu setzen, die vom Betrieb ausgehen. Nach Eintritt eines UnglücksfaJls hat eine umfassende Aufklärung über dessen Auswirkungen zu erfolgen sowie über vorbeugende Maßnahmen, die im Falle einer neuerlichen Katastrophe ergriffen werden können. 514 Unter gewissen Umständen kann sich aus Art. 8 eine Verpflichtung des Staates ergeben, Arbeitnehmer über berufibedingte Gefahren für ihre Gesundheit und Sicherheit zu informieren. 515 Zwar ist c:s zulässig, dass die Besitzer der Akten, die die betroffenen Informationen enchalten, bestimmen, unter welchen Bedingungen Dokumence mit persönlichen Daten kopiert werden dürfen und wer die Kosten für die Erstellung der Kopie trägt. Die Personen, um deren persönliche Daten c:s geht, dürfen jedoch nicht verpflichtet werden offen zu legen, warum sie die Kopie benötigen. Vielmehr muss die Stelle, die die Dokumente verwahrt, gegebenenfalls die Verweigerung der Genehmigung zur Anfertigung einer Kopie rechtfertigen. 516
7. Fallgruppen
75 Besonderheiten ergeben sich bei der Achtung des Familienlebens von Ausländern, die in den Mitgliedstaaten leben. Zwar garantiere die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise, Einbürgerung und Aufenthalt in einem bestimmten Staat. m Ebenso wenig ergibt sich aus An. 8 eine generelle Verpflichtung der Micgliedstaacen, die Wahl des Familienwohnsitzes durch ein verheiratetes Paar zu respektieren und die Niederlassung von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit des Venragsstaates besitzen, zu akzeptieren. 518 In diesem Zusammenhang verweise der Gerichtshof stets auf die feststehenden Grundsätze des Völkerrechts, nach denen ein Staat, vorbehaltlich seiner Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen, das Recht hat, die Einwanderung von Personen, die nicht seine Nationalität haben, in sein Staatsgebiet zu kontrollieren. 519 m EGMR, 19.2.1998, Guerra ./. ITA. Nr. 14967/89, Z. 60; s. auch EGMR. 14.2.2012, Hardy u. Maik
514
515
516 517
518
519
./. GBR. Nr. 31965/07, Z. 245f.; EGMR, 10.1.2012. Di Samo u. a. ./. !TA, Nr. 30765/08 = NVwZ 2013, 415, Z. 107; Anm. Haumont. RTDH 2012, 969; vgl. Dijeant-Pom/Pailemaerts, Human Righcs and ehe environment, 2002, S. 35 ff.; s. auch§ 23 Rn. 19. EGMR, 27.1.2009, Tatar./. ROM, Nr. 67021/01 = RdU 2009, 132, Z. l 12ff., 122; zum Ganzen vgl. Grabmwaner, Risikoencscheidungcn aus der Siehe der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Hauer (Hrsg.), Risikoencscheidungen im Umweltrechr, 2009, S. 29 (40ff.). EGMR, 5.12.2013, Vi/nes u.a. ./. NOR, Nr. 52806/09 u.a., Z.235f.; EGMR, 24.7.2014, Brincat u. a . ./. MLT, Nr. 60908/11 u. a., Z. 85, 102. EGMR. 28.4.2009, K H. u. a. ./. SVK, Nr. 32881/04, Z. 48. EGMR, 2.8.2001, Boultif.l. SUI, Nr. 54273/00, Z.39; EGMR, 12.9.2012 (GK), Nada ./. SUI, Nr. 10593/08, Z. 164; EGMR, 16.4.2013, Udrh ./. SUI, Nr. 12020/09, Z.44; EGMR, 3.10.2014 (GK), jeunme .1. NEO, Nr. 12738/10, Z. l00; EGMR 1.3.2018, Ejimson ./. GER, Nr. 58681/12, Z.56. EGMR. 28.5.1985, Abdulaziz u. a. ./. GBR, Nr. 9214/80 = EuGRZ 1985, 567, Z. 68; kritisch hierzu Frowein/Peukert, Art. 8 Rn. 40; EGMR, 19.2.1996, Gül ./. SUI, Nr.23218/94, Z. 38; EGMR, 10.7.2014, Tanda-Muzinga ./. FRA, Nr.2260/10, Z.65; EGMR, 24.5.2016 (GK), Biao ./. DEN, Nr. 38590/10, Z.117; EGMR. 15.6.2016, Novruk u. a . ./. RUS, Nr.31039/11 u. a., Z. 83; EGMR, 30.6.2016, 7iul.dnuci u. McCaU ./. ITA, Nr. 51362/09, Z. 56. Vgl. z. 8. EGMR. 28.5.1985, Abdu/az;z u. a. ./. GBR, Nr. 9214/80 = EuGRZ 1985, 567, Z. 67; EGMR. 18.2.1991. Mowtaquim ./. BEL, Nr.12313/86, Z.43; EGMR, 8.11.2016, EI Ghatrr ./. SUI, Nr. 56971/10 = ÖJZ 2017, 807, Z.44.
356
§ 22. Rechte der Pmon
Unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Achtung des Familienlebens können die Mitgliedstaaten allerdings dazu verpflichtet sein, Einschränkungen in ihrer Gestaltungsfreiheit in der Regelung des Einwanderungs- und Aufenthaltsrechts hinzunehmen und eine Einreise oder einen Aufenthalt zu gewähren. 520 Bei der Bestimmung des Umfangs der staatlichen Verpflichtung ist die Rechtsprechung des EGMR in hohem Maße von den Umständen des Einzelfalls geprägr. 521 Gebietet eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ein Einreiseverbot für bestimmte Personen, so müssen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Resolution von ihrem Beurteilungsspielraum auch Gebrauch machen, um spezielle Umstände des Einzelfalls in Betracht ziehen zu können und so die Rechte der Konvention nicht zu unterlaufen. Die individuelle Situation der betroffenen Person muss berücksichtigt werden können, um eine schematische Anwendung des nationalen Rechts zu vermeiden. 522 Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von ausländerrechtlichen Maßnahmen, die 76 zu einem Eingriff in die Garantie des Familienlebens führen (z.B. Verpflichtung zur Ausreise oder Verweigerung der Einreise), berücksichtigt die Rechtsprechung des EGMR verschiedene Aspekte. So kann die Vorhersehbarkeit der ausländerrechrlichen Maßnahmen zum Zeitpunkt der Begründung der Familienbeziehung im Sinne der Konvention eine Rolle spielen. 523 Diese wird ihrerseits maßgeblich vom bisherigen rechtlichen Aufenthaltsstatus des Ausgewiesenen bestimmt. 524 Ein weiterer Punkt, der grundsätzlich in allen Ausweisungsfällen zu berücksichtigen ist, ist der gesundheitliche Zustand des Auszuweisenden. 525 Da Art. 8 bis zu einem gewissen Grad auch das Knüpfen und Entfalten zwischenmenschlicher Beziehungen schützt, stellt die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen Migranten und der Gesellschaft, in der sie leben, einen Aspekt des durch An. 8 geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens dar. Die Ausweisung eines Ausländers, der sich in einem Staat niedergelassen hat, bildet unabhängig davon, ob er in diesem Staat auch familiäre Beziehungen hat, einen Eingriff in dessen Privatleben.526 Hält sich eine Person schon rechtmäßig im Vertragsstaat auf, so entsteht no EGMR, 28.5.1985, Abdul.aziz u.a. ./. GBR, Nr.9214/80 = EuGRZ 1985, 567, Z.67; EGMR, 18.2.1991, Moustaquim ./. BEL, Nr. 12313/86, Z. 43. 521 EGMR. 19.2.1996, Gül ./. SUI, Nr.23218/94, Z.38; EGMR, 14.6.2011, Osman ./. DEN, Nr. 38058/09 = NVwZ 2012, 947, Z. 54; Frowrin/Prukm. An. 8 Rn. 40. 522 EGMR. 12.9.2012 (GK),Nada.l. SUI, Nr. 10593/08, Z.182, 185. m EGMR. 28.5.1985, Abdul.aziz u. a. ./. GBR, Nr. 9214/80 = EuGRZ 1985, 567, Z. 68. Im Fall Abduhielc der Gerichcshof eine Begleitung der ausgewiesenen Männer durch die bcschwerdefuhrenden Frauen uocz einschneidender Veränderungen in deren Leben für zumutbar. Hierbei stellce er auch auf die Vorhersehbarkeic der ausländerrechtlichen Maßnahmen ab; EGMR, 28.6.2011, Nuntz ./. NOR, Nr. 55597/09, Z. 70. EGMR. 31.7.2008, Darren Omoregir u. a. ./. NOR. Nr. 265/07, Z. 59; vgl. auch EGMR, 8.4.2008, Nnyanzi ./. GBR, Nr. 21878/06, Z. 76 (die Bf. war keine niedergelassene Einwanderin, ihr Aufenchalc daher immer von Ungewissheit geprägt); zur uneinheitlichen Gewichcung des Aufen1halcss1atus s. Chvosta. Die Ausweisung von Asylwerbern und An 8 EMRK. ÖJZ 2007, 852 (8541f.) m.w. N. Vgl. im Rahmen der Achtung des Privatlebens EGMR, 6.2.2001, &nsaui ./. GBR. Nr. 44599/98, Z. 47 (Ausweisung eines schiwphrenen Algeriers); vgl. im Rahmen der Achtung des Familienlebens eines Schwerkranken EGMR, 13.12.2016 (GK), Paposhvili ./. BEL, Nr.41738/10, Z.223ff.; EGMR, 9.4.2019, l M . ./. SUI, Nr. 23887/16, Z. 62. EGMR, 18.10.2006 (GK), Ünrr.l. NED, Nr.46410/99, Z. 59; EGMR. 20.9.2011, A.A . ./. GBR, Nr. 8000/08, Z. 49; EGMR, 15.11.2012, Shala ./. SUI, Nr. 52873/09, Z. 39; s. auch Thym, EuGRZ 2006, 541 (5431f.); EGMR, 23.10.2018, Lrvakovic ./. DEN, Nr. 7841/14 = ÖJZ 2019, 650, Z. 34; /azjz
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3. Teil. Die Garantien der EMRK auch ohne familiäre Bindungen im Aufenthaltsland - mit Blick auf die Verwurzelung in persönlicher, beruflicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht ein Vertrauen darauf, den Aufenthalc in diesem Land fortsetzen zu dürfen. 527 77 Regelmäßig ist auch der Lebenswandel des Ausgewiesenen, insbesondere die Begehung von Straftaten, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen zu berücksichtigen. 528 Der EGMR erkennt es grundsätzlich als ein legitimes Interesse der Vertragsstaaten an, straffällig gewordene Ausländer auszuweisen. 529 Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen stelle der Gerichtshof in diesen Fällen auf eine Reihe von Kriterien ab, die zur Gewichtung des Interesses der Allgemeinheit an der Ausweisung und dem Interesse des Betroffenen an der Ermöglichung seines Familienlebens herangezogen werden. 530 In der Art eines „beweglichen Systems" berücksichtige der EGMR in der Abwägung folgende Kriterien (,,Boulcif-Krirerien"): -
die Natur und Schwere der begangenen Scrafcaten; die seit Begehung der Scrafcat vergangene Zeit sowie das Verhalcen des Beschwerdeführers in dieser Zeit; die Aufenthaltsdauer im ausweisenden Staat; die Staatsangehörigkeit der unterschiedlichen betroffenen Personen; die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z. B. die Dauer einer bcscehenden Ehe, sowie andere Faktoren, die ein tatsächlich bestehendes Familienleben eines Paares bestätigen; die Frage, ob der Partner des Beschwerdeführers von der begangenen Scrafcat wussce, als er bzw. sie die familiäre Beziehung einging; ob es gemeinsame Kinder gibt und wie alt diese sind; die Schwierigkeiten, mit denen ein Paar im Herkunfcsstaat konfrontiere sein könnte.HI
Zünd!Hugi Y09, Z. 61.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK bensinhalte und ihre Ausdrucksformen 758 als auch die innere Organisation der Gemeinschaft und die Bestimmung des Religionsführers. 759 Auch besondere Anforderungen an kirchliche Arbeitnehmer können Teil der Autonomie sein. 760 überdies fallen Arbeitsmöglichkeiten ausländischer Vertreter religiöser Gemeinschaften in den Schutzbereich von Art. 9, wenn diese Voraussetzung der Entfaltung der Tätigkeiten dieser Gemeinschaften sind. 761 Ähnlich verhält es sich mit der Befreiung von Priestern und Ordenspersonen vom Militär- bzw. Zivildiensc. 762 3. Eingriffe
124 Der Staat greift in die durch Art. 9 gewährleistete Religions- und Weltansch?,uungsfreiheit ein, wenn er Handlungen, die im Zusammenhang mit der Religionsausübung stehen, verbietet oder mit Strafe oder anderen negativen Konsequenzen belegt. 763 Das griechische Verbot des Proselytismus, d. h. des Werbens für die Religionsgemeinschaft, stellte somit einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar. 764 Entsprechendes gilt für die Verhängung einer Strafe wegen des Becens auf einem Privacgrundscück765 oder wegen Auftretens als Religionsführer. 766 Auch das Verbot, in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Krankenanstalten oder Gerichtssälen aus religiösen Gründen ein Kopftuch oder einen Turban zu tragen, stelle ebenso wie das Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar. 767 Staat7
se EGMR, 26.9.1996, Manoussakis .f. GRE, Nr. 18748/91, Z. 48. EGMR. 26.10.2000, Hasan u. Chaush .1. BUL, Nr. 30985/96, Z. 78; EGMR. 15.9.2009, Miro/ubovs u. a. .1. LAT, Nr. 798/05, Z. 77. 760 EGMR, 23.9.2010, Obst./. GER, Nr.425/03 = EuGRZ 2010, 571, Z.49; EGMR. 12.6.2014 (GK), Frmdndrz Martinez .1. ESP, Nr. 56030/07 = NZA 2015, 533, Z. 131; Grabmwarur, FS Jaegcr, S. 640ff.; Grabrowanrr/Pabel Das kirchliche Arbeitsrecht vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, KuR 2011, 55 (58ff.); Walter, Kirchliches Arbeitsrecht vor den Europäischen Gerichten, ZevKR 2012, 233 (239). 761 EGMR, 25. 9.2012,Jehovas augtn in Österreich./. AUT, Nr. 27540/05, Z. 31. 762 EGMR, 12.3.2009, Gütl ./. Alf!: Nr. 49686/99 = OJZ 2009, 684, Z. 33; EGMR, 12.3.2009, Löf ftlmann .1. AUT, Nr. 42967/98, z. 48. 763 EGMR, 6.4.2000 (GK), Thlimmmos ./. GRE, Nr. 34369/97, Z. 42; zur Verletzung von Art. 9 wegen Hausdurchsuchung und Beschlagnahme von Gegenständen, die bloß aufgrund der Mitglicdschafr des Betroffenen in einer religiösen Gruppe erfolgte vgl. EGMR, 10.2.2015, Dimitrova ./. BUL. Nr. 15452/07 = OJZ 2016, 862, Z. 28. 764 EGMR. 25.5.1993, Kokkinakis ./. GRE, Nr.14307/88 = ÖJZ 1994, 59, Z.36; EGMR. 24.2.1998, i..Arissis ./. GRE, Nr. 23372/94 u. a., Z. 38; s. auch ~ber, Menschenrechte, 2004, S. 596. 7 M EGMR. 12.5.2009, Masaev.f. MOL. Nr.6303/05, Z. 25. 766 EGMR, 14.12.1999, Snif.l. GRE, Nr. 38178/97, Z. 51. 767 EGMR. 15.2.2001, Dahlab ./. SUI, Nr. 42393/98 = NJW 2001, 2871 (Tragen des Kopfruchs als Lehrerin in der Schule); dazu Gorrlich, Religionspolitische Distanz und kulturelle Vielfalt unter dem Regime des Art. 9 EMRK. NJW 2001, 2862; EGMR, 10.11.2005 (GK), Lryla Sahin ./. TUR, Nr. 44774/98 (Tragen des Kopfruchs als Lehrerin in der Schule); EGMR, 4.12.2008, Dogru ./. FRA, Nr.27058/05 (Tragen des Kopfruchs als Schülerin in der Schule), Z.48; EGMR. 30.6.2009, Sara Ghazal ./. FRA. Nr. 29134/08 (Turbanverbot); EGMR, 30.6.2009, jasvir Singh ./. FRA. Nr. 25463/08 (Turbanverbot); EGMR, 15.1.2013, Eweida u. a. .!. GBR, Nr. 48420/10 u. a. = NJW 2014, 1935, Z.91, 97; dazu Mryer-uuiewig!Petznld. Gerichtsverhandlung an Jom Kippur, NJW 2014, 3287 (3288) sowie Pabel Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Arbeitsrecht in der Rechtsprechung des EGMR. FSBrünner, 2014, S.604 (608); EGMR. 1.7.2014 (GK), S.A.S. ./. FRA. Nr. 43835/11 = EuGRZ 2015, 16, Z. 110 (Burkaverbor); dazu Grabrowartrr!Struth, EuGRZ 2015, 1; Sündhofrr, ALJ 2015, 88ff.; EGMR. 26.11.2015, Ebrahimian ./. FRA. Nr. 64846/22 = ÖJZ 2016, 862 (Verbot des Tragens eines Gesichtsschleiers in Kranken- und Pflegeanstalt); EGMR, 11.7.2017, Bekacemi u. Ous,ar .1. BEL. Nr.37798/13; EGMR, 11.7.2017, Dakir ./. BEL. Nr.4619/12
7s9
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§ 22. Rechte der Person
liehe Warnungen vor Religionsgesellschaften sind ebenfalls als Eingriffe in die Religionsfreiheit zu werten. 768 In dem Erfordernis der Erbringung von Nachweisen für die eigene Glaubensüberzeugung, um die Inanspruchnahme gesetzlich vorgesehener religiöser Feiertage zu rechtfertigen, liegt grundsätzlich ebenso ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 769 wie in der Behinderung einer bei der Wahl oder Ausübung des Berufes wegen ihrer Religionsausübung. Personen, die in einem besonderen Näheverhälcnis zum Staat stehen, können aus die- 125 sem Rechtsverhältnis resultierenden Pflichten unterliegen, die eine Einschränkung des Grundrechtsschurzes aus Art. 9 zur Folge haben. 770 So wird mit dem Eintritt in die Armee die militärische Disziplin akzeptierr. 771 Die Sanktionierung eines gegen entsprechende Vorschriften verstoßenden Verhaltens stellt keinen Eingriff in die Religionsfreiheit dar, auch wenn die Religionsausübung berührt ist. 772 Vergleichbares ist für Gefängnisinsassen anzunehmen. 773 Gespräche über religiöse Fragen, die ein militärischer Vorgesetzter mit seinem Untergebenen führt, können wegen des dadurch auf den Untergebenen ausgeübten Zwangs einen Eingriff in dessen Religionsausübungsfreiheit bilden. 774 Eingriffe in die negative Religionsfreiheit bilden Handlungsverpflichtungen, die der 126 Staat dem Einzelnen auferlegt und die die Religionsfreiheit betreffen. Eine solche Beschränkung von Art. 9 liegt beispielsweise vor, wenn Parlamentarier zur Eidesleistung verpflichtet werdenm oder wenn im Strafprozess ein Eid grundsätzlich auf die Bibel zu leisten ist und Nicht-Christen stets ihre Nichtzugehörigkeit angeben müssen, um ohne religiöse Beteuerung den Eid leisten zu können. 776 Recht weitgehend nimmt der EGMR einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit stets dann an, wenn der Staat eine Person in eine Situation bringt, in der sie unminelbar oder mittelbar offenlegen muss, dass sie nicht gläubig ist.m Die nach deutschem Recht bestehende Verpflichtung, auf der Lohnsteuerkane die Zugehörigkeit zu einer Kirchensteuer erhebenden Religionsgemeinschaft oder die Nichtzugehörigkeit anzugeben, stelhe daher einen Eingriff in Art. 9 dar. 778 Entsprechendes gilt für die Angabe der Religionszugehörigkeit auf dem Personalausweis. 779
= ÖJZ 2018, 1003; EGMR. 05.12.2017, Hamidovii: ./. BIH, Nr. 57792/15 = ÖJZ 2018, 1003 (Verbor des Tragens religiöser Symbole als Zeuge im Strafverfahren);/acobr/Whitl'/Ovry. ECHR, S. 418 f. 768
EGMR, 6.11.2008, LetlA Förderltreis e. V. u. a. ./. GER, Nr. 58911/00 = NVwZ 2010, 177, Z. 84.
769
EGMR, 13.4.2006, Kostl'ski ./. MKD, Nr. 55170/00, Z. 39. &rka, Verfassungsrecht, Rn. 1436[ EGMR. 1.7.1997, lwlar ./. TUR, Nr. 20704/92, Z. 28. EGMR. 1.7.1997, KA!ar ./. TUR. Nr. 20704/92, Z. 31. EKM.R. 5.3.1976, X., Nr. 5947/72, DR 5, 8 (9). EGMR. 24.2.1998, larissis ./. GRE. Nr. 23372/94 u. a., Z. 38. EGMR. 18.2.1999, Buscarini ./. SMR, Nr. 24645/94, Z. 34. Weitere mögliche Fallkonstellationen bei Grabmwaner, in: Korinek/Holoubek et al., An. 9 EMRK Rn. 31. EGMR. 3.6.2010, Dimitras u. a . ./. GRE. Nr. 42837/06 = NVwZ 2011, 863, Z. 79f.; vgl. auch EGMR. 21.2.2008, Akxandridis ./. GRE, Nr.19516/06, Z.41 (Eid bei Zulassung als Anwalt); s. auch Ruet, RTDH 2012, 512f. EGMR, 15.6.2010, Grulak ./. POL, Nr. 7710/02, Z. 87. EGMR, 17.2.201 I, Wasmuth ./. GER, Nr.12884/03, Z. 51; Fornerod, RTDH 2012, 598; s. auch Ruer. RTDH 2012, 519ff. EGMR. 2.2.2010, Sinan l1ik ./. TUR, Nr. 21924/05, Z. 41; s. auch den Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen bei Run, RTDH 2012, 511 ff.
770 771
m 773 774
m n6
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3. Teil Die Garantien tkr EMRK Anders beurteilte der EGMR den Fall von Anhängern der Zeugen Jehovas in Griechenland, die sich dadurch in ihrer Religionsfreiheit beschränkt sahen, dass sie zur Teilnahme an Schulparaden anlässlich des Nationalfeiertags verpflichtet waren und bei Nichtteilnahme Disziplinarmaßnahmen drohten. Der Gerichtshof lehnte einen Eingriff in Art. 9 ab, da weder der Zweck noch die Veranstaltungsform der Parade einen militärischen Charakter aufwiesen, der die pazifistische Überzeugung der Rf. beeinträchtigte. 780 Die Pflicht zur Teilnahme am Ethikunterricht in Berliner Schulen stellte keinen Eingriff in die Religionsfreiheit dar, da der Unterrichtsinhalt weder eine bestimmte Religion bevorzugte noch eine andere: benachteiligte oder bekämpfte. 781
127 Staatliche Beschränkungen der Rechte von Religionsgemeinschaften in Bezug auf die Anerkennung als Religionsgemeinschaft bilden einen Eingriff, wenn die betroffene Gemeinschaft ihre Aktivitäten deswegen nicht umfassend entfalten und ihre Vermögensrechte nicht gerichtlich durchsetzen kann, weil ihr der Status einer juristischen Person fehlt. 782 Fälle der Verweigerung der Registrierung bzw. der Wiederregistrierung von Religionsgemeinschaften sowie Fälle der Löschung von Religionsgemeinschaften betreffen sowohl die Religionsfreiheit als auch die Vereinigungsfreiheit. In diesem Zusammenhang hängt es vielfach von Einzelfallumständen ab, ob der Gerichtshof An. 9 oder Art. 11 zur Grundrechtsprüfung heranzieht. 783 Staatliche Verfügungen und Regelungen im Bereich der „inneren Angelegenheiten" einer Religionsgemeinschaft stellen eine Beschränkung der durch Art. 9 gewährleisteten Rechte dar. 784 Dasselbe gilt für die Besteuerung von Religionsgemeinschaften, wenn dadurch ihre Existenz bedroht wird und ihre Funktionsfähigkeit, ihre religiösen Tätigkeiten sowie ihre interne Organisation ernsthaft beeinträchtigt werden.7 85 Maßnahmen der bulgarischen Regierung, die den Führungsstreit zwischen zwei opponierenden Gruppen innerhalb der orthodoxen Kirche zugunsten des einen Religionsführers entschieden und die bulgarisch-orthodoxe Kirche damit unter eine einheitliche Führung stellten, bildeten einen Eingriff in Art. 9. 786 Ein Eingriff in die: Religionsfreiheit kann auch bei einer im Zusammenhang mit der Ausübung dieses Grundrechts stehenden Ausweisung vorliegen. 787 780
EGMR, 18.12.1996, Efitratiou ./. GRE, Nr. 24095/94, Z. 32; EGMR, 18.12.1996, Va/samis ./. GRE, Nr. 21787/93, Z. 37. 781 EGMR, 6.10.2009, Appel-Irrgang ./. GER, Nr. 45216/07 = NJW 2010, 1353; zur Frage: der Religion im Zusammenhang mit dem Unterricht an Schulen s. oben Rn. 104 ff. m EGMR, 13.12.2001, Mtrropo/itan Church of Bessarabia u.a. ./. MOA, Nr.45701/99, Z. 105; EGMR, 10.6.2010, Jehovahi Witnesses of Moscow u. a. ./. RUS, Nr.302/02, Z.102f.; Schouppe, RTDH 63 (2005), 626ff.; Pabel in: Karl (Hrsg.), S. 114. 783 Zur Verweigerung der Wiederregistrierung EGMR, 5.10.2006, The Moscow Branch of the Salvation Army ./. RUS, Nr. 72881/01 = EuGRZ 2007, 24, Z. 74f.; EGMR, 5.4.2007, Church ofScimto/ogy Moscow ./. RUS, Nr. 18147/02 = NJW 2008, 495; EGMR, 8.4.2014, Magar Kmsztiny Mennonita EghiJ.z u. a. ./. HUN, Nr. 70945/11 u. a. = NVwZ 2015, 499, Z. 45, 83, 115; zur Verweigerung der erstmaligen Eintragung EGMR, 1.10.2009, Kimlya u. a. ./. RUS, Nr. 76836/01 u. a., Z. 81, 88f.; EGMR, 2.10.2014, Clnm:h ofScimtolog ofSt. Petersburg u. a. ./. RUS, Nr. 47191/06, Z. 32, 39; zur Auflösung von Religionsgemeinschaften EGMR, 10.6.2010, Jehovah's Wimmes of Moscow u. a. ./. RUS, Nr. 302/02, Z. 103; EGMR, 12.6.2014, Bib/ical Cmrre of the Chuvash Republic ./. RUS, Nr. 33203/08 = NVwZ 2015, 882, Z. 42, 52. 7 1H EGMR, 26.9.1996, Manoussakis ./. GRE, Nr.18748/91, Z.47; EGMR, 26.10.2000, Hasan u. Chaush ./. BUL, Nr. 30985/96, Z. 78, 82. m EGMR, 30.6.2011, Association ks Timoins dr Jihovah ./. FRA, Nr. 8916105 = NVwZ 2012, 1609, Z. 53; vgl. im Gegensatz dazu EGMR, 4.3.2014, Church ofJesus Christ ofLatter-Day Saints ./. GBR, Nr. 7552/09 = NVwZ 2015, 277, Z. 31, 34. 786 EGMR, 22.1.2009, HolySynod ofthe Bulgarian Orthodox Church u. a. ./. BUL, Nr. 412/03, Z. I07ff.; EGMR, 26.10.2000, Hasan u. Chaush ./. BUL, Nr. 30985/96, Z. 78. 787 EGMR. 12.2.2009. No/an u. K ./. RUS, Nr.2512/04. Z. 63 tT.
390
§ 22. Rechte der Person
Die Ausweisung in ein Land, in dem die Verfolgung religiöser Minderheiten behauptet wird, bildet hingegen keinen Eingriff in die Rechte aus Art. 9. 788 4. Rechtfertigung
Die Religionsfreiheit kann Beschränkungen nach Maßgabe des Art. 9 Abs. 2 unter- 128 worfen werden. Dieser sieht dem Wortlaut nach lediglich die Einschränkbarkeit des Rechts der Ausübung der Religion oder Weltanschauung vor, während die Gewissensfreiheit auf den ersten Blick schrankenlos gewährleistet erscheint. Der Vergleich mit den Schrankenregelungen der Art. 8 bis I I macht deutlich, dass auch die Gewissensfreiheit dem Gesetzesvorbehalt zu unterstellen isr. 789
Art. 9 Abs. 2 verlangt für die Zulässigkeit von Beschränkungen der Religionsfreiheit, 129 dass der Eingriff durch Gesetz vorgesehen ist, ein legitimes Ziel verfolgt und notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ist. Diese Rechtfertigungsvoraussetzungen entsprechen im Wesentlichen jenen der Art. 8 bis II .790 a) Gesetzliche Grundlage
Eingriffe in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit müssen durch Gesetz vor- 130 gesehen sein. Insofern bestehen gegenüber den entsprechenden Voraussetzungen in Art. 8 bis I I keine Besonderheiten. Auch für die Religionsfreiheit gelten dieselben Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit der gesetzlichen Grundlage.791 In Bereichen, in denen starre gesetzliche Regelungen nicht den praktischen Bedürfnissen entsprechen, kann eine gefestigte und zugängliche Rechtsprechung hinreichende Eingriffsgrundlage sein. 792 Sitzungspolizeiliche Befugnisse eines Strafrichters nach der Strafprozessordnung genügen dem Gesetzeserfordernis. 793 Die Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllt hingegen ein Gesetz nicht, das die Bestimmung eines neuen Anführers einer Religionsgemeinschaft durch ein staatliches Organ ohne nachvollziehbare Angabe von Entscheidungskriterien vorsieht. 794 b) Legitimes Ziel
Der Eingriff muss eines der in Art. 9 Abs. 2 abschließend aufgezählten legitimen Ziele 131 verfolgen. Zu diesen zählen der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Gesundheit und Moral sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Art. 9 Abs. 2 ist damit restriktiver formuliert als die vergleichbaren Gesetzesvorbehalte der Abs. 2 in Art. 8, 10 und II .795 Der Gerichtshof verlangt insofern eine enge Auslegung der genannten Ziele. 796 In der Sache sind die Unterschiede aber gering. Auch Maß' 7
88
11'/ 790
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EGMR, 28.2.2006, Z. T. ./. GBR, Nr. 27034/05. Grabmwartrr, in: Korinek/Holoubek et al., Art. 9 EMRK Rn. 34. Vgl. dazu allgemein§ 18 Rn. ?ff. EGMR, 26.6.2014, Krupko u. a. ./. RUS, Nr. 26587/07 = NVwZ 2015, 897, Z. 53f. EGMR. 25.5.1993, Kokkinakis ./. GRE, Nr. 14307/88 = ÖJZ 1994, 59, Z. 40; EGMR, 24.2.1998, LArissis ./, GRE. Nr. 23372/94 u. a., Z. 40f. EGMR. 5.12.2017, Hamidovic ./. BIH, Nr. 57792/15 = ÖJZ 2018, 1003, Z.32ff. (Verbot des Tragens eines religiösen Käppchens im Gerichtssaal). EGMR, 26.10.2000, Hasan u. C..IJau.rh ./. BUL, Nr. 30985/96, Z. 85. Vrrmeu/mlvan Roosmakn in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 759. EGMR. 14.6.2007, Svyato-Mykhaylivska Parafiya ./. UKR, Nr. 77703/01, Z. 132; EGMR, 12.2.2009, No/an u. K ./. RUS, Nr. 2512/04, Z. 73.
391
3. Teil Die Garantien der EMRK
nahmen, die auf die Wahrung der nationalen Sicherheit und der territorialen Integrität (vgl. An. 10 Abs. 2) gerichtet sind, können unter bestimmten Voraussetzungen unter das Ziel des Schutzes der Sicherheit und Ordnung subsumiere werden. 797 Das Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung wird bei staatlichen Maßnahmen verfolge, die zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung getroffen werden. Der Staat darf aus Gründen der öffentlichen Ordnung auch Religionsgemeinschaften auf ihre Allgemeinschädlichkeit prüfen. 798 In der Verhängung von Strafen gegen Angehörige der Zeugen Jehovas durch den griechischen Staat mir der Begründung, dass diese ohne die erforderliche, ihnen aber versagte: Genehmigung für den Veranstaltungsraum Gonesdienste abgehalten hatten, sah der EGMR Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung. m Beschränkungen der Religionsfreiheit von Srrafgefangenen können gesrürzc auf das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Gefängnis gerechtfertigt werden. 800
132 Eingriffe in die Religionsfreiheit können auch zum Zweck des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung oder des Grundrechtsträgers selbst erfolgen und deswegen gerechtfertigt sein. So kann beispielsweise das Verbot des rituellen Schlachtens dem Gesundheitsschutz dienen. 801 Das Verbot für Krankenschwestern, eine Halskette mit einem Kreuz zu tragen, dient dem Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Patienten sowie der Krankenschwestern selbst. 802 Die Heimpflicht, die einen Sikh daran hindert, seinen religiös vorgeschriebenen Turban zu tragen, verfolgt das Ziel des Schutzes seiner Gesundheit.803 Der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer wird als legitimes Ziel des Proselycismusverbocs in Griechenland angesehen. Der EGMR geht zu Recht davon aus, dass der Staat die Freiheiten seiner Bürger, insbesondere ihre Religionsfreiheit, vor missbräuchlicher religiöser Einflussnahme schützen darf. 804 Auf dasselbe Ziel bezogen ist das Erfordernis, seine Glaubenszugehörigkeit zu beweisen, wenn auf ihrer Grundlage Privilegien - wie etwa Freistellungen zu religiösen Feiertagen - in Anspruch genommen werden. 805 Rechte und Freiheiten anderer, insbesondere das Reche auf eine angemessene Verfahrensdauer, können es rechtfertigen, dass eine Verhandlung an einem Tag angesetzt wird, der für einen der Anwälte einen religiösen Feiertag darstellt. 806 797
798
799 800
801 802
EGMR, 13. 12.2001, Merropolitan Church of Bmarabia u. a. .!. MDA, Nr. 45701/99, Z. 111 ff.; ander.; EGMR, 12.2.2009, No/an u. K ./. RUS, Nr. 2512/04, Z. 73. Allerdings harre hier die Regierung keine hinreichende Begründung für die Annahme einer Bedrohung der narionalen Sicherheit vorgebracht. EGMR. 26.9.1996, Manoussakir ./. GRE, Nr. 18748/91, Z. 40; EGMR, 10.6.2010,Jehovahs Wimesses ofMoscow u. a. .1. RUS, Nr. 302/02, Z. 106 f. EGMR, 26.9.1996, Mano.rmakir .!. GRE, Nr. 18748/91, Z. 40. EGMR. 12.2.2013. Austrianu ./. ROM, Nr.16117/02, Z. 106; EGMR, 5.1.2016, Süveges ./. HUN, Nr. 50255/12, Z. 151 ff. EGMR. 27.6.2000, Cha'arrSha/om V.-Tmuk.l. FRA, Nr.27417/95, Z. 77, 84. EGMR. 15.1.2013, Eweida u. a. ./. GBR. Nr. 48420/ I O u. a. = NJW 2014, 1935, Z. 98; Goos, ,,Digniry for all" - Warum sich der EGMR zumindesr den Fall Ladele noch einmal vornehmen sollte, BRJ 2013, 36 (37); s. auch EGMR, 26.11.2015, Ehrahimian ./. FRA, Nr.64846/11 = ÖJZ2016, 862.
Z.71. 803
• 04 805 806
EKMR. 12.7.1965, X, Nr.7992/77, DR 14, 234 (235); vgl. auch EK.i\1R, 6.3.1982, X. Nr. 8231 /78, OR 28, 5 (38); Vnmeukn, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 770. EGMR, 25.5.1993, Kokkinakis ./. GRE, Nr. 14307/88 = ÖJZ 1994, 59, Z. 44; EGMR, 24.2.1998, Larissir ./. GRE, Nr. 23372/94 u. a., Z. 43f. EGMR. 13.4.2006, Kosteski ./. MKD, Nr. 55170/00, Z. 39. EGMR, 3.4.2012, Franmco Sma .!. !TA, Nr. 28790/08, Z. 38; dazu kritisch Meyer-Ladewig!Pmold. NJW 2014, 3288f.
392
§ 22. Rechte der Person Der EGMR subsumierte das Verbot der Vollverschleierung auf öffentlichen Plätzen sowohl unter das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit als auch unter das Ziel der"Wahrung der Minimalanforderungen des Lebens in einer Gesellschaft" bzw. des "Zusammenlebens" ("vivre ensemble"Uiving together"). 807 Das letztgenannte Ziel ist zwar nicht ausdrücklich in Art. 9 Abs. 2 (bzw. Art. 8 Abs. 2) genannt, der EGMR bringt es mit dem legitimen Ziel des Schutzes der Rechte und Freiheiten in Zusammenhang. 808 Im Fall OmU1noglu u. Kocaba/ anerkannte der Gerichtshof die Ziele der Integration ausländischer Kinder aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen, der ordnungsgemäßen Durchführung des Unterrichts, der Achtung der Schulpflicht und der Gleichheit der Geschlechter als Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sowie der Aufrechterhaltung der Ordnung. 809
c) Verhältnismäßigkeit
Ein Eingriff in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist nur dann gerechtfenigt, 133 wenn er notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ist. Der Sache nach heißt das, dass die Maßnahme verhältnismäßig (angemessen) zum verfolgten Ziel sein muss. 81O Bei der Beurteilung der Angemessenheit einer die Religionsfreiheit beschränkenden Maßnahme steht den Mitgliedstaaten ein Beuneilungsspielraum zu. Der EGMR überprüfe das legitime Ziel und die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs in Bezug auf die gesetzliche Grundlage und ihre Anwendung im Einzelfall, 811 auch wenn es sich um Entscheidungen eines unabhängigen Gerichts handelt. 812 Erberücksichtigt die von den Organen des Mitgliedstaats vorgenommenen Wenungen und kontrollien ihre Plausibilität. 813 Die konkrete Reichweite des Beuneilungsspielraums variien dabei insbesondere danach, wie groß die Unterschiede in den entsprechenden rechclichen Ausgestaltungen zwischen den Mitgliedstaaten sind. 814 Eine vergleichsweise intensiYe Prüfung nahm der EGMR im Fall Metropoliran Church of Bmarabia vor. Mit der Begründung der Sicherung und territorialen Einheit des neu gegründeten Staates Moldawien hatte der beklagre Staat einer orthodoxen Teilkirche die Anerkennung als Religionsgemeinschaft versage, die im Verdacht stand, politische Aktivitäten zu unterstützen, die eine Vereinigung Moldawiens mit Rumänien anstrebten. In einer detaillierten Prüfung wertete der Gerichtshof die Umstände abweichend vom Mitgliedstaar. Wegen der Schwere des Grundrechtseingriffs, die in der Versagung der Anerkennung lag - die nationale Rechtslage machte es nicht anerkannten Religionen unmöglich, sich zu organisieren oder die Religion auszuüben-, wurde eine Konventionsverletzung festgestellt. 81 ~ 807
EGMR, 1.7.2014 (GK), S.A.S. ./. FRA, Nr.43835/11 = EuGRZ 2015, 16, Z.12lf.; EGMR, 11.7.2017, Belcacemi u. Ou.ssar ./. BEL, Nr. 37798/13, Z. 44ff.; EGMR, 11.7.2017, Dakir ./. BEL, Nr.4619/12=ÖJZ2018, 1003,Z.49. 808 EGMR, 1.7.2014 (GK), S.A.S. ./. FRA, Nr. 43835/11 = EuGRZ 2015, 16, Z. 121; kritisch daw Grabmwarur/Srrurh, EuGRZ 2015, 2tf.; Folgejudikarur: EGMR, 11.7.2017, Belcamni u. OuSJ11r.l. BEL, Nr. 37798/13, Z. 44ff.; EGMR, 11.7.2017, Dakir.l. BEL, Nr. 4619/12 = ÖJZ 2018, 1003, Z.51. 8 0') EGMR. 10.4.2017, Osmanoglu u. Kocaba/ ./. SUI, Nr.29086/12 = EuGRZ 2017, 249, Z.82tf.; Thienel, Ausgewählte Rechtsprechung des EGMR 2017, ÖJZ 2018, 1003. 810 EGMR, 25.11.1996, Wingrove ./. GBR. Nr. 17419/90, Z. 53; EGMR, 14.12.1999, Serif.!. GRE, Nd8178/97, Z. 49; EGMR, 13.12.2001, Metropolitan Church of Bessarabia u. a. .!. MDA, Nr.45701/99,Z.106. 811 EGMR, 26.9.1996, Manoussakis ./. GRE, Nr.18748/91, 2.44; EGMR, 25.11.1996, Wingrove ./. GBR, Nr. 17419/90, Z. 53. 812 EGMR, 25.5.1993, Kokkinakis.l. GRE, Nr.14307/88 =ÖJZ 1994, 59,2.47. 813 Vgl. grundlegend zu Art. 9 EGMR, 25.5.1993, Kokkinakis ./. GRE. Nr. 14307/88 = ÖJZ 1994, 59, Z.47. 814 Ausdrücklich EGMR, 13.9.2005, /. A . ./. TUR, Nr. 42571/98, Z. 25; s. auch Pabel, EuGRZ 2006, 4. m EGMR, 13.12.2001, Merropolitan Church of Bessarabia u.a. ./. MDA, Nr.45701/99, Z. 123ff.; s. audi Pabel, Gemeinsame europäische Standards und Erweiterung - Erfahrungen des EGMR bei der Durchsetzung der EMRK, in: Calliess/lsak (Hrsg.), Der Konventsenrwurffur eine EU-Verf.wung im Kontext der Erweiterung, 2004, S. 95 (107).
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3. Teil. Die Garantien der EMRK Im Zusammenhang mit dem Reche aufVereinigungsfreiheic sprach der EGMR aus, dass aus An. 9 folge, dass die Meinung von Religionsgemeinschaften über kollektives Handeln ihrer Mitglieder, das die Autonomie der Religionsgemeinschaften unterlaufen könnte, von den Behörden respektiert werden müsse. 816 Aus diesem Grund sah der Gerichtshof einen Eingriff in die Vereinigungsfreiheic durch Nichtregistrierung einer aus Priestern und Mitarbeitern einer Kirche bestehenden Gewerkschaft als gerechtfertigt an. 817 Im Fall der VerpAichtung zur Rückgabe einer Kirche (Sc. Salvator-Kirche), die der griechischen Kirchengemeinde München und Bayern überlassen worden war, vollzog der EGMR lediglich die Argumentation der vorangegangenen Entseheidung des BVcrfG nach und attestierte ihr Plausibilität. 818 Angesichts der Entwicklung in den Mitgliedstaaten, die mit nur sehr wenigen Ausnahmen bei Beibehaltung eines verpAichcenden Wehrdienstes auch Befreiungsmöglichkeiten vorsehen, nahm der Gerichtshof nur einen geringen Beurteilungsspielraum für das Absehen von Befreiungsmöglichkeiten an. Bestehe keine Möglichkeit, bei Vorliegen einer ernsthaften und unüberwindlichen religiösen oder anderen Überzeugung, sich vom Militärdienst befreien zu lassen, liege in der Bestrafung wegen Verweigerung der WehrpAicht eine Verletzung von An. 9. 819 Darüber hinaus muss der Staat, sofern er eine Alternative zum Wehrdienst schafft, gewährleisten, dass der alternativ zu erbringende Dienst hierarchisch und institutionell vom militärischen System getrennt ist und nicht als Strafe oder abschreckend wirkt. 810
134 Konflikte im Bereich der Religionsausübung treten insbesondere dann auf, wenn in einem Staat mehrere Religionsgemeinschaften venreten sind. Die Rechtsprechung des EGMR betont insofern, dass das Leitbild einer demokratischen Gesellschaft, das der EMRK zugrunde liegt, auch die Sicherung der Pluralität der Glaubensrichtungen verlange. Aufgabe des Staates sei es, gegenseitige Respektierung und Tolerierung der verschiedenen Überzeugungen zu sichern und nicht die Pluralität als Ursache von Konflikten zu beseitigen. 821 Verbote, religiöse Kopfbedeckungen zu tragen, erachtete der EGMR in seiner Rechtsprechung bisher meist als gerechtfertigt. So beurteilte er das Verbot, in der Universität das islamische Kopfruch zu tragen, als vcrhälcnismäßig. Er stellte insofern insbesondere auf die Bedeutung des Prinzips des Laizismus für die demokratische Ordnung in der Türkei ab, verwies aber auch auf die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung in der Universität. Das Verbot vermeide, dass auf nicht praktizierende Muslime oder Anders- bzw. Nichcgläubige Druck ausgeübt werde. 822 Auch den Ausschluss aus einer französischen Schule wegen Tragens des Kopftuchs im Turnunterricht beurteilte der Gerichtshof nicht als unverhälmismäßig, da die Bf. ihre schulische Ausbildung durch Fernunterricht fortserzen konnten. 823 Die Aufforderung an eine Muslim in, bei der Eingangskontrolle einer Botschaft den Schleier abzulegen, sah der Gerichtshof als verhähnis816 817 818 819
820 821
822
823
EGMR, 9.7.2013 (GK), Sindicaru/ .,Pastorul ce/ Bun• ./. ROM, Nr. 2330/09, Z. 159. EGMR, 9.7.2013 (GK), Sindicaru/ .Pastorul cel Bun· ./. ROM, Nr. 2330/09, Z. 172f. EGMR, 18.9.2007, Gritchucht Kirchmgnntintk Münchtn u. Bayern E. V. ./. GER. Nr. 52336/99. EGMR, 7.7.2011 (GK), Bayatyan ./. ARM, Nr. 23459/03 = NVwZ 2012, 1603, Z. 123ff.; EGMR, 22.11.2011, E,rtp ./. TUR, Nr.43965/04, Z. 59ff. EGMR.12.I0.2017,Adyanu.a. ./.ARM,Nr.75604/11 =ÖJZ2018, 1004,Z.67. Vgl. EGMR. 25.5.1993, Kokkinakis ./. GRE. Nr. 14307/88 = ÖJZ 1994, 59, Z. 33; EGMR, 14.12.1999, Strif.l. GRE, Nr. 38178/97, Z. 52f.; EGMR, 13.12.2001, Mttropolitan Church ofBmarabia u. a. ./. MOA, Nr. 45701/99, Z. 115; EGMR, 17.10.2002, Agga ./. GRE, Nr. 50776/99 u. a., Z. 56ff.; EGMR, 10.11.2005 (GK), Ltyla Sahin ./. TUR, Nr. 44774/98 = EuGRZ 2006, 28, Z. 106; EGMR. 25.10.2018, E. S. ./. AUT, Nr. 38450/12, Z. 53. EGMR. 10.11.2005 (GK), Ltyla Sahiri ./. TUR, Nr. 44774/98 = EuGRZ 2006, 28, Z. 115. Dazu Pabtl, EuGRZ 2005, 13f.; ditJ., EuGRZ 2006, 4f.; kritisch zur Argumentation des EGMR Grabmwarter, Religion und EMRK, S. 103; ausf. zur Problematik Pabel in: Prisching/L..enz/Hauser (Hrsg.), S.37. EGMR, 4.12.2008, Dogru ./. FRA, Nr. 27058/05, Z. 76; EGMR, 4.12.2008, Ktroand ./. FRA, Nr.31645/04, Z. 76. Zur Verhältnismäßigkeit des Verbots religiöser Zeichen und Bekleidung in französischen Schulen s. auch EGMR, 30.6.2009, Sara Ghar,a/ ./. FRA, Nr. 29134/08; EGMR, 30.6.2009, /ast1ir Singh .1. FRA, Nr. 25463/08; sowie Bribosia/Cactm!Rorivt, Les signes religieux au ccrur d' un bras de fer: La Saga Singh, RTDH 2014, 495 (498ff.).
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§ 22. Rechte der Person mäßigen Eingriff an, obwohl keine weibliche Sicherheitsbeamtin zur Verfügung stand. 824 Auch die Ablehnung der Ausstellung eines Führerscheins mit der Begründung, dass der Bf. aus.schließlich Fotos vorlegte, auf denen er mit Turban abgebildet war, verletzte Art. 9 nicht. 82 s Das Verbot der Vollverschleierung auf öffentlichen Plätzen erachtete der Gerichtshof zwar nicht bezüglich des Zieles der Wahrung der öffentlichen Sicherheit, 826 allerdings bezüglich des Ziels der Wahrung der Bedingungen des .Zusammenlebens" (.living 1oge1her", .vivre ensemble") als gerechtfercigt. 827 Auch das Verbor für Krankenschwesrern, eine Halskette mir Kreuz zu rragen, sah der Gerichtshof wegen des dahinterstehenden Zieles des Schutzes der Gesundheir und der Sicherheir auf einer Krankenstation als gerechtfertigt an. 828 Der EGMR erachtete auch die Verpflichtung, Kinder entgegen ihrem religiösen Glauben und dem Glauben ihrer Eltern in den gemischten Schwimmunterricht der Schule zu schicken, als verhälcnismäßig. 829 Hingegen stellte die Besrrafung von Bürgern, die in der Öffentlichkeit religiös geprägte Kleidung nagen, eine Verletzung von Are. 9 dar, wenn dadurch weder die öffentliche Ordnung gestört noch Druck auf andere ausgeübt wird. 830 Darüber hinaus qualifizierte der EGMR die Bestrafung eines Zeugen in einem Srrafverfahren, der sich weigerte, seine religiöse Kopfbedeckung im Gerichtssaal abzunehmen, als Verletzung des Art. 9. 811 Cmer Are. 9 Abs. 2 wurde es als gerechtfertigt angesehen, dass nächtliches Läuten von Kirchenglocken eine bestimmte Lautstärke nicht überschreiren darf. um die Nachrruhe der Nachbarn nicht zu stören.Bll
Eingriffe in die korporative Religionsfreiheit misst der EGMR an der aus Art. 9 abgeleiteten Pflicht des Staates zur Neutralität. Für Fälle der Versagung der Anerkennung einer Religionsgemeinschaft, die mir einem bestimmten Status verbunden ist, folgen die Rechtsprechung Anforderungen an die rechclichen Rahmenbedingungen für die Erlangung der Anerkennung. Diese müssen so ausgestaltet sein, dass alle Gruppierungen, die den Status erlangen wollen, eine faire Möglichkeit erhalten, ihn zu erreichen. Ferner müssen die einschlägigen Kriterien diskriminierungsfrei angewendet werden.833 Die unterschiedliche Behandlung von Religionsgemeinschaften im Hinblick auf deren Anerkennung, die Zusammenarbeit des Staates mir diesen Religionsgemeinschaften und die Gewährung von Subventionen darf nicht zu einer Benachteiligung der Anhänger bestimmter Religionsgemeinschaften führen oder den Eindruck einer Benachteiligung entstehen lassen. 834 82
◄ EGMR. 4.3.2008, EI Morsli ./. FRA, Nr. 15585/06.
82
s EGMR, 13.11.2008, Mann Singh ./. FRA, Nr. 24479/07; auf die Unterschiede zur Entscheidung des UN-Menschenrechtsaus.schusses in derselben Sache hinweisend Bribo1ia/Carem/Rorive, l..es signes religieux au ccrur d'un bras de fer: La Saga Singh, RTDH 2014, 502 f[ 826 EGMR, 1.7.2014 (GK), S.A.S. ./. FRA, Nr. 43835/11 = EuGRZ 2015, 16, Z. 139. 827 EGMR. 1.7.2014 (GK), S.A.S. ./. FRA, Nr.43835/11 = EuGRZ 2015, 16, Z.157; EGMR, 11.7.2017, Belcaami u. Oiwar ./. BEL. Nr.37798/13; EGMR, 11.7.2017, Dakir ./. BEL, Nr. 4619/12 = ÖJZ 2018, 1003; kritisch: Grabmwamr/Struth, EuGRZ 2015, 2f.; Sündhofer, Konventionskonformität des Gesichrsbedeckungsverbots in der Öffentlichkeit, ALJ 2015, 88 (92ff.); Pabe/, Kollision von Grundrechten im Zusammentreffen von Kulturen und Religionen, JRP 2018, 4. 828 EGMR. 15.1.2013, Eweida u. a. ./. GBR, Nr.48420/10 u.a. = NJW 2014, 1935, Z. 99f.; Goo1, BRJ 2013, 37. 829 EGMR, 10.4.2017, Osmanoglu u. Kocabllf ./. SUI, Nr. 29086/12 = EuGRZ 2017, 2491f., Z. 94ff. 830 EGMR, 23.2.2010, Ahmet Ars/an u. a. .!. TUR, Nr. 41135/98, Z. 50f[ 811 EGMR, 5.12.2017, Hamidovii:.I. BIH, Nr. 57792/15 =ÖJZ 2018, 1003, Z.37ff. 832 EGMR, 16.10.2012, Srhildn.l. NEO, Nr. 2158/12, Z. 23. 81 J EGMR, 31.7.2008, Religiomgmzeinsrhafi tkr Zeugmjehovai u. a. ./. AlIT, Nr. 40825/98 = ÖJZ 2008, 865, Z. 97; dazu Ohm1, Jehovah's Wicnesses as a Religious Sociecy, ICL Journal 2009, 210 (215f.); PabrL in: Karl, S. 114 f.; sowie Garmer, in: Karl, S. 129; ebenso EGM R, 26.2.2009, ~rein tkr Freuntk tkr Chrotrngemrimrhafi u. a. ./. AUT, Nr. 76581/01 = ÖJZ 2009, 732, Z. 45; zur Ahmadiyya-Muslim-Gemcinschafc, EGMR, 15.6.2017, Metodiev u. a. ./. BUL, Nr. 58088/08. 8 ~ EGMR: 8.4.2014, Magyar Keresztmy Mmnonita Egyhaz u. a. ./. HUN, Nr.70945/11 u.a. = NVwZ 2015, 499, Z. 109; EGMR. 26.4.2016, lzutin Dogan u. a. ./. TUR, Nr. 62649/10 = ÖJZ 2017, 807, Z. 107ff.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK Für die Rechtfenigung der Auflösung einer religiösen Vereinigung verlange der Gerichtshof schwerwiegende und zwingende Gründe und nimmt nur einen geringen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten an. Er begründet dies mit der staatlichen Pflicht zur Neutralität und Unpaneilichkeit, die eine Überprüfung der Legitimität religiöser Überzeugungen und der Art und Weise, wie diese geäußert und ausgeübt werden, grundsätzlich verbietet. 835 Die Neurralicätspflicht verlangt, dass - wenn eine Nocwendigkeic zur Regelung innerreligiöser Konflikte ecwa bzgl. der Person des Oberhaupts bestehe - der Staat auch insofern unpaneilich agiert. Er darf nicht zugunsten einer streicbefangenen Partei eingreifen und die andere unterdrücken. Vielmehr ist es Sache des Staates, Rechtssitherheit zu gewährleisten und Verfahren zur Entscheidung von Streitigkeiten zur Verfügung zu stellen. 836 Die Neutralitätspflicht verlangt auch, dass alle Religionsgemeinschaften bzw. Richtungen einer Religion im Hinblick auf öffentliche Diensrleisrungen und Förderungen gleich behandelt werden. 837 Bei der Beuneilung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Warnungen vor Religionsgemeinschaften stellt der EGMR zum einen auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die zu der Warnung gefühn haben, zum anderen aber auf die faktische Grundlage, auf der die Warnung basien, ab. Keine Verletzung sah der EGMR in der Bezeichnung einer Religionsgemeinscha.fi: als .Sekte" in einer Entscheidung des BVerfG, da das Gericht eine sorgfaltige Analyse der getätigten Aussagen vorgenommen und die Begriffe „schädlich" oder .pseudoreligiös" sowie den Vorwurf der Manipulation von Anhängern fur rechcswidrig befunden hatte. Die Aussagen der Bundesregierung in dem vom BVerK; zugelassenen Umfang würden nicht über das hinausgehen, was in einer Demokratie als im öffentlichen Interesse liegend angesehen wird. 838
5. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten
135 In bestimmten Fällen können sich aus Art. 9 staatliche Gewährleistungspflichten ergeben. So ist der Staat verpflichtet, den durch An. 9 Abs. l ausdrücklich gewährleisteten Glaubenswechsel der Gläubigen gegenüber der Religionsgemeinschaft abzusichern.839 Andererseits verpflichtet Art. 9 Abs. l die Vertragsstaaten nicht dazu sicherzustellen, dass Kirchen intern ihren Angehörigen Religionsfreiheit gewähren. 840
136 In Fällen, in denen private Unternehmen durch Verbote des Tragens religiöser Symbole am Arbeitsplatz in die Religionsfreiheit ihrer Mitarbeiter eingreifen und diese Eingriffe dem Staat daher nicht direkt zurechenbar sind, prüfe der Gerichtshof, ob der Staat seine positive Verpflichtung eingehalten hat, die seinen Rechtsuncerworfenen unter Are. 9 garantienen Rechte zu schützen. 841
m EGMR, 10.6.2010,jehovahs Wimesm ofMoscow u. a. ./. RUS, Nr. 302/02. Z. 119; vgl. auch EGMR. 12.6.2014, Biblical Cmtreofthe Chuvash Republic.l. RUS, Nr. 33203/08 = NVwZ 2015. 882, Z. 54. 836 EGMR, 22.1.2009, Holy Synod ofthe Bulgarian Onhodox Churr:h u. a. ./. BUL, Nr. 412/03, Z. 139/[ 837 EGMR, 26.4.2016, lzutin Dogan u. a. ./. TUR, Nr. 62649/10 = ÖJZ 2017, 807, Z. 153. 838 EGMR, 6.11.2008, Leela Förderkreise. V. u. a. ./. GER, Nr. 58911/00 = NVwZ 2010, 177, Z. 100. 839 EKMR. 14.5.1976, E. 11. G. R., Nr. 9781/82, DR 37, 42 (45); EKMR, 4.12.1984, Gotmmann. DR 840
841
40, 284 (284). EKMR. 8.3.1976. X, Nr. 7374/76. DR 5, 157 (158); vgl. auch EK.i\1R, 8.5.1985, Prüssner, Nr. 10901/84 = EuGRZ 1986, 648f. EGMR. 15.1.2013, Eweida u.a. ./. GBR. Nr.48420110 u.a. = NJW 2014, 1935, Z.84, 91; dazu Pabe/, FS Brünner, S. 608 ff.
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§ 22. Rechte der Person Dem Urteil Eweida u. a. lag unter anderem die Beschwerde einer Mitarbeiterin einer Fluglinie zugrunde, die der Uniformpflicht unterlag und der das Tragen von Schmuck untersagt war, worunter auch das Tragen einer Halskene mic einem Kreuz fiel. In diesem Zusammenhang prüfte der EGMR, ob Jas Reche der Bf., ihre Religion frei auszuüben, im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung ausreichend gewährleistet war. Er betonte dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zwingend eine Bestimmung geben müsse, die das Tragen religiöser Symbole am Arbeitsplatz zum Inhalt habe. Das Recht der Bf. auf Religionsausübung konnte dadurch ausreichend geschützt werden, dass sie ihre Rechte unter An. 9 vor den nationalen Gerichten geltend machen konnte. Diese hanen allerdings einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen des Unternehmens und der Bf. zu finden. Im konkreten Fall hatten die britischen Gerichte dem Interesse der Fluglinie, ihre corporate identity zu schützen, zu viel Gewicht beigemessen, weshalb der EGMR eine Verletzung von An. 9 fescstellte. 842 Bei einem weiteren Bf. (entlassener Sexualtherapeut, der sich geweigert hane, homosexuelle Paare zu behandeln) verneinte er eine Verletzung. 843
Der Staat hat ferner- im Hinblick auf die Gewährleistung einer Pluralität der Religio- 137 nen und Weltanschauungen - für den religiösen Frieden zu sorgen, um in einem Klima von gesellschaftlicher Toleranz dem Einzelnen die ungestörte Religionsausübung zu gewährleisten. 844 Zwar schützt An. 9 eine Glaubensgemeinschaft keineswegs vor Kritik,845 doch muss der Staat Verfahren vorsehen, um z.B. gegen Verunglimpfungen einzelner Religionsgemeinschaften insbesondere durch antireligiöse Meinungsäußerungen oder amireligiöse Kunst vorgehen zu können. 846 Da insofern kein einheitlicher europäischer Standard feststellbar ist, gesteht der EGMR den Mitgliedstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Regelung der Meinungsäußerungsfreiheit in Bezug auf den Schutz persönlicher Überzeugungen in moralischen oder religiösen Angelegenheiten zu. 847 Außerdem trifft den Staat eine Schutzpflicht zur Verhinderung von aggressiver Glaubenswerbung durch die Religionsgemeinschaften. 848 Den Staat trifft auch die Verpflichtung, ein System der Anerkennung religiöser Gemeinschaften herzustellen, das den Erwerb der Rechtspersönlichkeit erleichtert. 849 Allerdings muss nur die Möglichkeit der Erlangung der Rechtsfähigkeit im Sinne des 842
843 8+4
845
846
847
848 84
~
EGMR, 15.1.2013, Eweida u. a. ./. GBR, Nr. 48420/10 u. a. = NJW 2014, 1935, Z. 91 ff.; dazu Goo1, BRJ 2013, 36f. EGMR, I 5.1.2013, Eweida u. a. ./. GBR, Nr. 48420/10 u. a. = NJW 2014, 1935, Z. 109. So EGMR, 20.9.1994, Ono Preminger lmtitut ./. AUT, Nr.13470/87, Z.47; dazu Grabenwarur. Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, ZaöRV 1995, 128 (147); EGMR, 18.3.201 I (GK), Launi .1. ITA, Nr. 30814/06 = NVwZ 201 I, 737, Z. 60; dazu Richter, FS Klein, S. 1270, 1272 f., 1282 f.; Walter, Religiöse Symbole in der öffentlichen Schule Bemerkungen zum Urteil der großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im !'all Laursi, EuGRZ 2011, 673 (675, 677); Peterr, ZOR 2012, 576; zur staatlichen Pflicht zum Schutz von Glaubensgruppen vor Belästigung und körperlichen Angriffen EGMR, I 7.1.20 I 7, Tsarnidu u. a. ./. GEO, Nr. 18766/04, Z. 78f. EGt-.:!R, 13.9.2005, /. A. ./. TUR, Nr.42571/98, Z.28; EGMR, 25.10.2018, E. S. ./. AUT, Nr. 38450/12, Z. 42. EGMR, 20.9.1994, Ono Preminger lmtitut ./. AlJf. Nr. 13470/87, Z. 47; EGMR. 13.9.2005, /. A . ./. TUR, Nr. 42571/98, Z. 25ff.; EGMR, 25.10.2018, E. S. ./. AUT, Nr. 38450/12, Z. 45. EGMR. 13.9.2005, /. A. ./. l~UR, Nr.42571/98, Z.25; EGMR. 25.10.2018, E. S. ./. AUT, Nr. 38450/12, Z. 44; zum sog. Karikacurenstreir vgl. Akyürek!Kneih1. Die Karikatur im Spannungsfeld zwischen Religions- und Meinungsfreiheit, JRP 2006, 79 (81 ff.); LujlSchinkek, Kommunikationsfreiheit und der Schutz religiöser Gefühle, J RP 2006, 88 (89 ff.); Pabel, Grundrechrsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, JRP 2006, 92 (96); Stelur. Der Karikacurenscreir: Versuch einer grundrechtlichen Entgrenzung, JRP 2006, 98 (101 ff.). EGMR, 25.5.1993, Kokkinakis ./. GRE = ÖJZ 1994, 59, Nr. 14307/88, Z. 48. EGMR. 8.4.2014, Magyar Kemzthzy Mmnonita Egyhaz u. a. ./. HUN, Nr. 70945/1 I u. a. = NVwZ 20 I 5, 499, Z. 90.
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3. Teil. Die Garantien drr EMRK Privacrechcs vorgesehen werden, ein Anspruch auf einen spezifischen öffenclich-rechtlichen Scacus isc nicht zu gewähren. 850 Der Scaac soll nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes als neutraler und unparteilicher Organisator die Ausübung verschiedener Religionen und Glaubensüberzeugungen ermöglichen, ohne selbst eine inhaltliche Bewenung vorzunehmen. 851 Der Scaac ist außerdem dazu verpflichtet, Gläubige, die gemeinsam beten, vor Störungen durch religionsfeindliche Demonstrationen zu schützen. 852 138 Gewährleistungspflichten treffen die Mitgliedstaaten auch zur Sicherung der Religionsfreiheit von Personen, die in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat stehen. Das Schutzbedürfnis des Einzelnen isc dann besonders intensiv, wenn er sich·- etwa im Militär - in einer hierarchisch geprägten Struktur befindet, die es ihm erschwen, Anwerbeversuche von Vorgesetzten nicht zu beachten oder abzuwehren. 853 Eine an sich zulässige Missionierung zugunsten der eigenen Religion kann in einer solchen Situation berechtigterweise durch den Staat verboten werden, um die Freiheit der Untergebenen zu schützen. Darüber hinaus haben die Staaten Sorge dafür zu tragen, dass der Einzelne auch im Rahmen des besonderen Rechtsverhältnisses, in dem er sich befindet, seine Religion ausüben kann. Im Rahmen des Schulverhältnisses hat der Staat ebenfalls die religiösen Überzeugungen der Schüler und Elcern zu berücksichtigen und beispielsweise die Möglichkeit der Befreiung vom Religionsunterricht einzuräumen. 854 Eine Gewährleistungspflicht bestehe schließlich im Bereich des Strafvollzugs. Die Behörden haben den Gefangenen den Besuch des Gonesdienstes und die seelsorgerische Betreuung durch einen Geistlichen zu ermöglichen. 855 Die Gef.ingnisbehörden müssen darüber hinaus religiöse Bräuche der Gefangenen, wie etwa besondere Speisevorschriften oder Kleidungsregeln, im Alltag des Strafvollzugs berücksichtigen. 856 Ihre Grenze findet diese Rücksichtnahme dann, wenn dadurch die Sicherheit und Ordnung im Strafvollzug gef.ihrdet wird - etwa wenn der Gefangene ein Buch über Kampf- und Selbstverteidigungstechniken begehrt. 857
850
EGMR, 8.4.2014, Magyar Kms:aroy Mmnonita Egyhaz u. a . .1. HUN, Nr. 70945/11 u. a. = NVwZ 2015, 499, z. 91. 851 EGMR, 13.2.2003 (GK), Refah Partisi u. a . .1. TUR, Nr. 41340/98 u. a., Z. 91; s. auch Grabmwarttr. FS Rüfner, S. 149, 156;. Garmtr, in: Karl, S. 135. 852 EGMR, 24.2.2015, Karaahmed .1. BUL, Nr. 30587/13, Z. 108, 111; vgl. auch die Abwägung der Rechte des An. 9 EMRK und An. 11 EMRK in VfSlg. 19.961/2015. m EGMR, 24.2.1998, LArüsis .1. GRE, Nr. 23372/94 u.a., Z. SO ff. 854 Art. 2 1. ZP bildet insoweit die gegenüber An. 9 spe-Liellere Garantie, vgl. oben Rn. 107; sowie für weitere mögliche Fallkonstellacionen Grabtnwarttr, in: Korinek/Holoubek et al., Art. 9 EMRK Rn. 31. Speziell zur Verhälmismäßigkeic der Verpflichtung muslimischer Kinder zur Teilnahme am gemischten Schwimmunterricht in der Schule s. EGMR, 10.4.2017, Osmanog/u u. Kocabfll .1. SUI, Nr. 29086/12 = EuGRZ 2017, 249ff. 855 EGMR, 29.4.2003, Po/toratskiy .1. UKR, Nr.38812/97, Z. 166f.; EGMR, 23.2.2016, Mour ./. MDAu. RUS, Nr.11138/10, Z.197. 8 ¼ EGMR, 7.12.2010,Jakobsky.l. POL. Nr. 18429/06, Z. 52f. 857 EKMR. 18.5.1976, X, Nr.6886/75, DR 5, 100 (101); EKMR, 15.2.1965, X, Nr. 1753/63, Yb 8, 174.
398
§ 23. Politische und gemeimchaftsbezogene Grundrechte
§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte
1. Kommunikationsfreiheiten Literatur: Austin, Whistlcblowers: the new watchdogs?, FS Bratz.a, S. 421; Berka, Medienfreiheit und Per-
sönlichkeitsschurz in der digitalen Ära: Neue Signale aus Straßburg, FS Karl, 2012, S. 77; Fl.auss, The European Court of Human Rights and rhe Freedom of Expression, Indiana Law Journal, 2009, 809; Garlirki, Symbolic speech, FS Brarza, S. 331; Comils, in: Gersdorf/Paal (Hrsg.), Informations- und Medienrecht, 2014, Art. 10 EMRK; Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, ZaöRV 1995, 128; Hoffmann-Riem, Die Caroline II-Entscheidung des BVerfG - ein Zwischenschritt bei der Konkretisierung des Kooperationsverhältnisses zwischen den verschiedenen betroffenen Gerichten, NJW 2009, 20; Ho/,oubek. Medienfreiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention, AfP 2003, 193; Kursko-Stadlmayer, Die Rechtsprechung des EGMR, in: Koziol (Hrsg.), Tatsachenmiueilungen und Werturteile: Freiheit und Verantwortung, 2018, S.61; Noltr, Beleidigungsschurz in der freiheitlichen Demokrarie, 1992; Pabrl Internet und Kommunikationsfreiheiten im Licht der EMRK, JRP 2020, 101; Pösrhl Neuvermessung der Meinungsfreiheit?, in: Koziol (Hrsg.), Tatsachenmineilungen und Werturteile: Freiheit und Verantwortung, 2018, S. 31; Srhryli, Die Abgrenzung zwischen ideellen und kommerziellen Informationsgehalten als Bemessungsgrundlage des .margin of appreciation" im Rahmen von Art. 10 EMRK, EuGRZ 2003, 455; Strurh, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, 2019; Vajic!Voyatzis, The incernet and freedom of expression: a „brave new world" and ehe ECtHR's evolving case-law, FS Bracza, S. 391; Wachsmann, Une certaine marge d'apprc!ciacion. Considerations sur les variations du concrole europeen en maciere de libem: d'expression, in: Patrick de Fontbressin u. a. (Hrsg.), Les droits de l'homme au seuil du croisieme millenaire, Melanges en hommage a Pierre Lambert, 2000, S. 1017. Rechtsprechung: Meinungsäußerungsfreiheit: EGMR, 20. 11. 1989, markt intern 14rl.ag GmbH u. KLtus Beermann ./.
GER, Nr. 10572/83 = EuGRZ 1996, 302 (Werbung); EGMR, 26.9.1995 (GK), Vogt ./. GER, Nr.17B51/91 = EuGRZ 1995, 590 (Meinungsfreiheit von Beamten); EGMR, 28.6.2001, VGT 14rein gegen Tie,fobriken ./. SUI, Nr. 24699/94 = ÖJZ 2002, 855 (politische Werbung); EGMR, 15.2.2005, Suel u. Morris./. GBR, Nr. 68416/01 = NJW 2006, 1255 (Verfahrensgarantien in Verleumdungsprozessen); EGMR, 26.2.2009, Kudeshkina ./. RUS, Nr. 29492/05 (Meinungsfreiheit von Richtern); EGMR, 13.7.2012 (GK), Mouvement raelien suisse ./. SUI, Nr. 16354/06 (Verbot einer Plakatkampagne); EGMR, 24.7.2012, Fdber.l. HUN, Nr.40721/08 (Demonstrationsverbot); EGMR, 8.11.2012, PETA Deutschl.and ./. GER, Nr.43481 /09 = NJW 2014, 137 (Vergleich Massentierhaltung und Holocaust); EGMR, 22.4.2013 (GK), Anima/ Deftnders lnttmarional ./. GBR, Nr.48B76/08 (politische Werbung). Pressefreiheit: EGMR, 26.4.1979, Sunday limes (Nr. I) ./. GBR, Nr.653B/74 = EuGRZ 1979, 386;
EGMR, 8.7.1986, Lingens ./. AUT, Nr. 9815/82 = EuGRZ 1986, 424; EGMR, 23.9.1994 (GK),jersild ./. DEN, Nr.15890/89 = NStZ 1995, 237; EGMR, 16.3.2000, Özgür Gündem ./. TUR, Nr. 23144/93; EGMR, 24.6.2004, v. Hannover (Nr. J) ./. GER, Nr. 59320/00 = EuGRZ 2004, 404 (Persönlichkeicsschucz); EGMR, 17.12.2004 (GK), Cumpiina u. Mazli" ./. ROM, Nr. 33348/96; EGMR, 10.12.2007 (GK), Sto/1./. SUI, Nr.69698/01 (Schutz vertraulicher Dokumente); EGMR, 7.2.2012 (GK), v. Hannover (Nr. 2) ./. GER, Nr. 40660/08 u. a. = NJW 2012, 1053; EGMR, 7.2.2012 (GK), Axel Springer AG (Nr. J) .!, GER, Nr.39954/08 = NJW 2012, 1058 (Persönlichkeitsschutz); EGMR, 29.3.2016 (GK), Bidar ./. SUI, Nr. 56925/08 = NJW 2017, 3501 (Veröffentlichung vertraulicher Dokumente aus einem laufenden Strafverfahren). Informationsfreiheit: EGMR, 3.4.2012 (GK), Gi/lberg ./. SWE, Nr.41723/06 (Zugang zu sensiblen Forschungsdaten); EGMR, 8.11.2016 (GK), Magyar Helsinki Bizonsdg .!. HUN, Nr. 18030/11 = NVwZ 2017, 1843 (Zugang zu Informationen). Kunst- und Wissenschaftsfreiheir: EGMR, 20.9.1994, Otto Preminger Institut ./. AUT, Nr. 13470/87 = ÖJZ 1995, 154. Rundfunkfreiheit und Freiheit elekuonischer Medien: EGMR, 24. 11. 1993, Informationsverein lentia u. a. .!. Al.ff, Nr. 13914/88 u. a.; EGMR, 30.3.2004, Raaio Franu u. a. ./. FRA, Nr. 53984/00; EGMR, 21.7.2011, Sigma Raaio Ti:lrvision Ltd./. CYP, Nr. 32181/04; EGMR, 7.6.2012 (GK), Crorro Europa 7
399
3. Teil. Die Garantien der EMRK S.r.L u. Di Stefano ./. ITA, Nr. 38433/09
= NVwZ 2014, 48 (Pluralismus in audio-visuellen Medien); EGMR, 16.6.2015 (GK), Delfi AS./. EST, Nr. 64569/09 (Verantwonlichkeit für Kommentare Dritter); EGMR, 4.12.2018, Magyar Jeti Zn./. HUN, Nr. 11257/16 = NJW 2019, 3201 (Haftung für Verwendung von Hyperlinks).
1. Allgemeines
In Are. 10 werden die Kommunikacionsfreiheicen geschützt. Unter diesen Begriff lassen sich neben der Freiheit der Meinungsäußerung im engeren Sinn die Informationsfreiheit, die Freiheit der Kommunikation durch Massenmedien sowie Teile der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit zusammenfassen. Damit ist der Schutzbereich gegenüber Grundrechtsgarantien der Meinungsäußerungsfreiheit in Verfassungen der Mitgliedstaaten deutlich weiter, weil diese spezielle Garantien für Kunst und Wissenschaft enthalcen. 1 Im Unterschied zu diesen enthält An. 10 Abs. 2 eine einheicliche Grundrechtsschranke, welche nur für die Rundfunk- und Filmfreiheit eine geringfügige Modifikation erfährt. Auch werden im Unterschied zu nationalen Garantien keine Modalitäten der Meinungsäußerung (,,Wort, Schrift und Bild" -Art. 5 GG) genannt.2 Die Grundrechce-Chana der EU enthält in ihrem Art. 1 1 eine mit Are. 10 Abs. 1 S. 1 EMRK identische Garancie. 3 Zur Rundfunkfreiheit findet sich keine gesonderte Garantie, vielmehr werden in einem eigenen Absatz 2 die Achtung der „Freiheit der Medien und ihre[r) Pluralität" verankere. Damit wird der scaaclichen Pflicht zur Gewährleistung eines Medienpluralismus, wie sie in der Rechtsprechung des EGMR und des EuGH bestätige wurde, Rechnung gecragen. 4 2. Schutzbereich
2 An. 10 schüczc eine Vielfalt von Kommunikationsformen, sein Schutzbereich lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten gliedern. Den Ausgangspunkt bildet die allgemeine Freiheit der Meinungsäußerung, die nach ihrem Inhalt definiert ist. Die Pressefreiheit ist durch die spezifische Verbreitungsform des Massenmediums gedruckter Zeitungen und Zeitschriften gekennzeichnet. Auch die Rundfunkfreiheit im weiteren Sinn ist durch bestimmte Verbreitungstechnologien bestimme. Die Informationsfreiheit wiederum erfasse den Inhalt von Kommunikationsvorgängen. Kommunikationsprozesse im Rahmen der Wissenschafts- und Kunstfreiheit sind einerseits durch ihren spezifischen Inhalt, andererseits durch die vom wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalt bestimmten Verbreitungsformen gekennzeichnet. Diese Gliederung hat sowohl für die Konturierung des Schutzbereichs, als auch für die Eingriffsarten und für die Rechtfertigung der Eingriffe Bedeutung. Auch neue Medien genießen Schutz nach
1
An. 5 Abs. 3 GG; An. 17 und 17 a ösrerr. SrGG; An. 20 und 21 Schweizerische BV. Für einen Vergleich zwischen An. 10 EMRK und An. 5 GG vgl. Girgmch, Schucz der Persönlichkeir und Medienfreiheir nach An. 8, 10 EMRK im Vergleich mir dem Grundgesetz, RabelsZ 1999, 471 ff.; Grou/Wm:ul in: Dörr/Grore/Marauhn, Kap. 18 Rn. 16ff. ' Dazu Engel Die Europäische Grundrechrscharta und die Presse, ZUM 2000, 975ff.; Sporn, Das 2
4
Grundrecht der Meinungs- und lnformationsfreiheir in einer europäischen Grundrechrscharra, ZUM 2000, 537 ff.; Jaras1, Charra der Grundrechre, 3. Aufl. 2016, Art. 11 Rn. 1 ff.; von Coelln, in: Srern/Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrcchte-Charra, 2016, An. 11 GRC Rn. 1 ff. Vgl. dazu Grabmwaner, Die Chana der Grundrechte für die Europäische Union, DVBI. 2001, 1 (4f.); zur Rspr. des EGMR s. unten Rn. 66ff.
400
§ 23. Politische und gemeinschaftsbe:wgene Grundrechte
An. 10. 5 Abhängig von der Wirkungsweise eines Mediums nimmt der EGMR eine differenzierende Betrachtung und Zuordnung zu den Teilfreiheiten vor. 6 Der persönliche Schutzbereich des Are. l O erstrecke sich auf alle Personen, die sich einer 3 der von Abs. l erfassten Kommunikacionsformen bedienen. Art. lO schüczc nicht nur den Journalisten oder Autor, sondern auch den Verkger einer Zeicschrifc7 oder eines Buches.8 Auch das Verhältnis zwischen dem Verleger oder Herausgeber und den bei ihm beschäftigten Journalisten ist durch Art. l O bestimmt. 9 a) Die Freiheit der Meinungsäußerung
Ausgangspunkt der Gewährleistung des An. l O ist die Freiheit der Meinungsäuße- 4 rung. In einem weiten Sinn verstanden umfasst sie jede Form der Kommunikation im zwischenmenschlichen Bereich. In einem engeren Sinn ist damit zunächst die Weitergabe von Meinungen geschützt. Anders als nach mancher Verfassungsordnung stellt sich die Frage einer Unterscheidung zwischen „Meinungen" und bloßen „Tatsachen" im Rahmen der EMRK nicht auf der Schutzbereichsebene, sondern erst bei der Frage der Rechtfertigung von Eingriffen. 10 Ausdrücklich wird die Mitteilung von Informationen und Ideen (,,information and ideas") 11 geschützt. Die Meinungsäußerungsfreiheic schütze den Einzelnen auch davor, für Aussagen Dritter verantwortlich gemacht zu werden, die sich zwar auf ein Zitat des Betroffenen stützen, aber über die von diesem selbst gcwählccn Worte hinausgehen. 12 Geschützt ist jedoch nicht nur die Kommunikation, sondern - als Voraussetzung der Äußerung - das Recht, eine Meinung zu bilden und eine solche zu haben, wie sich insbesondere aus der englischsprachigen Fassung der EMRK ergibt (,,freedom to hold opinions"). 13 Dieser Teil der Freiheit schüczc vor allem vor staatlicher Indoktrinierung. 14 Das Recht, an Wahlen teilzunehmen, fällt hingegen nicht in den Schutzbereich des Art. l 0. 15 Tatsachenmitteilungen sind ohne Einschränkung geschüczc, und zwar auch dann, 5 wenn es sich um unrichtige Behauptungen handelt. 16 Die EMRK gehe daher von einem „offenen" Kommunikationsbegriff aus, der weder hinsichtlich der Modalitäten ~ S. z.B. EGMR. 23.1.2018, 6 7 8
9
10
11
12 13
14 1 ~
16
MagyarKerforku Kutya Pdrt ./. HUN, Nr.201/17, 2.37 (Einbeziehung einer App in den Schutzbereich des An. 10). Grabmwarur, in: Maunz/Oürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 85. Lfg. 2018, An. 5 Rn. 669. EGMR, 11.1.2000, NEWS' Verlags GmbH & Co. KG./. Al.JT, Nr. 31457/96, Z. 39. EGMR, 15.1.2009, Orba11 u. a. ./. FRA, Nr. 20985/05, Z. 47. Zur sogenannten .inneren Pressefreiheit" vgl. Engel Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschurzes auf Meinungsäußerungsfreihcir und Pressefreiheit - insbesondere auf die Einführung von innerer Pressefreiheit, AfP 1994, 1 (5 f.). Vgl. EGMR, 25.3.1985, Barthold .!. GER, Nr. 8734/79, Z. 42; zu falschen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen im Internets. Pöschl Neuvermessung der Meinungsfreiheit?, in: Koziol (Hrsg.), Tatsachenmineilungen und Wenuneile: Freiheit und Verantwortung, 2018, S. 31 (41 ff.). Die amtlichen Übersetzungen der Schweiz und Ösrerreichs erfassen diesen Gehal1 mir der Wendung ,.Nachrichren und Ideen" nur unzureichend. EGMR, 19.9.2013, Stojanovii ./. CRO, Nr. 23160/09, Z. 39. Kki11, Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschurzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit, AfP 1994, 9 (13). Froweirt!Peukm. Arr. 10 Rn. 3 f. EGMR, 13.6.2017, Mooh,111 u. Gillon .!. GBR, Nr. 22962/15 u. a., Z. 48. Anders zu An. 5 Abs. I GG, BVcrfGE 85, 1 (15); BVerfGE 99, 185 (I 87).
401
3. Teil. Die Garantien der EMRK der Äußerung noch hinsichtlich ihres Inhalts eine Beschränkung im Schutzbereich enthält. 17 Erfasst ist auch politische und kommerzielle Werbung. 18 6 Der Grundrechtsträger kann sich jeder Verständigungs.fomz und Verständigungstechnologie bedienen. Die Kommunikationsform kann in Äußerungen durch Wort, durch Schrift, durch Bild oder sonstige Symbole 19 bestehen. Insbesondere schützt An. 10 auch die Meinungsäußerung durch Transparente oder Flugblätter. 20 Das Veröffentlichen sogenannter „offener Briefe" fällt ebenfalls unter die Freiheit der Meinungsäußerung, trotz ihres weiteren Adressatenkreises aber nicht unter die Pressefreiheit. 21 Auch in faktischem Handeln kann eine Grundrechtsausübung liegen. Demnach wurden bestimmte Handlungen ohne verbale Äußerung, wie sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen, vom EGMR als eine Form der Äußerung i. S. d. Art. 10 Abs. 1 befunden. 22 Bei der Entscheidung, ob eine Handlung oder Verhaltensweise in den Schutzbereich des Art. I 0 fällt, kommt es vor allem auf die meinungsäußernden Eigenschaften aus einer objektiven Perspektive sowie auf den Zweck und die Absicht der handelnden Person an. 23 Für die Abgrenzung entscheidend ist daher der symbolische Bedeutungsgehalt einer Handlung. 24 Der Schutzbereich endet dort, wo es nicht mehr (primär) um eine Kommunikation, sondern um bloße soziale Interaktion geht. Physische Behinderungen einer Gänsejagd durch langsames Gehen oder die Besetzung einer Aurobahnbaustelle stellen eine Meinungsäußerung dar. 2'.i Auch das Blasen eines Jagdhorns und Rufen mit dem Ziel der Störung einer Jagd wurden als Meinungsäußerung gegen Fuchsjagden angesehen. 26 Ebenso isr das bloße Zurschaustellen eines Symbols, z.B. auf einer Flagge, geschützt. 27 In den Schutzbereich fallen auch rechtswidrige Akre, wie z. B. das demonstrative Verbrennen einer Flagge oder das Herabwürdigen von staarlichen oder religiösen Symbolen.
7 Auf den Inhalt einer Äußerung kommt es für die Frage, ob der Schutzbereich eröffnet ist, nicht an. Jede Äußerung, mag sie bewusst oder unbewusst unwahr, zutiefst verletzend oder gar rassistisch sein, ist eine „Information oder Idee" i. S. v. Art. 10 Abs. 1. Meinungsäußerungen, die sich auf (offensichtlich) unrichtige Fakten stützen, genießen jedoch keinen Schutz nach An. 10. 28 Der Stil als Ausdrucksform ist neben dem 17
Vgl. Berka. Die Kommunikationsfreiheit, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. II, 1992, S. 393 (415 [); Kugelm11nn, Der Schutz privater Individualkommunikation nach der EMRK. EuGRZ 2003, 16 (20). IH EGMR. 20.11.1989, m11rkt intern Vt-riag GmbH u. Klaus Bmmann ./. GER, Nr. 10572/83 = EuGRZ 1996, 302, Z. 26; s. unten Rn. 17 u. 40. 19 EGMR. 8.7.2008, Vajnai ./. HUN, Nr.33629/06, Z.47 sowie EGMR, 3.11.2011, Fratanolo ./. HUN, Nr. 29459/07, Z. 25ff. (Tragen eines fünfzackigen roten Sterns); vgl. dazu Garlicki, FS Br.ma, S.331 ff. 20 EGMR. 25.8.1993, Chorherr./. AUT, Nr. 13308/87 = RUDH 1993, 366, Z.23ff.; s. auch EGMR. 17.5.2016 (GK), Kardc,ony u. a. ./. HUN, Nr. 42461/13 u. a., Z. 120. 21 So auch EGMR. 25.6.1992, Thorgeir Thorgeirson ./. ISL. Nr.13778/88, Z. 56f.; EGMR, 19.4.2001, Maronrk ./. SVK. Nr. 32686/96, Z. 47. 22 EGMR. 28.10.2014, Gough ./. GBR. Nr. 49327/11, Z. 150. 23 EGMR. 13.9.2016, SrmirGüul.l. TUR, Nr. 29483/09, Z. 28. 24 Dazu &znnek, Freie Meinungsäußerung - Fragen des Grundrechtseingriffs, Fragen der Grundrechrsausübung, ZÖR 2012, 557 (566ff.). zs EGMR, 23.9.1998, Steei u. a . ./. GBR, Nr. 24838/94, Z. 92. 26 EGMR. 25.11.1999, Ha'I
440
§ 23. Po/irische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte
schwerde nach Art. 10 erhoben, spielt außerdem die Schwere der verhängten Strafe eine Rolle. 361 Bei der Berichterstattung über strafrechtliche Ermittlungen, bei der Gerichtsberichterstat- 50 tung und bei der Veröffentlichung von Bildern verurteilter Personen kommt es auf den Bekanntheitsgrad sowie auf die körperliche und psychische Verfassung der betroffenen Personen, auf die seit der Verurteilung und/oder der Ha~entlassung vergangene Zeit, auf die Art des begangenen Unrechts, ferner auf den Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Berichts und dem gezeigten Bild, auf die Vollständigkeit und Richtigkeit des Begleittextes und darauf an, ob auch andere Medien die Bilder publizieren durften. 362 Bei der Berichterstattung über Straftaten wird der Öffentlichkeit ein gesteigertes Informationsinteresse zuerkannt, vor allem dann, wenn es sich um die Berichterstattung über schwerwiegende Delikte handelt. 363 Ein solches Interesse beschränkt sich nicht nur auf das laufende Verfahren, sondern kann auch noch Jahre nach dem abgeschlossenen Prozess bestehen. In einem solchen Fall ist das Interesse der Allgemeinheit an der Berichterstattung mit dem Interesse des Verurteilten an der Wiedereingliederung in die Gesellschaft gegeneinander abzuwägen. Im Fall M.L. u. W.W., einer auf Art. 8 gesrümen Beschwerde, enrschied der EGMR, dass den Bf. kein Rechr aufVergessenwerden zukomme. 364 Die zwei wegen Mordes verurteilten Bf. beanrragren nach ihrer Haftentlassung vergeblich die Anonymisicrung der Berichte über ihr vergangenes Strafverfahren in Online-Archiven. Der EGMR entschied, dass eine namencliche Nennung der Verurteilten in den OnlineArchi\·en deutscher Zeitungen keine Verletzung des Art. 8 darstelle. Der Gerichtshof stärkte die Rolle der Presse als .public watchdog", indem er beronre, dass es Aufgabe der Presse sei, der Offenclichkeit auch alte Informationen über Online-Archive zur Verfügung zu stellen, damit dieser der Zugang zu Informationen gewährleistet werde. Auch die Nennung von individualisierbaren Informationen sei dabei ein wesencliches Element der Presseberichrerstarrung. 365
Journalisten muss die Möglichkeit eingeräumt werden, über Gerichtsve,fahren zu berichten, solange sie über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses informieren, die Verfahrensrechte des Angeklagten gewahrt werden und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rolle der Gerichte bei der Gerichtspflege erhalten bleibt. 366 Bei der Veröffentlichung von geheimen Unterlagen aus einem laufenden Strafverfahren müssen Rechte aus Art. 10, Art. 6 und Art. 8 gegeneinander abgewogen werden. 367 Neben dem Inhalt des Artikels, der Bedeutung des Beitrags zu einer Debatte von öffentlichem Interesse und der Frage, wie der Journalist in den Besitz der Informationen gekommen
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366 367
Conciliation de la prorection des droits d'autrui et de la libem! de la presse: la quere d'un cquilibrc introuvable, RTDH 2014, 237ff.; Daiber, in: Meyer-Ladewig er al., Art. 10 Rn. 39ff. EGMR, 10.11.2015 (GK), Couderc u. Hachette Filipacchi Associes.l. FRA, Nr. 40454/07, Z. 93. EGMR, 7.12.2006, Östemichischer Rundfonk ./. AUT, Nr. 35841/02, Z. 68, 71 (Neonazi); ähnlich EGMR. 14.12.2006, Verlapgruppe News GmbH (Nr. 2) ./. AUT, Nr. 10520/02, Z. 36ff. (Ermittlungen gegen Großindustriellen - .public figure"); vgl. auch EGMR, 16.4.2009, Egel.anti u. Hanseid ./. NOR, Nr. 34438/04, Z. 57ff. (Zulässigkeit von Strafen für die Veröffcnrlichung von Fotos einer Mörderin beim Verlassen des Gerichtsgebäudes nach der Verurteilung). Hierzu und zum Folgenden EGMR, 28.6.2018, M.L. u. W.W. ./.GER.Nr. 60798/10 u. a., Z. 98ff., 105. EGMR, 28.6.2018, M.L. u. W.W. ./. GER, Nr. 60798/10 u. a., Z. 86ff.; s. zum Recht aufVergessenwerden auch St11jfkr. Recht aufVergesscnwerden und Kriminalberichterstattung, OJZ 2019, 498ff. EGMR, 28.6.2018, M.L. u. W.W. ./. GER, Nr. 60798/10 u. a., Z. 102, 105. EGMR. 11.1.2000, News Verlap GmbH & Co.KG./. AUT, Nr. 31457, Z. 56; EGMR, 22.3.2016, Pinto Coelho (Nr. 2) ./. POR, Nr. 48718/11, Z. 38. EGMR, 29.3.2016 (GK), Bldat ./. SUI, Nr. 56925/08 = NJW 2017, 3501, Z. 51 f., 68ff., 72ff.
441
3. Teil Die Garantien der EMRK
ist, hat im Besonderen auch das Risiko der Beeinflussung des laufenden Verfahrens und eine mögliche Beeinträchtigung des Privatlebens des Angeklagten in die Verhältnismäßigkeitsprüfung miteinzufließen. 368
51 journalistische Sorgfaltspflichten haben in der Rechtsprechung deutliche Konturen erhalten. 369 Journalisten müssen bei der Veröffentlichung ihrer Beiträge mitbedenken, welche Auswirkungen das Bekanntwerden von Tatsachen insbesondere für die Betroffenen haben kann. Dabei muss auch die Verbreitungsform berücksichtigt werden. Zu Recht geht der EGMR davon aus, dass die Verbreitung im Fernsehen weitaus unmittelbarere Wirkungen haben kann als in der Presse. 370 Zweifelhaft ist hingegen, ob der Rundfunk größeren Einfluss als das Internet hat, wie der EGMR annimmt. 371 Das Konzept des „verantwonungsvollen Journalismus" (,,responsible journalism") umfasst neben dem Inhalt einer Information, die von einem Journalisten gesammelt oder verbreitet wird, auch die Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Journalisten einschließlich des öffentlichen Umgangs mit Behörden in Ausübung journalistischer Funktionen. 372 Ungeachtet der maßgebenden Rolle, welche der Presse zukommt, können Journalisten jedoch nicht von der Pflicht zur Einhaltung der strafrechtlichen Bestimmungen befreit werden. 373 In Fällen besonderer politischer Konflikte und Spannungen haben Journalisten die Pflicht, bei der Verbreitung von Positionen politischer Vereinigungen, die Gewalt gegen den Scaat üben, den Einfluss miczubedenken, den die Veröffentlichung auf die öffentliche Ordnung haben kann. Insbesondere darf die Presse nicht Aufrufe zu Hass und Gewalt unterstützen. 374 52 Bei der Wiedergabe von Zitaten bestehen Sorgfaltspflichten in abgewandelter Form. Die Bestrafung eines Journalisten für die Verbreitung von - korrekt wiedergegebenen Aussagen Dritter wird vom EGMR nur ausnahmsweise bei Vorliegen „besonders gewichtiger Gründe" für zulässig angesehen, weil sie den Beitrag der Presse zur Diskussion von Angelegenheiten des öffentlichen Interesses beeinträchtigen würde. 37 ~ Zwar kann im Einzelfall eine Verpflichtung bestehen, den Inhalt nicht unkritisch wiederzugeben, vor allem dann, wenn der Eindruck eigener Meinungsäußerung des Journalisten erwecke wird. 376 Wird aber der Umstand vernachlässige, dass die Aussagen von Dritten stammen und fehle eine Begründung für die Veruneilung von Journalisten 368
369 370 371 372
373
374
375 376
EGMR. 29.3.2016 (GK), Bldat ./. SUI, Nr. 56925/08 = NJW 2017, 3501, Z. 55ff.; zur Veröffentlichung von Audio-Mirschninen einer Gerichrsverhandlung s. EGMR, 22.3.2016, Pinto Coelho (Nr.2) ./. POR, Nr.48718/11. Für einen Überblick Myjn; FS Braru, S. 117 f[ EGMR, 30.3.2004, Radio France u. a. ./. FRA, Nr. 53984/00, Z. 39. EGMR, 22.4.2013 (GK), Anima/ Defmdm !nttT1U1tiona/./. GBR. Nr.48876/08, Z. 119. EGMR, 20.10.2015 (GK), Pmtikäinm ./. FIN, Nr. 11882/10, Z. 90f. (rechtswidrige Handlungen eines Journalisten bei einer Demonstration). EGMR, 20.10.2015 (GK), Pmtikiiinm ./. FIN, Nr.11882/10, Z.91, 110; EGMR, 23.6.2016, Brambil/;J u. a. ./. ITA. Nr. 22567/09, Z. 54f., 64 (Abhören des Polizeifunks durch Journalisten). Sr. Rspr. des EGMR in den sog. Türkei-Fällen; EGMR, 8.7.1999 (GK), Erdogdu u. lnce ./. 11.JR. Nr. 25067/94 u. a., Z. 54; s. auch Holoubek, Medienfreiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention, Afl' 2003, 193 ( 199 f.); Bismuth. Le developpemenr de standards professionnels pour les journalisres dans la jurisprudence de la Cour europeenne des droits de l'homme, RTDH 2010, 39ff. EGMR, 17.12.2004, Pedn-sm u. Baadsga,zrd ./.DEN.Nr. 49017/99, Z. 77. EGMR, 4. 5.2010, Effictm Spiegtl AG./. GER, Nr. 38059/07 (Vorwurf unlauteren Vorgehens gegenüber Automobilunternehmen i. Z. m. dem Venrieb in Osteuropa).
442
§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte
bzw. des Medienunternehmens, so wird Art. 10 verlerzt. 3n Die Verbreitung unbewiesener Behauptungen mit dem Vorwurf schwerwiegender Straftaten, die überdies die Unschuldsvermutung beeinträchtigen, vermag sogar vergleichsweise strenge Sanktionen zu rechtfercigen. 378 Bei der Überprüfung, ob eine verhängte Maßnahme mit der Pressefreiheit des Journalisten vereinbar ist, nimmt der Gerichtshof auf folgende Aspekte Bedacht: die relevanten Interessen im Einzelfall, die von der nationalen Gerichtsbarkeit ausgeübte Kontrolle, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Ausmaß der verhängten Sanktion. 379 Auch auf NGOs lassen sich die Grundsätze journalistischer Sorgfaltspflichten übertragen.380 Sie haben in gutem Glauben zu handeln und müssen der Öffentlichkeit richtige und zuverlässige Informationen zur Verfügung stellen. 381 Ihnen kommt die Pflicht zu, Tatsachenbehauptungen zu überprüfen, wenn sie ihre „watchdog" Funktion ausüben. Sind Verleumdungen durch eine NGO an die Öffentlichkeit gelangt, so kann eine Verletzung von Art. 10 vorliegen, wenn sich die aufgestellten Behauptungen als falsch herausstellen und die NGO diese im Vorfeld nicht angemessen auf ihre Richtigkeit geprüft hat. 382 Im Fall Rien ging es um die Verurteilung des Journalisten eines satirischen Fernsehmagazins in einem privaten italienischen Fernsehkanal zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe. Der Journalist gelangte widerrechtlich an Mitschnitte eines Interviews des öffentlich-rechtlichen Senders „RAi", die nicht zur Ausstrahlung bestimmt waren. In der Absicht, die Arbeitsweise des Fernsehens zu kritisieren, veröffentlichte er das Interview in seinem Programm. Der EGMR stellte fest, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe wegen ihrer Schwere und abschreckenden Wirkung grundsätzlich selbst dann eine unverhältnismäßige Sanktion sei, wenn der verurteilte Journalist entgegen den Grundsätzen journalistischer Ethik handelte, weil er wusste oder hätte wissen müssen, dass die erlangten Aufnahmen vertraulich waren. 383
Die Publikation von erkennbar unwahren Behauptungen oder Berichten über Einzelheiten aus der Intimsphäre von Personen, jedenfalls soweit sie nicht Gegenstand des öffentlichen Interesses sind, darf grundsätzlich auch unter Androhung von Sanktionen untersagt werden, ohne dass eine Grundrechtsverletzung stattfindet. Im Übrigen kommt es maßgeblich auf die Sorgfalt in der Recherche und die Art der Darstellung an. Bei der Beurteilung von oft verkürzten Artikelüberschriften, welche die Aufmerksamkeit der Leser auf sich ziehen sollen, ist der Zusammenhang mit dem Inhalt des jeweiligen Artikels zu berücksichtigen. 384 Eine solche Gesamtbetrachtung hat sich im EinzelfaJI auch über mehrere Ausgaben desselben Mediums zu erstrecken, wenn es sich um eine Serie von Beiträgen zum selben Thema handelc. 385 Ist ein schwerwiegender Vorwurf faktisch umstritten, ist bei der Überprüfung der Fakten durch den Herm EG.MR, 8.10.2009, Romanmko ./. RUS, Nr.11751/03, Z. 44. 378 EG.MR, 6.4.2010, Ruokanm u. a. ./. FIN, Nr. 45130/06, Z. 46ff. 37'J EGMR, 8.10.2013, Ried./. ITA, Nr. 30210/06, Z. 51. 380 S. auch Holoubek, in: Berka/Holoubek/Leitl-Scaudinger (Hrsg.), S. 8; Pabe! Internet und Kommunikationsfreiheiten im Licht der EMRK, JRP 2020, 101 (107). 381 EGMR. 8.11.2016 (GK), Magyar He/Jinki Bimmdg ./. HUN, Nr. 18030/11 = NVwZ 2017, 1843, Z. 159; EGMR, 27.6.2017 (GK), Medilis lslamske Zajednice Brcko u. a. ./. BIH, Nr. 17224/11, Z. 86fE 382 EGMR, 27.6.2017 (GK), Medilis /Jl.amske Zajednice Brc.'ko u. a. ./. BIH, Nr. 17224/11, Z. 109ff. 383 EGMR, 8.10.2013, Rieei ./. lTA, Nr. 30210/06, Z. 57, 59; EGMR, 24.11.2013, Belpietro ./. lTA, Nr. 43612/ 10, Z. 61. Zu den Grenzen der Zulässigkeit strafrechtlicher Sanktionen für Meinungsäußerungen s. oben Rn. 34. ™ EGMR. 1.6.2010, Gurie=zSuJrn ./. ESP, Nr. 16023/07, Z. 36. m EGMR, 6.5.2010, Brunet Leeomte u. Lyon Mag./. FRA, Nr. 17265/05, Z. 44.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK
ausgeber einer Zeitung ein besonders sorgsames Vorgehen gefordert. Veröffentlicht die Zeitung den Vorfall als unbestritten, so verletzt selbst eine hohe Schadensersatzsumme nicht Are. 10. 386 Im Fall der Veröffentlichung eines Berichts über medizinische Kunstfehler in einer Privadclinik ließ eine norwegische Zeitung neben betroffenen Patientinnen auch zwei zufriedene Patientinnen der Klinik zu Wort kommen. Daneben wurde dem Mediziner die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, von der dieser auch Gebrauch machte. Die Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht ließ der EGMR im Fall Bergens Titknde im Ergebnis deshalb nicht gelten, weil der Arzt keine Schritte unternommen hacce, um von dieser entbunden zu werden. In der Gesamtabwägung unter Berücksichtigung des Schurzes des guten Rufs des Arztes einerseits sowie der Rolle der Presse als „öffentlicher Wachhund" andererseits hielt der EGMR eine Verurteilung zu Schadensersatz für unverhältnismäßig. 387 Ebenso sah der Gerichtshof eine Verletzung in der Verurteilung des Opfers eines ärztlichen Kunstfehlers wegen der Wiedergabe seiner kritischen Äuße• rungen über den verantwortlichen Arzt in der Presse. 388 Ähnlich gelagert war der Fall der norwegischen Zeitung Bl.adet Troms,, die den Bericht eines Robbenfang• inspektors des Fischereiministeriums über Vorgänge auf einem namentlich genannten Schilf verölfent• lichte. Der Gerichcshofhob hervor, dass sich die Zeitung auf den Bericht des Inspektors des Ministeriums verlassen durfte, ohne langwierige eigene Recherchen über den Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen durchfuhren zu lassen. Nach Ansiehe des EGMR überwog das Veröffentlichungsinteresse an dem Bericht in einer Debarte von größerer Bedeutung für die Öffentlichkeit. lll'J Eine Verlerzung der journalistischen Sorgfaltspflicht nahm der EGMR hingegen im Fall der Verölfent• lichung eines Artikels an, in dem dem früheren Landeshaupanann von Kärnten nach fälschlicher Wieder• gabe eines Gutachtens eine unrechtmäßige Vorgehensweise bei der Bestellung von Aufsichtsräten eines öffentlichen Unternehmens vorgeworfen wurde. 390
Ähnliche - an die journalistischen Sorgfaltspflichten angelehnte - Pflichten bestehen für die Betreiber von Internetportalen. Ein kommerzielles Online-Nachrichtenportal ist verpflichtet, effektive Maßnahmen gegen die Verbreitung von zu Gewalt aufrufenden Nutzer-Kommentaren vorzusehen. 391 Analoge Überlegungen gelten für Aussagen von lnterviewparmern in Interviews. Eine Pflicht der Presse, selbst Zensur zu betreiben, besteht grundsätzlich nicht. Wenn sich jedoch eine Zeitschrift darauf einlässt, einer Person eine Plattform zu bieten, in der sie den Einsatz von Gewalt öffentlichkeitswirksam bewerben kann, ist eine Beschränkung mit Art. 10 vereinbar. 392 Wird ein Medium bzw. ein verantwortlicher Journalist für Äußerungen Dritter in einem Leserbrief bzw. in einem Interview verurteile, bedarf dies einer besonderen Begründung. 393 EGMR, 22.10.2009, Europapms Holdingdo.o. ./. CRO, Nr. 2'333/06, Z. 67ff. (Vorwurf der Bedrohung eines Journalisten durch einen Minister mit einer Waffe). 387 EGMR. 2.8.2000, Bergens Tidmtk u.a. ./. NOR. Nr.26132/95, Z.60; vgl. auch EGMR, 16.11.2004, &listö ./. FIN, Nr. 56767/00, Z. 51 f. 388 EGMR. 11.10.2007, Kanellopoulou ./. GRE, Nr. 28504/05, Z. 40. 389 EGMR. 20.5.1999 (GK), Bladet Troms, u. Stmsaas ./. NOR, Nr. 21980/93 = EuGRZ 1999, 453, Z.65ff. 390 EGMR, 22.2.2007, Standard Verlagsgesellschaft m.b.H. (Nr. 2) ./. AUT, Nr. 37464/02, Z. 4 I ff. (eine Pressemitteilung der gegnerischen Partei stellt keine geeignete Tatsachengrundlage dar). 391 EGMR (GK), 16.6.2015, Dt/fiAS ./. EST, Nr. 64569/09, Z. 140, 157f.; näher unten Rn. 60. m Ho/fmeistn; EuGRZ 2000, 364 f. 393 EGMR. 23.9.1994 (GK), /mild./. DEN, Nr.15890/89 = NStZ 1995, 237, Z.37; EGMR, 14.12.2006, Verlagsgruppe News GmbH./. AlIT, Nr. 76918/01, Z. 30ff (Veröffentlichung eines offenen Briefs eines Künstlers, der sich kritisch mit FPÖ-Politikern und einem von ihnen angestrengcen Gerichtsverfahren beschäftigte). .i11o
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§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte Die Aussage eines interviewten Soziologen, die kurdische Kultur werde sich im Südosten der Türkei revitalisieren, erfüllte ein öffentliches Informationsinteresse, das einer strafrechtlichen Einordnung dieser Äußerung vorgeht.3?4 Interviews mit Vertretern illegaler Organisationen sind zulässig, solange in diesen lnter,·iews kein Aufruf zur Gewalt stattfindet. 395
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes schützt An. l O bei Interviews mit anderen Personen grundsätzlich auch dann, wenn in diesen Interviews bestimmte rechtswidrige Äußerungen fallen. Eine allgemeine Pflicht des Journalisten, sich von Interviews oder zitierten Artikeln zu distanzieren, besteht nicht. 3% Die Annahme einer solchen Pflicht wäre mit der Rolle der Presse, über Fakten, Meinungen und Ideen zu berichten, die gerade im Umlauf sind, nicht zu vereinbaren. 397 Kein Konventionsverstoß liege in der Solidarhaftung des Medienunternehmens für Schadensersatz wegen Äußerungen eines Interviewten, wenn das Interview auf Initiative der Zeitung gefühn wurde und diese unbeschränkte redaktionelle Freiheit genoss. 398
Der EGMR hat den Schutz von Informanten und das Redaktionsgeheimnis als wesent- 53 liches Element journalistischer Betätigung anerkannt. 399 Er hebt auch hier die Gefahr eines Abschreckungseffekts (,,chilling effect") von Eingriffen hervor: Der Schurz journalistischer Quellen gehört zu den Grundvoraussetzungen der Pressefreiheit. In diesem Zusammenhang verweist der EGMR auf die Gesetze und Berufsausübungsregeln in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten sowie auf internationale Dokumente. 400 Ohne einen solchen Schurz könnten - so der Gerichtshof - Quellen davon abgeschreckt werden, die Presse in ihrer Aufgabe zu unterstützen, über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu informieren. Als Folge davon könnte die unverzichtbare Rolle der Presse als „öffentlicher Wachhund" und ihre Fähigkeit, präzise und zuverlässige Informationen zu liefern, nachteilig berührt sein. Im Fall des Journalisten Goodwin stellte der EGMR aus diesem Grund eine Verletzung der Pressefreiheit fesr. 401 Der Journalist hatte Informationen aus einem geheimen Geschäftsbericht eines Unternehmens erhalten, der zum maßgeblichen Zeitpunkt nur in acht Exemplaren existien hatte. Aus diesem ergab sich, dass das betroffene Unternehmen unter erheblichen Finanzproblemen lin. Es stand außer Streit, dass einer der Geschäftsberichte gestohlen worden war. Als der Journalist die ihm zugegangenen Informationen bei der Firma überprüfen wollte, erwirkte das Unternehmen eine einsrweilige Verfügung gegen den Herausgeber der entsprechenden Zeitung. Alle übrigen einschlägigen englischen Zeitungen und Zeirschrifren wurden davon informien. Rechtliche Schrirce des Journalisten und seines Herausgebers blieben erfolglos. Der EGMR sieht in dieser Verfügung eine Verletzung des An. 10. An einer Verfügung zur Offenlegung von Aufzeichnungen, welche die Identität eines Informanten enthüllen sollen, besteht nach Auffassung
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l9i 396
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401
EGMR, 8.7.1999 (GK), Erdngdu u. lnce ./. TUR, Nr. 25067/94 u. a., Z. 54; dazu Hoffineisur, EuGRZ 2000, 364. EGMR, 8.7.1999 (GK), Sürek u. Öukmir ./. TUR, Nr. 23927/94, Z. 63. EGMR, 23.9.1994 (GK), Jmil.d ./. DEN, Nr.15890/89 = NSrZ 1995, 237, Z.34f.; EGMR. 10.7.2012, Björk Eid.sdottir ./. ICE, Nr. 46443/09, Z. 79f. EGMR, 29.3.2001, Thoma ./. LUX, Nr. 38432/97, Z. 64. EGMR, 9.11.2006, Krone Verlags GmbH & CoKG (Nr. 4) ./. AUT, Nr. 72331/01, Z. 36. EGMR, 27.3.1996 (GK), Goodwin ./. GBR, Nr.17488/90, Z. 39; EGMR, 14.9.2010, Sanoma Uitgevm B. V../. NEO, Nr. 38224/03, Z. 50. Resolurion des Europäischen Parlamenrs über die Vemaulichkeit von journalistischen Quellen vom 18.1.1994, ABI. C 44/34; Empfehlung Nr. R (2000) 7 des Ministerkomitees des Europarates über das Recht der Journalisten auf Geheimhaltung ihrer Informationsquellen vom 8.3.2000. EGMR, 27.3.1996 (GK), Goodwin ./. GBR, Nr. 17488/90, Z. 39, 46; s. dazu Nicolaou, FS Brarza, 138ff.
s.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK des EGMR kein ausreichendes Interesse, um das vitale öffentliche Interesse am Schutz der journalistischen Quelle aufzuwi~en. 402 Ein noch drastischerer Eingriff in den Schutz der Vertraulichkeit von Informanten lag im Fall Rormm und Schmit vor, in dem eine Durchsuchung der Privatwohnung sowie des Arbeitsplatzes eines Journalisten angeordnet wurde, um auf diese Weise die Offenlegung seiner Quellen zu erreichen. Eine derartige staatliche Maßnahme ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn sie der Verfolgung von nicht unerheblichen Straftaten dient. 403 lm ähnlich gelagerten Fall \loskuilsah der EGMR eine Verletzung von Art. 10 darin, dass die Verwendung unzulässiger Methoden durch eine Behörde eine Angelegenheit darstellt, auf die ein Recht der Öffentlichkeit auf Information besteht. 404 Ein Durchsuchungsbefehl, der es den Behörden erlaubte, Daten von einem USB-Stick eines Journalisten zu kopieren, wodurch es den Behörden möglich war, auch Zugriff zu Daten zu erlangen, die nicht in Zusammenhang mit dem strafrechtlich verfolgten Sachverhalt standen, bildete eine Verletzung von Art. I0. 40 S Kein Schutz journalistischer Quellen kam einem niederländischen Magazin zu, das ankündigte, ein Bekennerschreiben eines anonymen Informanten zu drei Bombenanschlägen zu veröffentlichen, woraufhin eine Durchsuchung der Räumlichkeiten der Redaktion des Magazins durchgeführt wurde. bei der Computer und anderes Material beschlagnahmt wurden. Es sei nämlich die Absicht des Informanten gewesen, der behauptet, für kriminelle Akte verantwortlich zu sein, durch das Magazin im Schleier der Anonymität zu bleiben, um dadurch der eigenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entgehen. 406
Der Schutz journalistischer Quellen bestehe auch dann, wenn den Behörden die Identität der Quelle bereits bekannt isc. 407 Auch das Verhalten der Informationsquelle ist nicht maßgeblich für die Beurteilung, ob Journalisten ihre Quellen offenlegen müssen, sondern ist lediglich ein Faktor, der im Rahmen der Verhälmismäßigkeicsprüli.mg zu berücksichtigen ist. 408 Wird die Anordnung getroffen, in einem gegen die Informationsquelle geführten Strafverfahren auszusagen, so ist im Rahmen der Verhälmismäßigkeitsprüfung des Weiteren relevant, ob die Aussage des Journalisten für das Strafverfahren notwendig ist, damit es zu keiner Behinderung des Verfahrens kommt. 409 54 Die große Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen erfordert auch entsprechende Verfahrensgarantien. Eilmaßnahmen, die in das Redakcionsgeheimnis eingreifen, bedürfen entweder einer ausführlichen Begründung oder aber einer unabhängigen Kontrolle, bevor das Material zugänglich gemache bzw. verwertet wird; eine bloß nachträgliche Kontrolle ist nicht ausreichend und würde den Wesensgehalt des Anspruchs auf Vertraulichkeit untergraben. 410
402
Vgl. auch das Urteil im ähnlich, aber nicht gleich gelagerten Fall EGMR, 15.12.2009, Financia/ ltmts Ltd u. a. ./. GBR, Nr. 821/03, Z. 69ff. (Veröffentlichung vertraulicher wirtschaftlicher Informationen über die bevorstehende Übernahme eines Brauereiunternehmens mit Auswirkungen auf die Börsenkurse). 403 EGMR, 25.2.2003, Ronnro u. Schmit ./. LUX, Nr.51772/99, Z. 57ff.; EGMR, 27.11.2007, Ti/Jack ./. BEL, Nr. 20477/05, Z. 61 ff.; EGMR, 22.11.2012, Tt-kgraaf Mtdia Ntdn-land und Land.t/ijkt Mtdia B. V. u. a. ./. NED, Nr. 39315/06, Z. 84 ff. (Überwachung von Journalisten und Anweisung der Offenlegung journalistischer Quellen war Verletzung von Art. 10). 404 EGMR, 22.11.2007, \loskuil.l. NEO, Nr. 64752/01, Z. 70f. 40 s EGMR, 18.4.2013, Saint-Paul LuxtmbourgS. A . ./. LUX, Nr. 26419/10, Z. 61; wie auch in EGMR, 16.7.2013, Nagla ./. LAT, Nr. 73469/10, Z. 82. 406 EGMR, 27.5.2014, StichtingOstade BI.ade./. NEO, Nr. 8406/06, Z.65. 407 EGMR, 16.7.2013, Nagla ./. LAT, Nr. 73469/10, Z. 78ff.; EGMR, 5.10.2017, Btcker .1. NOR, Nr. 21272/12, Z. 74. 408 EGMR, 5.10.2017, Btcker.l. NOR, Nr. 21272/12, Z. 74. 409 EGMR, 5.10.2017, Btcker.l. NOR, Nr. 21272/12, Z. 80f. 410 EGMR, 14.10.2010 (GK), Sanoma Uitgtvers B. V../. NED, Nr. 38224/03, Z. 91.
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§ 23. Politische und gemeimchaftsbezogene Grundrechte
Mit Blick auf den präventiven Charakter der geforderten Kontrolle muss das unabhängige Kontrollorgan in der Lage sein, die Abwägung der potentiellen Risiken und jeweiligen Interessen im Vorhinein und mit Bezug zum jeweils zur Herausgabe angeforderten Material durchzuführen und die Argumente der (Strafverfolgungs-)Behörden angemessen zu würdigen. Hierfür müssen klare Entscheidungskriterien vorgegeben werden, die auch die Frage berücksichtigen, ob ein gelinderes Mittel ausreicht. 411 Der von Art. 10 geforderre Schutz des Redaktionsgeheimnisses ist nicht Selbstzweck, sondern auf den Schutz journalistischer Quellen gerichtet. Daher bildet es keine Grundrechtsverletzung, wenn der Journalist Material herausgeben muss, das er durch Gespräche mit Personen erlangt hat, die nicht wussten, dass sie mit einem Journalisten sprechen. Der Schutz solcher Personen muss nicht dasselbe Niveau erreichen wie derjenige von lnformanten. 412 Auch im Übrigen genießt das Redaktionsgeheimnis nicht unbegrenzten Schucz. 413 Vom Schutz des Redaktionsgeheimnisses unberührt bleibt die Verpflichcung, eine hinreichende faktische Grundlage für aufgestellte Behaupcungen darzulegen. 414 Zur Bestimmung der Schranken ist eine Interessenabwägung zwischen Publikationsinteresse und Geheimhaltungsinteresse durchzuführen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen für die Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft und den möglichen abschreckenden Effekt, den die Offenlegung einer Quelle für die Ausübung dieser Freiheit haben könnte, sind staatliche Beschränkungen mit Art. 10 nur dann vereinbar, wenn sie durch ein übeiwiegendes Erfordernis im öffentlichen Interesse gerechtfertigt sind. 415 Soweit der EGMR Schranken der Beschränkung der Informationsfreiheit der Presse 55 zu beurteilen hat, folgt er der allgemeinen Linie der Rechtsprechung zur Pressefreiheit. Bei der Beantwortung der Frage, ob Verurteilungen von Medien und Journalisten, die vertrauliche Dokumente veröffentlicht haben, gerechtfertigt sind, zieht der EGMR Kriterien heran, die er in Fällen des Beleidigungsschutzes entwickelt hat ~politischer Diskurs über den Inhalt, Bezug der betroffenen Personen zur Politik bzw. Offentlichkeit).416 Relevante Gesichtspunkte in der Abwägung sind: die Natur der in Rede stehenden Interessen, das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung der Informationen, die von den Behörden zu schützenden Interessen, die Kontrolle der beschränkenden Maßnahme durch nationale Gerichte in einem fairen Verfahren, weiter das Verhalten des Beschwerdeführers (Art der Erlangung der geheimen Information, Form der Publikation) sowie schließlich die Schwere der verhängten Sanktion. 417 Überwiegt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die Geheimhaltungsinteressen, kann sogar die Verurteilung eines Journalisten wegen Anstiftung eines Beamten zur Verletzung des Armsgeheimnisses zur Feststellung einer Grundrechtsverletzung führen. 418
m EGMR, 14.10.2010 (GK), Sanoma Uitgevm B. V..!. NED, Nr. 38224/03, Z. 93ff. 412 EGMR, 8.12.2005, Nordisk Film & TV AIS./. DEN, Nr. 40485/02 (Herausgabe von unveröffentlichtem Filmmaterial über dänische Pädophilen kreise). 413 So im Ergebnis auch van Rijn. in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 796. 414 EGMR, 17.12.2004 (GK), Cumpana u. Maziire.l. ROM, Nr. 33348/96, Z. 106. m EGMR, 21.1.1999 (GK), Frrssoz u. Roire .!. l'RA, Nr. 29183/95, Z. 53ff.; EGMR, 14.10.2010 (GK), Sanoma Uitgevm B. V..!. NED, Nr. 38224/03, Z. 51. 416 EGMR, 7.6.2007, Dupuis u. a . ./. FRA, Nr. 1914/02 = NJW 2008, 3412, Z. 33ff. 417 EGMR, 10.12.2007 (GK), Stoll .!. SUI, Nr. 69698/01, Z. 101 ff. 418 EGMR. 25.4.2006, Dammann ./, SUI, Nr. 77551/01, Z. 50ff.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK Keine Verleczung des Art. 10 sah der EGMR in der Verurteilung eines Journalisten in der Schweiz, der auszugsweise ein Geheimdokument aus den Verhandlungen zwischen dem Jüdischen Wehkongress und schweizerischen Banken bezüglich einer an Opfer des Holocaust zu zahlenden Entschädigung für nicht abgehobene Guchaben auf schweizerischen Konten veröffentlichte (allerdings verkürze, aus dem Zusammenhang gerissen und mit verf.i.lschtem Sinngehalt), da die Art und Weise, in der der Artikel abgefasst wurde, schwerlich geeignet war, ein so ernstes und bedeutsames Thema wie Antisemitismus zu behandeln; vielmehr habe der Journalist nicht das Ziel verfolgr, die Öffentlichkeit über ein Thema allgemeinen Interesses zu informieren, sondern den Bericht zum Gegenstand eines .unnötigen Skandals" gemacht, der zum Rücktrier des an den Verhandlungen beceiligcen Botschafters der Schweiz in den USA fuhrte. 4 "
Wird durch eine einstweilige Verfügung das Verbot der weiteren Verwendung bestimmter Presseinhalte angeordnet, hängt die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme .von der Reichweite, der Dauer, der Begründung und den Möglichkeiten der Überprüfung der einstweiligen Verfügung ab. Auch die Schwere der angedrohten Konsequenzen bei Nichtbefolgung der einstweiligen Verfügung kann eine Verletzung von An. 10 begründen. 420
56 cc) Besonderheiten bei Eingriffen in die Freiheit des Rundfunks und sonstiger elektronischer Medien. Eingriffe in die Rundfunkfreiheit unterliegen grundsätzlich den allgemeinen Schranken des Art. 10 Abs. 2, lediglich für bestimmte Eingriffe wie einen Genehmigungsvorbehalt ergibt sich die Legitimität des Ziels aus Art. 10 Abs. 1 S. 3. 421 Letzteres gilt nicht nur für technische Aspekte, sondern auch für andere Gesichtspunkte der Lizenzerteilung, nämlich für den rechtlichen Status und den Auftrag eines Rundfunkveranstalters, die nationale, regionale oder lokale Zuhörerschafr, deren Rechte und Bedürfnisse sowie die VerpAichcungen aus internationalen Vercrägen. 422 Dadurch werden Regelungszwecke zugelassen, die über die legitimen Ziele des An. 10 Abs. 2 hinausgehen. Vor diesem Hintergrund bildet ein öffentlich-rechcliches Rundfunkmonopol einen sehr weitgehenden Eingriff in die Freiheiten des Art. 10 Abs. 1. Eine Rechtfertigung unter Hinweis auf eine begrenzte Am.ahl verfügbarer Frequenzen oder Kanäle trägt heute angesichts des technischen Fortschritts nicht mehr. Vielmehr gibt es wesentlich gelindere Mittel, wie etwa die Erteilung von Genehmigungen für privaten Rundfunk aufgrund spezieller Verfahren mit verschiedenem Inhalt oder Vorkehrungen für Formen privater Teilhabe an den Aktivitäten nationaler öffenclich-rechrlicher Anstalten. Auch der Hinweis auf die geringe Größe des Marktes eines kleinen Mitgliedstaates schlägt nicht durch, weil auch kleinere Staaten ein duales Rundfunksystem etabliert habcn. 423 57 Neben dem Grundsatz der geborenen Öffnung von Rundfunkaktivitäten für Private unterliegt auch die inhalcliche und technische Ausgestaltung des Rundfunksystems den Vorgaben des Art. 10 Abs. 2. So kann ein zu geringes Angebot von Frequenzen für private Veranstalter trotz weitergehender technischer Möglichkeiten einen Verstoß 419
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EGMR, 10.12.2007 (GK), Stoll.l. SUI, Nr.69698/01, Z. 125ff., dazu Anm. Hotrtlin-, RTDH 2008, 801 ff. EGMR. 8.10.2013, Cumhuriytt Vakfi ./. TUR, Nr. 28255/07, Z. 62ff. EGMR, 28.3.1990, Groppera Radio AG u. a. ./. SUI, Nr. 10890/84, Z. 61. EGMR. 24.11.1993, lnformatiomvmin Lrotia u. a. ./. AUT. Nr. 13914/88 u. a., Z. 32; vgl. davor bereits die Literatur Holoubtk, Rundfunkfreiheit und Rundfunkmonopol, 1990, S. 190 ff.; EngtL Privater Rundfunk vor der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1993, S. 75 ff. EGMR, 24.11.1993, lnfarmationsvmin ltntia u. a. .!. AlIT, Nr. 13914/88 u. a., Z. 40ff.
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§ 23. Politische und gemeimchaftsbezogene Grundrechte
gegen Art. 10 bilden. 424 Umgekehn sind bei der Beuneilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs alle Möglichkeiten der Verbreitung und des Empfangs von Rundfunkprogrammen zu berücksichtigen. Es liege z. 8. keine Verletzung von Are. l 0 trotz eines Monopols für terrestrisches Fernsehen vor, wenn eine Möglichkeit der Verbreitung von Fernsehprogrammen über Kabel besteht und die maßgeblichen Fernsehnutzer entweder über einen Kabelanschluss verfügen oder die technischen Möglichkeiten haben, einen solchen einzurichten. 425 Ebenso dürfen die Konventionsstaaten Regelungen erlassen, die darauf abzielen, einseitige kommerzielle Sparcenprogramme zu verhindern, um auf diese Weise die Ausgeglichenheit und Qualität der Programme zu gewährleisten. 426 Art. l 0 steht jedoch einer offensichtlich willkürlichen oder diskriminierenden Verweigerung einer Lizenz entgegen und gebietet im Fall einer negativen Entscheidung eine überzeugende Begründung. 427 Im Hinblick auf Eingriffe wegen des Inhalts von Rundfunkprogrammen befand der EGMR im Fall Sigma Radio Television, dass die Verhängung von Geldbußen gegen einen Fernsehsender wegen rassistischer und diskriminierender Inhalte angemessen war. Die Kriterien, anhand derer der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit der Sanktion überprüft hat, waren der Charakter der Sendung, die Höhe der Strafe sowie die Gründlichkeit der Behörde bei der Begründung ihrer Entscheidung. 428 In Entscheidungen über eine Reihe von Beschwerden gegen die Türkei haue der EGMR die cemporäre Suspendierung und lemlich den dauerhafcen Enrzug von Sendelizenzen von religiös ausgerichcecen Rundfunkveranscaltern zu beurteilen. Beispielsweise bildete die Verhängung eines Sendeverbots von 180 Tagen eine Verlcrzung von Art. 10. Die Suspendierung wurde verhängt, nachdem der Sender den Kommencar ausstrahhe, dass ein Erdbeben mit tausenden Toten eine. Warnung Allahs" an die .Feinde Allahs" gewesen sei. Obwohl der Gerichcshof zugescand, dass es sich um eine verlerzende Bemerkung in einem besonders tragischen Zusammenhang gehandelc habe, beurccilte er die Sanktion als unverhältnismäßig. 42'1 Für die Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen der türkischen Rundfunkbehörde war fur den EGMR erheblich, ob die sanktioniercen Inhalte zu Gewalt, Terrorismus oder Rassismus aufriefen oder das Gcfuhl von Hass provozierten. 430
Eine begrenzte Bevorzugung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kann jedoch zuläs- 58 sig sein. So kann ein System der Bevorzugung von öffenclich-rechclichen Rundfunkanstalten bei der Vergabe regionaler Frequenzen als vereinbar mit Art. 10 angesehen werden, wenn damit das legitime Ziel der Aufrechterhaltung des Pluralismus, der Vielfalt und der Nichtkommerzialisierung für das Publikum in der betreffenden Gegend verfolge wird. Auch ist es mit Art. 10 vereinbar, wenn das staacliche Recht Einschränkungen von Journalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen im Interesse der Unabhän424
Vgl. EGMR. 20.10.1997, Radio ABC .1. AUT, Nr. 19736/92, Z. 33. m EGMR.21. 9. 2000, Tek I Privatfmisehgeu/Jschaft MBH .1. AlIT, Nr. 32240/96, Z. 38ff. 426 EGMR. 5.11.2002, Demuth ./. SUI, Nr. 38743/97, Z. 43. 427 EGMR, 30.9.2010, 92.9 Hit FM Radio GmbH .1. AlIT, Nr. 6754/05 = ÖJZ 2011, 188. 428 EGMR, 21. 7.2011, Sigma Radio Tekvision Ltd .1. CYP, Nr.32181/04 u. a., Z. 207 ff. (rassistische Aussagen im Rahmen einer auf Fiktion beruhenden Serie). m EGMR. 27.11.2007, Nur Rayo [.. .} (Nr. 1) .1. TUR, Nr. 6587/03, Z. 30f.; schließlich der Enrzug der Sendelizenz vgl. EGMR, 12. 10.2010, Nur Rayo [... } (Nr. 2) .1. TUR, Nr. 42284/05, Z. 57; ähnlich EGMR, 4.12.2007, Özgür Radyo { ..}(Nr. 2) ./. TUR, Nr. 11369/03, Z. 28, 30 (Suspendierung der Sendelizenz für 365 Tage wegen Ausstrahlung eines Liedes); zur Entziehung der Liienz in weiterer folge EGMR, 10.3.2009, Özgür Radyo [. .. ] (Nr. 3) .1. TUR, Nr. 10129/04, Z. 29f. oo EGMR, 14.11.2006, Medya FM [. .. / .1. TUR, Nr. 32842/02 (keine Verlerzung); EGMR, 27.11.2007, Nur Rayo [...} (Nr. I) .1. TUR, Nr.6587/03, Z. 30; EGMR, 10.3.2009, Özgür Radyo { .. /(Nr. 3) .1. TUR, Nr. 10129/04, Z. 28.
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3. Teil. Die Garantien rkr EMRK
gigkeit und Unparteilichkeit vorsieht. 431 Auch die Wiedergabe von Aussagen aus fiktionalen Unterhaltungsserien darf zulässiger Weise beschränkt werden, wobei der Staat auch hier durchaus zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Veranstaltern differenzieren darf, da erstere einem anderen rechtlichen Status und einer anderen Zielsetzung unterliegen. 432 Aus diesem Grund können sie auch mit Blick auf die Pflicht zur Entrichtung einer Lizenzgebühr und die Organisation der behördlichen Kontrolle unterschiedlicher Behandlung unterworfen werden. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Rundfunkfreiheit ist auf die besondere Wirkung des Rundfunks im Vergleich zu anderen Medien Bedacht zu nehmen. In einem Fall zur Rundfunkfreiheir eines öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalrers in der Schweiz bildete die Nichterteilung einer Genehmigung zur Aufnahme eines Fernsehinterviews mir einer wegen Mordes verurteilten Insassin einer Strafanstalt eine Verletzung von An. 10. Dass bereits ein Telefoninterview aufgezeichnet worden war, das über das Interner aufgerufen werden konnte, hielt der EGMR für irrelevant. Ein telefonisch aufgezeichnetes Interview habe im Vergleich zu einem Fernsehinterview nichr dieselbe Wirkung auf seine Empfänger. Überdies hänen die Behörden die Entscheidung nur kursorisch begründet. ◄ 33
59 Die journalistische Tätigkeit im Rundfunk wird häufig als Teil der Pressefreiheit behandelt und demgemäß denselben Grundsätzen bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen unterworfen. 434 Es ist mir Are. 10 aber vereinbar, wenn das staatliche Recht Einschränkungen für Journalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen im Interesse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Mediums vorsieht. 435 60 Für die Beurteilung von Grundrechtseingriffen im Zusammenhang mit Publikationen im Internet ist die besondere Wirkrnacht des Mediums zu berücksichtigen, weil große Mengen von Informationen gespeichert und weitergegeben werden können. Einerseits spielt das Internet eine wichtige Rolle beim Zugang der Öffentlichkeit zu Nachrichten und bei der Verbreitung von Informationen im Allgemeinen. Andererseits ist das Risiko der Beeinträchtigung der Ausübung von Menschenrechten durch Internetkommunikation höher, weshalb auch besondere Anforderungen an die Pflichten eines Journalisten und an die Methoden ausgewogener Berichterstattung zu stellen sind. 436 Durch die dauerhafte Verfügbarkeit von im Internet veröffentlichten Informationen kann zudem die Intensität des Grundrechtseingriffs in Persönlichkeitsrechte verstärkt werden. 437 Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte wird außerdem durch Suchmaschinen verstärkt, die es Internetnutzern erlauben, Suchinhalte leichter aufzufin01
Vgl. An. 1 Abs. 2 des österreichischen Bundesverfassungsgeserzes über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks (dazu ösrerr. Vf(;H, VfSlg. 10 948/1986); zu den Gewährleisrungspflichten aus An. 10 in Bezug auf die Rundfunkfreiheit s. unten Rn. 67. m EG MR. 21.7.2011, Sigma Radio Te/.evision Ltd .1. CYP, Nr. 32181 /04 u. a., Z. 208, 222 fE 433 EGMR, 21.6.2012, Schwrizrrischr Radio- und Fmisrhgrsellschaft SRG ./. SUI, Nr.34124/06 = NJW 2013, 765, z. 64f. 4 1◄ EGMR, 23.9.1994 (GK), Jmil.d .1. DEN, Nr.15890/89 = NScZ 1995, 237, 2.31; EGMR, 29.3.2001, Thoma ./. LUX, Nr. 38432/97, Z. 58. m Implizit EGMR. 17.9.2009, Manoku.a . ./. MDA. Nr.13936/02, Z. lOlf. 06 EGMR. 18.12.2012, Ahmrt Yil.dirim ./. TUR, Nr.3111/10, Z.48, 54; EGMR. 4.12.2018, Magyar Jrti Zn./. HUN, Nr. 11257/16 = NJW 2019, 3201, Z. 66. 437 EGMR, 28.6.2018, M.L. u. W.W. ./. GER, Nr. 60798/10 u. a., Z. 91; s. auch Pabel, )RP 2020, 102f.
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§ 23. Politische und gemeimchaftsbezogene Grundrechte
den. 438 Zur Wirkung des Internets im Vergleich zum Medium Rundfunk stellte der EGMR fest, dass Informationen aus dem Internet und aus sozialen Medien nicht dieselbe Bedeutung zukomme, da diese keine vergleichbare Gleichzeitigkeit und nicht denselben Einfluss aufweisen würden wie Informationen aus dem Rundfunk. 439 Trotz der erheblichen Entwicklung des Internets und sozialer Medien in den letzten Jahren verneinte der EGMR eine hinreichend gravierende Änderung des Einflusses im Verhältnis zwischen den elektronischen Medien. 440 Aufgrund der verstärkenden Wirkung auf die Verbreitung von Informationen über das Internet durch Suchmaschinen unterscheiden sich auch die Verpflichtungen von Suchmaschinenbetreibern von jenen Einrichtungen, die die Information ursprünglich veröffentlicht haben. 441 Bei der Abwägung der in Frage stehenden Interessen ist daher zu differenzieren, ob ein Antrag auf Löschung einer Information gegen den Suchmaschinenbetreiber, der nur zur Verbreitung der Information beiträgt, gerichtet ist oder gegen den ursprünglichen Herausgeber einer Information, dessen Hauptinteresse in der Veröffentlichung einer Information und damit im Kernbereich des Art. 10 liegt. Auch bei Beschränkungen des Zugangs zum Internet, wie etwa durch das Blockieren bestimmter Websites, ist die besondere Bedeutung des Mediums für die Beschaffung und Weitergabe von Informationen zu berücksichtigen. 442 Für die Beurteilung der Frage, ob Sanktionen wegen Nichterfüllung der Sorgfaltspflichten von Portalen oder Providern bei rechtswidrigen Äußerungen Dritter verhältnismäßig sind, ist auf den Kontext der inkriminierten Äußerungen, die gegen diffamierende Äußerungen ergriffenen Maßnahmen, die Haftung der tatsächlich für die Äußerungen Verantwortlichen und die Konsequenzen der innerstaatlichen Verfahren für die Betreiber eines Portals Bedacht zu nehmen. 443 Im Fall Delfi AS hatte sich der EGMR mit der Frage der Haftung eines lnternetportalbecreibers für stark beleidigende Kommentare zu befussen, die auf seiner Homepage und zu einem von ihm dort veröffentlichten Artikel von anonymen Nutzern gepostet wurden. Auf dem estnischen Online-Nachrichcenporcal, das zu den größten des Landes gehöre, gab es die Möglichkeit, anonym Kommentare zu Artikeln zu schreiben, die automatisch hoch geladen wurden und vom Portalbetreiber weder editiert noch moderiert wurden. Zur 438 439
440
+II
442
443
EGMR, 28.6.2018, M.L. u. WW ./. GER, Nr. 60798/10 u.a., Z. 97. Zu Art. 10 und neuen Medien s. Grabenwarte,; in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 5 Rn. 669; zur lncemetfreihcic s. Berka/Trappet. Internetfreiheit in Österreich, Schrihenrcihc Reche der elektronischen Massenmedien (REM), Bd. 17, 2019, S. 1 ff.; Pabel, JRP 2020, 101. EGMR. 22.4.2013 (GK), Anima! Defenders International./. GBR, Nr. 48876/08, Z. 119; zu Sachverhalren mit Bezug zum Internet in der Rspr. des EGMR s. 11.ijic/V,ryatw, FS Brarza, S. 395 fE Hierzu und zum Folgenden EGMR, 28.6.2018, M.L. u. WW ./. GER, Nr. 60798/10 u. a., Z. 97. EGMR. 5.5.2011. Herausgeber von Prav,rye Delo u. Shtekel ./. UKR, Nr.33014/05, Z.63; s. auch EGMR, 19.1.2016, Ka!da ./. EST, Nr. 17429/10, Z. 44, 52 (Beschränkung des Internetzugangs eines Gclangnisinsasscn); vgl. auch Berka. Medienfreiheit und Persönlichkeitsschurz in der digitalen Ära: Neue Signale aus Straßburg, FS Karl, 2012, S. 77 (85 f.); zur VerpAichrung staatlicher Stellen, Zugang zum Internet für Häftlinge zu ermöglichen, s. unten Rn. 68. EGMR. 16.6.2015 (GK), Delfi AS./. EST, Nr. 64569/09, Z. 142; s. auch die Folgerechtsprechung zu Delfi AS EGMR, 2.2.2016, Magyar Tanalomswlgdltatok Egyesükte u. /ndex.hu Zrt ./. HUN, Nr.22947/13 = NJW 2017, 2091; EGMR. 7.2.2017, Pihl ./. SWE, Nr. 74742/14; zur Rspr. des EGMR bezüglich Postings in Internetforen s. auch KucJko-Stadlmayer, Die Rechtsprechung des EGMR. in: Koziol (Hrsg.), Tatsachenmitteilungen und Werturteile: Freiheit und Verantwortung, 2018, S.61 (69).
451
3. Teil. Die Garantien der EMRK Beseitigung unpassender Kommentare wurden verschiedene Vorkehrungen getroffen (Meldung beleidigender Kommentare, automatische Löschung von obszönen Kommentaren, Möglichkeit der Beschwerde gegen Beleidigungen etc.). Anlässlich eines kritischen Artikels über ein Unternehmen waren eine ganze Reihe von teils schwer beleidigenden Kommentaren über ein Mitglied der Geschäftsführung dieses Unternehmens gepostet worden. Nach ungefähr sechs Wochen entfernte der beschwerdeführcnde Portalbecreiber die beleidigenden Kommentare vom Internetportal in Reaktion auf ein Schreiben des Anwalts des betroffenen Managers. Der EGMR kam zum Ergebnis, dass die Schutzmechanismen der lnternetplartform den Schutz der Rechte anderer nicht ausreichend sicherstellten und die geringe Geldstrafe gerechtfertigt war. 444 Dabei misst der Gerichtshof dem Umstand Gewicht bei, dass die Kommentare der Nutzer wegen ihres als Hassrede zu qualifizierenden Inhalts nicht von Art. I O geschützt seien sowie dass ein potentielles Opfer von Hassrede geringere Möglichkeiten habe, kontinuierlich das Internet auf entsprechende Inhalte zu überprüfen, als ein großes kommetzielles Online-Nachrichtenportal in der Lage sei, solche Beiträge zu verhindern oder rasch zu entfcrnen. 44 ~ Internetportale können auch für das Setzen von Hyperlinks zur Verantwortung gezogen werden, selbst wenn sie nicht Herausgeber der beleidigenden Äußerungen auf der verlinkten Website sind. Das bloße Setzen des Hyperlinks fuhrt jedoch nicht automatisch zur Haftung des lnternetportalbetreibers, sondern es hat eine Einzelfallprüfung stattzufinden. 446 Im Fall Magyar Jeti Zrt entwickelte der EGMR Kriterien, die bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftung wesentlich sind: 447 Es ist zu eruieren, ob der Journalist den umstrittenen Inhalt befürwortet, ihn bloß wiederholt oder ob der Journalist nur den Link setzte, ohne den Inhalt zu befürworten oder zu wiederholen. Des Weiteren hat in die Prüfung miteinzufließen, ob der Journalist wusste bzw. vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass der umstrittene Inhalt beleidigend oder in sonstiger Weise rech1Swidrig war. Auch zu beachten ist, ob der Journalist in gutem Glauben handelte, den journalistischen Berufsethos achtete und jene Sorgfalt anwendete, die von einem verantwortungsvollen Journalisten erwartet werden kann. Der EGMR betonte, dass die Verbreitung von Inhalten durch das Serzen eines Hyperlinks nicht mit der Verbreitung von beleidigenden Inhalten gleichgesetzt werden kann. 448
61 dd) Besonderheiten bei Eingriffen in die Kunstfreiheit und in die Wissenschaftsfreiheit. Für Einschränkungen der Kunstfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit gelten im Prinzip dieselben Schranken wie im übrigen Schutzbereich des Art. 10. Wenn Kunstwerke mit Fragen von Moral und Religion in Konflikt geraten, wurde die Kontrolle des EGMR früher mitunter zurückgenommen. 449 Der EGMR befand Verurteilungen eines Künstlers und von weiteren Personen für verhältnismäßig, die an der Ausstellung von drei Gemälden, welche unter anderem homosexuelle Handlungen darstellten, beteiligt waren. In der angedrohten Vernichtung der Bilder sah der Gerichtshof ebenfalls keine Konventionsverletzung, da die Gemälde noch nicht vernichtet und dem Bf. kurz vor dem Urteil des EGMR auf sein Ansuchen hin auch zurückgegeben wurden. 00 Einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Kunstfreiheit nahm der EGMR hingegen im Falle eines unbeschränkten Ausstellungsverbots betreffend ein Gemälde an, das einen FPÖ-Politiker bei einer sexuellen Handlung zeigt. Maßgeblich war dabei, dass das Bild offensichtlich keine realen Begehenheiten wiedergab, sondern eine Karikatur darstellte, die durch die ihr innewohnende Übertreibung und Verzerrung der Realität gerade darauf abzielte zu provozieren. Weiter hob der Gerichtshof hervor, dass neben dem Bf., der in seiner Funktion als Politiker eine größere Toleranz gegen-
444
EGMR, 16.6.2015 (GK), Drift AS./. EST, Nr. 64569/09, Z. I44ff. (Schadensersatz in Höhe von 320 Euro). m EGMR, 16.6.2015 (GK), Drift AS./. EST, Nr. 64569/09, Z. 140, 157f. 446 EGMR. 4.12.2018, Ma.o1ar Jeti Zrt ./. HUN, Nr. 11257/16 = NJW 2019, 3201, Z. 76. 447 EGMR, 4.12.2018, Magyar JetiZrt ./. HUN, Nr. 11257/16 = NJW 2019, 3201, Z. 77. 448 EGMR, 4.12.2018, Magyar Jeti Zrt ./. HUN, Nr. 11257/16 = NJW 2019, 3201, Z. 74. 449 Vgl. Lati/, La Cour europeenne de Droi!S de l'Homme renforce la creation arristique face a la protection de la morale, RTDH 2010, 769ff. 450 EGMR, 24. S. 1988, Mülln- u. a . ./. SUI, Nr. 10737/84 = EuGRZ 1988, 543, Z. 35.
452
§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte über Kritik an den Tag legen müsse, 33 - zumeist prominentere - Personen in gleicher Weise abgebildet gewesen seien, und würdigte schließlich den Umstand, dass infolge einer Beschädigung des Gemäldes das Portrait des Bf. teilweise verdecke worden sei. 4 S1 Gegen die Beschlagnahme und Einziehung eines von den nationalen Gerichten als blasphemisch eingestuften Films hatte der EGMR keine Bedenken. 452 Der Gerichtshof betome die Nocwendigkeic des Schutzes der Religionsfreiheit von Personen, die durch den Film beeinrrächrigr werden konnre. Die österreichischen Behörden häcren im Hinblick auf die religiösen Verhältnisse in Tirol bei der Beschlagnahme des Films im Interesse der Sicherung des religiösen Friedens gehandelt. Im Hinblick darauf gelangre der Gerichtshof zum Ergebnis, dass die nationalen Behörden ihren Beurteilungsspielraum nicht überschricren haben.m Zu demselben Ergebnis gelangte der EGMR im Fall Wingrove, in dem ein kurzes Video kein Zertifikat vom „Brirish board of film classificarion" erhalten harre, weil es als blasphemisch in seinem Portrait von Christus in einem sexuellen Konrext angesehen wurde. Der Gerichtshof gelangte zur Auffassung, dass ein legitimes Ziel des Schutzes der Rechte anderer, nämlich nicht in religiösen Gefühlen verlerzr zu werden, vorgelegen habe. Im Hinblick auf den großen Beurteilungsspielraum und den besonderen Inhalt des Films sei die Enrscheidung weder willkürlich noch unsachlich gewesen. 454
Äußen ein Wissenschaftler Kritik am Universitätssystem, handelt es sich um eine An- 62 gelegenheit des öffentlichen Interesses. Dem Schutz einer nicht namentlich genannten Person darf dann nicht der Vorzug vor der Meinungsfreiheit des Wissenschaftlers in einer öffentlichen Debatte gegeben werden. 455 Eine Verletzung des An. 10 sah der EGMR in der Verurteilung eines Schrifmdlers wegen Kritik an einer Kollegin, da diese als Autorin eines wissenschaftlichen Buches, das veröffenrlichr wurde und auf dem Buchmarkt verfügbar war, mic Kritik rechnen musste und sich die Äußerungen nur gegen die Qualität der von ihr vorgenommenen Analyse richtecen. 456
d) Der Vorbehalt nach Art. 16
Das Recht auf Meinungsfreiheit nach Art. 10 steht auch Ausländern zu. Nach Art. 16 63 kann dieses Grundrecht jedoch - ebenso wie die Versammlungsfreiheit nach Art. 11 - hinsichtlich „der politischen Tätigkeit ausländischer Personen" eingeschränkt werden. Die Möglichkeit der Beschränkung von politischen Grundrechten für Nichtstaatsangehörige gegenüber Staatsangehörigen entspricht allgemeinem Völkerrecht.457 Nach zutreffender Auffassung greift diese Ermächtigung jedoch nicht bei EU-Ausländern. 458
451
EGMR. 25.1.2007, Vereinigung Bildender Künstkr .1. Al.JT, Nr. 68354/01, Z. 26ff. m Mit einem Überblick über die Rspr. des Gerichtshofes zu blasphemischen Aussagen vgl. Guerra, FS Bratza, S. 307 ff. 03 EGMR, 20.9.1994, Otto Pmninger lmtitut ./. Al.JT, Nr. 13470/87 = ÖJZ 1995, 154, Z. 55f.; kritisch Wachsmann, La religion conrre la liberre d' expression: sur un arrer regreccable de la Cour europcenne des droirs de l'homme. L'arrer O110-Preminger lnsrirur du 20 septembre 1994, RUDH 1994, 441; Sachverhalt, Inhalt und Kritik des Urteils bei Grabmwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, ZaöRV 1995, 128 ff. 4 4 s EGMR, 25.11.1996, Wingrow ./. GBR, Nr. 17419/90, Z. 57ff.; dazu Kolonovits, Meinungsfreiheit und Blasphemie in der jüngeren Rechrsprechung des EGMR, in: Grabenwarrer/Thienel (Hrsg.), 1998, 169 (178). m EGMR, 23.6.2009, Sorguf .l. TUR, Nr. 17089/03, Z. 341f. 456 EGMR, 27.3.2008, Azrvrdo .1. POR, Nr. 20620/04, Z. 32. m Näher oben § 18 Rn. 25 ff. 458 EGMR, 27.4.1995, Piemwnt ./. FRA, Nr. 15773/89 u. a. = ÖJZ 1995, 751. Z. 64; dazu Kokottl Rudolf. AJlL 90 (1996), 456 (458 lf.).
s.
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3. Teil. Die Garantien der EMRK
Are. 16 ist restriktiv auszulegen. 459 Auch Ausländer können eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Maßnahmen vor dem EGMR verlangen. S. Grundrechtliche Gewährleistungspflichten a) Schutzpflichten
64 Aus An. 10 kann sich die Verpflichtung des Staates ergeben, nicht nur bestimmte Eingriffe zu unterlassen, sondern selbst bestimmte Maßnahmen zum Schutz der entsprechenden Freiheiten zu ergreifen. Solche Schutzpflichten werden dann ausgelöst, wenn von Privaten Störungen ausgehen, welche die Ausübung der Freiheit, vornehmlich der Pressefreiheit, behindern. Der Staat ist gehalten, ein effektives System des -Schutzes von Autoren und Journalisten sowie eine Umgebung zu schaffen, welche die Mitwirkung aller Betroffenen an öffentlichen Diskussionen begünstigt, in der sie ohne Furcht Meinungen und Ideen äußern können, und zwar auch dann, wenn sie sich gegen die Auffassungen der Behörden richten oder gegen einen wichtigen Teil der öffentlichen Meinung. 460 Wenn der Staat nach wiederholten - gegebenenfalls auch gewaltsamen Vorfällen nicht in ausreichendem Maß und Umfang reagien, verletzt er seine aus Are. 10 fließenden Schutzpflichten. Auch Pflichten zu Ermittlungsschritten, die auf die Ausforschung der Täter gerichtet sind, können in diesem Zusammenhang aus An. 10 erwachsen. Im fall Özgiir Gündnn waren Redakteure bzw. Eigentümer einer rürkischen Tageszeitung Opfer einer Vielzahl von Übergriffen und Ziel von Bombenanschlägen; insgesamt sieben für die Zeitung tätige Journalisten wurden gerörer. Die Zeirung mussre schließlich ihren Betrieb einstellen. Obwohl sich die Bf. mehrfach mit Bitten und Petitionen an die Regierung gewandt hatten, unterließ diese entsprechende Maßnahmen. Der Gerichtshof betonte, dass die Meinungsfreiheit nicht nur ein Eingriffsverbot des Staates, sondern auch positive Maßnahmen zu ihrem Schurz verlange, dies sogar im Verhälrnis von Privaren untereinander. Dabei gelte es allerdings, einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Einzelnen und der Gemeinschafr insgesamt herzustellen. Der Umfang einer positiven VerpAichrung variierr daher je nach Sachverhaltslage und ist insbesondere auch von den Schwierigkeiren, moderne Gesellschaften zu steuern, und den Prioritäten, die geseczc werden müssen, abhängig. Die VerpAichrung darf außerdem den Mitgliedstaaten keine unverhältnismäßige Lase auferlegen. Angesichts der Schwere der Angriffe erachtete der EGMR Untersuchungen spezifischer Vorfälle durch einzelne Scaacsanwälce für nicht ausreichend. 461
Andererseits ist der Staat nicht verpflichtet dafur zu sorgen, dass Einzelne auf fremdem Privatgrund die Möglichkeit erhalten, fur ihre Anliegen zu werben. Eine derartige Gewährleistungspflicht könnte nach Ansicht des EGMR dem Staat erst dann erwachsen, wenn die Verweigerung des Zugangs zu Privatgrund das Recht auf freie Meinungsäußerung in seinem Kern zerstören würde. 462 Besondere aus An. 10 folgende Schutzpflichten für die Rundfunkfreiheit hat der EGMR nach der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR wegen des Verbots der Ausstrahlung eines (politischen) Werbespots im Fernsehen angenommen: Der Staat habe die notwendigen Maßnahmen dafür zu treffen, dass dieser ausgestrahlt werden könne. 463 09 460 461 462 463
Näher oben § 18 Rn. 27. EGMR. 14.10.2010, Dink u. a. ./. TUR, Nr. 2668/07 u.a., Z. 137. EGMR. 16.3.2000, Ö?.f.Ür Günrkm ./. TUR, Nr.23144/93, Z. 43f. EGMR, 6.5.2003, Appkby u. a . ./. GBR, Nr. 44306/98, Z. 47. EGMR, 30.6.2009 (GK), Verringegm TierfabrikmSchweiz (VgT) (Nr. 2) .1. SUI, Nr. 32772/02 = NJW 2010,3699,Z.78,98.
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§ 23. Politische und gemeinschafobezogene Grundrechte
Schuczpflichten aus Arr. 10 bestehen auch im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Ar- 65 beicnehmer. 464 Grundrechtsdogmacisch wird diese Schuczpflichc in der Rechtsprechung des EGMR an den Entscheidungen der Arbeitsgerichte festgemacht, die als Eingriffe in das Grundrecht gewertet und den Schranken des Are. 10 unterworfen werden. 465 Im Fall Frä.ri/J u. Ciocirlan war es zwei Journalisten crocz eines rechcskräftigen Urteils zu ihren Gunsten nichc möglich, Zugang rn ihrer Rcdakcion bei einem Rundfunkverans1al1er zu erhahen. Obwohl die nacionalc:n Behörden für die: Verweigerung des Zutrim nichc direkc veranrwortlich waren, scdlte der EGMR fesc, dass der Mi1glieds1a.a1 verpflich1e1 gewesen wäre, effekcive Maßnahmen zur Durchseczung der Gerichtsencscheidung zu ergreifen. Durch das Versäumnis der Behörden, solche Maßnahmen zu creffen, seien die Garantien des Are. 10 ihrer prakcischen Wirksamkeic beraubc. 466
b) Gewährleistungspflichten bei Organisation und Verfahrensgestaltung
Gewährleistungspflichten mit Bezug zur Organisation i. w. S. bestehen im Medien- 66 bereich zugunsten der Sicherung eines Pluralismus von Zeitschriften und Medien. Der EGMR hat das namenclich für die Rundfunkfreiheit bestätigt, wenn er darauf verweist, dass der Staat bei der Sicherung des Pluralismus vor allem im Bereich audiovisueller Medien, deren Programme ofr weiträumig ausgestrahlt werden, oberster Garant zu sein habe. 467 Eine vergleichbare Pflicht zur Pluralismussicherung bestehe auch für den übrigen Medienbereich. 468 Dies hat der EGMR indirekt bestätigt, indem er dem Ziel der Verhinderung eines Einflusses finanziell mächtiger Gruppen auf das Fernsehen sowie der Sicherung gleicher Möglichkeiten verschiedener gesellschafrlicher Gruppen beim Zugang zu Massenmedien ausdrücklich die Legitimität in Bezug auf Grundrechtsbeschränkungen zuerkannt hat. 469 In diesem Zusammenhang werden für die Ermittlung des Inhalts dieser Gewährleistungspflicht eine Reihe von Erklärungen und Resolutionen des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates herangezogen. 470 Aus Arr. 10 folgen auch Gewährleistungspflichten bei der Ausgestaltung des Verfahrens im Zusammenhang mit Eingriffen in die Rechte nach Art. 10. Zunächst sind Garantien zur Herstellung von Waffengleichheit in Beleidigungsprozessen zu nennen. Zwar ist es mit Art. 10 grundsätzlich vereinbar, wenn es dem Beklagten obliegt, den Wahrheitsbeweis seiner Behauptungen zu erbringen. 471 Nur unter besonderen Umständen kann der Dispens einer Zeitung von der üblichen Pflicht zum Tatsachenbeweis ge464
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EGMR, 29.2.2000, Furntes Bobo .1. ESP, Nr. 39293/98, Z. 38. EGMR, 21.7.2011, Heinuch ./. GER, Nr. 28274/08, Z. 45, 47ff.; s. aber EGMR, 12.9.2011 (GK), Palomo Sdnchn u. a. ./. ESP. Nr. 28955/06 u. a., Z. 60f.; dazu ksitisch Reid, FS Bratza, S. 386ff. EMGR, 10.5.2012, Fräsi/J u. Ciod'rlan ./. ROM, Nr. 25329/03, Z. 63ff. EGMR, 24. 11. 1993, Infonnarionsverein Lentia u. a. ./. AlIT, Nr. 13914/88 u. a., Z. 38; umfassend Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 226 ff. Holoubrk, Gc:währleis1ungspßich1en, S. 231 f.; vgl. zum Unionsrechc Kühling, Die Kommunikacionsfreiheit als europäisches Gemeinschafrsgrundrechc, 1999, S. 370 ff. EGMR, 28.6.2001, VgT Verein gegen Tie,fobriken ./. SUI, Nr. 24699/94 = ÖJZ 2002, 855, Z. 75. Declaration on ehe Freedom of Expression and Information, Commi11ee of Miniscers 1982; Recommendarion 747 (1975) on press concencration, Parliarnenrary Assembly; Recommendarion 834 ( 1978) on threats 10 rhe freedom of ehe press and rdevision, Parliamenrary Assembly; Motion for a Resolurion on ehe dangers caused by mediaconcenrrarions for ehe exercise of freedom of expression and informacion and for culcural diversity in Council of Europe member Stares, Parliamenrary Assembly, 27.2.1989, Doc. 6021; zu ihrer Bedeucung Klrin, AfP I 994, 14. EGMR, 7.5.2002, McVicar ./. GBR, Nr. 46311/99, Z. 87.
455
3. Teil. Die Garantien der EMRK
rechrfertigr werden. 472 Mir Art. 10 isr es grundsänlich vereinbar, den Beklagren in einem Ehrenbeleidigungsprozess hinsichrlich des Wahrheirsbeweises einem angemessenen zivilrechrlichen Srandard der Beweislast (bei der Abwägung von Wahrscheinlichkeiten) zu unrerwerfen. 473 Besreht jedoch ein krasses ökonomisches Ungleichgewicht zwischen Beklagrem und Kläger und wird keine Verfahrenshilfe gewähre, kann die Beweislasr auf Seiren des Beklagren ausnahmsweise zu einem Mangel an Gleichheit und Fairness im Verfahren führen, der Art. 10 verlent. 474 Arr. 10 schünr in verfahrensrechtlicher Sicht ganz allgemein vor Eingriffen mir unklarer Reichweire sowie vor Eingriffen ohne genaue Begründung und ohne Möglichkeir einer gerichrlichen Konrrolle. 475 Eine allgemeine Begründung für die Nichtverlängerung der Beschäftigung eines Dozenren (,,Widerspruch der Ansichren zur katholischen Lehre") an einer katholischen Universität ohne die Möglichkeit, die Vorwürfe zu bestreiten, verlenr Art. 10 in seinem verfahrensrechrlichen Gehalt. 476 Art. 10 enthält auch die Garanrie eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts im Disziplinarverfahren gegen einen Richter oder Beamten, der als Ergebnis des Verfahrens aus dem Dienst enrlassen wird. Die Zuständigkeit eines Gerichts, das der betroffene Richter zuvor kritisiert hat, im nachfolgenden Disziplinarverfahren verletzt Art. 10 (auch) in prozeduraler Perspektive. 477 67 Besondere Gewährleistungspflichten organisatorischer Natur bestehen i. Z. m. der Rundfunkfteiheit. Der Staat muss sicherstellen, dass die Öffenrlichkeit erstens durch Fernsehen und Radio Zugang zu unparteiischer und genauer Information sowie zu einer Bandbreite von Meinungen und Kommentaren hat, die unrer anderem die Vielfalt politischer Anschauungen in einem Land widerspiegeln. Zweitens dürfen Journalisten und andere bei audiovisuellen Medien Tätige nicht daran gehinderr werden, diese Informationen und Kommenrare weiterzugeben. Die Einrichtung eines öffenrlich-rechrlichen Rundfunks ist eine, aber nicht die einzige Möglichkeit, um diesen beiden Zielen Rechnung zu tragen. Wenn sich ein Staat aber für das System eines öffenrlich-rechtlichen Rundfunks enrscheidet, muss er Binnenpluralismus gewährleisten. Vor allem dorr, wo der private Rundfunk noch zu schwach ist, ist es für das Funktionieren der Demokratie unabdingbar, dass der beherrschende öffentlich-rechtliche Rundfunk unparteiische, unabhängige Programme im Bereich von Nachrichtensendungen, Informationssendungen und Kommenraren sendet und darüber hinaus ein Forum für öffenrliche Diskussionen bietet, in denen ein möglichst breires Spektrum von Anschauungen und Meinungen geäußert werden kann. 478 Anhaltspunkte für die Konkretisierung dieser Gewährleistungspflichten lassen sich verschiedenen Resolutionen und Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates entnehmen. 479 472
EGMR. 20.5.1999 (GK), BLukt Troms, u. Stroraas ./. NOR. Nr. 21980/93, Z. 84. EGMR. 15.2.2005, Stulu. Morro ./. GBR. Nr. 68416/01 = NJW 2006, 1255, Z. 93. 474 EGMR.15.2.2005, Stulu. Morrir.l. GBR. Nr.68416/01 = NJW2006, 1255, Z.95. m EGMR. 27.6.2006, Saygrb u. Sryman ./. TUR, Nr. 51041/99, Z. 24( 476 EGMR, 20.10.2009, Lombardi Vallauri ./. !TA, Nr. 39128/05 = NVwZ 2011, 153, Z. 49ff. 477 EGMR, 26.2.2009, Kwurhkina ./. RUS, Nr. 29492/05, Z. 96( 478 EGMR, 17.9.2009, Manoku.a . ./. MDA, Nr.13936/02, Z.100( 479 Resolution Nr. 1 •The Future of Public Service Broadcasting" (1994); Empfehlung R(96) 10 •The Guarantee of the lndependence of Public Service Broadcasting" - Anhang; Empfehlung Rec(2000)23 •The lndependence and Funcrions of Regulatory Authoriries for ehe Broadcasring Seetor" - Anhang; für die Berücksichtigung EGMR. 17.9.2009, Manok u. a. ./. MOA, Nr. 13936/02, Z. 102. 473
456
§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte
Aus An. 10 folgen Gewährleistungspflichten für das Verfahren der Erteilung von Lizenzen. Wird ein Antrag auf Erteilung einer Rundfunklizenz abgelehnt, muss die Entscheidung die Gründe hierfür überzeugend danun. 480 Um Pluralismus im Rundfunk zu gewährleisten, ist es nicht ausreichend, bloß für die theoretische Möglichkeit des Markteineritts zu sorgen, vielmehr ist die Effektivität der Maßnahme entscheidend. Kann eine Lizenz aus vom Staat zu vertretenden Gründen nicht ausgeübt werden, liegt darin eine Verletzung von An. 10. 481
An. 10 gebietet ferner, dass die gesetzlichen Regelungen über die Einrichtung und Zusammensetzung von Organen mit Befugnissen zur Leitung des Rundfunkunternehmens, zur Aufücht über das Programm und zur Bestellung von leitenden Mitarbeitern eine pluralistische personelle Zusammensetzung sicherstellen. Der EGMR anerkennt das Interesse der Öffentlichkeit an Transparenz bei der redaktionellen Gestaltung der Programme eines öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalters. 482 Herrscht in den Organen eine große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art. 10 verletzt. 483 c) Informationspflichten
Positive Verpflichtungen ergeben sich für den Staat auch hinsichtlich der passiven In- 68 Jonnationsfreiheit und des Rechts auf Zugang zu Infonnationen. Aus An. I O lässt sich der Grundsatz ableiten, dass der Staat sein Informationssystem so einrichten muss, dass man sich über alle wesentlichen Fragen tatsächlich informieren kann. 484 Dies bestätigt sich im Zusammenhang mit dem Recht der Öffentlichkeit auf Empfang von Informationen im Zusammenhang mit der spezifischen Funktion der Journalisten, welche Informationen und Ideen über Angelegenheiten öffentlichen Interesses zu verbreiten haben. Mit dem Urteil Magyar Helsinki Bizottsdg anerkannte der EGMR, dass An. I O auch ein Recht auf Zugang zu Informationen einräumt. 485 Unter gewissen Bedingungen kann der Staat daher nach Art. 10 verpflichtet sein, Informationen von öffentlichem Interesse herauszugeben. 486 Daraus folgt aber nicht eine umfassende Verpflichtung der Staaten, Informationen zu sammeln und von sich aus zu publizieren. 487 Des Weiteren kann aus Art. 10 keine Pflicht des Staates hergeleitet werden, Häftlingen Zugang zum Internet einzuräumen. 488 Sollte ein Mitgliedstaat Häftlingen aber den 480
EGMR. 30.9.2010, 92.9 Hit FM Radio GmbH./. AlIT, Nr. 6754/05 = ÖJZ 2011, 188 (offensichtlich unbegründete Beschwerde gegen einen 63-seitigen Bescheid mit dcraillierrer Begründung, der der Überprüfung durch unabhängige Berufungsinstanzen, den Verwalrungsgerichrshof und den Verfassungsgcrichrshof, unrerlag). 481 EGMR. 7.6.2012 (GK), Cmtro Europr 7 S.r.L und Di Srrfano ./. ITA, Nr. 38433/09 = NVwZ 2014, 48, Z. 130, 134, 156 (die Behörden gewährten einem Unrernehmen eine landesweite Lizenz zur Ausmahlung von Fernsehsendungen; durch die Nichrzuteilung von Sendefrequenzen war es dem Unternehmen jedoch fase zehn Jahre lang faktisch nicht möglich, Programme zu senden). 482 EGMR, 21.10.2014, Matuz ./. HUN, Nr. 73571/10, Z. 33. 483 EGMR, 17.9.2009, Manol.eu.a . ./. MDA, Nr.13936/02, Z. l09f. m Frowrin/Peukert, Are. 10 Rn. 13. 481 EGMR. 8.11.2016 (GK), Magyar Helsinki Bizottuig ./. HUN, Nr. 18030/11 = NVwZ 2017, 1843. 486 Nähere Ausführungen s. bereirs oben Rn. 9. ◄ 97 EGMR, 19.2.1998 (GK), c~"a u. a . ./. ITA, Nr. 14967/89, Z. 53. 488 EGMR, 19.1.2016, KaUa ./. EST, Nr.17429/10, Z.45; EGMR. 17.1.2017,Jankovskil ./. LTU, Nr. 21575/08, Z. 55; kritisch zu dieser Rspr. Essrr, lnrernet für Scrafgefangene - Neue Impulse durch den EGMR. NStZ 2018, 121 (125f.).
457
3. Teil. Die Garantien der EMRK Zugang nur zu ausgewählten Imernecseicen gewähren, so müssen Beschränkungen des Zugangs zu anderen Internetseiten am Maßstab des An. 10 Abs. 2 gemessen werden.489 . Einen ceilhaberechclichen Anspruch, der zu Gewährleiscungspflichcen des Staates im Rahmen von Are. 10 führe, nimmt der EGMR im besonderen Dienstverhältnis von Soldaten an. Indem er die Weigerung der Heeresverwaltung, eine Zeitschrift in das Vereeilungssyscem aufzunehmen, als unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheic anerkannte, bestätigt er indirekt einen Anspruch auf Aufnahme und Verteilung von Soldatenzeitschriften durch die Heeresverwalcung. 490 Ob sich eine solche Rechcsposicion verallgemeinern lässt, ist zweifelhafc. II. Versammlungsfreiheit Literatur: Berka, Probleme der grundrechtlichen Interessenabwägung- dargestellt am Beispiel der Untersagung von Versammlungen, FS Rill, 1995, S. 3; Gassner, Die Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit im internationalen Vergleich, 2013.
Rechtspttchung: EGMR, 21.6.1988, Plattform ,.Arue for das leben"./. AUT, Nr. 10126/82 = EuGRZ 1989, 522 (Schurzpflichr des Sraares); EGMR. 26.4.1991, Eu/in./. FRA, Nr. 11800/85 (disziplinäre Maßnahmen gegen einen Rechtsanwah, der sich nicht von einer gegen die Justiz gerichteten Demonstration distanzierte); EGMR, 2.10.2001, Stankov u. a. ./. BUL, Nr. 29221/95 u. a. (Versammlungsverbot); EGMR, 9.4.2002, CiJse .!. FRA, Nr. 51346/99 (Versammlungsauflösung); EGMR, 17.7.2007, Bukta u. a . ./. HUN, Nr. 25691/04 (Auflösung einer Spontanversammlung); EGMR, 23.10.2008, &rgty Kuznetsov./. RUS, Nr. 10877/04 (Behinderung des Zugangs zu einem Gerichtsgebäude durch eine Versammlung); EGMR, 12.5.2015, ltkntoba u. a. ./. GEO, Nr. 73235/12 (Gewährleistungspflichten aus Art. 1 l); EGMR, 15.10.2015 (GK), Kudrrviciw u. a. ./. LIT, Nr. 37553/05.
1. Allgemeines
69 Die Versammlungsfreiheit nach Art. 11 EMRK gehöre wie die Meinungsfreiheit zu den politischen Grundrechten und diene als Kommunikationsfreiheit gleichermaßen der Sicherung des Kommunikationsprozesses. Die Freiheit, sich friedlich zu versammeln, ist als bedeutsamer Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Lebens eines Staates und als fundamentales Recht in einer demokratischen Gesellschaft anerkannc.491 Der EGMR hebe die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für den demokratischen Meinungsbildungsprozess hervor, und zwar selbst dann, wenn Versammlungen im Einzelfall gewaltsam sind oder gar die Demokratie bekämpfen. 492 Die Versammlungsfreiheit stehe in engem systematischen Zusammenhang mit den Freiheiten des Are. 10 EMRK. 493 Sie hat die besondere Schutzrichtung, die gemeinsame und damit möglicherweise wirkungskräftigere, aber auch andere Interessen stärker beeinträchtigende - Meinungsäußerung zu gewährleisten. 494 Wesencliches Kriterium der 489
490 491 492
493
494
EGMR. 19.1.2016, Kalda ./. EST, Nr. 17429/10, Z. 50ff. EGMR. 19.12.1994, Vereinigung dnnokratischer Soldaten Österreichs u. Gubi ./. AUT, Nr. 15153/89 =ÖJZ 1995,314,Z.27ff. EGMR, 23.10.2008, Sn-gry Kuznetsov.l. RUS, Nr. 10877/04, Z. 39. EGMR. 24.7.2012, Ftiber.l. HUN, Nr.40721/08, Z.37; EGMR. 15.10.2015 (GK), Kudrrvicius u. a. ./. LIT, Nr. 37553/05, Z. 82. EGMR. 1.12.2011, Schwabe u. M.G. ./. GER, Nr. 8080/08 u. a. = EuGRZ 2012, 141, Z. 98; EGMR. 15.5.2014, Taranmko ./. RUS, Nr. 19554/05, Z. 68. Vgl. EGMR, 26.4.1991, Eu/in./. FRA, Nr.! 1800/85, Z. 37; EGMR, 26.9.1995, Vogt./. GER. Nr. 17851/91 = EuGRZ 1995, 590, Z. 64; ferner schon EGMR, 13.8.1981, Young, James u. Webster ./. GBR, Nr. 7601/76 u.a., Z. 57.
4S8
§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrrchte
Abgrenzung zu anderen Formen der Meinungskundgabe ist die Kollektivität der Äußerung. Soweit diese vorliegt - rypischerweise bei Demonstrationen oder ähnlichen Veranstaltungen-, ist die Versammlungsfreiheit /ex specia/is gegenüber der Meinungsfreiheit.495 Mitunter legt der EGMR Art. 11 „im lichte des Art. 10" aus. 496 Eine eigenständige Prüfung von Art. I O neben Art. 11 nimmt der Gerichtshof dann vor, wenn in erster Linie die Verletzung des Rechts, die Öffentlichkeit zu informieren, geltend gemacht wird. 497 Die Versammlungsfreiheit nach der EMRK entspricht weitgehend dem Grundrecht 70 nach Art. 8 GG. Abweichungen bestehen beim persönlichen Schutzbereich, in geringerem Maße bei der Umschreibung des sachlichen Schutzbereichs sowie in der Differenzierung der Eingriffsschranken danach, ob die Versammlung unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen stattfindet. Der persönliche Schutzhereich des Art. 8 GG ist auf Deutsche beschränkt, während Art. 11 EMRK ein Menschenrecht ist, auf das sich auch Ausländer berufen können. Allerdings sind die Mitgliedstaaten der EMRK gemäß Art. 16 ermächtigt, die politische Tätigkeit von Ausländern unter anderem im Schutzbereich des Art. 11 Beschränkungen zu unterwerfen (s. dazu Rn. 63). Die Umschreibung des sachlichen Schutzhereichs divergiert insoweit, als die EMRK von einem weiteren Versammlungsbegriff ausgeht und das Qualifikationsmerkmal „ohne Waffen" nicht in ihren Wortlaut aufgenommen hat. Im Ergebnis wird man dieses Tatbestandsmerkmal in der EMRK jedoch vom Merkmal „friedlich" erfasst ansehen können. Auf der Ebene der Eingriffsschranken besteht nach der EMRK für Versammlungen der einheitliche materielle Geset:zesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2. Demgegenüber differenziert Art. 8 GG. Die Abhaltung von Versammlungen in geschlossenen Räumen ist nach Art. 8 Abs. I GG vorbehaltlos gewährleistet. Mit dem insoweit bestehenden Verbot eines Anmeldungs- und Erlaubnisvorbehalts geht das Grundgesetz über die Mindestanforderungen des Art. 11 EMRK hinaus. 498 Der besondere Gesetzesvorbehalt des Art. 17 a Abs. I GG für das Wehr- und Ersatzdienstverhältnis findet partielle Entsprechung in Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK. 499 Im österreichischen Verfassungsrecht ist die Versammlungsfreiheit durch Art. 11 EMRK und durch Art. I 2 StGG geschüczc. 500 In der Schweizerischen Bundesverfassung besteht eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Gewährleistung in Art. 22. Die Grundrechte-Charta der EU enthält in Art. 12 das Grundrecht der Versamm- 71 lungs- und Vereinigungsfreiheit, wobei wie in der Garantie des Art. 11 EMRK die Ge495
EGMR, 26.4.1991, Eu/in .1. FRA, Nr.11800/85, Z.35; EGMR, 1.12.2011, Schwabe u. M.G. .1. GER, Nr. 8080/08 u. a. = EuGRZ 2012, 141. Z. 99; EGMR, 25.9.2012, Trtule Union ofthe Police in the Slovak Republic u. a. .1. SVK, Nr. 11828/08, Z. 52; zur Abgrenzung von An. 10 und Art. 11 s. Gaunn; Die Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit im incernarionalen Vergleich, 2013, S. 145 ff. 4% EGMR, 23.10.2008, Sergry Kuznetsov.l. RUS, Nr. 10877/04, Z. 23; EGMR, 1.12.2011, Schwabe u. M.G. .1. GER, Nr.8080/08 u.a. = EuGRZ2012, 141. Z. 101; EGMR, 25.9.2012, Tr,uu Unionofrhe Police in thtSlovak Rtpub/ic u. a. .1. SVK, Nr. 11828/08, Z. 52. 497 EGMR. 3.2.2009, Women on WdVt's ./. POR. Nr. 31276/05, Z. 28; EGMR. 1.12.2011. Schwabe u. M.G. .1. GER, Nr. 8080/08 u. a. = EuGRZ 2012, 141, Z. 100 m.w. N. 498 Marauhn, in: Ehlers, § 4 Rn. 62; Bröhmtr, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 19 Rn. 11 ff. 499 Vgl. dazu unren Rn. 86. soo Vgl. Winkkr, Grundfragen und aktuelle Probleme der Versammlungsfreihcir, in: dcrs., Srudien zum Verfassungsrecht, 1991, S.185 (188ff.); Filter, Der Grundrechcscingriffbei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheic, ZÖR 2012, 501 ff.
459
3. Teil Die Garantien da EMRK
werkschafi:sfreiheic ausdrücklich hervorgehoben wird, anders als don jedoch die Funktion politischer Parteien in Absatz 2 gesonderte Erwähnung findec. 501 2. Schutzbereich
72 Art. 11 Abs. l l. Hs. schützt die Freiheit eines jeden, friedliche Versammlungen zu organisieren, durchzufuhren und an ihnen ceilzunehmen. 502 Die EMRK selbst definien den Begriff der Versammlung nicht, und auch der Gerichtshof verzichtet ausdrücklich auf eine Definition, um eine restriktive Interpretation zu vermeiden. 503 Die Qualifikation von Formen der Meinungskundgabe als Versammlung entsprechend den nationalen Rechtsordnungen bildet lediglich den Ausgangspunkt fur eine Auslegung. 504 Es ist jedoch von einem weiten Versammlungsbegriff auszugehen, der das organisiene Zusammenkommen mehrerer Menschen zur kollektiven Meinungsbildung oder zur gemeinsamen Kundgabe von Meinungen umfasst. Der EGMR nimmt eine Mindestanzahl von zwei Personen als Voraussetzung fur das Vorliegen einer Versammlung an. 505 Allein die Tatsache, dass eine Äußerung in der Öffentlichkeit getätigt wird, genügt allerdings noch nicht, um diese unter Art. 11 zu subsumieren. Ein entscheidendes Kriterium ist, dass im Rahmen eines Zusammenkommens in der Öffentlichkeit eine Kommunikation mit einer unbestimmten Zahl von Passanten erfolge. 506 73 Einen bestimmten inhaltlichen Zweck verlangt die Rechtsprechung fur das Vorliegen einer Versammlung nicht; insbesondere muss keine politische Zwecksetzung mit der Versammlung verfolge werden, auch soziale Anliegen kommen in Betracht. Allerdings kann nicht jede Aktivität, zu der man sich versammele, als Versammlung i. S. d. An. 11 qualifiziere werden. So hat der EGMR das Sich-Versammeln einer Jagdgesellschafi: nicht als vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit erfasse angesehen. 507 Zufällige Zusammenkünfi:e fallen ebenfalls nicht in den Schutzbereich von Are. 11. 508 Geschütze sind Versammlungen an privaten und öffentlichen Onen. 509 Versammlungen können an einem bestimmten Orc stattfinden (z.B. Mahnwachen). 510 So fälle auch ein Festakt zur Enthüllung eines Denkmals unter den Versammlungsbegriff. 511 Darüber hinaus sind Versammlungen, die sich fortbewegen, wie Demonstrationen, vom Schutzbereich erfasse. Nicht von Relevanz ist diesbezüglich, ob es im Zuge der
Jaras,, Charta der Grundrechte, 3. AuA. 2016, An. 12 Rn. 1 ff.; Rixm/Schar/, in: Stern/Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrechce-Chana, 2016, An. 12 GRC Rn. 1 ff. soi Vgl. Amdt!Engeu. in: Karpenstein/Mayer, An. 11 Rn. 6ff.; Schabas. ECHR. S. 494 f.; Daibrr, in: Meycr-Ladewig er al., An. 11 Rn. 3 f[ so3 EGMR.15.11.2018 (GK), Navalnyy.l. RUS, Nr. 29580/12, Z. 98. 'lIB EGMR, 17.7.2007, Bukta u. a. ./. HUN, Nr. 25691/04, Z. 36; keine Ausnahmesicuacion dagegen in EGMR, 7.10.2008, Eva Molndr ./. HUN, Nr. 10346/05, Z. 381f. (Demonscracion als Reakcion auf ein Wahlergebnis, das berei1s zwei Monace zuvor verkünde! worden war). 5-1 9 EGMR. 7.10.2008, Eva Molnar.l. HUN, Nr. 10346/05, Z. 37f. 550 EGMR, 14.10.2010, Hytk Park u. a. (Nr. 5. 6) ./. MDA, Nr. 6991/08, Z. 47. 551 EGMR, 2.10.2001, Stankov u. a. ./. BUL, Nr. 29221/95 u. a., Z. 92. m Vgl. EKMR, 15.3.1984, Association A. u. H., Nr. 9905/82, 187 (l 92f.). 553 Bröhmn, in: Dörr/Groce/Marauhn, Kap. 19 Rn. 76; vgl. EGMR, 29.6.2006, Ö/Jinger ./. AUT, Nr. 76900/01: ÖJZ 2007, 79, Z. 44ff. 554 EGMR, 12.6.2014, Primoi· u. a. .!. RUS, Nr. 17391/06, Z. 145.
465
3. Teil. Die Garantien der EMRK
walcanwendung gegenüber Teilnehmern oder die Auflösung der Versammlung. 555 Allerdings muss die Teilnahme an einer Demonstration auch möglich sein, ohne fürchten zu müssen, gewalttätigen Angriffen von Personen widersprechender Meinung ausgeliefert zu sein. Dies könnce dahingehend abschreckend wirken, kontroverse Ansichten von allgemeinem Interesse öffentlich kundzutun. In einer Demokratie darf das Recht auf Gegendemonstration nämlich nicht dazu führen, dass das Reche auf Demonstration dahinter zurücktreten muss. 556 Die Auflösung einer Versammlung, die zu einer Behinderung des Zugangs zu einem Gerichtsgebäude führt, ist unverhältnismäßig, wenn die Störung nur von kurzer Dauer ist, weder Besucher noch Beschäftigte sich über die Behinderung beschweren und die Demonstranten bereit sind, die Behinderung des Zugangs aufzugeben. 557 Die Räumung einer von Ausländern ohne gültige Aufenthaltsgenehmigungen besetzten Kirche ist zur Verteidigung der öffentlichen Ordnung nicht unverhältnismäßig, wenn die Besetzung bereits mehr als zwei Monate andauert und sich der Gesundheitszustand der Beteiligten, die sich zum Teil zudem in Hungerstreik befanden, und die sanitären Verhältnisse zunehmend verschlechtert haben. 558
Das Reche auf Versammlungsfreiheit gemäß An. 11 gewähre grundsätzlich keine Immunität vor einer Strafverfolgung für Gewaltakte im Zuge einer öffentlichen Versammlung. 559 Allerdings müssen repressive Maßnahmen im Laufe einer Versammlung oder im Anschluss an die Teilnahme an einer Versammlung verhältnismäßig sein. 560 Einen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit stellt die Verhahung aufgrund der bloßen Teilnahme an einer friedlichen Demonstration dar. 561 Ungerechtfertigt ist die Verhaftung der Organisatoren einer friedlichen Demonstration, nach deren Beendigung es erst zu gewaltsamen Ausschreitungen kam. 562 Die Verhängung einer Disziplinarstrafe wegen der Teilnahme an einer Demonstration gegen den Arbeitgeber, die zum Fernbleiben des Arbeitnehmers von der Arbeit für zwei Stunden führte, ist jedoch nicht unverhältnismäßig. 563
Sitzblockadrn dürfen unter Verweis auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell verboten werden. Erfolge die strafrechtliche Verurteilung von Teilnehmern einer friedlichen Sirzblockade jedoch nicht wegen der Sirzblockade selbst, sondern wegen der durch sie verursachten erheblichen, über das normale Maß bei einer friedlichen Versammlung hinausgehenden Störungen des Straßenverkehrs, kann sie nach Art. 1 1 Abs. 2 S. 1 gerechtfertigt sein. Keine solche über das unvermeidbare Maß hinausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung stellte die Versammlung schweigender Teilnehmer von rund 20 Personen auf einem Gehsteig dar, der ausreichend Platz für den übrigen Fußgängerverkehr bot. 564
m EGMR, 18.12.2007, Numtfn Aldnnfr u. a. ./. TUR, Nr. 32124/02 u. a., Z. 46; EGMR, 7.10.2008, Saya u. a. ./. TUR, Nr. 4327/02, Z. 46; EGMR, 23.10.2008, Kuznet.rov.l. RUS, Nr. 10887/04, Z. 44; EGMR, 5.3.2009, Ba"aco ./. FRA, Nr. 31684/05 = NVwZ 2010, 1139, Z. 43; EGMR. 27.11.2012, Disk u. Kesk ./. TUR, Nr. 38676/08, Z. 36; EGMR, 12.6.2014, Primov u. a. ./. RUS, Nr. 17391/06, Z. 152 (Unverhältnismäßigkeit der Totalsperre eines Dorfgebiets, das Ziel einer an sich friedlichen Demonstration war). 556 EGMR, 24.7.2012, Fdber.l. HUN, Nr.40721/08, Z.38. m EGMR, 23.10.2008, Sergey Kuznetrov.l. RUS, Nr. 10877/04, Z. 45. 558 EGMR, 9.4.2002, Cisse ./. FRA, Nr. 51346/99, Z. 51 f. 559 EGMR, 12.6.2014, Primovu. a. .!. RUS, Nr. 17391/06, Z. 165. 560 EGMR, 15.10.2015 (GK), Kudrroiciusu.a . ./. LIT, Nr.37553/05, Z.138ff. 561 EGMR. 17.5.2011, Akgöl u. Göl.l. TUR, Nr. 28495/06 u. a., 2.43; EGMR, 20.3.2012, Pekaslan u. a. ./. TUR, Nr. 4572/06 u. a., Z 81. 562 EGMR, 18.6.2013, Gün u. a . ./. TUR, Nr. 8029/07, Z. 77ff. 563 EGMR, 28. 10.2010, Trofimchuk .1. UKR. Nr. 4241 /03, Z. 44 ff. 564 EGMR, 7.10.2008, Patyi ./. HUN, Nr. 5529/05, Z. 41.
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§ 23. Politische und gemeinschaftsbezogene Grundrechte Die Bestrafung der Teilnehmer einer gezielten Blockade von verkehmechnisch bedeutsamen Autobahnen während einer Versammlung, wobei die Blockade nicht von der Anmeldung erfasse war und keinen akruellen Anlass hane, stellt keine Verletzung der Versammlungsfreiheit dar.j6j Als unverhältnismäßig erachtete der EGMR die Verurteilung und zweijährige Inhaftierung eines 15-Jährigen für seine angebliche Mitgliedschaft in der PKK, weil er einem Aufruf der PKK zu einer Demonstration gefolgt war. S66
b) Der Beamtenvorbehalt nach Art. 11 Abs. 2 S. 2
An. 11 Abs. 2 S. 2 sieht über die allgemeine Beschränkung nach Art. 11 Abs. 2 S. 1 86 hinaus besondere Beschränkungsmöglichkeiten der Ausübung der Versammlungsfreiheit von Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwalcung vor (Beamtenvorbehalt). Personen, die Teil der Staatsgewalt - und zwar insbesondere der exekutiven Staatsgewalt - sind, haben daher stärkere Einschränkungen in der Versammlungsfreiheit hinzunehmen als jedermann. Allerdings fälle nicht jede Person, die in einem Beamtenverhälmis beschäftigt ist, unter die besondere Beschränkungsmöglichkeit. Wegen der unterschiedlichen Besetzung von bestimmten Ämtern mit Beamten oder Angestellten in den Mitgliedstaaten ist eine funktionale Auslegung des Beamtenbegriffs vorzunehmen. 567 Nur dann, wenn es sich um Personen handelt, die an der Ausübung von Hoheitsgewalt beteiligt sind, wird man sie unter den konventionsrechtlichen Begriff des „Beamten" fassen können. 568 Das bedeutet, dass Mitglieder der Staatsverwaltung nur unter Art. 11 Abs. 2 S. 2 fallen, wenn sie eine Tätigkeit ausüben, die derjenigen der beiden anderen genannten Gruppen - den Angehörigen der Streitkräfte oder Polizei - nahe kommt. 569 Fraglich ist, wie weit die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit nach Art. 11 Abs. 2 S. 2 gehen dürfen. Auch die Beschränkung der Versammlungsfreiheit der genannten Personengruppe darf nicht willkürlich sein, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Staaten insbesondere beim Schutz der nationalen Sicherheit, der als legitimes Ziel für eine Beschränkung angeführt werden kann, ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht. 570 c) Der Vorbehalt nach Art. 16
An. 11 Abs. 1 garantiert auch Ausländern das Recht, sich friedlich zu versammeln. 87 Nach An. 16 kann jedoch die Versammlungsfreiheit - ebenso wie die Meinungsfreiheit nach Art. 10 - hinsichtlich „der politischen Tätigkeit ausländischer Personen" eingeschränkt werden. 571
j6j EGMR, 15.10.2015 (GK), Kudrroicius u. a. ./. LIT, Nr. 37553/05, Z. 164ff. EGMR, 19.1.2016, Gülcu ./. TUR, Nr. 17526/10, Z. 117. 7 . A. S. ./. SVK, Nr. 54252/07 u. a., Z. 53ff. EGMR, 28.3.2006, Melnyk ./. UKR, Nr. 23436/03, Z. 23; EGMR, 10.6.2010, DnnmlEroa u. a. ./. MKD, Nr.19315/06, Z. 25. EGMR, 10.7.2001, Tricard ./. FRA, Nr. 40472/98, Z. 29ff.; EGMR, 16.3.2010, Mamikonyan ./. ARM, Nr. 25083/05, Z. 27ff.; EGMR, 12.10.2010, Adamiük ./. CZE, Nr. 35836/05, Z. 58. EGMR. 26.10.2000, leoni .!. ITA, Nr. 43269/98, Z. 23ff.; ähnlich EGMR. 19.7.2007, Freitag./. GER, Nr. 71440/01, Z. 39ff. (Überweisung vom unzuständigen an das zuständige Gericht). EGMR. 20.5.2008, Santos Pinto ./. POR, Nr. 39005/04, Z. 44. EGMR, 16.11.2000, Socittl Anonyme .Sotiris u. Nikos Koutr1ZJ ATTEE" ./. GRE, Nr. 39442/98, Z.20ff.; vgl. auch EGMR, 21.9.2004, Zwiduk Nauczycielstwa Polskirgo ./. POL, Nr.42049/98, Z.37ff.; EGMR, 30.7.2009, Dattel.!. LUX (Nr.2), Nr.18522/06, Nr.44ff.; EGMR, 29.3.2011 (GK), RTBF.I. BEL, Nr. 50084/06, Z. 71 ff. EGMR, 21.9.2010, Garzicii: ./. MNE, Nr.17931/07, Z.33. EGMR, 22.11.2011,Andreyev.l. EST, Nr. 48132/07, Z.65ff. EGMR, 13.10.2009, Hermann Matttrne ./. GER, Nr. 4041/06, Z. 31 (250€ im Verfahren vor dem BVerfG).
524
§ 24. Verfohrms- untiJustizgarantien
Grundsätzlich findet das Recht auf Zugang zu Gericht auch auf den Zugang zu Gerichten höherer Instanzen (Berufungs-, Revisions- und Kassationsgerichte) Anwendung, auch wenn die EMRK abgesehen von Art. 2 7. ZP kein Reche auf eine zweite Instanz gewährt. 247 Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines außerordentlichen Rechtsmittels wie einer Revision können allerdings strikter gefasst sein als jene eines ordentlichen Rechtsmittels wie einer Berufung. Bei der Beurteilung des Zugangs zu höheren Instanzen am Maßstab des Art. 6 berücksichtigt der EGMR die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens sowie die Gesamtheit des Verfahrens und die Rolle der Gerichte höherer Instanz nach der innerstaatlichen Rechtsordnung. 248 Eine Wertgrenze für die Zulässigkeit einer Revision ist unter Bedachtnahme auf die Funktion des Revisionsgerichts verhältnismäßig. Allerdings ist im Hinblick auf die Anwendung einer solchen Wertgrenze zu berücksichtigen, inwieweit die Beschränkung vorhersehbar war, ob der Beschwerdeführer oder der Staat die nachteiligen Folgen der Fehler zu tragen haben, die während des Verfahrens erfolgten, das dazu fühne, dass dem Beschwerdeführer der Zugang zum Revisionsgericht versagt wurde, und ob die fraglichen Beschränkung übermäßig formalistisch war. 249 Der EGMR hatte sich auch mit zahlreichen Zugangsbeschränkungen.finanzieller Na- 56 wie z. B. Gerichtsgebühren oder Sicherheiten für Kosten (des Prozessgegners), zu beschäft:igen. 250 Nicht verhältnismäßig ist es nach Ansicht des EGMR, wenn eine Klageerhebungsgebühr in der Höhe eines durchschnittlichen Jahresgehalts (im betreffenden Land) vom Kläger verlangt wird. 251 Neben der Höhe der Klageerhebungsgebühr im Verhältnis zur winschaftlichen Leistungsfähigkeit des Klagewilligen ist für die Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgeblich, ob die Gebühr der Sicherung von Kosten der gegnerischen Partei dient oder ob sie ausschließlich dem Fiskus zugute kommt. Schließlich wiegt die Beschränkung des Zugangs zu Gericht schwerer, wenn sie allein finanzieller Narur ist und vollkommen unabhängig vom Gegenstand und den Erfolgsaussichten der Klage festgesetzt wird. Liegt eine solche Beschränkung vor, übt der EGMR eine intensivere Kontrolle aus. 252 Die Verpflichtung zur Hinterlegung einer bereits verhängten Geldbuße als Voraussetzung für die Einbringung eines Rechtsmittels gegen diese Buße hat der EGMR nicht als unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Zugang zu Gericht gesehen. 253 Einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe gewährt Art. 6 Abs. 1 nicht. 254 Der Staat muss jedoch Sorge dafür tragen, dass dem Einzelnen der Zugang zu Gericht nicht aus winschaftlichen Gründen unmöglich ist, wotur,
247
S. dazu Rn. 169/f. EGMR. 5.4.2018 (GK), Zubac ./. CRO, Nr. 40160/12, Z. 82. 249 EGMR. 5.4.2018 (GK), Zubac ./. CRO, Nr. 40160/12, Z. 83ff. ZIO S. dazu ausführlich Diggelmann/Alrwicker, DÖV 2012, 781 (785/f.). 2s1 EGMR. 19.6.2001, Kreuz./. POL, Nr. 28249/95, Z. 61 ff.; EGMR, 17.7.2007, Mehmet u. Suna Yigit ./. TUR, Nr. 52658/99, Z. 361f. m EGMR. 10.1.2006, Teltronic-CA1V.I. POL. Nr.48140/99, Z. 60f.; EGMR, 31.7.2007, FC Mrerebi ./. GEO, Nr. 38736/04, Z. 47. m EGMR, 30.6.2009, Schneuier ./. FRA, Nr. 49852/06. Zur Zahlung eines Gerichrskostenvorschusses eines Massegläubigers in Konkursverfahren s. EGMR, 9.12.2010, Urbanek ./. AlIT, Nr. 35123/05, Z. 5Sff. 2S4 Vgl. ebenso Frowt:in/Pn,km, Art. 6 Rn. 54, mir zutreffendem Hinweis auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Arr. 47 Abs. 3 GRC gewährleistet einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe und stelle diesen ausdrücklich in einen Zusammenhang mir dem effektiven Zugang zu Gericht; s. dazu EuGH, 22.12.2010, C-279/09, Rn. 52 lf. 248
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3. Teil. Die Garantien drr EMRK
bei ihm die Ausgestaltung der Modalitäten obliegt. 255 Darüber hinaus sieht der EGMR auch in der nachträglichen Verhängung einer Strafe für das erfolglose Führen eines Verfahrens eine Beschränkung des Zugangs zu Gericht, die ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein muss. 256 57 Verjährungsfristen, die Auswirkung auf die Zulässigkeit der Einbringung von Klagen o. ä. haben, stehen im Einklang mit An. 6; sie dienen dem legitimen Ziel der Rechtssicherheit. Allerdings gilt dies nur dann, wenn auch tatsächlich (vor Ablauf der Verjährungsfrist) die Möglichkeit bestanden hat, ein Verfahren anzustrengen. 257 Dies erfordert, dass die Fristen hinreichend bestimmt sind und der Zeitpunkt ihres Ablaufs vorhersehbar ist. 258 Die gesetzliche Beschränkung des Zugangs zu Gericht dergestalt, dass die Überprüfung eines Beschlusses der Hauptversammlung einer AG nach seiner Eintragung in das Handelsregister oder Firmenbuch nicht mehr möglich ist, verletzt Art. 6.259 Eine gesetzliche Bestimmung. wonach Patienten Einsicht in ihre Krankenakte sowie die Anfertigung von Kopien hieraus verboten ist, beschränkt den Zugang zu Gericht unverhältnismäßig, wenn die Patiencen wegen der vermeintlich schlechten Beweislage von der Geltendmachung ihrer zivilrechtlichen Ansprüche Abstand nehmen. 260 Auch die Pflicht zur Ermittlung jener Behörde, gegen die ein Klagebegehren zu richten ist, kann im Fall von Organisationsänderungen eine unverhältnismäßige Beschränkung des Zugangs zu Gericht darstellen. 261 Personen, denen die GeschäftsP.ihigkeit teilweise entzogen worden ist, muss ein direkter Zugang zu Gericht ermöglicht werden, um die Wiederherstellung der Geschäftsfähigkeit beantragen zu können. 262
58 Immunitäten mit der Folge der Unzulässigkeit des Rechtswegs können eine angemessene Beschränkung des Zugangs zu Gericht bilden. 263 Immunitäten von Beklagten im Zivilprozess sind teils von Besonderheiten des nationalen Rechts bestimmt, teils von Determinanten des Völkerrechts. Sie müssen jeweils dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, wobei allerdings der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten größer und die Komrolldichte des EGMR zurückgenommen ist. Der EGMR anerkannte bisher mit wenigen Ausnahmen, dass die Beschränkungen ein legitimes Ziel verfolgten und angemessen waren. 59 In einer Gruppe von Fällen sah der EGMR vergleichsweise weitgehende Immunitäten von englischen Staatsorganen als verhältnismäßige Beschränkungen des Zugangs zu Gericht an. m Vgl. EGMR, 9.10.1979, Airry.l. IRL, Nr. 6289/73, Z. 20ff.; EGMR, 26.10.2010, Marina ./. LAT, Nr. 46040/07, Z. 55f.; EGMR, 30.6.2016, Fo/tis .!. GER, Nr. 56778/10, Z. 37; EGMR, 9.1.2018, Gabriela Kaiser./. SUI, Nr. 35294/11, Z. 59ff. S. auch Pache, Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, NVwZ 2001, 1342 (1344); Bnnnek, Gerichtsgebühren in grundrechtlicher Betrach256 257 258 259 260 261 262
263
tung, JRP 2018, 240 (246f.). EGMR, 22.10.2013, Sace Elektrik 7icaret ve Sanayi A.S. .!. TUR, Nr. 20577/05, Z. 28f. EGMR, 7.7.2009, Stagno ./. BEL, Nr. 1062/07, Z. 25ff.; EGMR, 11.3.2014, Howald Moor u. a. ./. SUl, Nr. 52067/10 u. a. = NVwZ 2015, 205, Z. 74ff. EGMR, 4.2.2014, Staibano u. a. ./. ITA, Nr. 29907/07 u. a., Z. 30. EGMR, 15.10.2009, Kohlhoferu. Minarik ./. CZE, Nr. 32921/03, Z. 102, 105. EGMR, 28.4.2009, K H. .!. SVK, Nr. 32881/04, Z. 66. EGMR, 26.7.2011, George/ u. Georgeta Stoiwcu ./. ROM, Nr. 9718/03, Z. 75ff. EGMR, 17.1.2012 (GK), Stanev.l. BUL, Nr. 36760/06, Z. 241,245; EGMR, 30.5.2013, Nataliya Mikhaknko .!. UKR, Nr. 49069/11, Z. 37; EGMR, 31.5.2016, A.N. ./. LTU, Nr. 17280/08, Z. 88ff. Dazu Mancher, ÖZÖR 1980, 20.
526
§ 24. Ve,fahrens- und Justizgarantien Für mit Untersuchungsaufgaben im Wirtschaftsbereich betraute „inspectors" beurteilte der EGMR das Ziel der Sicherung der Unabhängigkeit des BerichtsWesens dieser Kontrollorgane über die Geschäftsführung von bestimmten Kapitalgesellschaften als legitimes Ziel, das die Interessen eines betroffenen Unternehmens am Gerichtszugang überwog. 264 Auch in einem Fall von Sozialhilfebehörden identifizierte der Gerich1Shof die Beschränkung des Zugangs zu Gericht als Folge des materiellrechdichen Anspruchs und der diesen bestimmenden Grundsätze und er verneinte eine Verletzung. 26 s
Bei der Ausgestaltung der parlamentarischen Immunität als Teilbereich des Parlaments- 60 rechts nimmt der Gerichtshof grundsätzlich einen weiten Gestalrungsspielraum der Staaten an. Das Ziel parlamentarischer Immunität von Abgeordneten ist die Wahrung der Arbeitsfähigkeit und Unabhängigkeit des Parlaments. Je weiter die Immunität reicht, desto zwingender müssen die Gründe für ihre Rechtfertigung sein. Eine höhere Kontrolldichte legt der EGMR an, wenn Immunität ohne direkte Verbindung zur parlamentarischen Tätigkeit gewährt wird. 266 Dieselben Maßstäbe legt der Gerichtshof auch im Falle der Immunität von Staatspräsidenten an. Auch hier müssen Umfang und Grenzen der Immunität gesetzlich geregelt sein. 267 Die Gewährung parlamentarischer Immunität bei einer Zivilklage gegen einen ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten wegen Äußerungen außerhalb seiner Tätigkeit als Senator auf Lebenszeit beschränkte den Zugang zu Gericht in unzulässiger Weise. 268 Gleiches nahm der EGMR bei einer Klage wegen Äußerungen eines Parlamentsabgeordneten im Rahmen einer Wählerversammlung an, da es sich nicht um eine parlamentarische Tärigkeir .im strengen Sinn•, sondern eher um einen Konflikt zwischen Privatpersonen gehandelt habe. 269 Unverhältnismäßig ist auch die Beschränkung des Zugangs zu Gericht, wenn - konkret in einem Verfahren zur Durchsetzung von Besuchsrechten für das gemeinsame Kind - die Immunität zu einer Ungleichheit zwischen den screitbeceiligten Parteien führe. 270
lmmunitäten internationaler Organisationen wurden bisher ebenfalls als angemessene 61
Beschränkungen des Gerichtszugangs angesehen, wenn ein alternativer Rechtsweg zur Lösung des Streites innerhalb der Organisation zur Verfügung steht 271 und das Rechtsschutzsystem einer internationalen Organisation sohin nicht offenkundig unzulänglich isr. 272 Ein solcher alternativer Rechtsschutzmechanismus kann in (internationalen) Verwaltungsgerichten oder ähnlichen Einrichtungen bestehen. 273 Die Immunität internationaler Organisationen dient dem legitimen Ziel, das ordnungs264
EGMR. 21.9.1994, Fayed.l. GBR. Nr. 17101/90, Z. 70. s EGMR, 10.5.2001 (GK), Z u.a. ./. GBR, Nr.29392/95, Z.100; kritisch Kloth, lmmunicies and ehe Right of Access eo Court under the European Convention on Human Rights, EHRLR 2002, 331f. 266 EGMR, 3.12.2009 (GK), Kart ./. TUR, Nr. 8917/05, Z. 81; dazu Muy/k, l:autonomie parlementaire a l'abri des droits de l'homme?, RTDH 2010, 70Slf.; s. schon EGMR, 17.12.2002, A. ./. GBR. Nr. 35373/97, Z. 75ff.; dazu Krroc, La regle de l'immunice parlemenraire a l'epreuve de la Convencion europcenne des droits de l'homme, RTDH 2003, 813ff. u.7 EGMR, 2.12.2014, Urechean u. Pavlicmco ./. MDA, Nr. 27756/05 u. a., Z. 40, 47. 2611 EGMR, 30.1.2003, Cordova (Nr. J) ./. ITA, Nr. 40877/98, Z. 61 lf. u.9 EGMR, 30.1.2003, Cordova (Nr. 2) ./. lTA, Nr. 45649/99 (extracts) Z. 63; s. auch EGMR, 20.4.2006, Patrono, Cascini u. Stefone//i ./. !TA, Nr. 10180/04, Z. 62. 270 EGMR. 11.2.2010, Syngelia'is ./. GRE, Nr. 24895/07, Z. 48. 271 EGMR, 18.2.1999 (GK), Waiu u. Kennedy./. GER, Nr.26083/94 = NJW 1999, 1173, Z.68ff.; EGMR, 18.2.1999 (GK), Bmu. Regan ./. GER, Nr. 28934/95, Z. 58ff. 272 EGMR 12.5.2009, Gasparini .1. !TA u. BEL, Nr. 10750/03 (Unzulässigkeitscntscheidung); EGMR 16.6.2009, Rambus ./. GER, Nr. 40382/04 (Unzulässigkeicsentscheidung). 273 EGMR, 6.1.2015, Klausecker ./. GER, Nr. 415/07, Z. ?Off., 105 (arbei1Srechtliche Streitigkeit mir dem Europäischen Patentamt). 26
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3. Teil. Die Garantien der EMRK
gemäße funktionieren der Organisationen frei von einseitigen Eingriffen durch einzelne Staaten sicherzustellen. 274 Der EGMR verneinte eine Verletzung von An. 6 in zwei Urteilen, die in Deutschland gegen die ESA angestrengte, aber nicht zugelassene Klagen von Arbeitnehmern der ESA betrafen. Weil durch das ESA Appeals Board ein alternativer Rechtsweg zur Lösung des Streits innerhalb der Organisation bestehe, war diese Beschränkung des Rechcswegs verhältnismäßig. 275 Auch in der Beschwerdemöglichkeit an das Verwaltungsgericht der lncemacionalen Arbeitsorganisation sieht der EGMR einen wirksamen alternativen Streicbeilcgungsmechanismus. 276 Selbst wenn ein alternativer Rechtsweg fehlt, führt die Anerkennung von Immunität nicht jedenfalls zur Verletzung des Zugangs zu Gericht. 277
62 Schließlich bildet die völkerrechclich begründete Staatenimmunität eine Beschränkung des Gerichtszugangs. Auch diese ist von einem legitimen Ziel getragen, nämlich der Beachtung des Völkerrechts, genauer des Prinzips des par in parem non habet imperium, wonach kein Staat der Rechtsprechung eines anderen Staates unterworfen sein soll. 278 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat hier den spezifischen Charakter der Konvention als menschenrechclichen Venrag und die einschlägigen völkerrechclichen Prinzipien zu berücksichtigen. Beschränkungen des Gerichtszugangs, die Ausdruck der allgemein anerkannten Prinzipien der Staatenimmunität sind, werden im Allgemeinen nicht als unverhältnismäßige Beschränkungen angesehen. 279 Eine Resolution des UNSicherheitsrats, die nicht ausdrücklich die gerichcliche Kontrolle aussschließt, ist im Zweifel im Einklang mit der EMRK auszulegen, mit der Konsequenz, dass diese eine ausreichende gerichtliche Kontrolle durch den betroffenen Staates zulässt. Der Staat muss in diesem Fall alle möglichen Maßnahmen setzen, um dem Einzelnen angemessenen Schutz gegen Willkür zu garantieren. 280 Eine Ausnahme von der Staatenimmunität bilden Streitigkeiten aus Arbeitsvemägen von Beschäftigten diplomatischer Vertretungen im Ausland. Hier ist ist im Einklang mit der UN-Konvention über die Staatenimmunität als Teil des Gewohnheitsrechts von der Beschränkung der Staatenimmunität auch dann auszugehen, wenn der betreffende Staat diese Konvention nicht ratifiziert hat, vorausgesetzt, es wurde den Inhalten nicht explizit widersprochen. 281 Eine Ausnahme von der Beschränkung der Staatenim274
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EGMR, 18.2.1999 (GI