Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention [1 ed.] 9783428556113, 9783428156115

Insbesondere nach Ende des Zweiten Weltkriegs bildete sich die Menschenwürde als Rechtsbegriff heraus und fand Eingang i

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Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention [1 ed.]
 9783428556113, 9783428156115

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Schriften zum Europäischen Recht Band 190

Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention Von Torben Bührer

Duncker & Humblot · Berlin

TORBEN BÜHRER

Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 190

Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention

Von Torben Bührer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2017 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15611-5 (Print) ISBN 978-3-428-55611-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Georg-August-­ Universität Göttingen im Sommersemester 2017 als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Februar 2019 berücksichtigt werden. Herzlich möchte ich mich bei meinem Doktorvater Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Andreas L. Paulus für die Betreuung meines Promotionsvorhabens bedanken. Sowohl seine Seminare als auch seine fachlichen Anregungen waren für mich sehr wertvoll. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Dr. Philipp Gisbertz für den Austausch hinsichtlich der Ideengeschichte des Menschenwürdebegriffs. Darüber hinaus danke ich den Herausgebern der „Schriften zum Europäischen Recht“ für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe. Viele Menschen, die mir wichtig sind, haben direkt oder indirekt zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Insbesondere möchte ich mich bedanken bei Dr. Anke Jaspers für den vielseitigen Austausch während unzähliger Bibliothekstage sowie für ihre kluge und kritische Perspektive als Geisteswissenschaftlerin, die meine Arbeit sehr bereichert hat. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Caroline Fiedler für die vielen hilfreichen Anregungen und wunderbaren Diskussionen, die mir manchen neuen Blick eröffnet haben. Besonders danken möchte ich meiner Mutter Gunda Bührer. Sie war stets für mich da und hat mich vom Anbeginn meines Studiums über das Referendariat bis zur Verteidigung und Veröffentlichung dieser Dissertation unterstützt. Mein allergrößter Dank gilt meinem Partner Martin Paul Fröhlich. Ohne seine Unterstützung, Begleitung und Liebe auch in schwierigen Phasen dieser Arbeit und meiner beruflichen Tätigkeit wäre diese Dissertation niemals entstanden. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, im August 2019

Torben Bührer

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung und Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 B. Von der Idee zum Recht – die Entwicklung der Menschenwürde zum Rechts­ begriff und ihr völkerrechtlicher Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.

Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Die griechische Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Die Lehren der Stoa, Marcus Tullius Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Die christliche Lehre in der Spätantike und im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . 23 4. Die Renaissance und der Humanismus – Pico della Mirandola . . . . . . . . . 25 5. Frühe Neuzeit und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 6. Der Begriff der Würde bei Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 7. Die Entwicklung des Würdebegriffs in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

II. Die Herausbildung des Rechtsbegriffs der Menschenwürde und sein universeller Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Die Würde des Menschen in internationalen Verträgen und als Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 . . . . . . . . . . 41 b) Die Genfer Abkommen von 1949 sowie die UN-Menschenrechtspakte von 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 c) Weitere UN-Menschenrechtspakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 d) Die Arbeiten der ILC zur Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 aa) Die draft articles on the protection of persons in the event of di­sasters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 bb) Die draft articles on the expulsion of aliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 e) Regionale Menschenrechtspakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 f) Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 aa) Europäische Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Die Verfassung der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 cc) Andere außereuropäische Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 g) Die Menschenwürde als allgemeiner Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . 76 h) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

8

Inhaltsverzeichnis 2. Die Menschenwürde als universelles Rechtprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Die Menschenwürde als Scharnier zwischen Moral und Recht . . . . . . . 86 b) Die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip und die Verbindungslinien zu den Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Die Menschenwürde als Grund und Konkretisierung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 d) Die Absolutheit des Menschenwürdesatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Die Würde des Tieres nach Analogie der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . 99 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 I.

Die Neujustierung der Stellung des Staates gegenüber dem Menschen mithilfe der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

II.

Begriffsbestimmung vom Verletzungsvorgang her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

III. Die Menschenwürde als seinsgegebener Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Objektformel und Subjektqualität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Das Subjektprinzip als wesentliches Element der Würde des Menschen . . . 114 2. Das vom BVerfG zugrunde gelegte Menschenbild und die Gemeinschafts­ gebundenheit des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 V.

Die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“ und absolute Grenze staatlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . 121 1. Die Konturierung der Reichweite der Unantastbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Der Verweis des BVerfG auf das Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Die Mikrozensus-Entscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) Der Beschluss des BVerfG zu heimlichen Tonbandaufnahmen . . . . . . 125 d) Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 126 e) Die Entscheidungen des BVerfG zum Großen Lauschangriff und zum BKA-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG zur Absolutheit in der Literatur 131 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 VII. Die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip und zugleich als anspruchs­ begründendes Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . 140 2. Die subjektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürdegarantie . . . . . . . 141 VIII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Inhaltsverzeichnis

9

D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . 146 I.

Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Die Union als Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Die aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Unionsgrundrechte und die Rolle des EuGH bei deren Herausbildung . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4. Die EMRK als Rechtserkenntnisquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5. Die Menschenwürde im Gefüge multipolarer Grundrechtsverhältnisse . . . 156 a) Rang und Bedeutung der EMRK im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Die Rezeption der Rechtsprechung des EGMR zur Menschenwürde durch BVerfG und EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

II.

Funktion und normativer Charakter der Menschenwürdegarantie in der EU . . 161 1. Die Menschenwürdegarantie als Fundament der Unionsgrundrechte . . . . . 162 2. Der Grundrechtscharakter von Art. 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Die Rs. P. ./. S. und Cornwall County Council . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Die Rs. Biopatentrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Die Rs. Brüstle sowie die Rs. Stem Cell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4. Die Rs. Omega-Spielhallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Die Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Die Menschenwürde als Teil des Rechtfertigungsgrundes der „öffentlichen Ordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Die Einordnung der Menschenwürde als Grundrecht . . . . . . . . . . 176 cc) Die Berücksichtigung der „kulturellen Bedingtheit“ des Menschenwürdeschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 E. Die Würde des Menschen nach der EMRK im Lichte der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 I.

Die Rechtsquellen der Menschenwürde auf der Ebene des Europarats und in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Die Würde des Menschen auf der Ebene des Europarates . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Die Erwähnung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Keine Erwähnung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Die Satzung des Europarats, die Präambel der EMRK und die Bedeutung der AEMR von 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

10

Inhaltsverzeichnis a) Der Verweis in der Präambel der EMRK auf die AEMR . . . . . . . . . . . . 192 b) Die gemeinsamen Grundlagen von AEMR und EMRK . . . . . . . . . . . . 195 3. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . 199 a) Das Folterverbot und das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung aus Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 aa) Die Menschenwürde in der Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Die herausgehobene Stellung des Art. 3 EMRK im Konventionsrecht und seine absolute Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 cc) Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (1) Der Schutz der Menschenwürde als eigentlicher Schutzzweck des Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (2) Die absolute Geltung von Art. 3 EMRK und das Erfordernis eines gewissen Schweregrades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (3) Die Ableitung einer staatlichen Pflicht zum Schutz der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 (4) Die Wahrung der Selbstachtung und Selbstbestimmung als Elemente der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 dd) Diskriminierungen als erniedrigende Behandlung i.  S.  v. Art. 3 EMRK  – Rs.  Smith und Grady  ./. Vereinigtes Königreich und Rs. Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 ee) Die Menschenwürde als Hauptanknüpfungspunkt von Art. 3 EMRK – Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 ff) Die Frage nach der Erforderlichkeit der Gewaltanwendung – Rs. Ribitsch ./. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 gg) Menschenwürdige Bedingungen in der Haft – Rs. Valasina ./. Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 hh) Einzelhaft sowie Unterbringung in der Sicherheitszelle ohne Kleidung – Rs. Hellig ./. Deutschland, Rs. van der Ven ./. Niederlande und Rs. Ramirez Sanchez ./. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 ii) Demütigung und Brandmarkung – Rs. Yankov ./. Bulgarien . . . . . 231 jj) Haftbedingungen und positive Verpflichtungen – Rs. Kalashnikov ./. Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 kk) Fälle der Auslieferung und Ausweisung – Konkretisierung der posi­ tive obligations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (1) Rs. Soering ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (2) Rs. M. S. S. ./. Belgien und Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . 239 (3) Rs. Tarakhel ./. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (4) Rs. Khlaifia u. a. ./. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 ll) Rettungsfolter und absoluter Schutz – Rs. Gäfgen ./. Deutschland 247 mm) Rs. Svinarenko und Slyadnev ./. Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Inhaltsverzeichnis

11

nn) Rs. Bouyid ./. Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 oo) Fragen sozialer Not – Rs. D. ./. Vereinigtes Königreich, Rs. Z. u. a. ./. Vereinigtes Königreich und Rs. N. ./. Vereinigtes Königreich . . . . 253 b) Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK 257 aa) „The very essence of the Convention“ – Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 bb) Weitere Entscheidungen zur Sterbehilfe – Rs. Koch ./. Deutschland 261 cc) Die Verengung des margin of appreciation – Rs. Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 dd) Die Betonung einer positive obligation zur Achtung der Menschenwürde – Rs. L. ./. Litauen; Rs. Dordevic ./. Kroatien . . . . . . . . . . . 266 ee) Weitere Fälle zu „identity“ im Zusammenhang mit der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 c) Weitere Anknüpfungspunkte für die Menschenwürde in der Konvention 271 d) Die zeitliche Dimension des Menschenwürdeschutzes: Pränataler und postmortaler Würdeschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 aa) Die Rs. Vo ./. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 bb) Die Rs. Tysiac ./. Polen sowie die Rs. A, B und C ./. Irland . . . . . . 279 cc) Die Rs. Evans ./. Vereinigtes Königreich und die Rs. Parrillo ./. Italien 280 dd) Die Rs. Jäggi ./. Schweiz und die Rs. Elberte ./. Lettland . . . . . . . 281 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 II. Rechtsqualität und Bestimmung des normativen Gehalts des Menschenwürdesatzes in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Die Begriffsbestimmung vom Verletzungsvorgang her . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Möglichkeiten einer positiven Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3. Ansätze für eine positive Begriffsbestimmung – der Bedeutungsinhalt der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 a) Der Rückgriff auf positive Definitionsansätze in der Literatur . . . . . . . 292 aa) Mitgift- bzw. werttheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 bb) Leistungstheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 cc) Kommunikationstheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 dd) Die fünf Komponenten der Menschenwürde nach Podlech . . . . . . 296 b) Die Wesensmerkmale der Menschenwürde als Wesensmerkmale des ordre public européen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 aa) Freiheit und die Freiheit von Existenzangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (1) Die Menschenwürde als „Urgrund“ der Konventionsrechte und die individuelle Selbstbestimmung als ihre direkte Ausprägung 300 (2) Anknüpfungspunkte für die Freiheit in der EMRK . . . . . . . . 302 (3) Die Freiheit von Existenzangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

12

Inhaltsverzeichnis bb) Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 cc) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 dd) Die Gleichheit des Menschen und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . 312 ee) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 4. Die Funktionen der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 a) Abwehrfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 b) Schutzfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . 320 aa) Der eigenständige Schutzbereich der Menschenwürdegarantie . . . 320 bb) Der Anknüpfungspunkt für die Prüfung der Menschenwürde­ verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 cc) Der Schutz des Menschenwürdekerns des jeweiligen Grundrechts 324

F. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

A. Einleitung und Gegenstand der Untersuchung Hannah Arendt verwies in ihrem Vorwort zur ersten Auflage ihres Werks The Origins of Totalitarism (1951) auf die Notwendigkeit, aufgrund der unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und während des Zweiten Weltkriegs gemachten Unrechtserfahrungen, die Menschenwürde auf der Ebene des Rechts zu etablieren: „Antisemitism (and not merely the hartred of Jews), imperialism (not merely conquest), totalitarism (not merely dictatorship) – one after the other, one more brutally than the other – have demonstrated that human dignity needs a new guarantee which can only be found in a new political principle, in a new law on earth, whose validity this time must comprehend the whole of humanity while its power must remain strictly limited, rooted in and controlled by newly defined territorial entities.“1

Diese Forderung von Hannah Arendt nach einer neuen, auf der Achtung der Menschenwürde beruhenden weltweiten politischen Ordnung, die den Menschen als absolute Grenze staatlicher Machtausübung anerkennt,2 zeigt, vor welchem historischen Hintergrund die Menschenwürde ihren Weg ins Recht finden konnte. Nachdem die Menschenwürde bereits als philosophischer und theologischer Begriff auf eine jahrhundertelange Entwicklung zurückblicken konnte, gewann die Menschenwürde als Rechtsbegriff erst nach den Erfahrungen imperialistischer, totalitaristischer und entgrenzter Machtausübung sowohl auf der Ebene des Völkerrechts sowie im nationalstaatlichen Recht wirklich an Bedeutung,3 wenngleich auch schon früher die Menschenwürde vereinzelt als Prämisse für den Verfassungsstaat und als Grundlage der Demokratie verstanden worden war.4 Indem die Unterzeichnerstaaten der UN Charta am 26.06.1945 in der Präambel ihren Glauben an die Grundrechte des Menschen sowie an die Würde und den Wert der Person bekräftigten,5 bekannte man sich erstmals ausdrücklich auf internationaler Ebene zur Menschenwürde. Die am 10.12.1948 von der Generalsversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete, völkerrechtlich nicht bindende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) geht in ihrer Präambel von der Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt aus (Abs. 1) und bezieht sich im Weiteren ausdrücklich auf die UN Charta (Abs. 5). In Art. 1 AEMR ist dann die Rede davon, dass alle Menschen frei 1

Arendt, The Origins of Totalitarism, S. IX. Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 43. 3 Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 134; McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (656). 4 Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (982). 5 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, BGBl. 1973 II, 431. 2

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A. Einleitung und Gegenstand der Untersuchung

und gleich an Würde und Rechten geboren sind. In ihren Art. 22 und 23 enthält die AEMR weitere Garantien, die sich auf den Schutz der Menschenwürde beziehen. Neben der Erwähnung in einigen Landesverfassungen stellte das nur kurze Zeit später verabschiedete deutsche Grundgesetz in seinem Art. 1 Abs. 1 GG die Menschenwürde gar an die Spitze seines Grundrechtskatalogs.6 Indem die Menschenwürde in Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden GRCh)7 vorangestellt wird, erhielt sie auch im Unionsrecht eine herausgehobene Stellung. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) selbst, von den Mitgliedstaaten des Europarates am 04.11.1950 in Rom unterzeichnet, nennt – auch in ihrer Präambel – die Menschenwürde hingegen überraschenderweise nicht. Dennoch ist die Menschenwürde auch auf der Ebene des Europarates etabliert. In der Konvention des Europarates „zum Schutze der Menschenrechte und Menschenwürde mit Blick auf die Anwendung von Erkenntnissen aus der Biomedizin“ vom 04.04.19978 fand die Menschenwürde sogar Eingang in den Namen der Konvention. Auch weitere Verträge der Europaratsstaaten benennen die Menschenwürde ausdrücklich. Nachdem sich bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) auf die Menschenwürde bezogen hatte, nahm auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Rechtsprechung wiederholt auf die Menschenwürde Bezug. In mittlerweile ständiger Rechtsprechung bezeichnet der Gerichtshof die Achtung der Menschenwürde als den Kern („essence“) der EMRK.9 Welche Bedeutung kommt aber der Menschenwürde im Konventionsrecht tatsächlich zu? Die Untersuchung soll der Frage nachgehen, inwieweit die Menschenwürde von der EMRK zugrunde gelegt bzw. von ihr geschützt wird, auch wenn sie selber weder in der Konvention noch in der Satzung des Europarates ausdrückliche Erwähnung gefunden hat. Was meint der EGMR, wenn er die Menschenwürde als „the essence of the Convention“10 bezeichnet? Bedeutet dies etwa, dass es sich bei der Menschenwürde um eine bloße normative Hintergrundannahme, eine Wertentscheidung und einen gemeinsamen Grundgedanken der in der Konvention verbürgten Grundrechte handelt, der allenfalls im Rahmen der Auslegung der Konventionsgarantien heranzuziehen ist? Oder stellt die Menschenwürde vielmehr ein 6

Heinrich August Winkler bezeichnete in seiner Rede zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges am 08.05.2015 im Deutschen Bundestag als die „eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 […] die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten.“, abrufbar unter: https://www. bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler/373858 (zul. einges. am 01.10.2018). 7 ABl. der Europäischen Gemeinschaften, Nr. C 364 vom 18. Dezember 2000. 8 Vom 4. April 1997, ETS Nr. 164, von Deutschland nicht gezeichnet. 9 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 12.09.2003, Beschw. 35968/03 (van Kück  ./. Deutschland), Nr. 69; EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Verienigtes Königreich), Nr. 97. 10 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 12.09.2003, Beschw. 35968/03 (van Kück  ./. Deutschland), Nr. 69; EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 97.

A. Einleitung und Gegenstand der Untersuchung

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Konstitutionsprinzip dar, dem eine normative Doppelfunktion in Form einer ob­jektivrechtlichen sowie einer subjektiv-rechtlichen Dimension wie nach dem überwiegenden Verständnis der Menschenwürde des Grundgesetzes und der GRCh zukommt? Um sich der Beantwortung dieser Fragen zu nähern, soll in Teil  B zunächst die Entwicklung des ideengeschichtlichen Begriffs der Menschenwürde von der Antike über das Begriffsverständnis im Christentum und im Zeitalter der Renaissance sowie der Aufklärung und insbesondere dem Menschenwürdeverständnis bei ­Immanuel Kant bis zur weiteren Entwicklung in der Moderne nachvollzogen werden. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf dem Begriffsverständnis in der ideengeschichtlichen Entwicklung liegen, das für das heutige Verständnis des Rechtsbegriffs als prägend angesehen wird. In einem zweiten Schritt soll untersucht werden, wie die Menschenwürde ihren Weg in das internationale Recht bzw. die nationalstaatlichen Rechtsordnungen gefunden hat und damit heute in vielen Staaten der Welt als Verfassungsbegriff etabliert ist. Diese Betrachtung sowie die sich anschließende rechtstheoretische Analyse soll helfen, die Menschenwürde als universelles Rechtsprinzip im Sinne eines Konstitutionsprinzip und damit als Voraussetzung allen Rechts, mithin als Grundlage der universellen Menschenrechte und damit auch der in der EMRK verbürgten Rechte, zu begründen. Die sich daran in Teil C anschließende Untersuchung der Menschenwürdegarantie des deutschen Grundgesetzes soll aufzeigen, wie dieser universell gültige Begriff seinen Eingang in eine nationalstaatliche Verfassung unter Rückbindung an internationales Recht gefunden hat. Vergleichbar ist dies mit der Entwicklung der EMRK, die ebenfalls unter dem Eindruck von Krieg und Gewaltherrschaft, der völligen Negierung des Individuums und seiner Unterordnung unter eine willkürliche Staatsgewalt stand. Neben einem Vergleich mit der Menschenwürdegarantie des GG soll ein Überblick über die Menschenwürde auf der Ebene der EU in Teil D helfen, sich Inhalt und Funktion der Menschenwürdegarantie der EMRK zu nähern. Was bedeutet es, wenn in der Präambel der EMRK die Rede davon ist, dass die Vertragsstaaten entschlossen sind, „die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen“11? Die Untersuchung soll zeigen, dass mit der Konvention das Verbindlichkeit erhalten sollte, was bereits universelle Gültigkeit beanspruchte und in der AEMR – wenn auch rechtlich unverbindlich – bereits anerkannt worden war: Mit der Konvention wurde eine kollektive Garantie, das Instrument eines ordre public européen geschaffen. Die Konvention als kollektive Garantie sollte der Umsetzung des sich aus der Menschenwürde ergebenden, jedem Menschen in gleicher Weise zukommenden Achtungsanspruchs in rechtlich verbindlicher und vor einem Gerichtshof durchsetzbarer Weise dienen. 11 „to take the first steps for the collective enforcement of certain of the rights stated in the Universal Declaration.“

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A. Einleitung und Gegenstand der Untersuchung

In Teil E soll zunächst untersucht werden, inwieweit sich die Menschenwürde im sonstigen Europaratsrecht findet. Anschließend sollen die Rechtsprechung des EGMR zur Menschenwürde analysiert und die wesentlichen Fallkonstellationen sowie die Anknüpfungspunkte in der EMRK untersucht werden. Nicht nur die Bestimmung der normativen Funktion der Menschenwürde bereitet nach wie vor Schwierigkeiten. Beim Versuch einer genauen Begriffsbestimmung stehen Wissenschaft und Praxis nicht zuletzt aufgrund der Abstraktheit, Unbestimmt­heit und Vielschichtigkeit12 – mitunter noch erschwert durch die „Last“ des Jahrhunderte währenden ideengeschichtlichen Begriffsdiskurses – immer wieder vor Problemen.13 Anhand der Analyse der Rechtsprechung des EGMR und unter Bezugnahme auf sonstige völkerrechtliche Regelungen soll das dem Menschenwürdekonzept der Konvention zugrunde liegende Begriffsverständnis sowie die Frage nach der normativen Funktion der Menschenwürde im Konventionsrecht herausgearbeitet werden. Die sich anschließende Analyse soll dann untersuchen, inwieweit eine Begriffsbestimmung möglich ist, die nicht lediglich die Menschenwürde negativ, also vom Verletzungsvorgang her, bestimmt, sondern die vielmehr eine positive Annäherung vornimmt. Hierzu sollen insbesondere die sich auch in der Rechtsprechung des EGMR als für die Menschenwürde konstitutiven Wesenselemente der Freiheit sowie der Freiheit von Existenzangst, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Gleichheit herangezogen werden.

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Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 23. Die GA’ in Stix-Hackl stellte in ihren Schlussanträgen vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (OmegaSpielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 74, fest, dass kein Rechtsbegriff dogmatisch schwieriger zu fassen sei als der Menschenwürdebegriff. 13

B. Von der Idee zum Recht – die Entwicklung der Menschenwürde zum Rechtsbegriff und ihr völkerrechtlicher Gehalt Die vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stark zunehmende rechtliche Positivierung der Menschenwürde sowohl in völkerrechtlichen Verträgen als auch in nationalstaatlichen Verfassungen stellt einen Meilenstein in der Entwicklung und Umsetzung eines Begriffs dar, der zuvor hauptsächlich Gegenstand philosophischer sowie theologischer Betrachtung war. Der Menschenwürdebegriff verfügt bereits über einen langen, bis in die Antike zurückreichenden ideen­ geschichtlichen Hintergrund.1 Aufgrund politischer Entscheidungen des Verfassungs- bzw. Gesetzgebers kommen Begriffe in das positive Recht.2 Dabei können diese zu Rechtsbegriffen gewordenen Begriffe teilweise bereits auf eine lange geistesgeschichtliche Entwicklung zurückblicken, bevor sie ihren Weg in das positive Recht finden. Ein wichtiger Ansatz ist es, diese Rechtsbegriffe – insbesondere den der Menschenwürde – anhand ihrer jeweiligen systematischen Stellung im verfassungsrechtlichen bzw. völkerrechtlichen Normengefüge näher zu untersuchen. In der Literatur wird sich zum Teil dafür ausgesprochen, diese Rechtsbegriffe auch vor ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund zu betrachten.3 Insbesondere bei Rechtsbegriffen wie dem der Menschenwürde, die aufgrund ihrer Offenheit eine außerordentliche Interpretationsbreite zulassen,4 erscheint ein Rekurs auf den geistesgeschichtlichen Begriffshintergrund hilfreich.5 Schließlich hat gerade auch der vorpositive philosophische Diskurs über die Würde des Menschen die Herausbildung des Rechtsbegriffs erst ermöglicht und die Formulierung des Menschenwürdesatzes als positives Recht beeinflusst. Daher wirken bis heute die ideengeschichtlichen Hintergründe auf das Verständnis des Rechtsbegriffs Menschenwürde ein.6

1 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, Art. 1 I, Rn. 2: „Treffend hat man gesagt, der Satz von der Menschenwürde sei mit zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte belastet.“ 2 Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 31 ff. 3 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 3; Häberle, in: Isensee / Kirchhof, Rn. 33. Im Hinblick auf den Menschenwürdebegriff auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 305 f. 4 Vgl. Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 33. 5 So Herbert, EuGRZ 2014, 661 (661), denn schließlich lasse sich der Satz von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen nicht auf empirische Phänomene oder Naturgesetze zurückführen. 6 Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 33.

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B. Von der Idee zum Recht

Wie die folgende Untersuchung zeigen wird, hat der Begriff der Menschenwürde jedoch nicht nur seinen Eingang in europäische Rechtsordnungen bzw. europäische internationale Verträge gefunden, sondern gehört spätestens seit der AEMR vom 10.12.1948 zum festen Bestandteil des internationalen Menchenrechtsschutzes und ist zudem in vielen außereuropäischen Verfassungstexten zu finden. Bei der Frage nach einem universellen Begriffsverständnis der Menschenwürde und ob es sich bei der Menschenwürde gar um ein universelles Rechtsprinzip handelt, ist jedoch Vorsicht beim Rückgriff auf den ideengeschichtlichen Begriffsdiskurs geboten. So kann dieses europäisch geprägte Begriffsverständnis nicht einfach auf einen universell gültigen Begriff übertragen werden. Vor dem Hintergrund, dass gerade im Hinblick auf die Frage nach universell gültigen Menschenrechten häufig der Vorwurf eines europäisch-amerikanisch geprägten Werteimperialismus’ im Raum steht, sollte sich der Begriffsbestimmung sowie der Frage nach der Menschenwürde als universellem Rechtsprinzip vor allem rechtstheoretisch genähert werden.7 Die folgende Darstellung der Ideengeschichte der Menschenwürde kann daher auch keine abschließende Definition eines universell gültigen Rechtsbegriffs der Menschenwürde ermöglichen, sondern vielmehr aufzeigen, warum der Begriff seinen Weg überhaupt ins Recht gefunden hat und welches Begriffsverständnis zunächst bei seiner Positivierung zugrunde lag, um so zumindest Anhaltspunkte für den semantischen Gehalt des Menschenwürdebegriffs zu haben. Anhanddessen kann auch in der weiteren Untersuchung festgestellt werden, inwieweit das heutige Verständnis des Rechts­begriffs der Menschenwürde noch vom ideengeschichtlichen Hintergrund geprägt ist. Anschließend soll untersucht werden, wo sich der Menschenwürdebegriff im nationalen bzw. internationalen Recht finden lässt. Es soll an dieser Stelle herausgearbeitet werden, inwieweit sich die jeweiligen Menschenwürdeansätze decken bzw. voneinander unterscheiden, welches Verständnis ihnen zugrunde liegt und welche normative Funktion der Menschenwürde jeweils zukommt. Hierdurch sowie durch die sich anschließende rechtstheoretische Betrachtung soll die Frage nach dem völkerrechtlichen Gehalt der Menschenwürde und ihrer Rechtsqualität als universelles Rechtsprinzip sowie ihrem normativen Gehalt beantwortet werden.8

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Auch Haßmann, Embryonenschutz im Spannungsfeld, S. 38, warnt davor, sich dem Rechtsbegriff der Menschenwürde auf der Ebene des Völkerrechts mithilfe westlicher philosophischer Begriffsdeutungen zu nähern: „der völkerrechtliche Begriff der Menschenwürde [lässt] sich nicht hinreichend durch Exegese abendländischer Philosophien bestimmen […], weil dies den konsensualen Charakter der Entstehung der AEMR widersprechen und ihren Universalitätsanspruch untergraben würde.“ 8 So geht auch Mahlmann, EuR 2011, 469 (480), davon aus, dass „[…] man durchaus einen Kerngehalt einer Menschenwürdekonzeption mit universalistischem Potential identifizieren und einigermaßen plausibel und mit ehrbaren geistesgeschichtlichen Wurzeln begründen“ könne.

I. Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde

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I. Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde Die folgende Darstellung der Ideengeschichte der Menschenwürde fokussiert sich auf den immer wieder im Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff Menschenwürde angeführten, ausschließlich kontinentaleuropäisch geprägten Textekanon.9 Es lässt sich zumindest in der rechtswissenschaftlichen Literatur die verbreitete Annahme erkennen, dass diese Texte als die Wurzel unseres heutigen Menschenwürdeverständnisses begriffen werden. Über den jeweiligen Wert der immer wieder ins Feld geführten Quellen und ihre Bedeutung für die Herausbildung unseres heutigen Begriffsverständnisses von der Menschenwürde herrscht in der Literatur indes teilweise Uneinigkeit. Darüber hinaus besteht eine Vielzahl weiterer philosophischer bzw. theologischer Abhandlungen zum Menschenwürdebegriff, deren Einbeziehung jedoch den Rahmen der Untersuchung sprengen würde. Insofern soll sich die Untersuchung auf eine Betrachtung dieser in der Literatur überwiegend als grundlegend angesehenen Texte beschränken, um dem semantischen Gehalt des Menschenwürdebegriffs näher zu kommen. 1. Die griechische Antike Wenngleich davon ausgegangen wird, dass sich in der griechischen Antike noch kein Menschenwürdeverständnis finden lässt, das von einer „nichtkörperliche[n], innere[n], im Kern unveränderliche[n] und notwendige[n] Eigenschaft des Menschen“10 ausgeht, zeichnet sich aber bereits hier ein Menschenbild ab, das den Weg zum späteren Menschenwürdeverständnis zu ebnen scheint. Bei Platon (427–347 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) kommt der Vorstellung von der Geistseele zentrale Bedeutung zu. Platon unterscheidet zwischen Körper und Seele, während sich diese Trennung bei Aristoteles schon nicht mehr findet.11 Nach Platon macht diese „einem jeden als Schutzgeist“12 gegebene Geistseele den Menschen aus, denn sie ist das den Leib Beherrschende des Menschen13. Diese „im obersten Teil unseres 9

Siehe etwa die Darstellungen bei von der Pfordten, Menschenwürde, S. 11 ff.; Wetz, Texte zur Menschenwürde; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 21 ff.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 25 ff.; Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 2 ff.; Rosen, Dignity – its history and meaning, S. 1 ff.; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 3 ff.; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK– Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 7 ff. 10 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 9, 11, bezeichnet dies als die „große Menschenwürde“, als „Selbstbestimmung über die eigenen Belange“ (S. 10), im Gegensatz zur „kleinen Menschenwürde“, als „nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen“ (S. 10). 11 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 14. 12 Platon, Timaios, 90a-d (S. 183–185). 13 Platon, Alkibiades der Erste, 129b-130c (S. 201).

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B. Von der Idee zum Recht

Körpers“14 wohnende Geistseele macht den Menschen zu einem besonderen, einem „himmlische[n] Geschöpf“15. Die Annahme der übergeordneten Position der Geistseele sowie der Verweis auf äußere Körpermerkmale wie insbesondere der aufrechte Gang des Menschen16 unterstreichen bereits die herausgehobene Stellung des Menschen.17 Von der Pfordten verweist darauf, dass trotz des Fehlens des Menschenwürdebegriffs in der antiken griechischen Philosophie die Aufgabe dieses Begriffs zumindest teilweise durch den umfangreicheren und ontologisch fundamentaleren Begriff der unsterblichen menschlichen Seele miterfüllt werden konnte.18 2. Die Lehren der Stoa, Marcus Tullius Cicero Im Römischen Reich wurde mit dem Begriff dignitas zunächst ein nach Amt, Rang und persönlicher Bedeutung abgestufter Status – im Sinne einer sozialen Würde – verstanden.19 Entgegen dem heute vorherrschenden, von der Gleichheit aller geprägten Würdeverständnis, bedeutete dignitas lediglich eine proportionale Gerechtigkeit nach dem jeweiligen Status in der Gesellschaft aufgrund von Rang und Verdienst im Sinne eines Privilegs und zugleich als verpflichtende Norm.20 Dignitas beschrieb daher ein Attribut, das nur besonders herausragenden Persönlichkeiten zukommen sollte. Ab ca. 300 v. Chr. bildete sich im antiken Griechenland die philosophische Denkschule der Stoa heraus. Nach deren Lehre ist die Welt (kósmos) von einem gött­ lichen Weltgesetz geordnet (lógos), das der Welt eine vernünftige Ordnung verleiht

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Platon, Timaios, 90a-d (S. 183–185). Platon, Timaios, 90a-d (S. 183–185). 16 Platon, Timaios, 90a-d (S. 183–185): Hieraus begründet sich auch die aufrechte Haltung des Menschen: „Denn dort wo die erste Erschaffung der Seele sich vollzog, gab die Gottheit unserem Kopf und unserer Wurzel einen festen Ort und verlieh so dem ganzen Körper seine aufrechte Haltung.“ 17 Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 99: „Ein Mann nämlich, dessen Würdigkeit gering ist und der sich auch so einschätzt, ist zwar bescheiden, aber nicht hohen Sinnes. Denn großes Format gehört zur Hochsinnigkeit, genau wie Schönheit nur an einem hochgewachsenen Körper sichtbar wird […].“ 18 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 14. 19 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, Art. 1 I, Rn. 3; Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (38), bezeichnen daher die soziale Würde als „die Urform der Würde“ in stratifizierten Gesellschaften: „Eine soziale Würde ist ein mit einem Amt oder sozialen Rang verbundener Komplex an normativen Verhaltenserwartungen an den Würdenträger selbst und an andere Personen ihm gegenüber. Diese Erwartungen werden aus dem besonderen Wert dieses Amtes oder Rangs hergeleitet sowie eventuell auch aus dem besonderen Wert des Würdenträgers selbst. Verstöße gegen Erwartungen durch andere werden als Beleidi­ gungen, Demütigungen, Entwürdigungen verstanden, Verstöße des Würdenträgers selbst als würdelos, als Zeichen mangelnder Selbstachtung.“ 20 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, Art. 1 I, Rn. 3; Schliesky, in: ders. / Ernst / Schulz (Hrsg.), FS Schmidt-Jortzig, 2011, S. 311 (316). 15

I. Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde

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und dessen Teil die menschliche Vernunft ist.21 Das Ziel des Menschen muss daher sein, die vernünftige Weltordnung zu erkennen und dementsprechend zu leben, indem er sich von seinen Trieben und Begierden unabhängig macht und sich nur von seiner Vernunft leiten lässt.22 Auch Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) verbindet mit dem Begriff der dignitas vor allem eine herausgehobene soziale Stellung. Von den Lehren der Stoa ebenso wie von Platon und Aristoteles beeinflusst,23 lässt Cicero jedoch an einer Stelle erkennen, dass er die Menschenwürde nicht nur mit der sozialen Stellung verbindet, sondern ihr auch ansatzweise eine universelle Komponente zuspricht. So fußt nach Ciceros Verständnis die herausgehobene Stellung des Menschen auf dessen Vernunftbegabung. Dennoch sei dignitas ein Verdienst jedes einzelnen Menschen aufgrund seines entsprechenden Verhaltens.24 Cicero verlässt das rein statusgebundene Bedeutungsverständnis des Begriffs dignitas, indem er davon ausgeht, dass mit dignitas für den Menschen eine normative Verpflichtung zur Selbst­ beherrschung in Form einer bestimmten Lebens- und Verhaltensweise einhergehe. Neben der von den Göttern geschenkten aufrechten Haltung des Menschen25 ist es nach ­Cicero gerade die Vernunft, die den Menschen vom Tier unterscheidet und die ihn dazu befähigt, die Folgen seines Handelns absehen zu können, die Ursachen einzusehen und sich über seine Naturgetriebenheit zu erheben.26 Aus der Vernunft folge auch, dass der Mensch seinen Mitmenschen nahe stehe und ein Gemeinschaftswesen sei.27 Auch wenn Ciceros Schrift De officiis unter dem Einfluss der Lehren der griechischen Stoa stand, wird aber die teilweise vertretene Ansicht, wonach bereits in 21

Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 113. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 113. 23 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 19; Gisbertz, Menschenwürde in der angloameri­ kanischen Rechtsphilosophie, S. 21. 24 Cicero, De officiis, Erstes Buch, S. 93: „Daraus ersieht man, dass körperliches Vergnügen der erhabenen Stellung des Menschen nicht genug würdig ist und verschmäht und zurück­ gewiesen werden muss […]. Wenn wir bedenken wollen, eine wie überlegene Stellung und Würde in [unserem] Wesen liegt, dann werden wir einsehen, wie schändlich es ist, in Genusssucht sich treiben zu lassen und verzärtelt und weichlich, und wie ehrenhaft andererseits, sparsam, enthalt­ sam, streng und nüchtern zu leben.“; Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (43), verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass „[f]ür Cicero und seine Zeitgenossen […] die Pflicht, sich so zu verhalten, dass ihre Würde gewahrt blieb, ein zentrales Motiv ihres alltäglichen Lebens“ war. 25 Cicero, De nature deorum, Zweites Buch, S. 207: „damit sie beim Blick auf den Himmel zur Erkenntnis der Götter gelangen könnten.“ 26 Cicero, De officiis, Erstes Buch, S. 15: „Aber zwischen Mensch und Tier besteht besonders der Unterschied, dass dieses nur, insoweit es von einer sinnlichen Wahrnehmung angesprochen wird, allein auf das, was vorliegt und gegenwärtig ist, sich einrichtet, indem es Vergangenheit und Zukunft nur ganz wenig wahrnimmt. Anders der Mensch: weil er der Vernunft teilhaftig ist, durch die er die Folgen absieht, sieht er die Ursachen ein […].“ 27 Cicero, De officiis, Erstes Buch, S. 15: „Diese Natur bringt auch kraft der Vernunft den Menschen dem Mitmenschen nahe zur Gemeinschaft der Rede und der Lebensgestaltung […].“ 22

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B. Von der Idee zum Recht

der griechischen Antike ein Begriff der Menschenwürde bestanden habe, der dann von Cicero lediglich aufgegriffen worden sei,28 bestritten29. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob es sich bei Ciceros Werk De officiis um eine bloße Übersetzung von Schriften des griechischen Stoikers Panaitios handelt, oder ob Cicero in diesem Werk nicht vielmehr auch eigene Gedanken zum Ausdruck brachte. Für die Annahme, dass bereits in der griechischen Antike ein Menschenwürdebegriff bestand, der dann von Cicero einfach übernommen worden ist, wird auf den stoischen Begriff „axioma“ verwiesen, den Cicero bei Panaitios mit dem lateinischen Begriff „dignitas“ übersetzt haben soll, der in der ersten deutschen Übersetzung im Jahre 1488 dann wiederum mit dem mittelhochdeutschen Wort „Wyrde“ wiedergegeben worden sei.30 Dem wird in der Literatur entgegengehalten, dass die Schriften des Panaitios allesamt verloren gegangen seien, sodass unklar bleibe, wie stark sich Cicero tatsächlich auf die Gedanken des Panaitios bezogen habe.31 Zudem sei der griechische Begriff „axioma“ ohnehin viel unspezifischer gewesen und habe vor allem Ehre, aber auch Wert, Wertschätzung, Achtung, Ansehen, Machtstellung bedeutet.32 Für die Annahme, der Menschenwürdebegriff komme bereits aus der Stoa, fehle daher der textliche Beleg.33 Zum Teil wird in der Literatur Ciceros De officiis gar als erste philosophische Abhandlung, die sich eingehend mit der Würde des Menschen auseinandergesetzt habe, gesehen.34 Nach dieser Ansicht habe Cicero den Begriff der dignitas mit den von Platon und Aristoteles benannten, das Wesen des Menschen ausmachenden Merkmalen in Verbindung gebracht und den höheren Rang des Menschen im Kosmos unterstrichen. Er habe so in Abkehr von einer rein sozial verstandenen Würde die Öffnung zu einem universellen Begriff ermöglicht.35 Cicero für die Entwicklung des Menschenwürdebegriffs eine so weitreichende Bedeutung einzuräumen, ist jedoch zweifelhaft. Zwar unterstreicht Cicero mit seinem Begriff der dignitas die besondere Stellung der Gattung Mensch gegenüber niederen Wesen; zugleich werden jedoch noch keine Aussagen über die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen und einen normativen Anspruch auf die Achtung dieser Würde getroffen.36 Statt eines Achtungsanspruchs, der wie nach heutigem Begriffsverständnis von der Menschenwürde das Handeln anderer oder der politischen Gemeinschaft wirksam begrenzt, beschreibt der Begriff dignitas 28

Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 121. Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 19; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 21 f. 30 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 121. 31 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 17. 32 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 19. 33 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 19, 21; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 22. 34 Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (40). 35 Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (40 f.). 36 Habermas, Zur Verfassung Europas, S. 28. 29

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bei Cicero eine im Kern unveränderliche, innere Eigenschaft des Menschen.37 Sie fungiert vielmehr als Ideal eigener Lebensführung und bezeichnet damit weiterhin zusätzlich die soziale Stellung.38 3. Die christliche Lehre in der Spätantike und im Mittelalter In der Bibel findet sich der Begriff der Menschenwürde nicht. In der Spätantike und im Mittelalter prägen die christlichen Lehren vom Menschen als Gottes Kreatur, von der Erbsünde sowie von der Erlösung die Vorstellung von der Stellung des Menschen.39 Die sich in der Scholastik herausbildende imago-dei-Lehre gründete ihre Annahme von der herausgehobenen Stellung des Menschen im Verhältnis zu Gott und zur sonstigen Schöpfung auf der in Genesis 1,26–28 beschriebenen Gottesebenbildlichkeit des Menschen.40 Für Kirchenväter wie Theophilos von Antiochien liegt im frühen Christentum gerade in dieser Gottesebenbildlichkeit die Würde des Menschen begründet.41 Zum Ausdruck kommt die Würde des Menschen nach Augustinus in der Seele des Menschen, die sich durch ihre Vernunft und Einsichtsfähigkeit auszeichnet.42 Würde ist hiernach etwas von Gott Empfangenes und nicht etwas, das sich der Mensch erst verdienen muss. Zwar ist die Würde des Menschen damit etwas Unverlierbares, jedoch hat der Mensch auch den Geboten Gottes zu folgen, um die dem Menschen gegebene Ähnlichkeit zu Gott zu vollenden.43 Eine herausgehobene Stellung einzelner Menschen aufgrund ihrer Abstammung oder ihres Amts wird zugunsten einer allen Menschen von Geburt an zukommenden Würde abgelehnt.44 37

Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 19 f. Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 24. 39 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 I Rn. 5. 40 Genesis 1,26–28: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan […].“ 41 Theophilus von Antiochien, Zweites Buch an Autolykus, 18. (S. 48): „Gott zeigt nämlich dadurch, dass er sagt: ‚Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis‘ die Würde des Menschen.“ 42 Augustinus, Vom Gottesstaat, 12. Buch, Kap. 24 (S. 100): „Gott machte also den Menschen nach seinem Bilde. Denn er schuf ihm eine Seele, die durch ihre Vernunft und Einsicht allen Land-, Wasser- und Luftgeschöpfen, die keinen solchen Geist besitzen, überlegen sein sollte.“ 43 Origines, Vier Bücher von den Prinzipien (III,6,1.), S. 644: Der Mensch „sollte sich selbst durch eigenen Eifer diese Ähnlichkeit zur Nachahmung Gottes erwerben; nachdem ihm zu Anfang die Fähigkeit zur Vervollkommnung kraft der Würde des Bildes gegeben war, sollte er schließlich am Ende selber durch eigenes Wirken die vollkommene Ähnlichkeit vollenden.“ 44 Minucius Felix, Octavius, 37,10–11 (S. 131): „Mit den Rutenbündeln prangst du im Purpur? Welch leerer Wahn des Menschen, welch sinnlose Verehrung des Ranges: im Purpur zu glänzen, im Herzen aber befleckt zu sein. Du bist von vornehmer Geburt? Du rühmst dich deiner Ahnen? Alle werden wir doch zu gleichem Schicksal geboren, die Tugend allein unterscheidet uns. Wir Christen sehen unseren Wert in guten Sitten und im Anstand.“ 38

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B. Von der Idee zum Recht

Neben der Gottesebenbildlichkeit wurde die herausgehobene Stellung des Menschen auch mit dem Verweis auf die Unsterblichkeit der menschlichen Seele sowie die Kreatürlichkeit, also die Tatsache, dass der Mensch von Gott erschaffen wurde,45 begründet.46 Ebenfalls auf die Vernunftbegabung des Menschen fußt Thomas von Aquin (1225–1274) seine Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dabei leitet sich nach seinem Verständnis die Vernunftbegabung des Menschen selbst von Gott ab.47 Thomas unterstreicht insbesondere mithilfe seines Personenbegriffs die Vernunftbegabung des Menschen und macht diese zum Ausgangspunkt für sein Verständnis von Würde. Vor allem unter dem Einfluss von Boethius stehend, versteht er unter Person „jedes Einzelwesen vernunftbegabter Natur“48. Aufgrund seiner Geistnatur ist der Mensch nach dem Bild Gottes gestaltet und daher fähig, die Geistnatur Gottes in höchster Weise nachzuahmen.49 „Die höchste Nachahmung Gottes besteht aber für die Geistnatur in der Nachahmung von Gottes Selbsterkenntnis und Selbstliebe.“50 Alle Menschen hätten dabei die „natürliche Eignung zur Gotteserkenntnis und zur Gottesliebe“51. Diese Eignung bestehe in der Geistnatur selbst, die allen Menschen gemeinsam sei. Der Geistnatur kommt nach Thomas eine besondere Würde zu, die er jeder Person zugesteht.52 Zugleich enthält sie jedoch auch die normative Verpflichtung des Menschen, sich dementsprechend tugendhaft zu verhalten.53 Sündiges Verhalten kann hingegen dazu führen, dass der Mensch von der Vernunftordnung und damit von der Würde abfällt.54 Hierin kommt zum Ausdruck, dass es sich bei der Freiheit des Menschen um einen wesentlichen Aspekt menschlicher Vernunft handelt.55 Denn aufgrund seiner Vernunft kommt dem Menschen die Fähigkeit zu, sich frei zu entscheiden. Vernunft und freier Wille konstituieren daher nach Thomas’ Verständnis die Gottesebenbildlichkeit der Geistseele, mithin 45

Genesis I,I. Vgl. die nähere Darstellung bei von der Pfordten, Menschenwürde, S. 21 ff. 47 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Frage 91, Art. 2; Frage 93, Art. 4. 48 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Frage 29, Art. 3. 49 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Frage 93, Art. 4. 50 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Frage 93, Art. 4. 51 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Frage 93, Art. 3. 52 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Frage 29, Art. 3: „Und weil es eine hohe Würde bedeutet, in vernunftbegabter Natur für sich zu bestehen, so wird jedes Einzelwesen vernunftbegabter Natur Person genannt. Die Würde der göttlichen Natur aber überragt jede Würde und dem entsprechend gebührt Gott im höchsten Grade der Name Person.“ 53 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, Frage 145, Art. 1: „Würde wird einem Menschen aber hauptsächlich auf Grund der Tugend zugesprochen, weil sie ‚die Ausrichtung des Vollkommenen auf das Beste‘ ist (Themistius zu Aristoteles).“ 54 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II, Frage 64, Art. 2: „Indem er sündigt, verlässt der Mensch die Ordnung der Vernunft und fällt somit ab von der Würde des Menschen, sofern der Mensch von Natur frei und seiner selbst wegen da ist, und stürzt irgendwie ab in tierische Abhängigkeit […].“ 55 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 23; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 33, 36. 46

I. Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde

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die Würde des Menschen.56 Die menschliche Seele und die Würde des Menschen sind in letzter Instanz allerdings wieder in Gott als dem Schöpfer begründet.57 4. Die Renaissance und der Humanismus – Pico della Mirandola Im Zeitalter der Renaissance beruht zwar die Vorstellung von der Würde des Menschen immer noch auf der Gottesebenbildlichkeit des Menschen.58 Zugleich rückt aber vermehrt der Mensch in den Mittelpunkt. So verweist etwa Giannozzo Manetti (1396–1459) in seinem Werk „De dignitate et excellentia hominis“ („Über die Würde und Erhabenheit des Menschen“) auf die von Gott geschaffene Seele, die neben Vernunft und Unsterblichkeit auch Verstand, Gedächtnis und Willenskraft besäße.59 Die Bedeutung Pico della Mirandolas (1463–1494) für die Herausbildung des modernen Menschenwürdebegriffs ist in der Literatur umstritten. Zum Teil wird gar angenommen, die Menschenwürde sei in der Renaissance bzw. von Pico „erfunden“ worden,60 was von anderer Seite wiederum bestritten wird.61 Für die Bedeutung ­Picos für den Menschenwürdebegriff wird auf dessen Rede „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“) von 1486 verwiesen. Dem wird jedoch entgegengehalten, dass in der gesamten Rede der Begriff Würde („dignitas humana“ bzw. „dignitas hominis“) weder im Titel noch im Inhalt der Rede vorkommt.62 So stamme der Titel der Rede nicht von Pico selbst, sondern dem ursprünglichen Titel 56

Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 33. Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 24; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 33. 58 Francesco Petrarca, Heilmittel gegen Glück und Unglück, S. 191 ff.: „[…] da ist jenes Bildgleichnis Gottes, des Schöpfers, im Innern der menschlichen Seele […]. Und, was hoch überlegen nicht nur jeglicher Menschen-, sondern auch Engelswürde ist: die Menschheit selber, der Gottheit so verbunden, dass er, der da Gott war, zum Menschen wurde und, indem er, derselbe an Zahl Eine, zwei Naturen vollkommen in sich vereinigte, eben damit anhub, Gott und Mensch zu sein, um menschgeworden, den Mensch zum Gott zu machen.“; Giannozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, Drittes Buch, S. 67 ff.: „Da brachte er ein Ebenbild seiner selbst hervor, das Sinn und Verstand besaß, das heißt: Er schuf es nach seinem eigenen Bilde, welches das Höchstmaß der Vollendung darstellte.“ 59 Giannozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, Zweites Buch, S. 47: „Es machte […] Gott den Menschen nach seinem Bilde und sich ähnlich; er schuf ihm nämlich eine Seele, durch die er, da sie Vernunft und Unsterblichkeit, Verstand, Gedächtnis und Willenskraft besaß, den anderen Lebewesen überlegen war und die Herrschaft über sie ausübte […].“ 60 So Gröschner / Kirste / Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance. 61 Siehe von der Pfordten, Menschenwürde, S. 25, 29; Gisbertz, Menschenwürde in der anglo­ amerikanischen Rechtsphilosophie, S. 35, 39. 62 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 29, spricht davon, dass Pico den Begriff „wohl umgekehrt gerade vermieden“ habe; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 35. 57

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B. Von der Idee zum Recht

„Oratio“ sei vielmehr im Jahr 1504 durch den Herausgeber Hyronimus Emser – und damit bereits nach dem Tod Picos – hinzugefügt worden.63 Pico zufolge hat Gott dem Menschen die Gabe mitgegeben, in Freiheit seinen eigenen Lebensweg – als schöpferischer Bildhauer seiner selbst, als „plastes et fictor“ – selbst zu bestimmen.64 Dass der Mensch über einen freien Willen verfügt, unterscheidet den Menschen dabei von allen anderen Geschöpfen und verleiht ihm die besondere Stellung in der Ordnung des Universums.65 In der Literatur wird teilweise vertreten, Pico lege dabei einen „doppelten Würdebegriff“66 zugrunde: So komme zum einen der Gattung Mensch aufgrund der von Gott gegebenen Freiheit Würde zu. Über diese Würde verfügten alle Menschen in gleicher Weise – sie sei universal und unveräußerlich. Zum anderen könne sich die Würde des einzelnen Menschen bis zur Unkenntlichkeit verlieren, indem sich der Mensch dadurch als unwürdig erweise, dass er sich gegen ein Leben der Wahrheitssuche entscheide und stattdessen als niederes Wesen dahinvegetiere.67 Nach Pico sei daher – unabhängig von der Würde der Gattung Mensch – wie bereits bei der römischen dignitas die Würde des einzelnen Menschen davon abhängig, ob dieser seine Würde auch verwirkliche, also sich diese Würde durch eigene Leistung verdiene.68 Individualität und Freiheit seien also bei Pico als Bedingungen dafür angesehen worden, in Würde leben zu können.69

63 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 26; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 35. 64 Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, S. 7 ff.: „Also nahm er den Menschen hin als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an: ‚Keinen betimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.‘“ 65 Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, S. 5: „Schließlich glaubte ich erkannt zu haben, warum der Mensch das glücklichste und demgemäß das Lebewesen ist, das jegliche Bewunderung verdient, und worin schließlich jene Stellung besteht, die er in der Ordnung des Universums erhalten hat, um die ihn nicht allein die Tiere, sondern auch die Gestirne und auch die überweltlichen Geister beneiden.“ 66 Lembcke, in: Gröschner / Kirste / Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde, S. 159 (174 ff.). 67 Lembcke, in: Gröschner / Kirste / Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde, S. 159 (176). 68 Vgl. Lembcke, in: Gröschner / Kirste / Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde, S. 159 (176 f.); Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (44). 69 Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (44).

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Dieser Ansicht wird von von der Pfordten entgegengehalten, dass Pico über die Substantialität, Unsterblichkeit und Gottesebenbildlichkeit der menschlichen Seele, mit der die Menschenwürde in der christlichen Tradition noch verbunden gewesen sei, schweige.70 Vielmehr spreche er von „animus“ statt von „anima“, also von „Wille, Lebenskraft“ denn von „Seele“.71 Mithin lege Pico seiner Konzeption auch nicht die im Kern unveränderliche Eigenschaft einer menschlichen Würde zugrunde, weshalb diese wohl auch bewusst unerwähnt geblieben sei.72 Dennoch habe er einen wesentlichen Aspekt, der für das Begriffsverständnis der Menschenwürde von Bedeutung ist, betont. Indem nämlich Pico die Selbstvervollkommnung des Menschen propagiert habe, habe er das herausgestellt, was man später als „Selbstbestimmung“ oder „Autonomie“ bezeichnet habe.73 Mit der Radikalität seines Freiheitsbegriffs habe er die menschliche Subjektivität in bis dahin nicht gekanntem Maße hervorgehoben.74 5. Frühe Neuzeit und Aufklärung In der frühen Neuzeit wird zur Begründung der Würde des Menschen auf die Gottesebenbildlichkeit zunehmend verzichtet. Aufgrund neuer Erkenntnisse wie der Vorstellung von der Unendlichkeit des Universums kommt etwa bei Blaise Pascal (1623–1662) die Überzeugung zum Ausdruck, wonach die Freiheit des Menschen nicht eine Gabe Gottes ist, sondern vielmehr etwas, das im Menschen selbst liegt. Dieses Besondere, das „die Größe des Menschen“75 ausmacht, das dem Menschen seine Würde verleiht, ist nach Pascal das Denken.76 Der Mensch verfügt somit über Wissen und Vernunft, die ihn von der Ahnungslosigkeit der Welt abheben und ihm Würde verleihen.77 Auch nach Pascal ergibt sich hieraus für den Menschen zugleich auch eine Verpflichtung zu moralischem Handeln.78 70

Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 27 f. Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 28. 72 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 28. 73 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 28. 74 Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 36. 75 Blaise Pascal, Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen, S. 406. 76 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, S. 406, 140 f.: „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen; ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, dass er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts. Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.“ 77 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, S. 84 f.: „Mit einem Wort: Der Mensch erkennt, dass er elend ist. Er ist also elend, weil er es ist, aber er ist sehr groß, weil er es erkennt.“; vgl. auch Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (45). 78 Vgl. Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (45). 71

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Der Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf (1632–1694) geht zu Beginn der Aufklärung davon aus, dass die Würde des Menschen auf dessen Vernunft und freiem Willen beruht, denn dem Menschen ist die Möglichkeit gegeben, die freie Wahl zwischen mehreren Optionen zu treffen.79 Darüber hinaus geht Pufendorf von einer allen Menschen von Natur aus in gleicher Weise gegebenen Würde aus.80 Damit wird nun aus der dem Menschen als Wesenseigenschaft zukommenden Würde die Gleichheit der Menschen abgeleitet. Wenngleich auch schon Cicero davon ausgegangen war, dass die Vernunft den Menschen dem Mitmenschen nahe bringt, leitet Pufendorf insbesondere aus der Wesenswürde das Prinzip der Gegenseitigkeit ab, wonach „jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in gleicher Weise Mensch ist, ansieht und behandelt.“81 Dies bedeutet, dass „alle Menschen […] in gleicher Weise die Verpflichtung zur Pflege des Lebens in Gesellschaft mit anderen Menschen“82 bindet. Pufendorf konstatiert: „Gerade der Grundsatz der Gleichberechtigung zeigt auch, wie sich jemand verhalten muss, dessen Aufgabe es ist, Verteilungsgerechtigkeit zu üben. Er muss nämlich alle gleich behandeln und darf niemanden ohne besonderes Verdienst vor einem anderen bevorzugen. Wo das nicht geschieht, erleidet der, der hintangesetzt wird, Missachtung und Unrecht, und wird die ihm von Natur aus zustehende Würdigkeit [„dignatio“] genommen. Daraus folgt, dass eine allen zustehende Sache rechtmäßigerweise nach gleichen Teilen unter Gleichen zu verteilen ist.“83 Tiedemann zufolge wird bei Pufendorf durch die socialitas als entscheidendes Element in der Natur des Menschen der Menschenwürdebegriff zugleich normativ aufgeladen, indem sich nun aus der Würde des Menschen eine Pflicht zur Gemein 79

Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Kap. 7, § 5 (S. 80): „Und so hat der Mensch eine außerordentliche Würde, weil er eine Seele besitzt, die unsterblich ist und erleuchtet durch das Licht seines Verstandes und die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und unter verschiedenen Möglichkeiten die richtige zu wählen […].“ 80 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Kap. 7, § 1 (S.  78): „Der Mensch ist nicht nur ein auf Selbsterhaltung bedachtes Lebewesen. Ihm ist auch ein feines Gefühl der Selbstachtung eingegeben, dessen Verletzung ihn nicht weniger tief trifft als ein Schaden an Körper oder Vermögen. In dem Wort Mensch selbst scheint sogar eine gewisse Würde zum Ausdruck zu kommen, so dass das äußerste und wirksamste Argument zur Zurückweisung einer dreisten Verhöhnung der Hinweis ist: Immerhin bin ich kein Hund, sondern ein Mensch gleich dir. Also steht allen die menschliche Natur in gleicher Weise zu, und niemand möchte gern jemandem zugesellt werden oder kann jemandem zugesellt werden, der ihn nicht zumindest ebenfalls als Menschen betrachtet, der an der gleichen Natur teilhat.“ 81 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Kap. 7, § 1 (S. 78). 82 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Kap. 7, § 2 (S. 78). 83 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Kap. 7, § 4.

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schaftlichkeit ergeben soll.84 Von der Pfordten betont, dass es in dem obigen Zitat um die soziale Stellung des Menschen im Verhältnis zu seinen Mitmenschen gehe, also um eine äußere Eigenschaft, worauf möglicherweise auch die Wortwahl „dignatio“ (Würdigkeit) statt „dignitas“ zurückzuführen sei.85 Durch den Verweis auf die Natur des Menschen und indem sie mit dem inneren Gefühl der Selbstachtung verbunden wird, werde die Würde als allgemein, gleich und unveränderlich dargestellt.86 Sie habe nun auch deutlich normative Konsequenzen für andere, da der Staat aufgefordert werde, im Rahmen einer gerechten Verteilung grundsätzlich alle Menschen gleich zu behandeln.87 Die Entwicklung des Menschenwürdebegriffs ist vor dem Hintergrund des sich mit der Aufklärung vollziehenden gravierenden Wandels in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu sehen: Insbesondere mit der Aufklärung kam es zur Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung, in der sich eine bürgerliche Schicht von der ständischen Privilegienordnung abzulösen begann. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) als geistiger Vordenker der Französischen Revolution mit ihren Werten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit prägte – auch wenn er die Menschenwürde selbst nicht nannte – die Vorstellung vom citoyen als einem Staatsbürger, der von seinem freien Willen und Verstand geleitet nicht nur auf sich bezogen ist, sondern zugleich an einem Gemeinwesen teilnimmt, in dem die Menschen politisch frei und rechtlich gleich sind. In einem zunehmend säkular geprägten Klima werden dem Menschen übergeordnete Mächte mehr und mehr abgelehnt und Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit als der Verwirklichung der Menschenwürde und nicht Gott dienend angesehen. Mithilfe dieser Vorstellungen war zugleich der Boden für Kants Annahmen von der Würde des Menschen bereitet. 6. Der Begriff der Würde bei Immanuel Kant Während Pufendorf noch davon ausging, dass der Mensch seine ihm von Natur aus zukommende Würde letztlich Gott zu verdanken hat,88 verzichtet Immanuel Kant (1724–1804) gänzlich auf eine metaphysische Begründung und leitet die Würde des Menschen aus einem rein weltlichen Kontext her. Nach Kant handelt es sich bei der menschlichen Würde um „einen absoluten inneren Wert“, der dem Menschen aufgrund seiner Fähigkeit zur vernünftigen Selbstgesetzgebung zukommt. Diese Vernunftbegabung ist das entscheidende Moment, das den Menschen 84

Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 125 f. Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 32. 86 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 31 f. 87 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 32. 88 Siehe auch Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 125, der darauf verweist, dass sich die Würde des Menschen nicht aus einem göttlichen Verleihungsakt ableitet. Jedoch könne der Mensch insofern als Ebenbild Gottes bezeichnet werden, als er Gott tatsächlich darin ähnlich sehe, dass die unantastbare Würde des Menschen in seiner Fähigkeit liege, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und zu wählen. 85

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in der Vorstellung Kants vom Tier unterscheidet. Die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstgesetzgebung wird von Kant in dem Begriff der Autonomie zum Ausdruck gebracht.89 Autonomie ist „die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst […] ein Gesetz ist“90 – einem Gesetz, das nach dem Zurückstellen sinnlicher Neigungen jederzeit zugleich Grundlage eines allgemeinen Gesetzes sein kann. Diese Autonomie ist wiederum „der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“91 Die Autonomie trägt zugleich eine Verantwortung des Menschen in sich. Diese Annahme spiegelt sich auch in Kants Kategorischem Imperativ wider: „Handle so, dass die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne.“92 Gerade aus der Würde des Menschen leitet Kant einen jedem gegenüber seinen Mitmenschen zukommenden unantastbaren Achtungsanspruch ab: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“93

Dieser gegenseitige Akt der Achtung besteht in der Anerkennung der Würde: „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte. – Die Beurteilung eines Dinges als eines solchen, das keinen Wert hat, ist die Verachtung.“94

Aufgrund seiner Persönlichkeit kommt danach dem Einzelnen ein Achtungs­ anspruch zu. Kant macht damit zudem deutlich, dass all das eine Würde besitzt, das keinen Preis hat, was also nicht durch ein Äquivalent ersetzt werden kann und viel 89

Dieses Verständnis prägt auch heute noch den Begriff der Autonomie, vgl. Kirste, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S.  65 (74). 90 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 440: Diesem Gesetz ist der Mensch wiederum auch selbst unterworfen: „[…] dieser uns mögliche Wille in der Idee ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein.“ 91 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 4, S. 436. Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (46), verweisen darauf, dass für Kant „wie schon für Cicero, Pico della Mirandola und Pascal“ feststehe, „dass Würde daran geknüpft ist, Kontrolle und Macht zu haben. Als Vernunftwesen haben wir eine herausragende Macht, wir können uns selbst die Gesetze des Handelns geben, wir sind autonom. Deshalb ist ‚Autonomie […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur‘.“ 92 Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 389. 93 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 462. 94 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 462.

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mehr Zweck an sich selbst ist, da es als sittliches Vernunftwesen über einen Eigenwert verfügt.95 Gerade aus der Subjektstellung leitet sich der Achtungsanspruch ab: „Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art zu messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“96

Dieser Achtungsanspruch kommt dabei jedem Menschen schon aufgrund seines Menschseins zu und bestimmt sich zunächst einmal nicht nach seinem konkreten Verhalten oder seinen persönlichen Eigenschaften und Möglichkeiten.97 Dies liegt darin begründet, dass es sich bei Kants Menschenwürdebegriff um einen transzendentalen, also nicht empirischen, auf Erfahrung fußenden Begriff handelt, sondern vielmehr um einen Begriff a priori.98 Indem Kant feststellt „[d]ie Menschheit selbst ist eine Würde“99, unterstreicht er den apriorischen Charakter seines Menschenwürdebegriffs. Es handelt sich somit um einen Würdebegriff, der grundsätzlich von der abstrakten Möglichkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung ausgeht – losgelöst von den jeweiligen konkreten Möglichkeiten des einzelnen Menschen und den Umständen, in denen sich dieser befindet. Hieraus ist in der Literatur abgeleitet worden, dass nach Kants Lehre auch dem Kind, einem Menschen mit geistiger Behinderung oder etwa auch dem Mörder menschliche Würde zukommen müsse.100 Die Annahmen Kants aufgreifend und die abstrakt gedachte Möglichkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung zugrunde legend, verweist Dürig darauf, dass „eine Freiheit ‚des‘ Menschen zur Selbst- und Umweltgestaltung, die für alle gleich 95

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 434: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. […] das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde.“; Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (45) verweisen darauf, dass diese Unterscheidung zwischen Preis und Würde auf Senecas Gegenüberstellung von pretium und dignitas zurückgeht. Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik: Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 230, kritisiert Kants Sicht von der Würde als absolutem Wert. Absolute Werte könne es nicht geben: „Jeder Wert ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer andern, also ein Vergleichsbegriff, mithin relativ, und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffes Wert aus.“ 96 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 434 f. 97 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 463: „Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht.“ 98 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). 99 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 462. 100 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 34 f.

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B. Von der Idee zum Recht

gedacht ist, denknotwendig nur eine abstrakte Freiheit, d. h. eine Freiheit als solche sein kann, die ‚dem Menschen an sich‘ eigen ist. […] Der allgemein menschliche Eigenwert der Würde ist auch als vorhanden zu denken, wenn ein konkreter Mensch (etwa der Geisteskranke) die Fähigkeit zur freien Selbst- und Lebensgestaltung von vornherein nicht hat.“101 Auch die Würde etwa eines Ungeborenen, eines Komapatienten oder eines Menschen mit geistiger Behinderung kann nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden, diese könne von der die menschliche Würde begründenden Freiheit keinen Gebrauch machen: „Da der allgemein menschliche Eigenwert der Würde unabhängig von der Realisierung beim konkret existierenden Menschen ist, kann ein Angriff die Menschenwürde als solche auch verletzen, wenn der konkrete Mensch noch nicht geboren oder bereits tot ist.“102 An den vorgenannten Versuchen, Kants Aussagen zur Menschenwürde für rechtliche Bewertungen fruchtbar zu machen, zeigt sich jedoch ein Problem bei der richtigen Einordnung der Texte Kants. Dies wird insbesondere deutlich an der Bedeutung der sogenannten Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs Kants im Zusammenhang mit der Menschenwürde. Die Formel lautet: „Handle so, dass Du die Menschheit, sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“103 Auf diese zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs wird in der Literatur im Zusammenhang mit der Menschenwürde bei Kant und als Verfassungsbegriff immer wieder verwiesen. Zugleich erinnert sie stark an die auf Dürig zurückgehende Objektformel des BVerfG.104 Jedoch ist bemerkenswert, dass sich die Menschenwürde in Kants Rechtslehre selber nicht findet, sondern lediglich Eingang in seine Moralphilosophie gefunden hat.105 Während sich aber letztere auf das Innere des Menschen bezieht und sich mit der inneren Sittlichkeit des Menschen befasst, hebt die Rechtslehre rein auf die äußere Freiheit ab.106 In der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs geht es dabei nicht um die für die Menschenwürde nach Kant vorausgesetzte Idee der Selbstgesetzgebung, sondern lediglich um die Selbstzweckhaftigkeit, weshalb diese Formel keine Verbindung zur Menschenwürde aufweist.107 101

Dürig, AöR 81 (1956), 117 (125). Dürig, AöR 81 (1956), 117 (125). Auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 122 f. und Mahlmann, EuR 2011, 117 (125 f.) deuten Kants Lehre dahingehend, dass allen Individuen in gleicher Weise ein Anspruch auf die Achtung ihrer Würde zukommt, egal über welche konkreten Eigenschaften sie verfügen oder in welchen Lebensbedingungen sie sich befinden. 103 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 429. 104 Vgl. Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 52. 105 Vgl. hierzu die Ausführungen bei von der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, S. 10; von der Pfordten, Menschenwürde, S. 33 ff.; Gisbertz, Menschenwürde in der anglo­ amerikanischen Rechtsphilosophie, S. 48 ff. 106 Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 53. 107 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 33 f. Von der Pfordten hebt an dieser Stelle hervor, dass erst in der dritten Formel des Kategorischen Imperativs, die sich auf die Selbstgesetzgebung des Menschen in einem Reich der Zwecke bezieht, eine Verbindung zur Menschenwürde deutlich wird. 102

I. Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde

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Daher erscheint eine bloße Übernahme der Lehren aus der Kant’schen Moralphilosophie in die Begründung des Rechtsbegriffs der Menschenwürde kritisch. Auch wenn Kants Aussagen für eine rechtspraktikable Formulierung dessen, was Menschenwürde ist, attraktiv sind, sollte beachtet werden, dass die Menschenwürde selbst nicht Teil seiner Rechtslehre war. Nach Kant stellt sich die dem Menschen aufgrund seiner Begabung zur sittlichen Vernunft zukommende Würde mithin als seinsgegebener individueller, universeller, unantastbarer und absoluter Wert dar, der als Begriff a priori gedacht wird. Hieraus ergibt sich die normative Verpflichtung, gemäß dem Sittengesetz zu handeln und zugleich die Möglichkeit, Würde durch besonders pflichtentreues Verhalten zu zeigen.108 7. Die Entwicklung des Würdebegriffs in der Moderne Die Entwicklung des Würdebegriffs ist in der Moderne von einer zunehmenden Diversifizierung geprägt. Dies liegt nicht zuletzt auch in den sich ändernden Lebensverhältnissen – insbesondere verbunden mit der Industrialisierung – und der Herausbildung neuer politischer Strömungen und Ideologien sowie den sich ändernden sozialen Verhältnisse begründet. In seinem kurzen Gedicht „Würde des Menschen“ macht Friedrich Schiller (1759–1805) darüber hinaus die Gewährung einer Grundversorgung zur Voraus 108 In dieser Hinsicht steht für Kant ebenfalls wie schon für Cicero, Pico della Mirandola und Pascal fest, dass mit der Vernunftbegabung des Menschen zugleich die Verpflichtung zum moralischen Handeln einhergeht. Der kategorische Imperativ gebietet es dem Würdenträger selbst, sich dementsprechend zu verhalten. Derjenige, der sich der Vernunft entsprechend moralisch verhält, zeigt sich besonders würdig, vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 439: „Man kann aus dem kurz Vorhergehenden sich es jetzt leicht erklären, wie es zugehe: dass, ob wir gleich unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt.“ Kant bezeichnet als besondere Laster des Menschen und als mit der Würde des Menschen unvereinbar u. a. den Hochmut, üble Nachrede, Verhöhnung, Geiz, Lüge, Kriecherei. So bezeichnet Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 429, etwa die Lüge als „die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge […].“ – „Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde.“ Auch Kant bringt noch die Würde mit dem aufrechten Gang in Verbindung, wenngleich er dies nicht zur Unterstreichung der Wertbesonderheit des Menschen anführt, sondern vielmehr um den neuen Bürgersinn im Zeitalter der Aufklärung gegenüber der Feudalherrschaft zu unterstreichen. So soll sich der Mensch in Bewusstsein von der Achtung, die er den anderen Menschen aufgrund seiner Vernunft abverlangen kann, nach Kant, Die Metapysik der Sitten, S. 74, „um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, sondern immer mit dem Bewusstsein der Erhabenheit seiner mora­ lischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist); und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“

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B. Von der Idee zum Recht

setzung von Würde und unterstreicht damit, dass es zumindest der Freiheit von existenzieller Not bedarf: „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“109 Der deutsche Naturforscher und Reiseschriftsteller Georg Forster (1754–1794) sieht ebenfalls eine ausreichende materielle Versorgung als Voraussetzung dafür an, der allen Menschen zukommenden Würde entsprechend leben zu können. Lebe der Mensch in Verhältnissen von Elend, Armut, „schwerer Arbeit und geringer, wo nicht gar ungesunder Kost“, sei er „um den Zweck seines Hierseins gänzlich betrogen.“110 Der Mensch könne erst anfangen „sich seiner Menschenwürde bewusst zu sein“ und „dem bessern Teil seines Wesens, der Vernunft, die ihn über die ganze sichtbare Schöpfung hebt, ihre zweckmäßige Entwickelung“ geben, wenn es in allen seinen Verhältnissen wohl ergeht.111 Als einem der wichtigsten Vertreter des Deutschen Idealismus sieht Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) die Würde einem jeden Menschen nicht schon aufgrund seines freien Willens gegeben. Vielmehr verlangt er dem einzelnen Menschen ab, sich seiner Willensfreiheit in vernunftmäßiger Weise zu bedienen.112 Erst durch das Erkennen des Universums, des Göttlichen sowie des Sittlichen erwirbt der Mensch seine Würde.113 Menschenwürde ist daher etwas, auf das der Mensch kraft seines Geistes hinstreben kann und soll.114 Auch Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) thematisieren vor dem Hintergrund ihrer Kritik an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und der Lage der Arbeiter die menschliche Würde. So bringen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1847/48 zum Ausdruck, dass es gerade die Produk­tionsverhältnisse sind, die den Menschen ausbeuten und um seine Freiheit 109

Schiller, Werke, Zweiter Band, Teil II A, Gedichte, S. 308. Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften, S. 141. 111 Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften, S. 141. In einem „unwürdigen Zustand“ sei ein Mensch nach Forster, a. a. O., der „die göttlichen Vorrechte der Vernunft und Sittlichkeit nicht genießen darf und stattdessen, unter den Lasten der Gesellschaft, unglücklicher als die Tiere seine ganze Wirksamkeit von seinen Trieben entlehnt.“ Vgl. zu den Ausführungen bei Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (52 ff.), hinsichtlich der Einbeziehung der Frage der existenziellen Not zur Bestimmung menschlicher Würde bei Dostojewskij, Nietzsche, Camus. 112 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 301: „[…] denn Würde hat der Mensch nicht dadurch, was er als unmittelbarer Wille ist, sondern nur indem er von einem Anundfürsichseienden, einem Substanziellen weiß und diesem seinen natürlichen Willen unterwirft und gemäß macht.“ 113 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 301: „Erst durch das Aufheben der natürlichen Unbändigkeit und durch das Wissen, dass ein Allgemeines, Anundfürsichseiendes das Wahre sei, erhält er eine Würde, und dann ist erst das Leben selbst auch etwas wert.“ 114 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 13 f.: „Der Mut der Wahrheit, der Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung der Philosophie. Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten; von der Größe und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken.“ 110

I. Eine kleine Ideengeschichte der Menschenwürde

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und mithin um seine Würde bringen.115 Dass der Mensch hiernach zum bloßen Mittel, als Objekt der Ausbeutung zu werden scheint, lässt erkennen, dass Marx und Engels die Menschenwürde ebenso wie Kant mit der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen verbinden. Diese Gedanken von Marx und Engels nimmt auch später Ernst Bloch (1885–1977) auf. Nach dessen Ansicht könne es ohne ein Ende der Not keine menschliche Würde geben.116 Die Annahmen von Marx wurden auch von der Sozialdemokratie sowie der Arbeiterbewegung aufgegriffen und führten letztlich zu einer Verbindung der Menschenwürde mit Fragen sozialer Gerechtigkeit.117 Dies spiegelte sich auch in Art. 151 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) wider: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern.“118

115 Marx / Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 14: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpfen, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. […] Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“ 116 Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 237. 117 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 128; Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (55), zufolge wurde dieser Gedanke zu einem „Kernpunkt der sozialen Frage erhoben“. 118 Dieser Grundsatz wurde auch in Art. 19 der Verfassung der DDR vom 07.10.1949 fast wortgleich aufgegriffen: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit entsprechen; sie muss allen ein menschenwürdiges Dasein sichern.“ (http://www. documentarchiv.de/ddr/verfddr1949.html, zul. einges. am 01.10.2018). In der späteren Verfassung der DDR vom 06.04.1968 in der Fassung vom 07.10.1974 wird die Menschenwürde in Art. 19 Abs. 2 und 3 noch deutlicher genannt: „(2) Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger. (3) Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln und sein Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit.“ (http://www.documentarchiv.de/ddr/ verfddr.html, zul. einges. am 01.10.2018). Festzustellen ist jedoch, dass diese Menschenwürdegarantie in der staatlichen Praxis vielfach weder geachtet noch geschützt wurde. So war die gerichtliche Durchsetzbarkeit dieser Garantie gegenüber staatlichen Maßnahmen in Ermangelung einer Verwaltungs- bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit und eine unabhängigen Justiz sowie in Ermangelung einer Bindung von Verwaltung und Gerichten an das Gesetz (Vorrang des Gesetzes) nicht gewährleistet. Siehe hierzu eingehend zur Frage „Warum die DDR kein Rechtsstaat war“ Beaucamp, JA 2015, 725–729.

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B. Von der Idee zum Recht

8. Zwischenergebnis Bereits in der Antike wird die herausgehobene Stellung des Menschen betont, auf die dann später die Würde des Menschen gegründet wird, wenngleich diese zunächst mit der Geistseele des Menschen begründet wird. Die Stoa knüpft bereits an die Vernunftbegabung des Menschen. Cicero stützt die von ihm angenommene herausgehobene Stellung des Menschen auf dessen Teilhabe an der Vernunft und des Vorzugs vor den Tieren.119 Sein Verständnis vom Begriff der dignitas ist geprägt von der Annahme, dass es sich hierbei um etwas handelt, das nicht mehr ausschließlich, wenngleich immer noch hauptsächlich als Verdienst des einzelnen Menschen zu sehen ist. Die rein statusgebundene Bedeutung des Begriffs dignitas wird aufgebrochen und zugunsten eines Begriffsverständnisses geöffnet, wonach es sich bei dignitas um eine im Kern unveränderliche Eigenschaft handelt, die jedem Menschen aufgrund seiner Vernunft zukommt. Hiermit ist jedoch noch kein normativer Achtungsanspruch verbunden, sondern vielmehr nur eine Selbstverpflichtung, die auf das eigene Handeln abzielt. Während dann das Menschenbild nach der christlichen Lehre von der Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen geprägt ist, löst sich mit der Renaissance die Würde zunehmend wieder von ihrem Gottesbezug. Die besondere Stellung des Menschen wird nun nicht mehr mit der besonderen Verbindung zu Gott, sondern mit der Vernunftbegabung des Menschen begründet, der diesem die Möglichkeit gibt, aufgrund seines freien Willens selbst seinen Lebensweg zu bestimmen. Pufendorf stellt die Natur des Menschen als allgemein, gleich und unveränderlich heraus. Die sich aus der Menschenwürde ergebende, im Wesentlichen gleiche soziale Stellung hat damit auch normative Konsequenzen für das Handeln des Staates.120 Kant versteht den Menschen ebenfalls als ein vernunftbegabtes Wesen. Hieraus leitet er die Autonomie des Menschen ab, also seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung. Würde kommt dem Menschen schon aufgrund seines Menschseins zu. Kant betont damit die Subjektstellung jedes Einzelnen sowie des sich daraus ergebenden Achtungsanspruch gegenüber seinen Mitmenschen. In der Folge wird zunehmend dann auch die Frage diskutiert, welche – vor allem auch sozialen – Bedingungen herrschen müssen und wie der einzelne Mensch zu behandeln ist, damit ihm die Möglichkeit gegeben wird, seiner Würde gemäß leben zu können. Die Würde des Menschen hat somit eine Entwicklung von einem in der Antike zunächst noch relativ verstandenen, vor allem auf dem sozialen Status gründenden Begriff über ein von Gott abgeleitetes Würdeverständnis im Mittelalter hin zu einem zunehmend im Individuum begründeten Verständnis ab der Aufklärung vollzogen.

119

Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 20. Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 32.

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II. Rechtsbegriff der Menschenwürde und sein universeller Gehalt

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In der Literatur ist zum Teil die Ansicht vertreten worden, die geistigen Voraussetzungen des Menschenwürdebegriffs seien vorwiegend oder gar ausschließlich im christlichen Menschenbild zu sehen, die dann einen Säkularisierungsprozess durchlaufen hätten.121 Dem kann vor dem Hintergrund der hier unternommenen Untersuchung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des Menschenwürdebegriffs jedoch nicht gefolgt werden.122

II. Die Herausbildung des Rechtsbegriffs der Menschenwürde und sein universeller Gehalt Am 25.06.1993 bekannte sich die Staatengemeinschaft auf der World Conference on Human Rights in Wien in der Abschlusserklärung (Vienna Declaration and Programme of Action) dazu, dass die Förderung und der Schutz der Menschenrechte das vorrangige Ziel der internationalen Gemeinschaft ist.123 In Abs. 2 der Erwägungsgründe der Erklärung wird die Bedeutung der Menschenwürde in den Blick genommen: „Recognizing and affirming that all human rights derive from the dignity and worth inherent in the human person, and that the human person is the central subject of human rights and fundamental freedoms, and consequently should be the principal beneficiary and should participate actively in the realization of these rights and freedoms […].“124 121

So Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 5, der zugleich betont, dass es neben dem biblisch-theologischen Menschenbild als geistiger Voraussetzung zur Herausbildung der Menschenwürdegarantie noch weiterer Voraussetzungen bedurfte, „die wir im Humanismus, in der Aufklärung, der Revolution und der Gesetzgebung erkennen.“ (Rn. 6) Aus diesem Grunde verbietet sich nach Ansicht Starcks jedoch „die Annahme einer vollständigen Zurückhaltung des GG im Hinblick auf christliche Vorstellungen vom Menschen.“ (Rn. 7) 122 Ebenso Dreier, in: ders., GG, Bd. I, Art. 1 Rn. 5 ff. „Die Menschenwürde in unserem heutigen Sinn ist nicht bloßes Säkularisat christlicher Glaubenssätze, sondern erwächst aus einer Gemengelage antiker, humanistischer und aufklärerischer Traditionen. […] Insofern zeigt nun aber die reale geschichtliche Entwicklung, dass für die erfolgreiche Durchsetzung des Menschenwürde-Gedankens im staatlich-politischen Raum die (jeweils herrschenden) christlichen Lehren keineswegs eine exklusive, kaum eine relevante und oft eine retardierende Rolle gespielt haben.“ (Rn. 10); Schnädelbach, Der Fluch des Christentums, in: Die Zeit, Nr. 20/2000 (http:/ /www.zeit.de/2000/20/200020.christentum_.xml, einges. am 01.12.2018) löste seinerzeit mit seinem Beitrag eine Kontroverse aus: „Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten, ist ein gern geglaubtes Märchen. Die Idee der Humanitas stammt aus der Stoa, und die Idee des aufrechten Ganges des Menschen vor Gott ist ein jüdisches Erbe […].“ 123 Vienna Declaration and Programme of Action Adopted by the World Conference on Human Rights in Vienna on 25 June 1993, http://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/vienna. aspx (zul. einges. am 01.12.2018). 124 Darüber hinaus benennt die Erklärung die Menschenwürde noch an weiteren Stellen, etwa im Zusammenhang mit Biomedizin und Informationstechnologie (Art. 11 Abs. 3), geschlechtsbezogener Gewalt und sexueller Ausbeutung (Art. 18 Abs. 2), der Behandlung indigener Völker (Art. 20). Darüber hinaus ordnet die Erklärung extreme Armut und sozialen Ausschluss als Verletzung der menschlichen Würde ein (Art. 25). Insbesondere Folter wird als Verletzung der Men-

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B. Von der Idee zum Recht

Anhand dieses Auszugs aus der Vienna Declaration der Weltmenschenrechtskonferenz lassen sich verschiedene Fragestellungen im Hinblick auf die Menschen­ würde als Rechtsbegriff formulieren: So ist zum einen fraglich, wie der über Jahrhunderte geprägte ideengeschichtliche Begriff der Würde des Menschen seinen Weg in das Recht sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene gefunden hat. Die Vienna Declaration gibt keine Antwort auf die Frage, was genau unter Würde zu verstehen ist, erinnert jedoch insbesondere hinsichtlich der Formulierung eines der menschlichen Person innewohnenden Wertes und der Subjektstellung des Menschen bezüglich der Menschenrechte an wesentliche Aspekte des bereits diskutierten ideengeschichtlichen Würdebegriffs. Da es sich bei diesem ideengeschichtlichen Begriff um einen vor allem in Westeuropa geprägten Würdebegriff handelt, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob sich auch ein kulturunabhängiger Rechtsbegriff der Menschenwürde herausarbeiten lässt, der universelle Gültigkeit beansprucht.125 In der Vienna Declaration heißt es, dass der Mensch „consequently should be the principal beneficiary and should participate actively in the realization of these rights and freedoms“. Diese Aussage in der Vienna Declaration erinnert ebenfalls sehr an den oben herausgearbeiteten ideengeschichtlichen Würdebegriff und wirft die Frage auf, ob es auch das ist, was den Kern des Rechtsbegriffs der Menschenwürde ausmacht: Die Anerkennung des Menschen als Person, die aufgrund ihrer Autonomie auch im aktuellen Völkerrecht nicht mehr lediglich auf ein Schutzobjekt im Sinne eines paternalistischen Schutzes des Individuums reduziert, sondern vielmehr als aktives Subjekt, als „agent“,126 wahrgenommen wird. Um der Beantwortung der Frage nach dem universellen Gehalt der Menschenwürde näher zu kommen, soll zunächst die Entwicklung der Menschenwürde als Rechtsbegriff sowohl auf nationalstaatlicher wie auch auf regionaler bzw. internationaler Ebene näher betrachtet und auch vor dem ideengeschichtlichen Begriffshintergrund eingeordnet werden. Diese Analyse soll einen Minimalkonsens unter den Staaten und auf internationaler Ebene sichtbar machen. Da in der Vienna Declaration die Rede davon ist, dass „all human rights derive from the dignity and worth inherent in the human person“, stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Menschenwürde im Recht – sowohl auf internationaler wie auch schenwürde gebrandmarkt: „The World Conference on Human Rights emphasizes that one of the most atrocious violations against human dignity is the act of torture, the result of which destroys the dignity and impairs the capability of victims to continue their lives and their activities.“ (Art. 55). Bereits 1986 hat die UN-Generalversammlung in der Resolution „Setting international standards in the field of human rights“ v. 04.12.1986 (A / RES/41/120) zur Beförderung eines konsentierten Menschenrechtsschutzes auf Folgendes hingewiesen: „4. Invites Member States and United Nations bodies to bear in mind the following guidelines in developing international instruments in the field of human rights; such instruments should, inter alia: (b) Be of fundamental character and derive from the inherent dignity and worth of the human person […].“ 125 So zumindest Mahlmann, EuR 2011, 469 (480). 126 Peters, Jenseits der Menschenrechte, S. 176; ähnlich Lohmann, MRM 2/2012, 155 (156).

II. Rechtsbegriff der Menschenwürde und sein universeller Gehalt

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auf nationaler Ebene – beizumessen ist und wie sich das Verhältnis zu den Menschenrechten sowie zu den Begriffen Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gestaltet. Gerade nämlich im Zusammenhang mit der Menschenwürde tauchen diese Begriffe immer wieder auf. Es ist zudem fraglich, ob es sich bei der Menschenwürde um ein universelles Rechtsprinzip handelt, das als Voraussetzung allen Rechts als wesentliches Konstitutionsprinzip zu sehen ist. 1. Die Würde des Menschen in internationalen Verträgen und als Verfassungsbegriff Während der ideengeschichtliche Begriff der Menschenwürde bereits auf eine jahrhundertelange Entwicklung blicken kann, hat sich die Herausbildung des Rechtsbegriffs erst im 20. Jahrhundert vollzogen, wenngleich auch schon früher die Menschenwürde als Prämisse für den Verfassungsstaat und als Grundlage der Demokratie verstanden worden ist.127 In der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 wurde die Menschenwürde nicht erwähnt.128 Auch in die für die Konstitutionalisierung fundamentaler Rechte wichtige Menschenrechtserklärung der Virginia Declaration of Rights von 1776 fand die Menschenwürde keinen Eingang.129 Während der Begriff bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nicht in Verfassungstexten zu finden ist, taucht er erstmals vor dem Zweiten Weltkrieg in Art. 151 WRV von 1919 auf. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Industrialisierung und der sich wandelnden Arbeits- und Lebensbedingungen vor allem in den Städten und dem Aufkommen der Sozialdemokratie sowie der Arbeiterbewegung130 war nun die Rede davon, dass die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen müsse (Art. 151 Abs. 1 S. 1 WRV). Weiter heißt es: „In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“ 127

Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (982). Dupré, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 113 (117), ist aber der Ansicht, dass gerade die von den Ideen der Aufklärung beseelte Erklärung von 1789 den Weg für die Herausbildung der Menschenwürde als Rechtsbegriff bereitete. 129 Moyn, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 95 (96); Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (402). Zwar haben die englische Magna Carta Libertatum von 1215, die englische Bill of Rights von 1689 sowie die HabeasCorpus-Akte von 1679 die Entwicklung der Menschenrechte beeinflusst, sie sind aber selbst wohl nicht als echte Menschenrechte einzuordnen (vgl. m. w. N. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 171). 130 Insbesondere Ferdinand Lassalle (1825–1864), Reden und Schriften, S. 38 f., forderte als Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und Mitbegründer der SPD gegenüber dem Staat, die materielle Not des sogenannten vierten Standes zu beheben: „So sehr der Arbeiter und der Kleinbürger, mit einem Worte die ganze nicht Kapital besitzende Klasse, berechtigt ist, vom Staate zu verlangen, dass er sein ganzes Sinnen und Trachten darauf richte, wie die kummervolle und notbeladene materielle Lage der arbeitenden Klasse zu verbessern, und wie auch ihnen […] zu einem reichlicheren und gesicherten Erwerbe und damit wieder zu der Möglichkeit geistiger Bildung und somit zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein zu verhelfen sei […].“ 128

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(Art.  151 Abs. 1 S. 2 WRV). In der Präambel der irischen Verfassung von 1937 findet die Würde ausdrückliche Erwähnung. So heißt es dort: „[…] seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individiual may be assured, true social order attained […].“131 Neben vereinzelten weiteren Nennungen132 in nationalstaatlichen Verfassungen erfährt die Menschenwürde als Rechtsbegriff wirkliche Popularität jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.133 Insbesondere unter dem Eindruck des massiven Unrechts in der Zeit des Nationalsozialismus’ und den Erfahrungen des Krieges134 sowie der Einsicht, dass es eines Rechtes bedurfte, das den Menschen als absolute Grenze staatlicher Machtausübung anerkennt,135 bekräftigten die Unterzeichnerstaaten der UN Charta am 26.06.1945 in Abs. 2 der Präambel ihren Glauben an die Grundrechte des Menschen sowie an „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“136 und etablierten die Menschenwürde auf der Ebene des Völkerrechts.137 131 Siehe zur verfassungsgeschichtlichen Einordnung der Menschenwürde in der irischen Verfassung von 1937 und der Herausbildung eines „constitutionalism of Christian democracy“ Moyn, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 95–111. 132 Siehe hierzu die Nachweise bei McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (664). 133 Siehe die Auflistung der Fundstellen der Menschenwürde in einzelnen nationalstaatlichen Verfassungstexten und Gesetzestexten sowie in internationalen bzw. regionalen Verträgen und einzelnen Gerichtsentscheidungen bei McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 699–711. 134 Vgl. ausführlich dazu Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 145 ff.; D ­ upré, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 113 (118 f.), sieht die Würde des Menschen als Mittel an, das häufig dazu dient, die Abkehr von einem von „indignity and destruction of humanity“ (S. 119) geprägten Regime zu manifestieren. Das beste Beispiel hierfür sei das deutsche Grundgesetz von 1949. Diese Bestimmung der Menschenwürde, „to introduce change in the law“ (ebd.) hat sich zum Beispiel auch in Staaten wie Portugal und Spanien sowie auf internationaler Ebene mithilfe der International Bill of Rights vollzogen. Auch in Abs. 1 der Präambel der UN Charta wird deutlich, unter welchem Eindruck die UN Charta entstanden ist und welchem Ziel sich die Vertragsstaaten verpflichtet sahen: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen […].“ Auch Hannah Arendt verwies in ihrem Vorwort zur ersten Auflage ihres Werks The Origins of Totalitarism (1951) auf die Notwendigkeit, aufgrund der Unrechtserfahrungen die Menschenwürde auf der Ebene des Rechts zu etablieren: „Antisemitism (and not merely the hartred of Jews), imperialism (not merely conquest), tota­ litarism (not merely dictatorship) – one after the other, one more brutally than the other – have demonstrated that human dignity needs a new guarantee which can only be found in a new political principle, in a new law on earth, whose validity this time must comprehend the whole of humanity while its power must remain strictly limited, rooted in and controlled by newly defined territorial entities.“ (zit. nach Menke, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 332). 135 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 43. 136 United Nations, Charter of the United Nations, 24 October 1945, 1 U. N. T. S. XVI. 137 Erstmals fand die Menschenwürde auf der Ebene des Völkerrechts allerdings in die unverbindliche Erklärung über die Ziele und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation (Declaration concerning the Aims and Purposes of the International Labour Organisation  –

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Mit der UN Charta wurde ein entscheidender Schritt unternommen, um den Hauptbezugspunkten des Völkerrechts, den Staaten, etwas Gewichtiges entgegenzustellen: das Individuum. Nunmehr vollzog sich ein entscheidender Schritt zur Anerkennung der völkerrechtlichen Rechte des Individuums.138 a) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 Insbesondere aber die unter dem Eindruck der von einem internationalen Gremium ausgearbeiteten UN Charta stehende139 und auf diese Bezug nehmende, als Resolution der Generalversammlung verabschiedete AEMR140 trug wesentlich zur weiteren Verbreitung der Menschenwürde in Rechtstexten bei. In Abs. 2 der Prä­ ambel der AEMR wird erwähnt, dass die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barberei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt hätten. Die AEMR nimmt damit Bezug auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Diese Erfahrungen führten zu einem Paradigmenwechsel im Völkerrecht, denn mit der AEMR 1948 beginnt sich die Abkehr von einem stark staatenzentrierten Völkerrecht zu einem mehr und mehr auf das Individuum bezogenen, an universellen Menschenrechten ausgerichteten Völkerrecht zu vollziehen. Wenngleich dies bei ihrer Ausarbeitung und Verkündung noch nicht absehbar war, kann die AEMR mittlerweile als das einflussreichste internationale Menschenrechtsdokument bezeichnet werden, das einen internationalen Menschenrechtsstandard etabliert hat. So basieren die meisten der rechtlich verbindlichen Menschenrechtsdokumente und nicht wenige nationale Verfassungen direkt oder zumindest indirekt auf der AEMR bzw. wurden von dieser beeinflusst.141 Nicht zuDeclaration of Philadelphia) vom 10.05.1944 Eingang. Diese sog. Erklärung von Philadelphia hat mittlerweile als Anlage Eingang in die Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gefunden. In Art. II lit. a wird erklärt: „all human beings, irrespective of race, creed or sex, have the right to pursue both their material well-being and their spiritual development in conditions of freedom and dignity, of economic security and equal opportunity“. 138 Schweizer / Sprecher, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 127 f. 139 Siehe hierzu Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 21. 140 Universal Declaration of Human Rights, G. A. res. 217 A (III), U. N. Doc A/810 at 71 (1948). In Abs. 5 der Präambel der AEMR wird folgendermaßen auf die UN Charta Bezug genommen: „Whereas the peoples of the United Nations have in the Charter reaffirmed their faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person and in the equal rights of men and women and have determined to promote social progress and better standards of life in larger freedom […].“ 141 Vgl. Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 174 f., der in diesem Zusammenhang auf die Studie von Nihil Jayawickrama, The Judicial Application of Human Rights Law – National, Regional and International Jurisprudence, Cambridge University Press 2002, S. 36–38, verweist. Vgl. ebenso United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCHR), Fact Sheets No. 2 (Rev. 1), The International Bill of Human Rights, http:// www.ohchr.org/Documents/Publications/FactSheet2Rev.1en.pdf, zul. einges. am 01.12.2018; Schweizer / Sprecher, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 127 (131).

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letzt auf diesem Umstand fußt die Autorität dieses Dokuments und macht es zu dem wichtigsten Menschenrechtsdokument und zur Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes.142 Darüber hinaus verleiht auch die Tatsache, dass die Ausarbeitung der AEMR das Ergebnis eines schwierigen Entwicklungsprozesses war,143 diesem Dokument eine besondere Glaubwürdigkeit. Unter dem Eindruck des sich bereits abzeichnenden internationalen Ost-West-Konflikts arbeitete die UN Human Rights Commission unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt die AEMR aus. Trotz der unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen in den UN Mitgliedstaaten, war es das Ansinnen der UN Human Rights Commission, ein Dokument zu schaffen, das von allen Staaten akzeptiert werden konnte,144 und das – wie es in der Präambel proklamiert wird – einen „common standard of achievement for all peoples and all nations“ bildet.145 Die Menschenwürde findet gleich an fünf Stellen der Erklärung ihren Ausdruck. Insbesondere zu Beginn der Präambel wird die Bedeutung der Menschenwürde hervorgehoben: „Whereas recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world, […] The General Assembly proclaims this Universal Declaration of Human Rights as a common standard of achievement for all peoples and all nations […].“

Indem in der Präambel zum Ausdruck gebracht wird, dass es um „recognition“, also die Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde und Rechte geht, wird deutlich, dass es sich hiermit bei der Menschenwürde wie auch bei den Menschenrechten nicht um etwas erst zu Konstituierendes, sondern etwas bereits Vorhandenes, mithin etwas Vorrechtliches handelt.146 Art. 1 AEMR macht dies ebenfalls deutlich,147 indem es eine Beschreibung des Wesens des einzelnen Menschen vornimmt: „All human beings are born free and equal in dignity and rights. They are endowed with reason and conscience and should act towards one another in a spirit of brotherhood.“

Wenngleich die Autoren des Schlussentwurfs der AEMR davon ausgingen, dass trotz der langen Begriffsgeschichte eine konsentierte Bestimmung des Menschen­ 142

Schweizer / Sprecher, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 127 (132). Vgl. hierzu die Ausführungen bei McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (676 f.); Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 176 ff. 144 Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 174; McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (677). 145 Die englische Formulierung eines „common standard of achievement“ erscheint dabei besser die von den Verfassern mit der Erklärung verfolgte Absicht zum Ausdruck zu bringen als die deutsche Formulierung eines „zu erreichende[n] gemeinsame[n] Ideal[s]“. So deutet die englische Formulierung darauf hin, dass es sich mit der AEMR um die Festigung von etwas bereits Errungenem im Sinne einer bedeutenden Leistung handelt, und nicht lediglich um ein erst zu erreichendes Ideal. 146 In diesem Sinne auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 136. 147 Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 26 f. 143

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würdebegriffs aufgrund divergierender Deutungsansätze bislang ausgeblieben war,148 werden hier erkennbar die bereits im Rahmen des philosophischen Begriffsdiskurses herausgebildeten Deutungsansätze der Menschenwürde rezipiert und in die Form eines rechtlichen Konzepts gegossen.149 Art. 1 AEMR legt die Philosophie fest, auf der die Erklärung basiert.150 Insbesondere die Vorstellung vom Menschen als vernunftbegabtem Wesen, das mit einer jedem in gleicher Weise zukommenden unveräußerlichen Würde von Geburt an versehen ist und deshalb bestimmte Rechte genießt, knüpft an die Vorstellungen der Aufklärung an und liegt der gesam­ten Erklärung zugrunde.151 Mit der Betonung, dass alle Menschen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen sollen, kommt die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums zum Ausdruck, ebenso wie der dem Einzelnen gegenüber seinen Mitmenschen zustehende Achtungsanspruch. Nicht zuletzt auch der zur Zeit der Französischen Revolution formulierte Gedanke der „Liberté, Egalité, Fraternité“ klingt hier an.152 Auch wenn die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die Menschenwürde nicht ausdrücklich nennt, zeigt sie deutliche Parallelen zur AEMR auf und hilft so die Menschenwürde als etwas zu verstehen, das starke Verbindungslinien zur Freiheit und Selbstbestimmung sowie der Gleichheit der Person sowie zur Demokratie aufweist.153 Im Zuge des Entstehungsprozesses der AEMR wurde eine intensive Debatte über Art. 1 AEMR und damit über die Menschenwürde geführt, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob es sich hierbei um die Formulierung eines Rechts oder um ein „statement of fact“ handeln sollte und ob die Menschenwürde nicht vielmehr lediglich in die Präambel Eingang finden sollte.154 Letztlich fand die Menschenwürde neben 148 McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (676 f.), benennt den 1968 mit dem Friedensnobelpreis für seine Verdienste um die AEMR ausgezeichneten Mitinitiator der Erklärung, René Cassin als dafür verantwortlich, dass der AEMR ein Menschenwürdekonzept zugrundegelegt worden ist. Nichtsdestotrotz merkt Cassin an: „What is incontestable is the permanence of the idea [of dignity] through the centuries and despite the most profound divergences of interpretation of the doctrine.“ Cassin, From the Ten Commandments to the Rights of Man. Speech to the Decalogue Lawyers Society v. 07.03.1970, abrufbar unter: http://renecassin.over-blog.com/article-fromthe-ten-commandments-to-the-rights-of-man-72080499.html, zul. einges. am 01.12.2018). 149 Vgl. Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 176 f. 150 United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCHR), Fact Sheets No. 2 (Rev. 1), The International Bill of Human Rights, http://www.ohchr.org/Documents/Publications/ FactSheet2Rev.1en.pdf, zul. einges. am 01.12.2018. 151 United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCHR), Fact Sheets No. 2 (Rev. 1), The International Bill of Human Rights, http://www.ohchr.org/Documents/Publications/ FactSheet2Rev.1en.pdf, zul. einges. am 01.12.2018: „The article [Art. 1 AEMR] thus defines the basic assumptions of the Declaration: that the right to liberty and equality is man’s birthright and cannot be alienated: and that, because man is a rational and moral being, he is different from other creatures on earth and therefore entitled to certain rights and freedoms which other creatures do not enjoy.“; ebenso Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 136. 152 Vgl. Berlth, Art. 1 GRCh, S. 56. 153 Vgl. Dupré, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 113 (118). Siehe hierzu dann ausführlich Teil E. II. 4. b). 154 Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 176 f.

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der Betonung in der Präambel auch Eingang in Art. 1 AEMR, wo sie jedoch nicht als ein gesondertes Menschenrecht formuliert worden ist.155 Dennoch wurde mit der Formulierung des Art. 1 AEMR die besondere Bedeutung der Menschenwürde unterstrichen. Art. 1 AEMR macht deutlich, dass der gesamten AEMR ein Menschenwürdekonzept zugrunde liegt, wonach die Menschenwürde, anstatt eine bloße Hintergrundannahme im Sinne eines „statement of fact“ zu sein, vielmehr einen normativen Status im Sinne eines tragenden Konstitutionsprinzips erhält.156 Darüber hinaus wird auch in der AEMR die Menschenwürde in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Sicherung einer menschenwürdigen Existenz durch Arbeit und eventuelle andere soziale Schutzmaßnahmen (Art.  23 Abs. 3 AEMR)157 sowie der Garantie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte (die so genannten Menschenrechte der zweiten Generation) gebracht, die für die Würde und die freie Entwicklung der Persönlichkeit unentbehrlich sind (Art. 22 AEMR)158. Die besondere Betonung der Menschenwürde in der AEMR liegt ebenso in den Erfahrungen des Unrechts durch die Nationalsozialisten sowie des Zweiten Weltkriegs begründet und bot zugleich einen besonders geeigneten Anknüpfungspunkt und ein moralisches, die Bedeutung des Textes unterstreichendes Fundament für die Erklärung eines universell gültigen Menschenrechtskatalogs, ohne dass dabei einer bestimmten Weltanschauung der Vorzug gegeben werden musste.159 Darüber hinaus lässt die AEMR zwei unterschiedliche Rechtstraditionen erkennen und macht diese miteinander vereinbar: Zum einen die im angloamerikanischen Raum verankerte liberale Tradition, die an die Rechte des Individuums anknüpft, und zum anderen die kontinentaleuropäische Tradition, die sich auf die Würde des 155 Vgl. Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 82. 156 Vgl. Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 177, der allerdings die Menschenwürde als „fundamental guiding principle“ der Erklärung bezeichnet; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 135. 157 Art. 23 Abs. 3 AEMR: „Everyone who works has the right to just and favourable remuneration ensuring for himself and his family an existence worthy of human dignity, and supplemented, if necessary, by other means of social protection.“ 158 Art. 22 AEMR: „Everyone, as a member of society, has the right to social security and is entitled to realization, through national effort and international co-operation and in accordance with the organization and resources of each State, of the economic, social and cultural rights indispensable for his dignity and the free development of his personality.“ 159 Vgl. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 42; McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (677), hebt hervor, dass es notwendig war, einen Konsens für die AEMR zu finden, der trotz der zum Teil großen ideologischen Unterschiede zwischen den Staaten mit deren jeweiligen Menschenrechtskonzeptionen vereinbar war. McCrudden kommt zu der pragmatischen Erklärung, dass die Menschenwürde „supplied a theoretical basis for the human rights movement in the absence of an other basis for consensus.“ Es handele sich um eine Annahme, die zeitlos, unideologisch, humanistisch, personen- nicht staatenbezogen, sensibel für Unterschiede sei und das Individuum auch in eine soziale Dimension rücke (S. 677). Die Menschenwürde sei besonders geeignet, denn „[e]veryone could agree that human dignity was central, but not why or how. […] dignity carried an enormous amount of content, but different content for different people.“ (S. 678).

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Menschen bezieht.160 So werden in der AEMR diese beiden Traditionen verbunden und gleichzeitig der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und den Menschenrechten hergestellt. Eleanor Roosevelt betonte dementsprechend, dass die Menschenwürde in die AEMR Eingang gefunden hat, „in order to emphasize that every human being is worthy of respect […] it was meant to explain why human beings have rights to begin with.“161 Somit wird schon anhand des Wortlauts der AEMR deutlich, dass es sich bei der Bezugnahme auf die Menschenwürde um mehr als bloße Rhetorik handelt.162 Zugleich wird die Würde des Menschen in der AEMR jedoch nicht als ein Menschenrecht bezeichnet: So ist lediglich die Rede von Würde einerseits und gleichen und unveräußerlichen Rechten andererseits und nicht von einem Recht auf Achtung und Schutz der Würde.163 Die einzelnen in der AEMR formulierten Menschenrechte lassen dennoch erkennen, dass sie Ausdruck der in Art. 1 AEMR formulierten Menschenwürde sind: So wird gleich in Art. 2 AEMR (Diskriminierungsverbot) der Anspruch eines jeden Menschen auf die in der AEMR formulierten Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung aufgrund bestimmter Merkmale deutlich. Weitere wesentliche Aspekte der Menschenwürde werden etwa durch das Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels (Art. 4), das Verbot der Folter oder der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 5), die Anerkennung als Rechtsperson (Art. 6) sowie der Schutz der Privatsphäre (Art. 12), der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18), der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 19) sowie durch soziale Rechte wie das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22, Art. 23 Abs. 3) und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 25) zur Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz ausgedrückt. b) Die Genfer Abkommen von 1949 sowie die UN-Menschenrechtspakte von 1966 In der Folgezeit bezogen sich nicht wenige Menschenrechtspakte auf die Menschenwürde. So ist in den Genfer Abkommen von 1949164, deren Bestimmungen 160

Glendon, A World Made New: Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, S. 173 ff.; ebenfalls hieraus Bezug nehmend: Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 174. 161 Zit. nach Glendon, A World Made New: Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, S. 146 Fn. 154. 162 In diesem Sinne aber J. P. Humphrey, Human Rights and the United Nations: a great adventure, S. 44. 163 Einerseits meldet auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 136, Zweifel an, ob die AEMR auch den Charakter der Menschenwürde als subjektives Recht deklariert, kurz zuvor stellt er jedoch noch ohne weitere Begründung fest, dass sich in der AEMR erstmals ein Grundrechtsverständnis der Menschenwürde sowohl als tragendes Konstitutionsprinzip als auch als subjektives Grund- und Menschenrecht erkennen lasse. 164 Geneva Convention (1) for the Amelioration of the Convention of the Wounded and Sick in Armed Forces in the Field, 12 August 1949, 75 U. N. T. S. 31; Geneva Convention (II) for the

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zum Teil Völkergewohnheitsrecht darstellen, jeweils in Art. 3 Nr. 1 lit. c die Menschenwürde genannt. Hier wird ein Verbot statuiert, die Würde der in den Konventionen genannten Personen zu beeinträchtigen („outrages upon personal dignity, in particular humiliating and degrading treatment“). Ihr Zweck, Schutz vor entwürdigender Behandlung in kriegerischen Auseinandersetzungen, erfasst damit einen wichtigen Teilaspekt der Menschenwürde.165 Einen deutlichen Bezug zur UN Charta stellen sowohl der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)166 als auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)167 aus dem Jahr 1966 her und greifen die Rhetorik der AEMR auf.168 Zusammen mit der AEMR bilden der IPbpR und der IPwskR die International Bill of Human Rights169 sowie verbunden mit den übrigen UN Menschenrechtsinstrumenten The Core International Human Rights Instruments.170 Mit dem Inkrafttreten dieser Menschenrechtspakte sind sowohl die bürgerlichen („Zivilpakt“) wie auch die sozialen („Sozialpakt“) Menschenrechte für die meisten Staaten der Welt verbindliches Völkervertragsrecht geworden.171 Sowohl der IPbpR sowie der IPwskR machen wortgleich in ihren Präambeln (jeweils Abs. 2 und Abs. 3) die dem Menschen innewohnende Würde zur Grundlage der dem Einzelnen zukommenden Rechte: „[…] in accordance with the principles proclaimed in the Charter of the United Nations, recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world, Recognizing that these rights derive from the inherent dignity of the human person […].“

Darüber hinaus bestimmt Art. 10 Abs. 1 IPbpR: „All persons deprived of their liberty shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of Amelioration of the Condition of Wounded, Sick and Shipwrecked Members of Armed Forces at Sea, 12 August 1949, 75 U. N. T. S. 8; Geneva Convention (III) Relative to the Treatment of Prisoners of War, 12 August 1949, 75 U. N. T. S. 135; Geneva Convention (IV) relative to the Treatment of Prisoners of War, 12 August 1949, 75 U. N. T. S. 287. 165 Kirste, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 175 (179). 166 International Covenant on Civil and Political Rights, G. A. res. 2200A (XXI), UN Doc. A/ 6316 (1966), 16 December 1966, 999 U. N. T. S. 171. 167 International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, G. A. res. 2200A (XXI), 16 December 1966, UN Doc. A/6316 (1966); 993 U. N. T. S. 3. 168 An der Entwicklung der beiden Pakte war ebenfalls der Mitinitiator und Mitautor der AEMR, René Cassin, maßgeblich beteiligt. Vgl. hierzu und zu den Verdiensten Cassins um die AEMR, die Award Ceremony Speech von Aase Lionaes, Vorsitzende des Nobelpreiskomitees v. 10.12.1968, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1968/press.html, zul. einges. am 01.12.2018. 169 United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCHR), Fact Sheets No. 2 (Rev. 1), The International Bill of Human Rights, http://www.ohchr.org/Documents/Publications/ FactSheet2Rev.1en.pdf, zul. einges. am 01.12.2018. 170 United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCHR), The Core Internatio­nal Human Rights Instruments and their monitoring bodies, http://www.ohchr.org/EN/Professional​ Interest/Pages/CoreInstruments.aspx, zul. einges. am 01.12.2018. 171 Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, S. 254.

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the human person.“ Der IPwskR betont in Art. 13 Abs. 1 die Menschenwürde im Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung: „The States Parties to the present Covenant recognize the right of everyone to education. They agree that education shall be directed to the full development of the human personality and the sense of its dignity, and shall strengthen the respect for human rights and fundamental freedoms. […]“

Die Formulierung einer dem Menschen innewohnenden Würde („inherent d­ ignity“) macht deutlich, dass den beiden Pakten ein Menschenwürdeverständnis zugrunde liegt, das von einer allen Menschen in gleicher Weise angeborenen und unveränderlichen Menschenwürde ausgeht. Dass nun erklärt wird, was in der AEMR keine Erwähnung fand, nämlich dass sich die Menschenrechte aus der Menschenwürde herleiten („derive“), lässt die Annahme erkennen, dass die Menschenwürde als die Grundlage der Menschenrechte verstanden wird.172 c) Weitere UN-Menschenrechtspakte Auch in weitere wichtige UN-Menschenrechtsabkommen hat die Menschenwürde Eingang gefunden. So findet sich eine Bezugnahme auf die Menschenwürde in der Präambel des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (ICERD)173, indem darauf verwiesen wird, dass „the Charter of the United Nations is based on the principles of the dignity and equality inherent in all human beings“. Zugleich wird die in der AEMR getroffene Feststellung, „that all human beings are born free and equal in dignity and rights“ zur Grundlage auch des ICERD gemacht, verbunden mit der Annahme, dass jeder Mensch mit der gleichen Würde von Geburt an ausgestattet ist. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)174 verweist ebenso in seinen Erwägungsgründen in der Präambel darauf, dass die UN Charta auf dem Glauben „in the dignity and worth of the human person“ beruht sowie dass die AEMR „affirms the principle of the inadmissibility of discrimination and proclaims that all human beings are born free and equal in dignity and rights […].“ Der besondere Zusammenhang zwischen der Unzulässigkeit der Diskriminierung und der Menschenwürde wird im Weiteren noch einmal betont, indem in der Präambel hervorgehoben wird, „that discrimination against women violates the principles of equality of rights and respect for human dignity […].“

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Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 50. International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, G. A. res. 2106 (XX), U. N. Doc. A/6014 (1966), 660 U. N. T. S. 195, in Kraft getreten am 04.01.1969. 174 Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, G. A. res. 34/180, U. N. Doc. A/34/46, in Kraft getreten am 03.09.1981. 173

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Das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT)175 stellt in seinen Erwägungsgründen heraus, dass die allen Menschen zukommenden unveräußerlichen Rechte „derive from the inherent dignity of the human person“ und betont somit die Seins­ gegebenheit der menschlichen Würde und macht sie zugleich zur Grundlage der Menschenrechte. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC)176 bezieht nicht nur unter Verweis auf die UN Charta und die AEMR die Würde des Menschen in seine Erwägungsgründe ein, sondern betont zugleich, dass das Kind im Geiste der Ideale der UN Charta „and in particular in the spirit of peace, dignity, tolerance, freedom, equality and solidarity“ erzogen werden sollte. Darüber hinaus werden einzelne konkrete Rechtsverbürgungen der Konvention mit der Menschenwürde verbunden: Nach Art. 23 Abs. 1 CRC erkennen die Vertragsstaaten an, „that a mentally or physically disabled child should enjoy a full and decent life, in conditions which ensure dignity, promote self-reliance and facilitate the child’s active participation in the community.“ Im Rahmen des in Art. 28 Abs. 1 CRC verbürgten Rechts des Kindes auf Bildung bestimmt Absatz 2, dass die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zu treffen haben, „to ensure that school discipline is administered in a manner consistent with the child’s human dignity […].“ Darüber hinaus verlangt die CRC eine menschenwürdige Behandlung etwa im Falle des Freiheitsentzugs oder im Strafverfahren bzw. bei der Genesung und Wiedereingliederung nach Erfahrungen durch Folter, erniedrigende Behandlung, bewaffnete Konflikte oder Ähnliches.177 In der von Deutschland bislang nicht ratifizierten Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICRMW)178 wird nicht nur in den Erwägungsgründen der Generalversammlung 175 Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, G. A. res. 39/46, U. N. Doc. A/39/51 (1984), in Kraft getreten am 26.06.1987. 176 Convention on the Rights of the Child, G. A. res. 44/25, U. N. Doc. A/44/49 (1989), in Kraft getreten am 02.09.1990. 177 Art. 37 lit. c CRC: „Every child deprived of liberty shall be treated with humanity and respect for the inherent dignity of the human person, and in a manner which takes into account the needs of persons of his or her age.“ Art. 39 CRC: „States Parties shall take all appropriate measures to promote physical and psychological recovery and social reintegration of a child victim of: any form of neglect, exploitation, or abuse; torture or any other form of cruel, inhuman or degrading treatment or punish­ment; or armed conflicts. Such recovery and reintegration shall take place in an environment which fosters the health, self-respect and dignity of the child.“ Art. 40 Abs. 1 CRC: „States Parties recognize the right of every child alleged as, accused of, or recognized as having infringed the penal law to be treated in a manner consistent with the promotion of the child’s sense of dignity and worth, which reinforces the child’s respect for the human rights and fundamental freedoms of others and which takes into account the child’s age and the desirability of promoting the child’s reintegration and the child’s assuming a constructive role in society.“ 178 International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families, G. A. res. 45/158, U. N. Doc. A/45/49 (1990), in Kraft getreten am

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auf die Würde des Menschen Bezug genommen, sondern auch im Rahmen der Benennung konkreter Rechte im Falle des Freiheitsentzugs179 und im Hinblick auf menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen. Insbesondere das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)180 lässt den allgemeinen Trend erkennen, wonach die Menschenwürde gerade in den Jahren nach 1990 deutlich häufiger nicht nur in nationalen Verfassungen,181 sondern auch in internationalen Rechtstexten – und dabei nicht mehr nur als bloßer Erwägungsgrund in der Präambel – zu finden ist. In der CRPD wird deutlich, dass die Menschenwürde nicht mehr nur als Begründung der Konvention fungiert, sondern vielmehr ein den einzelnen Konventionsgarantien zugrunde liegendes Wertefundament darstellt, das in die Auslegung der Konventionsbestimmungen einzubeziehen ist und das der Konvention zugrunde liegende Menschenbild erkennen lässt. In den Erwägungsgründen der Generalversammlung zur Annahme der Konvention wird dies besonders deutlich, indem darauf verwiesen wird, dass das aufgrund eines Beschlusses der Generalversammlung in 2001 eingerichtete Ad Hoc Komitee Vorschläge für eine „international convention to promote and protect the rights and dignity of persons with disabilities“ erarbeiten sollte.182 Nach dieser Konvention wird jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung als „violation of the inherent dignity and worth of the human person“ begriffen (Präambel lit. h). Die CRPD benennt als Zweck der Konvention in Art. 1 Abs. 1, „to promote, protect and ensure the full and equal enjoyment of all human rights and fundamental freedoms by all persons with disabilities, and to promote respect for their inherent dignity.“ Die Konvention verfolgt das Ideal vom von Geburt an mit gleichen Rechten ausgestatteten Menschen als autonomes und grundsätzlich zur Selbst­ bestimmung fähiges Wesen. Die Menschenwürde wird in einen engen Zusammenhang mit der Autonomie des Menschen und dem Schutz seiner Freiheit zur Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung gebracht, wie es bereits in den Vorstellungen der Aufklärung und des Humanismus von der Würde des Menschen bestimmend war.183 01.07.2003. Siehe zur UN-Wanderarbeiterkonvention und die Auswirkungen in Deutschland im Falle einer Umsetzung: Katharina Spieß, Die Wanderarbeitnehmerkonvention der Vereinten Nationen – Ein Instrument zur Stärkung der Rechte von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. 179 Art. 17 Abs. 1 ICRMW: „Migrant workers and members of their families who are deprived of their liberty shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person and for their cultural identity.“ Art. 70 ICRMW: „States Parties shall take measures not less favourable than those applied to nationals to ensure that working and living conditions of migrant workers and members of their families in a regular situation are in keeping with the standards of fitness, safety, health and principles of human dignity.“ 180 Convention on the Rights of Persons with Disabilities, G. A. Res. 61/106, Annex I, U. N. Doc. A/61/49 (2006), in Kraft getreten am 03.05.2008. 181 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 47. 182 G. A. res. 61/106, 13 December 2006, U. N. Doc. A/61/49 (2006). 183 Art. 3 lit. a CRPD: „ The principles of the present Convention shall be:(a) Respect for inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make one’s own choices, and independence of persons“.

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Insbesondere soll durch ein integratives Bildungssystem das Ziel erreicht werden, die Möglichkeiten jedes Einzelnen zur Selbstentfaltung, Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft voll auszuschöpfen.184 Das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 20.12.2006 (CPED)185 bringt die Achtung der Menschenwürde in Zusammenhang mit der Speicherung personenbezogener Daten und Informationen186 sowie mit dem Recht auf Wiedergutmachung in Form der Genugtuung.187 Auch die durch die Förderung von Erziehung, Wissenschaft und Kultur auf eine nachhaltige Friedenssicherung abzielende UNESCO bezog sich in ihrer Gründungsverfassung vom 16.11.1945188 auf die Menschenwürde und bezeichnete diese neben der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung aller Menschen als eines der „democratic principles“.189 Insbesondere im Hinblick auf Fragen der Biomedizin findet die Menschenwürde wiederholt Erwähnung und scheint sich hinsichtlich dieArt. 16 Abs. 4 CRPD: „States Parties shall take all appropriate measures to promote the physical, cognitive and psychological recovery, rehabilitation and social reintegration of persons with disabilities who become victims of any form of exploitation, violence or abuse, including through the provision of protection services. Such recovery and reintegration shall take place in an environment that fosters the health, welfare, self-respect, dignity and autonomy of the person and takes into account gender- and age-specific needs.“ 184 Art. 24 Abs. 1 CRPD: „States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and life long learning directed to: (a) The full development of human potential and sense of dignity and selfworth, and the strengthening of respect for human rights, fundamental freedoms and human diversity; (b)  The development by persons with disabilities of their personality, talents and creativity, as well as their mental and physical abilities, to their fullest potential; (c) Enabling persons with disabilities to participate effectively in a free society.“ 185 International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance, G. A. res. 61/177, 20 December 2006, U. N. Doc. A / RES/61/177 (2006). Siehe zu dieser Konvention ausführlich Wolfgang S. Heinz, Das neue internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, Deutsches Institut für Menschenrechte, Essay No. 8. 186 Art. 19 Abs. 2 CPED: „The collection, processing, use and storage of personal information, including medical and genetic data, shall not infringe or have the effect of infringing the human rights, fundamental freedoms or human dignity of an individual.“ 187 Art. 24 Abs. 5 lit. c CPED: „ The right to obtain reparation referred to in paragraph 4 of this article covers material and moral damages and, where appropriate, other forms of reparation such as: […] (c) Satisfaction, including restoration of dignity and reputation.“ 188 Constitution of the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), 16 November 1945, 4 UNTS 275; 41 AJIL Supp. 1. 189 Abs. 3 der Präambel der UNESCO Constitution: „That the great and terrible war which has now ended was a war made possible by the denial of the democratic principles of the dignity, equality and mutual respect of men, and by the propagation, in their place, through ignorance and prejudice, of the doctrine of the inequality of men and races […].“ Ebenso wird die Bedeutung von Kultur und Bildung für die menschliche Würde betont: „That the wide diffusion of culture, and the education of humanity for justice and liberty and peace are indispensable to the dignity of man and constitute a sacred duty which all the nations must fulfil in a spirit of mutual assistance and concern […].“ (Abs. 4 der Präambel).

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ses Bereichs als das übergreifende Prinzip herausgebildet zu haben.190 Die Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights (UNESCO, 11.11.1997) bezieht sich wiederholt auf die Menschenwürde und verweist dabei in ihrer Prä­ambel auch auf die Präambel der AEMR.191 Ebenso gründen sowohl die International Declaration on Human Genetic Data (UNESCO, 16.10.2003)192 wie auch die Universal Declaration on Bioethics and Human Rights (UNESCO, 19.10.2005)193 auf dem Gedanken der Achtung der Menschenwürde. Auch das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs194 als vertrag­ liche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag vom 17.07.1998 benennt in Art. 8 lit.  b Nr. xxi „Committing outrages upon personal dignity, in particular humiliating and degrading treatment“ als schweren Verstoß „of the laws and customs applicable in international armed conflict, within the established framework of international law“ sowie gem. Art. 8 lit. c Nr. ii im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter hat. In der am 08.09.2000 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als Resolution verabschiedeten United Nations Millennium Declaration195 bekräftigten die Staats- und Regierungschefs, dass es neben den Verantwortungen gegenüber der jeweils eigenen Gesellschaft eine „collective responsibility to uphold the principles of human dignity, equality and equity at the global level“ gebe (Nr. I.2.). Die Erklärung benennt als fundamentale Werte, die für die internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert essentiell sind, u. a. Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Toleranz (Nr. I.6.). Danach beinhaltet der Wert der Freiheit: „Men and women have the right to live their lives and raise their children in dignity, free from hunger and from the fear of violence, oppression or injustice. Democratic and participatory governance based on the will of the people best assures these rights.“ Auf diese Weise wird auch in der Erklärung die Verbindung zwischen der Freiheit des Menschen und seiner Würde aufgezeigt. Nur dort, wo dem Menschen Freiheit zur eigenen Entfaltung durch entsprechende Rechte gewährt wird, ist ein Leben in Würde überhaupt möglich. Dabei wird auf die Demokratie als die Herrschaftsform verwiesen, die am geeignetsten sei, diese Rechte zu sichern. 190

Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 217. Abs. 4 der Präambel: „Bearing in mind also the United Nations Convention on Biological Diversity of 5 June 1992 and emphasizing in that connection that the recognition of the genetic diversity of humanity must not give rise to any interpretation of a social or political nature which could call into question ‚the inherent dignity and […] the equal and inalienable rights of all members of the human family‘, in accordance with the Preamble to the Universal Declaration of Human Rights […].“ 192 International Declaration on Human Genetic Data, adopted by the General Conference at its 32nd Session on 16 october 2003, http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=17720&URL_ DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (zul. einges. am 01.12.2018). 193 Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, adopted by the General Conference at its 33rd Session on 19 October 2005, http://unesdoc.unesco.org/images/0014/001461/146180E. pdf (zul. einges. am 01.12.2018). 194 Rome Statute of the International Criminal Court, UN Doc. A / CONF.183.9. 195 G. A. res. A/55/2. 191

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B. Von der Idee zum Recht

d) Die Arbeiten der ILC zur Menschenwürde Die Annahme, dass es sich bei der Menschenwürde um ein universelles Rechtsprinzip handelt, wird gestützt durch die Arbeiten der International Law Commission (ILC). Diese bedeutendste Institution zur Kodifikation des Völkerrechts, die als Organ der Generalversammlung untergeordnet ist, wird durch einen Ausschuss aus 34 unabhängigen Völkerrechtsexperten gebildet.196 Gemäß Art. 1 Abs. 1 des Statute of the International Law Commission ist Aufgabe der ILC „the promotion of the progressive development of international law and its codification.“197 Diese Aufgabe der Weiterentwicklung des Völkerrechts soll gemäß Art. 15 des Statuts dadurch erfolgen, dass die ILC in den Bereichen Vertragsentwürfe erarbeitet, die bisher nicht völkerrechtlich geregelt sind oder in denen sich bislang keine hinreichende Staatenpraxis herausgebildet hat. Gemäß Art. 15 S. 2 des Statuts umfasst die „codification“ die präzisere Ausformulierung und Systematisierung völkerrechtlicher Regeln in Bereichen, in denen es bereits eine Staatenpraxis, internationale Judikatur und Behandlung in der Völkerrechtslehre gibt.198 Art.  38 Abs. 1 des IGH-Statuts199 wiederum benennt in nicht erschöpfender Weise200 die Rechtsquellen des Völkerrechts, zu denen allerdings nicht die in lit. d genannten „judicial decisions and the teachings of the most highly qualified publicists of the various nations“ zählen.201 Vielmehr sollen diese gemäß lit. d als Hilfsmittel zum Nachweis von völkerrechtlichen Rechtsnormen herangezogen werden. Gerade der Nachweis völkerrechtlicher Normen durch „teachings of the most highly qualified publicists of the various nations“ kann aber in einer von kultureller Vielfalt und Unterschiedlichkeit geprägten multipolaren Welt nur dann gelingen, wenn dabei Lehrmeinungen aus den unterschiedlichen Rechts- und Kulturkreisen einbezogen werden. Hierbei können insbesondere die Veröffentlichungen der ILC dienlich sein, da die ILC nicht zuletzt aufgrund ihrer Zusammensetzung aus Rechtsexperten unterschiedlicher Rechtssysteme ein breiteres Spektrum gesellschaftlicher und rechtlicher Hintergründe abbildet202 und schon von ihrer Ziel- und Zwecksetzung her dazu berufen ist, das Völkerrecht weiterzuentwickeln bzw. bereits in der Lehre, 196 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 17 Rn. 50; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 7 Nr. II.2. 197 Statute of the International Law Commission, G. A. res. 174 (II), 21 November 1947, UN Doc. A / CN. 4/4/Rev. 2. 198 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 17 Rn. 50. Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 7 Nr. II.2. verweisen darauf, dass die Praxis der ILC die Unterscheidung zwischen dem Verfahren zur Weiterentwicklung des Völkerrechts (Art. 16 f. des Statuts) und der Kodifizierung geltenden Rechts (Art. 18–24 des Statuts) weitestgehend hat obsolet werden lassen, denn die ILC habe in ihre deklaratorisch gemeinte Arbeit durch Klarstellungen und Anpas­sungen des Rechts an die gegenwärtige Situation ein gestaltendes und damit entwickelndes Element einfließen lassen. 199 Statute of the International Court of Justice, 26 June 1945, 59 Stat. 1055, 33 U. N. T. S. 993. 200 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, § 6 Nr. III; Doehring, Völkerrecht, § 3 Rn. 271. 201 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Kap. Rn. 2. 202 Vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 22 Rn. 5.

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internationalen Rechtsprechung oder Staatenpraxis behandelte Fragestellungen zu formulieren und zu systematisieren. Die ILC bezog sich einerseits im Rahmen ihres Entwurfs zum Schutz von Personen im Katastrophenfall sowie andererseits bei den Arbeiten an einem Entwurf zur Ausweisung ausreisepflichtiger Personen wiederholt auf die Menschenwürde und betonte deren Bedeutung für das internationale Recht. Im Folgenden sollen daher diese draft articles der Kommission näher betrachtet werden. aa) Die draft articles on the protection of persons in the event of disasters Die ILC ist seit ihrer 60. Sitzung (2008) mit einem Entwurf zum Schutz von Personen im Katastrophenfall (ILC draft articles on the protection of persons in the event of disasters) betraut. Im Third Report on the protection of persons in the event of disasters unterbreitete Special Rapporteur Eduardo Valencia-Ospina der ILC folgenden draft article (Article 7), der die Menschenwürde in den Entwurf einbeziehen soll: „Draft Article 7 – Human Dignity: For the purposes of the present draft articles, States, competent international organizations and other relevant actors shall respect and protect Human Dignity.“203

Zur Begründung verwies der Special Rapporteur auf die Verbindung der Menschenwürde zum im humanitären Völkerrecht verankerten principle of humanity.204 Zugleich hob er die Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten unter Verweis auf die Präambel der UN Charta sowie die der AEMR hervor, indem er feststellte: „Dignity has been interpreted as providing the ultimate foundation of human rights law […].“205 Von dem Zeitpunkt der Verankerung der Menschenwürde in der UN Charta und der AEMR an sei die Menschenwürde Inspirationsquelle aller wichtigen universellen Menschenrechtsinstrumente gewesen und habe Eingang in die meisten regionalen Menschenrechtsinstrumente sowie Erwähnung in den opinions einiger Richter des IGH gefunden.206 Zudem verwies er auf die Recht­sprechung des EGMR zur Menschenwürde in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, in der der Gerichtshof erstmals einen Verstoß gegen die Menschenwürde angenommen und in der Folge in diversen nachfolgenden Urteilen diese Rechtsprechung aufgegriffen 203

3rd report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 62. 3rd report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 51. 205 rd 3 report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 52. 206 rd 3 report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 53 ff. So zitiert der Special Rapporteur in Nr. 56 die Meinung des Vice-President des IGH Ammoun im South West Africa-Fall (1971) hinsichtlich Art. 1 AEMR: „From this first principle flow most rights and freedoms.“ Der Vice-President wird mit den Worten zitiert, wonach die Freiheit, Gleichheit und Würde der menschlichen Person „the most essential principles of humanity, principles protected by the sanction of international law“ seien. 204

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habe.207 Zudem zitierte der Special Rapporteur die entsprechende Passage in der Entscheidung des EGMR in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich, in der der Gerichtshof die Achtung für die menschliche Würde und menschliche Freiheit als die „essence of the Convention“ bezeichnete.208 Darüber hinaus bezog sich der Special Rapporteur auf die Menschenwürde in nationalstaatlichen Verfassungen bzw. die nationalstaatliche Rechtsprechung.209 Das International Law Institute habe in seiner 2003 in Brüssel angenommenen „resolution on humanitarian assistance“ festgestellt: „Leaving the victims of disaster without humanitarian assistance constitutes a threat to human life and an offence to human dignity and therefore a violation of fundamental human rights.“ Somit werden auch hier die Menschenrechte als dem Schutze der Menschenwürde dienend angesehen. Dementsprechend werden auch in den Entwurf die Menschenrechte einbezogen. So lautet der der Menschenwürde folgende draft article 6 (zuvor 8): „Article 6 – Human rights: Persons affected by disasters are entitled to respect for their human rights.“210 Insbesondere aber versteht der Special Rapporteur die Menschenwürde als das zentrale Moment des Schutzes von Personen im Völkerrecht, das auch im Falle des Schutzes von Personen in Katastrophenfällen bestimmend sein sollte und mit dem Gebot der humanity verbunden sei. Die Menschenwürde weise den Weg zu einer Entwicklung einer „true international community, based on the respect of human beings in their dignity“.211 Die mit dem Entwurf befasste ILC unterstützte in der Debatte den Entwurf des Special Rapporteur und hob ebenfalls die Stellung und Bedeutung der Menschenwürde hervor, wobei sie die Eigenschaft der Menschenwürde als eigenständiges subjektives Recht verneinte: „It was recognized that human dignity was a source of human rights and not a right per se entailing obligations. […] [T]here was agreement in the Commission not to dwell on establishing human dignity as a right, since its focus was on the treatment of the individual which ought to respect human dignity.“212 Die ILC bezeichnet die Menschenwürde als „the core principle that informs and underpins international human rights law“213 und schließt sich der Auffassung des Special Rapporteur über das Verhältnis zu den Menschenrechten an: „The principle 207

3rd report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 57. Siehe zur Entscheidung des EGMR in dieser Sache ausführlich Teil E. I. 3. a) cc). 208 rd 3 report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 57. Siehe ausführlich zur Entscheidung des EGMR in dieser Sache Teil E. I. 3. a) ee). sowie Teil E. I. 3. b) aa).} 209 rd 3 report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 58. 210 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 95 (http://legal.un.org/ilc/sessions/66/2014Report(A_69_10)-advance.pdf, zul. einges. am 01.12.2018). 211 rd 3 report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 61. 212 ILC, Report, 62nd session (2010), U. N. Doc. A/65/10, S. 317 f. 213 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 93. Hinsichtlich des Schutzes von Personen in Katastrophenfällen sei die ILC die Menschenwürde daher ein „guiding principle both for any action to be taken in the context of the provision of relief, and in the ongoing evolution of laws addressing disaster response.“ (a. a. O.)

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of human dignity undergirds international human rights instruments and has been interpreted as providing the ultimate foundation of human rights law.“214 Sie verweist zur Begründung dieser Annahme ebenso wie der Special Rapporteur darauf, dass die Menschenwürde sowohl in der Präambel der UN Charta sowie der AEMR beteuert werde.215 Das Menschenwürdeprinzip werde zudem in weiteren UN-Menschenrechtspakten wie etwa dem IPbpR, dem IPwskR, der ICERD und anderen Pakten bekräftigt. Zudem habe es Eingang in das humanitäre Völkerrecht gefunden.216 Die ILC änderte den Wortlaut des Entwurfs von draft article 7 – nunmehr article 5 – des Special Rapporteur wie folgt: „In responding to disasters, States, competent intergovernmental organizations and relevant non-governmental organizations shall respect and protect the inherent dignity of the human person.“217

Dabei wurde dem Wortlaut des Entwurfs „the inherent dignity of the human person“ hinzugefügt, mit der Begründung, dass dies die „precise formulation of the principle adopted by the Commission“ sei, die dem Wortlaut des IPwskR sowie dem des IPbpR entspreche. Auch andere Pakte wie die Convention on the Rights of the Child und die American Convention on Human Rights hätten diesen Wortlaut.218 Insofern kam es der ILC auf eine Angleichung an das auf UN-Ebene zu findende Menschenwürdekonzept an, wonach es sich bei der Menschenwürde um einen dem Menschen innewohnenden Wert handelt. Die ILC betont in ihrem Kommentar, dass die Formulierung „respect and protect“ in ihrer Verbindung deutlich machten, dass dies sowohl eine negative Verpflichtung wie auch eine positive Verpflichtung begründe: „In conjunction the terms ‚respect and protect‘ connote a negative obligation to refrain from injuring the inherent dignity of the human person and a positive obligation to take action to protect human dignity.“219 Auf die nunmehr in draft article 5 verankerte Menschenwürdegarantie folgt in draft article 6 der Verweis auf die Achtung der Menschenrechte der betroffenen 214

ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 93. 215 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 93. 216 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 93. 217 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 93. 218 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 94. 219 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 95. Im Folgenden wird ausgeführt, wie diese Pflicht des Staates umzusetzen ist, um die Achtung und den Schutz der Menschenwürde zu garantieren: „By way of example, the duty to protect requires States to adopt legislation proscribing activities of third parties in circumstances that threaten a violation of the principle of respect for human dignity. The Commission considered that an obligation to ‚protect‘ should be commensurate with the legal obligations

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Personen.220 In ihrem Kommentar hebt die ILC hervor, dass draft article 5 und draft article 7 nicht zufällig direkt aufeinander folgen: „Draft article 6 [8] seeks to reflect the broad entitlement to human rights protection held by those persons affected by disasters. The Commission recognizes an intimate connection between human rights and the principle of human dignity reflected in draft article 5 [7], reinforced by the close proximity of the two draft articles.“221 Hiermit unterstreicht die ILC die oben bereits dargestellte Annahme vom inneren Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und den einzelnen Menschenrechten. Die Kommission lässt erkennen, dass es sich auch nach ihrem Verständnis bei den Menschenrechten um einzelne Ausformungen des Menschenwürdesatzes handelt und diese um der Achtung und des Schutzes der jedem Menschen innewohnenden Würde willen als anthropologische Grundannahme da sind. Die Kommission übernimmt das der International Bill of Rights zugrunde liegende Menschenwürdekonzept und betont zudem, dass sich aus der Menschenwürde auch eine positive Verpflichtung der Staaten und Internationalen Organisationen ableiten lässt. bb) Die draft articles on the expulsion of aliens Auch bereits zuvor hatte sich die ILC ab der 56. Sitzung (2004) anlässlich der Thematik der Ausweisung von ausländischen Staatsangehörigen mit der Menschen­ würde beschäftigt.222 Zuständiger Special Rapporteur ist Maurice Kamto. Auf dessen Ausführungen hinsichtlich der Menschenwürde bezog sich im Rahmen des Entwurfsprozesses hinsichtlich der draft articles on the protection of persons in the event of disasters auch die ILC. Der von der ILC auf ihrer 66. Sitzung angenommene Text der draft articles gibt den Staaten in draft article 13 als erste der im Entwurf aufgelisteten generellen Verpflichtungen bei Ausweisungen ausreisepflichtiger Personen die Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte vor: „1. All aliens subject to expulsion shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person at all stages of the expulsion process. 2. They are entitled to respect for their human rights, including those set out in the present draft articles.“223 borne by the respective actors addressed in the provision. An affected State therefore holds the primary role in the protection of human dignity, by virtue of its primary role in the direction, control, coordination and supervision of disaster relief and assistance, as reflected in draft article 12 [9], paragraph 2.“ 220 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 95: draft article 6 lautet: „Persons affected by disasters are entitled to respect for their human rights.“ 221 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 95. 222 Siehe zur Entstehung: ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 10. 223 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 13.

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Im Kommentar der ILC wird die Annahme von draft article 13 damit begründet, dass das Menschenwürdeprinzip hinsichtlich ausreisepflichtiger Personen von besonderer Bedeutung sei, insbesondere vor dem Hintergrund, dass diese Personen nicht selten Mißhandlungen während des Ausweisungsprozesses ausgesetzt seien. Dies sei „offensive to their dignity as human beings, without necessarily amounting to cruel, inhuman or degrading treatment.“224 Zugleich wird betont, dass die Formulierung des Entwurfs an den Wortlaut des Art. 10 IPbpR angelehnt sei. Die von Art. 10 IPbpR übernommene Formulierung „the inherent dignity of the human person“225 sei „intended to make it clear that the dignity referred to in this draft article is to be understood as an attribute that is inherent in every human being.“226 Insofern wird auch hier sichtbar, dass sich die ILC an dem bisherigen Menschenwürdekonzept der UN und insbesondere der International Bill of Rights orientiert und von einer jedem Menschen innewohnenden und in gleicher Weise zukommenden Würde ausgeht, die der Staat zu achten hat, unabhängig davon, ob es sich um einen eigenen Staatsangehörigen handelt oder nicht. Der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und den Menschenrechten wird auch hier ebenso wie bei den draft articles on the protection of persons in the event of disasters daran deutlich, dass die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte direkt nach der zur Achtung der Menschenwürde in Abs. 2 genannt wird. e) Regionale Menschenrechtspakte Auch regionale Menschenrechtspakte nehmen Bezug auf die Menschenwürde. Neben der Benennung der Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR findet sich die Menschenwürde in weiteren Verträgen auf der Ebene des Europarates, wie insbesondere in der Konvention des Europarates „zum Schutze der Menschenrechte und Menschenwürde mit Blick auf die Anwendung von Erkenntnissen aus der Biomedizin“ vom 04.04.1997.227 Auf Ebene der Europäischen Union hat die Menschenwürde ihre positivrechtliche Ausformung in der Grundrechtecharta gefunden.228 In der noch vor der AEMR verabschiedeten American Declaration of the Rights of Man (1948) wird gleich in der Präambel betont, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren seien.229 Das Recht auf Eigentum wird verbunden mit der Deckung von Grundbedürfnissen zum Schutz der Würde des ein 224 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 38. 225 Vgl. den Wortlaut von Art. 10 IPbpR in Teil B. I.b). 226 ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 38. 227 Siehe hierzu ausführlich Teil E. I.1. 228 Siehe hierzu ausführlich Teil D. 229 Abs. 1 der Präambel: „All men are born free and equal, in dignity and in rights, and, being endowed by nature with reason and conscience, they should conduct themselves as brothers one to another.“

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zelnen.230 Die American Convention on Human Rights (ACHR, 1969) benennt die Menschenwürde mit dem Freiheitsentzug und bezeichnet die Menschenwürde als etwas der menschlichen Person Innewohnendes.231 Darüber hinaus wird die Würde im Zusammenhang mit dem Recht auf Achtung der Privatsphäre232 sowie im Zusammenhang mit Zwangsarbeit233 genannt. Auch die African Charter on Human and Peoples’ Rights (ACHPR, sog. Banjul-Charta, 1981) bezieht sich auf die Menschenwürde. Diese wird vor allem mit der kolonialen Vergangenheit und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von den Kolonialherren in Zusammenhang gebracht.234 Diese Charta zielt mithin vor allem auf eine Betonung der Selbstbestimmung der afrikanischen Völker gegenüber den Kolonialherren ab und weniger auf die Selbstbestimmung des Individuums. In der ACHPR zeigt sich die im Vergleich zu anderen regionalen Menschenrechtspakten wie etwa der EMRK oder der ACHR eine stärkere Betonung kollektiver Aspekte und damit deutliche Akzentunterschiede.235 Dennoch ist in Art. 5 ACHPR das jedem Individuum zukommende Recht auf Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde statuiert (S. 1).236 Im selben Artikel findet sich zugleich das Verbot der menschlichen Ausbeutung und Erniedrigung etwa durch Sklaverei, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (S. 2). Darüber hinaus ist der Begriff der Menschenwürde auch in der Arab Charter on Human Rights (2004) enthalten,237 die in ihrer Präambel zwar ihre Nähe zu der 230

Art. XXIII: „Every person has a right to own such private property as meets the essential needs of decent living and helps to maintain the dignity of the individual and of the home.“ 231 Art. 5 Abs. 2 ACHR: „No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman, or degrading punishment or treatment. All persons deprived of their liberty shall be treated with respect for the inherent dignity of the human person.“ 232 Art. 11 Abs. 1 ACHR: „Everyone has the right to have his honor respected and his dignity recognized.“ 233 Art. 6 Abs. 2 S. 3 ACHR: „Forced labor shall not adversely the dignity or the physical or intellectual capacity of the prisoner.“ 234 Abs. 2 und Abs. 8 der Präambel der ACHPR: „[…] Considering the Charter of the Organization of African Unity, which stipulates that „freedom, equality, justice and dignity are essential objectives for the achievement of the legitimate aspirations of the African peoples; […] Conscious of their duty to achieve the total liberation of Africa, the peoples of which are still struggling for their dignity and genuine independence, and undertaking to eliminate colonialism, neo-colonialism, apartheid, zionism, and to dismantle aggressive foreign military bases and all forms of discrimination, particularly those based on race, ethnic group, colour, sex, language, religion or political opinion […].“ 235 Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, S. 255. 236 Art. 5 Abs. 1 S. 1 ACHPR: „Every individual shall have the right to the respect of the dignity inherent in a human being and to the recognition of his legal status.“ 237 Abs. 1 der Präambel: „Based on the faith of the Arab nation in the dignity of the human person whom God has exalted ever since the beginning of creation and in the fact that the Arab homeland is the cradle of religions and civilizations whose lofty human values affirm the human right to a decent life based on freedom, justice and equality, […].“; Art. 2 Abs. 3: „All forms of racism, Zionism and foreign occupation and domination constitute an impediment to human dignity and a major barrier to the exercise of the fundamental rights of peoples; all such practices

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UN Charta sowie der International Bill of Rights erklärt, zugleich aber auch zu der Cairo Declaration on Human Rights in Islam (CDHRI, 1990). Diese von den Mitgliedstaaten der Organisation of the Islamic Conference verabschiedete Konvention soll ihren Mitgliedstaaten „a general guidance for Member States in the Field of human rights“238 sein. Sie gibt eine rein vom Islam ausgehende Sichtweise auf die Menschenrechte wieder und sieht die islamische Scharia als alleinige Grundlage der Menschenrechte.239 Auch die Menschenwürde wird in der CDHRI wiederholt erwähnt. Sie wird jedoch dem islamischen Verständnis von menschlicher Würde entsprechend davon abhängig gemacht, inwieweit der Einzelne sich einem gläubigen und frommen Leben hingibt.240 Insofern ist Würde etwas vor allem moralisch

must be condemned and efforts must be deployed for their elimination.“; Art. 3 Abs. 3 S. 1: „Men and women are equal in respect of human dignity, rights and obligations within the frame­work of the positive discrimination established in favour of women by the Islamic Shariah, other divine laws and by applicable laws and legal instruments.“; Art. 17: „Each State party shall ensure in particular to any child at risk or any delinquent charged with an offence the right to a special legal system for minors in all stages of investigation, trial and enforcement of sentence, as well as to special treatment that takes account of his age, protects his dignity, facilitates his rehabilitation and reintegration and enables him to play a constructive role in society.“; Art. 20 Abs. 1: „All persons deprived of their liberty shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person.“; Art. 33 Abs. 3: „The States parties shall take all necessary legislative, administrative and judicial measures to guarantee the protection, survival, development and well-being of the child in an atmosphere of freedom and dignity and shall ensure, in all cases, that the child’s best interests are the basic criterion for all measures taken in his regard, whether the child is at risk of delinquency or is a juvenile offender.“; Art. 40 Abs. 1: „The States parties undertake to ensure to persons with mental or physical disabilities a decent life that guarantees their dignity, and to enhance their self-reliance and facilitate their active participation in society.“ 238 Abs. 5 der Präambel der CDHRI. 239 Art. 24 CDHRI: „All the rights and freedoms stipulated in this Declaration are subject to the Islamic Shari’ah.“; Art. 25 CDHRI: „The Islamic Shari’ah is the only source of reference for the explanation or clarification of any of the articles of this Declaration.“ 240 Art. 1 CDHRI: „(a) All human beings form one family whose members are united by their subordination to Allah and descent from Adam. All men are equal in terms of basic human dignity and basic obligations and responsibilities, without any discrimination on the basis of race, colour, language, belief, sex, religion, political affiliation, social status or other considerations. The true religion is the guarantee for enhancing such dignity along the path to human integrity. (b) All human beings are Allah’s subjects, and the most loved by Him are those who are most beneficial to His subjects, and no one has superiority over another except on the basis of piety and good deeds.“; Art. 6 lit. a CDHRI: „Woman is equal to man in human dignity, and has her own rights to enjoy as well as duties to perform, and has her own civil entity and financial independence, and the right to retain her name and lineage.“; Art. 20 S. 1 CDHRI: „It is not permitted without legitimate reason to arrest an individual, or restrict his freedom, to exile or to punish him. It is not permitted to subject him to physical or psychological torture or to any form of maltreatment, cruelty or indignity.“; Auch die Würde nicht nur des Menschen findet sich in der Konvention, sondern auch den Propheten wird diese zugesprochen: Art. 22 lit. c CDHRI: „Information is a vital necessity to society. It may not be exploited or misused in such a way as may violate sanctities and the dignity of Prophets, undermine moral and ethical Values or disintegrate, corrupt or harm society or weaken its faith.“

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Geprägtes und nicht etwas Rechtliches.241 Die Grundlage der Menschenwürde ist nach dem derzeitigen islamischen Verständnis die aus dem Koran hergeleitete islamische Glaubenslehre.242 Nach der Analyse Maróths sind konstituierende Elemente dieses Menschenwürdeverständnisses „security and safety in the life of society and compliance with the written and unwritten Code of Conduct in private life. Violation of the valid ethical judgement of the majority and the toleration of the deviant lifestyle of a minority forced by state authorities (in some countries) is an offence against human dignity.“243 Die von Allah dem Menschen gegebene Würde fußt zwar auf der Idee, dass der Einzelne durchaus von seiner Konstitution her befähigt ist, die Wahl zu treffen, wie er sein Leben lebt,244 zugleich jedoch nur dann sich als mit Würde versehenes Wesen erweist, wenn er im Sinne der aus dem Koran abgeleiteten Verhaltenskodizes lebt. „Pious men will be dignified; the impious ones will be humiliated.“245 Insofern ist die Würde des Menschen diesem Verständnis nach etwas Verlierbares. f) Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff Nicht nur im deutschen Grundgesetz findet sich die Menschenwürde. Hier steht sie jedoch mit Art. 1 Abs. 1 GG an exponierter Stelle, was im Jahre 1949 bei Verabschiedung des deutschen Grundgesetzes jedoch noch in keiner anderen Verfassung der Fall war. Ebenso wie in internationalen Vertragstexten hat der Begriff nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – insbesondere aber nach dem Ende des Kalten Krieges – auch in nationalstaatlichen Verfassungen weltweit zunehmende Popularität erlangt.246 Insbesondere in den Jahren nach 1990 hat die Zahl der Verfassungen, die die Menschenwürde ausdrücklich einbeziehen, deutlich zugenommen. Man kann sagen, dass die Menschenwürde zu einem fast selbstverständlichen Bestandteil in der jüngeren Verfassungsgebung geworden ist.247 Wie bereits erwähnt, fand 241

Vgl. Maróth, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 158, m. w. N. 242 Maróth, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 158. 243 Maróth, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 158 f., der sich bei seiner Analyse auf Aussagen des chief qadi Jordaniens, Izzeddeen al-Khateeb al Tameemi zur Menschenwürde bezieht. 244 Maróth, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 157. 245 Maróth, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 158. 246 Siehe zum ganzen die umfassende Darstellung der Menschenwürde in nationalen Verfassungstexten bei Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 15 ff. sowie auch die Darstellung bei Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 177, und Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 218 ff. 247 Zu diesem Schluss kommt Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 47, in seiner Analyse der Verfassungen: „Seit dem Jahr 1990 ist bei 56 Verfassungen von den 71 ab diesem Zeitpunkt gesichteten Verfassungstexten der Menschenwürdebegriff teils in Form von Teil- oder Totalrevisionen eines Staates in dessen Verfassungsurkunde von Anfang an implementiert worden. Dies bedeutet in weiteren Zahlen, dass bei gut 73 % der erwähnten Verfassungen der Menschenwürdebezug erst innerhalb der letzten 20 Jahre stattgefunden hat. Seit diesem Zeitpunkt

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die Menschenwürde schon 1937 Eingang in die irische Verfassung. Mittlerweile wird vom irischen Supreme Court ein enger Zusammenhang auch zwischen der Menschenwürde und der Garantie der Gleichheit der menschlichen Person hergestellt.248 Dass die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG als Konstitutionsprinzip und Grundrecht in die deutsche Verfassung aufgenommen wurde,249 führte neben dem Einfluss der AEMR auch in anderen nationalstaatlichen Verfassungen – insbesondere Europas – zur Herausbildung und Entwicklung konkreter Menschenwürdekonzepte.250 Im Folgenden soll anhand ausgewählter Beispiele näher untersucht werden, in welcher Form und mit welchem Gehalt die Menschenwürde Eingang in nationalstaatliche Verfassungen gefunden hat. Um nicht den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen, kann diese Darstellung jedoch nur exemplarisch sein.251 Das im Vergleich zu anderen Verfassungen sehr ausdifferenzierte Menschenwürdekonzept des deutschen Grundgesetzes soll separat in Teil C dargestellt werden. aa) Europäische Verfassungen Wie auch zuvor bereits in Deutschland wurde nach den Erfahrungen von Diktatur und Unrecht in den jeweils neuen Verfassungen von Griechenland (1975), Portugal (1976)252 und Spanien (1978)253 die Menschenwürde in die Verfassungstexte eingefügt. Auch in vielen Staaten Mittel- und Osteuropas wurde die Menschenwürde ist also ein rapider Anstieg des Bekenntnisses zur Achtung der Menschenwürde in Verfassungstexten zu verzeichnen.“ 248 Siehe hierzu näher O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (554 f.). 249 Siehe hierzu ausführlich die Darstellung inTeil C. VII. 250 Vgl. Alting von Geusau, Human dignity and the law in post-war Europe, S. 167. 251 Siehe eine ausführliche Darstellung etwa bei Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 199 ff. 252 Siehe hierzu ausführlich Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, Council of Europe Publishing 1999, S. 33–38, http://www.venice.coe.int/webforms/ documents/?pdf=CDL-STD(1998)026-e, zul. einges. am 01.12.2018. Gleich in Art. 1 der Portugiesischen Verfassung wird die Menschenwürde vorangestellt: „Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und deren Ziel die Errichtung einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft ist.“ Nach Cardoso da Costa, a. a. O., S. 34, soll es sich nicht um ein Grundrecht, sondern vielmehr um ein „value principle that constitutes the very foundation […] on which the fundamental rights listed in the Constitution are based, giving a „unity of meaning“ to the catalogue as a whole.“ Nach der portugiesischen Verfassung stellt der Schutz der Menschenwürde kein eigenständiges Grundrecht dar, dennoch liegt die Menschenwürde den einzelnen grundrechtlichen Garantien der Verfassung zugrunde, vgl. Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33, 34; O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (559). 253 Unter Titel I  – Grundrechte und Grundpflichten  – befindet sich an erster Stelle Art. 10 Abs. 1 der Spanischen Verfassung: „Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Rechte, die ihr innewohnen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Achtung des Gesetzes und der Rechte anderer sind die Grundlagen der politischen Ordnung und des sozialen Friedens.“

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nach 1990 aufgenommen: So etwa in Polen (1997)254 und Ungarn (1989, 2011)255. In Belgien kam es erst 1994 zu einer Aufnahme des Rechts eines jeden, „ein menschenwürdiges Leben zu führen“ in die Verfassung (Art. 23). In Frankreich war die Menschenwürde zunächst nicht Bestandteil der Verfassung. Unter Bezugnahme auf die Präambel der Verfassung von 1946, die bestimmt, dass „tout être humain, sans distinction de race, de religion ni de croyance, possède des droits inaliénables et sacrés“, stellte der Conseil Constitutionnel in einer Ent­ scheidung aus dem Jahre 1994 fest, dass der Schutz der Würde des Menschen „contre toute forme d’asservissement et de dégradation“ ein Prinzip von Verfassungsrang („un principe à valeur constitutionnelle“) sei.256 Zugleich sieht der Conseil Constitutionnel den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Schutzes der Menschenwürde in engem Zusammenhang mit der besonderen Stellung der menschlichen Persönlichkeit sowie der Unantastbarkeit und Unversehrtheit des menschlichen Körpers, der nicht zu den Vermögenswerten zähle.257 Hier findet sich die bereits von Kant formulierte Vorstellung vom Menschen wieder, der keinen Preis hat und vielmehr Zweck an sich selbst ist, womit zugleich die Subjektstellung des Einzelnen zum Ausdruck gebracht wird. In jüngster Zeit nahm der französische Conseil d’Etat sogar eine staatliche Pflicht zum Schutz der menschlichen Würde an.258 In seiner 254 Siehe hierzu ausführlich Lewaszkiewicz-Petrykowska, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, Council of Europe Publishing 1999, S. 8–15, http://www.venice.coe.int/webforms/ documents/?pdf=CDL-STD(1998)026-e, zul. einges. am 01.12.2018. Die Menschenwürde findet sich im Grundrechtekatalog in Kapitel II, Art. 30 der Polnischen Verfassung: „Die Würde des Menschen ist ihm angeboren und unveräußerlich. Sie bildet die Quelle der Freiheiten und Rechte des Menschen und des Staatsbürgers. Sie ist unverletzlich, ihre Beachtung und ihr Schutz ist Verpflichtung der öffentlichen Gewalt.“ 255 Auch nach der neuen Verfassung Ungarns vom 18.04.2011 findet die Würde des Menschen ihren Ausdruck: Art. 2 lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auf Menschenwürde, dem Leben der Leibesfrucht gebührt von der Empfängnis an Schutz.“ Ob es sich bei dieser Formulierung des Menschenwürdesatzes in der Verfassung Ungarns um ein eigenständiges Recht handelt, ist zweifelhaft, vgl. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (559 f.). Die Formulierung lässt vermuten, dass mit dem „Recht auf Menschenwürde“ lediglich klargestellt werden soll, dass jedem Mensch die Menschenwürde zukommt. Damit hat diese Formulierung eher deklaratorischen Charakter, denn aus diesem Wortlaut lassen sich schließlich noch keine Konsequenzen für den Staat im Sinne einer Handlungs- bzw. Unterlassungspflicht entnehmen. Für die Statuierung eines subjektiven Rechts müsste vielmehr ein Recht auf Achtung und / oder Schutz der Menschenwürde formuliert werden. 256 Conseil Constitutionnel, Décision n° 94–343/344 DC, Nr. 2 (27.07.1994). 257 Conseil Constitutionnel, Décision n° 94–343/344 DC, Nr. 18: „Considérant que lesdites lois énoncent un ensemble de principes au nombre desquels figurent la primauté de la personne humaine, le respect de l’être humain dès le commencement de sa vie, l’inviolabilité, l’intégrité et l’absence de caractère patrimonial du corps humain ainsi que l’intégrité de l’espèce humaine; que les principes ainsi affirmés tendent à assurer le respect du principe constitutionnel de sauvegarde de la dignité de la personne humaine […].“ 258 Vgl. hierzu Steinbeis, Der Dschungel von Calais, der Conseil d’Etat und die Menschenwürde, Verfassungsblog, 2015/11/24, http://verfassungsblog.de/der-dschungel-von-calais-derconseil-detat-und-die-menschenwuerde/ (zul. einges. am 01.12.2018).

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Entscheidung vom 23.11.2015 bestätigte der Conseil d’Etat eine richterliche Anordnung, wonach der Staat sich unbegleiteter Minderjähriger in einem Flüchtlingscamp annehmen müsse und in diesen Unterkünften für eine ausreichende sanitäre Versorgung, Müllbeseitigung und Notfallversorgung sorgen müsse.259 Der Conseil d’Etat bezeichnete in diesem Zusammenhang die Achtung der Menschenwürde als Verfassungsprinzip.260 Die Inhaber der Polizeigewalt seien Garanten dieses Verfassungsprinzips und hätten daher dafür Sorge zu tragen, dass kein Mensch einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterzogen wird.261 In der am 01.01.1948 in Kraft getretenen italienischen Verfassung findet die Menschenwürde ausdrücklich nur an einer Stelle Erwähnung – allerdings dort lediglich im Zusammenhang mit dem Handeln der Privatwirtschaft und nicht bezüglich staatlichen Handelns.262 So heißt es in Art. 41: „L’iniziativa economica privata è libera. Non può svolgersi in contrasto con l’utilita; sociale o in modo da recare danno alla sicurezza, alla libertà, alla dignità umana.“ – „Die Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei. Sie darf sich aber nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft oder in einer Weise, die die Sicherheit, Freiheit und menschliche Würde beeinträchtigt, betätigen.“263 In weiteren Artikeln der Verfassung sind jedoch Nennungen enthalten, die dem Begriff der Menschenwürde nahe kommen, so insbesondere die Anerkennung der gleichen gesellschaftlichen Würde (Art. 3), der Respekt vor der menschlichen Person (Art. 32) sowie die freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2.264 Im Vereinigten Königreich besteht kein geschriebenes einheitliches Verfassungsdokument, sondern vielmehr eine Sammlung von Statuten, Gerichtsentscheidungen und Parlamentsgesetzen. Die Menschenwürde hat erst indirekt durch § 1 lit. a des Human Rights Acts von 1998 und die damit einhergehende Inkorporation der in der EMRK verbürgten Rechte in Art. 2 bis 12 und 14 EMRK Eingang in das britische Verfassungsrecht gefunden.265 Der Menschenwürde wird dabei vor allem eine objektiv-rechtliche Dimension im Sinne eines normativen Prinzips zuerkannt.266 In der Rechtsprechung des House of Lords bzw. des Supreme Court of 259

Conseil d’Etat, Ordonnance 23 novembre 2015, Nos 394540, 394568, Rn. 9 (http://www. conseil-etat.fr/Decisions-Avis-Publications/Decisions/Selection-des-decisions-faisant-l-objetd-une-communication-particuliere/Ordonnance-23-novembre-2015-ministre-de-l-interieurcommune-de-Calais; zul. einges. am 01.12.2018) 260 Conseil d’Etat, Ordonnance 23 novembre 2015, Nos 394540, 394568, Rn. 9. 261 Conseil d’Etat, Ordonnance 23 novembre 2015, Nos 394540, 394568, Rn. 9. 262 Siehe den Originalwortlaut sowie eine deutsche Übersetzung der einschlägigen Artikel der italienischen Verfassung bei von der Pfordten, in: Grimm / Longato / Mongardini / Vogt-Spira (Hrsg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft, S. 39 (40 f.). 263 Übers. nach von der Pfordten, in: Grimm / Longato / Mongardini / Vogt-Spira (Hrsg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft, S. 39 (40). 264 Von der Pfordten, in: Grimm / Longato / Mongardini / Vogt-Spira (Hrsg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft, S. 39 (40 f.). 265 Human Rights Act vom 09.11.1998. 266 Calliess, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 142 f.

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the United Kingdom hat die Würde des Menschen vor allem ihren Ausdruck im Zusammenhang mit der Wahrung der persönlichen Identität sowie Fragen der Diskriminierung gefunden. Dabei spielte die EMRK sowie die Rechtsprechung des EGMR eine wichtige Rolle. Der Supreme Court stellte in einem Urteil aus dem Jahre 2013 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR fest, die Würde des Menschen sei vom Recht anerkannt und könne verletzt werden, etwa indem einer Person die Freiheit genommen werde, sich wie andere Personen auch frei zu entfalten, sei es zum Beispiel durch Ausleben der eigenen sexuellen Orientierung als eines der wesentlichen Elemente der Identität einer Person.267 Darüber hinaus wird die Menschenwürde  – unter Verweis auf das in Art. 14 EMRK verankerte Diskriminierungsverbot – in einen engen Zusammenhang mit der Gleichheit des Menschen und diese wiederum mit dem Demokratieprinzip gebracht. Der Gleichbehandlungsgrundsatz sei essenziell für die demokratische Gesellschaft, die auf der Annahme fuße, dass jeder den gleichen Wert besitze.268 Unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich, wonach es sich bei der Menschenwürde um den Kerngehalt der Konvention handelt, kam Baroness Hale of Richmond in einem Urteil des House of Lords im Jahre 2004 bereits zu dem Schluss, dass die Behandlung einer Person als jemand, der weniger Wert besitze als andere, deren Menschenwürde verletze.269 267

Supreme Court of the United Kingdom, Judgement v. 27.11.2013 [2013] UKSC 73 (Bull and other v Hall and other) bezüglich der Weigerung eines christlichen Hotelbesitzers, der von der Sündhaftigkeit außerehelicher sexueller Beziehungen ausgeht, einem gleichgeschlechtlichen Paar ein Zimmer mit Doppelbett zu vermieten. Lady Hale betonte in ihrem Votum: „Sexual orientation is a core component of a person’s identity which requires fulfilment through relationships with others of the same orientation.“ Unter Bezugnahme auf das Votum von Justice Sachs in einer Entscheidung des South African Constitutional Court (1999) könne der Mensch vor dem Hintergrund des „unique worth of each person“ nicht als isoliertes Wesen begriffen werden, sondern vielmehr als ein in sozialen, kulturellen, räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen lebendes Wesen. „The expression of sexuality requires a partner, real or imagined.“ (Rn. 52) „Heterosexuals have known this about themselves and been able to fulfil themselves in this way throughout history. Homosexuals have also known this about themselves but were long denied the possibility of fulfilling themselves through relationships with others. This was an affront to their dignity as human beings which our law has now (some would say belatedly) recognised. Homosexuals can enjoy the same freedom and the same relationships as any others.“ Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR kommt Lady Hale zu dem Schluss: „It is no doubt for that reason that Strasbourg requires „very weighty reasons“ to justify discrimination on grounds of sexual orientation. It is for that reason that we should be slow to accept that prohibiting hotel keepers from discriminating against homosexuals is a disproportionate limitation on their right to manifest their religion.“ 268 Baroness Hale of Richmond in Judgment House of Lords, Ghaidan v. Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, Nr. 131 f. 269 Baroness Hale of Richmond in Judgment House of Lords, Ghaidan v. Godin-Mendoza [2004] UKHL 30, Nr. 131 f.: „The state’s duty under article 14, to secure that those rights and freedoms are enjoyed without discrimination based on such suspect grounds, is fundamental to the scheme of the Convention as a whole. […] Such a guarantee of equal treatment is also essential to democracy. Democracy is founded on the principle that each individual has equal value. Treating some as automatically having less value than others not only causes pain and

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In der neuen Bundesverfassung der Schweiz (BV) vom 18.04.1999270 findet die Menschenwürde gleich an mehreren Stellen Erwähnung. Die bereits 1992 ausdrücklich in die BV aufgenommene Menschenwürde wurde mit Art. 7 der neuen BV dem Grundrechtskatalog vorangestellt („Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“). Zudem findet die Menschenwürde Erwähnung in Bezug auf Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie (Art.  119 Abs. 2 BV), Transplantationsmedizin (Art. 119a Abs. 1 BV) sowie die Forschung am Menschen (Art. 118 Abs. 1 BV). Das Schweizerische Bundesgericht (BG) hat in seiner Rechtsprechung zu Art. 7 BV deutlich gemacht, dass dieser Artikel nach seinem Wortlaut eine „Handlungsanweisung“ enthalte und sich insofern von Art. 1 Abs. 1 des deutschen GG unterscheide, welcher ausdrücklich die Unantastbarkeit der Menschenwürde garantiere.271 Die Menschenwürde sei im staatlichen Handeln ganz allgemein zu achten und zu schützen.272 Allerdings enthält die BV mit Art. 36 Abs. 4 eine Generalnorm für die Einschränkung von Grundrechten, die wiederum bestimmt, dass der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar sei.273 Das Gericht führte weiter aus: „Die Bestimmung hat insofern die Bedeutung eines Leitsatzes für jegliche staat­ liche Tätigkeit, bildet als innerster Kern zugleich die Grundlage der Freiheitsrechte und dient daher zu deren Auslegung und Konkretisierung. In der Doktrin wird die neue Verfassungsbestimmung denn auch als oberstes Konstitutionsprinzip, als Auffanggrundrecht sowie als Richtlinie für die Auslegung von Grundrechten bezeichnet […].“274 Das BG geht also von der Menschenwürde als (Auffang-)Grundrecht aus.275 Das Gericht verwies zudem auf den offenen Gehalt von Art. 7 BV, der sich einer abschließenden positiven Festlegung entziehe, sowie darauf, dass der Menschenwürde für besondere Konstellationen ein eigenständiger Gehalt zukomme.276 Bereits vor der ausdrücklichen Nennung der Menschenwürde hatte das Bundesgericht die Menschenwürde als „allgemeines Schutzobjekt und generelles Verfassungsprinzip“277 bezeichnet und in Beziehung zur persönlichen Freiheit gesetzt sowie sich zu einer Wertordung bekannt, die die Menschenwürde und den Eigenwert des Individuums sicherstellt.278 Zugleich ist in der BV hinsichtlich des Umgangs distress to that person but also violates his or her dignity as a human being. The essence of the Convention, as has often been said, is respect for human dignity and human freedom: see Pretty v United Kingdom (2002) 35 EHRR 1, 37, para 65. Second, such treatment is damaging to society as a whole.“ 270 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.04.1999, in Kraft getreten am 01.01.2000. 271 BGE 127 I 6 S. 14. 272 BGE 127 I 6 S. 14. 273 Vgl. zur Unantastbarkeit der Menschenwürde in der BV: Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (338). 274 BGE 127 I 6 S. 14. 275 Die Grundrechtseigenschaft der Menschenwürde in der BV ist in der Literatur allerdings nach wie vor umstritten, siehe Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (338). 276 BGE 127 I 6 S. 14. 277 BGE 115 Ia 234 E. 10b, S. 269. 278 BGE 97 I 45 E. 3, S. 49.

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mit Keim- und Erbgut von Tieren auch die Rede von der „Würde der Kreatur“, der Rechnung zu tragen sei.279 Die türkische Verfassung bringt die Menschenwürde mit dem Folterverbot in Zusammenhang und betont das Verbot einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Bestrafung oder Behandlung.280 In der Verfassung Russlands (1993) wird der Schutz der Würde der Person betont und zugleich das Folterverbot sowie das Verbot der „die Menschenwürde erniedrigenden Behandlung oder Strafe“ festgeschrieben.281 In einigen wenigen europäischen Verfassungen findet sich die Menschenwürde bislang nicht ausdrücklich normiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht Gegenstand der jeweiligen Verfassungsordnung ist. Am Beispiel Österreichs  – ebenso wie Großbritanniens – wird hierbei die Relevanz der EMRK deutlich: Obwohl dem österreichischen Verfassungsrecht die Menschenwürde zunächst praktisch unbekannt war,282 zählte der Österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) 1993 die Menschenwürdegarantie zu den „allgemeinen Wertungsgrundsätzen unserer Rechtsordnung“283. Der VfGH bezog sich in seiner Entscheidung auf die von Kant herrührende Formel, nach der „kein Mensch jemals als bloßes Mittel für welche Zwecke immer betrachtet und behandelt werden darf“284. In ständiger Rechtsprechung prüft er die in Art. 3 EMRK „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte“. Aufgrund der Völkerrechtsoffenheit Österreichs und des Beitritts Österreichs zur EMRK sowie der Anerkennung des Verfassungsrangs der EMRK konnte die Menschenwürde Eingang in die österreichische Verfassungsordnung finden.285 Der VfGH leitet aus Art. 3 EMRK ein Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ab und geht von dessen Verletzung durch eine dem Staat zuzurechnende Behandlung aus, „wenn ihr eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Missachtung des Betroffenen als Person innewohnt.“286 Wenngleich die Menschenwürde im österreichischen Recht keine ausdrückliche Erwäh 279

Siehe hierzu ausführlicher Teil B. II. 3. Unter dem Unterabschnitt I „Unantastbarkeit, materielle und ideelle Existenz der Person“ des Zweiten Abschnitts lautet Art. 17 Abs. 3 Verfassung der Türkei: „Niemand darf gefoltert und misshandelt werden; niemand darf einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Bestrafung oder Behandlung ausgesetzt werden.“ 281 Art. 21 Abs. 1 der Verfassung Russlands: „Die Würde der Person wird vom Staat geschützt. Nichts kann ihre Schmälerung begründen.“, Abs. 2 S. 1: „Niemand darf der Folter, Gewalt oder einer anderen grausamen oder die Menschenwürde erniedrigenden Behandlung der Strafe unterworfen werden.“ 282 Jedoch erwähnen einige österreichische Landesverfassungen die Menschenwürde, so etwa Art. 1 Abs. 2 Verfassung des Burgenlandes: „Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft.“ 283 VfGH, Erkenntnis v. 10.12.1993, VfSlg. 13635/1993, Nr. IV.1. 284 VfGH, Erkenntnis v. 10.12.1993, VfSlg. 13635/1993, Nr. IV.1. 285 Kirste, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 175 (199 f.). 286 VfGH, Erkenntnis v. 06.03.2014, U 2132/2012, Nr. 2.II. B.2.2.; VfGH, Erkenntnis v. 25.02.1991, B 473/90, Nr. 2.2.3.1., hinsichtlich der Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Schläge ins Gesicht eines Straßenpassanten durch Gummiknüppel im Rahmen einer Demons­ tration. Der Oberste Gerichtshof (OGH) schloss sich der Ansicht des VfGH an, spricht aber 280

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nung findet, ergibt sich etwa aus dem 1812 in Kraft getretenen und nach wie vor gültigen § 16 ABGB, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft über angeborene Rechte verfügt, die seine herausgehobene Stellung begründen und den Einzelnen zur Person machen und daher die Sklaverei und Leibeigenschaft ausschließen. Hier wird das angedeutet, was in anderen Rechtsordnungen ausdrücklich als Menschenwürde bezeichnet wird.287 bb) Die Verfassung der USA Auch in den USA ist die Menschenwürde nicht als positivrechtlich verankerte Verfassungsnorm zu finden. Jedoch greift der US Supreme Court in wichtigen Leitentscheidungen auf die Menschenwürde in seiner Argumentation zurück.288 Das Gericht verband die Menschenwürde vor allem mit dem Fourteenth Amendment der US-Verfassung, das als Due Process Clause allen Bürgern den gleichen Schutz durch die Gesetze gewähren soll und in engem Zusammenhang mit dem Schutz der Freiheit steht. So bezog sich der US Supreme Court in einer Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch289 sowie zur Frage sexueller Selbstbestimmung290 auf die Menschenwürde und machte die enge Verbindung dieser mit dem Schutz der Freiheit sowie insbesondere der Autonomie der Person, der die Möglichkeit gegeben werden müsse, die Wahl zu haben, deutlich.291 Insbesondere das Sexualverhalten sogar von einem „in Art. 3 EMRK festgelegten Recht auf Achtung der Menschenwürde“, OGH, Urt. v. 17.06.1992, 2 Ob 512/92. 287 „§ 16 ABGB: Angeborne Rechte – Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ 288 Siehe zum Ganzen die Darstellung bei Snead, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 386 ff. 289 US Supreme Court, Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U. S. 833 (1992). 290 US Supreme Court, Lawrence v. Texas, 539 U. S. 558, 574 (2003). 291 US Supreme Court, Lawrence v. Texas, 539 U. S. 558, 574 (2003): „In Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U. S. 833 (1992), the Court reaffirmed the substantive force of the liberty protected by the Due Process Clause. The Casey decision again confirmed that our laws and tradition afford constitutional protection to personal decisions relating to marriage, procreation, contraception, family relationships, child rearing, and education. Id., at 851. In explaining the respect the Constitution demands for the autonomy of the person in making these choices, we stated as follows: ‚These matters, involving the most intimate and personal choices a person may make in a lifetime, choices central to personal dignity and autonomy, are central to the liberty protected by the Fourteenth Amendment. At the heart of liberty is the right to define one’s own concept of existence, of meaning, of the universe, and of the mystery of human life. Beliefs about these matters could not define the attributes of personhood were they formed under compulsion of the State.‘ Ibid. Persons in a homosexual relationship may seek autonomy for these purposes, just as heterosexual persons do.“ Mit dieser Entscheidung änderte der US Supreme Court seine bisherige Rechtsprechung, die noch im Jahre 1986 in Bowers v. Hardwick, 478 U. S. 186 (1986) die Vereinbarkeit der Anti-Sodomie-Gesetzgebung des Bundesstaates Georgia mit der Verfassung bejaht hatte.

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als höchstprivate Angelegenheit ebenso wie der höchstprivate Lebensbereich der Wohnung als Teil des Privatlebens einer Person sind aufgrund der ihr als freie Person zukommenden Würde der staatlichen Bestimmung entzogen.292 Der US Supreme Court bezog sich in dieser Entscheidung explizit auch auf die Rechtsprechung des EGMR in der Rs. Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich293, in der es ebenfalls um die Strafbarkeit einverständlicher homosexueller Handlungen ging und der EGMR entsprechende Strafvorschriften als unvereinbar mit Art. 8 EMRK ansah.294 In der Entscheidung United States v. Windsor295 entschied der Supreme Court, dass die restriktive Auslegung des Begriffs der Ehe lediglich bezogen auf zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts nach Section 3 des Defense of Marriage Act (DOMA) nach der Due Process Clause des Fifth Amendments verfassungswidrig sei. Dabei machte der Supreme Court klar, dass dem Einzelnen seine Rechte um der Würde willen garantiert würden: „Responsibilities, as well as rights, enhance the dignity and integrity of the person. And DOMA contrives to deprive some couples married under the law of their State, but not other couples, of both rights and responsibilities.“296 Zugleich formulierte der Supreme Court eine Pflicht des Staates zum Schutz der Persönlichkeit und Würde: „The federal statute is invalid, for no legitimate purpose overcomes the purpose and effect to disparage and to injure those whom the State, by its marriage laws, sought to protect in personhood and dignity.“297 In seinem Grundsatzurteil in der Rs. Obergefell v. Hodges vom 26.06.2015 entschied der Supreme Court, dass die Weigerung bundesstaatlicher Behörden, gleichgeschlechtliche Eheschließungen anzuerkennen oder zuzulassen, nicht mit den Grundrechten der US-Verfassung vereinbar sei.298 Aus den Due Process and Equal Protection Clauses des Fourteenth Amendment der US-Verfassung leitete der Supreme Court unter Verweis auf die jedem nach dem 14. Verfassungszusatz in gleicher Weise zukommenden Würde und Autonomie das fundamentale Recht gleichgeschlechtlicher Paare ab, zu heiraten.299 Wenngleich sich die Menschenwürde nicht aus dem Verfassungstext selbst ergibt, machte der die Mehrheitsmeinung in dieser Entscheidung herstellende Richter Anthony Kennedy die Menschenwürde zum zentralen Anknüpfungspunkt der Argumentation. Das Urteil schließt mit den Worten:

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US Supreme Court, Lawrence v. Texas, 539 U. S. 558, 567 (2003). EGMR, Urt. v. 22.10.1981, Beschw. Nr. 7525/76 (Dudgeon  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 40 f., 63. 294 US Supreme Court, Lawrence v. Texas, 539 U. S. 558, 560, 573, 576 (2003). 295 US Supreme Court, United States v. Windsor, 570 U. S. (2013), No. 12–307. 296 US Supreme Court, United States v. Windsor, 570 U. S. (2013), No. 12–307, S. 22. 297 US Supreme Court, United States v. Windsor, 570 U. S. (2013), No. 12–307, S. 25 f. 298 US Supreme Court, Obergefell et al. v. Hodges, Director, Ohio Department of Health, et al., 576 U. S. (2015), No. 3 ff. 299 US Supreme Court, Obergefell et al. v. Hodges, Director, Ohio Department of Health, et al., 576 U. S. (2015), S. 22 f. Auch hier verwies der Supreme Court wieder darauf, dass sich die fundamental liberties der Due Process Clause auf „certain personal choices central to individual dignity and autonomy, including intimate choices defining personal identity and beliefs“ bezögen (No. 1, S. 10). 293

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„They [die Beschwerdeführer, Anm. d. Verf.] ask for equal dignity in the eyes of the law. The Constitution grants them that right.“300 Der US Supreme Court spricht an dieser Stelle von einem Recht auf gleiche Würde, die den Beschwerdeführern nach der Verfassung zu gewähren ist. Auch hinsichtlich der Frage der Haftbedingungen bezog sich der US Supreme Court auf die Menschenwürde und machte deutlich, dass diese das „basic concept“ sei, das dem im Eighth Amendment niedergelegten Verbot grausamer oder ungewöhnlicher Strafen zugrunde liege.301 Der Respekt vor der allen Menschen innewohnenden Würde sei der Grund für dieses Verbot. Zugleich stellte der US Supreme Court an anderer Stelle klar, dass das Verbot des Eighth Amendments Ausfluss des Grundsatzes der schuldangemessenen Strafe sei und dass sich der Schutz vor grausamen Strafen auch derjenigen Straftäter, die besonders schwerwiegende Straftaten begangen haben, aus der im Eighth Amendment verbürgten Pflicht des Staats ergebe, die Würde aller Personen zu achten.302 Des Weiteren verband der US Supreme Court die Menschenwürde auch mit der Freedom of Speech (First Amendment). So unterstrich das Gericht in der Entscheidung Cohen v. California303 die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit in einer so diversen und bevölkerungsreichen Gesellschaft wie der amerikanischen und verband damit die Hoffnung auf die Herausbildung einer verantwortlichen Bürgerschaft und einem besseren Gemeinwesen, denn „[…] no other approach would comport with the premise of individual dignity and choice upon which our political system rests.“304 Die Rechtsprechung des US Supreme Court lässt erkennen, dass das Gericht die Menschenwürde immer öfter als Auslegungsmaßstab heranzieht. Dies geschieht jedoch nur hinsichtlich bestimmter Rechte und nicht lückenlos.305 Auch wenn es sich bei der Menschenwürde nicht um ein ausdrücklich in der Verfassung benanntes

300 US Supreme Court, Obergefell et al. v. Hodges, Director, Ohio Department of Health, et al., 576 U. S. (2015), S. 28. 301 US Supreme Court, Brown, Governor of California et al. v. Plata et al., 563 U. S. (2011), No. 09–1233: „As  a consequence of their own actions, prisoners may be deprived of rights that are fundamental to liberty. Yet the law and the Constitution demand recognition of certain other rights. Prisoners retain the essence of human dignity inherent in all persons. Respect for that dignity animates the Eighth Amendment prohibition against cruel and unusual punishment. „‚The basic concept underlying the Eighth Amendment is nothing less than the dignity of man.‘“ Atkins v. Virginia, 536 U. S. 304, 311 (2002) (quoting Trop v. Dulles, 356 U. S. 86, 100 (1958) (plurality opinion)).“ (S. 12), „A prison that deprives prisoners of basic sustenance, including adequate medical care, is incompatible with the concept of human dignity and has no place in civilized society.“ (S. 13). 302 US Supreme Court, Roper v. Simmons, 543 U. S. (2005), No. 03–633, S. 6. In dieser Entscheidung kam der Supreme Court zu dem Ergebnis, dass die Verhängung der Todesstrafe an unter Achtzehnjährige unvereinbar ist mit dem Eighth Amendment. 303 US Supreme Court, Cohen v. California, 403 U. S. 15 (1971). 304 US Supreme Court, Cohen v. California, 403 U. S. 15 (1971). 305 Vgl. Kirste, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 175 (212).

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Recht handelt,306 hat sich jedoch spätestens mit der Rechtsprechung in der Rs. Lawrence v. Texas ein Wandel vollzogen. Das Gericht machte deutlich, dass es durchaus einen privaten Lebensbereich gibt, der dem staatlichen Zugriff grundsätzlich entzogen sein muss und der allein der Selbstbestimmung der Person unterliegt.307 Das der US-Verfassung zugrunde liegende Menschenwürdekonzept geht somit von dem Menschen als freie Person aus, dem um seiner Würde willen die Möglichkeit verbleiben muss, Entscheidungen hinsichtlich seines höchstpersönlichen Lebens­ bereichs selbst treffen zu können. Würde zu haben, heißt nach diesem Verständnis, die freie Wahl zu besitzen, in Autonomie handeln und entscheiden zu können. Zwar ist das amerikanische Verfassungsverständnis insbesondere von der Idee individueller Freiheit und dem Schutz des Privatlebens geprägt und unterscheidet sich insoweit von dem eher am Gemeinschaftsinteresse ausgerichteten deutschen Verfassungsverständnis.308 Dies kann aber nicht zu der Annahme führen, dass die Menschenwürde als etwas lediglich aus den Freiheitsrechten Abgeleitetes anzusehen ist.309 Vielmehr werden Menschenwürde und Autonomie, also die Möglichkeit, die freie Wahl zu haben, nach amerikanischem Verfassungsverständnis gleichgesetzt („dignity-as-autonomy model“).310 Dies hat zur Folge, dass die Menschenwürde den Grund und die Rechtfertigung für die Gewährung von Freiheit, Gleichheit und Privatsphäre darstellt. Zugleich findet sie jedoch zum Teil auch ihre Grenzen in der Möglichkeit des Menschen, seine Autonomie auszuüben.311 Der US Supreme Court hat die Annahme von der allen Menschen innewohnenden Würde mittlerweile selbst als ein der US-Verfassung zugrunde liegendes Verfassungsprinzip anerkannt,312 das von der Annahme einer allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Würde geprägt ist. Im Zusammenhang mit der Menschenwürde jedoch nur von einem normativen Grundwert im Sinne eines basic concept, das als anthropologische Prämisse der US-Verfassung zugrunde liegt und nicht 306 Lehnig, Der verfassungsrechtliche Schutz der Würde des Menschen in Deutschland und in den USA, S. 142. 307 A. A. noch unter dem Eindruck der Rechtsprechung des US Supreme Court in der Rs. Bowers v. Hardwick: Lehnig, Der verfassungsrechtlichen Schutz der Würde des Menschen in Deutschland und in den USA, S. 142 f. 308 Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (699). 309 So aber Kirste, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 175 (190). 310 Snead, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 386. 311 Snead, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 386 (393), hinsichtlich des Begriffs Menschenwürde im amerikanischen Recht: „It is a term that is used both to denote an intrinsic characteristic entitling all human beings to at least a bare minimum of respect and protection, and, alteratively, a contingent quality that is premised on the capacity to exercise autonomous choice.“ 312 US Supreme Court, Roper v. Simmons, 543 U. S. (2005), No. 03–633, S. 24: „The document sets forth, and rests upon, innovative principles original to the American experience, such as federalism […] and broad provisions to secure individual freedom and preserve human dignity. These doctrines and guarantees are central to the American experience and remain essential to our present-day self-definition and national identity.“

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über eine bloße Auslegungsmaxime hinausreicht, würde gerade auch vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung des US Supreme Court der US-Verfassung nicht gerecht werden.313 Indem der Gerichtshof 2015 in seinem Urteil in der Rs. Obergefell v. Hodges von einem Recht auf gleiche Würde sprach, deutet sich nun die Herausbildung der Menschenwürde als subjektives Recht an.314 Einige bundesstaatliche Verfassungen nennen die Menschenwürde gar explizit und lassen sogar erkennen, was die Menschenwürdegarantie enthält.315 Die individuellen Freiheitsrechte kommen dem Menschen nach amerikanischem Verständnis gerade aufgrund seiner Eigenschaft als autonomes, selbstbestimmtes Wesen, mithin aufgrund seiner ihm innewohnenden Würde zu. Zugleich kann die Menschenwürde wiederum durch die begrenzte Autonomie des Menschen beschränkt sein, und zwar dort, wo es dem Menschen unmöglich ist, in freier Weise zu wählen.316 cc) Andere außereuropäische Verfassungen Auch andere außereuropäische Verfassungen wie etwa die Verfassungen Südafrikas (1996)317 und Indiens (1950)318 haben die Menschenwürde aufgenommen. Der High Court of Delhi befasste sich – unter Bezugnahme auf Entscheidungen 313

Dies wird unterstrichen durch die Aussage von Justice William Brennan in seinem Aufsatz The Constitution of the United States: Contemporary Ratification, 27 S. Tex. L. Rev. 433, 439 (1985–6), in dem er die US-Verfassung als „sparkling vision of the supremacy of the human dignity of every individual“ bezeichnete (zit. nach O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551, 554). 314 A. A. noch Kirste, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 195. 315 Siehe die Verfassungen von Montana (1972), Louisiana (1974) und Illinois (1970). Diese Verfassungen benennen als Verletzungen der Menschenwürde Diskriminierungen etwa aufgrund der Rasse, Hautfarbe, des Geschlechts, kultureller oder sozialer Herkunft, politischer oder religiöser Überzeugungen etc. 316 Dies soll nach Snead, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human ­Dignity, S. 386, 392 f., in Fällen betreffend den Beginn bzw. das Ende des Lebens der Fall sein: „In both the beginning- and end-of-life contexts discussed above, contingent human dignity is invoked as a normative principle amplifying the moral force of a first-order juridical principle, namely, the liberty to make choices in intimate matters. But, unlike the above-discussed examples of intrinsic dignity (where human dignity was the grounding and justification for l­iberty, equality and privacy), here human dignity depends on her freedom to choose abortion. A patient’s dignity depends on his freedom to decide against a life marked by radical dependency on others. The incapacity to freely choose in these circumstances (because of coercive laws or debiliating disease) destroys the possibility of human dignity.“ 317 Siehe ausführlicher zur Menschenwürde im südafrikanischen Recht: Fagan, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 401ff, demzufolge die Menschenwürde in keiner Rechtsordnung eine größere Rolle spiele als in der südafrikanischen (S. 401). 318 Siehe hierzu Baxi, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 429 ff. In der Präambel findet die Menschenwürde ihre Erwähnung: „We, the people of India, having solemny resolved to constitute India into a sovereign socialist secular democratic republic and to secure to all ist citizens: equality of status and of opportunity; and to promote among them all fraternity assuring the dignity of the individual and the unity and integrity of the Nation […].“

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anderer Gerichte, wie etwa den kanadischen Supreme Court319 – mit der Menschenwürde sowie mit Fragen der Privatsphäre.320 Nach dieser Entscheidung sah der Gerichtshof eine Strafnorm, die einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts kriminalisiert (Section 377 Indian Penalty Code), als eine Verletzung der Menschenwürde und damit als verfassungswidrig an. Der High Court of Delhi bezog sich in seiner Entscheidung auf die in der Präambel zur indischen Verfassung benannte Menschenwürde und legte seiner Entscheidung ein stark am Kantischen Menschenwürdebegriff orientiertes Verständnis zugrunde, das neben der physischen und psychischen Integrität die Freiheit des Einzelnen betont, die Wahl zu haben: „At its least, it is clear that the constitutional protection of dignity requires us to acknowledge the value and worth of all individuals as members of our society. […] At the root of the dignity is the autonomy of the private will and a person’s freedom of choice and of action. Human dignity rests on recognition of the physical and spiritual integrity of the human being, his or her humanity, and his value as a person, irrespective of the utility he can provide to others.“321 Diese Entscheidung wurde jedoch vom Supreme Court of India mit Urteil vom 11.12.2013 aufgehoben und Section 377 IPC als verfassungsgemäß bezeichnet.322 Insbesondere hob der Supreme Court in seiner Urteilsbegründung darauf ab, dass der High Court of Delhi sich in seiner Entscheidung extensiv auf Rechtsprechung nichtindischer Gerichte bezogen habe. Diese Entscheidungen könnten aber nicht ohne Weiteres zur Feststellung der Verfassungsmäßigkeit indischer Gesetze herangezogen werden.323 2018 befasste sich der Supreme Court dann erneut mit der Verfassungsmäßigkeit von Section 377 IPC. Der Gerichtshof stellte in seiner Entscheidung vom 06.09.2018 fest, dass die Strafbarkeit einvernehmlicher sexueller Handlung zweier Erwachsener gleichen Geschlechts gegen die Verfassung verstößt.324 Dies begrün 319 Der High Court of Delhi, Naz Foundation v. Govt. of NCT of Delhi, Urt. v. 02.07.2009, WP (C) No. 7455/2001, 28, zitierte die Entscheidung des Canadian Supreme Court, Law v. Canada (Ministry of Employment and Immigration), 1999 1 S. C. R. 497, § 53, mit folgenden Worten: „Human dignity means that an individual or group feels self-respect and self-worth. It is concerned with physical and psychological integrity and empowerment. Human dignity is harmed by unfair treatment premised upon personal traits or circumstances which do not relate to individual needs, capacities, or merits. It is enhanced by laws which are sensitive to the needs, capacities, and merits of different individuals, taking into account the context underlying their differences. Human dignity is harmed when individuals and groups are marginalized, ignored, or devalued, and is enhanced when laws recognise the full place of all individuals and groups within Canadian society.“ 320 High Court of Delhi, Naz Foundation v. Govt. of NCT of Delhi, Urt. v. 02.07.2009, WP (C) No. 7455/2001, 26. 321 High Court of Delhi, Naz Foundation v. Govt. of NCT of Delhi, Urt. v. 02.07.2009, WP (C) No. 7455/2001, 26. 322 Supreme Court of India, Urt. v. 11.12.2013, Civil Appellate Jurisdiction, Civil Appeal No. 10972 of 2013. 323 Supreme Court of India, Urt. v. 11.12.2013, Civil Appellate Jurisdiction, Civil Appeal No. 10972 of 2013, Nr. 52. Der Supreme Court stellte dem indischen Gesetzgeber jedoch frei, die betreffende Strafnorm zu ändern. 324 Supreme Court of India, Urt. v. 06.09.2018, Writ Petition (Criminal) No. 76 of 2016 (Navtej Johar v Union of India), Nr. 97.

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dete der Supreme Court ebenso wie bereits der High Court of Delhi mit dem sich aus Art. 21 der Verfassung ergebenden Recht auf Leben und persönliche Freiheit und dem sich daraus ergebenden „concept of identity“.325 Dieses der Verfassung zugrundeliegende Identitätskonzept sei geprägt von der Verbindung zwischen den Menschenrechten „and the constitutional guarantee of right to life and liberty with dignity.“326 Kern dieses Identitätskonzepts sei die Selbstbestimmung des Einzelnen.327 Auch unter Bezugnahme auf andere Rechtsordnungen machte der Gerichtshof in seiner Entscheidung deutlich, was seiner Meinung nach das Wesen der Menschenwürde ausmacht. Danach sei das Recht auf ein Leben in Würde als Menschenrecht anerkannt und die Würde jedes Einzelnen zu schützen: „The right to live with dignity has been recognized as a human right on the international front and by number of precedents of this Court and, therefore, the constitutional courts must strive to protect the dignity of every individual, for without the right to dignity, every other right would be rendered meaningless. Dignity is an inseparable facet of every individual that invites reciprocative respect from others to every aspect of an individual which he / she perceives as an essential attribute of his / her individuality, be it an orientation or an optional expression of choice.“328

Unter dem Eindruck massiven Unrechts entstanden, benennt die Verfassung der Republik Südafrika die Menschenwürde sowohl als einen der Werte, auf dem die Republik Südafrika gegründet wurde,329 als auch als einen der drei Werte neben Gleichheit und Freiheit, die von der Bill of Rights bekräftigt werden.330 Dies bedeutet laut südafrikanischer Verfassung, dass die Menschenwürde (ebenso wie Freiheit und Gleichheit) bei der Auslegung eines der in der Bill of Rights verankerten Grundrechte zugrunde gelegt werden muss.331 Daher hat der African Constitutional Court die Menschenwürde etwa im Rahmen der Auslegung des Verbots grausamer, 325

Supreme Court of India, Urt. v. 06.09.2018, Writ Petition (Criminal) No. 76 of 2016 (Navtej Johar v Union of India), Nr. 253. 326 Supreme Court of India, Urt. v. 06.09.2018, Writ Petition (Criminal) No. 76 of 2016 (Navtej Johar v Union of India), Nr. 253. 327 Supreme Court of India, Urt. v. 06.09.2018, Writ Petition (Criminal) No. 76 of 2016 (Navtej Johar v Union of India), Nr. 253. 328 Supreme Court of India, Urt. v. 06.09.2018, Writ Petition (Criminal) No. 76 of 2016 (Navtej Johar v Union of India), Nr. 259. 329 Art. 1 lit. a Verfassung der Republik Südafrika. 330 Art. 7 Abs. 1 Verfassung der Republik Südafrika. 331 Art.  39 Abs. 1 lit.  a Verfassung der Republik Südafrika: „When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum must promote the values that underlie an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom […].“ Fagan, in: Düwell (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 401, 403, führt aus, dass dem Constitutional Court zufolge spielt die Menschenwürde als Wert „a primary, and not merely a secondary, role in the common law’s development.“ Auch bei der Interpretation von statutes und bei der Entwicklung von customary law besteht nach Ansicht des Constitutional Courts „an obligation to ‚promote the spirit, purport and objects of the Bill of Rights‘ […]. The Constitutional Court has held, reasonably enough, that the obligation to promote the spirit, purport and objects of the Bill of Rights when engaged in any of these three activities, entails an obligation to promote the value of dignity (as well as the values of freedom and equality).“

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unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit der Person, des Verbots der Diskriminierung, des Rechts auf Zugang zu angemessener Behausung, des Rechts auf Achtung der Privatsphäre,332 auf Gleichbehandlung,333 auf Gewährung von Sozialleistungen, auf kulturelle Teilhabe sowie des Rechts auf ein faires Verfahren herangezogen.334 Zugleich ist die Menschenwürde als eigenständiges subjektives Recht verbürgt, das die jedem innewohnende Würde respektiert und schützt.335 Ausdrücklich wird die Menschenwürde in der Verfassung im Zusammenhang mit Haftbedingungen genannt.336 Auch der Constitutional Court orientiert sich bei der Bestimmung dessen, was als Menschenwürde im Sinne der Verfassung Südafrikas zu verstehen ist, überwiegend an dem Menschenwürdebegriff bei Kant.337 Wenngleich der Menschenwürde damit nach der Verfassung Südafrikas eine Rolle im Sinne eines objektiv-rechtlichen Wertefundaments zukommt und sie zugleich als subjektives Recht anerkannt ist, sie so-

332 Die Privatphäre und Würde des einzelnen wird auch vom Constitutional Court of South Africa im Zusammenhang mit der Frage nach sexueller Selbstbestimmung und Homosexualität verbunden, vgl. Constitutional Court of South Africa, National Coalition for Gay and Lesbian Equality and Another v. Minister of Justice and Others, CCT 11/98 (Entsch. v. 09.10.1998), Nr. 32: „Privacy recognizes that we all have a right to a sphere of private intimacy and autonomy which allows us to be establish and nature human relationships without interference from the outside community. The way in which we give expression to our sexuality is at the core of this area of private intimacy.“ Auch der Constitutional Court unterstreicht die Bedeutung der Selbstbestimmung in diesem Zusammenhang: „The expression of sexuality requires a partner, real or imagined. It is not for the state to choose or to arrange the choice of a partner, but for the partners to choose themselves.“ 333 Bezogen auf die Anerkennung homosexueller Partnerschaften: Constitutional Court of South Africa, Minister of Home Affairs and Another v. Fourie and Another, CCT 60/04 (Entsch. v. 01.12.2005), Nr. 48: „The way the words dignity, equality and privacy later came to be interpreted by this Court showed that they in fact turned out to be central to the way in which the exclusion of same-sex couples from marriage came to be evaluated. In a long line of cases, most of which were concerned with persons unable to get married because of their sexual orientation, this Court highlighted the significance for our equal jurisprudence of the concepts and values of human dignity, equality and freedom.“ 334 Fagan, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 401 (402 f.), mit Rechtsprechungsnachweisen. 335 Art. 10 Verfassung der Republik Südafrika: „Everyone has inherent dignity and the right to have their dignity respected and protected.“ Vgl. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (559), der die Menschenwürdegarantie mit der in Deutschland als „extremely similar“ ansieht. 336 Art. 35 Abs. 2 lit. e Verfassung der Republik Südafrika. 337 Vgl. Fagan, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 401 (404), mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Constitutional Court: „It ist true that the South African Constitutional Court, in a number of judgments over a number of years, has endorsed the following more-or-less Kantian set of propositions about human dignity: (1) Human dignity is the value inherent in every human being (the value every human being has simply by virtue of being human). (2) This value is infinite and consequently incomparable with other values. (3) This value, since it is both inherent and infinite, is equal for all human beings, regardless of their character or conduct. (4) Human beings, as objects of value, deserve respect. (5) Human beings, as objects of equal value, deserve equal respect. (6) Human dignity, so understood, is the foundation of most (possibly all) of the rights in the Bill of Rights.“

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mit sowohl eine objektiv-rechtliche wie auch eine subjektiv-rechtliche Dimension aufweist, hat der Constitutional Court die Absolutheit der Menschenwürdegarantie verneint und eine Abwägbarkeit mit Rechten anderer bejaht.338 Da für das jeweilige nationalstaatliche Verständnis der Menschenwürde historische Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen, ist für das südafrikanische Menschenwürdeverständnis aufgrund der Rassismuserfahrungen insbesondere das Gebot der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zentraler Anknüpfungspunkt.339 In Israel existiert kein geschriebenes einheitliches Verfassungsdokument, jedoch eine Anzahl von sogenannten Basic Laws, darunter auch das Basic Law – Human Dignity and Liberty. Section 1a dieses Basic Laws bestimmt: „The purpose of this Basic Law is to protect human dignity and liberty, in order to anchor in a Basic Law the values of the State of Israel as a Jewish and democratic state.“ Darüber hinaus ist ein Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde anerkannt. Section 2 Basic Law – Human Dignity and Liberty – bestimmt: „There shall be no violation of the life, body or dignity of any person as such.“ Section 4 Basic Law – Human Dignity and Liberty – ergänzt: „All persons are entitled to protection of their life, body, and dignity.“ Der Supreme Court of Israel bekräftigte, dass die Menschenwürde einen Status als „constitutional super-legislative right in our legal system“ hat und eine doppelte Pflicht des Staats enthält: Zum einen die sich aus Section 2 ergebende Pflicht, nicht die Würde eines Menschen zu verletzen, sowie die sich aus Setion 4 ergebende Pflicht, die Menschenwürde zu schützen.340 Die Menschenwürde ist nach israelischem Recht – dies hat der Supreme Court ausdrücklich betont – nicht ein bloßer Grundsatz oder ein Ideal, das interpretationsleitend ist, sondern ein subjektives Recht.341 Zu diesem Recht zählt der Supreme Court nicht nur ein Recht auf Gleichbehandlung342 sondern auch das Recht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums, denn, um ein Leben in Würde zu führen, bedürfe es auch einer gesicherten physischen Existenz.343 Darüber hinaus kommt 338 Fagan, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 401 (404 f.), mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Constitutional Court. 339 Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (385). 340 Supreme Court of Israel, Commitment to Peace and Social Justice v. Minister of Finance, HCJ 366/03 (Entsch. v. 12.12.2005), Nr. 12. 341 Supreme Court of Israel, Commitment to Peace and Social Justice v. Minister of Finance, HCJ 366/03 (Entsch. v. 12.12.2005), Nr. 12: „Sections 2 and 4 of the Basic Law: Human Dignity and Liberty provide a constitutional-legal norm, like every other (constitutional) legal norm. The role of the court is to interpret it according to its purpose, so that ‚every organ of government‘ will be able to uphold it. Indeed, the Basic Law does not merely declare ‚policy‘ or ‚ideals‘ […]. The Basic Law does not merely delineate a ‚plan of operation‘ or a ‚purpose‘ for the organs of government […]. It does not merely provide an ‚umbrella concept‘ with interpretive application […]. Sections 2 and 4 of the Basic Law provide a right – a right that guarantees human dignity. This right corresponds with the duty of the organs of government to respect it (s. 11).“ 342 Supreme Court of Israel, Hupert v. Yad Vashem, HCJ 5394/92. 343 Supreme Court of Israel, Commitment to Peace and Social Justice v. Minister of Finance, HCJ 366/03 (Entsch. v. 12.12.2005), Nr. 15, „This is the outlook according to which the right to live with dignity is the right that  a person should be guaranteed  a minimum of material

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der Menschenwürde vor allem die Rolle zu, die Lücken des nur rudimentär vorhandenen Grundrechtskatalogs zu füllen bzw. neue Rechte zu generieren.344 In China konnte sich seit der Gründung der Volksrepublik 1949 bis heute ein demokratisches Staatsverständnis, das die fundamentalen Rechte des Einzelnen in der Verfassung garantiert, nicht durchsetzen.345 Das von staatlicher Intervention geprägte parteizentrierte Staatsverständnis ist nicht selten von staatlichen Übergriffen auf die physische und psychische Integrität seiner Bürger geprägt und lässt eine Achtung oder gar den Schutz menschlicher Würde vermissen.346 Nichtsdestotrotz lässt sich jedoch eine Tendenz erkennen, dass das Konzept fundamentaler Menschenrechte zunehmend debattiert wird.347 g) Die Menschenwürde als allgemeiner Rechtsgrundsatz Fraglich ist, ob nicht die Menschenwürde auch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut („the general principles of law recognized by civilized nations“)348 darstellt. Bei dieser dritten in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut genannten Kategorie von Rechtsquellen handelt es sich ihrem Ursprung nach um völkerrechtsfremde Normen, die nicht in einem völkerrechtlichen Rechtssetzungsverfahren entstanden sind,349 aber dennoch in das Völkerrecht einzubeziehen sind, weil sie in innerstaatlichen Rechtsordnungen der Staaten entstanden sind.350 Bezüglich Inhalt und Rechtsfolgen weisen diese fundamentalen Regeln eine weitgehende Gleichartigkeit auf.351 Anders als beim Völkergewohnheitsrecht (Art.  38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut), das sich aus der Staatenpraxis im Hinblick auf die unmittel­baren Beziehungen zwischen den Staaten ergibt, ist für die Verbindlichkeit allgemei-

means, which will allow him to subsist in the society where he lives.“; Nr. 16: „Human Dignity and Liberty gives rise to the duty to maintain a system that will ensure a ‚protective net‘ for persons in society with limited means, so that their physical position does not reduce them to a lack of subsistence. Within the framework, it must ensure that a person has enough food and drink in order to live; a place to live in which he can realize his privacy and his family life and be protected from the elements; tolerable sanitation and medical services, which will ensure him access to the facilities of modern medicine.“ 344 Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (385). 345 Keller, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 414. 346 Keller, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 414 (419). 347 Keller, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 414 (419 f.). 348 Dem Begriff „civilized nations“ als ursprüngliche Abgrenzung zu Rechtsordnungen, die als „primitiv“ angesehen wurden, kommt dabei in heutiger, nicht mehr von einem euro-amerikanisch geprägten Völkerrecht keine weitere Bedeutung mehr zu, sondern soll alle Staaten der Internationalen Gemeinschaft umfassen, vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 2. 349 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 1. 350 Doehring, Völkerrecht, § 6 Rn. 408. 351 Doehring, Völkerrecht, § 6 Rn. 408 f.

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ner Rechtsgrundsätze keine gleichlautende Staatenpraxis erforderlich.352 Vielmehr handelt es sich dabei um parallel in den nationalen Rechtsordnungen entstandene fundamentale Regeln, die für die nationalen Rechtsordnungen grundlegende Bedeutung haben353 oder Leitprinzipien dieser Rechtsordnungen darstellen und aufgrund ihres Regelungsbereichs auf das Völkerrecht übertragbar sind.354 Mit der Abkehr von einem rein an den zwischenstaatlichen Beziehungen ausgerichteten Völkerrecht und einer zunehmenden Bedeutung der Stellung des Individuums auf der Ebene des Völkerrechts zeichnete sich eine deutliche Tendenz ab, wonach das Verhältnis zwischen Staat und Individuum in den allermeisten Rechtsordnungen von einer Anerkennung von Grund- bzw. Menschenrechten geprägt ist, hier also eine gleichlaufende Entwicklung ausgemacht werden kann.355 Gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlangte die Menschenwürde nicht nur auf der Ebene des Völkerrechts, sondern weltweit in immer mehr nationalen Rechtsordnungen grundlegende Bedeutung. Zunehmend bildete sich die Menschenwürde als normativer Ausgangspunkt für den Schutz grundlegender Menschenrechte heraus. Die Menschenwürde stellt als Grund und Zweck zumindest des humanitären Völkerrechts sowie des internationalen Menschenrechtsschutzssystems zugleich deren Kern dar.356 Die Menschenrechte leiten sich gerade aus den Prinzipien her, die der Idee des Rechts und allen Rechtssystemen innewohnen und die auf der Natur des Menschen als vernunftbegabtem und sozialem Wesen aufbauen.357 Eines dieser zentralen Prinzipien – dies wird auch die folgende Untersuchung der Menschenwürde als universelles Rechtsprinzip noch näher verdeutlichen – ist das der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde. Dieses ist als allgemeiner Rechtsgrundsatz

352 So explizit an der Möglichkeit einer zwingenden Mindestrespektierung der Menschenwürde als allgemeinen Rechtsgrundsatz festmachend: Doehring, Völkerrecht, § 3 Rn. 282; ebenso Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte und der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht, S. 107. 353 Doehring, Völkerrecht, § 6 Rn. 409; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 3. 354 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 18 Rn. 3. 355 So auch Doehring, Völkerrecht, § 6 Rn. 409. 356 Vgl. Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte und der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht, S. 107 f., der in diesem Zusammenhang auf die folgende Feststellung des International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia in dessen Urt. v. 10.12.1998, IT-95–17/1-T, Prosecutor v. Furundzija, verweist: „The essence of the whole corpus of international humanitarian law as well as human right law lies in the protection of the human dignity of every person, whatever his or her gender. The general principle of respect for human dignity is the basic underpinning and indeed the very reason d’être of international humanitarian law and human rights law; indeed in modern times it has become of such paramount importance as to permeate the whole body of international law. This principle is intended to shield human beings from outrages upon their personal dignity, whether such outrages are carried out by unlawfully attacking the body or by humiliating and debasing the honour, the self-respect or the mental well being of a person.“ 357 Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte und der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht, S. 107.

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geeignet, den internationalen Menschenrechtsschutz als kohärentes Schutzsystem zu begründen. h) Zwischenergebnis Die nationalstaatlichen Verfassungen lassen sich zum einen danach unterscheiden, an welcher Stelle sie die Menschenwürde integriert haben bzw. welche recht­ liche Bedeutung ihr im jeweiligen Verfassungsgefüge eingeräumt wird. So benennen nicht wenige Verfassungen die Menschenwürde lediglich in ihrer Präambel. Dies schmälert aber nicht unbedingt die Bedeutung der Menschenwürde für die jeweilige Verfassung, denn Präambeln können durchaus rechtlich-normative Wirksamkeit entfalten.358 Zumindest aber sind sie für die Auslegung der einzelnen Verfassungsnormen heranzuziehen; sie haben mithin zumindest eine interpretationsleitende Wirkung. Einige wenige Verfassungen stellen die Menschenwürde der gesamten Verfassung voran bzw. rücken sie wie das deutsche Grundgesetz an die oberste Stelle ihres Grundrechtskatalogs. Schon durch diese exponierte Stellung wird die besondere Bedeutung, die der Menschenwürde eingeräumt wird – zum Teil sogar als tragendes Konstitutionsprinzip – zum Ausdruck gebracht.359 Mehrere Verfassungen stellen die Menschenwürde in einen Zusammenhang mit einzelnen Grundrechten. Hierbei lässt sich erkennen, dass die Menschenwürde sowohl in nationalstaatlichen Verfassungen als auch in internationalen oder regionalen Menschenrechtsverträgen immer wieder mit den gleichen Fragestellungen verbunden wird. Insbesondere wird die Menschenwürde mit dem Folterverbot, dem Verbot der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sowie dem Freiheitsentzug in Verbindung gebracht.360 Gerade diese Nähe zum Folterverbot und zum Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterstreicht die Annahme, dass es sich bei der Folter und anderen grausamen Behandlungsmethoden um die Verletzung eines grundlegenden Aspekts der menschlichen Persönlichkeit und mithin der Menschenwürde geht, nämlich um die physische und psychische Integrität des Menschen.361 Da die Folter – wie es bereits die UN-Antifolterkonvention in Art. 1 Abs. 1 definiert – häufig darauf abzielt, von dem 358

Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 22. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 25 f. 360 Vgl. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 31; Herbert, EuGRZ 2014, 661 (661). In den Normierungen des Folterverbots und der unmenschlichen Behandlung ist in Art. 3 EMRK ebensowenig wie in Art. 4 GRCh das Merkmal der Grausamkeit benannt. 361 Vgl. Luban, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 446 f.; Clapham, zit. nach McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (686), sieht das Verbot „of all types of inhuman treatment, humiliation, or degradation by one person over another“ als einen von vier Aspekten der Menschenwürde. Ebenso der Canadian Supreme Court, Law v. Canada (Minister of Employment and Immigration), Nr. 53, zit. nach Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 315: „What is dignity? […] It is concerned with physical and psychological integrity and empowerment.“ 359

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Gefolterten oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen bzw. sie einzuschüchtern oder zu nötigen,362 ist sie darauf gerichtet, mithilfe einer zweckgerichteten zwangsweisen Behandlung unmittelbar auf das „forum internum“ – den inneren Ort der Selbstzwecksetzung – eines Menschen zuzugreifen und damit in die Selbstbestimmtheit des Einzelnen einzugreifen.363 Dem Einzelnen wird damit seine Eigenständigkeit und damit die ihm aufgrund seiner Menschenwürde gebührende Anerkennung seiner Stellung als Rechtssubjekt aberkannt. Ganz im Sinne der Auffassung Kants wird der jedem Menschen in gleicher Weise zukommende Achtungsanspruch verweigert und der Einzelne zum bloßen Objekt degradiert.364 Er wird somit zum bloßen Mittel etwa der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen ihrer Ermittlungstätigkeit oder anderer staatlicher Einrichtungen herabgesetzt und seiner Selbstzweckhaftigkeit, mithin seiner Subjektstellung beraubt. Indem versucht wird, mithilfe der Folter durch physische oder psychische Qualen die Willensfreiheit des Menschen zu brechen, um sich einem fremden Willen unterzuordnen, wird die Menschenwürde negiert.365 In einem Rechtsstaat kann es mithin gar keine Zulässigkeit der Folter geben, ohne dass der Rechtsstaat selbst infrage gestellt würde. Dies zeigt, dass vielfach in nationalstaatlichen Rechtsordnungen sowie auf internationaler Ebene mithilfe der Menschenwürde die Subjektstellung des Einzelnen begründet wird und zugleich ein Verbot, den Menschen als bloßes Objekt zu missachten bzw. zu instrumentalisieren, statuiert wird.366 Vor dem Hintergrund des Folterverbots sowie des Verbots der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung lässt sich aus der Menschenwürde somit auch das Verbot der Demütigung – sei es nun seelischer oder körperlicher Art – ableiten.367 Aus diesem Grunde wird die Menschenwürde vielfach mit „humanity“ beschrieben, also einer mensch 362 „(1) For the purposes of this Convention, the term „torture“ means any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally inflicted on a person for such purposes as obtaining from him or a third person information or a confession, punishing him for an act he or a third person has committed or is suspected of having committed, or intimidating or coercing him or a third person, or for any reason based on discrimination of any kind, when such pain or suffering is inflicted by or at the instigation of or with the consent or acquiescence of a public official or other person acting in an official capacity.“ 363 Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 75. Ebenso auch von der Pfordten, Menschenwürde, S. 62 f. 364 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). 365 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663); von der Pfordten, Menschenwürde, S. 62 f. 366 So insbesondere in der Rechtsprechung des BVerfG, das die sog. Objektformel zu einem zentralen Anknüpfungspunkt ihrer Rechtsprechung zu Art. 1 Abs. 1 GG gemacht hat: E 27, 1, 6; weitere Nachweise aus anderen Rechtsordnungen bei Mahlmann, EuR 2011, 469 (480, dort Fn. 83). 367 Vgl. McCrudden, EJIL, 19 (2008), S. 655 (685), der auf Andrew Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors (2006), S. 545 f., verweist und diesen wie folgt zitiert: „Concern for human dignity has at least four aspects: (1) the prohibition of all types of inhuman treatment, humiliation, or degradation by one person over another; (2) the assurance of the possibility for individual choice and the conditions for ‚each individual iss elf-fulfilment‘, autonomy, or self-realization; (3) the recognition that the protection of group-identity and culture may be essential for the protection of personal dignity; (4) the creation of the necessary conditions for each individual to have their essential needs satisfied.“

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lichen Behandlung bzw. einer Mitmenschlichkeit368 und etwa eine Verletzung der Menschenwürde im Falle einer „verächtlichen Behandlung“ angenommen.369 So wird nicht selten auch eine Verbindung zwischen der Menschenwürde und dem im humanitären Völkerrecht verankerten principle of humanity hergestellt.370 Auch die Todesstrafe wird wiederholt mit der Menschenwürde in Verbindung gebracht und eine Vereinbarkeit verneint.371 So findet die Menschenwürde etwa Erwähnung im 13. Protokoll zur EMRK bezüglich der Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen.372 Dort heißt es gleich zu Beginn der Präambel: „[…] Convinced that everyone’s right to life is a basic value in a democratic society and that the abolition of the death penalty is essential for the protection of this right and for the full recognition of the inherent dignity of all human beings […].“

Nach dem modernen Staatsverständnis, das von der Vorstellung geprägt ist, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt, kann es eine Rechtfertigung für die Todesstrafe nicht geben, denn schließlich werden die Opfer durch die Tat instrumentalisiert.373 Dies ergibt sich schon aus der oben festgestellten Unvereinbarkeit der Folter mit der Menschenwürde. Wird bei der Folter der Mensch zum bloßen Mittel, zum Objekt etwa der Strafverfolgungsbehörden mißbraucht, wird er bei der Todesstrafe seiner Selbstzweckhaftigkeit, mithin seiner Subjekt­ 368

Barak, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 361 (378); O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (563) spricht von der „inherent nature as a hallmark of humanity“ der Menschenwürde. Auch der Nationale Ethikrat Deutschlands verbindet in seiner Stellungnahme „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ (Juli 2006), abrufbar unter: http://www. ethikrat.org/dateien/pdf/selbstbestimmung-und-fuersorge-am-lebensende.pdf, zul. einges. am 01.12.2018, die Menschenwürde mit dem Grundsatz der Humanität. Bezüglich einer „Pflicht zum Weiterleben unter heftigsten Schmerzen“ merkt der Nationale Ethikrat an: „Das aber wäre nicht nur ethisch kaum zu rechtfertigen, sondern stünde auch mit den Prämissen unserer Rechtsordnung nicht in Einklang, die der Selbstbestimmung des Einzelnen hohen Rang einräumt und insbesondere mit der Garantie der Menschenwürde eine Verpflichtung zur Humanität eingegangen ist.“ (S. 60). 369 BVerfGE 30, 1 (26): „Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine „verächtliche Behandlung“ sein.“ Siehe hierzu ausführlicher: Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 61. 370 So verbietet etwa Art. 3 Abs. 1 lit. c der Genfer Konventionen (1949) „outrages upon personal dignity, in particular humiliating and degrading treatment“. Siehe weitere Nachweise bei 3rd report of the Special Rapporteur, 62nd session (2010), U. N. Doc. A / CN.4/629, Nr. 51. 371 Vgl. Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 239 ff. 372 Protocol No. 13 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning the abolition of the death penalty in all circumstances, vom 03.05.2002, in Deutschland in Kraft seit 01.02.2005; SEV-Nr.: 187. 373 Stoecker, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 90 (99). Siehe zur Todesstrafe auch im Zusammenhang mit der Menschenwürde auch: Fischer, Todesstrafe – Warum der Staat seine Bürger nicht töten darf, in: ZEITonline v. 17.02.2015, http://www.zeit. de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/abschaffung-lebenslange-freiheitsstrafe-todesstrafe/ komplettansicht, zul. einges. am 01.12.2018.

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stellung beraubt und zu Vergeltungs- bzw. Abschreckungsabsichten des Staats instrumentalisiert und damit zum bloßen Objekt staatlichen Interesses.374 Darüber hinaus wird die Menschenwürde in den Verfassungen häufig mit den Begriffen Freiheit, Gleichheit und Demokratie verbunden. Dass die Würde mit der Freiheit und Autonomie des Einzelnen in Zusammenhang gebracht wird,375 wird zum Teil aber auch kritisiert.376 Häufig diskutierte Aspekte sind Fragen hinsichtlich der sexuellen Orientierung sowie der Geschlechtsidentität,377 des Schwangerschaftsabbruchs378 sowie der Sterbehilfe379. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Menschenwürde sowohl von Befürwortern wie auch von Gegnern als Argument angeführt wird und die relative Vagheit des Menschenwürdebegriffs einer eindeutigen Entscheidung dieser Konflikte eher abträglich erscheint.380 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass trotz dieser Vagheit, der Menschenwürdebegriff in unterschiedlichen Kulturkreisen weltweit in Bezug auf ethisch sensible Fragen herangezogen worden ist und zu einem nicht selten ähnlichen Ergebnis geführt hat – und dies nicht zuletzt auch aufgrund der gegenseitigen Bezugnahme der Gerichte über (Kultur-) Grenzen hinweg.381 Des Weiteren wird die Menschenwürde auf Aspekte des Privat- und Familienlebens382 und der sozialen Sicherheit383 bezogen. Insbesondere da die Menschenwürde überwiegend als etwas jedem Menschen Angeborenes und in gleicher Weise Zukommendes in den meisten Verfassungen angesehen wird, wird in einigen Verfassungen mit der Menschenwürde das Gebot der Gleichbehandlung sowie der Schutz vor Diskriminierung384 begründet.385 374

Vgl. Stoecker, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 90 (99). McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (685). 376 Vgl. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (565 ff.): „[…] domestic constitutional provisions and adjudications should distinguish between the right to personal autonomy and self-determination and the underlying principle of human dignity from which it derives.“ 377 Vgl. Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 229 f. 378 Vgl. Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 231 ff. 379 Vgl. Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 243 ff. 380 In diesem Sinne Siegel, ICON 10 (2012), 355 (377 f.), der sich dabei auf die Abtreibung sowie die gleichgeschlechtliche Ehe bezieht. 381 Vgl. etwa die Rechtsprechung des High Court of Delhi in der Entscheidung Naz Foundation v. Govt. of NCT of Delhi, Urt. v. 02.07.2009, WP (C) No. 7455/2001, 26, mit der ähnlich argumentierenden Entscheidung des Supreme Court of the United Kingdom, Judgement v. 27.11.2013 [2013] UKSC 73 (Bull and other v Hall and other). 382 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 34. 383 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 35 f.; vgl. auch Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 241 ff.; McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (685 f.). 384 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 38; McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (685). 385 Vgl. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (555 m. w. N.), der von einem „equal treatment and respect aspect“ der Menschenwürde als „perhaps the most universally recognized aspect of human dignity“ (S. 560) spricht. Diesen wichtigen Aspekt des in westlichen Staaten geprägten Menschenwürdekonzepts begründet er folgendermaßen: „Beause dignity inheres in human beings, irrespective of external characteristics, every human being should be entitled to enjoy his or her human rights without suffering any discrimintion or distinction based on such external characteristics.“ 375

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Nicht nur anhand der Stelle, an der die Menschenwürde Eingang in die Verfas­ sung gefunden hat, lässt sich etwas über ihre jeweilige verfassungsrechtliche Bedeutung aussagen. Die Untersuchung lässt erkennen, dass die Menschenwürde zum einen vielfach als bloße normative Hintergrundannahme angesehen wird. Die Menschenwürde liefert damit das Hauptargument, warum dem Menschen grundlegende Rechte zuteil werden.386 Sie stellt einen Grundwert der jeweiligen Verfassungsordnung dar. In anderen Verfassungen wiederum wird die Menschenwürde in ihrer Funktion als Konstitutionsprinzip anerkannt, das im Sinne einer anthro­ pologischen Grundannahme das Menschenbild der Verfassungsordnung erkennen lässt und damit konkrete Vorgaben für die staatliche Ordnung macht und zugleich als Grundlage der einzelnen Grundrechte hinsichtlich derselben interpretationsleitend ist.387 Diese Verfassungen sprechen der Menschenwürdegarantie eine normative Funktion im Sinne einer objektiv-rechtlichen Bindungswirkung zu. In einigen wenigen Verfassungsordnungen wird aus der Menschenwürde gar ein subjektives Recht abgeleitet.388 Die eingangs zitierte Vienna Declaration von 1993 hat erkennen lassen, dass das, was zum Zeitpunkt der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10.12.1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Rahmen eines Rechtstextes – zumal auf internationaler Ebene – noch als Novum galt, mittlerweile Teil eines internationalen Konsenses ist und auch im Hinblick auf nationale Verfassungstexte keine Besonderheit mehr zu sein scheint. Denn während lediglich 48 Staaten für die AEMR bei keiner Gegenstimme und acht Enthaltungen stimmten, bekannten sich 171 Staaten im Jahre 1993 zu den in der Vienna Declaration getroffenen Aussagen. Aber auch bereits im Jahre 1968 bekannten sich die Staaten im Rahmen der International Conference on Human Rights, auf der die Fortschritte und Ziele im Bereich des Menschenrechtsschutzes erörtert wurden, in der Proclamation of Teheran vom 13.05.1968389 zur Menschenwürde als eines der Hauptziele der UN im Bereich der Menschenrechte. Im Anschluss bekräftigte die Generalversammlung der UN diese Ziele und hob die bindende Wirkung der AEMR für alle Mitglieder der Völkergemeinschaft hervor.390 Dass die Menschenwürde Teil 386

McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (681). Vgl. Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 257. In diesem Sinne auch Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33 (34). 388 Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (680 f.), der eine ähnliche Einordnung der unterschiedlichen Menschenwürdeverständnisse in drei Kategorien vornimmt, jedoch nicht von der Menschenwürde als einem Konstitutionsprinzip als mittlere Kategorie spricht, sondern von der Menschenwürde „not as a synonym for human rights but rather as expressing a value unique to itself, on which human rights are built. […] In this thicker use, the role that dignity plays is primarily to help in the identification of a catalogue of specific rights. […] More generally, however, dignity becomes an interpretive principle to assist the further explication of the catalogue of rights generated by the principle.“ 389 Final Act of the International Conference on Human Rights, UN Doc. A / CONF. 32/41. 390 Res. GA Nr. 2442 (XXIII), 1968. 387

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dieses internationalen Konsenses geworden ist, lässt sich aus der Häufigkeit ihrer Nennung in den der AEMR nachfolgenden Menschenrechtspakten ablesen. So lässt sich erkennen, dass das der AEMR zugrunde liegende Menschenwürdekonzept mittlerweile zum Leitmotiv391 und entsprechend der Annahme der ILC im Jahre 2014392 zur gemeinsamen Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes geworden ist sowie darüber hinaus als allgemeiner Rechtsgrundsatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut angesehen werden kann. Eine positive Begriffsumschreibung findet sich in keiner der untersuchten Verfassungen sowie in keinem internationalen Vertrag und auch die Rechtsprechung scheut vor einer Definition des Begriffs zurück. Anhand der bereits aufgezählten, mit der Menschenwürde immer wieder in Zusammenhang gebrachten Themenbereiche lässt sich jedoch zumindest eine Grundtendenz erkennen und ein Minimalkonsens scheint sich abzuzeichnen.393 Weit überwiegend wird die Würde – wie inbesondere von der International Bill of Rights – zur Grundannahme gemacht und als ein jedem Menschen innewohnender und unterschiedslos zukommender Wert verstanden.394 Sowohl auf internationaler bzw. regionaler wie auch auf nationaler Ebene wird die Menschenwürde von den meisten als etwas Seinsgegebenes erachtet und nicht als ein dem Menschen qua Verdienst zukommender Wert. Dabei hat insbesondere die AEMR der Verbreitung dieser Annahme weltweit Vorschub geleistet. Indem die AEMR zusammen mit dem IPbpR und dem IpwskR als International Bill of Rights die Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes bildet, hat sie ihr von Kantischen Vorstellungen geprägtes Menschenwürdeverständnis weltweit populär gemacht. Zugleich kommt der Menschenwürde überwiegend eine die Staatsgewalt begrenzende Funktion zu.395 Daher wird mit der Menschenwürde zunehmend ein Achtungsanspruch bzw. zum Teil gar ein Schutzanspruch, vereinzelt sogar im Hinblick auf die Gewährung sozialer Sicherheit, gegenüber dem Staat verbunden. Darüber hinaus wird ein solcher Achtungsanspruch auch gegenüber den Mitmenschen statuiert. Damit ist in der Regel die Annahme verbunden, dass bestimmte Verhaltensweisen bzw. Handungen gegenüber dem Einzelnen mit diesem Achtungsanspruch unvereinbar sind.396 Die Untersuchung der Verfassungstexte bzw. 391

Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 217. ILC, Report, 66th session (2014), Official Records, 69th session, Supplement No. 10 (A/69/10), S. 93. 393 Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (679, 723); Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179, 181; O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (555). 394 McCrudden, EJIL 19 (2008), 655, 679, „the ‚ontological‘ claim“. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (555): „Every human being has an inherent dignity by virtue of his or her humanity, irrespective of external characteristics including (but not limited to) sex, age, race or ethnicity, religious or political belief, nationality, status, sexual orientation, or mental or physical condition.“ 395 McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (679): „[…] recognizing the intrinsic worth of the individual requires that the state should be seen to exist for the sake of the individual human being, and not vice versa (the limited-state claim).“ 396 McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (679): „the ‚relational‘ claim“. 392

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der völkerrechtlichen Verträge zeigt, dass das, was bereits als wesentliche Elemente des ideen­geschichtlichen Menschenwürdebegriffs herausgearbeitet werden konnte, auch eine nicht unerhebliche Entsprechung im Rechtsbegriff der Menschenwürde findet.397 Inbesondere die Vorstellung Kants vom Menschen als autonomem Wesen, das zur Selbstgesetzgebung und Selbstbestimmung befähigt ist, findet sich in verschiedenen Rechtstexten wieder und bildet vor allem eine Grundannahme des internationalen Menschenrechtsschutzes. Eine die Staatsgewalt begrenzende Funktion der Menschenwürde ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sich die Menschenwürde mittlerweile zum Gegenstand eines international geführten Dialogs herausgebildet hat und damit auch der Etablierung eines internationalen Mindestschutzstandards dient, der zugleich als Maßstab für eine gegenseitige Kontrolle der Rechtsordnungen gelten kann. Die Menschenwürde als etwas Vorrechtliches, das spätestens mit der International Bill of Rights zum Fundament des internationalen Menschenrechtsschutzes avanciert ist, dient nicht selten als die gemeinsame Schnittstelle vieler Rechtsordnungen und Menschenrechtsinstrumente. Neu entstehende Verfassungen verfügen häufig über ein Menschenwürdekonzept und im Wege des Rechtsvergleichs wird die Menschenwürde wiederholt zur Grundlage eines Verfassungsdialogs und ermöglicht eine Rückbindung an einen weltweiten Minimalkonsens398 und damit an das, was universell ist.399 Mit ihrer Dialogfunktion wird die Menschenwürde somit auch zum Instrument für eine dynamisch-evolutive Entwicklung und Harmonisierung des jeweils unterschiedlich ausgestalteten nationalen Verfassungsrechts, das sich auf andere Verfassungsordnungen zubewegt und dabei das Fundament des internationalen Menschenrechtsschutzes im Blick hat. Zugleich bietet die Menschenwürde durch ihre Verankerung auf internationaler Ebene die Möglichkeit und Notwendigkeit des Abgleichs nationaler Grundrechtestandards und damit eine gegenseitige Kon­trolle 397

Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (679). Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), 655 (694 f.): „One of the attractions of dignity in the human rights context is the idea that different jurisdictions share a sense of what dignity requires, and this enables a dialogue to take place between judges on the interpretation of human rights norms, based on a supposedly shared assumption.“ Carozza, EJIL 19 (2008), 931, 937, zufolge bilde die Menschenwürde für nationalstaatliche Verfassungsgerichte „the basic ground of commonality and comparability“. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (558 f.), schließt sich dieser Einschätzung zunächst an: „It can be seen, therefore, that dignity as a constitutional principle provides rich potential for developing a body of comparative constitutional rights jurisprudence and contributing to the development of consensus on rights issues […].“ Zugleich mahnt er jedoch Faktoren an, die zu deutlichen Differenzen über die Auffassung, was Menschenwürde ist, führten: „However, culture is not the only factor contributing to disagreement […].“ (S. 558) So führe sowohl die zum Teil verbreitete Annahme, dass ein „right to dignity“ bestünde ebenso zu Uneinigkeiten und Zweifeln darüber, ob das Menschenwürdekonzept einen Wert habe oder dessen Anwendung nicht doch vielmehr schade, als auch das seiner Ansicht nach bestehende „significant level of confusion between the underlying principle of human dignity and the specific right of personal autonomy and self-determination.“ (S. 559). 399 Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (696), unter Verweis auf Paolo Carozza, 81 Texas Law Review (2003), 1031 (1081): „Carozza’s explanation is one that sees the interpretation of dignity as a search for the universal.“ 398

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der Verfassungsordnungen. Die relative Begründungsoffenheit des Menschen­ würdesatzes im Rahmen des internationalen Menschenrechtsschutzes bringt zwar das Problem der Begriffsbestimmung mit sich, zugleich bietet der Menschenwürdebegriff jedoch aufgrund seiner Dynamik die Möglichkeit, einen Minimalkonsens unter den Staaten zu finden und ein Annähern der kulturspezifisch ausgestalteten Verfassungsordnungen zu erreichen.400 Dies wäre anders, wenn die Menschenwürde auf internationaler Ebene mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Konzept verbunden würde. 2. Die Menschenwürde als universelles Rechtprinzip Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass die Menschenwürde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr und mehr als das Fundament, sowohl der Menschenrechte auf regionaler bzw. internationaler Ebene als auch des nationalen Verfassungsrechts, anerkannt wird. Di Fabio bezeichnet die Menschenwürde deshalb gar als eine „Klammer […], die die internationale Rechtsordnung umgreift und zum Höchstwert des Weltrechts avanciert.“401 Fraglich ist dabei jedoch, welche Stellung die Menschenwürde im Völkerrecht wirklich einnimmt. Handelt es sich bei der Menschenwürde also um ein universelles Rechtsprinzip, das normative Wirkungen entfaltet? So hat die Untersuchung nationalstaatlicher Verfassungen gezeigt, dass verschiedene kulturspezifische Ausformungen der Menschenwürde in den jeweiligen Rechtsordnungen bestehen.402 Dennoch gibt es hinsichtlich der Menschenwürde vielfach Überschneidungen der Verfassungen – wiederum auch mit den internationalen und regionalen Menschenrechtsverträgen. Es ist daher fraglich, inwieweit von einem von kulturspezifischen Vorstellungen gelösten universal gültigen Menschenwürdebegriff – etwa im Sinne eines „overlapping consensus“403 – gesprochen werden kann.404

400 Vgl. McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (724). Auch Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235 (236), ist der Ansicht, dass die Begründungsoffenheit der Menschenwürde die Reichweite ihres Geltungsanspruchs auch international nicht behindert, sondern befördert; vgl. auch Dicke, in: Bielefeldt / Brugger / Dicke (Hrsg.), FS Schwardtländer, S. 161 (180). Dupré, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 113 (121): „Rather than being an obstacle to understanding, however, the unfinished nature of human dignity is a crucial sign of its dynamism and usefulness.“ 401 Di Fabio, JZ 2004, 1 (4); ders., dies wiederholend in: Merten / Papier (Hrsg.), HbdGR, Bd. II, § 46 Rn. 33. 402 Vgl. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, S. 333. 403 Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235 (238), in Anlehnung an den von John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 133–172, geprägten Begriff. 404 Vgl. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, S. 333: „Gibt es einen kulturkreisunabhängigen ‚Kern‘ der Menschenwürde?“

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Des Weiteren stellt sich die Frage, wie sich das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten bestimmen lässt. Es ist nicht zuletzt um ihrer rechtlichen Handhabbarkeit willen entscheidend, ob der Rechtsbegriff Menschenwürde eine normative Hintergrundannahme und damit einen gemeinsamen Grundgedanken der Menschenrechte darstellt oder ob es sich vielmehr um ein Konstitutionsprinzip handelt und damit um das Fundament einer internationalen Wertordnung, das ein subjektives Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde postuliert. a) Die Menschenwürde als Scharnier zwischen Moral und Recht Die bereits vorgenommene Untersuchung der Entwicklung des ideengeschichtlichen Menschenwürdebegriffs dient nicht nur der näheren Bestimmung der Menschenwürde als Rechtsbegriff, sondern ist auch hilfreich bei der Begründung der Frage, warum es sich bei der Menschenwürde nicht um einen Rechtssatz wie jeden anderen handelt. Dies hilft zu verstehen, warum diesem vielmehr die Rolle einer (kultur-)anthropologischen Prämisse405 zukommt, die die Anerkennung der – wie Kant es nannte – sittlichen Autonomie des Menschen zum Ausdruck bringt und damit Konsequenzen für die Ausgestaltung der einzelnen Menschenrechte hat. So deutete sich bereits bei von Pufendorf als zentraler Aspekt der Menschenwürde die Subjektstellung jedes Einzelnen an. Kant arbeitete diese Subjektstellung weiter heraus. Insbesondere der mit der Menschenwürde verbundene Achtungsanspruch des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen, wonach der Mensch jederzeit Zweck an sich selbst ist und kein Mensch jemals zum bloßen Objekt herab­ gestuft werden darf, wird mithilfe des Rechtsbegriffs Menschenwürde in das Recht übertragen. So dient die Idee der Menschenwürde nach wie vor als das „begriffliche Scharnier“406 zwischen der Moral und dem positiven Recht sowie der demokratischen Rechtssetzung. Sowohl die Moral als auch das Recht sind normativ; sie drücken jeweils aus, dass etwas sein soll.407 Sie bestehen also aus Normen, die menschliches Verhalten bewerten und regeln,408 wobei sich die moderne Vernunftmoral ebenso wie das Vernunftrecht „auf den Grundbegriff der Autonomie des Einzelnen und auf das Prinzip der gleichen Achtung für jeden“409 stützen. Dabei ist trotz vorhandener gelegentlicher Überschneidungen eine begriffliche Trennung von Moral und

405 Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 534 ff.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 86; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 62. 406 Habermas, Das utopische Gefälle, S. 4. 407 Vgl. Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (73); Kirste, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 65 (84). 408 Vgl. Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (73). 409 Habermas, Das utopische Gefälle, S. 5.

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Recht möglich und notwendig.410 So geht das Recht häufig auf moralische Überzeu­ gungen zurück, es stellt sich als „geronnene Moral“411 dar. Dies wird insbesondere anhand des Menschenwürdebegriffs deutlich, denn die Menschenwürde ist nach Habermas „die moralische ‚Quelle‘, aus der sich die Gehalte beliebiger Grundrechte speisen.“412 Zugleich ist die Existenz von Recht ohne die Einhaltung eines moralischen Minimums nicht möglich. So ist die Existenz von Recht gemäß der sog. „Radbruch’schen Formel“413 nur dann gegeben, solange es sich nicht um „gesetzliches Unrecht“414 handelt. b) Die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip und die Verbindungslinien zu den Menschenrechten Unter dem Begriff Konstitutionsprinzip wird in Bezug auf Art. 1 GG die Menschenwürde als der „höchste[…] Wert oder Leitpunkt der Organisation der Staatsgewalt im Verhältnis zu den Bürgern“415 verstanden.416 Mit der Menschenwürde als Konstitutionsprinzip wird die moralische Sichtweise auf den Menschen postuliert und so der sich aus ihr ergebende Achtungsanspruch zur Vorgabe für die konkrete 410

Vgl. Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (89), und dessen Hinweis, dass in totalitären Staaten „regelmäßig eine Einheit von Recht und Moral postuliert wird.“ Wenn Recht aber immer moralisch sei, „dann ist eine moralisch begründete Kritik am Recht schon aus begrifflichen Gründen ausgeschlossen. Mehr noch: Kritik am geltenden Recht wird unmoralisch […].“ (S. 78); Habermas, Das utopische Gefälle, S. 5, zufolge erlegt die Moral den Menschen Pflichten auf, „die alle Handlungsbereiche lückenlos durchdringen“. Hingegen „schafft das moderne Recht Freiräume für private Willkür und individuelle Lebensgestaltung.“ 411 Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (89). 412 Habermas, Das utopische Gefälle, S. 4. In diesem Sinne auch Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179 (191); di Fabio, JZ 2004, 1(6); Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 272. Wie bereits oben angemerkt ist etwa explizit in Art. 30 der Polnischen Verfassung die Rede von der Menschenwürde als „die Quelle der Freiheiten und Rechte des Menschen und des Staatsbürgers“, vgl. Fn. 251; Delperée, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, S. 38 (41), http://www.venice.coe.int/webforms/ documents/?pdf=CDL-STD(1998)026-e, zul. einges. am 01.12.2018, bezeichnet die Menschenwürde als „right as the ‚source‘ of other rights“ in Bezug auf die Menschenwürde nach belgischem Verständnis. 413 Vgl. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff. 414 Vgl. zu Radbruchs Konzept vom „gesetzlichen Unrecht“ Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (77 ff.), der die Schwächen der „Radbruch’schen Formel“ benennt, insbesondere das Problem, dass durch die mit dieser Formel vorgenommene „begriffliche Verknüpfung von Recht und Moral der moralische Wert des Rechts keineswegs sichergestellt wird.“ (S. 78). Des Weiteren bestehe das Problem der Rechtsunsicherheit, nämlich hinsichtlich der Frage, wann Gesetze so krass unmoralisch sind, dass sie nicht mehr als geltendes Recht angesehen werden können. Hierzu sei es erforderlich, den Bereich des „krass Unmoralischen“ einigermaßen exakt zu markieren (S. 79). 415 Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, S. 31. 416 Siehe hierzu ausführlich Teil C.

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staatliche Ordnung.417 Alle staatliche Tätigkeit hat sich mithin an der Achtung des Individuums auszurichten.418 Mit der Menschenwürde als „unhintergehbare[r] Prämisse“ wird erst das Apriori der Rechtsgemeinschaft und des Rechtsstaats begründet.419 Sie ist mithin Geltungsgrund und Voraussetzung von Recht überhaupt. In der Literatur findet sich denn auch – bezogen auf Art. 1 GG, aber übertragbar auf die Menschenwürde als solches – die zutreffende Bezeichnung der Menschenwürde als „Grund, Grenze und Ziel der folgenden Menschenrechte und Grundrechte“420. Wie bereits dargestellt, dient die Menschenwürde als begriffliches Forum für einen Dialog der Verfassungsordnungen. Während Menschenrechte nicht selten konkrete Bedrohungsszenarien für das Individuum vor Augen haben, bleibt die Menschenwürde aufgrund ihrer relativen Begründungsoffenheit flexibel für die Weiterentwicklung der Menschenrechte.421 Die Menschenwürde bildet dabei den äußeren Rahmen im Sinne einer „Rückfalllinie“422, hinter die die einzelnen Menschenrechte von ihrer Schutzgewährung nicht zurückfallen dürfen, sonst wären sie nicht mehr als Menschenrechte anzusehen.423 Dies hat auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1986 deutlich gemacht, indem sie feststellte, dass Menschenrechte nur solche Rechte sind, die fundamentalen Charakter haben „and derive from the inherent dignity and worth of the human person.“424 Der Generalversammlung nach sind also nur solche Rechte auch Menschenrechte, die aus der Menschenwürde abgeleitet sind. Fraglich ist jedoch, wie sich dies begründen lässt. Des Weiteren ist zu erörtern, welche Konsequenzen sich hieraus für den Menschenrechtsschutz ergeben. Die Betrachtung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des Menschenwürde­ begriffs hat gezeigt, dass dieser das Wesen des Menschen in Form universeller Gültigkeit abbildet, indem mit der Menschenwürde ein elementarer Achtungsanspruch verbunden ist, wonach sich die Menschen selbst und einander als Selbstzweck und als Verantwortungssubjekte achten.425 Dass dieser Achtungsanspruch vorkonstitutionell ist und der Mensch daher Träger originärer, nicht verliehener bzw. vertraglich vereinbarter, also nicht erst im 417

Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235 (257). Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 133, unter Verweis auf Badura, JZ 1964, 338 (339). 419 Bielefeldt, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, S. 35. 420 Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, S. 37; In diesem Sinne auch Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235 (244). 421 Vgl. Peters, Jenseits der Menschenrechte, S. 391 f., die darauf verweist, dass bestimmte Menschenrechte auch gar bei Wegfall eines Schutzbedarfs verschwinden können. 422 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 14 [1999]. 423 In diesem Sinne auch Herbert, EuGRZ 2014, 661 (665) vor dem Hintergrund des Folterverbots als direkteste und deutlichste Ausformung des Menschenwürdesatzes: „Die absolute Geltung des Folterverbots sichert das gebotene Schutzniveau der Menschenrechte und schärft das Bewusstsein für die Gefahren, die dem Rechtsstaat drohen.“ 424 GA Res. 41/120 v. 04.12.1986. 425 Vgl. Bielefeldt, Menschenwürde – der Grund der Menschenrechte, S. 13. 418

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Wege der Zuerkennung entstandener Rechte ist,426 hilft die Menschenwürde als Fundament und Voraussetzung des Rechts und als Quelle normativer Verbindlichkeiten427 zu verstehen. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass diese fundierende Kraft der Menschenwürde als eigentlicher Rechts(geltungs)grund der Menschenrechte428 erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in nationalen wie internationalen Rechtsdokumenten Eingang gefunden hat. Erst ab dieser Zeit ist die Menschenwürde als Begriff des Rechts mit den Menschenrechten in einen Zusammenhang gebracht worden und hat die Verbindungslinien zwischen der Menschenwürde und den einzelnen Menschenrechten sichtbar gemacht sowie die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde erkennen lassen.429 Mit dem Rechtsbegriff Menschenwürde wird lediglich das zum Ausdruck gebracht, was ohnehin universelle Gültigkeit beansprucht und nicht mit dem Verweis auf kulturelle Besonderheiten zu relativieren ist. Die Menschenwürde wird somit zum Konstitutionsprinzip einer jeden Rechtsordnung, denn nur da, wo sie anerkannt wird, ist Recht überhaupt möglich.430 Grund allen Rechts ist damit der dem Menschen aufgrund seiner Würde zukommende Achtungsanspruch.431 Der von Kant aus der dem Menschen innewohnenden Würde 426 Vgl. die Ausführungen der GA Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 79; Bielefeldt, Menschenwürde – der Grund der Menschenrechte, S. 19; Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). 427 Böckenförde, S. 273, zufolge handelt es sich bei der Menschenwürdegarantie um die „fundamentale Norm der grundgesetzlichen Ordnung, die unverbrüchlich und unantastbar gelten soll“. Giakoumopoulos, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, S. 5, 7, verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Ungarischen Verfassungsgerichts (Urt. v. 07.07.1989), das die Menschenwürde als höchsten Wert ansieht: „human existence and dignity were at the top of the scale of values, were the source and basis of all human rights and were val­ ues that were inviolable and inalienable under the law.“ Schaber, in: Demko / Seelmann / ­Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 159 (166), spricht von der Würde als etwas Normativem. 428 Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 9 m. w. N. 429 Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179 (184). 430 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 544, hebt hervor, dass dies die wichtigste Bedeutung sei, die die Menschenwürde für das Recht habe; Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663); Bielefeldt, Menschenwürde – der Grund der Menschenrechte, S. 13. 431 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663); Bielefeldt, Menschenwürde  – der Grund der Menschenrechte, S. 13 f.: „Im Achtungsanspruch erfährt der Mensch sich selbst und seine Mitmenschen als Subjekte von Verantwortung. Die Idee der Menschenwürde steht für diese Grund-Erfahrung. Dies macht ihren fundamentalen, gleichsam axiomatischen Stellenwert für alle Bereiche von Moral und Recht aus. Die Achtung der Menschenwürde ist deshalb nicht ein moralischer Wert wie andere Werte, sie ist auch keine Rechtsnorm neben anderen Normen, kein Rechtsgut in Konkurrenz zu anderen Rechtsgütern und nicht ein Grundrecht neben anderen Grundrechten. Sie hat vielmehr einen prinzipiell anderen Status als sonstige Werte, Normen, Rechtsgüter und Rechtsansprüche, da sie deren unhintergehbare Prämisse darstellt. Sie ist als die Voraussetzung normativer Verbindlichkeiten zugleich letzter Referenzpunkt moralischen und rechtlichen Argumentierens.“ (S. 13), „Da die Achtung der Menschenwürde den Stellenwert einer unhintergehbaren Voraussetzung normativer Verbindlichkeiten überhaupt hat, umfasst sie notwendig alle Menschen.“ (S. 14). Aus diesem Grund spricht Bielefeldt, a. a. O., S. 14, von „normative[m] Universalismus“.

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abgeleitete Achtungsanspruch kann nur dann hinreichend gewährleistet werden, wenn die Bürger in einem Gemeinwesen in den Zustand gegenseitiger objektiver Anerkennung treten.432 Dies wird durch den Rechtszustand erreicht, also dadurch, dass dem Einzelnen ein rechtlicher Status als Verantwortungssubjekt zugeschrieben wird – als Rechtssubjekt und als Bürger in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Insofern entfaltet die Menschenwürde ihre rechtsverbürgende Kraft: Die Würde, die die Menschen sich selbst und einander zusprechen und gegenseitig anerkennen, bürgt für die Fähigkeit, Rechtsträger, also Rechtssubjekt zu sein.433 Somit handelt es sich bei der auf der Menschenwürde gegründeten Rechtsordnung um den Ausdruck objektiver Anerkennung des mit gleicher Würde von Anfang an ausgestatteten Menschen.434 Gerade vor diesem Hintergrund kann auch der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und den Menschenrechten hergestellt werden, denn schließlich liegt dem Menschenwürdekonzept ein Menschenbild zugrunde, dem nur unter Gewährung bestimmter subjektiver Rechte entsprochen werden kann. Mit anderen Worten ist die Würde die „Bedingung der Möglichkeit von Recht“435. Sie ist also sowohl der Grund als auch die Grundnorm des Rechts und damit auch die fundamentale Voraussetzung der Menschenrechte,436 mithin in den Worten der General­ anwältin beim EuGH Stix-Hackl deren „Substrat und Ausgangspunkt“437. Als oberstes Konstitutionsprinzip ist sie sozusagen „letzte Instanz“438 hinsichtlich der Frage, was Recht und damit auch, was ein Menschenrecht ist, bzw. wessen Inhalts ein sol 432

Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179, 184 (188); Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 545; Kirste, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 65 (86 f.). 434 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). 435 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 544: „Die Achtung der Menschenwürde ist also, um es in der etwas sperrigen Ausdrucksweise Kants zu sagen: eine Bedingung der Möglichkeit von Recht.“; Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 272. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 73. 436 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 44 f.; O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (561), bezeichnet die Menschenwürde „as a fundamental and foundational value which acts as a source of and justification for human rights“. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (662), hebt die Besonderheit der Menschenwürde gegenüber den Menschenrechten folgendermaßen hervor: „Die ‚Idee‘ der Menschenwürde unterscheidet sich von anderen Menschenrechten dadurch, dass sie zugleich grundrechtliche Basis und ethischer Konstitutionsgrund der Menschenrechte ist […].“; Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 9. 437 Schlussanträge vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 76: „Als Grundausdruck dessen, was dem Menschen allein schon aufgrund seines Menschseins zukommen soll, stellt die Menschenwürde Substrat und Ausgangspunkt aller Menschenrechte dar, die sich aus ihr herausdifferenzieren, gleichzeitig ist sie perspektivischer Fluchtpunkt der einzelnen Menschenrechte, auf den hin diese zu verstehen und zu deuten sind. Entsprechend ist etwa in der deutschen Grundrechtslehre von der Menschenwürde als ‚tragendem Konstitutionsprinzip‘ der Menschenrechte die Rede.“ 438 Für Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 73, wird dies durch den „‚transzendierenden‘ Hinweis“ des Art. 20 Abs. 3 GG belegt, der die Bindung an „Gesetz und Recht“ festlegt und als inhaltliche Bezugnahme auf die Menschenwürde zu verstehen sei. „Was 433

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ches sein kann. Die Gewährleistung der Menschenwürde ist somit ohne den ausreichenden Schutz der universellen Menschenrechte und damit ohne die Anerkennung jedes Menschen als Verantwortungssubjekt im Sinne eines Rechtssubjekts nicht möglich. Dies wird sowohl anhand der Präambel der AEMR deutlich, indem diese als die Hauptaufgabe der Menschenrechte den Schutz der Menschenwürde benennt, als auch anhand der Vienna Declaration von 1993, die betont, „that the human person is the central subject of human rights and fundamental freedoms“.439 Auch das BVerfG bezeichnete wiederholt die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip440 und sieht das Recht im Dienste der Menschenwürde, indem es das Grundgesetz als „wertgebundene Ordnung“ begreift, „die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt“441. Nur wenn die Menschenwürde eben nicht als bloßer gemeinsamer Grundgedanke der Menschenrechte im Hintergrund verbleibt und lediglich zu deren erleichterten Auslegung herangezogen wird, sondern vielmehr als tragendes Konstitutionsprinzip verstanden wird, das die moralische Sichtweise auf die Wesenhaftigkeit des Menschen als anthropologische Prämisse vorgibt442 und deshalb zugleich den Achtungsanspruch zur Vorgabe für die staatliche Ordnung macht,443 wird sie ihrer bereits erörterten Scharnierfunktion zwischen Moral und Recht überhaupt gerecht. Nur dann wird sie – mit den Worten Dürigs – zum „obersten Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“444 und somit zum objektiv-rechtlichen Fundament445, das die staatliche Gewalt bindet und begrenzt und damit im Sinne des Schutzes der menschlichen Autonomie das Verhältnis des Einzelnen zum Staat normiert.446 Aus der Menschenwürde lassen sich daher Schutzpflichten ableiten. So erfordert es die Autonomie des Menschen und das Prinzip der gleichen Achtung für jeden, dass jeder Mensch einen Anspruch darauf hat, ein selbstbestimmtes Leben führen „Recht“ sein kann und darf, ist in letzter Instanz aus der Menschenwürde vor der Verfassung zu legitimieren.“ 439 Vgl. Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 272 f. 440 Vgl. hierzu ausführlich Teil C mit Nachweisen. 441 BVerfGE 12, 45 (51) – Kriegsdienstverweigerung I. 442 Vgl. die Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 75: „Die ‚Menschenwürde‘ bringt den obersten Achtungs- und Wertanspruch zum Ausdruck, der dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen soll. Es geht um den Schutz und die Achtung des Wesens bzw. der Natur des Menschen an sich, um die ‚Substanz‘ des Menschen. In der Menschenwürde reflektiert sich der Mensch damit selbst, sie steht für das, was ihn ausmacht.“ 443 Vgl. Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235, 257; Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, S. 33 (34): „[…] in recognising the principle of „human dignity“ as the State’s foundation, the Constitution reveals the fundamental anthropological concept or presupposition on which „fundamental“ or „human rights“ are based and which gave birth to such rights.“ 444 Dürig, AöR 81 (1956), 117 (119). 445 Vgl. Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, S. 343. 446 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 27.

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zu können.447 Der Staat hat daher dafür Sorge zu tragen, dass ein selbstbestimmtes Leben und damit die Verwirklichung der Würde des Menschen möglich ist bzw. bleibt.448 Hieran ist sämtliches staatliches Handeln auszurichten und muss sich daran messen lassen. Insofern hat der Staat die rechtliche Verpflichtung, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen – nicht nur vor Angriffen des Staats, sondern auch vor Angriffen durch Dritte.449 Mit der Einordnung der Menschenwürde als tragendes Konstitutionsprinzip wird deren normenhierarchische Stellung aufgezeigt und betont.450 Aus diesem Grund findet sich die Menschenwürde nicht selten in der Präambel einer Verfassung bzw. eines menschenrechtlichen Vertrags oder gar in Art. 1 wie im deutschen Grundgesetz oder auch am Anfang eines Katalogs von Menschenrechten bzw. Grundrechten.451 Mithilfe der Einordnung als oberstes Konstitutionsprinzip wird deutlich, dass der an sich vorpositive oberste Wert der Menschenwürde auf die positive Rechtsordnung bezogen wird.452 Wie sich im Folgenden zeigen soll, hat dies Auswirkungen auf das Verständnis und die Anwendung der einzelnen Grundbzw. Menschenrechte. c) Die Menschenwürde als Grund und Konkretisierung der Menschenrechte Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass die Menschenwürde als Eigenschaft sowie als ein jedem Menschen innwohnender Wert zu verstehen ist, der von den Mitmenschen anzuerkennen und zu achten ist, weshalb bestimmte Handlungen mit diesem Achtungsanspruch unvereinbar sind. Dieser Achtungsanspruch besteht vor allem gegenüber dem Staat und ist zunächst mit der Begrenzung staatlicher Macht verbunden. Aufgrund seiner Normativität leitet sich aus der Menschenwürde 447 So auch Schaber, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S.  159, 166. 448 Vgl. Geddert-Steinacher, S. 106 f.: „Würde und Menschenrechte sind Grundlage des Verfassungsstaates, wie umgekehrt die Staatsordnung Grundlage der menschlichen Freiheit ist. Diese Staatsauffassung spiegelt sich auch in einer zunächst vom Herrenchiemseer Verfasssungsentwurf für Art. 1 Abs. 2 GG vorgesehenen Formulierung wider: ‚Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.‘ Aus der menschenrechtlichen Legitimation des Staates folgt nicht, dass der Staat seinerseits Würde besitzt. Er ist vielmehr Instrument der Verwirklichung von Freiheit und Würde.“ 449 Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 538; Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 56: „Achtung und Schutz der Menschenwürde als Grund(rechts)pflicht des Verfassungsstaates ist die Prämisse für alle rechtsdogmatischen Einzelfragen. Menschenwürde ist Staatsfundamentalnorm, aber mehr als dies: Sie fundiert auch die – verfasste bzw. zu verfassende – Gesellschaft; sie entfaltet eine mehrdimensionale Schutzrichtung, je nach der Gefahrenlage, die ihrem verfassungshohen Rechtsgut droht.“ 450 Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 70 ff.; Dürig, AöR 81 (1956), 117 (122). 451 Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 71 f. bezüglich der Stellung des Menschenwürdesatzes im deutschen Grundgesetz. 452 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 71.

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ein Anspruch eines jeden Menschen gegen den Staat jedoch nicht nur auf Achtung der Menschenwürde im Sinne rein negativer Unterlassungspflichten ab. Vielmehr ergeben sich darüber hinaus aus der Menschenwürde auch positive Pflichten des Schutzes sowie Gewährleistungspflichten,453 um die Freiheit eines jeden in gleicher Weise realisieren zu können. Insbesondere mithilfe der Gewährleistung der Menschenrechte wird dieser Schutz ermöglicht. Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde werden aber nicht nur durch Freiheitsrechte garantiert, sondern auch durch soziale Rechte, wie sie etwa der IPwskR vorsieht. Die sich aus der Menschenwürde ergebende Schutzpflicht verlangt den Staaten ab, ein „Leben in Würde“454, also ein gesichertes Existenzminimum zu ermöglichen, um dem Anspruch auf Realisierung der gleichen Freiheit eines jeden zu entsprechen. Dies umfasst zumindest die grundlegenden Bedürfnisse eines jeden Menschen, um sein Leben weitestgehend frei von sozialer Not bestimmen zu können. Zu diesen Subsistenzrechten zählen insbesondere die Menschenrechte auf Leben, ausreichende Ernährung und Unterkunft sowie Gesundheit und Hygiene sowie das Recht auf Wasser.455 Lohmann verweist darauf, dass es Würdeverletzungen gebe, in denen nicht die Ansprüche auf Freiheit und Gleichheit betroffen seien, etwa in Fällen von durch Naturkatastrophen oder wirtschaftliche und politische Katastrophen hervorgerufener sozialer Not.456 Daher sollten etwa Ansprüche auf ein gesichertes Existenzminimum nicht nur als Mittel oder Bedingung für würdegeschützte Freiheit und Gleichheit bestimmt werden. Vielmehr stünden diese Ansprüche dafür, ein Leben in Würde führen zu können.457 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass etwa auch in Fällen, in denen soziale Notlagen nicht – zumindest nicht unmittelbar – durch staatliches Handeln oder Unterlassen hervorgerufen wurden, die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen bedroht oder eingeschränkt ist und den Staat insoweit die Verpflichtung trifft, seinen Möglichkeiten entsprechend, diesen Zustand zu beenden. Da die Anerkennung der Menschenwürde mit der Gewährleistung der Subjektstellung des Einzelnen und dessen damit einhergehender freier Entfaltungsmöglichkeit sowie dem Ausschluss jeglicher Form von Erniedrigung und Instrumentalisierung nach Art einer Sache458 verbunden ist, werden gerade die Menschenrechte um der Würde willen normiert.459 Deshalb handelt es sich bei den einzelnen Men 453 So auch Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179 (181); Lohmann, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Menschenwürde und Autonomie, S. 15 36. 454 Lohmann, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 15, 36. 455 Vgl. Lohmann, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 15 (36). 456 Lohmann, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 15 (35 f.). 457 Lohmann, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 15 (36). 458 Böckenförde, Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2004, 1216 (1225). 459 Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 9; Schaber, in: Demko /  Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 159 (166): „Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben besteht aus einem Bündel von Rechten, über sich selbst bestimmen zu können: was mit meinem Körper getan wird, mit wem ich zusammenlebe, welcher Partei, wenn überhaupt einer, ich beitrete etc.“

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schenrechten insgesamt um Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde.460 Der Mensch wird zum Träger von Menschenrechten, zum Rechtssubjekt, aufgrund der ihm zukommenden Würde.461 Nur so ist es auszuschließen, dass der Einzelne zum bloßen Objekt, zum reinen Mittel degradiert und seiner Selbstzweckhaftigkeit beraubt wird. Dies wird auch etwa in der Rechtsprechung des BVerfG deutlich,462 denn das Gericht stellte fest, dass die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde generell ausschließt, den Menschen zum Objekt des Staates zu machen.463 Hier kommt das staatslimitierende Element der Menschenwürde zum Ausdruck. Schlechthin verboten sei damit nach Ansicht des BVerfG „jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt.“464 Die Menschenwürde ist also der (Rechts-)Grund der Menschenrechte und bildet das Fundament des subjektiven Rechtsanspruchs des Einzelnen.465 Anhand dieser Umschreibung lassen sich auch die unterschiedlichen Funktionen der Menschen 460 Vgl. BVerfGE 93, 266 (293) – Soldaten sind Mörder; 107, 278 (284) – Schockwerbung II; Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 11; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 540; Schlussanträge der GA’in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 81: „Als Ausfluss und besondere Ausformungen der Menschenwürde dienen aber letztlich alle (besonderen) Menschenrechte der Verwirklichung und dem Schutz der menschlichen Würde […].“ 461 In den Worten Enders’, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 11: „keine Rechte ohne Würde“. In diesem Sinne auch Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (402). 462 Siehe ausführlich zur Menschenwürde nach dem GG im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG Teil C. I. 463 BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. 464 BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. Indem das BVerfG an anderer Stelle hervorhebt, dass das Grundgesetz „den Schutz der Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck erkennt“, macht es wiederholt deutlich, dass es von der fundierenden Rolle der Menschenwürde ausgeht (BVerfGE 12, 45 (51) – Kriegsdienstverweigerung I). Die nachfolgenden Grundrechte sind mithin um der Würde willen zu deren Verwirklichung und Schutz da. In den Worten von Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 9: „Ohne Menschenwürde gibt es keine (Grund-)Rechte, ohne Grundrechte aber auch keine Menschenwürde.“ 465 Vgl. Enders, in: Stern  /  Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 9: „[…] Rechts(geltungs)grund der Grundrechte, also […] (Entstehungs-)Grund, denn um der Würde des Menschen willen wurden die Grundrechte normiert […].“; Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 273. Auch das BVerfG bezeichnet die Menschenwürde als „Fundament aller Grundrechte“ (E 107, 275 (284) – Schockwerbung II). Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33 (34): „[…] in recognising the principle of ‚human dignity‘ as the State’s foundation, the Constitution reveals the fundamental anthropological concept or presupposition on which ‚fundamental‘ or ‚human rights‘ are based and which gave birth to such rights.“; a. A.: den Hartogh, in: Düwell u. a. (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 200 (206), der provokativ mit den Worten schließt: „The Germans should change their unchangeable constitution.“ (S. 206). Den Hartogh sieht unter anderem das Problem in der Begründung der Menschenrechten mit der Würde des Menschen nach dem Kantischen Verständnis darin, „that we will tend to overvalue considerations of human welfare or autonomy protected by human rights, if we conceive of appeals to human rights as, basically, appeals to human dignity themselves.“ (S. 205).

II. Rechtsbegriff der Menschenwürde und sein universeller Gehalt

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würde einerseits und der Menschenrechte andererseits näher bestimmen. GeddertSteinacher macht dies zutreffend mit folgender Feststellung deutlich: „Die Frage nach dem Geltungsgrund der Menschenrechte einerseits und ihren realen Bedingungen und Ausprägungen andererseits hat sich grundrechtssystematisch in der kategorialen Unterscheidung von Menschenwürde und Menschenrechten niedergeschlagen.“466 Menschenwürde und Menschenrechte stehen danach in keinem Konkurrenzverhältnis zueinander, denn schließlich folgen die Menschenrechte aus der Menschenwürde.467 Dennoch sind Menschenwürde und Menschenrechte nach wie vor aufeinander bezogen: Als Konstitutionsprinzip, das als oberster Wert in den vorrechtlichen Bereich weist, gebietet die Menschenwürde, dass die einzelnen Menschenrechte  – ebenso wie auch die Verfassungsprinzipien  – so aufzufassen sind, dass sie mit der Menschenwürde vereinbar sind. Die Menschenwürde prägt die jeweilige Zielrichtung der einzelnen Menschenrechte und verfügt über eine wertausfüllende Wirkung – insbesondere dann, wenn die jeweiligen Aussagen der menschenrechtlichen Gewährleistung vage und unbestimmt bleiben.468 Dadurch, dass sie eine Grundannahme über die Wesenhaftigkeit des Menschen vorgibt, sind die einzelnen Menschenrechte nicht isoliert zu verstehen, sondern vielmehr erfordert die Menschenwürde ein einheitliches Verständnis des Menschenrechtskatalogs als Ganzes.469 Sie macht damit zwingende Vorgaben für die Auslegung. Somit werden sowohl die deskriptive wie auch die normative Rolle der Menschenwürde deutlich.470 Als deskriptives Konzept beschreibt die Menschenwürde im Sinne einer anthropologischen Prämisse die Wesenhaftigkeit des Menschen und hilft den dem Einzelnen zukommenden Achtungsanspruch – der dann in subjektive Rechte in Form der einzelnen Menschenrechte umgesetzt wird – zu begründen. Und als normatives Konzept gibt die Menschenwürde verpflichtend vor, dass jeder Mensch um seiner Würde willen in den Genuß der universell gültigen Menschenrechte kommen muss. Dies ist die subjektiv-rechtliche Seite des Menschenwürdesatzes. Daher drückt es Habermas zutreffend aus, wenn er feststellt: „Die Gewährleistung von Menschenrechten erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben, in ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden.“471 466

Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 45. Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 552. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (662), stellt zutreffend fest, dass die Menschenrechte auch im deutschen Grundgesetz „in Art. 1 Abs. 2 GG aus dem Postulat der Menschenwürde“ begründet würden. 468 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 73 f. 469 Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33 (34), bezeichnet die Menschenwürde als „the ‚value principle‘ that constitutes the very foundation (and ‚criterion‘) on which the fundamental rights listed in the Constitution are based, giving a ‚unity of meaning‘ to the catalogue as a whole.“ 470 Vgl. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (562 f.). 471 Habermas, Das utopische Gefälle, S. 6. Ähnlich formuliert es Habermas auch in seinem Essay „Zur Verfassung Europas“, indem er die Garantie der Menschenrechte durch den Staat um der Würde willen fordert: „Die Bürger kommen als Adressaten nur in den Genuss von Rechten, die ihre Menschenwürde schützen, wenn sie es gemeinsam schaffen, eine auf Menschenrechte gegründete politische Ordnung zu stiften und zu erhalten.“ (S. 26 f.) 467

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B. Von der Idee zum Recht

Bei der Menschenwürde handelt es sich somit um ein Prinzip des Rechts,472 das nicht etwa moralische Verpflichtungen begründet, sondern Menschenrechte fundiert.473 Da die Menschenwürde den universell gültigen Achtungsanspruch eines jeden Menschen normiert und für diesen bürgt,474 begründet sie als subjektives Recht selbst ein Ensemble von subjektiven Rechten, die die universell gültige Wesenhaftigkeit des Menschen schützen.475 Ihre Klammerwirkung nicht nur bezüglich einzelner Verfassungsordnungen sondern auch für den internationalen Menschenrechtsschutz erzielt die Menschenwürde durch ihre die Menschenrechte fundierende, begründende und zugleich begrenzende Funktion. Durch die Menschenwürde wird ein universelles Menschenrechtsverständnis ermöglicht und werden die Menschenrechte als etwas begriffen, dem ein einheitliches Verständnis zugrundliegt.476 d) Die Absolutheit des Menschenwürdesatzes Begreift man also die Menschenwürde als tragendes Konstitutionsprinzip und als subjektives Recht, hat dies nicht nur Konsequenzen für die Auslegung der einzelnen Menschen- bzw. Grundrechte. Die Menschenwürde ist nicht nur als bloße Hintergrundannahme zu verstehen, sondern vielmehr der Maßstab bei Auslegung und Anwendung der einzelnen Konkretisierungen des Prinzips Menschenwürde, den Menschenrechten, der zwingend einzuhalten ist. Ein Zurückfallen hinter den von ihr gesetzten Mindestschutzstandard ist nicht möglich, ohne die Menschenwürde 472 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 97; Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179 (181); ebenso das BVerfG: „Prinzip […] der Menschenwürde“ in E 107, 275 (284) – Schockwerbung II; Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33 (34); O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (564 f.). 473 Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179 (181); Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 9; Schlussanträge der GA’in StixHackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 76; Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33 (34). 474 Lohmann, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 179 (184): „Dieses ‚Recht, Rechte zu haben‘, ist aber nicht schon selbst ein (subjektives) Recht, sondern bürgt nur dafür, dass der einzelne Mensch als Träger von Menschenrechten anzuerkennen ist. […] Dieses ‚bürgen‘ im Sinne eines ‚einstehen für etwas‘ ist auf die Konstitution eines Rechtsverhältnisses gerichtet, genauer, auf die Anerkennung jedes einzelnen Menschen als Träger von Menschenrechten, ist aber nicht schon selbst Recht (law), sondern drückt gerade den Übergang zum Recht aus.“ 475 Vgl. Hilgendorf, Aufklärung und Kritik 1/2001, 72 (89). Ebenso Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), S. 33 (34): „[…] it expresses recognition of a set of inalienable and inviolable rights which existed before the State and which the State must respect, rights which are linked to our very dignity, as human beings and as people, and which, consequently, are both the result and indispensable expression of such dignity.“ 476 Vgl. Cardoso da Costa, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, S. 33 (34).

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zugleich zu verletzen und damit die Wesenhaftigkeit des Menschen zu negieren. Der Eingriff in die Menschenwürde bedeutet zugleich deren Verletzung.477 Die sich mittlerweile weltweit mit Ausnahmen immer mehr durchsetzende schrittweise Grundrechtsprüfung (Schutzbereichseingriff und Rechtfertigung), wie sie insbesondere durch das BVerfG geprägt worden ist, findet bei der Menschenwürdegarantie aufgrund ihrer Absolutheit keine Anwendung.478 Auch im Parlamentarischen Rat wurde die Menschenwürde durch den „Mindeststandard charakterisiert, von dem wir ausgehen wollen, die absolute Schranke, die gegenüber der Staatsraison aufgerichtet ist. Die von niemand bestrittene notwendige Staatsraison muss an einer bestimmten Barriere haltmachen.“479 Dies hilft, die Absolutheit des Menschenwürdesatzes zu verstehen. Denn nur dort, wo die Menschenwürde nicht verletzt wird, sie also anerkannt und geachtet wird, handelt es sich noch um Recht. Denn schließlich gehört die Achtung der Menschenwürde bereits zu den Begriffsmerkmalen des Rechtsbegriffs.480 Der jedem Menschen zukommende Achtungsanspruch ist nicht zu negieren, ohne nicht zugleich den Grund allen Rechts infragezustellen.481 Bei der Anwendung der Folter etwa wird damit zugleich die auf dem Achtungsanspruch fußende Rechtsordnung verletzt.482 Bereits aus dem Begriff des Rechts folgt somit, dass es ein Recht auf Verletzung der Menschenwürde eines anderen Menschen ebenso wenig geben kann wie eine Rechtspflicht zur Achtung einer Würdeverletzung.483 Mithin scheidet eine Eingriffsrechtfertigung aus. Die Stellung der Menschenwürde als oberstes Konstitutionsprinzip begründet somit den Absolutheitscharakter der Menschenwürde, also das Verbot jeglicher Beschränkung der Menschenwürde und erklärt ihre Abwägungsfeindlichkeit.484 Dies erklärt etwa auch, weshalb das Folterverbot absolut gilt, denn bei diesem handelt es sich um eine der wichtigsten und direktesten Ausprägungen des Menschenwürdesatzes.485 Ähnlich verhält es sich mit dem Verbot der Sklaverei, was in der Regel absolut gewährleistet wird. Die Absolutheit des Folterverbotes wird in Art. 3 EMRK normiert, das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit findet sich in Art. 4 EMRK. Hinsichtlich des Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bestimmt Art. 15 Abs. 2 EMRK, dass im Notstandsfall von dieser Bestimmung ebenso wie vom Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit in 477

Vgl. Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (388). Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (388). 479 Schmid, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1­ 948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, Nr. 5, Vierte Sitzung 23. September 1948, S. 70. 480 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 532. 481 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). 482 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663). 483 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 532 f. 484 Vgl. Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understading Human Dignity, S. 381 (388). 485 Vgl. Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht, Bd. II, § 22 Rn. 56. Ebenso Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663): „Die Menschenwürde ist das Fundament des absoluten Folterverbots, weil sie durch Folter ganz und gar negiert wird.“ 478

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keinem Fall abgewichen werden darf.486 Wiederholt hat auch der EGMR in seiner Rechtsprechung die Absolutheit des Folterverbots betont.487 Auch in Art. 5 AEMR, Art. 7 IPbpR sowie in Art. 4 GRCh ist das Folterverbot normiert und einer Eingriffsrechtfertigung nicht zugänglich. Art. 8 Abs. 1 und 2 IPbpR statuieren das Verbot der Sklaverei. Gemäß Art. 4 Abs. 2 IPbpR dürfen die Art. 7 und 8 Abs. 1 und 2 IPbpR nicht außer Kraft gesetzt werden. Auch die UN-Antifolterkonvention (CAT) stellt ausdrücklich in Art. 2 Abs. 2 und 3 klar, dass eine Rechtfertigung der Folter nicht in Betracht kommt.488 Damit statuieren diese Verträge ein absolutes Verbot jedweder Abwägung mit anderen Rechtsgütern.489 In einer Verfassungsordnung kann es im Übrigen nur ein absolutes Recht geben, denn andernfalls könnte eine Kollision zweier oder mehrerer absoluter Rechte nicht aufgelöst werden, ohne dass eines dieser Rechte preisgegeben werden müsste und somit nicht mehr absolut gelten würde.490 Diese Tatsache unterstreicht ebenfalls die Annahme, wonach das Folterverbot als unmittelbare Ausprägung der Menschenwürdegarantie zu verstehen ist. Denn auch wenn jedes Menschenrecht als Ausprägung der Menschenwürde zumindest einen bestimmten Menschenwürdekern in sich trägt, ist das Verbot der Folter mit der Menschenwürdegarantie identisch. Nicht bei jeder Menschenrechtsverletzung handelt es sich schließlich zugleich auch um eine Verletzung der Menschenwürde. Anders ist dies jedoch im Fall der Folter. Bei der Folter wird genau das negiert, was jedem Menschen zukommt: Das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen und seine eigenen Belange und der jedem Menschen

486

Der EGMR hob in der Rs. Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.07.2006, Beschw. Nr. 54810/00, Nr. 99 die Bedeutung des Folterverbots und dessen Absolutheitsanspruch deutlich hervor: „The Court reiterates […] that Article 3 enshrines one of the most fundamental values of democratic societies. Even in the most difficult circumstances, such as the fight against terrorism and organised crime, the Convention prohibits in absolute terms torture and inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the victim’s conduct. Unlike most of the substantive clauses of the Convention, Article 3 makes no provision for exceptions and no derogation from it is permissible under Article 15 § 2 even in the event of a public emergency threatening the life of the nation […].“ 487 In EGMR, Urt. v. 12.05.2005, Beschw. Nr. 46221/99 (Öcalan ./. Türkei), Nr. 179, macht der Gerichtshof deutlich, dass die Absolutheit des in Art. 3 EMRK verankerten Folterverbots bzw. Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe als eines der fundamentalen Werte einer demokratische Gesellschaft unabhängig vom Verhalten des Opfers gelte und auch unter dem Aspekt des Schutzes der Bevölkerung vor Terror eine Rechtfertigung nicht zu rechtfertigen sei; Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 165: „one of the core and absolute rights guaranteed by the Convention“. 488 „(2) No exceptional circumstances whatsoever, whether a state of war or a threat of war, internal political in stability or any other public emergency, may be invoked as a justification of torture. (3): An order from a superior officer or a public authority may not be invoked as a justification of torture.“ 489 Vgl. Bielefeldt, in: Beestermöller / Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, S. 109; Dederer, JöR 2009, S. 89 (123); Enders, in: Stern / Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 73; Herbert, EuGRZ 2014, 661 (661). 490 Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (388).

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zukommende Achtungsanspruch  – eben seine menschliche Würde.491 Dies trifft auch auf das mit dem Folterverbot in Zusammenhang stehende Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe zu. 3. Die Würde des Tieres nach Analogie der Menschenwürde In jüngster Zeit wird in der Literatur vermehrt diskutiert, ob es über eine Menschenwürde hinaus auch eine Würde des Tieres bzw. möglicherweise auch gar der Pflanzen gibt.492 Es stellt sich mithin die Frage, ob eine Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde besteht. Mit der Schweizerischen Bundesverfassung wurde am 17.05.1992 erstmals in einer nationalen Verfassung die „Würde der Kreatur“ aufgenommen. Weitere Verfassungen sind dem bislang nicht gefolgt. Allerdings bestehen zahlreiche regionale und internationale Abkommen, die den Schutz der Umwelt sowie bedrohter Tier- und Pflanzenarten sowie deren Lebensräume vorsehen. Art. 20a GG normiert als Staatszielbestimmung den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und Tiere „in Verantwortung für die künftigen Generationen“. Art. 120 Abs. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung sah (vor der Totalrevision der Verfassung im Jahre 1999 Art. 24) Folgendes vor: „Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.“493 Unter den Begriff Kreatur sollen dabei sowohl Tiere als auch Pflanzen fallen.494 Dass der Würde der Kreatur Rechnung zu tragen ist, soll dabei zwar nicht im Sinne eines absoluten Schutzes verstanden werden, jedoch soll dies auch nicht bedeuten, dass die Anliegen kreatürlicher Würde dem Gesetzgeber zur freien Disposition stehen.495 Nach schweizerischem Verständnis soll der Begriff Würde in Art. 120 BV in erster Linie ausdrücken, dass der Mensch auch die nicht-menschliche Kreatur in ihrem Selbstzweck und Selbstwert anerkennt, wobei sich diese Anerkennung gegen jede Form der grundlosen Beschädigung oder Vernichtung richtet.496

491

Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (663); von der Pfordten, Menschenwürde, S. 62 f. In der Rechtswissenschaft zeichnet sich auch in Europa eine zunehmende Auseinandersetzung mit Tierrechten ab, vgl. hierzu Buhl, Tiere im Recht – ein neues Rechtsgebiet in Europa, in: Verfassungsblog, http://verfassungsblog.de/tiere-im-recht-neues-rechtsgebiet-in-europa/ (zul. einges. am 01.12.2018). 493 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999. Richter, ZaöRV 67 (2007), 319, 320, verweist darauf, dass mit der Formulierung der „Würde der Kreatur“ in der BV eine sprachliche Nähe zur Schöpfungsgeschichte hergestellt wurde. In der französischen Sprachfassung der Neufassung der BV von 1999 war hingegen aber die Rede von der „intégrité des organismes vivants“ (siehe hierzu ausführlicher Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (328). 494 Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (330). 495 Flury, in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 245 (246). 496 Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (330 m. w. N.). 492

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In seiner Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion zum Urteil der Großen Kammer des EGMR v. 26.06.2012 in der Rs. Herrmann ./. Deutschland vertrat Richter Pinto de Albuquerque die Ansicht, dass eine Würde aller Spezien („dignity of all species“) bestehe.497 Nach Pinto de Albuquerque gehe die EMRK von einem qualifizierten Speziezismus aus, der sich auf einem verantwortungsvollen Anthropozentrismus gründe.498 Der Begriff Speziezismus richtet sich gegen dualistische Vorstellungen, die auf der einen Seite den Menschen sehen und demgegenüber stehend alle anderen Lebewesen. Hiermit ist ein moralisches und rechtliches Vorzugsurteil zugunsten der Überlegenheit der menschlichen Gattung verbunden.499 Pinto de Albuquerque verwies dabei auf Art. 8 EMRK500 und kam zu dem Schluss, dass die Konvention Tiere als konstitutiven Teil einer ökologisch ausgewogenen und nachhaltigen Umwelt begreife und deren Schutz in einen größeren Rahmen u. a. einer „inter-species equity“ eingebunden ist, die die allen Spezies inhärente Würde als „‚fellow creatures‘“ vorsieht.501 Auch wenn er eine Wesensverschiedenheit zwischen Tier und Mensch nicht bestritt, bewahre dies nicht „from acknowledging the inherent dignity of all species living on the planet and the existence of basic comparable interests between humans and other animals and therefore the need to safeguard certain ‚animal rights‘, metaphorically speaking, in a similar way to human rights.“502 Die im deutschen Verfassungsrecht zu findende Staatszielbestimmung in Art. 20a GG umfasst hinsichtlich des Tierschutzes die Verpflichtung des Staates, grundsätzlich alle Tiere, sofern sie Leidens- und Empfindungsfähigkeit besitzen, vor Schmerzen, Leiden oder Schäden zu bewahren.503 Aber erst durch den Gesetzgeber 497 Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 26.06.2012 (GK), Beschw. Nr. 9300/07 (Herrmann ./. Deutschland). 498 Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 26.06.2012 (GK), Beschw. Nr. 9300/07 (Herrmann ./. Deutschland), S. 37. 499 Hörnle, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S.  183. 500 Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 26.06.2012 (GK), Beschw. Nr. 9300/07 (Herrmann  ./. Deutschland), S. 33: „Article 8 provides for an obligation on the State to avoid acts and activities that could have detrimental consequences for public health and the environment, and more specifically an obligation on the State to ensure and promote public health regarding the control of wild, abandoned and stray animals, ill animals and domestic animals.“ 501 Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 26.06.2012 (GK), Beschw. Nr. 9300/07 (Herrmann ./. Deutschland), S. 37. 502 Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 26.06.2012 (GK), Beschw. Nr. 9300/07 (Herrmann ./. Deutschland), S. 37. Des Weiteren verweist Pinto de Albuquerque, a. a. O., S. 39, darauf, dass sich die Rechtsordnung eines demokratischen Staates sich nicht mit dem Zurückweisen einer „tierfreundlichen Welt­ anschauung“ vertrage, die auch seitens des EGMR, internationaler Organisationen und auch der deutschen Gesetzgebung anerkannt sei. Weiter heißt es: „Put another way, democratic States cannot reject the right to censcientious objection based on the idea of animal welfare, an idea which fosters a sense of solidarity between humans and other living beings and ultimately promotes the ‚dignity of all creatures‘.“ 503 Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 12 f.

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werden Inhalt und Ausmaß dieser Staatszielbestimmung ausgestaltet, was wiederum bedeutet, dass Art. 20a GG nur die Idee des Tierschutzes schützt, nicht aber die einzelne Tierart oder gar das individuelle Tier.504 Zwar kann Art. 20a GG Beschränkungen von Grundrechten wie etwa die Glaubensfreiheit, Kunstfreiheit oder Eigentumsgarantie legitimieren.505 Art. 20a GG wiederum wird durch die Grundrechte beschränkt, was insbesondere im Hinblick auf den Tierschutz von besonderem Gewicht ist, denn hier sollte mit der Verfassungsergänzung 2002 um den Tierschutz nur ein „ethisches Minimum“ gewährt werden.506 So ist ein angemessener Ausgleich mit den anderen Verfassungsgütern herzustellen.507 Insbesondere aber die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG genießt als Höchstwert der Verfassungsordnung und aufgrund ihrer Schrankenlosigkeit besonderes Gewicht, sodass zum Teil gar vertreten wird, eine Gleichstellung von Mensch und Tier verletze Art. 1 Abs. 1 GG,508 zumindest aber, dass der Höchstwert der Menschenwürde jedenfalls die Distinktion des Menschen gegenüber der sonstigen Kreatur voraussetze.509 Auch das BVerfG sprach in einer Kammerentscheidung von einem „kategorialen Unterschied zwischen menschlichem, würdebegabtem Leben und den Belangen des Tierschutzes“510. Fraglich ist jedoch, ob ein solcher kategoriale Unterschied besteht bzw. wie er sich begründen ließe. Geht mit der Anerkennung einer Würde des Tieres die Annahme eines der Menschenwürde vergleichbaren Eigenwertes einher, wird es allerdings schwer zu begründen sein, warum Tieren damit nicht Rechte und Pflichten im Sinne einer Rechtssubjektivität zugesprochen werden.511 Denn die Anerkennung der Würde, wie sie dem Menschen innewohnt, beruht auf seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung.512 Hieraus leitet sich sein spezifischer Eigenwert ab und hierauf gründet auch seine Rechtssubjektivität. Auch wenn es neuesten lebenswissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge bei einigen Tierarten eine sehr enge Verwandtschaft zum Menschen gibt und bei manchen gar ein Ich-Bewusstsein vorhanden ist,513 504

Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (342), str. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 15. 506 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 16; Cornils, Reform des europäischen Tier­ versuchsrechts, S. 101. 507 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 14. 508 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 16. 509 Cornils, Reform des europäischen Tierversuchsrechts, S. 99. In der Literatur ist vereinzelt versucht worden, aus der Menschenwürde eine Pflicht und Verantwortung für Tiere abzuleiten, was mit einem Werte- und Verfassungswandel von einem „ursprünglich anthropozentrischen Würdeverständnis“ zu einem „‚modernen‘ pathozentrischen Verständnis“ begründet worden ist bzw. damit, dass sich der Mensch selbst entwürdige, wenn er im Umgang mit Tieren das ethische Mindestmaß unterschreite (siehe hierzu die Nachweise bei Cornils, a. a. O., S. 98, sowie Richter, ZaöRV 67 (2007), 319 (340). 510 BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 2009, 3090 (3091), Rn. 25 = BVerfGK 15, 93 (101). 511 Richter, ZaöRV 67 (2007), S. 319 (344). 512 Vgl. von der Pfordten, in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 105 (110). 513 Siehe hierzu die näheren Ausführungen bei Richter, ZaöRV 67 (2007), S. 319 (347). 505

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B. Von der Idee zum Recht

wird es dennoch schwierig, eine dem Menschen vergleichbare Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung auszumachen, sodass von einer inhärenten Würde in Analogie zur Menschenwürde gesprochen werden kann.514 Zwar verfügen auch Tiere ebenso wie der Mensch über eigene Wünsche, Interessen, Bedürfnisse und Belange.515 Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier aber fähig, moralisch zu handeln, denn es ist ihm möglich, seine Wünsche und Interessen der ersten Stufe zugunsten ethischer Gesichtspunkte zu relativieren, mit anderen Worten kann er Bewertungen, Wünsche und Interessen zweiter Stufe gegenüber eigenen und fremden Wünschen, Bedürfnissen und Interessen der ersten Stufe formulieren.516 Die inhärente Würde des Menschen, die dem Tier gerade nicht innewohnt, ist „seine Fähigkeit zum vernünftigen Verhalten gegenüber eigenen und fremden Trieben, Neigungen, Wünschen oder Interessen erster Stufe auf einer Metaebene“517. Gerade die Fähigkeit des Menschen aber, die Bedürfnisse und Belange anderer Lebewesen wahrzunehmen und moralisch zu handeln, macht es erforderlich im Interesse ihrer primären Belange, Tiere nach ethischen Maßstäben verantwortungsvoll zu behandeln518 und vor allem unnützes Leid von ihnen abzuwenden. Ohnehin ist es zweifelhaft, ob mit der Annahme einer Tierwürde dem Ansinnen, einen größtmöglichen Schutz der Tiere zu erreichen, geholfen ist. Zwar hat es sicherlich appellativen Charakter, wenn in einer Verfassung wie der Schweizerischen BV die Würde des Tieres ausdrücklich erwähnt wird. Andererseits wird hiermit ebenso wenig wie mit der Formulierung gar einer Pflanzenwürde ein neuer Umstand zur Geltung gebracht und ein Erkenntnisgewinn erzielt.519 Vielmehr dürfte dies durch klare Formulierungen ethischer Grundsätze bezüglich des Umgangs mit Tieren und gesetzlich verankerter konkreter Schutzpflichten erreicht werden können.  

III. Ergebnis Der im Laufe einer langen ideengeschichtlichen Entwicklung herausgebildete Menschenwürdebegriff hat insbesondere bei Kant seinen universellen, absoluten und normativ geprägten Charakter erhalten. Aufgrund seines normativen Charakters 514 Von der Pfordten, Menschenwürde, S. 87; ders., in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 105 (116 f.). 515 Von der Pfordten, in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 105 (111). 516 Von der Pfordten, in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 105, 111 (114); Hörnle, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S.  183 (187). 517 Von der Pfordten, in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 105 (115). 518 Vgl. von der Pfordten, Menschenwürde, S. 87; ders., in: Brenner (Hrsg.), Tiere beschreiben, S. 105 (116). 519 Hörnle, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 183 (190 f.), Hörnle, a. a. O., S. 193, resümiert zutreffend: „Nimmt man die gravierenden ethischen und politischen Dilemmata ernst, müsste offensichtlich sein, dass diese nicht mit dem schlichten Verweis auf die Würde von Kreatur und Natur aufgelöst werden können.“

III. Ergebnis  

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fand der Begriff schließlich seinen Weg in das Recht und verbreitete sich weltweit vor allem durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – aber auch durch den Einfluss einzelner nationalstaatlicher Verfassungen – im Völkerrecht wie auch in nationalen Rechtsordnungen. Dabei lässt sich ein Minimalkonsens erkennen, der von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als anthropologische Prämisse ausgeht und daraus einen Achtungsanspruch ableitet. Dieser sich somit aus moralischen Erkenntnissen über die Wesenhaftigkeit des Menschen ableitende Anspruch unterstreicht die Subjektstellung des Einzelnen, indem er es untersagt, den Einzelnen zu instrumentalisieren und so zum bloßen Objekt zu degradieren520 und findet seinen Ausdruck unter anderem im Verbot Folter, der Diskriminierung, der psychischen und physischen Mißhandlung, Demütigung, Erniedrigung und Brandmarkung. Die Untersuchung hat des Weiteren ergeben, dass die Menschenwürde ein universelles Rechtsprinzip im Sinne eines Konstitutionsprinzips allen Rechts darstellt. Es handelt sich somit nicht um eine bloße normative Hintergrundannahme, sondern vielmehr um die Grundvoraussetzung des Rechts überhaupt. So ist ohne die Anerkennung der dem Menschen innewohnenden Würde kein Recht möglich. Die Menschenwürde ist also sowohl Entstehungsgrund als auch Erkenntnisquelle des Rechts,521 insbesondere auch der Menschenrechte.522 Hieraus ergibt sich zugleich die Abwägungsfeindlichkeit der Menschenwürde, denn dort wo diese relativiert wird, wird der dem Menschen zukommende Achtungsanspruch und damit das Recht an sich negiert. Da es sich bei der Menschenwürde um den verbindlichen Maßstab handelt, der die Legitimität von Recht und staatlichem Handeln bestimmt, kann es eine Beschränkung der Menschenwürde durch die übrigen Menschen- bzw. Grundrechte nicht geben. Mithilfe der Menschenwürde als dem Fundament der Rechtsordnung wird die absolute Grenze zwischen Recht und Unrecht aufgezeigt, die nicht überschritten werden kann. Daher ist die Folter als Ausdruck der größtmöglichen Verweigerung des sich aus der Menschenwürde ergebenden Achtungsanspruchs in einem Rechtsstaat nicht möglich, ohne dass ein Staat diese Eigenschaft ein­büßen würde.523 Die mit dem Menschenwürdesatz verbundene Verpflichtung aller staatlicher bzw. hoheitlicher Gewalt, die Menschenwürde als absoluten inneren Wert, der jedem Menschen in gleicher Weise zukommt,524 zu achten und zu schützen, ist somit 520

Vgl. Mahlmann, EuR 2011, 469 (480). Kirchhof, in: Grote (Hrsg.), FS Starck zum 70. Geburtstag, S. 275 (289), Der Menschenwürdesatz „entwickelt sich von einer Entstehungs- zu einer Erkenntnisquelle für Recht.“ 522 So auch Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 318. 523 Vgl. Herbert, EuGRZ 2014, 661 (665): „Seit Ende des Zweiten Weltkriegs stimmen die zivilisierten Länder der Welt darin überein, dass Folter unter keinen Umständen zugelassen werden darf, weil ihre Ächtung eine Existenzvoraussetzung des Rechtsstaates ist. Rechtsstaat und Achtung der Menschenwürde sind als zwei Seiten einer Medaille nicht unabhängig von­einander zu haben. […] Die unnachgiebige Achtung des Folterverbots ist der Preis der Freiheit, die dem Menschen angeboren und Grundlage des Rechtsstaates ist.“ 524 Vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (982). 521

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B. Von der Idee zum Recht

zu allererst ein Satz des objektiven Rechts, der das Verhältnis des Einzelnen zum Staat grundsätzlich normiert und staatliche Macht in absoluter Weise begrenzt und die Achtung sowie den Schutz der Rechte des Individuums über die Interessen des Staates bzw. einer Gemeinschaft stellt. Zugleich mündet dieser objektive Rechtssatz aufgrund seines verpflichtenden Charakters in einen subjektiven Rechtsanspruch, aus dem sich sowohl Achtungs- als auch Schutzpflichten des Staates ergeben.

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz Die folgende genauere Untersuchung der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes soll dazu dienen, sich im Weiteren dann dem Menschenwürdekonzept der EMRK nähern zu können. Da sich zur Menschenwürde nach dem Grundgesetz über Jahrzehnte eine dogmatisch ausdifferenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) herausgebildet hat, soll insbesondere die Analyse dieser Judikatur dabei helfen, die Menschenwürde als Rechtsbegriff und ihre normative Funktion – auch im europäischen und internationalen Kontext – besser zu verstehen. Vor diesem Hintergrund können im weiteren Verlauf der Untersuchung dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Menschenwürdekonzepte von GG und EMRK herausgearbeitet werden. Während der Menschenwürde noch in der Weimarer Reichsverfassung keine weitergehende Bedeutung beigemessen worden war, erhielt sie nach dem Grund­ gesetz eine besondere Stellung im Verfassungsgefüge. Das BVerfG setzte sich in seiner rund sechzigjährigen Geschichte wiederholt mit der Menschenwürde nach dem Grundgesetz auseinander und gab Art. 1 Abs. 1 GG damit entscheidend sein Gepräge. Die Rechtsprechung des BVerfG nimmt daher bei der Deutung des Menschenwürdesatzes eine herausgehobene Stellung ein. In der Literatur wird nach wie vor kontrovers über den Inhalt des Menschen­ würdesatzes diskutiert. Teilweise wird dort die Ansicht vertreten, auch dem BVerfG sei es in seiner Rechtsprechung bislang nicht gelungen, den Gewährleistungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG präzise zu bestimmen und eine allgemein konsentierte Beschrei­bung des Inhalts vorzunehmen.1 Das Gericht hat sich in vielfacher Weise und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sachverhalte dem Begriff der Menschenwürde genähert. Der Menschenwürdesatz wurde unter verschiedenen Aspekten beleuchtet und das BVerfG hat so den scheinbar inhaltsleeren,2 beziehungsweise für jegliche Interpretation offenen,3 Satz von der Würde des Menschen greifbar 1

So etwa Sacksofsky, in: Masing / Wieland (Hrsg.), Menschenwürde – Demokratie – Christliche Gerechtigkeit, S. 24 f. 2 So spricht Hoerster, JuS 1983, S. 93 ff., davon, dass es sich beim Begriff der Menschenwürde überhaupt nicht um einen deskriptiven (irgendetwas beschreibenden) Begriff handelt. Dass die Anwendung des Menschenwürdeprinzips ein moralisches Werturteil voraussetze, lasse dieses Prinzip deshalb „weitgehend zu einer Leerformel“ werden. 3 Schmoeckel, Evang. Theol., 06 (2006), S. 405 (408 f.); Limbach geht gar von der Unmög­lich­ keit jeglicher Interpretation aus: Limbach, Mensch ohne Makel, F. A. Z. Nr. 47 vom 25.02.2002, S. 51; Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (636), merkt an, dass zumindest in der Literatur häufiger die Rede davon ist, dass der auch zum Teil als unbestimmter Rechtsbegriff bezeichnete Menschenwürdebegriff juristisch kaum zu fassen sei.

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

gemacht. Während in der Literatur immer wieder auf Theodor Heuss’ Worte von der Menschenwürde als einer „nicht interpretierte[n] These“4 verwiesen wird, hat das Gericht in seiner Rechtsprechung deutlich gemacht, dass eine positive Inhalts­ beschreibung der Würde des Menschen zumindest in Ansätzen möglich ist. Eine positive und gehaltvolle Begriffsbestimmung ist auch wünschenswert, denn andernfalls kann das Schutzgut des Art. 1 Abs. 1 GG nicht näher bestimmt werden.5 Ohnehin ist die dennoch vorhandene gewisse Begründungsoffenheit der Menschenwürdegarantie eher als eine ihrer Stärken und Besonderheiten im Verfassungsgefüge zu sehen. Immerhin führte dies dazu, dass die Reichweite des Geltungsanspruchs der Menschenwürdegarantie eher befördert denn behindert wurde.6 Gleichzeitig wurde in der Literatur aber wiederholt davor gewarnt, die Menschenwürde zu häufig ins Feld zu führen und damit „zur kleinen Münze des Verfassungsrechts“7 zu degenerieren. Bei der Auswertung der Judikatur wird erkennbar, dass das BVerfG bei der Begriffsbestimmung unterschiedlichen philosophischen bzw. theologischen Deutungsansätzen des Begriffs der Menschenwürde zuneigt.8 Letztlich löste es sich aber davon und nimmt nun eine staatsrechtliche und nicht eine philosophische oder theologische Interpretation vor.9 Dies entspricht auch der Menschenbildjudikatur des BVerfG, die sich ebenfalls keinem philosophischen bzw. theologischen Ansatz eindeutig und ausschließlich verschrieben hat.10 Das erscheint auch sachgerecht vor dem Hintergrund, dass der Staat die ihn treffende Achtungs- und Schutzpflicht 4 Thoedor Heuss, Nachweis bei von Doemming / Füßlein / Matz, JöR Bd. 1 (1951), S. 49, und Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 236 f.; Goos, Innere Freiheit, S. 218, neigt zu der Annahme, Heuss habe dieses Diktum allein auf die Begründung der Menschenwürde und nicht auf die Bedeutung derselben im Sinne einer Offenheit bzw. Unmöglichkeit jeglicher Interpretation bezogen. Auch Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip, S. 17 (19), geht davon aus, dass „nicht interpretiert“ nicht im Sinne einer Inhaltsleere sondern vielmehr als „religiös und weltanschaulich nicht enggeführt, ideologisch nicht fixiert“ zu verstehen ist. In diesem Sinne äußert sich auch Martin H. W. Möllers, in: ­Möllers, Martin H. W. / van Ooyen, Robert Chr. (Hrsg.), Jahrbuch öffentliche Sicherheit (2011), S. 39 (43). 5 Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 241; a. A.: Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 201 (202), der noch davon ausging, dass man es bei einer Bestimmung vom Verletzungsvorgang her belassen solle, da eine positive Umschreibung des Begriffs der Menschenwürde problematisch sei. 6 Dicke, in: Bielefeldt / Brugger / Dicke (Hrsg.), FS Schwardtländer, S. 161 (180). 7 Dürig, AöR 81 (1956), 117, 131. 8 Im Einzelnen dazu Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (83 f.), der bemerkt, dass gerade „die Normativitätsschwäche des Art. 1 Abs. 1 GG“ dazu einlade, bestimmte theologische oder philosophische Ideen zum Leitmaßstab der Interpretation von Art. 1 Abs. 1 GG zu machen. Er kritisiert, dass sich Art. 1 Abs. 1 GG „so zum Einfallstor für Partikularethiken entwickelt“ habe und befürchtet, dass die „Verfassung als Freiheitsordnung“ schweren Schaden zu nehmen droht. 9 Dederer, JöR 2009, S. 89 (101); Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (636). 10 Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (636); siehe im Übrigen ausführlich zum dem GG zugrunde liegenden Menschenbild: Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 45.

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

107

des Art. 1 Abs. 1 GG in weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen hat.11 Das Gericht sprach zwar in anderen Entscheidungen davon, dass der vom Grundgesetz aufgestellten wertgebundenen Ordnung die Vorstellung zugrunde liegt, „dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt“12. Es scheint damit einen Hinweis auf ein dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des BVerfG zugrunde liegendes christlich geprägtes Menschenbild zu geben. An anderer Stelle hat es jedoch deutlich hervorgehoben, dass das Grundgesetz die weltanschaulich-religiöse Neutralität „dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person“ durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG auferlegt hat.13 Eine starre Begriffsbestimmung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG ausgeschlossen und einer dynamischen Interpretation muss Raum gegeben werden: „Das Urteil darüber, was der Menschenwürde entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“14 In einem späteren Urteil hob das Gericht hervor: „Was die Achtung der Menschenwürde im Einzelnen erfordert, kann von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig losgelöst werden.“15 Das BVerfG machte damit deutlich, dass die Anwendung der Menschenwürdegarantie immer im jeweiligen Kontext der Zeit gesehen werden muss. Diese Feststellungen des BVerfG wurden in der Literatur zum Teil als Beispiele dafür aufgefasst, dass die Menschenwürde einer Abwägung zugeführt wird.16 In der folgenden Untersuchung soll daher auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit dem in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde formulierten Absolutheitsanspruch entsprochen wird bzw. entsprochen werden kann. Des Weiteren soll neben der Frage nach der Möglichkeit der Begriffsbestimmung insbesondere der Frage nachgegangen werden, welche Funktion und normative Qualität der Menschenwürdegarantie im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes zukommt.

11

Dederer, JöR 2009, S. 89 (104); Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (83), macht deutlich, dass es zu den „Grundaxiomen moderner Verfassungsstaatlichkeit“ gehöre, „dass Recht und Ethik nicht unvermittelt gleichgeschaltet werden dürfen. Auch verfassungsrechtliche – insbesondere grundrechtliche – Normen sind nicht unvermittelter Ausdruck ethischer Prinzipien.“ Dies dürfe im pluralistischen Gemeinwesen schon deshalb nicht sein, weil der Verfassungsstaat nicht eine bestimmte Ethik zur allgemeinen Verbindlichkeit erheben dürfe. 12 BVerfGE 39, 1 (67); 2, 1 (12). 13 BVerfGE 19, 206 (216). 14 BVerfGE 45, 187 (229). 15 BVerfGE 96, 375 (400). 16 So etwa Classen, DÖV 2009, S. 689.

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

I. Die Neujustierung der Stellung des Staates gegenüber dem Menschenmithilfe der Menschenwürdegarantie Der Entwurf des Parlamentarischen Rates machte einerseits die Stellung des Staates und andererseits die Stellung des Menschen deutlich. Indem die Mütter und Väter des Grundgesetzes in Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee formulierten, „[d]er Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, bekannten sie sich bewusst zu einer Abkehr vom nationalsozialistischen Unrechtsregime.17 Nicht mehr der Staat sollte Zentralgestalt der politischen Ordnung sein, sondern der Mensch.18 Zudem dürfte auch im Parlamentarischen Rat die Einsicht bestimmend ge­wesen sein, dass mit dem NS-Unrechtsstaat zuvor ein „‚Tiefstand‘ der Grundrechts­ bedeutung erreicht war“19. Die Bedeutung der Unrechtserfahrungen zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft kommt in den Beratungen des Parlamen­ tarischen Rats deutlich zum Ausdruck. Die Menschenwürde kristallisierte sich dabei für die Mitglieder des Parlamentarischen Rates als der Begriff heraus, der eine Abgrenzung zu Zwang und Willkür sowie zur Fremdbestimmtheit und Unterwerfung der Person im NS-Staat am deutlichsten und mit einer nur knappen Formulierung im Grundgesetz ernöglichte.20 Unter dem Einfluss sowohl der westlichen Alliierten sowie auch unter Bezugnahme auf deutsche Menschenrechtstraditionen entwickelte der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit seinem Grundrechtskatalog am Anfang des Textes, dem wiederum die Menschenwürdegarantie vorangestellt wurde. Dieses Voranstellen der Menschenwürdegarantie macht deutlich, dass diese die Grundrechte fundiert und vor allem anderen das Menschenbild des Grundgesetzes quasi als Exposition herausstellt. Sie ist das Leitmotiv der gesamten Verfassungsordnung. Danach kommt in der Ordnung des Grundgesetzes zuerst der Mensch und dann erst der Staat – in Umkehrung der nationalsozialistischen Vorstellung,

17 Siehe ausführlich zur Entwicklung des Menschenwürdesatzes im deutschen Grundgesetz und insbesondere zu den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat: Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 190 ff. 18 Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), S.  1 ff. 19 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 175. 20 Siehe hierzu etwa die Aussagen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates in den Protokollen: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, insbes. Dreiundzwanzigste Sitzung 19. November 1948, Nr. 30, S. 607. So formulierte es der Vorsitzende von Mangoldt: „Menschenwürde bedeutet vor allen Dingen, frei verantwortlich zu handeln.“ Das Mitglied Bergsträsser ergänzte: „Menschenwürde ist anders ausgedrückt die Freiheit von Zwang, gegen seine Überzeugung zu handeln.“ Das Mitglied Eberhard fügte an: „[…] Freie Entfaltung der Persönlichkeit ist das Gegenstück zum Roboter-System im totalitären Staat, wo es keine Persönlichkeit mehr gibt, sondern nur noch Werkzeuge der Staatsmaschine.“ Das Mitglied Weber merkte zur Menschenwürde an: „Gerade nach den Erfahrungen im Dritten Reich scheint es mir notwendig zu sein, die Menschenwürde hervorzuheben. Menschenwürde ist ein sehr treffender, einfacher und schlichter Ausdruck.“

I. Stellung des Staates gegenüber dem Menschen  

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wonach der Einzelne nichts, hingegen der Staat bzw. die Gemeinschaft alles sei.21 In den Worten Enders’ formuliert die Menschenwürdegarantie „eine besondere Berechtigung des Menschen als Menschen, die ihm ursprünglich und vor aller Verbindung zur Gemeinschaft zukommt und ihn jenseits jeglicher Inpflichtnahme auszeichnet.“22 Dass auch das internationale Recht zu der Zeit unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der menschenverachtenden Herrschaft des National­ sozialismus’ stand, zeigt sich deutlich in der die Menschenwürde und die Grundrechte des Menschen betonenden Charta der Vereinten Nationen vom 26.06.1945 sowie in der AEMR vom 10.12.1948.23 Mithilfe des Grundgesetzes, seinem Menschenbild und der Hervorhebung der Menschenwürde sowie der Grundrechte suchte man also den Schulterschluss mit dem internationalen Recht. Bereits vor der Verabschiedung des Grundgesetzes hatte aber die Menschenwürde schon Einzug in manche Landesverfassung gehalten. Den Alliierten – insbesondere den amerikanischen – kam es bei der Neugründung der Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges darauf an, als Lehre aus der Weimarer Republik, die Demokratie als Staatsform in den Landesverfassungen zu verankern und vor allem die Grundrechte zu stärken sowie eine Übermacht des Staates in Zukunft zu verhindern.24 Zudem sind auch der Einfluss sowohl der katholischen Kirche wie auch der evangelischen Kirchen auf die Entwicklung der Landesverfassungen und die Bezugnahme auf ein überpositives Wertefundament und damit ein Rückgriff auf einen naturrechtlichen Ansatz von Bedeutung gewesen.25 Aus einigen Landes­ verfassungen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und noch vor dem Grundgesetz in Kraft getreten sind, geht deutlich hervor, dass mit Hilfe des Menschenwürdesatzes die Abkehr vom Unrecht des Nationalsozialismus’ vollzogen werden sollte. So verweist etwa die Präambel der Landesverfassung der Freien Hansestadt ­ remen vom 21. Oktober 194726 auf die Missachtung der Menschenwürde durch B das Naziregime und rekurriert zugleich auf die Bedeutung der Selbstbestimmung der Bürger und der sozialen Gerechtigkeit sowie der Menschlichkeit und der Sicherung eines menschenwürdigen Daseins.27 Art. 5 der Bremischen Verfassung bekennt 21

Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 1. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 176. 23 Siehe hierzu ausführlich Teil B. 24 Vgl. hierzu ausführlich Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, S. 19 f. 25 Vgl. hierzu ausführlich Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, S. 21–33. Zum Einfluss der Gewerkschaften sowie der Parteien dann im Folgenden, S. 33–54. 26 Brem.GBl. S. 251. 27 So heißt es dort: „Erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Missachtung der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen verursacht hat, sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird.“ 22

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

in Art. 5: „Die Würde der menschlichen Persönlichkeit wird anerkannt und vom Staate geachtet.“ Mit dieser Formulierung („anerkannt“) wird deutlich, dass sie also als etwas bereits Bestehendes, Vorkonstitutionelles verstanden wird. Ganz ähnlich wie in der Bremischen Verfassung war auch bereits zuvor in der Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 194628 auf die Missachtung der Menschenwürde verwiesen worden.29 Die Bayerische Verfassung stellt dann ihrem Grundrechtskatalog in Art. 100 die Menschenwürde voran.30 Auch die Verfassung des Landes Hessen vom 11.12.1946 bestimmt in Art. 3: „Leben und Gesundheit, Ehre und Würde des Menschen sind unantastbar.“ Auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes hat die Menschenwürdegarantie Eingang in die Landesverfassungen – nicht zuletzt auch in die der neuen Länder – gefunden. So stellt etwa die Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 199231 die Menschenwürde ihrem Grundrechtskatalog ebenfalls voran und bezeichnet darüber hinaus die Unantast­ barkeit der Menschenwürde in ihrem Art. 14 Abs. 2 gar als Quelle aller Grundrechte. Die Verfassung des Landes Brandenburg (LVerf Bbg) geht in ihrem Wortlaut hinsichtlich der Menschenwürde noch weiter. In der Präambel der Verfassung wird deutlich gemacht, dass sie „auf den friedlichen Veränderungen im Herbst 1989“ gründet und „von dem Willen beseelt [ist], die Würde und Freiheit des Menschen zu sichern“. Diese Formulierung („zu sichern“) spricht neben der Annahme, dass es sich bei der Würde um etwas Vorkonstitutionelles handelt, mithin bereits eine Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde aus. Dem zweiten Abschnitt des ausführlichen Grundrechtsteils der Verfassung („2. Abschnitt: Freiheit, Gleichheit und Würde“) wird mit Art. 7 LVerf Bbg der Schutz der Menschenwürde vorangestellt: Neben ihrer Unantastbarkeit und der wie im Grundgesetz erklärten Verpflichtung aller staatlicher Gewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, wird deren Achtung und Schutz als „Grundlage jeder solidarischen Gemeinschaft“ bezeichnet (Abs. 1). In Abs. 2 kommt das Kantische Würdeverständnis deutlich zum Vorschein, indem der jedem Menschen zukommende Achtungsanspruch deutlich formuliert wird: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde.“ Ebenso wird der Achtungsanspruch in Art. 8 Abs. 1 LVerf Bbg benannt und auf das Lebensende bezogen: „Jeder hat das Recht auf Leben, Unversehrtheit und Achtung seiner Würde im Sterben.“ Zudem wird der Achtungsanspruch in Art. 27 Abs. 1 LVerf Bbg auch explizit für Kinder normiert.32 Darüber hinaus findet die Menschenwürde Erwähnung im Zusammenhang mit der Meinungs- und Medienfreiheit (Art.  19

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BayGVBl. S. 333. Die Präambel leitet ein mit: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat […].“ 30 Art. 100 BayVerf lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ 31 SächsGVBl. Jg. 1992, Bl.-Nr. 20, S. 243. 32 Art. 27 Abs. 1 LVerf Bbg lautet: „Kinder haben als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde.“ 29

II. Begriffsbestimmung vom Verletzungsvorgang her   

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Abs. 3 S. 2 LVerf Bbg)33, mit Erziehung und Bildung (Art. 28 LVerf Bbg),34 mit der Beschränkung der Forschungsfreiheit (Art. 31 Abs. 2 LVerf Bbg),35 sowie mit dem Strafvollzug (Art. 54 Abs. 1 LVerf Bbg)36. Die LVerf Bbg ist mithin von einem Menschenwürdeverständnis geprägt, das von dem Menschen als eigenverantwortliches, zur Selbstbestimmung befähigtes, in die Gesellschaft eingebundenes solidarisches Wesen ausgeht, das aufgrund seines Achtungsanspruchs – egal in welchem Alter – weder diskriminiert, noch misshandelt, noch seiner natürlichen Lebensgrundlagen beraubt werden darf. 

II. Begriffsbestimmung vom Verletzungsvorgang her Dass der historische Verfassungsgeber also das Unrecht der Zeit des Nationalsozialismus’ bei der Etablierung der Menschenwürde im Verfassungsgefüge vor Augen hatte,37 wird auch gerade in den ersten Deutungsversuchen des Menschenwürdesatzes in der Literatur sowie in der Rechtsprechung des BVerfG deutlich. Das Gericht verwies in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch in deutlichem Maße darauf hin, dass „gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaft über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auch auf das Leben des Einzelnen grundsätzlich nichts bedeutete, […] das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet [hat], die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt.“38

33 „Kriegspropaganda und öffentliche, die Menschenwürde verletzende Diskriminierungen sind verboten.“ 34 „Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer […] zu fördern.“ 35 „Forschungen unterliegen gesetzlichen Beschränkungen, wenn sie geeignet sind, die Menschenwürde zu verletzen oder die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören.“ 36 „Im Strafvollzug ist die Würde des Menschen zu achten; er muss darauf gerichtet sein, den Strafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ 37 So verwies das von der CDU entsandte Mitglied des Parlamentarischen Rates und Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen und Grundrechte in diesem Gremium Hermann von Mangoldt in den Beratungen über die Präambel des Grundgesetzes auch auf den „Willen, nach einer Zeit der Willkür und Gewalt die alten Freiheitsrechte und die geschändete Menschenwürde zu schützen und zu wahren.“ (von Mangoldt, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, Nr. 44, Dreiunddreißigste Sitzung 19. Januar 1949, S. 968). Von Mangoldt selbst hatte jedoch noch wenige Jahre zuvor in seinem Aufsatz Rassenrecht und Judentum, in: Württembergische Verwaltungszeitschrift, Nr. 3, 15.03.1939, der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung die Verfolgung hoher ethischer Ziele zugeschrieben (vgl. Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 198). 38 BVerfGE 39, 1 (67).

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

In seiner ersten Entscheidung zur Menschenwürde verzichtete das Gericht gänzlich auf eine positive Begriffsbestimmung und näherte sich Art. 1 Abs. 1 GG vom Verletzungsvorgang her. In dieser Entscheidung zur Hinterbliebenenrente nannte das Gericht einige Fälle, in denen der Staat die Würde des Menschen gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG zu schützen hat: etwa in Fällen des Angriffs „auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“39 Zum damaligen Zeitpunkt ging das BVerfG jedoch noch davon aus, dass die Menschenwürdegarantie den Staat nicht zum Schutz vor materieller Not verpflichtet.40 Auch andere Gerichte beschreiben den Begriff der Menschenwürde nicht selten anhand von Fallbeispielen.41 Diese Umschreibung des Schutzgehalts der Menschen­ würdegarantie in Form von Regelbeispielen ist vom BVerfG in der Folgezeit immer wieder angewandt worden und wird auch noch heute vom Gericht vorgenommen.42 Jedoch hat das Gericht Abstand davon genommen, sich allein auf die Regelbeispieltechnik bei der Begriffsumschreibung zu verlassen.

III. Die Menschenwürde als seinsgegebener Wert Entsprechend der Auffassung Kants sowie auch nach dem Menschenwürde­ verständnis der AEMR wird die Menschenwürde in der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) als ein seinsgegebener Wert dargestellt, der nicht erst noch konstituiert und dem Einzelnen zugesprochen werden muss, sondern jedem bereits aufgrund seines bloßen Menschseins zukommt – unabhängig von den Umständen, Eigenschaften und Fähigkeiten der einzelnen Person. Es handelt sich mithin auch nach dem Grundgesetz um einen vorkonstitutionellen Wert.43 So formuliert es das BVerfG in ständiger Rechtsprechung: Da es nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sei, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, sei „[d]er öffentlichen Gewalt […] jede Behandlung verboten, die die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten 39

BVerfGE 1, 97 (104). BVerfGE 1, 97 (104). 41 Siehe etwa bezüglich der Menschenwürde in Art. 100 der Bayerischen Verfassung: Bayerischer VerfGH, BayVBl 1982, 47 (50). 42 Etwa in BVerfGE 107, 275 (284); 109, 279 (312); 115, 118 (153). 43 Dass auch zumindest Teile des Parlamentarischen Rats von dieser Vorstellung über die Menschenwürde geprägt war, wird auch in den Protokollen zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates deutlich: Hier sprach sich das Mitglied Heuss etwa dagegen aus, zu formulieren, dass die Menschenwürde „gewährleistet“ würde: „Das Wort ‚gewährleisten‘ ist unmöglich. Das ist eine Ableitung der Menschenwürde aus irgendwelcher staatlichen Haltung. Die Menschenwürde muss doch in sich ruhen.“ (Heuss, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, Nr. 29, Zweiundzwanzigste Sitzung 18. November 1948, S. 588). 40

III. Die Menschenwürde als seinsgegebener Wert   

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oder der Schuld, die er auf sich geladen hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt.“44 Daher komme die Menschenwürde allen natürlichen Personen zu, so etwa auch Kindern, deutschen wie ausländischen Staatsangehörigen,45 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung,46 oder etwa Strafgefangenen, sodass „die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins dem Gefangenen auch in der Haft erhalten bleiben müssen und der Staat zu den dafür erforderlichen Leistungen verpflichtet ist.“47 Darüber hinaus darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten – etwa in Fällen der Auslieferung – reichen.48 Dem Grundgesetz liegt ebenso wie bei Kant die Vorstellung von einer Würde a priori zugrunde, denn es sei unerheblich, „ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß“49. Auch durch „unwürdiges“ Verhalten könne sie laut BVerfG nicht verloren gehen.50

44 BVerfGE 1, 97 (104); 87, 209 (228); 107, 275 (284); 109, 279 (313); BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 30. Aus den Protokollen zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates geht hervor, dass mit der Formulierung von Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG in Gestalt eines „Rechtssatzes“ klar gemacht werden sollte, dass es sich um eine Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der Würde eines jeden Menschen handelt – unabhängig von seinen persönlichen Eigenschaften: „[…] ist es zu begrüßen, dass der Grundrechtskatalog sofort in seinen ersten Sätzen die Würde des Menschen unter den Schutz des Staates stellt. Um so mehr sollte man diesen Worten unmittelbar die Tat folgen lassen, in Gestalt eines Rechtssatzes, welcher aller öffentlichen Gewalt zur Achtung und Schonung der Menschenwürde eines jeden und sei es auch niedrigen und strafwürdigen Menschen eine unantastbare Grenze gesetzt, und der so entschieden und allgemein gestaltet ist, daß er einzelne Aufzählungen von verbotenen Humanitätsmißachtungen (wie Grausamkeiten aller Art, Zwangssterilisierungen, Sippenbestrafungen, Unterstützungsverweigerungen, Versklavung und Brandmarkung) entbehrlich macht.“ (so das Mitglied des Parlamentarischen Rates von Mangoldt, das Mitglied Thoma zitierend, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, Nr. 29, Zweiundzwanzigste Sitzung 18. November 1948, S. 587). 45 BVerfGE 132, 134 (159). 46 BVerfGE 74, 102 (124 f.); 131, 268 (287): „Menschenwürde in diesem Sinne ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann.“ 47 BVerfGE 27, 344 (351); 32, 373 (379); 34, 238 (245); 54, 148 (153); 79, 256 (268); BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 30, in der das Gericht zu dem Schluss kam, dass auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR, der dieselben Wertungen zugrunde lägen, die Unterbringung in einem gesondert gesicherten Haftraum mit permanenter Videoüberwachung bei vollständiger Entkleidung die durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Intimsphäre des Betroffenen verletze. 48 BVerfGE 113, 154 (162 f.); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 62, 74. Insofern treffen etwa deutsche Gerichte in gerichtlichen Auslieferungsverfahren bestimmte Ermittlung- und Aufklärungspflichten: „Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verfolgten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards.“ (BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 66). 49 BVerfGE 39, 1 (41). 50 BVerfGE 109, 133 (150); 131, 268 (287).

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

IV. Objektformel und Subjektqualität des Menschen In ständiger Rechtsprechung beruft sich das BVerfG auf die von Dürig entwickelte Objektformel. Dürig sah die Menschenwürde betroffen, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“51 Diese Formel wiederum knüpfte an Immanuel Kants Variante des Kategorischen Imperativs als praktischer Imperativ an52: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“53 So werde nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG mit der Menschenwürde der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen geschützt,54 „der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt.“55 1. Das Subjektprinzip als wesentliches Element der Würde des Menschen In der Annahme, dass der Mensch immer „Zweck an sich selbst“ bleiben müsse56 und der Kernbestand der Menschenwürde vom BVerfG mit dem „Dasein um seiner selbst willen“ umschrieben wird,57 kommt das Subjektprinzip als das wesentliche Element der Würde des Menschen zum Ausdruck.58 Dies wird daran deutlich, dass das Gericht davon ausgeht, dass der Mensch im Hinblick auf seine Würde eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte „Persönlichkeit“ sei.59 51

Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, 1958, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 31; Gröschner, in: Siegetsleitner / Knoepffler (Hrsg.), Menschenwürde im interkulturellen Dialog, S. 17 (35), hebt hervor, „in welcher großen dogmenphilosophischen Tradition die Objektformel steht“. Diese Tradition würde verkürzt, „wenn man sie nur bis zu Kant zurückverfolgt“. Vielmehr sieht er Dürig in der Tradition Pico della Mirandolas, der davon ausgeht, dass der Mensch über eine „Formierungs­ fähigkeit“ verfüge bzw. die Fähigkeit besitze, „sein Leben nach eigenem Entwurf zu gestalten“, also über ein „Entwurfsvermögen“ verfüge (S. 30). Die Nähe der Auffassung Dürigs zu Pico zeige sich darin, dass Dürig davon spreche, dass der menschliche Eigenwert der Würde „von vornherein nicht in der jederzeitigen gleichen Verwirklichung beim konkreten Menschen besteh(t), sondern in der gleichen abstrakten Möglichkeit (potentiellen Fähigkeit) zur Verwirklichung“ (S.  35). Diese „Hervorhebung der Potentialität der Würde“ stelle die gedankliche Verbindungslinie zwischen Aristoteles, Kant und Pico dar. 53 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429. 54 BVerfGE 96, 245 (249); 101, 275 (287); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 54. 55 BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 109, 133 (149 f.); 117, 71 (89). 56 BVerfGE 45, 187 (228). 57 BVerfGE 88, 203 (252); siehe hierzu Böckenförde, JZ 2003, 809 (811). 58 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 11. 59 Dass das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit prägend für die Bestimmung der Menschenwürde ist, machte das BVerfG wiederholt anhand des in der Menschenwürde wurzelnden 52

IV. Objektformel und Subjektqualität des Menschen  

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Um seiner Würde willen müsse ihm – so das Gericht in seiner Entscheidung zum KPD-Verbot  – eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden.60 Dabei soll dem menschlichen Wesen diese Würde ohne Ansehung seines sozialen Status’ oder seiner Leistungen und sonstigen Eigenschaften zukommen.61 Böckenförde sieht in dieser Interpretation durch das BVerfG die Stellung und Anerkennung des Menschen „als eigenes Subjekt, die Freiheit zur eigenen Entfaltung“ und damit „positiv gewendet, das Recht auf Rechte, die es zu achten und zu schützen gilt, eingeschlossen“.62 Nach Geddert-Steinacher prägen „Selbstbestimmung, Personalität und Verantwortlichkeit […] das Verständnis der Subjektivität des einzelnen im Sinne der Objektthese entscheidend“.63 Sie kommt daher zu dem Schluss, dass die Objektformel als materialer, an der Autonomie des Menschen orientierter Satz zu verstehen sei.64 Erst wenn die Subjektqualität des Menschen also in Frage gestellt wird, wird der Mensch zum bloßen Objekt herabgewürdigt.65 Diese Kombination aus der Aufstellung von Regelbeispielen für die Verletzung der Menschenwürde und der Anwendung der Objektformel sowie der Annahme von der Subjektqualität des Einzelnen liegt denn auch der Rechtsprechung des BVerfG zur Menschenwürde zugrunde. So erkannte das Gericht ebenfalls, dass „der Leistungskraft der Objektformel auch Grenzen gesetzt“ seien.66 Schließlich sei der Mensch nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, dem er sich zu fügen habe.67 Die Menschenwürde werde aber sehr wohl dann verletzt, wenn durch die Art der staatlichen Maßnahme „die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird.“68 Das Gericht greift zur Bestimmung der Menschenwürde also sowohl auf die positiven als auch die negativen Elemente dieses Schutzguts und seiner Verletzung Schuldprinzips deutlich, indem es formulierte: „Der Grundsatz ‚Keine Strafe ohne Schuld‘ (nulla poena sine culpa) setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten.“ (BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 54 m. w. N.). 60 BVerfGE 5, 85 (204). 61 BVerfGE 87, 209 (228); 96, 375 (399). 62 Böckenförde, JZ 2003, 809 (811 f.). 63 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 32. 64 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 32. 65 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 11. 66 BVerfGE 30, 1 (25); 109, 279 (312). 67 BVerfGE 109, 279 (312). 68 BVerfGE 109, 279 (312): „Das ist der Fall, wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

zurück.69 Der Mensch muss nach dieser Rechtsprechung entweder einer Behandlung ausgesetzt sein, die seine Subjektqualität grundsätzlich in Frage stellt, oder in der Behandlung muss eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegen. Diese Behandlung müsse daher Ausdruck der Verachtung des Werts, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomme, also in diesem Sinne eine „verächtliche Behandlung“ sein.70 Das Gericht hat im Laufe seiner Rechtsprechung die Dürig’sche Objektformel zur Subjektformel gemacht: So verwirklicht der Verfassungsstaat die Menschenwürde, indem er den Bürger zum Subjekt seines Handelns macht.71 Daher formuliert es das BVerfG auch konsequent, indem es feststellt, dass die Menschenwürde zwar keinem Menschen genommen werden könne, jedoch der Achtungsanspruch, der sich aus der Menschenwürde ergebe, verletzbar sei.72 Gerade die sich aus der Menschenwürde ergebende Subjektqualität ist es also, die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützt wird. 2. Das vom BVerfG zugrunde gelegte Menschenbild und die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums Wie das Menschenbild des Grundgesetzes nach Ansicht des BVerfG beschaffen ist, machte das Gericht bereits 1954 in seiner Investitionshilfe-Entscheidung deutlich, indem es formulierte: „Das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Das heißt aber: der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt all­ gemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“73

Auch in weiteren Entscheidungen hat das Gericht diese Rechtsprechung immer wieder bekräftigt74 und betont, dass der Mensch nur im Miteinander seine Persön 69 Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (637); a. A.: Elsner / Schobert, DVBl 2007, S. 278 (280), wonach der Schutzbereich der Menschenwürde nicht positiv bestimmt werde, sondern vielmehr eine „exemplifizierende Kasuistik“ negativer Umschreibungen entwickelt werde, durch welche Akte der öffentlichen Gewalt die Menschenwürde verletzt werde. 70 BVerfGE 30, 1 (25 f.). 71 Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 537. 72 BVerfGE 87, 209 (228); 109, 133 (150). 73 BVerfGE 4, 7 (15). 74 So auch in BVerfGE 6, 389 (433 f.), siehe hierzu die Ausführungen unter Punkt C. VI. 1. a); ebenso in E 65, 1 (44); 38, 105 (115); 8, 274 (329); 109, 133 (151); 131, 268 (288); a. A.: Thalmair, Das Menschenbild des Homo Europaeus, S. 57, der vor dem Hintergrund von BVerfGE 49, 286 (298), wonach man nur von der Menschenwürde sprechen könne, sofern der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich zu gestalten vermöge und zwar in

IV. Objektformel und Subjektqualität des Menschen  

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lichkeit entfalten könne.75 Ebenso verwies das Gericht in seinem VolkszählungsUrteil aus dem Jahr 1983 auf die Auflösung dieser Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person. Der Einzelne müsse – so das Gericht in seiner Entscheidung – grundsätzlich Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.76 Auf dieses Menschenbild nahm das BVerfG in der Folge wiederholt Bezug, indem es etwa hervorhob, dass „das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht.“77 Worauf aber gründet sich dieses Bild von der gemeinschaftsgebundenen Person und was genau ist darunter zu verstehen? Das Gericht sprach in seiner Entscheidung zur Lebenslangen Freiheitsstrafe davon, dass die Achtung und der Schutz der Menschenwürde zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes gehören und dass die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung darstellen.78 Dem liege, so das BVerfG zuvor in seiner Mephisto-Entscheidung79, die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt sei, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten.80 Diese Freiheit verstehe das Grundgesetz jedoch nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums. Sie könne im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht „prinzipiell unbegrenzt“81 sein. Der Einzelne müsse sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren ziehe. Die Eigenständigkeit der Person müsse jedoch gewahrt bleiben.82 Dies bedeute, dass auch in der Gemeinschaft grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden müsse.83 Es widerspreche daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt

der Art, wie der Mensch sich selbst begreife, zu dem Schluss kommt, dass im Mittelpunkt des Menschenbildes des Bundesverfassungsgerichts „die Selbstbestimmung und die (hohe) Forderung, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu sollen“ stehe und daher annimmt, dass das Bundesverfassungsgericht in dem Spannungsfeld zwischen Individualismus und Gemeinschaft eher dem Indidvidualismus zuneigt. 75 BVerfGE 65, 1 (44). 76 BVerfGE 65, 1 (44). 77 BVerfGE 24, 119 (144). 78 BVerfGE 45, 187 (227). 79 BVerfGE 30, 173 (194). 80 BVerfGE 30, 173 (194); 45, 187 (227); 133, 168 (197); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 54. 81 BVerfGE 45, 187 (227). 82 BVerfGE 45, 187 (228). 83 BVerfGE 45, 187 (228).

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

im Staate zu machen.84 Der Satz, „der Mensch muss immer Zweck an sich selbst bleiben“, gelte uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person bestehe gerade darin, dass er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibe.85 Für die Annahme einer Verletzung der Würde des Menschen bedürfe es daher einer Behandlung, die die Subjektqualität des Einzelnen prinzipiell in Frage stelle.86 Das Gericht sieht den Menschen als vernünftiges Wesen im Sinne einer selbstverantwortlichen Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt.87 Als Glied dieser freien Gesellschaft ist die selbstverantwortliche Persönlichkeit damit also gar die Bedingung einer freien Gesellschaft. Aus diesem Grund hat das BVerfG auch hinsichtlich des aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten verfassungsrechtlich garantierten Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums88 betont, dass dieser sich neben den unbedingt erforderlichen Mitteln zur Sicherung der physischen Existenz auch auf das erstrecke, was „zur Sicherung eines Mindest­ maßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ erforderlich sei.89 Dies begründete das Gericht damit, dass der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiere.90 Dementsprechend stellte das BVerfG auch fest, dass das Wertsystem des Grundgesetzes „seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde“91 findet. Die Gesellschaft als Gemeinschaft und das Individuum als selbstbestimmtes Wesen in dieser Gemeinschaft bedingen nach der Rechtsprechung des BVerfG einander. Dies wird deutlich in der Feststellung des Gerichts, dass der Staat des Grundgesetzes ein Staat sei, „in dem die menschliche Würde oberster Wert ist, und in dem der freien Selbstbestimmung des Einzelnen zugleich ein gemeinschaftsbildender Wert zu-

84 BVerfGE 45, 187 (228). Der EGMR nahm auf diese Rechtsprechung des BVerfG zur Lebenslangen Freiheitsstrafe ausdrücklich in seinem Urt. v. 09.07.2013 (GK), Beschw. Nr. 66069/ 09, 130/10 und 3896/10 (Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 69, Bezug: „The court found that the State could not turn the offender into an object of crime prevention to the detriment of his constitutionally protected right to social worth. Respect for human dignity and the rule of law meant the humane enforcement of life imprisonment was possible only when the prisoner was given ‚a concrete and realistically attainable chance‘ to regain his freedom at some later point in time; the State struck at the very heart of human dignity if it stripped the prisoner of all hope of ever earning his freedom. The court also stressed that rehabilitation was constitutionally required in any community that established human dignity as its centrepiece.“ 85 BVerfGE 45, 187 (228). 86 BVerfGE 30, 1 (26). 87 BVerfGE 65, 1 (41). 88 BVerfGE 125, 175 (222); 132, 134 (159). 89 BVerfGE 125, 175 (223); 132, 134 (160); BVerfG, Beschl. v. 23.07.2014, 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rn. 75. 90 BVerfGE 125, 175 (223); 132, 134 (159). 91 BVerfGE 7, 198 (205).

V. Die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“  

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erkannt wird.“92 In derselben Entscheidung verwies das BVerfG ebenfalls auf das den Grundrechten zugrunde liegende Menschenbild des Grundgesetzes, das „vom Menschen als eigenverantwortliche Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet“93 ausgeht. Dies sei die „vom Grundgesetz anerkannte Gemeinschaftsbindung des Individuums“94. Fraglich ist aber, wie sich diese Gemeinschaftsgebundenheit mit dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürdegarantie vereinbaren lässt. Ist also eine freie Entfaltung des Individuums nur „innerhalb der sozialen Gemeinschaft“95 möglich, ist zu befürchten, dass dem Einzelnen, der sich dieser Gemeinschaft entziehen möchte, oder an ihr aufgrund seiner persönlichen Umstände nicht teilhaben kann, kein absolut geschützter und unantastbarer Bereich verbleibt, der dem staatlichen Zugriff entzogen ist. Zumindest aber ist zu befürchten, dass mithilfe des Verweises auf die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums die Möglichkeit einer Abwägbarkeit der Menschenwürdegarantie gegeben wird. Dies wird sehr deutlich, wenn das BVerfG davon spricht, dass die Frage, „ob ein Sachverhalt dem unantastbaren Kernbereich zuzuordnen ist“, davon abhänge, ob er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakters ist, also auch davon, in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berührt“96. Dabei sollen die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles maßgeblich sein.97 Im Folgenden soll daher untersucht werden, inwieweit sich das BVerfG einer solchen Abwägbarkeit gegenüber geöffnet hat bzw. wie dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürdegarantie entsprochen werden kann.

V. Die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“und absolute Grenze staatlichen Handelns Von Bernstorff verweist auf die doppelte Funktion der Menschenwürdegarantie als zum einen, wie es das BVerfG selbst benennt, „Wurzel aller Grundrechte“98 mit ihrer allgemeinen Ausstrahlungswirkung und zum anderen als abwägungsfester Bestandteil der Grundrechte.99 Die Menschenwürde sei „nicht nur ‚oberstes Konsti­ 92

BVerfGE 32, 98 (106). BVerfGE 32, 98 (107 f.). 94 BVerfGE 32, 98 (108). 95 BVerfGE 7, 198 (205). 96 BVerfGE 34, 238 (248); 80, 367 (374); 120, 224 (239); 124, 43 (70). 97 BVerfGE 34, 238 (248); 80, 367 (374); 120, 224 (239); 124, 43 (70). 98 BVerfGE 93, 266 (293). 99 Von Bernstoff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (29); in diesem Sinne auch Enders, in: Friauf /  Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 1 Rn. 56 ff., der die Rechtswirkung der Menschenwürdegarantie darin sieht, dass sie (1.) die Interpretation der Einzelgrundrechte steuere, darüber hinaus (2.) als Prinzip der Verfassungsordnung das Verfassungsverständnis und das Verständnis von den Grundrechten und ihren spezifischen Funktionen bestimme sowie (3.) als Maßstab die Abwägungsverhältnisse beherrsche. 93

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

tutionsprinzip‘, sondern in Verbindung mit den einzelnen Grundrechten zugleich absolute Eingriffsschranke“100. Das BVerfG hat in diversen Entscheidungen betont, dass das Grundgesetz „eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet hat, die die öffentliche Gewalt begrenzt. Durch diese Ordnung soll die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden.“101 Damit kommt der Menschenwürde eine „Leitfunktion“102 zu. Das Postulat der Unantastbarkeit der Menschenwürde liegt daher allen Grundrechten, die wiederum das Menschenwürdeprinzip sachbereichsspezifisch konkretisieren, zugrunde.103 Hömig spricht von der „Durchdringungs-, Ausstrahlungs- und Ergänzungsfunktion der Menschenwürdegarantie“104. Dass die Menschenwürdegarantie als zugleich objektive Wertentscheidung und Fundament der Grundrechte eine die Interpretation der Grundrechte bestimmende Funktion erfüllt, wird auch in der Rechtsprechung des BVerfG deutlich, indem es etwa im Beschluss zu den Strauß-Karikaturen hervorhob: „Soweit das Allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“105. Auf diese Entscheidung nahm das Gericht dann in der Entscheidung Soldaten sind Mörder Bezug und führte die absolute Konstruktion der Menschenwürde­ garantie fort, indem es statuierte: „So muss die Meinungsfreiheit stets zurück­ treten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz […] beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.“106 In einer späteren, diese Feststellung aufgreifenden Entscheidung fügte das Gericht an: „Da aber die Grundrechte insgesamt Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wann angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts die unantastbare Menschenwürde verletzt“.107 Dies macht deutlich, dass das BVerfG seiner Rechtsprechung einen engen Menschenwürdebegriff zugrunde legt.108 Im Übrigen wird die Menschenwürdegarantie auch nur auf diese Weise ihrer Rolle als „Generalklausel für den ganzen Grundrechts-

100

Von Bernstoff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (32). BVerfGE 2, 1 (12 f.); 6, 32 (36). 102 Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (634). 103 Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (634). 104 Hömig, EuGRZ 2007, S. 633 (634). 105 BVerfGE 75, 369 (380). 106 BVerfGE 93, 266 (293). 107 BVerfGE 107, 275 (284). 108 So auch Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 85; Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 15. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 84 f., macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass das BVerfG in zwei Entscheidungen einen „relativen“ Würdebegriff vertreten habe, indem es in diesen Entscheidungen jeweils die Menschenwürde doch in die Abwägung eingestellt habe. 101

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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katalog“109 gerecht und die dem Art. 1 GG nachfolgenden Grundrechte können nur so als Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie verstanden werden.

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie Nicht zuletzt aus dem Postulat, dass die Menschenwürde „unantastbar“ ist, folgt das Verbot, die Menschenwürde in irgendeiner Weise einzuschränken.110 Diese Beschreibung der Menschenwürde als „unantastbar“ lässt schon die Besonderheit dieses Grundrechts auch im Vergleich zu den der Menschenwürde nachfolgenden Grundrechten erkennen. Diese strikte Wortwahl findet sich im Grundgesetz an keiner weiteren Stelle.111 Des Weiteren ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG kein Schrankenvorbehalt. Die übrigen, dem Wortlaut nach schrankenlos gewährleisteten Grundrechte wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 GG, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft aus Art. 5 Abs. 3 GG sowie das Versammlungsrecht unter freiem Himmel aus Art. 8 Abs. 1 GG können im Gegensatz zur Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Damit ist im wahrsten Wortsinn des Gesetzes nur die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG „unantastbar“. Dies bedeutet, dass der Eingriff in die Menschenwürde stets auch einen Verletzungsakt darstellt, der nicht zu rechtfertigen ist.112 109 Carlo Schmid, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, Ausschuß für Grundsatzfragen, Boppard am Rhein 1993, Vierte Sitzung 23. September 1948, Nr. 5, S. 64. Schmid fügte an: „In seiner systema­ tischen Bedeutung ist er [Artikel 1, Anm. d. Verf.] der eigentliche Schlüssel für das Ganze.“ 110 Dies wird deutlich, wenn das BVerfG in seiner Entscheidung zur Vorbeugenden Telekommunikationsüberwachung, BVerfGE 113, 348 (391 f.), statuiert: „Die nach Art. 1 Abs. 1 GG stets garantierte Unantastbarkeit der Menschenwürde fordert auch im Gewährleistungsbereich des Art. 10 Abs. 1 GG Vorkehrungen zum Schutz individueller Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung. Bestehen im konkreten Fall tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine Telekommunikationsüberwachung Inhalte erfasst, die zu diesem Kernbereich zählen, ist sie nicht zu rechtfertigen und muss unterbleiben.“; Pieroth / Schlink / Kingreen / Poscher, Grundrechte, Rn. 365; Enders, in: Friauf / Höfling (Hrsg), Berliner Kommentar zum GG, Art. 1 GG Rn. 52; Classen, DÖV 2009, S. 689; Dederer, JöR 2009, S. 89 (112); a. A.: Wittreck, DÖV 2003, S. 873 (879), der meint, „die Unantastbarkeit beruht ja auf der gezielten rechtstechnischen Zuweisung einer höheren Position innerhalb der Normenhierarchie, nicht auf einer wie auch immer gearteten ‚wesenhaften‘ Abwägungsuntauglichkeit der Menschenwürde. Kommt es zur Kollision mit einer anderen Rechtspflicht, die unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt, streitet gerade die Unantastbarkeit der Würde des betroffenen Rechtsträgers für die Berücksichtigung, die sich letztlich nur in vertrauten Formen der Abwägung vollziehen kann.“; Hain, Der Staat 2006, S. 189 (200 ff.). 111 Dederer, JöR 2009, S. 89 (112); ebenso hinsichtlich der Uneinschränkbarkeit der Menschenwürdegarantie auf den Wortlaut verweisend: Bryde / Jentsch, EuGRZ 2006, S. 617 (622). 112 Schmidt-Preuß, in: de Wall (Hrsg.), FS Link, S. 921, 924 f.; Jarass, in ders. / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 16; Pieroth / Schlink / Kingreen / Poscher, Grundrechte, Rn. 365.

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

Auch Geddert-Steinacher argumentiert, dass es gerade die Unantastbarkeit ist, die die Menschenwürde jeglicher Verfügung entzieht und ihre absolute Geltung begründet.113 Dies gelte auch für die begrifflich analoge Formulierung der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Aus der Unantastbarkeit folgten „Unverzichtbarkeit“ und „Unverwirkbarkeit“ der Menschenwürde, was sich bereits aus der Feststellung des BVerfG ergebe, wonach feststeht, dass „die Würde des Menschen etwas Unverfügbares ist“114. Zudem folge aus der Unantastbarkeit die „Uneinschränkbarkeit“ der Menschenwürde, was als Verbot jeglicher Abwägung der Menschenwürde mit anderen Rechtsgütern zu verstehen sei.115 In teleologischer Hinsicht spricht für die besondere Stellung die Einordnung des Art. 1 Abs. 1 GG als „tragendes Konstitutionsprinzip“ und „oberster Verfassungswert“ in der Verfassungsordnung.116 Zwischen dieser herausgehobenen Stellung der Menschenwürdegarantie und der Unantastbarkeit in Form der Unabwägbarkeit stellte das BVerfG in seiner Rechtsprechung dann auch ausdrücklich eine Verbindung her, indem es feststellte: „Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.“117 Unterstrichen wird diese besondere Stellung auch durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Danach soll eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Menschenwürdegarantie berührt118 wird, unzulässig sein. Mit dieser Klausel machte der Verfassungsgeber deutlich, dass eine Relativierung der dort genannten und zur Verfassungsidentität gehörenden Rechtsgüter auch im Einzelfall nicht in Betracht kommt.119 1. Die Konturierung der Reichweite der Unantastbarkeit In ständiger Rechtsprechung hat das BVerfG grundsätzlich die Absolutheit der Menschenwürdegarantie betont. Gut lässt sich dies etwa auch anhand der Rechtsprechung des Gerichts zum aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (APR) nachvollziehen. Schon im Elfes-Urteil aus dem Jahre 1957 wird deutlich, dass das BVerfG von der Absolutheit der Men 113 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 81; ebenso von Bernstorff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (35). 114 BVerfGE 45, 187 (229). 115 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 81; Hufen, JuS 2010, S. 1 (9). 116 BVerfGE 6, 32 (36); 45, 187 (227); 72, 105 (115); 109, 279 (311); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 49; vgl. Dederer, JöR 2009, S. 89 (118); Schmidt-Preuß, in: de Wall (Hrsg.), FS Link, S. 921 (925). 117 BVerfGE 107, 275 (284). 118 Eine „Berührung“ dieses Grundsatzes aus Art. 1 Abs. 1 GG soll nach Pieroth, in: Jarass /  Pieroth, GG, Art. 79 Rn. 7, „lediglich bei prinzipieller Preisgabe“ angenommen werden können. 119 Dies stellte auch das BVerfG deutlich heraus, vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 49 m. w. N.

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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schenwürdegarantie ausgeht, indem es feststellte, dass die Gesetze die Würde des Menschen nicht verletzen dürften. Hieraus ergebe sich, „dass dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist“120. a) Der Verweis des BVerfG auf das Sittengesetz Hingegen wischte das Gericht dann in seiner Entscheidung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von Strafvorschriften bezüglich sexueller Handlungen unter Männern über diesen zuvor deutlich anerkannten und auch in dieser Entscheidung zunächst wieder betonten „letzten, unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit“121 hinweg. Das BVerfG verneinte in seiner Entscheidung einen Verstoß der Strafvorschriften der §§ 175 ff. StGB gegen das Grundgesetz unter Verweis auf das Sittengesetz.122 Die Handlung einer Person sei unter den Gesichtspunkten der Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG dann nicht mehr dem staatlichen Eingriff entzogen, wenn der „‚Sozialbezug‘ der Handlung intensiv genug“ sei.123 Das Gericht gab hier der vermeintlich in der „sozialen Gemeinschaft“ vorherrschenden moralischen Vorstellung (dem „Sittengesetz“) und einem damit verbundenen „Bedürfnis nach Bestrafung“ gegenüber dem Schutz der Intimsphäre des Einzelnen den eindeutigen Vorzug124 und kam zu dem Schluss, dass die gleichgeschlechtliche Betätigung „eindeutig gegen das Sittengesetz“ verstoße.125 Auch in dieser Entscheidung wurden die Interessen der Gemeinschaft, gar die „sittlichen Anschauungen des Volkes“126 und deren Überzeugungen betont, hinter denen die elementarsten Interessen des Einzelnen wie der Schutz seines intimsten Lebensbereichs zurücktreten müssten. Diese Rechtsprechung hatte dauerhaft jedoch keinen Bestand. Nachdem der Gesetzgeber 1994 die Strafvorschriften bezüglich sexueller Handlungen unter 120

BVerfGE 6, 32 (41). BVerfGE 6, 389 (433). 122 BVerfGE 6, 389 (433 f.). Siehe ausführlicher zu diesem Urteil Lahusen, Das Schandurteil von Karlsruhe, in: Die Zeit, Nr. 27/2015 v. 02.07.2015, abrufbar unter http://www.zeit. de/2015/27/homo-ehe-bundesverfassungsgericht-verbot-1957/komplettansicht (zul. einges. am 01.12.2018). 123 BVerfGE 6, 389 (433 f.). 124 So heißt es in BVerfGE 6, 389 (434): „Denn es liegt auf der Hand, daß bei einer in dem Grenzbezirk zwischen privatem und sozialem Bereich liegenden Handlung das Bedürfnis nach Bestrafung eher bejaht werden wird, wenn feststeht, daß die soziale Gemeinschaft die Handlung eindeutig als im Widerspruch zu dem Sittengesetz stehend betrachtet, das sie allgemein als für sich verbindlich anerkennt.“ 125 BVerfGE 6, 389 (434). 126 BVerfGE 6, 389 (434): „Ein Anhalt dafür, daß die Homosexualität als unsittlich angesehen wird, ergibt sich daraus, daß die Gesetzgebung in Deutschland sich zur Rechtfertigung der Bestrafung der gleichgeschlechtlichen Unzucht stets auf die sittlichen Anschauungen des Volkes berufen hat.“ 121

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

Männern aufgehoben hatte, hat mittlerweile auch das BVerfG diese Rechtsprechung ausdrücklich revidiert.127 b) Die Mikrozensus-Entscheidung des BVerfG In der Mikrozensus-Entscheidung aus dem Jahr 1969 bezeichnete das BVerfG den dem einzelnen Bürger durch das Grundgesetz im Rahmen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts128 gewährten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung als „Innenraum“, der dem Einzelnen verbleiben müsse, „in dem er sich selbst besitzt und in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt“129. Aus diesem Grunde sei es dem Staat verwehrt, den Einzelnen zwangsweise „in seiner Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren“130. In dieser Entscheidung machte das Gericht jedoch auch deutlich, dass nicht jede statistische Erhebung über Persönlichkeits- und Lebensdaten „die menschliche Persönlichkeit in ihrer Würde“ verletze oder ihr Selbstbestimmungsrecht im innersten Lebensbereich berühre.131 Denn schließlich müsse jedermann die Notwendigkeit statistischer Erhebungen über seine Person in gewissem Umfang „als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger“ hinnehmen.132 Das BVerfG bestätigte damit zwar seine Rechtsprechung, wonach es einen Bereich privater Lebensgestaltung gibt, der absolut geschützt ist und der nicht der Abwägung zugänglich ist. Diese Unantastbarkeit sollte jedoch seine Grenze in der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Bürgers finden. Das Gericht sprach hier zwar nicht von einer Abwägbarkeit der Interessen des Einzelnen mit denen der Allgemeinheit, distanzierte sich jedoch auch nicht deutlich genug von einer solchen Möglichkeit. Zumindest aber bestimmte das Gericht hier nicht positiv und von den Interessen des Individuums ausgehend,

127 Vgl. etwa BVerfGE 105, 313, wonach die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist; BVerfGE 124, 199, hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich betrieblicher Hinterbliebenenversorgung im öffentlichen Dienst; BVerfGE 133, 59, hinsichtlich der Möglichkeit zur Sukzessivadoption, in der das Gericht auf die Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG verweist (S. 80). 128 Im sog. Eppler-Beschluss machte das Gericht deutlich, was die Aufgabe des nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei: So solle „im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der ‚Würde des Menschen‘ (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingung zu gewährleisten die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen; diese Notwendigkeit besteht namentlich auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit.“ (BVerfGE 54, 148 (153). 129 BVerfGE 27, 1 (6). 130 BVerfGE 27, 1 (6). 131 BVerfGE 27, 1 (6). 132 BVerfGE 27, 1 (6).

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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was aufgrund der Menschenwürde dem staatlichen Zugriff komplett entzogen ist, sondern vielmehr anhand der Reichweite der Interessen der Allgemeinheit her.133 c) Der Beschluss des BVerfG zu heimlichen Tonbandaufnahmen In seinem Beschluss zu heimlichen Tonbandaufnahmen aus dem Jahr 1973 in Bezug auf die Garantie des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts stellte das BVerfG dann fest: „Das verfassungskräftige Gebot, diesen Kernbereich, die Intimsphäre des Einzelnen, zu achten, hat seine Grundlage in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Bei der Bestimmung der Reichweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG muss berücksichtigt werden, dass nach der Grundnorm des Art. 1 Abs. 1 GG die Würde des Menschen unantastbar ist und gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht.“134 Anders als noch in der Mikrozensus-Entscheidung betonte das Gericht hier ausdrücklich, dass eine Abwägbarkeit ausgeschlossen ist: „Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen; eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt.“135 Zur Bestimmung dessen, was dem absolut geschützten Persönlichkeitsbereich zuzurechnen ist, verwies das BVerfG an dieser Stelle darauf, dass dies befriedigend nur von Fall zu Fall unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten beantwortet werden könne.136 Zwar nahm das BVerfG auch wieder die Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen bei der Bestimmung dessen, was absolut geschützt ist, in den Blick, betonte aber gleichzeitig den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der dem staatlichen Zugriff entzogen ist.137 Es prüfte hier bezogen auf den Einzelfall, ob etwa Höchstpersönliches, das in den Bereich der Intimsphäre fällt, zur Sprache gekommen und auf den Tonbandaufnahmen zu finden ist. Erst nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass dies nicht der Fall war, prüfte es, ob sich die Verwertung des Tonbandes mit den überwiegenden Interessen der Allgemeinheit rechtfertigen ließe,138 also erst nachdem es festgestellt hatte, dass die Menschenwürde selbst nicht betroffen war. 133

BVerfGE 27, 1 (7): „Als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger […] muß jedermann die Notwendigkeit statistischer Erhebungen über seine Person in gewissem Umfang, wie z. B. bei einer Volkszählung, als Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns hinnehmen.“ 134 BVerfGE 34, 238 (245). 135 BVerfGE 34, 238 (245). 136 BVerfGE 34, 238 (248). 137 BVerfGE 34, 238 (246): Danach stehe nicht der gesamte Bereich des privaten Lebens unter dem absoluten Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, denn „als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger muss vielmehr jedermann staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen.“ 138 BVerfGE 34, 238 (248).

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

d) Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz Das BVerfG hat in seinem weithin bekannt gewordenen139 Urteil des Ersten Senats zum Luftsicherheitsgesetz vom 15.02.2006140 wichtige Aussagen zur Abwägungsfestigkeit der Menschenwürde getroffen. Zugleich wird anhand dieser Entscheidung deutlich, wie sich in der Rechtsprechung des BVerfG eine Wendung der Menschenwürdegarantie vom Achtungs- zum Schutzgebot vollzogen hat. Das Gericht entschied, dass § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes, der die Streitkräfte ermächtigte, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, gegen das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verstößt, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.141 Dem BVerfG zufolge ist das das Recht auf Leben einschränkende Gesetz (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG) wiederum im Lichte des Art. 2 Abs. 2 GG sowie der damit eng verknüpften Menschenwürdegarantie auszulegen.142 Schließlich sei das menschliche Leben „die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert“.143 Die Menschenwürde könne zwar keinem genommen werden, jedoch sei der sich aus der Menschenwürde ergebende Achtungsanspruch verletzbar.144 Im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde sei es dem Staat daher untersagt, „durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen.“145 Zugleich stellte das BVerfG in dieser Entscheidung dann klar, dass den Staat auch eine Schutzpflicht treffe, die ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG habe.146 Deshalb habe sich der Staat schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen, vor allem auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter.147 Bei der näheren Bestimmung der staatlichen Schutzpflicht führte das BVerfG auch hier seine bisherige Rechtsprechung zur Menschenwürde fort, indem das Gericht klarstellte, dass schlechthin jede Behandlung durch die öffentliche Gewalt verboten sei, „die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt“148. Wird das Flugzeug mit seinen Insassen quasi zur Tatwaffe 139

So etwa durch die Verarbeitung der Frage, ob eine von Terroristen entführte Passagiermaschine, die auf ein ausverkauftes Fußballstadion zurast, von staatlicher Seite abgeschossen werden darf, durch Ferdinand von Schirach in seinem Theaterstück „Terror“, uraufgeführt am Deutschen Theater Berlin am 03.10.2015, erschienen unter dem gleichnamigen Titel 2015 in Berlin. 140 BVerfGE 115, 118 ff. 141 BVerfGE 115, 118 (118) (3. Leitsatz). 142 BVerfGE 115, 118 (152). 143 BVerfGE 115, 118 (152). 144 BVerfGE 115, 118 (152). 145 BVerfGE 115, 118 (152). 146 BVerfGE 115, 118 (152). 147 BVerfGE 115, 118 (152). 148 BVerfGE 115, 118 (153).

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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umfunktioniert, indem es gegen das Leben anderer Menschen eingesetzt wird, und werden die Insassen damit in eine ausweglose Lage manövriert, da sie ihre Lebensumstände nicht mehr von anderen selbstbestimmt beeinflussen können, werden sie so zum Objekt nicht nur der Täter.149 Auch der Staat behandele sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer.150 Diese Behandlung missachte die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten.151 e) Die Entscheidungen des BVerfG zum Großen Lauschangriff und zum BKA-Gesetz Auch in Bezug etwa auf das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG nahm das BVerfG eine Konkretisierung dessen vor, was den absoluten Schutz der Menschenwürde umfasst und knüpfte zudem an seine Kernbereichsrechtsprechung an. Der Schutz der Menschenwürde werde – so das Gericht – auch in dem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG konkretisiert.152 So stellte das BVerfG in seinem Urteil zum Großen Lauschangriff fest, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung einen engen Bezug zur Menschenwürde aufweise und zugleich im nahen Zusammenhang mit dem „verfassungsrechtlichen Gebot unbedingter Achtung einer Sphäre des Bürgers für eine ausschließlich private – eine ‚höchstpersönliche‘ – Entfaltung“ stehe.153 Dem Einzelnen solle das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, gerade in seinen Wohn­ räumen gesichert sein.154 Die Privatwohnung stelle als „‚letztes Refugium‘ ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde“ dar.155 Dies verlange zwar nicht einen absoluten Schutz der Räume der Privatwohnung, wohl aber einen absoluten Schutz des Verhaltens in diesen Räumen, soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt.156 Das BVerfG umriss in dieser Entscheidung den unantastbaren Menschenwürdekern des Art. 13 Abs. 1 GG und konkretisierte so zugleich den Inhalt der Menschenwürdegarantie. Zudem machte das Gericht auch hier deutlich, dass eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Strafverfolgungsinteresse nicht stattfin 149

BVerfGE 115, 118 (154). BVerfGE 115, 118 (154). 151 BVerfGE 115, 118 (154). 152 BVerfGE 109, 279 (313). 153 BVerfGE 109, 279 (313). Das Gericht führte an dieser Stelle aus: „Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies über­wachen. Vom Schutz umfasst sind auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität. Die Möglichkeit entsprechender Entfaltung setzt voraus, dass der Einzelne über einen dafür geeigneten Freiraum verfügt.“ 154 BVerfGE 109, 279 (313). 155 BVerfGE 109, 279 (313). 156 BVerfGE 109, 279 (313). 150

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

det.157 Die Zulässigkeit akustischer Wohnraumüberwachung finde dort ihre Grenzen, wo der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht respektiert werde,158 mithin der Menschenwürdekern des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG berührt wird. Eine akustische Wohnraumüberwachung habe dort zu unterbleiben, wo das Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes mit Wahrscheinlichkeit zu einer Kernbereichsverletzung führen werde, wobei ein wichtiger Anhaltspunkt für die Menschenwürderelevanz des Gesprächsinhalts die Anwesenheit von Personen des höchstpersönlichen Vertrauens sei.159 Das BVerfG nahm hier eine klarer konturierte Trennung von dem aufgrund seiner Menschenwürderelevanz absolut geschützten höchstpersönlichen Lebensbereich und dem einer Abwägung zugänglichen sonstigen Bereich privater Lebensgestaltung vor. In seinem Urteil vom 20.04.2016 über die Verfassungsmäßigkeit des BKA-Gesetzes, mit dem im Jahre 2009 dem Bundeskriminalamt die zuvor bei den Ländern liegenden Befugnisse zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus übertragen und weitergehende Befugnisse eingeräumt worden waren, knüpfte das BVerfG an seine bisherige Kernbereichsrechtsprechung bezüglich Art. 13 Abs. 1 GG und die Frage der Zulässigkeit akustischer und optischer Wohnraumüberwachung an.160 Das Urteil ist bestimmt von der Annahme des Gerichts, dass „die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm – unter Achtung von Würde und Eigenwert des Einzelnen – zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung Verfassungswerte sind, die mit anderen hochwertigen Verfassungsgütern im gleichen Rang stehen.“161 Unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung hob das Gericht auch in dieser Entscheidung den verfassungsrechtlichen Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung hervor, der „dem Individuum einen Bereich höchstpersönlicher Privatheit gegenüber Überwachung“162 gewährleiste. Dieser Kernbereichsschutz wurzele „in den von den jeweiligen Überwachungsmaßnahmen betroffenen Grundrechten in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und sichert einen dem Staat nicht verfügbaren Menschenwürdekern grundrechtlichen Schutzes gegenüber solchen Maßnahmen. Selbst überragende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen“163. Dieser Kernbereich beanspruche gegenüber allen Überwachungsmaßnahmen Beachtung,164 sei strikt und dürfe „nicht durch Abwägung mit den Sicherheitsinteressen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden“165. Das BVerfG machte aber zugleich deutlich, dass dies jedoch 157

BVerfGE 109, 279 (314). BVerfGE 109, 279 (314). 159 BVerfGE 109, 279 (320 f.). 160 BVerfGE 141, 220. 161 BVerfGE 141, 220 (267 f.). 162 BVerfGE 141, 220 (276). 163 BVerfGE 141, 220 (276), unter Verweis auf seine Rechtsprechung im Urteil zum Großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279 (313)). 164 BVerfGE 141, 220 (277). 165 BVerfGE 141, 220 (278). 158

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nicht bedeute, dass jede tatsächliche Erfassung von höchstpersönlichen Informationen stets einen Verfassungsverstoß oder einen Menschenwürdeverstoß begründe, denn ein unbeabsichtigtes Eindringen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung im Rahmen von Überwachungsmaßnahmen könne nicht für jeden Fall von vornherein ausgeschlossen werden.166 Absolut ausgeschlossen sei aber, den Kernbereich zum Ziel staatlicher Ermittlungen zu machen und diesbezügliche Informationen in irgendeiner Weise zu verwerten oder sonst zur Grundlage der weiteren Ermittlungen zu nehmen.167 Daher seien auf der Ebene der Datenerhebung Vorkehrungen zu treffen, die eine unbeabsichtigte Miterfassung von Kernbereichsinformationen nach Möglichkeit ausschlössen und zudem seien auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung die Folgen eines dennoch nicht vermiedenen Eindringens in den Kernbereich strikt zu minimieren.168 Diesen auf der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes beruhenden Schutz eines unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung hatte das BVerfG bereits zuvor in seiner Rechtsprechung zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (APR) aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG herausgearbeitet.169 Danach erkennt das BVerfG „einen letzten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung an, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist“170. Ein Eingriff könne nicht gerechtfertigt werden und eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes finde nicht statt.171 Diesen Schutz des Persönlichkeitskerns führt das BVerfG direkt darauf zurück, dass dieser durch die unantastbare Menschenwürde geschützt ist.172 Hiermit umreißt das Gericht deutlich, welcher Bereich des APR abwägungsfest ist. Abseits von diesem Kernbereich privater Lebensgestaltung ist jedoch das APR nicht schrankenlos gewährleistet.173 So können Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse vor allem dann erforderlich sein, „wenn der Einzelne als in der Gemeinschaft lebender Bürger in Kommunikation mit anderen tritt, durch sein Verhalten auf andere einwirkt und dadurch die persönliche Sphäre seiner Mitmenschen oder die Belange der Gemeinschaft berührt“174. Auch hier bringt das BVerfG einmal mehr die Betonung der Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums zum 166

BVerfGE 141, 220 (278). BVerfGE 141, 220 (278). 168 BVerfGE 141, 220 (279). 169 So etwa in BVerfGE 6, 32 (41); 80, 367 (373 f.), BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 26 f., stRspr. 170 BVerfGE 6, 32 (41); 80, 367 (373), BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 27, stRspr. 171 BVerfGE, 34, 238 (245); 80, 367 (373); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 27. 172 BVerfGE 80, 367 (373 f.). 173 BVerfGE 80, 367 (373); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 26. 174 BVerfGE 35, 35 (39); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 26. 167

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

Ausdruck. Warum aber ist das APR abseits von dem Kernbereich nicht schrankenlos gewährleistet – obwohl das BVerfG dieses Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG ableitet? Aus Art. 2 Abs. 1 GG leitet sich zum einen die sog. allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne eines Rechts, alles tun oder lassen zu können was man will, ab.175 Zum anderen leitete das BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG das APR als ein „unbenanntes“ Freiheitrecht176 ab und folgte damit der zuvor noch umstrittenen weiten Tatbestandskonzeption des Art. 2 Abs. 1 GG.177 Der Verweis des BVerfG auf Art. 1 Abs. 1 GG bei der Herausarbeitung des APR erfüllt zugleich den Zweck, die allgemeine Handlungsfreiheit vom APR abzugrenzen. Während bei der allgemeinen Handlungsfreiheit an ein Verhalten des Grundrechtsträgers, mithin eher auf ein aktives Gestalten der Grundrechtsausübung abgehoben wird, wird beim APR eher auf das passive Moment, also eher auf das „Sein“ als auf das „Handeln“ als Schutzobjekt abgestellt.178 Beim APR geht es insbesondere um die Gewährleistung der Integrität des Individuums und um das, was über das Momenthafte hinausgeht und zur Herausbildung der individuellen Persönlichkeit bzw. des Charakterzugs einer Person beiträgt.179 Dies wurde etwa auch in jüngster Zeit deutlich im Beschluss des Ersten Senats des BVerfG zur Frage des Schutzes der Geschlechtsidentiät von Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.180 So hob das Gericht in seinem Beschluss hervor: „Eine der Aufgaben des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist es dabei, Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann.“181 Gerade diese Seite des Persönlichkeitsschutzes drückt das aus, was als eines der zentralen Elemente der Menschenwürde verstanden wird. Auch das BVerfG betonte im Elfes-Urteil die Nähe des Art. 2 Abs. 1 GG zu Art. 1 GG: „Allerdings war die feier­ liche Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG der Anlaß, ihn besonders im Lichte des Art. 1 GG zu sehen und daraus abzuleiten, daß er mit dazu bestimmt sei, das Menschenbild des Grundgesetzes zu prägen. Damit ist jedoch nichts anderes gesagt, als daß Art. 1 GG in der Tat zu den tragenden Konstitutionsprinzipien gehört, die – wie

175 BVerfGE 6, 32 ff.; Höfling, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Rn. 17. 176 BVerfG, Beschl. v.10.10.2017, 1 BvR 2019/16, Rn. 38 (Drittes Geschlecht). 177 Siehe hierzu näher Höfling, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Rn. 19 ff. 178 Höfling, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Rn. 37. 179 Höfling, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Rn. 34, 37. 180 BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16 (Drittes Geschlecht). In seinem Beschluss stellte das Gericht heraus, dass das APR aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG die geschlechtliche Identität auch derjenigen schützt, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen (1. Leitsatz). Diese betroffenen Personen sind nach Ansicht des BVerfG neben ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG in ihrem APR verletzt, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt (3. Leitsatz, Rn. 35). 181 BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16 (Drittes Geschlecht), Rn. 38.

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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alle Bestimmungen des Grundgesetzes – auch Art. 2 Abs. 1 GG beherrschen.“182 Das BVerfG stellte beim Herausarbeiten des APR also vor allem deshalb auf die Verbindung zu Art. 1 Abs. 1 GG ab, um dadurch die Nähe des Art. 2 Abs. 1 GG zur Menschenwürde zu betonen und so durch eine gewisse „materielle Aufladung“183 die Schutzwirkung des APR zu verstärken. Dennoch handelt es sich beim APR um ein eigenständiges Grundrecht, das nicht allein aus Art. 1 Abs. 1 GG und auch nicht allein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet werden kann. Abseits des Kernbereichsschutzes individueller Lebensgestaltung ist daher eine Abwägung möglich. Das BVerfG hat dies deutlich gemacht, indem es formulierte: „Dabei darf das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weitergehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist“184. Des Weiteren betonte das Gericht: „Gesetze sind dabei ihrerseits unter Berücksichtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auszulegen und anzuwenden, damit dessen Bedeutung für das einfache Recht auch auf der Ebene der Rechtsanwendung zur Geltung kommt“185. 2. Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG zur Absolutheit in der Literatur In der Literatur ist jedoch insbesondere vor dem Hintergrund der MikrozensusEntscheidung sowie dem Urteil des BVerfG zum Großen Lauschangriff186 der Annahme entgegengetreten worden, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie nach der Rechtsprechung des Gerichts um eine absolute Konstruktion handele. So wird in der Literatur die Ansicht vertreten, dass auch die vermeintlich absolute Konstruktion des unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung, der in seinem Gehalt durch die Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt sein soll, Abwägungsstrukturen aufweist.187 Dies liege daran, dass die Bestimmung der inneren Sphäre des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Frage, was zum „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ gehören soll, nicht ohne Abwägung erfolgen könne.188 Darüber hinaus gebe es „kaum feststehende Positionen hinsichtlich 182

BVerfGE 6, 32 (36). Höfling, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Rn. 25. 184 BVerfGE 103, 21 (33); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 29.09.2013, 2 BvR 939/13, juris, Rn. 13; BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 29. 185 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 24.07.2015, 1 BvR 2501/13, juris, Rn. 13; BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 18.04.2018, 2 BvR 883/17, Rn. 29. 186 BVerfGE 109, 279 ff. 187 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 22 f.; Dederer, JöR 2009, S. 89 (114 f.) 188 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 23; Dederer, JöR 2009, S. 89 (114 f.); a. A.: Poscher, JZ 2009, S. 269 (273). 183

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

der Intimsphäre. Was diese Sphäre ausmacht, kann nicht generell gesagt, sondern muss von Fall zu Fall konkretisiert werden.“189 Bereits die Entscheidung von Fall zu Fall stelle jedoch eine Relativierung der absoluten Geltung dar.190 Des Weiteren stelle das BVerfG die Art und Intensität der sozialen Bedeutung oder Beziehung eines Sachverhalts mit in die Abwägung ein.191 „Hier kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung. Dabei ist die Menschenwürde – auf der Prinzipienebene – einer Abwägung zugänglich.“192 Die absolute Konstruktion der Menschenwürdegarantie beruhe jedoch „auf einer einstufigen Prüfung der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG, indem sie lediglich fragt, ob ein Eingriff in die Menschenwürde vorliegt, und mögliche Schrankengründe ausgeblendet werden. Indem das Bundesverfassungsgericht aber selbst von einem ‚Kern der Menschenwürde‘ spricht, setzt diese Redeweise einen weiten, über den Kernbereich hinausreichenden Würdebegriff voraus, der einer zweistufigen Prüfung zugänglich ist. Die zweistufige Prüfung besteht in der Prüfung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken.“193 Teifke ist der Ansicht, dass die Abhängigkeit der Bestimmung des Kernbereichs von der Intensität des Eingriffs ein deutlicher Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei.194 Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Menschenwürde habe sich deutlich in der ersten Entscheidung des BVerfG zur Sicherungsverwahrung gezeigt.195 Teifke kommt bei seiner Strukturanalyse der Menschenwürdenorm zu dem Ergebnis, dass diese auch bei Zugrundelegung der Objektformel abwägungsfähig bleibe.196 Die Menschenwürde als moralischer Begriff möge zwar absolut gelten, als Rechtsbegriff sei die absolute Geltung dagegen ausgeschlossen.197 Mit ähnlicher Argumentation kommt auch Dederer zu dem Schluss, dass das BVerfG eine Abwägung vornimmt. Dies geschehe dergestalt, dass das Gericht den sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Anspruch auf Anerkennung der Würde des Menschen im Wege einer wertenden kontextabhängigen und situationsspezifischen Konkretisierung vornehme. Diese Konkretisierung beruhe auf Wertungen, die Abwägungen einschlössen. Wertungskriterien seien dabei in der Rechtsprechung des BVerfG die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person, der Sozialbezug, die legitime Finalität staatlichen Handelns, der Rang 189

Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 23. Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 25; Dederer, JöR 2009, S. 89 (114 f.). 191 Dederer, JöR 2009, S. 89 (115). 192 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 26. 193 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 27 f. 194 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 28. 195 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 29, ist der Ansicht, dies zeige sich, indem das Gericht in BVerfGE 109, 133 (151) folgendes feststellt: „Die Sicherungsverwahrung wegen fortdauernder Gefährlichkeit verstößt mit Blick auf die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums nicht gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG.“ 196 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 154. 197 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 157. 190

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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der betroffenen Rechtsgüter, die Verantwortlichkeit und Schuld des Einzelnen.198 Erst der so konkretisierte Anerkennungsanspruch sei unantastbar, also nicht weiter abwägbar.199 Goos ist ebenfalls der Ansicht, dass es dem BVerfG an anderer Stelle nicht gelinge, ein trennscharfes Kriterium dieses Kernbereichs vorzugeben, indem es eine Zuordnung zum Kernbereich davon abhängig mache, in welcher Art und Intensität die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt sind.200 Er verweist dabei auch auf die Entscheidung des Gerichts zur Beschlagnahme von E-Mails auf dem Server des Providers.201 In der Tat knüpft das Gericht auch in dieser Entscheidung wieder an das Kriterium an, in welcher Art und Intensität die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt sind. Maßgebend sollen dabei auch „die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls“ sein.202 Elsner und Schobert sehen in der Rechtsprechung des BVerfG zur Menschenwürdegarantie eine Sonderdogmatik. Das Gericht nehme – insbesondere in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung203 – bei seiner Prüfung eine „Vermengung von ‚Schutzbereich‘, ‚Eingriff‘ und ‚Rechtfertigung‘ in einem einzigen, nebulösen Prüfungsschritt“ vor.204 Es fände bereits im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung ein Abwägungsvorgang statt.205 Eine solche Abwägung sei auch – wie im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz deutlich geworden sei  – unumgänglich. Art. 1 Abs. 1 GG sei nicht als Abwägungsverbot zu deuten.206 Im Ergebnis plädieren ­Elsner und Schobert daher für die Aufgabe des Unabwägbarkeitsdogmas und für die Prüfung der Menschenwürde nach der üblichen Grundrechtsdogmatik.207 Nur so sei ein ausdifferenzierter verfassungsrechtlicher Güterausgleich anstatt eines starren „ganz oder gar nicht“ möglich.208 Hingegen interpretiert die herrschende Meinung in der Literatur die Rechtsprechung des BVerfG so, dass dieses von einer Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie ausgehe.209 Von Bernstorff hält fest, dass Art. 1 GG in Verbindung mit den 198

Dederer, JöR 2009, S. 89 (117 ff.). Dederer, JöR 2009, S. 89 (118) mit Verweis auf Herdegen, in: Maunz / Dürig, 2005, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 43, 69. 200 Goos, Innere Freiheit, S. 60. So etwa im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Strafvorschriften zum Geschwisterbeischlaf: BVerfGE 120, 224 (239). 201 Goos, Innere Freiheit, S. 60. 202 BVerfGE 124, 43 (70). 203 BVerfGE 109, 133 ff. 204 Elsner / Schobert, DVBl 2007, S. 278 (280 f.). 205 Elsner / Schobert, DVBl 2007, S. 278 (280). 206 Elsner / Schobert, DVBl 2007, S. 278 (279 ff.). 207 Elsner / Schobert, DVBl 2007, S. 278 (287). 208 Elsner / Schobert, DVBl 2007, S. 278 (286). 209 Von Bernstorff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (29); Starck, in: Mangold / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 GG, Rn. 34; Kunig, in: v. Münch / Kunig, Art. 1 Rn. 4; Hömig, EuGRZ 2007, 633 (640); bezüglich des Folterverbots: Hong, in: Beestermöller / Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, S. 24 (31 f.). 199

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

Einzelgrundrechten nach der Rechtsprechung des BVerfG absolute Grenzen staatlichen Handelns statuiere.210 Danach sei die Rechtsprechung des BVerfG so zu verstehen, dass der sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden staatlichen Achtungspflicht gegenüber den hiermit kollidierenden staatlichen Schutzpflichten der Vorrang einzuräumen ist.211 Dies wird nicht zuletzt mit dem Begriff der Unantastbarkeit begründet.212 Die Benennung der Menschenwürde als „unantastbar“ unterstreiche die besondere Stellung der Menschenwürde im Gefüge des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes – etwa auch im Vergleich mit den vorbehaltlos gewährten Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1, 2, Art. 5 Abs. 3, Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG.213 Das BVerfG ging in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz ohne weitere Begründung von einem Vorrang der Achtungspflichten gegenüber den der Situation hilflos ausgesetzten Flugzeugpassagieren aus.214 Dieser Vorrang beruhe darauf, dass das BVerfG von einem abwägungsfesten Gehalt der Grundrechte ausgehe, der durch die Menschenwürdegarantie ausgefüllt werde.215 Im Übrigen steht in manchen Konstellationen zwar die Würde des einen gegen die Würde des anderen. Damit stehen sich zwar zwei gleichwertige Rechtsgüter gegenüber, was aber wiederum nicht bedeutet, dass sich hier auch zwei gleichwertige Rechtspflichten gegenüberstehen.216 Ein absoluter Schutz der Menschenwürdegarantie kommt nur in Betracht, wenn der Staat selbst die Menschenwürde verletzt – also soweit es um staatliches Handeln geht. Denn Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG richtet sich an den Staat. Er darf die Menschenwürde in 210

Von Bernstoff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (23). Von Bernstoff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (25); Classen, DÖV 2009, S. 689 (694, 698); a. A.: Brugger, JZ 2000, S. 165 (169), der es dem Staat zugestehen will, im Zweifel die Interessen des Opfers über die des Täters zu stellen, wenn der Konflikt zwischen Achtungs- und Schutzpflichten wie in den sogenannten Entführungsfällen nicht anders zu lösen ist: Vielmehr solle die Schutzfunktion der Grundrechte dann Vorrang genießen, wenn etwa die privaten Notwehrrechte der Opfer und deren Angehörigen durch die staatliche Gewalt durch Festnahme des Täters außer Kraft gesetzt sind. Mit dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG argumentierend, sehen auch Wittreck, DÖV 2003, S. 873 (880), und Adam, Gefahrenabwendungsfolter und Menschenwürde im Lichte des Unabwägbarkeitsdogmas des Art. 1 Abs. 1 GG, S. 110, kein Rangverhältnis zwischen der Achtungs- und der Schutzfunktion. 212 Von Bernstoff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (35), argumentiert in diesem Zusammenhang: „Im Grundgesetz wird mit Blick auf die Menschenwürde und die Wesensgehalte der Grundrechte dieser klare Begriff verwandt, um bei staatlichen Eingriffen in diese Bereiche eine Abwägung mit anderen Verfassungsgütern kategorisch auszuschließen. Wenn eine ergebnisoffene Abwägung von kollidierenden Pflichten bei Eingriffen in die Menschenwürde oder die Wesensgehalte dennoch durchgeführt werden müsste, könnte von einer ‚Unantastbarkeit‘ nicht mehr gesprochen werden.“ 213 Wittreck, DÖV 2003, S. 873 (877); Höfling, JuS 1995, S. 857 (859). 214 BVerfGE 115, 118 (152). 215 Von Bernstorff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (29) mit Verweis auf weitere Stimmen in der Literatur, die von einer Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie ausgehen. 216 Classen, DÖV 2009, S. 689 (694); a. A.: Wittreck, DÖV 2003, 873 (880, 882), der resümiert: „Hingegen gibt es keine stichhaltigen Gründe dafür, die Rechtsfertigung eines Eingriffs in Art. 1 Abs. 1 GG durch den Schutz der Menschenwürde eines anderen Rechtsträgers a priori auszuschließen […]. Hier – und nur hier – sind Eingriffe in die Integrität des Täters im Sinne einer rechtfertigenden Pflichtenkollision möglicherweise rechtmäßig.“ 211

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keinem Fall antasten. Insofern gilt die Achtungspflicht in der Tat absolut.217 Anders ist dies bei der den Staat treffenden Schutzpflicht zu sehen. Hier geht es um den Schutz vor Handlungen Dritter, für deren Verhalten der Staat nur bedingt, nämlich im Rahmen seiner Möglichkeiten, die Verantwortung trägt.218 Zwischen der Achtungs- und der Schutzpflicht des Staates ist daher eine Abstufung möglich, wonach der Achtungspflicht gegenüber der Schutzpflicht der Vorrang einzuräumen ist. Herdegen zufolge soll es einen engen Kreis rein modal bzw. rein final begründeter Verletzungshandlungen geben, bei denen stets ein Eingriff in den von Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Würdeanspruch anzunehmen sei. Außerhalb dieses engen Kreises sei eine „wertende Gesamtwürdigung eines weiteren Rasters relevanter Umstände angezeigt.“219 Diese wertende Gesamtbetrachtung solle zwar nicht bedeuten, dass die Menschenwürde einfach der Abwägung mit anderen Verfassungsbelangen preisgegeben werde, sondern vielmehr ergebe sich der Achtungsanspruch überhaupt erst aus einer bilanzierenden Gesamtwürdigung.220 „Der so ermittelte Würdeanspruch gilt dann absolut.“221 So sei für die Berücksichtigung der „Zweck-Mittel-Relation“ beim Verletzungsurteil nur dann Raum, wenn man der Menschenwürde neben einem „fest umschriebenen Begriffskern“ einen „Begriffshof“ zuordne, der für eine bilanzierende Würdigung hinsichtlich der Schwere des Eingriffs und der für den verfolgten Zweck maßgeblichen Umstände offen sei.222 217

Hong, in: Beestermöller / Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, S. 24 (34). Vgl. Classen, DÖV 2009, S. 689 (695). 219 Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46 ff. 220 Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46 ff. 221 Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46 ff.: Dies bedeute, dass dann „eine Abwägung mit anderen Grundrechten und sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang“ nicht mehr stattfände. „Das meint das Grundgesetz, wenn es in Art. 1 Abs. 1 GG die Würde des Menschen für ‚unantastbar‘ erklärt.“ 222 Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46 ff. Herdegen begründet dies damit, dass derjenige, der auf „jede Differenzierung und Abwägung bei der Konkretisierung des Würdeanspruchs verzichten will […] in das Dilemma jeder Urteilsbildung, die von der jeweiligen Situation abstrahiert“ gerate. „Dann beschränkt sich der Schutz der Menschenwürde entweder auf ein allzu schmales Feld von kategorial umrissenen Misshandlungen, oder aber das strikte Verbot jedes würderelevanten Eingriffs erstickt die Handlungsfähigkeit staat­ licher Organe.“. Wenngleich er die Menschenwürde in der EU ebenfalls als vorrechtlichen Wert, als „kulturanthropologische Prämisse“, die der Unionsrechtsordnung vorgelagert sei, versteht, schließt sich Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 142, der Meinung Herdegens an und hält folgende Lösung für notwendig, um die Schwächen der Objektformel auszugleichen: „Ihr wird aber vorgebeugt, wenn die Definition der Menschenwürde vom Verletzungsvorgang her unter hinreichender Berücksichtigung der Subjektqualität des Menschen und der Gesamtumstände des konkreten Einzelfalls angewandt wird, sog. Methodik einer bilanzierenden Gesamtwürdigung des Einzelfalls zur Feststellung einer Würdeverletzung.“ (S. 142). Auch von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 174 ff., 185, geht sowohl bezüglich der Menschenwürde nach dem Grundgesetz wie auch nach der EMRK davon aus, dass sich die Menschenwürde in einen Kernbereich sowie einen Randbereich aufspaltet und die Menschenwürde nur in ihrem Kernbereich absoluten Schutz genießt: „Die Unantastbarkeit der Würde beschränkt sich auf ihren Kerngehalt aus Art. 1 GG und strahlt 218

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C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

Nichtsdestotrotz kann diese „bilanzierende Gesamtwürdigung“ als nichts anderes verstanden werden als eine Öffnung der Menschenwürde zur Abwägung. Die Menschenwürde ist nicht mehr die fundamentale Norm der Rechtsordnung, die absolut gilt. Eine Aufspaltung der Menschenwürde in einen „Begriffskern“ sowie einen „Begriffshof“223 ist auch deshalb abzulehnen,224 da schon nicht klar ist, wie diese beiden Kategorien inhaltlich zu bestimmen sind. Hieraus ergäben sich neben der ohnehin schwierigen Bestimmung des Menschenwürdebegriffs weitere Unsicherheiten sowie möglicherweise Raum für willkürliche Zuordnungen. Es gibt mithin keinen Teil der Menschenwürde, der einer Abwägung zugänglich ist. Es gibt demgegenüber also auch keinen Kernbereich der Menschenwürde. Als Kernbereich kann nur der menschenwürderelevante Bereich des jeweiligen Grundrechts verstanden werden, denn als Ausgestaltung der Menschenwürde enthält jedes einzelne Grundrecht einen Menschenwürdekern. 3. Stellungnahme Die Stimmen in der Literatur, die annehmen, dass der Gewährleistungsgehalt der Menschenwürdegarantie erst durch Abwägung zu ermitteln sei,225 verkennen, dass die Menschenwürde nicht selbst in die Abwägung eingestellt wird, sondern vielmehr als Maßstab und Grenze die Abwägungsverhältnisse beherrscht, die Interprenicht gemeinsam mit der Würde in die Einzelgarantien hinein. […] Es muss daher immer strikt zwischen dem Kern des Würdeschutzes, der sich allein auf Art. 3 EMRK beschränkt, und seinem Randbereich unterschieden werden.“ (S. 185). 223 Die Unterscheidung der Grundstruktur der Gesetzesbegriffe in einen Begriffskern und einen Begriffshof geht zurück auf Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 46, 173. 224 Ebenfalls gegen eine Aufspaltung der Menschenwürde in einen Menschenwürdekern und einen, dem Eingriff zugänglichen Randbereich, mit der Begründung, dass dies der gesamten Konzeption der Menschenwürde zuwiderliefe: Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 321. 225 So etwa auch Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43, der davon ausgeht, dass sich der Achtungsanspruch aus der Menschenwürdegarantie überhaupt erst aus einer „bilanzierenden Gesamtwürdigung“ ergebe. Herdegen nimmt in seiner Kommentierung von Art. 1 GG eine Relativierung des absoluten Folterverbots und der Menschenwürdegarantie vor, indem er feststellt: „Jedoch zerbricht dieser Konsens leicht bei jedem Szenario, an dem sich ein abwägungsfreier Würdeschutz der Rettung von Menschenleben in den Weg zu stellen scheint“ (Rn. 45); Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 96 f., geht vom Bestehen zweier Menschenwürde-Normen aus – einer Menschenwürde-Regel und einem Menschenwürde-Prinzip. Dabei ist das Menschenwürde-Prinzip im Gegensatz zur Regel nicht absolut. Eine Abwägung zwischen dem Menschenwürde-Prinzip und anderen Verfassungsprinzipien sei daher möglich. Das Menschenwürde-Prinzip sei mit der Regel dergestalt verbunden, dass über den Inhalt der absolut geltenden Menschenwürde-Regel „die Präferenzrelation des Menschenwürde-Prinzips zu gegenläufigen Prinzipien entscheidet“. „Wenn auf der Prinzipienebene die Menschenwürde vorgeht, dann ist auf der Regelebene die Menschenwürde verletzt.“ Durch diese Verknüpfung des Prinzips mit der Regel relativiert Alexy jedoch die absolute Geltung der Menschenwürderegel und gibt der Abwägung bei der Bestimmung der Menschenwürde breiteren Raum (so auch von Bernstorff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (31).

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

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tation der einzelnen Grundrechte steuert und die absolute Grenzen als „materiales Korrektiv“ aufzeigt.226 Der in der Literatur vorgebrachten Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG ist unterdessen zuzugestehen, dass das Gericht eine gewisse Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie erkennen lässt. Dies wird insbesondere deutlich anhand der Entwicklung der Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung. So nahm das BVerfG in seiner ersten Entscheidung hierzu aus dem Jahre 2004 eine Abwägung der Menschenwürde mit den Interessen der Gemeinschaft vor. Zwar äußerte sich das Gericht in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich zur absoluten Geltung der Menschenwürdegarantie, machte aber dennoch deutlich, dass es mit dieser unvereinbar wäre, wenn „der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass zumindest die Chance für ihn bestehen würde, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.“227 Insofern stellte das BVerfG zunächst heraus, wo die Grenze zum absolut gewährten Schutz der Menschenwürde verläuft. Dennoch kam das Gericht dann zu dem Schluss, dass die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung wegen fortlaufender Gefährlichkeit „mit Blick auf die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums nicht gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG“ verstoße.228 Da das Grundgesetz die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit entschieden habe, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten, sei die Sicherungsverwahrung auch als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit mit dem Grundgesetz vereinbar.229 Das Interesse der Gemeinschaft stellte das BVerfG damit bei der Abwägung dem Interesse des Betroffenen an einer wahren Perspektive, wieder zu einem absehbaren Zeitpunkt in Freiheit zu gelangen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, gegenüber. Im Ergebnis hatte diese Rechtsprechung des BVerfG jedoch keinen Bestand. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR und Art. 7 Abs. 1 EMRK kam das Gericht 2011 dann zu dem Schluss, dass die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung nicht mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar seien.230 Nunmehr sollte die Sicherungsverwahrung nur dann zu rechtfertigen sein, wenn sie – in deutlichem Abstand zum Strafvollzug – so ausgestaltet ist, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt.231 Gegenüber der Entscheidung von 2004 ist dieses Urteil nun an einem freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug und damit in angemessener Weise am Interesse 226

Von Bernstorff, Der Staat Bd. 47 (2008), S. 21 (31); Enders, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 1 Rn. 56 ff.; Classen, DÖV 2009, S. 689 (694); Geddert-Stei­ nacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 55, 85. 227 BVerfGE 109, 133 (150). 228 BVerfGE 109, 133 (151). 229 BVerfGE 109, 133 (151). 230 BVerfGE 128, 326 (365 f.). 231 BVerfGE 128, 326 (375).

138

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

des Betroffenen und seiner Selbstbestimmtheit  – und damit nicht zuletzt an der Wahrung seiner Würde – orientiert, und nicht lediglich bzw. vorrangig an dem Interesse der Allgemeinheit.232 In dieser Entscheidung nahm das BVerfG keine Abwägung der Menschenwürde mit dem Interesse der Allgemeinheit mehr vor. Es trennte hier klar zwischen der unterschiedlichen Zwecksetzung von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung. Denn während die Freiheitsstrafe aufgrund des in der Menschenwürde wurzelnden Schuldprinzips233 nach Ansicht des BVerfG ohnehin zeitlich zu begrenzen sei, richteten sich die Berechtigung zu Anordnung und Vollzug der Sicherungsverwahrung zwar nach einem Überwiegen der Interessen der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsrecht des Betroffenen im Einzelfall, wobei die Sicherungsverwahrung jedoch viel deutlicher auf die Wiedererlangung der Freiheit auszurichten und daher anders als der Strafvollzug auszugestalten sei.234 Trotz der hier nach wie vor gegenübergestellten Interessen des Einzelnen einerseits und der Allgemeinheit andererseits ist dem BVerfG nun eine deutlichere Umgrenzung des zu wahrenden Kernbereichs des Betroffenen, der um seiner Würde willen dem staatlichen Eingriff entzogen ist, gelungen. Wenngleich das Gericht auch hier auf eine Abwägung der gegenläufigen Interessen hindeutete,235 machte es mit seinen klaren Vorgaben zur Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung deutlich, welche Perspektiven dem Betroffenen immer verbleiben müssen. Insofern findet eine Abwägung nur außerhalb des unantastbaren Menschenwürdekerns statt, der absolut geschützt ist. Das BVerfG hätte allerdings an dieser Stelle seines Urteils dabei deutlich auf die Menschenwürde des Betroffenen verweisen können, denn um diese geht es schließlich auch, wenn es heißt, dass die Sicherungsverwahrung am Resozialisierungs­ gebot und an der Wiedererlangung der Freiheit auszurichten sei.236 Anhand der bisherigen Untersuchung wird deutlich, dass sich in der Rechtsprechung des BVerfG zur absoluten Geltung der Menschenwürde – nicht zuletzt auch unter dem Einfluss des internationalen Rechts – ein Wandel vollzogen hat. Mithilfe des Verweises des Gerichts darauf, dass sich das Grundgesetz zugunsten der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden habe, 232

Dies spiegelt sich deutlich in folgender Formulierung wider: „Die Sicherungsverwahrung ist daher überhaupt nur dann zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Ausgestaltung dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der ‚äußeren‘ Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden. Dem muss durch einen freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug Rechnung getragen werden, der den allein präventiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüber dem Un­ tergebrachten als auch gegenüber der Allgemeinheit deutlich macht.“ (BVerfGE 128, 326 [374 f.]). 233 BVerfGE 123, 267 (413); vgl. zum in der Menschenwürde wurzelnden Schuldprinzip ausführlich BVerfG Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 48, 51, 54. 234 BVerfGE 128, 326 (377). 235 BVerfGE 128, 326 (376 f.), unter Verweis auf seine erste Entscheidung zur Sicherungsverwahrung (E 109, 133 (159)): „Anordnung und Vollzug sind nur dann legitim, wenn das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit das Freiheitsrecht des Betroffenen im Einzelfall überwiegt.“ 236 BVerfGE 128, 326 (377): „Das Resozialisierungsgebot, dem das Bild des Grundgesetzes von einem zu freier Selbstbestimmung befähigten Menschen zugrunde liegt […], gilt gleichermaßen für den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung […].“

VI. Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie   

139

kam es in seiner früheren Rechtsprechung häufig noch zu dem Schluss, dass der Schutz der Menschenwürde dem Interesse der Gemeinschaft zu weichen habe. Die Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenwürdegarantie wurde mithin negativ, da von den Interessen der Allgemeinheit ausgehend, bestimmt. Dies wandelte sich mit der Zeit, sodass mittlerweile das BVerfG in seinen Entscheidungen zunächst den absolut geschützten Kerngehalt der Menschenwürdegarantie bestimmt, also zu allererst von den um der Menschenwürde willen zu schützenden Interessen des Individuums ausgeht. Erst nach dieser Bestimmung wird das, was außerhalb dieses Kernbereichs liegt, einer Abwägung zugänglich gemacht. Bei der Bestimmung des absolut geschützten Menschenwürdebereichs bezieht sich das BVerfG auch auf die Umstände des Einzelfalles. Entgegen der vorgebrachten Kritik kann auf diese Einbeziehung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls auch schon aufgrund der relativen Unbestimmtheit des Menschenwürdebegriffs nicht verzichtet werden. Um dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürdegarantie hinreichend gerecht werden zu können und willkürliche Entscheidungen zu verhindern, müssen hierbei in jedem Einzelfall die wesentlichen Wertungen, die der Menschenwürdegarantie zugrunde liegen, herangezogen werden. Hierzu zählen insbesondere die konstituierenden Elemente der Menschenwürde wie die Achtung und der Schutz von Freiheit in Form von Selbstbestimmung, Gleichheit, Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und der Achtung des Demokratieprinzips.237 Insbesondere dürfen die Subjektstellung und der Achtungsanspruch des Betroffenen nicht zugunsten der Interessen der Gemeinschaft zurücktreten. Da das Grundgesetz der Menschenwürde als Konstitutionsprinzip und oberster Wert der verfassungsmäßigen Ordnung eine übergeordnete Stellung eingeräumt hat und da nicht zuletzt aufgrund der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes dem Schutz des Individuums eine besondere Bedeutung beizumessen ist, sollte immer zuerst das Interesse des Einzelnen in den Mittelpunkt der Prüfung einer Menschenwürdeverletzung gerückt werden. Auch wenn der Mensch notwendigerweise in sozialen Bezügen lebt und die Gemeinschaft in einer demokratischen Verfassungsordnung auch auf die Teilhabe des Einzelnen angewiesen ist, kann dem Achtungsanspruch nur dann entsprochen werden, wenn zunächst das absolut geschützte Interesse des Individuums klar umrissen wird. Insofern hat sich das Grundgesetz sowohl zugunsten des Individuums als auch zugunsten einer Gemeinschaft, die auf dieses Individuum angewiesen ist, entschieden. Dies begründet jedoch nicht, warum einer Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person der Vorzug gegeben werden soll. Vielmehr liegt es im Interesse einer Gemeinschaft, dem Schutz des im Zweifel schwächeren Individuums den Vorrang einzuräumen. Auch diese Wertung muss in die Prüfung, ob eine Menschenwürdeverletzung vorliegt und damit auch in die Betrachtung der Besonderheiten des Einzelfalls mit einbezogen werden. Ansonsten droht die Bestimmung der absolut geschützten Menschenwürde immer wieder von den Interessen der Allgemeinheit her bestimmt zu werden. 237

Siehe ausführlich zu den Wesensmerkmalen der Menschenwürde, Teil E. II.

140

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

VII. Die Menschenwürde als Konstitutionsprinzipund zugleich als anspruchsbegründendes Grundrecht Dem Grundsatz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde kommt eine doppelte normative Bedeutung zu. So handelt es sich zum einen um eine subjektivrechtliche Position jedes einzelnen Menschen und zum anderen um das objektivrechtliche Fundament aller Grundrechte.238 Die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürdegarantie liefert zum einen den Grund der Menschenrechte und bestimmt als Konstitutionsprinzip Ziel und Zweck der einzelnen Gewährleistungen. Zugleich begründet die Menschenwürdegarantie eine objektiv-rechtliche Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Mithilfe dieser Verpflichtung werden die Möglichkeiten zulässigen staatlichen Handelns aufgezeigt und zugleich die äußerste Grenze staatlicher Zugriffsmöglichkeit bestimmt. Diese Verpflichtung besteht unabhängig von ihrer Geltendmachung durch den einzelnen Würdeträger.239 Hingegen bietet die subjektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürde die Möglichkeit des betroffenen Würdenträgers, eine Verletzung seiner Würde geltend zu machen und somit den Rechtsweg zu beschreiten. 1. Die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürdegarantie Die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürdegarantie hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung wiederholt umrissen, indem es Art. 1 Abs. 1 GG als „Grundnorm“240, als „Fundament“241, „oberste(n) Wert“242 und „höchsten Rechtswert“243 innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes und die Menschenwürde als Mittelpunkt des Wertesystems der Verfassung244 gesehen hat. So hob das BVerfG in seiner Lüth-Entscheidung hervor, dass das Grundgesetz „mit der Voran­ stellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte.“245 Das Grundgesetz wolle „keine wertneutrale Ordnung sein“. Es habe in seinem Grundrechtsabschnitt „eine objek 238

Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, S. 343. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 172. 240 BVerfGE 27, 344 (351); 32, 373 (379). 241 BVerfGE 107, 275 (284). 242 BVerfGE 5, 85 (204); 32, 98 (106). 243 BVerfGE 6, 32 (36); 12, 45 (53); 30, 1 (39); 45, 187 (227); 117, 71 (89); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 49. 244 BVerfGE 7, 198 (205); 39, 1 (43); 72, 155 (172). Kritisch hierzu aber Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (88), der eine Überforderung des Art. 1 Abs. 1 GG durch diese Rechtsprechung darin sieht, wenn man „die Vorschrift als Grundlage und Ausgangspunkt eines ‚Wertund Anspruchssystems‘ begreift, das sich als ‚lückenlos‘ darstellen lässt und mit dessen einzelne Wertgehalte die abwägungsfeindliche und folgenblinde Unbedingtheit absolutistischer Grenzziehungen beanspruchen.“ Art. 1 Abs. 1 GG lasse sich nicht als unmittelbare Positivierung einer bestimmten Moral begreifen. 245 BVerfGE 7, 198 (205). 239

VII. Die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip  

141

tive Wertordnung aufgerichtet“. Gerade hierin komme „eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck […]. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrecht­liche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.“246 In einer späteren Entscheidung hob das Gericht hervor, dass „das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet [hat], die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt.“247 Für das Gericht ist damit die Menschenwürde, die es zu achten und zu schützen gilt, das tragende Konstitutionsprinzip und der oberste Verfassungswert.248 Die Menschenwürde stelle die „Wurzel aller Grundrechte“249 dar. Die einzelnen Grundrechte selber seien dabei sachbereichsspezifische Konkretisierungen der Menschenwürde.250 Deshalb ist Art. 1 Abs. 1  GG auch von Nettesheim zu Recht als „Schutznorm, die den unantastbaren Wesens­ gehalt der spezielleren Grundrechte formuliert“ bezeichnet worden.251 Sie setze dort ultimative Grenzen, wo diese Grundrechte tatbestandlich keinen Schutz böten.252 Nettesheim geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er Art. 1 Abs. 1 GG in Anlehnung an Dürigs Verbot der Verobjektivierung des Menschen als Prinzip der Staatsethik begreifen will, das ein Gemeinwohlverständnis zum Ausdruck bringe, „dessen Ausgangspunkt, Leitziel und unbedingte Aspiration das Wohl des einzelnen ist“.253 Diese Gemeinwohldimension des Art. 1 Abs. 1 GG sei als eine der wichtigsten „Staatsfundamentalnormen und grundlegende Staatszielbestimmungen anzusehen, die für die Interpretation aller übrigen Normen des Grundgesetzes […] Verbindlichkeit beansprucht“.254 2. Die subjektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürdegarantie Dass die Menschenwürdegarantie für sich Verbindlichkeit beansprucht, wird von der herrschenden Meinung durch die zutreffende Annahme bestätigt, dass es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um ein eigenständiges Grundrecht handelt.255 Dies hat auch 246

BVerfGE 7, 198 (205). BVerfGE 39, 1 (67). 248 BVerfGE 54, 148 (153); 79, 256 (268); 95, 220 (241); 115, 118 (151); 45, 187 (227); 131, 268 (286); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 49. 249 BVerfGE 93, 266 (293). 250 BVerfGE 93, 266 (293); 107, 275 (284). 251 Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (88). 252 Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (88). 253 Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (100). 254 Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (102). 255 Hömig, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 25 (27), m. w. N.; Schmidt-Preuß, in: de Wall (Hrsg.), FS Link, S. 921 (922); Hufen, JuS 2010, S. 1 f.; Dederer, JöR 2009, S. 89 (89 f.) m. w. N. 247

142

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

das BVerfG in seiner Rechtsprechung – entgegen anders lautender Stimmen in der Literatur – ausdrücklich betont.256 Darüber hinaus wäre es verfehlt, etwa schon aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG, der von den „nachfolgenden Grundrechte(n)“ spricht, abzuleiten, dass es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein eigenständiges Grundrecht handelt. Indem der Verfassungsgeber die Menschenwürde an der obersten Stelle des Grundgesetzes verortete, sollte nach den Erfahrungen des national­ sozialistischen Unrechts und des Zweiten Weltkrieges die Menschenwürde zu einem „Gegenprogramm zur totalitären Missachtung des Individuums“ gemacht werden.257 Wie dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 GG deutlich zu entnehmen ist, sollte nun mithilfe der Verankerung der Menschenwürde gerade die bisher schwache bzw. zum Teil durch das totalitäre Regime völlig negierte Stellung des Individuums respektiert und unter Schutz gestellt werden („Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG). Vor diesem Hintergrund wäre es verfehlt, dem Einzelnen seinen Achtungsanspruch abzusprechen, indem die Menschenwürde nur als tragendes Konstitutionsprinzip verstanden würde.258 Des Weiteren kann auch nicht aus der Annahme, dass die übrigen Grundrechte sachbereichsspezifische Konkretisierungen der Menschenwürde sind, geschlossen werden, dass dem Art. 1 Abs. 1 GG kein eigener Schutzbereich mehr verbleibt. Vielmehr gibt es Konstellationen, in denen keines der übrigen Grundrechte einschlägig ist, der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG jedoch eröffnet ist.259 So hat das BVerfG festgestellt, dass es ein Recht auf Sicherung des menschenwürdigen Existenz­minimums gibt. Dieses verortet das Gericht in ständiger Rechtsprechung bei „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip“260. Gerade weil sich aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG nicht nur eine Achtungs-, sondern auch ein Schutzpflicht ergibt, umfasst dieser das fundamentale „Recht auf ein Recht“261. Dies bedeutet, dass den Gesetzgeber eine Pflicht trifft, den rechtlichen Rahmen zu schaffen, auf den das Individuum zur Sicherung des Existenzminimums angewiesen ist.262 Zu begründen ist dies nicht zuletzt damit, dass Art. 1 Abs. 1 GG den Menschen als Wesen erkennt, das sich nur in individueller Freiheit entfalten kann. Zu den Grundvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins zählt daher auch die „Freiheit

256

So ist in BVerfGE 109, 133 (151) vom „Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG“ die Rede. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 76 m. w. N. 258 So auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 77; Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29. 259 Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (104), kritisiert in dem Zusammenhang, dass das BVerfG mit der Schaffung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts „wesentliche Schutzgehalte des Art. 1 Abs. 1 GG in ein eigenständiges Grundrecht verlagert hat. Damit wird Art. 1 Abs. 1 GG – und die besondere Schutzfestigkeit – entwertet.“ 260 BVerfGE 99, 216; 82, 60 (85); 125, 176; BVerfG, Urt. v. 18.07.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11. 261 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 501 ff. 262 Wallerath, JZ 2008, S. 157 (163). 257

VII. Die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip  

143

von Not“.263 Der Staat hat somit die Pflicht, die notwendigen Voraussetzungen für die Realisierung der individuellen Freiheit zu schaffen.264 Zu Beginn seiner Rechtsprechung sah das BVerfG keinen Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und dem Existenzminimum. So stellte das Gericht in seiner Entscheidung zur Hinterbliebenenrente 1951 fest, dass Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG „nicht den Schutz vor materieller Not“ umfasst, sondern lediglich den „Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere“ vorsieht.265 Diese Haltung änderte sich erst 1977 in der Entscheidung zur Lebenslangen Freiheitsstrafe, in der das Gericht feststellte, dass auch bezüglich des Straftäters „die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen“ erhalten bleiben müssten. „Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist daher […] die Verpflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht.“266 In der Folgezeit verortete das BVerfG ein dem Bürger zu verbleibendes steuerfreies Existenzminimum ebenfalls bei Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats­ prinzip.267 Später benannte das Gericht ausdrücklich die Existenz eines „Grundrecht[s] auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG“, das „jedem Hilfebedürftigem diejenigen materiellen Voraussetzungen zu[sichert], die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“268 Dies wird wiederum damit begründet, dass der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiere.269 Auch an dieser Stelle kommt also wieder das vom BVerfG zugrunde gelegte Menschenbild zum Tragen, wonach der Mensch ein gemeinschaftsgebundenes und gemeinschaftsbezogenes Individuum ist. Erstmals hebt das Gericht in dieser Entscheidung („Hartz IV“) auch hervor, dass diesem Grundrecht „als Gewährleistungsrecht […] neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG […] eigenständige Bedeutung zukommt.“270 Dieses Grundrecht sei „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden“.271 Der individuelle Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG sei dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben. Dem

263

Wallerath, JZ 2008, S. 157 (164). Vgl. Nettesheim, AöR, Band 130 (2005), S. 71 (104). 265 BVerfGE 1, 97 (104). 266 BVerfGE 45, 187 (228). 267 BVerfGE 82, 60 (85); 99, 216 (233). 268 BVerfGE 125, 175 (175, 223). 269 BVerfGE 125, 175 (223). 270 BVerfGE 125, 175 (175, 222). 271 BVerfGE 125, 175 (175, 222); In einer Kammerentscheidung hatte der Erste Senat (Beschl. v. 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Rn. 28) bereits zuvor festgestellt, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienten. Diese Sicherstellung sei „eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt.“ 264

144

C. Die Würde des Menschen nach dem Grundgesetz 

Gesetzgeber verbleibe jedoch ein Gestaltungsspielraum bezüglich der näheren Ausgestaltung dieses Anspruchs.272 Zu dem gleichen Schluss kam das BVerfG auch in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz.273 Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, dass das Gericht nun davon spricht, dass Art. 1 Abs. 1 GG den sich aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gemäß Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ergebenden Anspruch „als Menschenrecht begründet“.274 Mit der Hervorhebung dieses Leistungsanspruches als Menschenrecht machte das BVerfG deutlich, dass dieser Anspruch neben Deutschen nun auch Asylbewerbern und Ausländern mit Aufenthaltserlaubnis ausdrücklich zugesprochen wird. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht stehe „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen“ zu.275

VIII. Ergebnis Die Rechtsprechung des BVerfG hat das Verständnis der Menschenwürdegarantie nach dem Grundgesetz entscheidend geprägt. Dabei hat das Gericht in seiner Rechtsprechung eine Entwicklung von einer bloß negativen Umschreibung des Menschenwürdebegriffs vom Verletzungsvorgang ausgehend hin zu einer positiven Begriffsbestimmung, die eine substanzielle Bestimmung des Schutzgutes des Art. 1 Abs. 1 GG ermöglicht, vollzogen. Das Gericht stellt in mittlerweile ständiger Rechtsprechung auf die (modifizierte) Objektformel ab, die die Subjektqualität des Einzelnen als Hauptmerkmal der Menschenwürde nach dem Grundgesetz in den Vordergrund stellt und bei deren Missachtung annimmt, dass der Betroffene zum bloßen Objekt herabgesetzt wurde. Das BVerfG rekurriert bei seiner Begriffsbestimmung nicht ausdrücklich auf philosophische, beziehungsweise theologische, Lehren. Dies entspricht der Verpflichtung des Staates, die Achtungs- und Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 GG in weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen. Dennoch liegt der Rechtsprechung des BVerfG ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, das den Einzelnen als eine autonome, zur Vernunft begabte und zur Selbstbestimmung befähigte Person begreift, deren Existenz und Verwirklichung aber nur in sozialen Bezügen zu denken ist.276 Insofern kommt hier ein Menschenwürde- und Staatsverständnis zum Vorschein, das stark von Kants Vorstellungen

272

BVerfGE 125, 175 (175, 222). BVerfGE 132, 134 (135), 2. Leitsatz. 274 BVerfGE 132, 134 (135), 2. Leitsatz. 275 BVerfGE 132, 134 (135), 2. Leitsatz. 276 Vgl. BVerfGE 80, 367 (374); 109, 279 (319). 273

VIII. Ergebnis  

145

geprägt ist. Die durch Kants Metaphysik begründete Menschenwürde wird so zum Schlüsselbegriff des Verhältnisses des einzelnen Menschen zum Staat.277 Art. 1 Abs. 1 GG gilt absolut. Die Menschenwürde nach dem Grundgesetz ist unabwägbar. So verfügen die einzelnen Grundrechte jeweils über einen Menschenwürdekern, der unangetastet bleiben muss und einer Abwägung nicht zugänglich ist. Dieser Kern muss jeweils im Einzelfall unter Einbeziehung der der Menschenwürdegarantie zugrunde liegenden Wertungen und anhand ihrer Wesensmerkmale, insbesondere der individuellen Freiheit und Selbstbestimmtheit, Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und des Demokratieprinzips bestimmt werden. Die Prüfung des Art. 1 Abs. 1 GG erfolgt einstufig; eine Abwägung – etwa unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – findet nicht statt. Auch dürfen nicht die Interessen des Individuums gegenüber den Gemeinschaftsinteressen zurücktreten. Die Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie folgt insbesondere auch aus dem Postulat der Unantastbarkeit. Auch aus völkerrechtlichen Verpflichtungen sowie dem vom BVerfG wiederholt betonten Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit lässt sich die Absolutheit der Menschenwürdegarantie ableiten. Eine Kollision „Würde gegen Würde“ ist zugunsten der sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Achtungspflicht gegenüber der Schutzpflicht zu lösen. Die Untersuchung hat des Weiteren ergeben, dass der Menschenwürdegarantie nach dem Grundgesetz eine doppelte normative Funktion zukommt: Als „Wurzel aller Grundrechte“, sowie als abwägungsfester Bestandteil der Grundrechte, denn die Menschenwürde wird nicht selbst in die Abwägung eingestellt, sondern lenkt und bestimmt vielmehr die Interpretation der einzelnen Grundrechte kraft ihrer Ausstrahlungswirkung für die gesamte Rechtsordnung. Darüber hinaus kommt der Menschenwürdegarantie eine doppelte normative Bedeutung zu: Als objektiv-rechtliche Norm handelt es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG ein die gesamte Rechtsordnung beherrschendes, Verbindlichkeit beanspruchendes Konstitutionsprinzip, das als Mittelpunkt des Wertesystems der Verfassung zu sehen ist und nicht als bloße Hintergrundannahme, beziehungsweise bloße Wertentscheidung. Als subjektiv-rechtliche Norm stellt Art. 1 Abs. 1 GG ein anspruchsbegründendes Grundrecht dar. Diese Seite der Menschenwürdegarantie ist vom BVerfG insbesondere im Hinblick auf ein sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebendes Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum herausgearbeitet worden. Indem das Gericht betonte, dass Art. 1 Abs. 1 GG diesen Anspruch als Menschenrecht begründet, machte es deutlich, dass dieses Recht im Gegensatz zu den Deutschengrundrechten auch ausländischen Staatsbürgern, die sich in Deutschland aufhalten, zugesprochen werden muss.

277

Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK unter Verweis auf Starck, JZ 1981, 457 (463).

D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union Die Herausbildung eines unionsweit geltenden Menschenwürdesatzes hat allein schon aufgrund der zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der Union in zum Teil nicht geringem Maße divergierenden Auffassungen von der Reichweite und dem Inhalt der Menschenwürdegarantie einen deutlich schwierigeren Ausgangspunkt gehabt als etwa die Menschenwürdegarantie auf der Ebene des deutschen Grundgesetzes. Trotz dieser vermeintlich „kulturellen Bedingtheit“1 des Menschenwürdeschutzes in den jeweiligen Mitgliedstaaten, stellt sie jedoch den Bezugspunkt für eine bestehende europäische Wertegemeinschaft dar.2 Um die Menschenwürde in den Kontext der Union als Wertegemeinschaft zu stellen, soll zunächst die Herausbildung der Union als Wertegemeinschaft sowie die damit eng verbundene Entwicklung des Grundrechtsschutzes nachgezeichnet werden. Hierbei soll sich das Augenmerk auch auf die Bedeutung der EMRK sowie insbesondere der GRCh, die in ihrem Art. 1 die Würde des Menschen verankert hat, für den unionsrecht­lichen Grundrechtsschutz richten. Daran anschließend sollen die Funktion und der normative Charakter der Menschenwürdegarantie im EU-Recht herausgearbeitet werden, wobei der Rechtsprechung des EuGH in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommt.

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene 1. Die Union als Wertegemeinschaft Insbesondere bedingt durch den Schutz der Grundrechte hat sich auf Ebene der Europäischen Union gerade in den letzten beiden Jahrzehnten eine europäische Wertegemeinschaft herausgebildet, die nicht mehr nur den Marktbürger vor Augen hat, sondern sich eines Bildes von einem eigenverantwortlichen, individuell selbstbestimmten Menschen bewusst ist.3 Dieser Entwicklung waren sich die Gründungsmitglieder der Gemeinschaft auch bewusst und haben sie auch von Anfang an befördert. Schließlich haben die Europäischen Verträge schon immer deutlich gemacht, dass es nicht Selbstzweck beziehungsweise Endziel der Europäischen Integration sein soll, lediglich einen gemeinsamen Markt zu schaffen.4 1

Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 102. Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 1. 3 Herdegen, in: Pitschas / Uhle (Hrsg.), FS Scholz, S. 139 (150). 4 Herdegen, in: Pitschas / Uhle (Hrsg.), FS Scholz, S. 139 (141). 2

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

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Schon mit dem Vertrag über die Montanunion, sowie mit den Römischen Verträgen, die am 01.01.1958 in Kraft getreten sind, sollte eine Überwindung der Feindseligkeiten und Rivalitäten zwischen den Staaten des europäischen Kontinents5 durch die Berufung auf gemeinsame Werte ermöglicht werden. Mit der Gründung der Europäischen Union durch den am 01.11.1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht6 machten die Vertragsparteien deutlich, dass diese als Dach der Europäischen Gemeinschaften konstruierte Union eine Wertegemeinschaft darstellt,7 die gleichzeitig aber auch die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet8. Die Menschenwürde fand zu diesem Zeitpunkt noch keinen ausdrücklichen Eingang in die Verträge. Mit der am 07.12.2000 feierlich proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union einigten sich die Mitgliedstaaten der Union erstmals auf einen gemeinsamen Katalog an Grund- und Menschenrechten. Erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon9 am 01.12.2009 ist diese verbindliches Unionsrecht geworden, denn Art. 6 Abs. 1 S. 1 EUV lautet nun: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Form niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.“ Als entscheidende Neuerung zu sehen ist das in Art. 2 EUV eingefügte ausdrückliche Bekenntnis der Union zu den Werten, auf die sie sich ihrem Selbstverständnis nach gründet. Zu diesen zählen gem. S. 1 „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Damit 5

So zeigten sich die unterzeichnenden Parteien in der Präambel des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 entschlossen, „an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren […]“. 6 ABl. der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 191 vom 29. Juli 1992. 7 Dies wird schon in der Präambel deutlich, wenn es dort in Abs. 3 heißt: „[…] in Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit […]“. Mit dem am 01.05.1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam (ABl. der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 340 vom 10. November 1997) wurde dieser Passus dann aus der Präambel in den bisherigen Artikel F als Abs. 1 (später Art. 6 Abs. 1) des Vertrags eingefügt und lautet nunmehr: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“ 8 Auch dieser Passus wurde mit dem Vertrag von Amsterdam als Abs. 3 von Art. F (später Art. 6 Abs. 3) eingefügt. 9 ABl. der Europäischen Gemeinschaften, Nr. C 306 vom 17. Dezember 2007; konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union, ABl. der Europäischen Union, Nr. C 83, S. 13 ff. vom 30. März 2010.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

wurde die Menschenwürde in den Wertekanon der Union aufgenommen. Gemäß S. 2 sind diese Werte „allen Mitgliedstaaten in einer Gemeinschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Gemäß Art. 3 Abs. 1 EUV ist es Ziel der Union, die Werte der Union und damit auch die Menschenwürde zu fördern.10 Entsprechend dieser Verankerung im Unionsrecht wird die Menschenwürdegarantie in der Literatur auch als „Unionsfundamentalnorm“ bezeichnet11 bzw. als „Grundstein der Rechtsgemeinschaft ‚Europäische Union‘“12. Auch in der Präambel der GRCh wird hervorgehoben, dass sich die Union „[i]n dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes […] auf die unteil­ baren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ gründet. Dieser zweiten Präambelerwägung entsprechend sind auch die ersten vier Titel der GRCh mit „Würde des Menschen“ (Titel I), „Freiheiten“ (Titel II), „Gleichheit“ (Titel III) und „Solidarität“ (Titel IV) benannt. Dies entspricht sowohl der europäischen Verfassungstradition, die sich in der Parole der Französischen Revolution „liberté, égalité, fraternité“ widerspiegelt, als auch die in einigen Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie internationalen Menschenrechtsverträgen zu findende Rückanknüpfung an die Menschenwürde.13 2. Die aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Unionsgrundrechte und die Rolle des EuGH bei deren Herausbildung Da es auf Ebene der Europäischen Union bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon keinen positivrechtlich verbindlichen Grundrechtskatalog gab, kam dem EuGH eine besondere Bedeutung bei der Herausbildung von Grundrechten zu, an denen gemeinschaftsrechtliche Hoheitsakte gemessen werden konnten. Der so entwickelte umfangreiche Grundrechtskatalog hat auch die Entwicklung der GRCh maßgeblich beeinflusst.14 Der EuGH hat frühzeitig in seiner Rechtsprechung festgestellt, dass das Gemeinschaftsrecht einen unbedingten Anwendungsvorrang vor jeglichem nationalen 10 Herdegen, in: Pitschas / Uhle (Hrsg.), FS Scholz, S. 139, hebt hervor, dass es gar „Bedingung für eine sinnvolle Harmonisierung und zwischenstaatliche Kooperation im europäischen Rechtsraum“ sei, die europäische „Wertegemeinschaft“ nicht als bloße Legitimation für eine beständige Kompetenzverlagerung bzw. -ausübung zu sehen, sondern vielmehr als „Gleichklang in Leitbildern des selbstverantwortlichen Individuums und rechtlich verfasster Gemeinschaft“. 11 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 367; Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 28. 12 Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 1. 13 Schmitz, EuR 2004, 691, 704; Die Menschenwürde in der Verfassung zu verankern ist in den Mitgliedstaaten der EU im Vordringen befindlich, vgl. Karl, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde, S. 25 (27). 14 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 37.

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

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Recht genießt.15 Bereits zuvor hatte der Gerichtshof in der Rs. van Gend & Loos entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht unmittelbare Rechtswirkungen gegenüber dem Bürger entfalten kann.16 Daher war es notwendig, auch auf Gemeinschaftsebene einen grundrechtlichen Schutz vor europäischen Hoheitsakten zu gewährleisten.17 Nicht zuletzt auch durch die Rechtsprechung des BVerfG in der Solange I-Entscheidung, wonach gemeinschaftliches Sekundärrecht zum damaligen Zeitpunkt noch nicht am Gemeinschaftsrecht sondern weiterhin an den deutschen Grundrechten gemessen werden sollte, da der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene noch nicht „dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist“18, ist die Herausbildung eines europäischen Grundrechtskatalogs befördert worden.19 Art. 6 Abs. 2 EUV a. F.20 normierte, dass es sich bei den in der EMRK gewährleisteten Grundrechten sowie bei den aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten um allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts handelt.21 Aus diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelte der EuGH im Wege richterlicher Rechtsfortbildung einen Grundrechtskatalog, der seinen primärrechtlichen Anknüpfungspunkt und seine Rechtsgrundlage in Art. 6 Abs. 2 EUV fand.22 Diese Regelung findet sich seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in kaum veränderter Form nunmehr in Art. 6 Abs. 3 EUV.23 Art. 6 Abs. 3 EUV unterstreicht damit, dass auch nachdem die GRCh Verbindlichkeit erlangt hat, die aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Unionsgrundrechte keinesfalls obsolet werden sollten und nach wie vor Anwendung finden.24 Dafür spricht auch die Regelung des Art. 53 GRCh, wonach keine Bestimmung der GRCh „als eine 15

EuGH, Rs. 6/64 (Costa / E. N. E. L.), Slg. 1964, 1251. EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 25. 17 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 3 f. 18 BVerfGE 37, 271 (285). Diese Annahme revidierte das Gericht im Jahre 1986 in der Solange II-Entscheidung, BVerfGE 73, 339, indem es feststellte, dass der vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz mit dem des Grundgesetzes im Wesentlichen vergleichbar ist. 19 Ebenso durch die Rechtsprechung des italienischen Corte Constituzionale, Urt. v. 18.12.1973, EuR 1974, S. 255 ff. 20 Zuvor Art. F Abs. 2 EUV. 21 Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon lautete Art. 6 Abs. 2 EUV: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Euro­ päischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“ 22 Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 159. 23 Art. 6 Abs. 3 EUV bestimmt: „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“ 24 Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 157; Jarass, GRCh, Einl. Rn. 34, geht zwar davon aus, dass mit Verbindlichwerden der GRCh den aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Grundrechten keine eigenständige Bedeutung mehr zukommt, sie aber – auch nach einem Beitritt der EU zur EMRK – weiterhin zum Tragen kommen werden, etwa wenn die durch die GRCh gewährten Grundrechte enger ausfallen. 16

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen (ist), die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union […] anerkannt werden.“25 Dies bedeutet aber zumindest auch, dass die bisherige Rechtsprechung des EuGH bei der Auslegung der GRCh eine wesentliche Grundlage darstellt und gleichzeitig durch die GRCh das mit der EuGH-Rechtsprechung erreichte Schutzniveau auf Ebene des Grundrechtsschutzes nicht unterminiert werden darf.26 Erstmals erkannte der EuGH 1969 in einem obiter dictum in der Rs. Stauder ./. Stadt Ulm an, dass „in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“, überhaupt Grundrechte enthalten sind.27 Mit diesem Urteil legte der Gerichtshof den Grundstein für die Entwicklung von Gemeinschaftsgrundrechten.28 Vor dem Hintergrund dieses Urteils hob der Gerichtshof in der Rs.  Internationale Handelsgesellschaft mbH hervor, dass bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht Normen des nationalen Rechts, sondern ausschließlich solche des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden dürften.29 Die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung sei nicht berührt, wenn geltend gemacht würde, dass nationale Grundrechte verletzt seien. Vielmehr seien diese Hoheitsakte an entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Garantien zu messen, „denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Die Gewährleistung dieser Rechte muss zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muss sich aber auch in die Struktur und Ziele der Gemeinschaft einfügen.“30 Hiermit betonte der EuGH, dass sich die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene nicht nur einfach aus den Grundrechtskatalogen der mitgliedstaatlichen Verfassungen bzw. den internationalen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, denen die Mitgliedstaaten beigetreten sind,31 ergeben sollten. Vielmehr sollte ein Grundrechtskatalog eigener Art, der der Verfasstheit der Gemeinschaft mit den ihr zugrunde liegenden Werten, Zielen und Strukturen entspricht, herausgebildet werden.32 Die Gemeinschaftsgrundrechte sollten also auf der Grundlage einer wertenden Rechtsvergleichung entwickelt werden, wobei die nationalen Grundrechte dem EuGH als 25

Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 157; Jarass, GRCh, § 53 Rn. 4. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV, Art. 6 EUV Rn. 18. 27 EuGH, Rs. 29/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419, Rn. 7. 28 Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 24. 29 EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbH ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, Rn. 3. 30 EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbH ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, Rn. 4. 31 Der EuGH machte in Rs. 4/73 (Nold ./. Kommission), Slg. 1974, 491, Rn. 13, deutlich, dass „auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, […] Hinweise geben (können), die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“; wiederholt in EuGH, Rs. 46/87, 227/88 (Hoechst), Slg. 1989, 2859, Rn. 13. 32 EuGH, Rs. 4/73 (Nold ./. Kommission), Slg. 1974, 491, Rn. 13 f.; Wallau, S. 38. 26

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

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Rechts­erkenntnisquellen dienen sollten.33 Dabei sollte das gelten „was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach der rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt.“34 Auch mit der nunmehr eingetretenen rechtlichen Verbindlichkeit der GRCh hat die Rechtsprechung des EuGH nach wie vor Bedeutung. Dies geht schon aus Abs. 5 der Präambel der GRCh hervor, wonach die Charta die Rechte bekräftigt, die sich auch aus der Rechtsprechung des EuGH ergeben. Gem. Art. 52 Abs. 4 GrCH sollen die Rechte der GRCh, soweit sie sich auch aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, „im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden.“ Zum Teil wird in der Literatur gar angenommen, es bestehe auf der Ebene des Primärrechts eine Normenhierarchie zugunsten der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der aus ihnen entwickelten Grundrechte.35 Diese Frage kann jedoch dahinstehen, denn ohnehin sind Unionsrechtsakte wegen des Vorrangs des Unionsrechts nicht an Normen des nationalen Rechts zu messen, sondern vielmehr an solchen des Unionsrechts wie den aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Grundrechten.36 3. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Nachdem der Europäische Rat in Tampere 1999 beschlossen hatte, durch einen Konvent, der sich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, einem Beauftragten der Kommission, 16 Abgeordneten des Europäischen Parlaments und 30 Mitgliedern nationaler Parlamente unter dem Vorsitz Roman Herzogs zusammensetzte, eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszuarbeiten, wurde dieser Text am 07.12.2000 in Nizza feierlich proklamiert. Jedoch erst mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 01.12.2009 hat die GRCh Verbindlichkeit erlangt. Auch die GRCh war bereits vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bei der Schöpfung und Auslegung der Grundrechte auf Unionsebene erkenntnisleitend, obwohl sie bis dato noch keine rechtliche Verbindlichkeit erlangt hatte.37 Sie war eine 33

Beutler, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 6 EUV Rn. 22; Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 24; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 37; Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV, Art.  6 EUV Rn.  6. 34 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 8. 35 So etwa Pache, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 4, Rn. 122, der damit argumentiert, dass die Unionsgrundrechte der „Begrenzung und Legitimation“ aller Unionsgewalt dienten und ihnen daher eine Stellung im Primärrecht zugewiesen werden müsse, die auch die Kontrolle des Primärrechts ermöglicht. 36 EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbH ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125, Rn. 3. 37 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 29; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechts­ ordnung der EU, S. 39.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

der wesentlichen Rechtserkenntnisquellen. Durch den Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV auf die GRCh hat sie nunmehr rechtliche Verbindlichkeit erlangt. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon sind die bisherigen Unionsgrundrechte jedoch nicht durch die Grundrechte der GRCh ersetzt worden, sondern bestehen weiterhin als allgemeine Rechtsgrundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV fort. Sie sind nach dieser Vorschrift Teil des Unionsrechts. Dies bedeutet, dass weiterhin alle Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts an diese gebunden sind und zugleich die GRCh als Rechtserkenntnisquelle für die Herausbildung und Weiterentwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze dient.38 Durch dieses Zusammenspiel zwischen den Grundrechten aus der GRCh sowie den allgemeinen Rechtsgrundsätzen wird sichergestellt, dass ein einheitlicher europäischer Grundrechtsstandard gewährleistet ist.39 Nunmehr sind also die Grundrechte aus der GRCh sowie die bisher aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen durch den EuGH entwickelten Grundrechte zu beachten. Die GRCh selbst ist wiederum in weiten Teilen die Wiedergabe von bereits vor ihrem Inkrafttreten bestehendem verbindlichem Primärrecht. Hauptsächlich begnügt sie sich damit, die bereits durch den EuGH herausgebildeten Unionsgrundrechte zu normieren.40 Sie ist damit die positivrechtliche Erfassung der Essenz der Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und – soweit eine Übereinstimmung mit Rechten nach der EMRK besteht – auch der Rechtserkenntnisquelle EMRK sowie der dazugehörigen Rechtsprechung des EGMR.41 Dies wird im Übrigen auch durch die Präambel der GRCh deutlich, denn aus dieser ergibt sich, dass mit der GRCh in erster Linie das Ziel verfolgt wird, „die Rechte [zu bekräftigen], die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus der von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“ Nach anfänglicher Zurückhaltung hat der EuGH dies ebenfalls erkannt und die GRCh zur Auslegung der Unionsrechte herangezogen. Der EuGH hob hervor, dass es dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers entspreche, dass bezüglich der Hoheitsakte der Union nicht nur etwa die EMRK sondern auch die in der GRCh anerkannten Grundsätze beachtet werden müssten.42 Darüber hinaus bestimmt Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV, dass die in der GRCh nieder­ gelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze entsprechend den Vorschriften des 38

Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 40. Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 40. 40 Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 55; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 6. 41 Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 55. 42 EuGH, Rs. C-540/03 (Europäisches Parlament ./. Rat der Europäischen Union), Slg. 2006, I-5769, Rn. 38. 39

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

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Titels VII der GRCh ausgelegt werden. Art. 52 Abs. 3 GRCh sieht vor, dass den Grundrechten der EMRK entsprechende Grundrechte der GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite haben. Gem. Art. 52 Abs. 4 GRCh müssen Grundrechte der GRCh, wenn sie sich auch aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, „im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt“ werden. Diese Vorschrift hat zum Zweck, entsprechend dem Gebot aus Art. 52 Abs. 6 GRCh, die mitgliedstaatlichen Werte und Traditionen zu berücksichtigen und Widersprüche zwischen den Grundrechten auf Unionsebene und den Grundrechten der Mitgliedstaaten zu verhindern.43 4. Die EMRK als Rechtserkenntnisquelle Neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten kommt der EMRK sowie der Rechtsprechung des EGMR eine besondere Bedeutung zu.44 Der EuGH bezeichnete die EMRK erstmals in der Rs. Rutili als Rechtserkenntnisquelle.45 Zur Auslegung der EMRK wiederum bezog sich der EuGH vor allem auf die Rechtsprechung des EGMR.46 Die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR dienten im Rahmen der Herausbildung eines unionsrechtlichen Grundrechtskatalogs bislang als Orientierungshilfe und vor allem als Mindeststandard.47 Gerade die Einrichtung des EGMR und das Recht zur Individualbeschwerde haben die EMRK als Orientierungs- und Auslegungshilfe für die Unionsgrundrechte so attraktiv gemacht. Indem der EGMR die EMRK als „living instrument“48 begreift, „das im Lichte der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse auszulegen ist“49, hat sich die evolutive Auslegung, die „Auslegung in der Zeit“ etabliert,50 weshalb es dem EGMR möglich ist, durch verbindliche Entscheidungen die EMRK voranzutreiben und weiterzuentwickeln und auf aktuelle Grundrechtsentwicklungen in den Vertragsstaaten der EMRK zu re 43 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 44 c. 44 Die besondere Bedeutung der EMRK für die Herausbildung und Anwendung der allgemeinen Rechtsgrundsätze hat der EuGH wiederholt betont, etwa in Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 33; EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659, Rn. 71. 45 EuGH, Rs. 36/75 (Rutili), Slg. 1975, 1219, 1232; in der Rs. 222/84 (Johnston), Slg. 1986, 1651, 1682, Rn. 18 sowie der Rs. 46/87, 227/88 (Hoechst), Slg. 1989, 2859, Rn. 13, betonte der EuGH selbst die „besondere Bedeutung“ der EMRK gegenüber anderen völkerrechtlichen Verträgen als Rechtserkenntnisquelle. 46 EuGH, Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997, 3689, 3717. 47 Heselhaus, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 2 IV Rn. 22; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 38. 48 EGMR, Urt. v. 08.07.2004, NJW 2005, 727 (730) (Vo  ./. Frankreich); EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. 5856/72, Ser. A Nr. 26 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 31. 49 EGMR, Urt. v. 08.07.2004, NJW 2005, 727 (730) (Vo ./. Frankreich). 50 Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 172 f.

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agieren.51 Da der EGMR auf diese Weise in einen Dialog mit den Mitgliedstaaten tritt, kommt seiner Interpretation der EMRK eine besondere integrative Wirkung zu. Dementsprechend hat sich der EuGH in der Vergangenheit an der Rechtsprechung des EGMR dann orientiert, wenn ein auch nach der EMRK garantiertes Grundrecht betroffen war, und hierzu Rechtsprechung des EGMR vorlag.52 Eine unmittelbare Bindung der EU an die EMRK sollte es erst mit dem gem. Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK geben. So findet sich in Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV die Ermächtigungsgrundlage für einen Beitritt der EU zur EMRK. Der Entwurf eines Übereinkommens, das den Beitritt der EU zur EMRK regeln sollte,53 wurde jedoch vom EuGH in einem Gutachten vom 18.12.2014 als nicht mit EU-Recht vereinbar angesehen.54 Der EuGH erteilte damit einem Beitritt der EU zur EMRK bis auf Weiteres eine Absage. Der EuGH machte deutlich, dass die Unionsrechtsordnung und damit auch die Urteile des EuGH nicht der Kontrolle durch den EGMR unterliegen. Auch wenn zunächst ein Beitritt der EU zur EMRK nicht erfolgt ist, hat sich der EuGH bei der Auslegung der GRCh schon jetzt nach der Rechtsprechung des EGMR zu richten, denn auch in Bezug auf die GRCh dienen die EMRK sowie die Rechtsprechung des EGMR nicht lediglich als Auslegungshilfe, sondern sind bei der Auslegung der Charta-Grundrechte zwingend zu beachten. Dies ist mit Art. 52 Abs. 3 GRCh auch positivrechtlich normiert worden: „Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in den genannten Konventionen verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

Diese zwingende Regelung ist die Normierung bisheriger Rechtsprechung des EuGH, wonach der EMRK unter den zu wahrenden Unionsgrundrechten eine „besondere Bedeutung“55 zukommt.56 Damit gebietet Art. 52 Abs. 3 GRCh die EMRKkonforme Auslegung der Charta-Grundrechte.57 Gleichzeitig etabliert die Vorschrift 51

Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 5 Rn. 15; Heselhaus, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 2 IV Rn. 23. Siehe hierzu ausführlich Teil E. I. 6. b) cc) (6). 52 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 14; Heselhaus, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 2 IV Rn. 23. 53 Draft revised agreement on the accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms v. 10.06.2013, Council of Europe, Dok. 47+1(2013)008rev2 (http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/cddh/cddh-documents/47_​ 1(2013)008rev2_EN.pdf, zul. einges. am 01.12.2018). 54 EuGH, Gutachten 2/13 des Gerichtshofs (Plenum) v. 18.12.2014. 55 EuGH, Rs. 46/87, 227/88 (Hoechst), Slg. 1989, 2859, Rn. 13. 56 Lenaerts, EuR 2012, 3 (13). 57 Peters / Altwicker, EMRK, § 4 Rn. 3, die den Art. 52 Abs. 3 GRCh aus diesem Grund als „Kohärenzartikel“ bezeichnen und dieser zur Harmonisierung des europäischen Grundrechtsschutzes dadurch beitrage, dass EuGH und EGMR die parallelen Grundrechte auch parallel auslegen und die jeweils andere Rechtsprechung zitieren.

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

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auch die EMRK als Mindeststandard beziehungsweise Untergrenze für den grundrechtlichen Schutz nach der GRCh.58 Ein über den Schutzumfang der EMRK hinausgehender Grundrechtsschutz bleibt auf Unionsebene ausdrücklich möglich. Nur das Absinken unter das Schutzniveau der EMRK soll ausgeschlossen werden.59 In der Literatur wird gar davon gesprochen, dass, auch wenn die EU der EMRK bislang noch nicht beigetreten ist, zumindest ein „materieller Beitritt“ der EU zur EMRK bereits vollzogen worden ist, denn durch diese Regelung werde beinahe der gesamte Grundrechtsschutz der EMRK übernommen.60 Dieser Ansicht, wonach es sich bei Art. 52 Abs. 3 GRCh um eine „Transfer- oder Inkorporationsklausel“61 handeln soll, ist insofern beizupflichten, als es sich hierbei nicht lediglich um ein Harmonisierungsgebot handelt62. Denn vielmehr soll die Vereinbarkeit des Grundrechtsschutzes von EMRK und GRCh sichergestellt und Divergenzen vermieden werden.63 Art. 52 Abs. 3 GRCh beeinträchtigt zwar nicht die Eigenständigkeit des Unionsgrundrechtssystems, jedoch sieht die Vorschrift die Übernahme der Entsprechungsvorschriften in die GRCh vor.64 Die Eigenständigkeit wird schon dadurch gewahrt, dass es der EU unbenommen ist, einen über die EMRK hinausgehenden Schutz auch durch die GRCh zu gewähren. Diese Annahme wird zum einen unterstrichen durch die Rechtsprechung des EuGH, der die besondere Bedeutung der EMRK für die Herausbildung der Unionsgrundrechte betont hat. Zum anderen zeigt sich auch in Abs. 5 der Präambel der GRCh die enge Verbindung zur EMRK, indem dort die Rechte bekräftigt werden, die sich vor allem auch aus der EMRK sowie aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben. Des Weiteren zeigt sich die „Patenschaft“65 der EMRK für die GRCh auch bei dem zum Teil gleichen bzw. ähnlichen Wortlaut der in den beiden Verträgen verbürgten Grundrechte.66 Dieses besondere Verhältnis zwischen der GRCh und der EMRK spiegelt sich darüber hinaus auch in der Regelung des Art. 53 GRCh wider. Diese dem Art. 53 EMRK 58 Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 15; Graben­warter, EuGRZ 2004, 563 (566); Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 38 (64). 59 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 34, hebt hervor, dass die EMRK seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr lediglich eine „Erkenntnisquelle“ sei. Durch die Regelung des Art. 52 Abs. 3 GRCh werde nahezu der gesamte Grundrechtsschutz der Konvention übernommen, sodass man von einem „materiellen Beitritt“ der EU zur EMRK sprechen könne. 60 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 34. 61 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 34. 62 So aber C. P. Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 155, der Art. 52 Abs. 3 GRCh vielmehr als „Gleichlauf- bzw. Kongruenzklausel“ sieht. 63 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. 1 GRCh, ABl. C 303, S. 17, 33 v. 14.12.2007. 64 a. A.: Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 19. 65 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 4 Rn. 12. 66 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 45 f.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

nachgebildete Vorschrift regelt, dass keine Chartabestimmung als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, wie sie unter anderem in der EMRK sowie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Allemal findet damit aber die durch Art. 52 Abs. 3 GRCh gewährte Möglichkeit, weitergehenden Schutz auf Unionsebene zu gewähren, in Art. 53 GRCh ihre Grenze. Dies soll sicherstellen, dass der Standard der EMRK jedenfalls gewahrt wird.67 5. Die Menschenwürde im Gefüge multipolarer Grundrechtsverhältnisse a) Rang und Bedeutung der EMRK im deutschen Recht Gerade im Hinblick auf die Menschenwürde zeigt sich die Komplexität multipolarer Grundrechtsverhältnisse im europäischen Mehrebenensystem. In Deutschland entsprechen die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag und ihre Zusatzprotokolle vom innerstaatlichen Rang her insbesondere nach Auffassung des BVerfG einem einfachen Bundesgesetz, das damit unterhalb des Grundgesetzes steht.68 Dies führte das BVerfG gleichzeitig auch als Grund dafür an, dass die Verletzungen von Konventionsrechten nicht unmittelbar vor dem BVerfG gerügt werden können.69 Indem der Bundesgesetzgeber gem. Art. 59 Abs. 2 GG der EMRK zugestimmt hat, habe er einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt.70 Damit Deutschland aber trotz dieses Rangs der EMRK als lediglich einfaches Bundesgesetz seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und auch einen über die nationalen Grundrechtsgarantien durch einzelne Konventionsgarantien hinausgehenden Schutz gewähren kann, hat sich das BVerfG gestützt auf den in Art. 1 Abs. 2 GG besonders verbürgten Schutz eines Kernbestands an internationalen Menschenrechten i. V. m. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG71 und unter Verweis auf die „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und seiner inhaltlichen Ausrichtung auf die Menschenrechte“72 dazu bekannt, dass die EMRK sowie die Rechtsprechung des EGMR „auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt 67

Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 4 Rn. 12. BVerfGE 128, 326 (367); 111, 307 (316 f.); Grundsätzlich noch einmal bekräftigend zum Rang völkerrechtlicher Verträge im innerstaatlichen Recht als einfache (Bundes-)Gesetze, verbunden mit der Feststellung, dass sie insofern keinen Übergesetzes- oder gar Verfassungsran besitzen: BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 45  – Treaty Override. Graben­ warter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 6; Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 12; Mellech, Die Rezeption der EMRK sowie der Urteile des EGMR in der französischen und deutschen Rechtsprechung, S. 43. 69 BVerfGE 128, 326 (367). 70 BVerfGE 128, 326 (367). 71 BVerfGE 128, 326 (369). 72 BVerfGE 128 (326, 366). Das BVerfG betonte den Verfassungsrang des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit in seinem Treaty-override-Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 64. 68

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

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und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“73 dienen müssen. Dem BVerfG zufolge müssen bei der Rechtsanwendung die Entscheidungen des EGMR auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus berücksichtigt werden, sodass diesen eine „jedenfalls faktische Orientierungs- und Leitfunktion“74 zukommt. Allerdings verlangt das BVerfG keine „schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechts­ konvention“75, sondern vielmehr sollen die Wertungen der EMRK „im Sinne eines schonenden Einpassens in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem aufgenommen werden“76. Mithin verlangt das Gericht eine „ergebnisorientierte“ Auslegung, die der Vermeidung von Völkerrechtsverletzungen diene.77 Mit anderen Worten ist es zulässig, wenn sich die Anwendungsbereiche der auch textlich nicht identischen Grundrechtsgarantien von EMRK und Grundgesetz unterscheiden, dadurch aber zugleich das durch die EMRK verlangte Grundrechtsniveau im Einzelfall nicht unterschritten wird.78 Allerdings machte das BVerfG in seinem Chefarzt-Beschluss dann deutlich, dass die Berücksichtigung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR auch nicht dazu führen dürfe, dass der Grundrechtsstandard des Grundgesetzes unterschritten wird.79 Dies schließe auch die EMRK ihrerseits in Art. 53 aus.80 „Dieses Rezeptionshemmnis kann vor allem in […] mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen relevant werden, in denen das ‚Mehr‘ an Freiheit für einen Grundrechtsträger zugleich ein ‚Weniger‘ für einen anderen bedeutet.“81 Das BVerfG deutete damit an, dass in multipolaren Grundrechtsverhältnissen vor dem Hintergrund des Art. 53 EMRK stets die nationale Abwägung vorgeht. In seinem Treaty-override-Beschluss konkretisierte das BVerfG noch einmal den Inhalt des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit hinsichtlich seiner Konsequenzen für im Widerspruch zum Völkerrecht stehende nationale Vorschriften. Dabei akzentuierte das Gericht die herausgehobene Stellung der Menschenrechte – auch über die Funktion einer bloßen Auslegungshilfe hinaus. So betonte das BVerfG die besondere Bedeutung der „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG)“ als „zwingende, der Disposition des Verfassungs­gebers 73 Dies ist seit BVerfGE 74, 358 (370), im Jahre 1987 ständige Rechtsprechung des Gerichts, vgl. etwa BVerfGE 128, 326 (367 f.); 131, 268 (295); 137, 273 (320). 74 BVerfGE 128, 326 (368). 75 BVerfGE 128, 326 (366); 137, 273 (320 f.); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 72 – Treaty override. 76 BVerfGE 131, 268 (295 f.); 137, 273 (321). 77 BVerfGE 128, 326 (370); BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 71  – Treaty override. 78 Kingreen / Poscher, Grundrechte, § 3 IV, Rn. 68. 79 BVerfGE 137, 273 (321). 80 BVerfGE 137, 273 (321). 81 BVerfGE 137, 273 (321).

158

D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

entzogene Regelungen“, im Gegensatz zum „sonstige[n] Völkerrecht“82. Aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit könne sich nicht ergeben, dass „die Unterschiede in der Bindungswirkung der verschiedenen Quellen des Völkerrechts, die durch ihren jeweiligen grundgesetzlich bestimmten Rang bedingt sind, eingeebnet würden und damit die grundgesetzliche Systematik hinsichtlich des Rangs von Völkerrecht unterlaufen würde.“83 Nach Ansicht des BVerfG verpflichteten weder der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit noch das Rechtsstaatsprinzip zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Verträge.84 Diese Pflicht sei vielmehr davon abhängig, welcher Rang der Völkerrechtsquelle innerstaatlich zukommt.85 Insofern machte das Gericht hier einen Unterschied zwischen menschenrechtlichen Verträgen wie der EMRK und einfachen völkerrechtlichen Verträgen und stellte fest, dass sich die hinsichtlich der EMRK bestehende Pflicht zur Beachtung nicht auf das gesamte Völkervertragsrecht bezieht. Diese Unterscheidung zwischen einem Verstoß nationaler Vorschriften gegen Menschenrechte einerseits und sonstigem Völkervertragsrecht andererseits legt die Vermutung nahe, dass das BVerfG hiermit zugleich ein Verbot der Abweichung durch Gesetz gegen menschenrechtliche Verträge wie der EMRK statuiert. b) Die Rezeption der Rechtsprechung des EGMR zur Menschenwürde durch BVerfG und EuGH Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und der Menschenwürde wurde in jüngster Zeit sowohl vom BVerfG wie auch vom EuGH rezipiert. Dabei führte der Beschluss des BVerfG vom 15.12.2015 zum Europäischen Haftbefehl86, in dem das BVerfG einen „allgemeinen Menschenwürdevorbehalt“ postulierte, letztlich dazu, dass der EuGH den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in seinem Urteil in den verb. Rs. Aranyosi und Căldăraru87 begrenzte sowie die unionsrechtlichen Kerngarantien im Lichte der Menschenwürde konturierte.88 In seinem Beschluss sah das BVerfG in dem angegriffenen Beschluss des OLG Düsseldorf, wonach die Ausweisung eines US-Amerikaners nach Italien für zulässig erklärt wurde, nachdem er 20 Jahre zuvor in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden war, einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG.89

82

BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 76 – Treaty override. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 75 – Treaty override. 84 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 64 – Treaty override. 85 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 64 – Treaty override. 86 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14 – Europäischer Haftbefehl II. 87 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru). 88 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (333 f.). 89 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, 1. Leitsatz – Europäischer Haftbefehl II. Der Beschluss des OLG Düsseldorf erging dabei in Vollstreckung eines Europäischen Haft­ befehls auf Grundlage des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. 83

I. Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene  

159

In dieser Entscheidung führte das BVerfG seine erstmalig im Lissabon-Urteil90 eingeführte Rechtsprechung zur Identitätskontrolle fort. Danach werde der Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Wesentlichen durch die in Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG „verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt“, zu deren Sicherstellung die Identitätskontrolle des BVerfG diene.91 Im Rahmen dieser Identitätskontrolle sei zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der EU berührt werden.92 Werde die Menschenwürde geltend gemacht, so das Gericht in seinem Beschluss, prüfe es „– ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, mit denen die Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht gerügt wurde  – einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß.“93 Insofern räumt das Gericht der einzelfallbasierten Identitätskontrolle dort den Vorrang ein, wo sich Identitätsund Solange-Vorbehalt im Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG überschneiden.94 Die menschenwürdesichernde Identitätskontrolle macht mithin auch nicht vor zwingenden Vorgaben des Unionsrechts Halt.95 Abseits von den Fällen, in denen eine Menschenwürdeverletzung substantiiert gerügt wird, bleibt der bisherige Solange-Vorbehalt weiterhin anwendbar.96 Konsequent fortgeführt würde diese Rechtsprechung des BVerfG aber auch bedeuten, dass sofern die Verletzung eines anderen Grundrechts in seinem Menschenwürdekern substantiiert vorgetragen wird, auch hier eine Identitätskontrolle erfolgen müsste.97 In seiner Entscheidung zitierte dabei das BVerfG gerade die Rechtsprechung des EGMR, um den EuGH dazu zu bewegen, auf den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in menschenwürderelevanten Konstellationen zu verzichten. So hob das BVerfG hervor: „Dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch nach Unionsrecht nicht schrankenlos ist, bedeutet zugleich, dass die nationalen Justizbehörden bei entsprechenden Anhaltspunkten unionsrechtlich berechtigt und verpflichtet sind, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen, selbst wenn der Europäische Haftbefehl in formaler Hinsicht den Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses entspricht.“98 Zugleich verwies es auf die Rechtsprechung des EGMR in der Rs. Soering ./. Vereinigtes Königreich99: „Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Auslieferung unzulässig, wenn begründete Tat 90

BVerfGE 123, 267 (344). BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 41 – Europäischer Haftbefehl II. 92 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 43 – Europäischer Haftbefehl II. 93 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 34 – Europäischer Haftbefehl II. 94 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (334). 95 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (334). 96 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (335). 97 Dies kritisch sehend Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (335). 98 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 105 – Europäischer Haftbefehl II. 99 EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Vereinigtes Königreich). Siehe zu dem Urteil des EGMR in dieser Rs. ausführlich Teil E. I. 3. a) kk) (1). 91

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

sachen („substantial grounds“) für die Annahme vorliegen, dass die betreffende Person im Falle ihrer Auslieferung einem realen Risiko („real risk“) der Folter, einer unmenschlichen oder herabwürdigenden Behandlung ausgesetzt wird […] oder eine eklatante Verweigerung eines fairen Verfahrens droht […].“100 Damit machte das BVerfG in seinem Beschluss auch deutlich, dass es eine Kohärenz zwischen den materiellen Gewährleistungsgehalten der Menschenwürde auf der Ebene der EMRK und der Ebene des Grundgesetzes annimmt.101 Infolge dieses Beschlusses des BVerfG bezog auch der EuGH Stellung hinsichtlich der Frage nach der horizontalen Dimension eines europäischen Grundrechtsschutzes.102 In dieser Entscheidung ging es um die Vorlagefrage des OLG Bremen, ob es nach EU-Recht berechtigt oder gar verpflichtet sei, die Auslieferung eines ungarischen sowie eines rumänischen Staatsangehörigen aufgrund eines europäischen Haftbefehls zu verweigern, wenn dem Betroffenen in dem ersuchenden Staat menschenrechtswidrige Haftbedingungen drohen. Der EuGH bejahte dies nicht zuletzt auch unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR, wonach Art. 3 EMRK den Behörden des Staates, in dessen Hoheitsgebiet die Person inhaftiert ist, eine positive Verpflichtung auferlegt, sich zu vergewissern, dass jeder Häftling unter Bedingungen untergebracht ist, die die Wahrung der Menschenwürde gewährleisten.103 War der EuGH zuvor in seiner Entscheidung in der Rs. Melloni104 noch davon ausgegangen, dass hinsichtlich zwingender unionsrechtlicher Vorgaben die Schutzniveauklausel des Art. 53 GRCh keine Ermächtigung zur unilateralen Aussetzung unionsrechtlicher Verpflichtungen auf der Grundlage nationaler Grundrechte erteilt,105 bejahte der Gerichtshof in den verb. Rs. Aranyosi und Căldăraru eine Prüfungs- und ggf. Aussetzungspflicht nationaler Gerichte hinsichtlich der Einhaltung der Unionsgrundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat. So seien die Behörden bzw. Gerichte des Vollstreckungsstaates „sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfüg[en], dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, im Lichte des durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandards der Grundrechte und insbesondere von Art. 4

100

BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, Rn. 99 – Europäischer Haftbefehl II. Vgl. Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (342), die die Postulation eines „ebenenübergreifenden Gleichklang[s] der materiellen Gewährleistungsgehalte“ durch das BVerfG konstatieren. Das BVerfG nehme eine eigenständige Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl „und der Unionsgrundrechte im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sowie der EMRK-Gewährleistungen vor.“ Der Beschluss des BVerfG deutet allerdings darauf hin, dass es dem BVerfG hier vielmehr um den Schutz der Menschenwürde gegenüber der EU im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR ging. 102 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (337). 103 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 90. 104 EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-399/11 (Melloni). 105 EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-399/11 (Melloni), Rn. 60 f. Vgl. hierzu die Ausführungen bei Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (337). 101

II. Funktion und normativer Charakter der Menschenwürdegarantie   

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der Charta […] verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen“106. Mit Anerkennung dieser horizontalen Verpflichtung reagierte der EuGH auf die Rechtsprechung des BVerfG und zog dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens mithilfe der Menschenwürdegarantie Grenzen.107

II. Funktion und normativer Charakter der Menschenwürdegarantie in der EU In der GRCh spiegelt sich zum einen die Rechtsprechung des EuGH zum Unionsgrundrechtsschutz wider. Zum anderen manifestieren sich hier Elemente einer eigenen europäischen Grundrechtstradition, wie sie sich auch anhand des Europaratsrechts, insbesondere anhand der EMRK ablesen lassen. So zeigt der Inhalt der GRCh wesentliche Übereinstimmungen mit dem Inhalt der EMRK sowie mit den in den mitgliedstaatlichen Verfassungen gewährleisteten Grundrechten. Die Charta ist damit Ausdruck einer „europäischen Grundrechtshomogenität“108. Ebenso wie schon bei der Entwicklung des Art. 1 GG sowie bei der Schaffung des Europarates und der EMRK, hatten auch die Konventsmitglieder die menschenverachtenden Erfahrungen europäischer Geschichte insbesondere des vergangenen Jahrhunderts vor Augen.109 Nunmehr sollte – ebenso wie auch bei der EMRK – ein Grundrechtskatalog entwickelt werden, der vom Menschen ausging und diesen in den Mittelpunkt stellte.110 Aus diesem Grund fand diese Garantie auch an exponierter Stelle Eingang in die GRCh am Anfang des Chartatextes. Die Konventsmitglieder waren sich darüber einig, dass die Menschenwürde den obersten Wert in der Union und die wichtigste Wertentscheidung der GRCH darstellen sollte.111 Aus den Erläuterungen des Präsidiums des Chartakonvents ergibt sich, dass die Menschenwürdegarantie „nicht nur ein Grundrecht an sich“ sondern auch das „eigentliche Fundament der Grundrechte“ sein sollte.112 Schon dies deutet darauf hin, dass es sich hierbei nicht lediglich um ein bloß unverbindliches Wertbekenntnis handelt, sondern um die Anerkennung der Menschenwürdegarantie als eine Rechtsvorschrift mit normativem Doppelcharakter, die  – selbst ein Grundrecht  – zudem maßgeblich für die Aus­ 106

EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 88. 107 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333, 338 (340). 108 Stern, in: Breuer u. a. (Hrsg.), FS Eckart Klein, S. 669 (679). 109 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 6 mit ausführlicher Darstellung der Entwicklung des Art. 1 GRCh; Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 6; Zimmermann, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, S. 7. 110 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorbemerkungen Titel I, Rn. 3; Art. 1 Rn. 6. 111 Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 2; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 27. 112 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. 1 GRCh, ABl. C 303, S. 17 v. 14.12.2007.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

legung der übrigen Grundrechte und Grundsätze ist und der in Bezug auf das auszulegende Grundrecht zumindest schutzverstärkende Wirkung entfaltet.113 Die Erläuterungen des Präsidiums des Chartakonvents deuten darauf hin, dass die Menschenwürdegarantie nach der GRCh ebenso wie nach dem Grundgesetz über einen normativen Doppelcharakter verfügt.114 Danach wäre die Menschenwürde auch nach EU-Recht zugleich objektiver Rechtsgrundsatz und einklagbares subjektives Recht.115 Dieser These soll im Folgenden – insbesondere auch unter Heranziehung der Rechtsprechung des EuGH – nachgegangen werden. 1. Die Menschenwürdegarantie als Fundament der Unionsgrundrechte Als Fundament und Leitthema der Unionsgrundrechte erfährt die Menschenwürdegarantie in den übrigen Grundrechten – ebenso wie die Grundrechte nach dem Grundgesetz sowie nach der EMRK  – ihre Konkretisierung.116 Dies wird schon deutlich bezüglich der in Titel I „Würde des Menschen“ verbürgten Grundrechte. So sind insbesondere die Art. 2 bis 5 offensichtlich nähere Ausformungen der Menschenwürdegarantie, allein schon weil sie diesem Titel unterfallen. Hierzu zählt das Recht auf Leben und das Verbot der Todesstrafe in Art. 2 GRCh, das in Art. 3 GRCh verbürgte Recht auf Unversehrtheit sowie vor allem das Art. 3 EMRK entsprechende Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung in Art. 4 GRCh wie auch das in Art. 5 GRCh festgeschriebene Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel. Im Übrigen sind auch die weiteren in der GRCh zu findenden Grundrechte Konkretisierungen der Menschenwürde.117 Anders allerdings als nach dem Menschenwürdeverständnis des Grundgesetzes ist der Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 113 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 27; Jarass, EU-Grundrechte, § 8 Rn. 4; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 244 f.; Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zum EUV / AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 5; bevor man sich auf diesen einigen konnte, war der Rechtscharakter der Menschenwürde unter den Konventsmitgliedern zunächst sehr umstritten, vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 234. 114 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. 1 GRCh, ABl. C 303, S. 17 v. 14.12.2007. 115 So Jarass, EU-Grundrechte, § 8 Rn. 4; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorbemerkung Titel I, Rn. 4. 116 Jarass, EU-Grundrechte, § 8 Rn. 2, 4; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 28; Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 16; Augsberg, in: von der Groeben /  Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 1 GRCh Rn. 3. 117 So auch Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 16, demzufolge die der Menschenwürde nachfolgenden Grundrechte „zugleich ihre Ausflüsse“ darstellen.

II. Funktion und normativer Charakter der Menschenwürdegarantie   

163

Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wird, in der GRCh nicht in Titel I verortet worden. Vielmehr findet sich hierzu in Art. 8 GRCh das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten sowie in Art. 7 GRCh das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Dass bezüglich des Schutzes personenbezogener Daten anders als nach deutschem Verständnis in der Rechtsprechung des EuGH keine Verbindung zur Menschenwürdegarantie gezogen wurde, ergibt sich deutlich aus dessen Urteil in der Rs. Google118 sowie in dem Urteil in der Rs. Digital Rights Ireland und Seitlinger119. Hier nahm der EuGH keinen Bezug auf Art. 1 GRCh und die Menschenwürde, sondern allein auf Art. 8 bzw. 7 GRCh. Bezüglich Art. 4 GRCh wiederum betonte der EuGH in jüngster Zeit in seinem Urteil in den verb. Rs. Aranyosi und Căldăraru120 die enge Verbindung des darin verbürgten Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung mit der in Art. 1 GRCh garantierten Achtung der Würde des Menschen.121 Aus dieser engen Verbindung mit der Menschenwürde ergebe sich auch der absolute Charakter des durch Art. 4 GRCh garantierten Rechts.122 Zudem werde dieser absolute Charakter durch Art. 3 EMRK bestätigt, dem Art. 4 GRCh entspreche. Wie sich aus Art. 15 Abs. 2 EMRK ergebe, dürfe nämlich in keinem Fall von Art. 3 EMRK abgewichen werden.123 Dementsprechend verwies der EuGH in seinem Urteil hinsichtlich des rechtlichen Rahmens der Entscheidung auch auf die Erläuterungen zur GRCh124, in denen es heiße: „Das Recht nach Artikel 4 [der Charta] entspricht dem Recht, das durch den gleich lautenden Artikel 3 EMRK garantiert ist. Nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta hat Artikel 4 also die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Artikel 3 EMRK.“125 Der EuGH betonte außerdem, dass in den Art. 1 und 4 GRCh sowie in Art. 3 EMRK einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert sei.126 Diesen Grundwert stellt die Menschenwürde dar. Der EuGH machte in seinem Urteil deutlich, als was er die Menschenwürde begreift: Als Kern des Rechts aus Art. 4 GRCh und als einen der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten.

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EuGH, Urt. v. 13.05.2014, Rs. C-131/12 (Google). EuGH, Urt. v. 08.04.2014, Rs. C-594/12 und C-293/12 (Digital Rights Ireland und Seitlinger). 120 Siehe zu dieser Entscheidung bereits oben Teil D. I. 5. b). 121 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 85. 122 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 85. 123 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 86. 124 ABl. EU 2007, C 303, S. 17. 125 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 8. 126 EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 87. 119

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

Dass der EuGH dem Folterverbot in Art. 4 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite wie seinem Gegenstück in Art. 3 EMRK beimisst, bedeutet aber nicht, dass davon auszugehen ist, dass der Rechtsprechung des EGMR das gleiche Menschenwürdeverständnis zugrunde liegt wie dem EuGH. So gibt der EuGH in seiner Entscheidung zu erkennen, dass er ihr zunächst sein eigenes Menschenwürdeverständnis zugrundelegt und die Konformauslegung am Maßstab der EMRK lediglich dazu dient, ein bereits durch autonome Auslegung des Unionsrechts gefundenes Ergebnis zu bestätigen,127 indem er formuliert: „Der absolute Charakter des durch Art. 4 der Charta gewährleisteten Rechts wird durch Art. 3 EMRK bestätigt, dem Art. 4 der Charta entspricht.“128 Hauptargument des EuGH für den absoluten Charakter von Art. 4 GRCh ist daher auch nicht der Vergleich mit Art. 3 EMRK, sondern vielmehr die enge Verbindung von Art. 4 GRCh zu Art. 1 GRCh.129 2. Der Grundrechtscharakter von Art. 1 GRCh Für die Annahme des Grundrechtscharakters von Art. 1 GRCh spricht die Formulierung der Präambel, wonach gem. Abs. 7 „die Union die nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze“ anerkennt. Ebenso hat auch der Chartakonvent festgestellt, dass die Menschenwürde „ein Grundrecht an sich“130 ist.131 Der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie wird dabei insbesondere in den Art. 2 bis 5 GRCh weiter ausdifferenziert. Insofern nimmt die GRCh eine weitergehende Konkretisierung der Menschenwürdegarantie vor als das Grundgesetz. Darüber hinaus findet die Menschenwürde auch ihre Konkretisierung in den übrigen Grundrechten der Charta.132 Die einzelnen Grundrechtsbestimmungen der GRCh sind daher immer auch im Lichte des Art. 1 auszulegen.133 Vor diesem Hintergrund ist Art. 1 GRCh dennoch nicht überflüssig, sondern insbesondere hilfreich für den Fall, dass eine Menschenwürdeverletzung vorliegt, die nicht in den Schutzbereich der übrigen Grundrechte fällt. Es handelt sich mithin um eine restriktiv auszulegende „grundrechtliche Reservegarantie“134, die insbesondere aufgrund ihrer relativen Begründungsoffenheit für Fallkonstellationen geeignet erscheint, die bislang von den übrigen Grundrechten nicht erfasst sind. Zum Teil wird vertreten, dass ein solcher Anwendungsfall allein des Art. 1 GRCh etwa in der Gewährung eines 127

Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (339). EuGH, Urt. v. 05.04.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU (Aranyosi und Căldăraru), Rn. 86. 129 Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (339). 130 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. 1 GRCh, ABl. C 303, S. 17 v. 14.12.2007. 131 Für die Annahme „von Art. 1 GRCh als „ein subjektives (einklagbares) Recht, ein echtes Grundrecht“: Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 2; Augsberg, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 1 GRCh Rn. 3. 132 Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 4 f. 133 Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 4. 134 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 128. 128

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH   

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menschenwürdigen Existenzminimums liegen könnte.135 Hiergegen spricht allerdings, dass bereits in Art. 34 Abs. 3 GRCh eine Sonderregelung vorgesehen ist,136 wonach die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung anerkennt, „die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen“. Allerdings gewährt Art. 34 Abs. 3 GRCh dieses Recht nur „nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.“ Von der Gewähr eines absoluten Schutzes eines menschenwürdigen Existenzminimums kann daher nicht gesprochen werden. Ein Rückgriff auf Art. 1 GRCh erscheint damit nur in Extremfällen sozialer Not möglich.137 

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH Gerade der EuGH war es, der mithilfe seiner Rechtsprechung den Eingang der Menschenwürde in das unionsrechtliche Grundrechtssystem stark beförderte und so die Menschenwürde zum Bezugspunkt der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz auf Unionsebene machte.138 Der EuGH bezog sich erstmals näher in dem im Jahre 1996 ergangenen Urteil in der Rs. P. ./. S. und Cornwall County Council (sog. Transsexuellen-Entscheidung)139 auf den Schutz der Würde des Menschen. In den darauf folgenden Jahren setzte sich der Gerichtshof wiederholt in seiner Rechtsprechung mit der Menschenwürdegarantie auseinander. Nicht zur Menschenwürde äußerte sich der EuGH hingegen in der Rs. Stauder ./. Stadt Ulm, wenngleich auch in diesem Fall von Klägerseite die Verletzung seiner Menschenwürde geltend gemacht worden war. Irrigerweise wird jedoch in der Literatur angenommen, dass sich der Gerichtshof selbst auf die Menschenwürde in diesem Urteil bezog.140 In dieser Sache stellte der EuGH jedoch lediglich erstmalig fest, dass in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft Grundrechte enthalten sind.141

135

So etwa Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 41. 136 Augsberg, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 1 GRCh Rn. 7. 137 So auch Augsberg, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 1 GRCh Rn. 7; Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, Art. 1 GRCh Rn. 17. 138 Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 4. 139 EuGH, Rs. C-13/94 (P. ./. S. Cornwall County Council), Slg. 1996, I-2143. 140 Vgl. etwa Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der EU, S. 69. 141 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 823; Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 3; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 153 f.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

Zunächst verband der EuGH in seiner Rechtsprechung Fragen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Verordnung 1612/68 mit der Menschenwürde. In der Rs.  Casagrande etwa stellt der EuGH auf die fünfte Begründungserwägung zu dieser Verordnung ab, wonach diese darauf abzielt, dass „das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann“142. Weitergehende Ausführungen zur Menschenwürde wurden unter diesem Aspekt jedoch nicht gemacht. 1. Die Rs. P. ./. S. und Cornwall County Council Der Entscheidung des EuGH in der Rs. P. ./. S. und Cornwall County Council143 ist zwar nicht ausdrücklich zu entnehmen, ob der Gerichtshof der Menschenwürdegarantie, die er mit dieser Entscheidung erstmals ausdrücklich benannte, eine subjektiv-rechtliche Dimension beimisst. Jedoch kann die Entscheidung in dieser Weise verstanden werden.144 Darüber hinaus nahm der EuGH keine nähere in­ haltliche Bestimmung des Menschenwürdebegriffs vor. Jedoch gibt die Entscheidung erste Hinweise darauf, wie der europäische Menschenwürdebegriff zu verstehen ist. In dem Vorabentscheidungsverfahren stellte der EuGH fest, dass die Entlassung einer transsexuellen Person aus einem Arbeitsverhältnis aufgrund der vorgenommenen Geschlechtsumwandlung gegen eine Richtlinie145 verstößt, die sich auch auf Diskriminierungen erstreckt, die ihre Ursache in einer Geschlechtsumwandlung haben.146 Der Gerichtshof hob dabei hervor: „Würde eine solche Diskriminierung toleriert, so liefe dies darauf hinaus, dass gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstoßen würde, auf die sie Anspruch hat, und die der Gerichtshof schützen muss.“147 Der Gerichtshof stellte damit zwar nicht zu allererst auf die Verletzung der Menschenwürdegarantie ab. Eine solche stellte er jedoch zumindest indirekt fest, indem er den Gleichheitsgrundsatz mit der Menschenwürdegarantie verknüpfte. Die betroffene Richtlinie sei Ausdruck dieses Gleichheitsgrundsatzes, der eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts darstelle.148 Würde dieser durch eine „Diskriminierung aufgrund des 142

EuGH, Rs. C-9/74 (Casagrande), Slg. 1974, 773, Rn. 3. EuGH, Rs.  C-13/94 (P.  ./. S. Cornwall County Council), Slg. 1996, I-2143, z. T. auch „Transsexuellen-Entscheidung“ genannt. 144 So auch Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 1. 145 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40). 146 EuGH, Rs. C-13/94 (P. ./. S. Cornwall County Council), Slg. 1996, I-2143, Rn. 20 f. 147 EuGH, Rs. C-13/94 (P. ./. S. Cornwall County Council), Slg. 1996, I-2143, Rn. 22. 148 EuGH, Rs. C-13/94 (P. ./. S. Cornwall County Council), Slg. 1996, I-2143, Rn. 18. 143

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH   

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Geschlechts“149 verletzt, stelle dies wiederum automatisch einen Verstoß gegen die Achtung der Würde der betroffenen Person dar.150 Der EuGH zog dabei aber nicht lediglich die Menschenwürdegarantie heran, um den Gleichheitsgrundsatz zu konkretisieren und die darauf basierende Richtlinie zu interpretieren.151 Vielmehr deutet die Entscheidung darauf hin, dass der EuGH die Menschenwürdegarantie zunächst als einen auch dem Gleichheitsgrundsatz zugrunde liegenden objektiven Rechtsgrundsatz erachtet.152 Wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Gleichheit und der Würde des Menschen.153 Diesen Zusammenhang stellt auch der EuGH in seinem Urteil her.154 Dies zeigt, dass der EuGH einen Menschenwürdebegriff zugrunde legt, der den Menschen als gleichberechtigte Person begreift, ganz in dem Sinne wie es nunmehr durch die oben bereits erwähnte Gliederung der GRCh positivrechtlich normiert ist, wonach sich die Grundrechte in die Bereiche „Würde des Menschen“, „Freiheiten“, „Gleichheit“ und „Solidarität“ untergliedern lassen. Die Garantie der Gleichheit ist dabei als Ausdruck des Menschenwürdeprinzips zu verstehen – ebenso wie die Garantie der Freiheit und die der Solidarität. Der Schutz vor Ungleichbehandlung ist damit ein Bestandteil des Menschenwürdeschutzes, als sog. égale dignité.155 Mit seinem Urteil hat der EuGH neben dem Aspekt der Gleichheit auch den Aspekt der Freiheit des Individuums als Ausdruck der Menschenwürde betont.156 Denn hier war die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen dergestalt betroffen, dass dies nicht mit der Menschenwürdegarantie vereinbar war. Anhand dieser Rechtsprechung zeigt sich die Nähe zum Menschenwürde­konzept der EMRK. Auch der EGMR sprach etwa in seinem Urteil in der Rs. Müslüm Gündüz von der gleichen Würde aller Menschen als Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft und der Tatsache, dass es sich bei der Gleichheit um ein Wesensmerkmal der Menschenwürdegarantie der EMRK handelt.157 Ebenso verhält es sich mit der Selbstbestimmung des Individuums, zu der auch nach der EMRK die sexuelle Selbstbestimmung zählt. Denn auch nach der EMRK 149 Der EuGH hebt in Rn. 17 der Entscheidung hervor, dass die Richtlinie sei so zu verstehen, dass der in ihr manifestierte Grundsatz der Gleichbehandlung „von Männern und Frauen“ bedeute, „dass keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgt“. 150 EuGH, Rs. C-13/94 (P. ./. S. Cornwall County Council), Slg. 1996, I-2143, Rn. 18. 151 So aber Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 230. 152 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 81. 153 Vgl. Berlth, Art. 1 GRCh, S. 90. 154 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 154. 155 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 81. In diesem Sinne auch Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 6; Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 33. 156 So auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 154; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 81. 157 Vgl. zu dem Urteil des EGMR in der Rs. Müslüm Gündüz ./. Türkei, in dem der Gerichtshof von der „equal dignity“ spricht, die jedem Einzelnen zukommt, Teil E. I. 3. c); vgl. zur Rechtsprechung des EGMR zu Diskriminierungen als Verstoß gegen Art. 3 EMRK Teil E. I. 3. a) dd); vgl. zum Wesensmerkmal Gleichheit der Menschenwürde nach der EMRK Teil E. II. 3. b) dd).

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

handelt es sich bei der Freiheit des Einzelnen um eines der Wesensmerkmale der Menschenwürde.158 Die Formulierung in der Entscheidung, dass die Achtung der Würde der Person etwas sei, „auf die sie Anspruch hat“, legt die Vermutung nahe, dass der EuGH hier der Menschenwürde eine subjektiv-rechtliche Komponente zusprechen wollte.159 Zwar ist eben gerade nicht von einem „Recht“ bzw. „Grundrecht“ die Rede. Jedoch fährt der Gerichtshof mit der Formulierung fort, dass die Achtung der Würde der Person etwas sei, das „der Gerichtshof schützen muss.“ Auch der EuGH gibt damit zu erkennen, dass – entsprechend dem Menschenwürdeverständnis des Grundgesetzes – der Menschenwürdegarantie nicht nur eine Achtungs- sondern auch eine Schutzpflicht zu entnehmen ist.160 2. Die Rs. Biopatentrichtlinie In der Entscheidung in der Rs.  Biopatentrichtlinie vom 09.10.2001161 hat der EuGH die Menschenwürdegarantie als einen objektiven Rechtsgrundsatz des Unionsrechts bestätigt.162 Auch diese Entscheidung deutet darauf hin, dass der Gerichtshof der Menschenwürdegarantie zudem eine subjektiv-rechtliche Dimension beimisst.163 Der EuGH stellte in dieser Entscheidung fest: „Es obliegt dem Gerichtshof, im Rahmen der Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Beachtung der Menschen 158 Vgl. zur Freiheit als Wesensmerkmal der Menschenwürdegarantie der EMRK Teil  E.  II. 3. b) aa). 159 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 230; Berlth, Art. 1 GRCh, S. 90; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 817 f. leitet allein aus dieser Formulierung des EuGH ab, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie um ein Grundrecht handelt. 160 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 80; Rengeling /  Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 561. 161 EuGH, Urt. v. 09.10.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079. 162 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 231; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 85; Rau / Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449); Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 820. 163 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU S. 232; Rengeling / Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 559; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 86; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 155, 157; hingegen ist Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 819, der Ansicht, dass sich dieser Entscheidung nicht entnehmen lasse, ob der EuGH die Menschenwürdegarantie in Fortsetzung seiner Rechtsprechung in der Rs. P. ./. S. und Cornwall County Council als Grundrecht ansieht; Rau / Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449), sehen die Einordnung der Menschenwürde als subjektives Recht in dieser Entscheidung als offengelassen an; Frahm / Gebauer, EuR 2002, 79 (86), gehen gar davon aus, dass sich der EuGH in dieser Entscheidung über den Charakter der Menschenwürdegarantie wegen den unmittelbaren Berührungspunkten mit Fragen von Ethik, Werten und Religion nicht ­äußern wollte.

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH   

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würde und des Grundrechts der Unversehrtheit der Person sicherzustellen.“164 Damit hat der Gerichtshof noch einmal deutlich gemacht, dass es sich bei der Beachtung der Menschenwürde um einen objektiven Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt, an dem sich die Biopatentrichtlinie 98/44/EG165 messen lassen muss. Es hatte nach Ansicht des EuGH in diesem Fall also eine objektive Prüfung stattzufinden.166 Wie die Generalanwältin Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen in der später entschiedenen Rs. Omega-Spielhallen anmerkte,167 hat der EuGH damit „die Achtung der Menschenwürde jedenfalls als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts und als Maßstab und Voraussetzung der Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten anerkannt.“168 Im Vorfeld der Entscheidung in der Rs. Biopatentrichtlinie hat der in dieser Sache zuständige Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen unter Bezugnahme auf die Begründungserwägungen der Richtlinie hervorgehoben, dass das Patentrecht unter Wahrung der Grundprinzipien ausgeübt werden müsse, die die Würde und Unversehrtheit des Menschen gewährleisteten.169 Darüber hinaus betonte er den Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie: „Meines Erachtens unterliegt es keinem Zweifel, dass die von den Niederlanden angeführten Rechte in der Tat Grundrechte sind, deren Beachtung in der Gemeinschaftsrechtsordnung sicherzustellen ist.“170 Darüber hinaus hob der GA die besondere Bedeutung dieses Grundrechts hervor: „Das Recht auf Achtung der Menschenwürde ist vielleicht das grundlegendste Recht von allen und nunmehr in Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck gelangt.“171 Im Übrigen klingt hier in einem Satz die absolute Konstruktion der Menschenwürdegarantie auch auf Unionsebene an: „Es muss anerkannt werden, dass jedes Rechtsinstrument der Gemeinschaft, das gegen diese Rechte verstößt, rechtswidrig wäre.“172 Der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde stellt also anders gesagt zugleich deren Verletzung dar, die nicht gerechtfertigt werden kann.

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EuGH, Urt. v. 09.10.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 70. 165 Richtlinie 98/44/EG des Rates und des Europäischen Parlamentes vom 06.07.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABl. L 213, S. 13). 166 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 819. 167 Dazu näher im folgenden Abschnitt D. III. 4. 168 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 90. 169 Schlussanträge des GA Jacobs vom 14.06.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 197, 199 ff. 170 Schlussanträge des GA Jacobs vom 14.06.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 197. 171 Schlussanträge des GA Jacobs vom 14.06.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 197. 172 Schlussanträge des GA Jacobs vom 14.06.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 197.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

Der Gerichtshof hat hingegen eine dergestalt eindeutige Betonung des subjektivrechtlichen Charakters der Menschenwürdegarantie nicht vorgenommen. Jedoch ergibt die Betrachtung der anderen Sprachfassungen des Urteils, dass die deutsche Sprachfassung geradezu fehlerhaft erscheint und der Gerichtshof keine Unterscheidung zwischen einer bloßen „Beachtung“ der Menschenwürde und einem „Grundrecht“ auf Unversehrtheit vornehmen wollte.173 So ist an entsprechender Stelle der englischen Sprachfassung nicht bloß die Rede von der Beachtung der Menschenwürde, sondern vielmehr von „the fundamental right to human dignity and integrity“. Auch die französische Sprachfassung deutet ganz im Sinne der englischen Fassung auf ein subjektives Verständnis des EuGH von der Menschenwürdegarantie hin, denn dort wird die Formulierung „droit fondamental à la dignité humaine et à l’integrité de la personne“ gewählt. Ebenso verhält es sich mit der niederländischen Fassung. In diesem Verfahren war Niederländisch die Verfahrenssprache. Hier spricht der EuGH von dem „fundamentale recht op menselijke wardigheitd“174. Dies stützt die – wenn auch nur vage – Vermutung, dass der EuGH schon in dieser Entscheidung die Menschenwürdegarantie als subjektives Recht begriffen hat. Eine inhaltliche Bestimmung des Menschenwürdebegriffs nahm der Gerichtshof in seiner Entscheidung nicht weiter vor.175 Er stellte lediglich fest, dass „die Achtung der Menschenwürde […] grundsätzlich durch Artikel 5 Absatz 1 der Richt­ linie gewährleistet [wird], wonach der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung keine patentierbare Erfindung darstellen kann. Bestandteile des menschlichen Körpers sind als solche ebenso wenig patentierbar und ihre Entdeckung kann nicht geschützt werden.“176 Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass im Falle einer Patentierung des menschlichen Körpers oder seiner Bestandteile, die sich „in ihrer natürlichen Umgebung“ befänden,177 zugleich ein Eingriff in die Menschenwürde liegen würde. Damit beschrieb der Gerichtshof zumindest die Menschenwürde vom Verletzungsvorgang her. Darüber hinaus kann dies entsprechend der Begründung der niederländischen Regierung so verstanden werden, dass der EuGH hiermit deutlich machen wollte, dass es unter dem Blickwinkel der Menschenwürde unannehmbar ist, „lebende Materie zum 173

Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 9 Fn. 10; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 86; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 232; ebenso Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 90. 174 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 231 f.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 86; Rengeling / Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 559. 175 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 157, streicht dies als Manko der Entscheidung heraus. 176 EuGH, Urt. v. 09.10.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 71 f. 177 EuGH, Urt. v. 09.10.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 73: Nur ein Bestandteil des menschlichen Körpers, das Teil eines Erzeugnisses ist, könne durch ein Patent geschützt werden.

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH   

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Objekt zu machen“178. Diese Annahme wird auch durch die Feststellung des EuGH unterstrichen, dass „die Richtlinie das Patentrecht in Bezug auf lebende Materie menschlichen Ursprungs so streng fasst, dass der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibt und somit die Menschenwürde gewahrt wird.“179 In der Unverfügbarkeit und Unveräußerlichkeit des menschlichen Körpers als Voraussetzung für die Wahrung der Menschenwürde kommt in Ansätzen damit die Objektformel, die auch das BVerfG seiner Rechtsprechung zugrunde legt, zum Ausdruck.180 Denn würde über den menschlichen Körper verfügt oder wäre er veräußerlich, würde er entsprechend dieser Formel „zu einem bloßen Mittel, zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt“181 und damit seiner Subjektqualität enthoben. 3. Die Rs. Brüstle sowie die Rs. Stem Cell In der Folge setzte der Gerichtshof seine Rechtsprechungslinie aus der Rs. Biopatentrichtlinie unter Bezugnahme auf die Menschenwürde fort. So bezog sich der EuGH in seinem Urteil in der Rs. Brüstle182, in der es um die Frage nach der Patentierbarkeit menschlicher embryonaler Stammzellen ging, die der wirtschaftlichen Nutzung zugänglich sein und der Herstellung menschlicher Nervenzellen dienen sollten, ebenfalls zur Begründung auf die Richtlinie 98/44/EG183 und verwies auf seine bisherige Rechtsprechung in der Rs. Biopatentrichtlinie, wonach „alle Verfahren, deren Anwendung gegen die Menschenwürde verstößt, ebenfalls von der Patentierbarkeit auszuschließen sind.“184 Dieses Patentverbot soll nach Ansicht des EuGH gelten, sobald es sich um einen menschlichen Embryo handelt, also vom Stadium der Befruchtung einer menschlichen Eizelle an185  – dem Zeitpunkt, ab dem sich also – auch künstlich hergestellte – Embryonen zu einem Menschen ent­ wickeln können. Diese Rechtsprechung hat zur Folge, dass eine Patentierbarkeit von 178 Zit. nach den Schlussanträgen des GA Jacobs vom 14.06.2001, Rs.  C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 190. 179 EuGH, Urt. v. 09.10.2001, Rs. C-377/98 (Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 77. 180 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 824; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 88. 181 Siehe im Einzelnen zur Rechtsprechung des BVerfG die Ausführungen in Teil C. 182 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs. C-34/10 (Brüstle ./. Greenpeace), Slg. 2011, S. I-7079. 183 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs.  C-34/10 (Brüstle  ./. Greenpeace), Slg. 2011, S. I-7079, Rn. 32 ff. In Rn. 32 betonte der EuGH: „Insoweit ist der Begründung der Richtlinie zu entnehmen, dass diese zwar Investitionen auf dem Gebiet der Biotechnologie fördern soll, bei der Verwertung biologischen Materials aber die Grundrechte und vor allem die Menschenwürde gewahrt werden müssen.“ 184 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs.  C-34/10 (Brüstle  ./. Greenpeace), Slg. 2011, S. I-7079, Rn. 33. 185 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs.  C-34/10 (Brüstle  ./. Greenpeace), Slg. 2011, S. I-7079, Rn. 35.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

Erfindungen, die aus der Forschung an embryonalen Stammzellen hervorgegangen ist, im Ergebnis fast vollständig ausgeschlossen ist.186 Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass es dem EuGH mit seiner Entscheidung weniger um die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus der Menschenwürde ging, als vielmehr um die Erhaltung des gemeinsamen Binnenmarktes. So verwies der EuGH in seiner Entscheidung auf die Gefahr, dass ohne eine einheitliche Definition des Begriffs des menschlichen Embryos Urheber bestimmter biotechnologischer Erfindungen versucht wären, deren Patentierung in anderen Mitgliedstaaten zu beantragen, die weniger strikte Regelungen vorsähen.187 Nach Ansicht des EuGH würde „[e]ine solche Situation […] das mit der Richtlinie bezweckte reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen.“188 Andernfalls hätte die Gefahr bestanden, dass sich Mitgliedstaaten wie etwa Deutschland mit seinem im Hinblick auf den Embryonenschutz weitergehenden Schutzkonzept als dem in Mitgliedstaaten wie Irland, Portugal, Schweden und dem Vereinigte Königreich, die in dem Verfahren vor dem EuGH für eine eigene Begriffsdefinition plädierten,189 dem gemeinsamen Markt hätten entziehen können. Diese Rechtsprechung führte der EuGH auch in seinem Urteil in der Rs. Stem Cell vom 18.12.2014 weiter, indem der Gerichtshof betonte, dass eine Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, „sobald dadurch die der Menschenwürde geschuldete Achtung beeinträchtigt werden könnte […].“190 Anhand dieser Formulierung – in deren Zusammenhang er auch auf seine Entscheidung in der Rs. Brüstle verwies, machte der EuGH zudem die Unantastbarkeit der Menschenwürde auch auf der Ebene der EU deutlich.191 Mit dieser Formulierung stellte der EuGH klar, dass schon eine Beeinträchtigung der Menschenwürde nicht zulässig ist, mithin nicht gerechtfertigt werden kann. Die Menschenwürde gilt daher nach Ansicht des EuGH auch nach EU-Recht absolut.

186

Schwarze, EuR 2013, 253 (258), der in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass eine Ausnahme nur für solche Erfindungen gilt, mit denen therapeutische bzw. diagnostische Zwecke verfolgen und den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewandt werden (Schwarze, a. a. O., Fn. 19). 187 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs.  C-34/10 (Brüstle  ./. Greenpeace), Slg. 2011. S. I-7079, Rn. 28. 188 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs.  C-34/10 (Brüstle  ./. Greenpeace), Slg. 2011. S. I-7079, Rn. 28. 189 Schwarze, EuR 2013, 253 (258). 190 EuGH, Urt. v. 18.12.2014, Rs. C-364/13 (International Stem Cell Corporation ./. Comptroller General of Patents, Designs and Trade Marks), Rn. 24. 191 Vgl. Frenz, DÖV 2015, 305.

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4. Die Rs. Omega-Spielhallen In dem Vorabentscheidungsverfahren in der Rs. Omega-Spielhallen192 ersuchte das BVerwG den EuGH, zu klären, ob eine Ordnungsverfügung der Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, wonach die Inbetriebnahme einer als „Laserdrome“ bezeichneten Anlage, in der das „spielerische Töten“ simuliert werden sollte, untersagt wurde, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. a) Die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl Im Vorfeld des für das Menschenwürdeverständnis auf Unionsebene entscheidenden Urteils des EuGH in dieser Sache äußerte sich die Generalanwältin Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen umfassend zur Menschenwürdegarantie.193 Die Generalanwältin argumentierte mit der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs. Biopatentrichtlinie für einen normativen Doppelcharakter der Menschenwürdegarantie auch auf Unionsebene und sprach dieser damit den Grundrechtscharakter zu.194 Entsprechend dem deutschen Menschenwürdeverständnis sah sie die Menschenwürde als „tragendes Konstitutionsprinzip“ der Menschenrechte, denn diese stelle „Substrat und Ausgangspunkt aller Menschenrechte dar, die sich aus ihr herausdifferenzieren, gleichzeitig ist sie perspektivischer Fluchtpunkt der einzelnen Menschenrechte, auf den diese hin zu verstehen und zu deuten sind.“195 Daher sah die Generalanwältin die Menschenwürde als den „Urgrund“, den „ideengeschichtlichen Hintergrund und die Begründung der Menschenrechte überhaupt“196. Trotz der Feststellung der Generalanwältin, dass der EuGH damit ein scheinbar „vergleichbar weitgehendes“ Menschenwürdeverständnis wie nach Art. 1 GRCh bzw. Art. 1 Abs. 1 GG zugrunde zu legen scheine, warnte sie jedoch gleichzeitig davor, „den Gewährleistungsinhalt der Menschenwürdegarantie des deutschen Grundgesetzes mit demjenigen der Garantie der Menschenwürde, wie sie vom Gemeinschaftsrecht anerkannt wird, ohne weiteres gleichzustellen.“197 Sie unter 192 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609. 193 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609. 194 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 90 f.; nach den Schlussanträgen der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 91, Fn. 65, scheine der EuGH die Menschenwürdegarantie sowohl als „Verfassungsprinzip der Union“, als auch als „Grundrecht an sich“ zu sehen. 195 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 76. 196 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 77. 197 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 92.

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nahm in ihren Schlussanträgen die Konturierung eines eigenständigen europäischen Würdebegriffs, indem sie feststellte: „Die ‚Menschenwürde‘ bringt den obersten Achtungs- und Wertanspruch zum Ausdruck, der dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen soll.“198 In der Menschenwürde reflektiere sich der Mensch selbst, sie stehe für das, was ihn ausmache. Was ihn wiederum ausmache, sei einem bestimmten „Menschenbild“ zu entnehmen. Damit verwies die Generalanwältin in den „vorrechtlichen Bereich“:199 „Die Menschenwürde wurzelt insgesamt tief in der Entstehung eines Menschenbildes im europäischen Kulturkreis, der den Menschen als zur Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung begabtes Wesen begreift. Aufgrund seiner eigenen, freien Willensbildung ist er Subjekt und darf nicht zur Sache, zum Objekt, herabgewürdigt werden.“200 Damit nahm die Generalanwältin bei dem Versuch einer Begriffsbestimmung ausdrücklichen Bezug auf die Menschenwürdegarantie und die Objektformel nach Dürig.201 Darüber hinaus stellte sie – ebenso wie das BVerfG – auf die Subjektqualität des Einzelnen ab, indem sie einem europäischen Würdebegriff ein Menschenbild zugrunde legte, das den Menschen als selbstbestimmtes und zur freien Willensbildung fähiges Subjekt begreift und die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen betont. Damit wird auch in den Schlussanträgen der Generalanwältin entsprechend dem deutschen Würdeverständnis das Subjektprinzip als das wesentliche Element der Menschenwürde mit der Objektformel verknüpft. Gleichzeitig machte die Generalanwältin aber deutlich, dass es trotz allem nicht möglich sei, den deutschen Menschenwürdebegriff mit dem auf Ebene der Union gleichzusetzen.202 Diesem Verständnis von der Menschenwürde entsprechend plädierte die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen dafür, die Beurteilung der nationalen Maßnahme anhand des Gemeinschaftsrechts vorzunehmen.203 Hier ging es um die Möglichkeit, den Eingriff durch die Untersagungsverfügung in die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV (vormals Art. 49 EGV a. F.) aus Gründen der „öffentlichen Ordnung“ gem. Art. 62, 52 AEUV (vormals Art. 55, 46 EGV) zu rechtfertigen. Der Rechtfertigungstatbestand der „öffentlichen Ordnung“ müsse den Vorgaben des

198 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 75. 199 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 75. In diesem Sinne fasst auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 127, auf. Danach werde die Menschenwürde in der GRCh als vorrechtlicher Wert, als „anthropologische Prämisse“, die der Unionsrechtsordnung vorgelagert sei, begriffen. 200 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 78. 201 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 78, Fn. 51. 202 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 78, Fn. 92. 203 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 93.

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH   

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Gemeinschaftsrechts entsprechen, daher sei eine Auslegung anhand des gemeinschaftsrechtlichen Verständnisses der Menschenwürde vorzunehmen.204 b) Die Entscheidung des EuGH aa) Die Menschenwürde als Teil des Rechtfertigungsgrundes der „öffentlichen Ordnung“ Entsprechend den Schlussanträgen der Generalanwältin kam der EuGH in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass es sich hier um einen Eingriff in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV (vormals Art. 49 EGV) handele, der jedoch aus Gründen der öffentlichen Ordnung gem. Art. 62, Art. 52 AEUV (vormals Art. 55, 46 EGV) gerechtfertigt werden könne. Der Gerichtshof verwies auch in dieser Entscheidung auf sein enges Verständnis des Tatbestandsmerkmals „öffentliche Ordnung“ und dass „seine Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne die Nachprüfung durch die Organe der Gemeinschaft bestimmt werden darf.“ Eine Berufung auf die öffentliche Ordnung sei daher nur möglich, „wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berührt.“205 Entscheidend ist aber, dass der Gerichtshof den Mitgliedstaaten dann doch einen Beurteilungsspielraum einräumte: „Allerdings können die konkreten Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein. Insoweit ist den zuständigen innerstaatlichen Behörden daher ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den EG-Vertrag gesetzten Grenzen zuzubilligen.“206

Im Folgenden stellte der EuGH entsprechend den Feststellungen des BVerwG fest, dass die Untersagungsverfügung aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergehen konnte, da die untersagte Handlung mit der Menschenwürde unvereinbar sei.207 Der Gerichtshof führte weiter aus, dass er die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gemeinschaft erachtet und deshalb die deutsche Untersagungsverfügung auf die Menschenwürde gestützt werden konnte.208 Der EuGH machte damit deutlich, dass die deutsche Untersagungsverfügung nur auf die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG gestützt

204 Schlussanträge der GA’ in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 93. 205 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 30. 206 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 31. 207 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 32. 208 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 34.

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

werden konnte, weil diese auch auf Unionsebene als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt ist. Die Beurteilung jedoch, was als mit der Menschenwürde nicht mehr vereinbar anzusehen ist, überlässt der EuGH dem jeweiligen Mitgliedstaat: „Somit ist das Ziel, die Menschenwürde zu schützen, unzweifelhaft mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, ohne dass es insoweit eine Rolle spielt, dass in Deutschland dem Grundsatz der Achtung der Menschenwürde die besondere Stellung eines Grundrechts zukommt.“209

Auch im Rahmen der sich dann anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung machte der EuGH noch einmal deutlich, dass es im Rahmen des Beurteilungsspielraums des jeweiligen Mitgliedsstaates liegt, wie das jeweilige Grundrecht zu schützen ist: „Insoweit ist es nicht unerlässlich, dass die von den Behörden eines Mitgliedstaats erlassene beschränkende Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspricht, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen ist. […] Vielmehr sind die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der einschlägigen Bestimmungen, wie aus einer ständigen Rechtsprechung seit dem Urteil Schindler hervorgeht, nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil ein Mitgliedstaat andere Schutzregelungen als ein anderer Mitgliedstaat erlassen hat.“210

Im Ergebnis beantwortete der EuGH daher die Vorlagefrage mit der Feststellung, dass das Gemeinschaftsrecht der Untersagungsverfügung nicht entgegensteht.211 bb) Die Einordnung der Menschenwürde als Grundrecht Ob der EuGH in dieser Entscheidung die Menschenwürde selbst als Grundrecht einordnete, ist dem Urteil nicht eindeutig zu entnehmen. Allerdings deutet auch in dieser Entscheidung einiges darauf hin.212 In den im Gegensatz zu den Schlussanträgen der Generalanwältin Stix-Hackl eher knapp ausfallenden Ausführungen des Gerichtshofs verwies er auf diese Schlussanträge: „Wie die Generalanwältin in den Nummern 82 bis 91 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, zielt die Gemeinschaftsrechtsordnung unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ab.“213 Dies könnte als ein 209 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 34. 210 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 37 f. 211 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 41. 212 Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 3, geht soweit, dass er den Status der Menschenwürde als „echtes“ Grundrecht als geklärt ansieht; a. A.: Bröhmer, EuZW 2004, 753 (757). 213 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 34.

III. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EuGH   

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Generalverweis auf die Ausführungen der Generalanwältin gesehen werden und auf deren in diesen Nummern gefassten Annahme, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie um eine Gewährleistung mit normativem Doppelcharakter handelt. Die Generalanwältin ging in ihren Ausführungen davon aus, dass auch der EuGH in seiner Rechtsprechung der Menschenwürde ein „weitgehendes Verständnis“ zugrunde legt, wonach diese Verfassungsprinzip und Grundrecht sei. Der EuGH widersprach diesen Ausführungen der Generalanwältin in seinem Urteil nicht, sondern verwies auf sie – wenn auch nur pauschal.214 Auch sonst kam er in seinem Urteil nicht zu einem anderen Ergebnis als die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen. Dass der EuGH die Ausführungen der Generalanwältin auch hinsichtlich des Grundrechtscharakters ernst genommen haben dürfte, ergibt sich aus der Tatsache, dass den Schlussanträgen der Generalanwälte eine besondere Bedeutung zukommt. So werden die Generalanwälte auch als „Vorhut des Gerichtshofs“215 bezeichnet, die der Kohärenz und Kontinuität der Rechtsprechung dienen und als beständige Hüter gemeinschaftlicher Rechtssicherheit auftreten.216 Und auch wenn sie nicht an der Urteilsfindung teilnehmen, hat ihr Votum erhebliches Gewicht auf die sich anschließende Entscheidung des Gerichtshofs, denn gem. Art. 252 AEUV wird der Gerichtshof von den Generalanwälten „unterstützt“, indem diese die Funktion von unabhängigen, nur dem Unionsrecht verpflichteten Berichterstattern erfüllen.217 Dafür, dass der EuGH in dieser Entscheidung vom Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie ausging, spricht auch die Feststellung des Gerichtshofs, dass „die Grundrechte sowohl von der Gemeinschaft als auch von den Mitglied­ staaten zu beachten sind“218. Der Schutz dieser Rechte stelle „ein berechtigtes Interesse dar“,219 der einen Eingriff in die Grundfreiheiten rechtfertigen könne. Der EuGH sprach also hier auch von der Menschenwürde als Grundrecht, denn an dieser war in dieser Sache die nationale Maßnahme zu messen.220 Der EuGH selbst machte in einem späteren Urteil dann auch deutlich, wie er seine Entscheidung in der Rs. Omega-Spielhallen sieht. In der Rs. Viking Line benannte er die Menschenwürde ausdrücklich als Grundrecht:

214

Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 233. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 85. 216 Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 88. 217 Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 84. 218 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 35. 219 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 35. 220 So auch Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 233; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 96; Rixen, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 3. A. A. Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 6, demzufolge das Urteil in der Rs. Omega so zu verstehen sei, dass der EuGH hier noch Art. 1 GRCh als allgemeinen Rechtsgrundsatz und nicht als eigenständiges Grundrecht einordnete. 215

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

„Allerdings hat der Gerichtshof in den Urteilen Schmidberger und Omega entschieden, dass die Ausübung der dort betroffenen Grundrechte, nämlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Menschenwürde nicht außerhalb des Anwendungsbereichs der Bestimmungen des Vertrags liegt“221.

cc) Die Berücksichtigung der „kulturellen Bedingtheit“ des Menschenwürdeschutzes Der Gerichtshof hat trotz der Betonung, dass „die Tragweite des Begriffs [der öffentlichen Ordnung] nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig […] bestimmt werden darf“222, den Mitgliedstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum eingeräumt. Eine inhaltliche Bestimmung des Menschenwürdebegriffs wird in dem Urteil nicht vorgenommen. Insofern könnte auch hier angenommen werden, dass sich der EuGH die Begriffsbestimmung der Generalanwältin in ihren Schlussanträgen zueigen gemacht hat. Jedoch verweist der Gerichtshof auch nur auf die Rn. 82 bis 91 der Schlussanträge, in denen sich aber keine Ausführungen zum Inhalt der Menschenwürde finden. Vielmehr scheint es so, dass der EuGH eben gerade diese inhaltliche Bestimmung dem jeweiligen Mitgliedstaat überlassen wollte, indem er feststellte: „Allerdings können die konkreten Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein. Insoweit ist den zuständigen innerstaatlichen Behörden daher ein Be­ urteilungsspielraum innerhalb der durch den EG-Vertrag gesetzten Grenzen zuzubilligen.“223

Somit ist es den Mitgliedstaaten anscheinend im Wesentlichen selbst überlassen, den Begriff der Menschenwürde sowie den der öffentlichen Ordnung zu bestimmen. Der Gerichtshof achtet damit die „kulturelle Bedingtheit“ des Menschenwürdeschutzes in den Mitgliedstaaten.224 Dies wird in der Literatur zum Teil positiv bewertet, denn dies trage den unterschiedlichen Schutzstandards und -konzeptionen in den Mitgliedstaaten angemes­sen Rechnung.225 Schließlich könne es nicht Aufgabe des EuGH sein, die unterschiedlichen Würdekonzeptionen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen.226 Des Weiteren habe gem. Art. 4 Abs. 2 EUV die Union die jeweilige nationale Identität 221 EuGH, Rs. C-438-05 (International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union ./. Viking Line ABP und OÜ Viking Line Eesti), Slg. 2007, I-10779, Rn. 46. 222 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 30. 223 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 31. 224 Wallau, S. 102; Calliess, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 133 (151 f.). 225 Schwarze, NJW 2005, 3459 (3461). 226 Calliess, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 133 (154).

IV. Ergebnis  

179

der Mitgliedstaaten zu achten, „die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen […] zum Ausdruck kommt.“227 Gegen einen „Generalvorrang des mitgliedstaatlichen Würdeverständnisses“228 ließe sich ins Feld führen, dass es seinem eigenen Verständnis entsprechend Aufgabe des EuGH ist, die Wahrung der sich gem. Art. 6 Abs. 3 EUV aus der EMRK sowie den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergebenden Grundrechte der Union sicherzustellen. Immerhin hatte der Gerichtshof eine inhaltliche Annäherung an einen solchen Begriff auf Unionsebene bereits in der Rs. Biopatentrichtlinie begonnen. Dieser hätte in diesem Urteil nun vor dem Hintergrund der Anträge der Generalanwältin Stix-Hackl weiterentwickelt werden können. Zudem ließe sich gegen die Einräumung eines so weiten Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten trotz der bestehenden unterschiedlichen Menschenwürdeverständnisse in den Mitgliedstaaten anführen, dass die Menschenwürde Bezugspunkt für die europäische Wertegemeinschaft ist, und es gem. Art. 3 Abs. 1 EUV Ziel der Union ist, die Werte der Union zu fördern. Dies hätte dafür gesprochen, eine mögliche Verletzung der Menschenwürde, wie sie von der Union garantiert wird, zu prüfen.229 Möglich wäre es im Übrigen auch gewesen, nicht über den Umweg der „öffentlichen Ordnung“ zu gehen, sondern wie bereits in der Rs. Schmidberger230 direkt im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung den Schutz der Menschenwürde als Recht­ fertigung für den Eingriff heranzuziehen.231 Anders als in der Rs. Omega Spielhallen stellte der EuGH in der Rs. Schmidberger auch auf das Gemeinschaftsgrundrecht ab. Wegen der Einräumung eines so weiten Beurteilungsspielraums wird im Übrigen zum Teil auch die Angst vor einem Missbrauch der Menschenwürde durch die Mitgliedstaaten durch eine zu weite Begriffsauslegung geäußert.232

IV. Ergebnis Auf der Ebene der Europäischen Union gehört die Würde des Menschen mittlerweile zu den zentralen Elementen des Unionsrechtssystems. Dabei hat sich die Entwicklung der Menschenwürde im Unionsrecht erst in den letzten zwei Jahrzehnten, insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH, sowie durch die nunmehr mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 01.12.2009 verbindlich ge-

227

Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 100. Bröhmer, EuZW 2004, S. 753 (756). 229 Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15, Rn. 15. 230 In der Rs. C-112/00 (Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge ./. Republik Österreich), Slg. 2003, I-05659, Rn. 69, 74, erkannte der EuGH erstmals an, dass auch die Unionsgrundrechte ungeschriebene Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in die Grundfreiheiten darstellen. 231 So etwa Berlth, Art. 1 GRCh, S. 106; Jestaedt, Jura 2006, S. 127 (131). 232 Ackermann, CMLR 2005, S. 1107 (1117); Bröhmer, EuZW 2004, S. 753 (756). 228

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D. Die Würde des Menschen nach dem Recht der Europäischen Union 

wordene Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) beschleunigt.233 Zunächst fand die Garantie der Menschenwürde auf Ebene des EU-Primärrechts keine positivrechtliche Erwähnung. Erst durch die Rechtsprechung des EuGH hat sich eine Entwicklung der Menschenwürdegarantie von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Union im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EU a. F. zu einem fundamentalen Wert und einem einklagbaren Grundrecht vollzogen,234 das absolut gewährleistet wird. Sie besitzt damit einen normativen Doppelcharakter. Die Anerkennung als Grundrecht ist mittlerweile auch durch die GRCh, auf die Art. 6 Abs. 1 EUV verweist und die damit Teil des gemeinsamen acquis der Mitgliedstaaten der EU ist, positivrechtlich normiert. Wenngleich sich der EuGH bislang hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Menschenwürdegarantie aufgrund der bestehenden unterschiedlichen Auffassungen von der Menschenwürde in den Mitgliedstaaten deutlich zurückgehalten hat,235 lässt sich dennoch eine gewisse Tendenz erkennen, die in Richtung des Menschenwürdekonzepts des GG weist. So weisen sowohl das Menschenwürdeverständnis des EuGH wie auch die Entstehungsgeschichte und Systematik der GRCh darauf hin, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der Freiheit sowie der Gleichheit besteht. Wie auch nach dem GG handelt es sich auch auf EU-Ebene um untrennbar verbundene Merkmale menschlicher Würde. Auch wenn der EuGH in seiner Rechtsprechung nicht immer die Menschenwürde konsequent in seine Prüfung einbezieht und etwa im Hinblick auf den allgemeinen Persönlichkeitsschutz im Zusammenhang mit Fragen des Datenschutzes die Menschenwürde außer Betracht lässt, nimmt der Gerichtshof gerade im Hinblick auf Fragen der Selbstbestimmung des Einzelnen Bezug auf die Menschenwürde. Ein wesentlicher Aspekt der Menschenwürde ist nach der Rechtsprechung des EuGH die Wahrung der Subjektstellung des Individuums. Der EuGH schloss sich den umfangreichen und fundierten Ausführungen der Generalanwältin Stix-Hackl in der Rs. Omega Spielhallen zur Menschenwürde nicht an. Dennoch bedeutet dies nicht, dass der EuGH diese Ansicht nicht teilt. Vielmehr scheint der Gerichtshof bislang noch eine nähere inhaltliche Bestimmung des Menschenwürdebegriffs aufgrund unter den Mitgliedstaaten divergierender Auf­ fassungen über die philosophischen bzw. theologischen Hintergründe zu scheuen.236 Obgleich es sich bei der EU um eine Wertegemeinschaft handelt, die auf gemeinsamen Verfassungstraditionen beruht, und trotz des bislang noch nicht erreichten

233 Vgl. Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 1. 234 Calliess, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 148; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 87. 235 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vor Art. 1 Rn. 6, bezeichnet dies als das „Vorsichtsprinzip“ des EuGH. 236 Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 159.

IV. Ergebnis  

181

Ziels einer „politischen Union“, hat der EuGH bislang eine nähere Bestimmung des Inhalts der Menschenwürdegarantie nicht vorgenommen.237 Während sich hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Menschenwürde noch Zweifel ergeben, ist die Rechtsprechung des EuGH hingegen bezüglich der Funktion bzw. des normativen Charakters der Menschenwürdegarantie deutlicher. Entsprechend dem deutschen Verständnis der Menschenwürde kommt der Menschenwürdegarantie auf Ebene der EU ebenfalls ein normativer Doppelcharakter sowohl als objektiver Rechtsgrundsatz als auch als subjektives Grundrecht zu, das unantastbar ist, mithin absolut gewährt wird. Dies ist nicht zuletzt auch damit zu begründen, dass mit Art. 1 GRCh und der herausgehobenen Positionierung der Menschenwürde im zentralen Grundrechtstext der EU das Menschenwürdekonzept des Grundgesetzes als Vorbild gedient hat. Nach der Regel des Art. 52 Abs. 3 GRCh soll eine Vereinbarkeit des Grundrechtsschutzes von EMRK und GRCh hergestellt werden und ein Absinken des Grundrechtsschutzes nach der GRCh unter das Niveau der EMRK ausgeschlossen werden. Dies bedeutet allerdings keinen zwingenden Gleichlauf des Menschenwürdeverständnisses auf Ebene der EU mit dem nach der EMRK sowie der Rechtsprechung des EGMR. So legte der EuGH seiner Rechtsprechung auch ein unionsrechtliches Menschenwürdeverständnis zugrunde und nahm erst dann einen Abgleich mit dem Verständnis nach der EMRK vor. Im Gefüge mulitpolarer Grundrechtsverhältnisse zog der EuGH in Reaktion auf die Rechtsprechung des BVerfG zudem dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens mithilfe der Menschenwürde Grenzen und bejahte eine Prüfungs- und Aussetzungspflicht nationaler Gerichte im Falle der Verletzung der Menschenwürde.

237 Vgl. Frahm / Gebauer, EuR 2002, 78 (95); Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 159.

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK im Lichte der Rechtsprechung des EGMR I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde auf der Ebene des Europarats und in der EMRK 1. Die Würde des Menschen auf der Ebene des Europarates Obwohl die Menschenwürde keine Erwähnung in der EMRK selbst gefunden hat, bedeutet dies nicht, dass sie dem Schutzsystem der EMRK sowie des Europarats insgesamt unbekannt ist. Im Gegenteil  – die folgende Untersuchung soll zeigen, dass entsprechend der in der Literatur vorherrschenden Meinung1 dies der Bedeutung der Menschenwürde für die Konvention keinen Abbruch tut. So haben sich die Mitgliedstaaten des Europarates keineswegs gegen die Verankerung der Menschenwürde in ihrem gemeinsamen Vertragswerk entschieden. Das NichtErwähnen der Menschenwürde in der EMRK könnte auch so gedeutet werden, dass die Konventionsgeber bereits davon ausgingen, dass es sich bei der Menschenwürde um ein universelles Rechtsprinzip handelt, das daher nicht mehr notwendigerweise ausdrücklich genannt werden müsste. Andererseits fand die Menschenwürde dann wiederholt in Protokollen bzw. Konventionen des Europarats ausdrücklich Erwähnung. Mithilfe der Betrachtung dieser Vertragswerke im Folgenden soll das Verständnis der Menschenwürde unter den Mitgliedstaaten des Europarates nachvollzogen werden. Die auf der Ebene des Europarates geschlossenen Verträge sind im Übrigen für die Auslegung der EMRK und ein besseres Verständnis des Menschenwürdekonzepts der EMRK hilfreich. Der EGMR hat wiederholt deutlich gemacht, dass er die Heranziehung des – wenn auch unverbindlichen  – sonstigen Europaratsrechts sowie anderer völkerrechtlicher Verträge für die Auslegung der EMRK befürwortet.2 Dies steht auch 1 Ebenso Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 16 f.; Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-War Europe, S. 188; Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (982); von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 184; a. A.: Williams, EJIL 2013, 1157 (1165 f.). 2 So machte der EGMR hinsichtlich der gebotenen Auslegung der Konvention in seinem Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev ./. Zypern und Russland), deutlich: „The Court has never considered the provisions of the Convention as the sole framework of reference for the interpretation of the rights and freedoms enshrined therein […]. It has long stated that one of the main principles of the application of the Convention provisions is that it does not apply them in a vacuum […].“ (Nr. 273); vgl. hierzu Uerpmann-Wittzack, in: FS Eckart Klein, S. 939 (942).

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

183

im Einklang mit den allgemeinen Auslegungsregeln nach der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)3, die überwiegend Völkergewohnheitsrecht abbildet. So verweist der Gerichtshof selbst auf die Regelung des Art. 31 Abs. 1 WVK, wonach ein völkerrechtlicher Vertrag nicht nur nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen ist, sondern gem. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK auch jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz in gleicher Weise zu berücksichtigen ist.4 Insofern können auch die übrigen über 200 auf der Ebene des Europarats geschlossenen Verträge ebenso wie Empfehlungen, Entschließungen oder Ähnliches des Ministerkomitees zur Auslegung der EMRK und zur Annäherung an das Menschenwürdekonzept der Konvention herangezogen werden. Schließlich nutzt der EGMR selbst Europaratsrecht sowie andere internationale menschenrechtliche Verträge, um gemeineuropäische Wertvorstellungen festzustellen und im Wege dynamisch-evolutiver Auslegung der Konventionsgarantien zulässigerweise Rechtsfortbildung zu betreiben.5 Die folgende Untersuchung soll zeigen, inwieweit die Herausbildung des Menschenwürdeschutzes in der Rechtsprechung des EGMR auch unter dem Einfluss des sonstigen Europaratsrechts erfolgte, da dieses sich gerade in Bezug auf menschenwürdesensible Fragestellungen immer häufiger zur Menschenwürde äußert. Eine solche Beeinflussung wäre positiv zu bewerten, denn eine Konkretisierung der Menschenwürde ließe sich – außer anhand der sie ausformenden speziellen Menschenrechte – insbesondere auch anhand des Konsenses unter den Vertragsstaaten, was als Verstoß gegen die Menschenwürde zu sehen ist, sowie anhand der internationalen Bill of Rights als Grundlage eines universellen Menschenrechtsschutzes erreichen.6

3

EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 273; vgl. Uerpmann-Wittzack, in: FS Eckart Klein, S. 939 (942 f.). 4 EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 273 f. Zu beachten ist, dass für die Auslegung der EMRK sowie des übrigen Europaratsrechts auch ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, gem. Art. 32 WVK herangezogen werden können, um die sich unter Anwendung des Art. 31 WVK ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31 WVK „a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.“ 5 Uerpmann-Wittzack, in: FS Eckart Klein, S. 939 (944 f.); Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (401). 6 Haßmann, Embryonenschutz im Spannungsfeld, S. 45; Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (401), konstatiert: „The UN’s most fundamental instruments are the best possible examples of these external sources of inspiration […].“

184

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

a) Die Erwähnung der Menschenwürde Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, inwieweit die Menschenwürde in Verträgen auf der Ebene des Europarates Eingang gefunden hat (Punkt a)). Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwieweit auf die Menschenwürde in Übereinkommen kein Bezug genommen wird, obwohl diese Verträge Themen betreffen, die nach nach der bisherigen Untersuchung als menschenwürdesensibel gelten können (Punkt b)). Erstmalige Erwähnung fand die Menschenwürde auf der Ebene des Europarats in der Präambel zur Europäischen Konvention über die internationale Geltung von Strafurteilen aus dem Jahre 1970.7 Dort heißt es, es sei notwendig, die menschliche Würde zu achten und die Wiedereingliederung Straffälliger zu fördern. Des Weiteren erwähnt die Präambel der Europäischen Konvention über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechern vom 25.01.1974 die Menschenwürde.8 Im Europäischen Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 05.05.1989 (sog. Fernseh-Übereinkommen)9 wird im zweiten Erwägungsgrund der Präambel klargestellt, dass die Würde und der gleiche Wert jedes Menschen Bestandteile der Grundsätze sind, die das gemeinsame Erbe der Mitglieder des Europarats bilden.10 Art. 7 Abs. 1 des Überkommens zufolge sollen daher die Programmangebote ihrem Inhalt und der Art der Präsentation nach folgende Anforderungen erfüllen: „respect the dignity of the human being and the fundamental rights of others.“ Hierzu sollen die Programme keine Pornografie (Art. 7 Abs. 1 lit. a des Übereinkommens) sowie übermäßige Gewaltdarstellungen enthalten (Art.  7 Abs. 1 lit.  b)  und nicht zu sogenanntem Rassenhass animieren. Die Vertragsstaaten des Übereinkommens lassen damit erkennen, dass sie zu den gemeinsamen Grundsätzen und Idealen der Mitgliedstaaten des Europarats die Menschenwürde zählen, um derer Willen sie dieses Übereinkommen geschlossen haben. Das Übereinkommen ist dabei hilfreich, um nachzuvollziehen, was unter den in der Präambel zur Satzung des Europarats vom 05.05.1949 erwähnten „geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker und jeher die Quelle für Freiheit der Einzelperson, politische Freiheit und Herrschaft des Rechts sind“ 7 Vom 28.05.1970, ETS 70, von Deutschland nicht ratifiziert. So heißt es in der Präambel: „The member States of the Council of Europe, signatory hereto, […] Conscious of the need to respect human dignity and to promote the rehabilitation of offenders; […].“ 8 ETS 82, von Deutschland nicht gezeichnet. Die Präambel lautet: „The member States of the Council of Europe, signatory hereto, Considering the necessity to safeguard human dignity in time of war and in time of peace; […].“ 9 ETS-Nr.  132, geändert durch das Änderungsprotokoll zu dem Europäischen Überein­ kommen über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 01.10.1998, ETS-Nr. 171. 10 „[…] Considering that the aim of the Council of Europe is to achieve a greater unity between its members, for the purpose of safeguarding and realising the ideals and principles which are their common heritage; Considering that the dignity and equal worth of every human being constitute fundamental elements of those principles […].“

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

185

(Abs. 3), zu verstehen ist, um derer Willen es notwendig sei, „unverzüglich eine Organisation zu schaffen, die alle europäischen Staaten enger zusammenschließt“ (Abs. 5). Zudem erläutert es auch, was unter dem „gleichen Geist“ nach Abs. 5 der Präambel der EMRK zu verstehen ist, vom dem die europäischen Staaten „beseelt sind“ und was Inhalt des in der Präambel beschworenen „gemeinsame[n] Erbe[s] an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit“ ist. Der Erläuternde Bericht unterstreicht diese Annahme und macht noch deutlicher, was es mit Art. 7 auf sich hat: Nach Ziff. 156 des Berichts ist Art. 7 des Übereinkommens im Wesentlichen unter dem Eindruck der EMRK entstanden und solle auch im Lichte des case-law seiner Organe, also insbesondere des EGMR, interpretiert werden. Die in Art. 7 niedergelegten Standards „represent the affirmation of the desire to respect basic values common to all member States of the Council of Europe.“11 In Ziff. 157 wird zudem der enge Zusammenhang zu den Grundsätzen der AEMR sowie zur Gleichheit aller Menschen sowie zwischen Mann und Frau hergestellt: „This paragraph is also a reflection of elements contained in the preamble to the Universal Declaration of Human Rights (1948) concerning the inherent dignity and equality of all human beings, including equality between women and men.“12 Von großer Bedeutung ist im Zusammenhang mit der Menschenwürde das Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (sog. Biomedizin-Konvention) vom 04.04.1997, das sogar in seinem Titel die Menschenwürde nennt.13 In der Präambel dieses von Deutschland nicht unterzeichneten Übereinkommens wird die Bedeutung der Menschenwürde hervorgehoben: „[…] Convinced of the need to respect the human being both as an individual and as a member of the human species and recognising the importance of ensuring the dignity of the human being […].“ Zudem wird der Missbrauch von Biologie und Medizin als mögliche Gefahr für die Menschenwürde bezeichnet. Aus diesem Grunde seien notwendigerweise Maßnahmen zum Schutz der Menschenwürde zu ergreifen.14 Gleich in Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens wird als Ziel und Zweck des Übereinkommens der Schutz der Menschenwürde genannt und zugleich die Pflicht der Vertragsstaaten des Übereinkommens statuiert, die Menschenwürde zu schützen: „Parties to this Convention shall protect the dignity and identity of all human beings and guarantee everyone, without discrimination, respect for their integrity and other rights and fundamental freedoms with regard to the application of biology and medicine.“ Interessant ist hier auch, dass neben dem Schutz der Menschenwürde auch der Schutz der Iden 11

Explanatory Report, Chapter II, Ziff. 156. Explanatory Report, Chapter II, Ziff. 157. 13 SEV-Nr. 164, von 34 Staaten unterzeichnet und bislang von 29 Staaten ratifiziert (Stand: 08.01.2018). 14 So bestimmt der letzte Absatz der Präambel des Übereinkommens: „[…] Resolving to take such measures as are necessary to safeguard human dignity and the fundamental rights and freedoms of the individual with regard to the application of biology and medicine […].“ 12

186

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

tität des Individuums zentrales Anliegen des Übereinkommens ist. Insbesondere die „identity“ des Einzelnen spielt im Zusammenhang mit der Menschenwürde – dies wird anhand der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK deutlich – eine bedeutende Rolle.15 Aus dem Erläuternden Bericht zur Biomedizin-Konvention16 wird dann noch deutlicher, welcher Stellenwert der Menschenwürde im Rahmen der Konvention, aber darüber hinaus auch bezüglich der EMRK selbst eingeräumt wird: In Ziff. 9 werden die Bezugnahmen im Titel der Konvention auf „Human Rights and Dignity“ näher erläutert. So bezöge sich „Human Rights“ auf die in der EMRK niedergelegten Prinzipien, „which guarantee protection of such rights.“ Zugleich werden die Gemeinsamkeiten der Biomedizin-Konvention mit der EMRK betont: „The two Conventions share not only the same underlying approach but also many ethical principles and legal concepts.“ So führe die Biomedizin-Konvention einige der in der EMRK befindlichen Prinzipien näher aus.17 Auch das Menschenwürdekonzept der EMRK sei ebenfalls besonders durch die Biomedizin-Konvention hervorgehoben: „The concept of human dignity, which is also highlighted, constitutes the essential value to be upheld. It is at the basis of most of the values emphasised in the Convention.“ Ebenso deutlich bezieht sich auch das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin bezüglich der Transplantation von menschlichen Organen und Gewebe vom 24.01.2002 auf den Schutz der Menschenwürde als Zweck des Übereinkommens sowie des Zusatzprotokolls.18 Art. 21 des Protokolls bestimmt, dass der menschliche Körper und seine einzelnen Teile nicht dazu dienen dürfen, einen finanziellen Vorteil etwa durch Kauf oder Verkauf zu erlangen. Im Erläuternden Bericht zu dem Zusatzprotokoll wird angemerkt, dass dieses Verbot 15

Vgl. hierzu näher die Rechtsprechungsanalyse zu Art. 8 EMRK, Teil E. I. 3. b). ETS-Nr. 164. Um die Bedeutung und Gewichtigkeit der Erläuternden Berichte des Europarates zu den jeweiligen Übereinkommen bzw. Zusatzprotokollen hinsichtlich ihrer Präzisierung der jeweiligen Konventionsbestimmungen deutlich zu machen, sei auf die einleitenden Bemerkungen des Berichts verwiesen. Dort heißt es in Abs. 3: „The Explanatory Report is not an authoritative interpretation of the Convention. Nevertheless it covers the main issues of the preparatory work and provides information to clarify the object and purpose of the Convention and to better understand the scope of its provisions.“ Aus Abs. 1 und 2 ergibt sich, wer den Bericht verfasst bzw. autorisiert hat: „This Explanatory Report to the Convention on human rights and biomedicine was drawn up under the responsibility of the Secretary General of the Council of Europe, on the basis of a draft prepared, at the request of the Steering Committee on Bioethics (CDBI), by Mr Jean MICHAUD (France), Chairman of the CDBI. It takes into account the discussions held in the CDBI and its Working Group entrusted with the drafting of the Convention; it also takes into account the remarks and proposals made by Delegations. [Abs. 1] The Committee of Ministers has authorised the publication of this Explanatory Report on 17 December 1996.“ [Abs. 2] 17 „Indeed, this Convention elaborates some of the principles enshrined in the European Convention for the Protection of Human Rights.“ 18 SEV-Nr. 186. In Art. 1 des Zusatzprotokoll heißt es: „Article 1 – Object: Parties to this Protocol shall protect the dignity and identity of everyone and guarantee, without discrimination, respect for his or her integrity and other rights and fundamental freedoms with regard to transplantation of organs and tissues of human origin.“ 16

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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der Umsetzung des in Art. 1 des Protokolls verankerten Menschenwürdeprinzips diene.19 Hieran zeigt sich deutlich das Menschenbild der Europaratsstaaten, die sich gegen die Ökonomisierung des menschlichen Körpers wenden. Insofern wird hier der Aspekt der Menschenwürde deutlich, demzufolge der Mensch und damit auch der menschliche Körper nicht zu einem Mittel, mithin zu einem bloßen Objekt herabgewürdigt werden darf. Die menschliche Würde und insbesondere der Aspekt der Selbstbestimmtheit des Einzelnen beziehen sich damit auch auf den physiologischen Aspekt des Menschseins. Des Weiteren findet sich die Menschenwürde in der Präambel zum 13. Protokoll zur EMRK betreffend die Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen vom 03.05.2002. Dort bekräftigen die Mitgliedstaaten des Europarats ihre „full recogni­ tion of the inherent dignity of all human beings“, für deren volle Anerkennung die Abschaffung der Todesstrafe „is essential for the protection.“ Dieses jedoch nicht von allen ursprünglichen Europaratsmitgliedern unterzeichnete Protokoll lässt durch die Wortwahl von der allen Menschen „inherent dignity“ ebenso wie etwa auch der UN Zivilpakt sowie der UN Sozialpakt erkennen, dass hier ein Verständnis von der Würde als allen Menschen in gleicher Weise zukommender, angeborener und unveränderlicher Wert vorherrscht.20 Im Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art (sog. Cybercrime-Konvention des Europarats) vom 28.01.200321 wird in der Präambel klargestellt, „that all human beings are born free and equal in dignity and rights“. Vor dem Hintergrund dieser Erwägung ist es gem. Art. 1 des Protokolls dessen Zweck, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, mittels Computersystemen begangene Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art zu kriminalisieren. Zum einen wird hier mit der Präambel wieder das auch diesem Übereinkommen zugrunde liegende Menschenbild vorangestellt. Der Bezug zur Regelung des Übereinkommens wird aber zugleich auch deutlich: Die Tolerierung diskriminierender und rassistischer Handlungen lässt sich nicht mit einem Menschenbild vereinbaren, das geprägt ist von der Vorstellung von einer allen Menschen in gleicher Weise zukommenden angeborenen Würde. Auch die Präambel zur Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschen­ handels vom 16.05.2005 erwähnt die Menschenwürde und stellt fest, „that trafficking in human beings constitutes  a violation of human rights and an offence to the dignity and the integrity of the human being“.22 Auch an weiteren Stellen dieser mit einem Überwachungsmechanismus ausgestatteten Konvention23 wird 19

Explanatory Report, Chapter VI, Ziff. 112. Vgl. von der Pfordten, Menschenwürde, S. 45. 21 ETS-Nr. 189. 22 CETS-No. 197; in Deutschland in Kraft getreten am 01.04.2013. 23 Vgl. Art. 36–38 der Konvention. Letzter Besuch Deutschlands durch den Ausschuss: Juni  2014. 20

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

die Menschenwürde benannt.24 Im Erläuternden Bericht zu dieser Konvention wird die Bedeutung der Menschenwürde für das Schutzsystem des Europarats deutlich: „­Given that one of the primary concerns of the Council of Europe is the safe­ guarding and protection of human rights and human dignity, and that trafficking in human beings directly undermines the values on which the Council of Europe is based […].“25 Menschenhandel wird im Erläuternden Bericht als „persistent assault on humanity“ bezeichnet und als eine der Fronten gesehen, an denen der Europarat kämpfe „on behalf of human rights and human dignity.“26 Neben weiteren Abkommen auf der Ebene des Europarats, die ausdrücklich die Menschenwürde in ihren Vertragstext aufgenommen haben,27 benennt das am 01.08.2014 in Kraft getretene und mittlerweile auch von Deutschland ratifizierte Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (sog. Istanbulkonvention) die Menschenwürde an zwei Stellen.28 Die Konvention verbindet die Menschenwürde insbesondere mit der Erniedrigung und Einschüchterung und gibt den Mitgliedstaaten auf, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass eine Verletzung der Würde einer Person nicht erfolgt.29 Zudem ist im Erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen die Rede von einem Grundrecht „auf Würde“:

24

Art. 6 lit. d der Konvention zufolge sollen vorbeugende Maßnahmen, um der Nachfrage entgegenzuwirken, die alle Formen der zum Menschenhandel führenden Ausbeutung von Personen betrifft, „including educational programmes for boys and girls during their schooling, which stress the unacceptable nature of discrimination based on sex, and its disastrous consequences, the importance of gender equality and the dignity and integrity of every human being.“ Art. 16 Abs. 1 der Konvention bestimmt: „The Party of which a victim is a national or in which that person had the right of permanent residence at the time of entry into the territory of the receiving Party shall, with due regard for his or her rights, safety and dignity, facilitate and accept, his or her return without undue or unreasonable delay.“ 25 Explanatory Report, CETS-No. 197, I., Ziff. 10. 26 Explanatory Report, CETS-No. 197, I., Ziff. 2. An anderer Stelle wird in dem Bericht noch einmal deutlich hervorgehoben, dass es sich bei Menschenhandel um eine Verletzung der Menschenwürde handelt: „The added value provided by the Council of Europe Convention lies firstly in the affirmation that trafficking in human beings is a violation of human rights and violates human dignity and integrity, and that greater protection is therefore needed for all of ist victims.“ (Explanatory Report, a. a. O., I., Ziff. 36). 27 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Bröhmer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI, 1, § 139 Rn. 6 ff. 28 SEV-Nr. 210. Das von mittlerweile 33 Staaten ratifizierte Übereinkommen (Stand: August 2018) trat in Deutschland im Februar 2018 in Kraft. So sollen nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens der private Sektor und die Medien dazu angehalten werden, sich an der Ausarbeitung und Umsetzung von politischen Maßnahmen zu beteiligen sowie Richtlinien und Normen der Selbstregulierung festzulegen, „to prevent violence against women and to enhance respect for their dignity.“ Des Weiteren wird die Würde in Art. 40 des Übereinkommens benannt. 29 Art. 40 des Übereinkommens verbindet die Menschenwürde u. a. mit Feindseligkeit, Einschüchterung, Beleidigung und Erniedrigung: „Parties shall take the necessary legislative or other measures to ensure that any form of unwanted verbal, non-verbal or physical conduct of a sexual nature with the purpose or effect of violating the dignity of a person, in particular when

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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„The drafters wished to emphasise that violence against women seriously violates and impairs or nullifies the enjoyment by women of their human rights, in particular their fundamental rights to life, security, freedom, dignity and physical and emotional integrity, and that it therefore cannot be ignored by governments.“ (Ziff. 26 S. 1).

b) Keine Erwähnung der Menschenwürde Obwohl die Menschenwürde schon frühzeitig auch mit der Gewährleistung einer menschenwürdig gestalteten Arbeitswelt in Verbindung gebracht sowie die Arbeit als der Sicherung einer menschenwürdigen Existenz dienlich angesehen wurde, fand sie zunächst keine Erwähnung in der Europäischen Sozialcharta sowie im dazugehörigen Protokoll.30 Dies änderte sich mit der revidierten Fassung der Sozialcharta vom 03.05.1996.31 So wird in Teil I, Nr. 26 der Charta betont, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, die Voraussetzungen zu schaffen, damit das Recht der Arbeitnehmer auf Würde am Arbeitsplatz gewährleistet ist.32 Die Charta bringt dabei die Würde in einen engen Zusammenhang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (Art. 26 Nr. 1) und Mobbing (Art. 26 Nr. 2),33 also mit Situationen persönlicher Herabwürdigung anderer.34 Die Europäische Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) benennt ebensowenig die Menschenwürde wie der dazugehörige Erläuternde Bericht,35 obwohl es sich gerade bei der Folter und der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung um eng im Zusamcreating an intimidating, hostile, degrading, humiliating or offensive environment, is subject to criminal or other legal sanction.“ 30 Vom 18.10.1961, in Deutschland in Kraft getreten am 26.02.1965; SEV-Nr.  35. Dabei wurde in der Präambel sogar als Erwägungsgrund für die Sozialcharta die Sicherstellung der Ausübung sozialer Rechte „without discrimination on grounds of race, colour, sex, religion, political opinion, national extraction or social origin“. 31 ETS-Nr. 163; von Deutschland lediglich unterzeichnet (29.06.2007), jedoch bislang nicht ratifiziert (Stand: 01.12.2018). 32 „The Parties accept as the aim of their policy, to be pursued by all appropriate means both national and international in character, the attainment of conditions in which the following rights and principles may be effectively realised: […] 26. All workers have the right to dignity at work.“ 33 „Article 26 – The right to dignity at work: With a view to ensuring the effective exercise of the right of all workers to protection of their dignity at work, the Parties undertake, in consultation with employers’ and workers’ organisations: 1. to promote awareness, information and prevention of sexual harassment in the workplace or in relation to work and to take all appropriate measures to protect workers from such conduct; 2. to promote awareness, information and prevention of recurrent reprehensible or distinctly negative and offensive actions directed against individual workers in the workplace or in relation to work and to take all appropriate measures to protect workers from such conduct.“ 34 Bröhmer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI, 1, § 139 Rn. 10. 35 Vom 26.11.1987, in Deutschland in Kraft getreten am 01.06.1990; SEV-Nr. 126, Änderung des Textes entsprechend den Bestimmungen von Protokoll Nr. 1 (SEV-Nr. 151) und Nr. 2 (SEV-Nr. 152), in Kraft getreten am 01.03.2002.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

menhang mit der Menschenwürde stehende Fragen handelt, wie insbesondere auch die Rechtsprechung des EGMR zum Folterverbot in Art. 3 EMRK36 deutlich zeigt. Im Zusammenhang mit Fragen der Haft findet die Menschenwürde jedoch ausdrückliche und wiederholte Erwähnung in den European Prison Rules.37 Bei diesen handelt es sich zwar um bloße Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats vom 11.01.2006, denen zumindest keine unmittelbare rechtliche Wirkung beigemessen wird.38 Den Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates kommt jedoch für die Auslegung der EMRK Bedeutung zu. Dies hat der EGMR deutlich gemacht, indem er selber auf die European Prison Rules und insbesondere auch auf deren Feststellung in der Präambel, dass Haftbedingungen sicherzustellen sind, die nicht gegen die Menschenwürde verstoßen, in seiner Rechtsprechung verwies.39 Das Ministerkomitee empfahl, dass die Unterkünfte der Gefangenen, insbesondere die Schlafunterkünfte „shall respect human dignity“.40 Dies solle auch beim Gefangenentransport (Nr. 32.2) sowie im Falle der Durchsuchung von Gefangenen (Nr. 54.3) gelten. Es sollen im Gefängnis Lebensbedingungen herrschen, die die Menschenwürde achten (Nr. 49). Hinsichtlich der Leitung des Gefängnisses wird gefordert: „Prisons shall be managed within an ethical context which recognises the obligation to treat all prisoners with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person.“ (Nr. 72.1). Darüberhinaus empfiehlt das Ministerkomitee auch in seinen Guidelines on human rights and the fight against terrorism vom 11.07.2002, im Falle der Haftierung, die Menschenwürde zu achten: „A person deprived of his / her liberty for terrorist activities must in all circumstances be treated with due respect for human dignity.“41 36 Auf Art. 3 EMRK nimmt die Konvention in ihrer Präambel Bezug: „[…] Recalling that, under Article 3 of the same Convention, ‚no one shall be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment or punishment‘ […].“ 37 Recommendation Rec(2006)2 of the Committee of Ministers to Member States on the European Prison Rules v. 11.01.2006 (952nd meeting of the Minister’s Deputies). 38 Hinsichtlich derlei völkerrechtlich nicht bindender Empfehlungen hat sich der Begriff des „soft law“ herausgebildet. Da sie keiner Rechtsquelle zuzuordnen sind, handelt es sich eben nicht um Recht, weshalb der Begriff „soft law“ eher irreführend erscheint und daher skeptisch zu betrachten ist (so Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 20 Rn. 20 ff.). 39 In der Präambel zu den European Prison Rules heißt es: „The Committee of Ministers […], Having regard to the European Convention on Human Rights and the case law of the European Court of Human Rights; […] Stressing that the enforcement of custodial sentences and the treatment of prisoners necessitate taking account of the requirements of safety, security and discipline while also ensuring prison conditions which do not infringe human dignity and which offer meaningful occupational activities and treatment programmes to inmates, thus preparing them for their reintegration into society; […]“; EGMR, Urt. v. 04.07.2006, Beschw. Nr. 59450/00 (Ramirez Sanchez ./. Frankreich), Nr. 85. Der Gerichtshof stellte dann vor diesem Hintergrund selber noch einmal auf die Achtung der Menschenwürde in der Haft ab (Nr. 119). Zudem bezog er sich auch auf den Report des CPT über die Lage in dem betreffenden Gefängnis. 40 Recommendation Rec(2006)2 of the Committee of Ministers to Member States on the European Prison Rules, Nr. 18.1. 41 Guidelines on human rights and the fight against terrorism, adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe on 11 July 2002, Nr. XI.1. Auf diese Guidelines verweist

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Keine Erwähnung findet die Menschenwürde in dem am 25.10.2007 verabschiedeten Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (sog. Lanzarote-Konvention).42 Obwohl zunehmend die neueren Konventionen des Europarates sich auf die Menschenwürde beziehen und obwohl gerade die Materie dieses Übereinkommens einen engen Bezug zur Menschenwürde aufweist, wird diese hier nicht erwähnt.43 Fraglich ist, warum die Menschenwürde zum Teil selbst in Übereinkommen keine Erwähnung findet, deren Materie als „menschenwürdesensibel“ einzustufen ist. Dies lässt sich mit pragmatischen Erwägungen der Mitgliedstaaten bei Vertragsschluss begründen. So wurde in der Präambel zur ursprünglichen Fassung der Sozialcharta lediglich in ähnlicher Weise wie bereits in der Präambel zur EMRK auf die Ziele des Europarates, „in particular by the maintenance and further realisa­ tion of human rights and fundamental freedoms“ verwiesen, wobei in der Präambel festgehalten wird: „the enjoyment of social rights should be secured.“ Im Vordergrund steht bei dem Text dieser Charta nicht die weitere Erklärung der hinter den Rechten stehenden Erwägungen oder ihrer geistigen Grundlagen, sondern vielmehr die Schaffung effektiver Instrumente zur Garantie dieser Rechte. Wenngleich nach der revidierten Fassung der Sozialcharta nunmehr die Würde Erwähnung findet, steht hierbei nicht die Benennung der Wurzeln der Charta und ihrer Rechte in der Menschenwürde im Vordergrund, sondern vielmehr die pragmatische Verwendung des Begriffs „dignity at work“ im Sinne einer Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, zu der der Schutz vor Herabwürdigung durch sexuelle Belästigung oder durch Mobbing gehört. Mit dem Argument, eher pragmatisch und mechanismusorientiert zu sein, wird auch die im Gegensatz zur AEMR eher „wortarme“ EMRK zu erklären versucht und warum sie sich eines ausdrücklichen Bekenntnisses zur Menschenwürde im Gegensatz insbesondere zur AEMR enthält.44 Deutlicher als noch bei der Sozialcharta wird die Praxisorientierung bei der CPT. Diese verweist in ihrer Präambel lediglich auf die EMRK und Art. 3 EMRK und beabsichtigt die Schaffung eines Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 1 CPT), ausgehend von der Erfahrung, dass umfangreichere und effektivere internationale Maßnahmen erforderlich sind, insbesondere um den Schutz von Personen zu verstärken, denen die Freiheit entzogen ist.45

der EGMR ebenfalls in seinem Urt. v. 04.07.2006, Beschw. Nr. 59450/00 (Ramirez Sanchez ./. Frankreich), Nr. 84. 42 CETS-Nr. 201; Mittlerweile von allen Europarats-Staaten unterzeichnet, in 36 Staaten bereits in Kraft getreten, von Deutschland mittlerweile am 01.03.2016 in Kraft getreten. 43 Vgl. Bröhmer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI, 1, § 139 Rn. 15. 44 Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (395). 45 Erläuternder Bericht zur CPT, II., Ziff. 12.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

2. Die Satzung des Europarats, die Präambel der EMRK und die Bedeutung der AEMR von 1948 Neben den bereits oben dargelegten völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen nach Art. 31 Abs. 1 sowie Abs. 3 lit. c WVK gilt, dass gem. Art. 31 Abs. 2 WVK neben dem Vertragswortlaut auch der Präambel Bedeutung für die Auslegung des völkerrechtlichen Vertrags zukommt. Somit bedarf es zur Annäherung an das Menschenwürdekonzept der EMRK einer Betrachtung sowohl der Präambel wie auch der Satzung des Europarats. Aus der Präambel ergibt sich, dass die Menschenwürde dem Schutzsystem der Konvention insgesamt zugrunde liegt. Dies wiederum ist mit der besonderen Bedeutung der AEMR für das Menschenrechtsschutzsystem der EMRK zu erklären. Die eng mit der AEMR verbundene Entstehungsgeschichte der EMRK und der gemeinsame philosophische Hintergrund machen deutlich, dass den Konventionsgarantien ein Menschenbild zugrundeliegt, das insbesondere von der Menschenwürde als oberstem Wert und Grund der Menschenrechte geprägt ist.46 a) Der Verweis in der Präambel der EMRK auf die AEMR Die Konvention stellt als „kollektive Garantie“47 das Instrument eines europäischen Wertekonsenses – eines ordre public européen – dar. Denn von Anfang an war die Idee von einer Europäischen Menschenrechtskonvention nicht nur von dem Willen geprägt, einem Instrument zur Durchsetzung der universellen Menschenrechte zu verhelfen,48 sondern insbesondere auch eine europäischen Einigung und Integration zu ermöglichen und zu befördern.49 Die Konvention hat so auch mithilfe der von ihr verbürgten Grundrechte, die gleichzeitig Wertbekenntnisse darstellen, in entscheidendem Maße einer gesamteuropäischen Integration Vorschub

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Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 63 ff.; Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (317); a. A.: Williams, EJIL 2013, 1157 (1166). 47 In der offiziellen englischen Fassung: „collective enforcement“, in der französischen Fassung: „garantie collective“. 48 Dass die Konvention auf der Annahme von der Universalität der in ihr verbürgten Menschenrechte beruht, wird in der Präambel ausdrücklich benannt: „Considering that this Declaration aims at securing the universal and effective recognition and observance of the Rights therein declared“. 49 Nußberger, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, § 209 Rn. 27, verweist darauf, dass bereits frühzeitig von der Idee einer Europäischen Union die Rede war. So bereits auf Ebene der Europäischen Bewegung als auch in dem sog. Teitgen-Bericht vom 05.09.1949, der den Abschlussbericht der Arbeiten des Rechts- und Verwaltungsausschusses darstellt. Dieser Ausschuss erarbeitete allgemeine Richtlinien für eine Menschenrechtskonvention; vgl. ausführlich zu den Hintergründen der Entwicklung der EMRK und ihrer Ideengeschichte: Partsch, ZaöRV 1953, 631 ff., inbes. S. 640 ff.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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geleistet.50 Dies entspricht auch dem Zweck der Integration auf der Ebene des Europarates, denn mit der EMRK gelang es den Vertragsstaaten, ihren gemeinsamen Besitzstand an Grundrechten mit einer – wie es in Abs. 5 der Präambel zur EMRK heißt – „kollektive[n] Garantie“ zu verbinden.51 Gemeinsame Werte und grundrechtliche Traditionen wurden mithilfe dieses neuen Instruments verrechtlicht und verbindlich gemacht. Dieses mit objektiven Verpflichtungen der Mitgliedstaaten verbundene gemeinsame Wertegerüst, dessen Ziel und Zweck der Schutz des Individuums ist,52 speist sich wesentlich aus den universellen Rechten in der AEMR. So bezieht sich die Präambel der EMRK deutlich auf die AEMR („[…] Considering the Universal Declaration of Human Rights proclaimed by the General Assembly of the United Nations on 10th December 1948“, Abs. 1). Auch der EGMR hat in seiner Rechtsprechung betont, dass „[t]he Convention was inspired by the Universal Declaration of Human Rights […].“53 Die AEMR wiederum verweist in Abs. 5 ihrer Präambel auf die UN Charta und den dort bekräftigten Glauben der Völker an die grundlegenden Menschenrechte sowie an die Würde und den Wert der menschlichen Person. Die EMRK hebt in Abs. 2 ihrer Präambel zudem selbst den universellen Charakter der AEMR hervor, sowie, dass die in der AEMR aufgeführten Rechte als etwas bereits Vorhandenes, also Vorrechtliches anerkannt werden und nicht erst im Wege der Zuerkennung statuiert werden müssen („[…] Considering that this Declaration aims at securing the universal and effective recognition and observance of the Rights therein declared“). Aus der Einsicht heraus, dass die völkerrechtlich nicht bindende AEMR einer verbindlichen Gewährleistung der in ihr anerkannten Rechte bedarf, haben die Mitgliedstaaten des Europarats die EMRK als menschenrechtliches Schutzsystem geschaffen.54 Mit dem Verweis auf die AEMR macht sich die EMRK selbst das menschenrechtliche Wertesystem der AEMR zueigen 50

Nußberger, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, § 209 Rn. 26. Partsch, ZaöRV 1953, 631 (632). 52 So der EGMR deutlich im Urt. v. EGMR, 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev ./. Zypern und Russland), Nr. 275: „Finally, the Court emphasises that the object and purpose of the Convention, as an instrument for the protection of individual human beings, requires that its provisions be interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective […].“ unter Verweis auf die gleichlautende Formulierung in der Entscheidung in der Rs. Soering ./. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88, Nr. 87. Vgl. ebenfalls EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 118. 53 EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 277. 54 Mithilfe der EMRK wurde das umgesetzt, was mit den Vereinten Nationen beabsichtigt worden war, jedoch bei diesen mit lediglich der AEMR auf der ersten von drei Stufen verblieben ist: „erstens die universelle Proklamation der Menschenrechte als eines gemeinsamen Ideals aller Völker; zweitens die Ausarbeitung eines oder mehrerer internationaler Verträge mit rechtsverbindlicher Kraft für die Vertragsstaaten; drittens die Einsetzung von Organen, welche die Einhaltung dieser Verträge überwachen sollten, sowie internationale Maßnahmen, um diese Rechte wirkungsvoll zu gestalten.“ (Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 63). 51

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

und stellt einen engen Zusammenhang zum Menschenbild der AEMR her.55 Dieses Menschenbild ist  – insbesondere betont durch Art. 1 AEMR  – geprägt von der Würde sowie der Freiheit und Gleichheit des Menschen.56 Der Mensch wird als ein zur Vernunft fähiges und mit Gewissen ausgestattetes Wesen verstanden. Dass in Art. 1 AEMR auf den „Geiste der Brüderlichkeit“57 verwiesen wird, in dem sich die Menschen begegnen, verweist auf den jedem Menschen zukommenden Achtungsanspruch sowie darauf, dass der Mensch nicht als isoliertes Individuum bestehen kann, sondern auch einer gewissen Gemeinschaftsgebundenheit unterliegt. Zugleich wird mit Abs. 3 der Präambel deutlich gemacht, dass das Ziel des Europarats, eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten herzustellen, nicht nur mit der Wahrung, sondern auch mit der „Erhaltung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“58 erreicht wird. Insofern bildeten die in der AEMR anerkannten Rechte für die EMRK zunächst einen Ausgangspunkt, der eine europäische Weiterentwicklung und Vertiefung des Menschenrechtsschutzes vorsah. Zumindest der Verweis in der Präambel der Konvention auf die in der AEMR benannte Menschenwürde ist somit für die Auslegung der Konvention und der von ihr statuierten Rechte – trotz bestehender Unterschiede zwischen der AEMR und der EMRK59 – von erheblicher Bedeutung.60 Die Menschenwürde nach der AEMR stellt ein wesentliches Konstitutionsprinzip dar, wobei die einzelnen, in der Erklärung aufgeführten Menschenrechte Ausdifferenzierungen der Menschenwürde sind. Mit der allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Würde, deren Anerkennung ebenso wie die der Menschenrechte die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt sind, weist die AEMR in den vorrechtlichen Bereich. Diesen Ansatz greift auch die EMRK auf, indem sie die Anerkennung, Einhaltung und Achtung der Menschenrechte betont.61 Mit dem Verweis in der Präambel der EMRK auf die AEMR wird – neben der angeborenen Freiheit und der Gleichheit des Menschen – auch die Menschen­ würde zum zentralen Element des der Konvention zugrunde liegenden Menschen-

55

Diesen Zusammenhang verkennt hingegen Williams, EJIL 2013, 1157 (1165 f.). Er zieht daraus, dass die EMRK keinen Hinweis auf die Menschenwürde gibt und zudem „failed to replicate the philosophical language of the UDHR“ (S. 1165), den Schluss, dass die EMRK nicht wie die AEMR „provided the base out of which all the rights listed could then be interpreted, allowing for a sense of universal application to be adopted.“ (S. 1165). 56 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 117. 57 In der englischen Fassung ist die Rede vom „spirit of brotherhood“. 58 Abs. 3: „Considering that the aim of the Council of Europe is the achievement of greater unity between its members and that one of the methods by which that aim is to be pursued is the maintenance and further realisation of human rights and fundamental freedoms“. 59 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 63. 60 Vgl. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 52; Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (316). 61 Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (316).

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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bildes.62 Sie liegt damit allen Konventionsbestimmungen zugrunde.63 Dieser Verweis ist als einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte für das Menschenwürdekonzept der EMRK zu sehen.64 Dass die obige Untersuchung der AEMR ergeben hat, dass dieser Erklärung ein Menschenwürdekonzept zugrunde liegt, demnach die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip verstanden wird, muss in die Betrachtung des Menschenwürdekonzepts der EMRK einbezogen werden. Dass mit der EMRK die Durchsetzung der mit der unverbindlichen AEMR verfolgten Ziele beabsichtigt war,65 deutet auf ein dem Menschenwürdeverständnis der AEMR vergleichbares Menschenwürdekonzept der EMRK hin, das ebenfalls von der Menschenwürde als Konstitutionsprinzip ausgeht. b) Die gemeinsamen Grundlagen von AEMR und EMRK Dass die EMRK kein ausdrückliches Bekenntnis zur Menschenwürde enthält erscheint insbesondere deshalb fraglich,66 weil die Ausarbeitung der EMRK unter dem Eindruck der AEMR und der Arbeiten der Menschenrechtskommission der UN zu einem „Covenant“-Entwurf zu einer rechtsverbindlichen Vereinbarung, die die Programmsätze der AEMR in Vertragsform fassen sollte,67 stand. So stimmte ein von dem Ausschuss der Leitenden Ministerialbeamten erarbeiteter Entwurf, der im Wesentlichen der später unterzeichneten Konvention glich, stark mit den „Covenant“-Entwürfen der 5. und 6. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission überein.68 Nur einige wenige Artikel mussten selbständig formuliert werden, bei denen eine Vorlage aus der Arbeit der UN-Menschenrechtskommission zum „­Covenant“-Entwurf fehlte.69 Hingegen konnte bei den Beratungen zur EMRK bis zur Unterzeichnung kein Konsens hinsichtlich der Aufnahme des Eigentumsrechts,

62 So auch Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme, S. 63 ff.; Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (317); Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 117; Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-war Europe, S. 1189; a. A.: Williams, EJIL 2013, 1157 (1165 f.). 63 Vgl. Augsberg, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 1 GRCh Rn. 1. 64 So auch Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-war Europe, S. 189. 65 Frowein / Peukert, EMRK, S. 14 f. 66 Ebenfalls überrascht äußern sich Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (394), sowie Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Conven­ tion européenne des droits de l’homme, S. 16 f.; Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-war Europe, S. 191. 67 Partsch, ZaöRV 1953, 631 (647). 68 Partsch, ZaöRV 1953, 631 (649). Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der EMRK und dem erst 1966 unterzeichneten IPbpR ist dennoch erkennbar geblieben, etwa zwischen Art. 2 EMRK und Art. 6 IPbpR, zwischen Art. 3 EMRK und Art. 7 IPbpR, zwischen Art. 4 EMRK und Art. 8 IPbpR sowie zwischen Art. 5 EMRK und Art. 9 IPbpR. 69 Partsch, ZaöRV 1953, 631 (649).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

des Elternrechs sowie des Rechts auf freie Wahlen erreicht werden,70 für die in den Entwürfen der UN-Menschenrechtskommission keine Vorbilder bestanden.71 Inso­ fern spiegelte die EMRK bei ihrem Abschluss den Minimalkonsens hinsichtlich der Rechte aus der AEMR wider, auf die sich die Vertragsstaaten der Konvention einigen konnten. Was auf der Ebene der UN zum damaligen Zeitpunkt nicht erreicht werden konnte, war jedoch auf europäischer Ebene bereits zwei Jahre nach der Verabschiedung der AEMR mit der EMRK beabsichtigt und ermöglicht worden: Die rechtliche Verbindlichkeit zumindest einiger in der AEMR erklärter Rechte. Die sich somit aus dem historischen Kontext der Konventionsentstehung sowie aus dem Zweck der Konvention als kollektive Garantie universeller Menschenrechte und gemeinsamer europäischer Werte ergebende enge Verbindung zur AEMR lässt erkennen, dass EMRK und AEMR auf einem sich stark ähnelnden ideengeschicht­ lichen Fundament beruhen.72 Dennoch ergeben sich auch gewisse Unterschiede: So lag der Entscheidung für die Betonung der Menschenwürde in der AEMR vor allem die Erwägung zugrunde, dass die Menschenwürde als moralischer Rückanknüpfungspunkt der Minimalkonsens war, auf den man sich einigen konnte und der trotz seiner Begründungsoffenheit und vermeintlichen Ideologieferne geeignet schien, einen Grund für die universellen Menschenrechte zu bieten. Aus der Entstehungsgeschichte der EMRK wird insbesondere auch anhand der traveaux préparatoires deutlich, dass man während des Entstehungsprozesses die Menschenwürde vor Augen hatte.73 Vielmehr noch als bei der AEMR spiegelte die Menschenwürde im Bewusstsein der Vertragsstaaten der EMRK die gemeineuropäischen ideologischen

70 Diese Rechte wurden jedoch später durch das 1. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20.03.1952, BGBl. 2002 II S. 1072, vereinbart. 71 Partsch, ZaöRV 1953, 631 (649). 72 Vgl. Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (395). 73 Siehe hierzu die Darstellung bei Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in postwar Europe, S. 190 f. Anhand seiner Analyse der travaux préparatoires wird deutlich, dass der Entstehungsprozess der Konvention nicht nur unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Unrechts stand. Zudem wurde von den Staatenvertretern sowohl ein christliches wie auch kantisches Menschenwürdeverständnis der Ausarbeitung der Konvention zugrunde gelegt. So wird der griechische Staatsvertreter Antonopoulus u. a. mit den Worten zitiert: „Man is an end in himself! The city and the State are so many organs constituting the means of preserving his dignity, of ensuring the pacific development of his personality and of guaranteeing for him human life conditions. This, it seems to me, is the common ideology of Europe, the ideology which, down the centuries, has been subject to many attacks but which, from the times of ancient Greece – which gave it birth – up to our own time, has shaped the European culture without which existence itself cannot be conceived. We must, therefore, fortify the structure and widen the bases of these fundamental freedoms which form the veritable ramparts of human dignity.“ (S. 190 f.). Die gemeinsamen Grundlagen Europas sah der dänische Staatsvertreter Kraft in der Menschenwürde: „[…] the Europe, whose life and welfare we are gathered here to preserve and protect, through the creation of a firmer union, is not primarily a geographical and geopolitical or strategic conception, but a Europe with a common spiritual basis in its views on man, his dignity and his rights.“ (zit. nach Alting von Geusau, a. a. O., S. 191).

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Grundlagen wider: So wurden über den Menschenwürdebegriff sowohl das christliche Menschenbild sowie insbesondere auch das Menschenbild der Aufklärung aber auch das sich unter dem Eindruck des Totalitarismus’ weltweit herausgebildete personalistische Menschenbild74 der Konvention zugrundegelegt. Dieser ideengeschichtliche Hintergrund der EMRK sowie ihrer Entstehung hätte durch eine Nennung der Menschenwürde in der EMRK bzw. in der Europaratssatzung noch einmal deutlich gemacht werden können. Möglicherweise fehlt ein solcher Verweis auf die menschliche Würde aber gerade deshalb, weil die Autoren der EMRK davon ausgingen, dass die enge Verbindung zur AEMR und das gemeinsame Wertefundament ohnehin offensichtlich waren. Alting von Geusau geht davon aus, dass die im Vergleich zur recht kurz gehaltenen Präambel der EMRK längere Präambel der AEMR zugleich auch als Präambel der Konvention zu lesen war.75 Für diese Annahme spricht, dass auch andere menschenrechtliche Verträge des Europarates als eher praxisorientiert erscheinen76 und weniger durch umfangreiche Präambeln und Bezugnahmen auf gemeinsame Werte auffallen. Demzufolge wäre von einer Zweiteilung des menschenrechtlichen Schutzsystems des Europarates auszugehen: Die AEMR würde dabei den historischen Grund sowie das ideengeschichtliche Fundament abbilden und die EMRK sowie die weiteren Verträge des Europarats stellten den Umsetzungsmechanismus dar. Von Schwichow geht vielmehr davon aus, dass die Menschenwürde bei Erstellung des Konventionstextes absichtlich ausgelassen worden sei, um den fehlenden Konsens unter den Mitgliedstaaten nicht zu sehr zu strapazieren.77 Erst im Laufe der Jahre habe sich herausgestellt, dass die Einzelgarantien der Konvention ohne den expliziten Schutz der Würde unvollständig bleiben und so eine „ideologische Lücke klaffte.“78 Dem ist zuzugeben, dass etwa gerade auch im Vereinigten Königreich zur Zeit der Ausarbeitung der EMRK der Menschenwürde eher mit Skepsis begegnet worden war, andererseits aber gerade der ausdrückliche Bezug auf die AEMR in der EMRK vermuten lässt, dass sie dennoch als Grundlage auch der EMRK angesehen worden ist. Wie aber lässt sich der gemeinsame Hintergrund von Konvention und AEMR erklären? AEMR und EMRK wie auch weitere völkerrechtliche Verträge und nationalstaatliche Verfassungen standen unter dem Eindruck der jüngsten Vergangenheit in Europa, in der die Subjektstellung des Einzelnen zum Teil völlig negiert und dem Nutzen des totalitären Staates untergeordnet worden war. Den Mitgliedstaaten des Europarats ging es daher darum, dass einem universell gültigen Bestand 74 Siehe hierzu sogleich. In diesem Sinne auch Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 232 f. 75 Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-war Europe, S. 191. 76 Vgl. Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (395). 77 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 184. 78 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 184.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

an subjektiven Rechten des Einzelnen gegenüber staatlicher Gewalt zu verbind­ licher Wirksamkeit verholfen wird, um dauerhaft für Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen. Insbesondere auch durch die Verkündung der Four Freedoms durch den amerikanischen Präsidenten Roosevelt in dessen Rede vor dem US-Kongress am 06.01.1941 verdichteten sich die Bemühungen um eine Internationalisierung79 und Institutionalisierung der Menschenrechte. Indem der Präsident die Meinungs­ äußerungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit von Not sowie die Freiheit von Furcht als die „fundamental human freedoms“ bezeichnete,80 auf der die Welt in Zukunft gegründet werden sollte, stellte er einen Zusammenhang zwischen der Freiheit von Not und Furcht – mithin der Gewährung sozialer Rechtsansprüche – und klassischen Freiheitsrechten sowie dem Frieden in der Welt her. Diese berühmte Passage aus Roosevelts Rede speiste sich aus der Erkenntnis, dass Frieden und Freiheit nur dann auf Dauer gewährleistet werden könnten, wenn jedem Einzelnen eine menschenwürdige Existenz gewährt werde.81 Dieser Zusammenhang wurde auch mit der AEMR erstmals in einer international bedeutenden Erklärung hergestellt. Der Konventionstext sieht hingegen allein eine Auswahl bürgerlicher und politi­ scher Rechte als klassische Abwehrrechte vor. Soziale Rechte finden keine Erwähnung. Bei der AEMR handelt es sich um die Auflistung universell gültiger Menschenrechte. In den Konventionstext wurde jedoch nur ein Teil dieser Rechte aufgenommen, nämlich allein die Rechte, die einem Minimalkonsens der Vertragsstaaten entsprachen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die EMRK kein kohärentes Menschenrechtsschutzsystem beinhaltet, bei dem die einzelnen Konventions­ gewährleistungen nicht in einem inneren Zusammenhang stünden.82 Die Aufnahme allein von sogenannten Menschenrechten der ersten Generation83 war von den Vertragsstaaten auch so beabsichtigt, wobei eine spätere Ergänzung der EMRK um soziale Leistungsrechte nicht ausgeschlossen wurde.84 Mit der Europäischen Sozialcharta, die sich in ihrer späteren Fassung auch auf die Menschen­

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Partsch, ZaöRV 1953, 631 f. „In the future days, which we seek to make secure, we look forward to a world founded upon four essential human freedoms.“ 81 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 62. 82 So aber Williams, EJIL 2013, 1157 (1166): „[…] it prescribed a collection of selected independent rights which required little, if any, interrelated theme.“ 83 Zu den sogenannten Menschenrechten der ersten Generation zählen die bürgerlichen, justiziellen und politischen Rechte, also die Rechte, die von der Idee der persönlichen Freiheit und dem Schutz des Einzelnen gegen Übergriffe des Staates geprägt sind. Sie finden sich z. B. vor allem im UN-Zivilpakt. Hingegen werden zu den sogenannten Menschenrechten der zweiten Generation die sogenannten wsk-Rechte (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) gezählt, die im Wesentlichen von der Idee der Gleichheit und des garantierten Zugangs zu wesentlichen sozialen und wirtschaftlichen Gütern, Dienstleistungen und Chancen geprägt sind. Diese finden sich z. B. vor allem im UN-Sozialpakt. 84 Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 318. 80

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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würde bezieht,85 wurden auch die Menschenrechte der zweiten Generation in den Rahmen des Menschenrechtsschutzes des Europarats einbezogen. Dadurch, dass die wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht in die EMRK selbst integriert wurden, konnte die Trennung zwischen diesen und den bürgerlichen und politischen Rechten allerdings nicht aufgehoben werden.86 Wenngleich soziale Rechte vom Konventionstext nicht erfasst sind, hat der EGMR entsprechend seiner Auffassung von der Konvention als living instrument in besonderen Härtefällen und unter Einbeziehung humanitärer Erwägungen – insbesondere gemessen an der Menschenwürde  – soziale Schutzpflichten statuiert.87 Insofern wird auch hinsichtlich der EMRK sowie auf der Ebene des Europarates ein Zusammenhang zwischen Freiheitsrechten, sozialen Rechten und der Gerechtigkeit und dem Frieden in der Welt hergestellt. Wie die Untersuchung gezeigt hat, bildete sich unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges eine Strömung heraus, die als Personalismus bezeichnet wird. Diese verstand sich als Mittelweg zwischen Individualismus und Kollektivismus und machte insbesondere die Menschenwürde zu ihrem Hauptanknüpfungspunkt als den alle Rechte umfassenden und zusammenschließenden Wert und wonach die Rechtsordnungen zu allererst den Menschen im Blick haben sollten.88 3. Die Würde des Menschen in der Rechtsprechung des EGMR Im Folgenden soll die Rechtsprechung des EGMR zur Menschenwürde näher betrachtet werden. Anhand der Analyse der Rechtsprechung, insbesondere zu Art. 3 sowie zu Art. 8 EMRK, aber auch zu weiteren Verbürgungen der Konvention, soll eine Annäherung an das der Konvention zugrundeliegende Menschenwürdekonzept erfolgen. Es soll untersucht werden, ob der Gerichtshof die Menschenwürde als Konstitutionsprinzip erachtet, dem eine objektiv-rechtliche Wirkung zugeschrieben wird, oder vielmehr als normative Hintergrundannahme, die lediglich als Begründungs- und Auslegungshilfe dient. Untersucht werden soll zudem, ob der EGMR der Menschenwürdegarantie auch eine subjektiv-rechtliche Bedeutung beimisst. Anknüpfend an die vorigen Ausführungen zur Bedeutung der AEMR für die Auslegung der EMRK soll anhand der Rechtsprechungsanalyse der Frage nachgegangen werden, inwieweit es sich bei der EMRK um ein kohärentes Menschenrechtschutzsystem handelt, dessen einzelne Verbürgungen in der Anerkennung einer allen Men 85 So wird in Art. 26 European Social Charter der revidierten Fassung vom 03.05.1996, ETS-Nr. 163, ein „right to dignity at work“ garantiert. 86 Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 318. 87 Vgl. insbesondere die Kammerentscheidung des EGMR in der Rs. D. ./. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 02.07.1997, Beschw. Nr. 30240/96, Nr. 46 ff.; Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 326 f. 88 Kohl, Menschenwürde: Relativierung oder notwendiger Wandel?, S. 30; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 62.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

schen zukommenden Würde begründet sind und die deshalb – wie bei der AEMR – in einem inneren Zusammenhang stehen.89 Zudem soll die Rechtsprechungsanalyse eine Annäherung an die Inhaltsbestimmung des Menschenwürdebegriffs der Konvention ermöglichen. a) Das Folterverbot und das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung aus Art. 3 EMRK Insbesondere in Fällen, die das in Art. 3 EMRK verankerte Folterverbot sowie das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung betrafen, bekannte sich der EGMR zur Menschenwürde und thematisierte diese in seiner Rechtsprechung. So betraf bisher die überwiegende Zahl der vom EGMR mit der Menschenwürde in Verbindung gebrachten Fälle Art. 3 EMRK. Für die folgende Rechtsprechungsuntersuchung wird von Bedeutung sein, dass die Formulierung des Art. 3 EMRK aus drei Tatbestandsvarianten besteht, die nach der Intensität des Eingriffs bzw. ihrem Unrechtsgehalt abgestuft sind: Der Tat­bestand der Folter, der Tatbestand der unmenschlichen sowie der der erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Der EGMR nimmt eine deutliche Unterscheidung zwischen der Folter einerseits und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung andererseits nach der Schwere des Eingriffs vor.90 Dies betonte der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt, indem er bezüglich der Unterscheidung in der Konvention zwischen Folter und unmenschlicher Behandlung und hinsichtlich der besonderen Stellung der Folter formulierte: „[…] it appears that it was the intention that the Convention should, by means of this distinction, attach a special stigma to deliberate inhuman treatment causing very serious and cruel suffering […].“91 Der Gerichtshof machte damit selber deutlich, dass es sich bei der Folter immer auch um eine unmenschliche Behandlung handelt, die jedoch aufgrund ihrer Absichtlichkeit und des starken, durch sie verursachten Leids eine besondere Missachtung des Opfers zum Ausdruck bringt und daher einer speziellen Missbilligung unterliegt. 89

Diesen Zusammenhang verneinend: Williams, EJIL 2013, 1157 (1166). Vgl. Urt. v. 28.07.1999, Beschw. Nr. 25803/94 (Selmouni ./. Frankreich), Nr. 96; in der Rs.  Dikme  ./. Türkei (Urt. v. 11.07.2000, Beschw. Nr. 20869/92, Nr. 93), hat der EGMR betont, dass er dieser Unterscheidung gewichtige Bedeutung beimisst. Ebenso eine Abstufung zwischen den drei Tatbestandsvarianten annehmend: Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  5 ff.; Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 110; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 41, nimmt ebenfalls eine Abstufung vor, bemerkt aber, dass eine klare Abgrenzung zwischen den Alternativen der Unmenschlichkeit und der Erniedrigung weder möglich noch erforderlich sei. 91 EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 66; Urt. v. 28.07.1999, Beschw. Nr. 25803/94 (Selmouni ./. Frankreich), Nr. 96; Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 66 f. 90

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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aa) Die Menschenwürde in der Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) Bereits vor dem EGMR hatte schon die EKMR92 im Jahre 1973 in der Rs. East African Asians ./. Vereinigtes Königreich auf die Menschenwürde Bezug genommen93 und festgestellt, dass rassistische Diskriminierungen unter bestimmten Umständen eine Verletzung der Menschenwürde darstellen könnten und daher eine Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK anzusehen sei.94 In diesem Fall war ostafrikanischen Asiaten die Einreise in das Vereinigte Königreich verwehrt worden, da nach dem britischen Commonwealth Immigration Act die Einreise nur Personen gestattet werden sollte, die dort geboren worden waren oder deren Vorfahren aus dem Vereinigten Königreich stammten. Diese Entscheidung der EKMR hat nach wie vor Einfluss auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs.95 Auch der EGMR sah in späteren Entscheidungen in einer Diskriminierung aufgrund der Rasse und rassistisch motivierter Gewaltanwendung eine Verletzung der Menschenwürde.96 Dabei bezog sich der Gerichtshof bei der Prüfung nicht nur auf Art. 14 EMRK, sondern stellte fest, dass in Anlehnung an die Meinung der EKMR Diskriminierungen aufgrund der Rasse unter Umständen auch allein an Art. 3 EMRK zu messen seien. Dies machte er etwa in der Rs. Zypern ./. 92

Die EKMR wurde im Jahre 1954 als Organ des Europarates gegründet und zielte auf die Sicherung der Einhaltung und Durchsetzung der Konventionsgarantien ab. Im Jahre 1998 kam es dann mit dem 11. Zusatzprotokoll zur EMRK zu einer grundlegenden Reform des Rechtsschutzsystems der EMRK, in deren Folge auch die EKMR aufgelöst wurde. Ihr einstiger Aufgabenbereich wird nun vollumfänglich vom 1959 errichteten EGMR wahrgenommen, der gem. Art. 19 S. 2 EMRK seine Aufgabe als „ständiger Gerichtshof“ wahrnimmt. Während sich zuvor die Mitgliedstaaten der Entscheidungskompetenz der Kommission für Individualbeschwerden jeweils unterwerfen mussten, verfügt die EMRK nunmehr über eine obligatorische Gerichtsbarkeit. 93 EKMR, Beschw. Nr. 4403/70–4419/70 u. a. (East African Asians  ./. Vereinigtes Königreich), Report adopted by the Commission v. 14.12.1973, Nr. 207 ff., sowie in EKMR, Entsch. v. 06.03.1978, 3 EHRR (1981) 76 (East African Asians ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 203–207. 94 EKMR, Beschw. Nr. 4403/70–4419/70 u. a. (East African Asians  ./. Vereinigtes Königreich), Report adopted by the Commission v. 14.12.1973, Nr. 207: „[…] publicly to single out a group of persons for differential treatment on the basis of race might, in certain circumstances, constitute a special form of affront to human dignity […].“ 95 Sowohl als Argument der Beschwerdeführer (vgl. EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Beschw. Nr. 33985/96 (Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 118) als auch seitens des Gerichtshofs (vgl. EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien), Nr. 111; vgl. Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (395). 96 Vgl. EGMR, Urt. v. 06.07.2005, Beschw. Nr. 43577/98 und 43579/98 (Nachova u. a. ./. Bulgarien), Nr. 145: „Discrimination is treating differently, without an objective and ­reasonable justification, persons in relevantly similar situations (see Willis v.  the United Kingdom, no. 36042/97, § 48, ECHR 2002-IV). Racial violence is a particular affront to human dignity and, in view of its perilous consequences, requires from the authorities special vigilance and a vigorous reaction. It is for this reason that the authorities must use all available means to combat racism and racist violence, thereby reinforcing democracy’s vision of a society in which diversity is not perceived as a threat but as a source of enrichment.“

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Türkei deutlich.97 Die Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK knüpfte der Gerichtshof jedoch an das Erfordernis, dass die Diskriminierung einen gewissen Schweregrad erreichte.98 Der Gerichtshof nahm in dieser Entscheidung eine Diskriminierung der auf der Halbinsel Karpas lebenden Zyperngriechen an, die eine erniedrigende Behandlung gem. Art. 3 EMRK darstelle.99 Indem die in den betroffenen Gebieten lebenden Zyperngriechen isoliert, in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt und kontrolliert seien und keine Aussicht hätten, ihre Gemeinschaft zu erweitern, seien die Bedingungen, unter denen die Bevölkerung zu leben habe, „debasing and violate the very notion of respect for the human dignity of its members.“100 Dies lässt erkennen, dass bereits schon die EKMR – und in der Folge der EGMR – die Menschenwürde mit Fragen der Gleichbehandlung sowie der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmtheit verband. bb) Die herausgehobene Stellung des Art. 3 EMRK im Konventionsrecht und seine absolute Geltung Der knapp gehaltene Art. 3 EMRK ist fast gleichlautend mit Art. 5 AEMR sowie mit Art. 7 S. 1 IPbpR101 und gleichlautend mit Art. 4 GRCh102. Art. 3 EMRK ist dabei als klassisches Abwehrrecht formuliert. Eine staatliche Verpflichtung zum Schutz ergibt sich allein aus dem Wortlaut nicht – anders als etwa aus der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG. Nachdem das Verbot der Folter sowie das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe bereits in die Genfer Konventionen von 1949 Eingang gefunden hatte, kam es mit Art. 3 EMRK erstmals zu einer verbindlichen Formulierung dieses Verbots auf der Ebene des Völkerrechts.103 Diese Vorschrift dient vor allem 97 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 25781/94 (Zypern ./. Türkei), Nr. 306: „The Court further recalls that the Commission, in its decision in the above-mentioned East African Asians case, observed, with respect to an allegation of racial discrimination, that a special importance should be attached to discrimination based on race and that publicly to single out a group of persons for differential treatment on the basis of race might, in certain circumstances, constitute a special affront to human dignity.“ Ebenso im Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan u. a. ./. Rumänien), Nr. 111, 113. 98 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 25781/94 (Zypern ./. Türkei), Nr. 310. 99 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 25781/94 (Zypern ./. Türkei), Nr. 311. 100 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 25781/94 (Zypern ./. Türkei), Nr. 309. 101 Art. 3 EMRK: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“; Art. 5 AEMR: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“; Art. 7 S. 1 IPbpR lautet: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedri­ gender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ 102 Art. 4 GRCh: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 103 Vgl. Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn. 1 f.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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der Gewährleistung der physischen und psychischen Integrität des Menschen.104 Darüber hinaus hat sich die besondere Bedeutung von Art. 3 EMRK für das menschenrechtliche Schutzsystem der EMRK erst nach und nach und insbesondere durch die dynamisch-evolutive Auslegung des EGMR herausgebildet. Mittlerweile wird Art. 3 EMRK in Rechtsprechung und Literatur große Bedeutung beigemessen.105 So betonte der EGMR selbst die absolute und herausgehobene Stellung mit folgenden Worten: „This absolute prohibition of torture and of inhuman or degrading treatment or punishment under the terms of the Convention shows that Article 3 (art. 3) enshrines one of the fundamental values of the democratic societies making up the Council of Europe.“106

Für das in Art. 3 EMRK niedergelegte Verbot gilt Art. 15 Abs. 2 EMRK. Dieser legt fest, dass ein Abweichen i. S. v. Art. 15 Abs. 1 EMRK von der Verpflichtung des Art. 3 EMRK auch im Notstandsfall nicht erlaubt ist. Dies trifft ansonsten nur noch hinsichtlich des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), außer bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen, sowie auf Art. 4 Abs. 1 (Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft) und Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) zu. Eine Eingriffsrechtfertigung kommt demnach wie schon hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 GG107 nicht in Betracht. Nicht nur aus Art. 3 EMRK selbst sondern zudem noch aus Art. 15 Abs. 2 EMRK sowie verstärkt durch das völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Folterverbot ergibt sich somit, dass das in Art. 3 EMRK bestimmte Verbot notstandsfest ist sowie absolut und vorbehaltlos gilt.108 Dies hat der EGMR in ständiger Rechtsprechung selbst deutlich hervorgehoben.109 Der EGMR stellte in 104

Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S 101; Grabenwarter / Pabel, EMRK, S. 145. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 120 f.; Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 27. 106 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 88. Ebenso im Urt. v. 15.11.1996 (GK), Beschw. Nr. 22414/93 (Chahal ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 79; sowie im Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2), Nr. 99 und im Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 63. 107 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 15. 108 Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  11; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 45; Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 102, 105; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 26; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 121; Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 30. 109 So macht der EGMR im Urt. v. 28.07.1999, Beschw. Nr. 25803/94 (Selmouni ./. Frankreich), Nr. 95, deutlich: „[…] the Convention prohibits in absolute terms torture and inhuman or degrading treatment or punishment.“; an anderer Stelle hebt der EGMR deutlich hervor, dass auch in Fällen terroristischer Gewalt ein Abweichen von der absoluten Geltung des Art. 3 EMRK ausgeschlossen ist und eine Rechtfertigung von Eingriffen nicht in Betracht kommt: „Unlike most of the substantive clauses of the Convention and of Protocols Nos. 1 and 4 (P1, P4), Article 3 (art. 3) makes no provision for exceptions and no derogation from it is permissible under Article 15 (art. 15) even in the event of a public emergency threatening the life of the nation […].“ 105

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

seiner Rechtsprechung klar, dass es eine Eingriffsrechtfertigung bei Art. 3 EMRK nicht geben kann, und verwies zudem auf das Folterverbot in anderen völkerrechtlichen Verträgen wie etwa den IPbpR und darauf, dieses Verbot sei „generally recognised as an internationally accepted standard“110. Die absolute Geltung von Art. 3 EMRK bedeutet, dass wie auch bei Art. 1 Abs. 1 GG eine Verletzung nicht erst auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung festgestellt wird, sondern bereits auf der Schutzbereichsebene.111 Fällt also eine Behandlung in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK, steht auch deren Verstoß gegen die Konvention fest. Zudem ist Art. 3 EMRK schrankenlos gewährleistet. Eines Rückgriffs etwa auf die im deutschen Verfassungsrecht etablierte Figur der sog. verfassungsimmanenten Schranken112 bedarf es nicht,113 insbesondere auch aufgrund des klaren Wortlautes von Art. 3 sowie von Art. 15 Abs. 2 EMRK. Eine Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 3 EMRK kann es somit nicht geben.114 Gleiches gilt auch – wie sich ausdrücklich aus Art. 2 Abs. 2 und 3 CAT ergibt – für das völkergewohnheitsrechtlich gewährleistete Folterverbot.115 Das Verbot der Folter sowie der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung steht in einem engen Zusammenhang mit der Menschenwürde.116 Die Untersuchung hat zudem gezeigt, dass dieses in vielen verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkommen zu findende Verbot wiederholt mit der Menschenwürde in Verbindung gebracht wird. Zwar findet sich kein Hinweis auf die Menschenwürde in der CPT des Europarates, in der CAT auf Ebene der UN hingegen schon. Sowohl der CAT wie auch der CPT ist jeweils ein eigener Überwachungsmechanismus

(Urt. v. 15.11.1996 (GK), Beschw. Nr. 22414/93 (Chahal ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 79. In der Rs. Saadi ./. Italien, Urt. v. 28.02.2008 (GK), Beschw. Nr. 37201/06, Nr. 138 ff., machte der EGMR deutlich, dass aufgrund der absoluten Geltung von Art. 3 EMRK auch im Rahmen der Terrorismusbekämpfung hinsichtlich des tatsächlichen Misshandlungsrisikos kein strengerer Beweismaßstab angelegt werden dürfe, wenn die betreffende Person eine schwerwiegende Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt (Nr. 140). 110 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 88. 111 Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  11, 129; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 45. 112 Vgl. hierzu Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 48 ff. 113 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 45. 114 EGMR, Urt. v. 15.11.1996 (GK), Beschw. Nr. 22414/93 (Chahal  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 79. 115 Vgl. Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn. 132: Art. 2 Abs. 2 CAT: Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“ Abs. 3: „Eine von einem Vorgesetzten oder einem Träger öffentlicher Gewalt erteilte Weisung darf nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“ 116 Vgl. hierzu bereits die Ausführungen in Teil B. II. 1. g).

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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zugeordnet.117 Dem Ausschuss nach der CPT kommt dabei auch ein zunehmender Einfluss auf die Rechtsprechungspraxis des EGMR insbesondere hinsichtlich der Haftbedingungen zu.118 Zudem ist mittlerweile das Folterverbot als Völkergewohnheitsrecht sowie als ius cogens anerkannt. Dies hat auch der EGMR in seiner Rechtsprechung betont.119 Den Zusammenhang zwischen dem Verbot der Folter sowie der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung und der Menschenwürde hat auch der EGMR in seiner Rechtsprechung erkannt. Zudem ist auch die knappe und offene Formulierung des Art. 3 EMRK als ein Grund dafür zu sehen, weshalb diese Garantie in der Literatur gar als „ein breites Auffangnetz für Würdeverletzungen aller Art“120 der Konvention bezeichnet worden ist bzw. als Hauptanknüpfungspunkt für die Herausbildung eines Menschenwürdegrundrechts der EMRK vorgeschlagen wird121. cc) Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich Erstmals bezog sich der EGMR in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich im Jahre 1978 auf die Menschenwürde.122 Die Entscheidung des EGMR in der Rs.  Tyrer ./. Vereinigtes Königreich ist nicht nur aus diesem Grund für den europäischen Grundrechtsschutz von erheblicher Bedeutung.123 Zu untersuchen ist im Folgenden auch, was es bedeutet, dass der Gerichtshof in seiner Entscheidung von positive obligations der Mitgliedstaaten sprach und inwieweit der Gerichtshof der bislang von klassischen Abwehrrechten geprägten Konvention auch Schutzpflichten im Zusammenhang mit der Menschenwürde entnahm. 117 Das CPT sieht ein präventives System vor, wonach ein aus unabhängigen Experten zusammengesetztes Komitee zur Verhütung von Folter unangemeldete Besuche in den Vertragsstaaten durchführt. Neben regelmäßigen Staatenbesuchen sind auch Ad-hoc-Besuche sowie Follow-up-Besuche vorgesehen. Auf der Ebene der UN existiert ein Sonderberichterstatter für Folter und zur Überwachung der Umsetzung der CAT ist in Form eines Comittee against Torture eingesetzt, das zwei Mal im Jahr in Genf zusammentritt. Mit dem Optional Protocol to the Convention aus dem Jahre 2006 wurde zudem ein Subcommittee on Prevention of Torture (SPT) eingerichtet, das ein Besuchssystem in den Vertragsstaaten vorsieht. 118 Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  3; Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 28. 119 EGMR, Urt. v. 21.11.2001 (GK), Beschw. Nr. 35763/97 (Al-Adsani ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 60 f.; Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 4. 120 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 99; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 121, m. w. N.: „Vielfach wird angenommen, Art. 3 EMRK wirke als eine Art Generaltatbestand, als Auffanggrundrecht der gesamten Konvention.“ 121 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 119. 122 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich). 123 Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (395), hebt die Bedeutung dieser Entscheidung hervor: „In the Court’s case law, the leading judgement is usually said to be Tyrer v. United Kingdom […]. So Tyrer seems to be a pioneer judgment.“

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

In der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich hatte sich der Gerichtshof mit der Vereinbarkeit der gegen einen 15-jährigen Schüler von einem Jugendgericht der Isle of Man verhängten und nach dem Recht der Isle of Man zulässigen Bestrafung mit drei Birkenrutenschlägen auf das entblößte Gesäß zu beschäftigen. Der Schüler hatte zuvor mit drei Mitschülern einen anderen Mitschüler überfallen und verletzt. Wenngleich die Isle of Man nicht Teil des Vereinigten Königreichs ist, erklärte dieses 1953 gegenüber dem Europarat, dass sich der Geltungsbereich der EMRK auch auf die Isle of Man erstrecken sollte. (1) Der Schutz der Menschenwürde als eigentlicher Schutzzweck des Art. 3 EMRK Der EGMR sah in der Anordnung der Prügelstrafe eine erniedrigende Strafe und damit eine Verletzung von Art. 3 EMRK.124 Zum ersten Mal hob der Gerichtshof bei seiner Argumentation auf die Menschenwürde als den eigentlichen Schutzzweck des Art. 3 EMRK ab: „The very nature of judicial corporal punishment is that it involves one human being inflicting physical violence on another human being. Furthermore, it is institutionalised violence that is in the present case violence permitted by the law, ordered by the judicial authorities of the State and carried out by the police authorities of the State […]. Thus, although the applicant did not suffer any severe or longlasting physical effects, his punishment – whereby he was treated as an object in the power of the authorities – constituted an assault on precisely that which it is one of the main purposes of Article 3 (art. 3) to protect, namely a person’s dignity and physical integrity. Neither can it be excluded that the punishment may have had adverse psychological effects.“125

Der EGMR machte mit seinem Urteil deutlich, dass es bei dem von Art. 3 EMRK gewährten Schutz nicht nur um die physische, sondern auch um die psychische Integrität des Einzelnen geht. Zudem ist es für den Gerichtshof aber auch gerade ausschlaggebend, dass die Gewaltanwendung über einen institutionalisierten Charakter verfügt, indem sie von einem stastlichen Gericht angeordnet und von den Polizeibehörden des Staates durch – zudem noch dem Täter völlig unbekanntes – Vollzugspersonal vollstreckt wird.126 Mit der Bestrafung wird der Beschwerde­führer nach Ansicht des EGMR zum Objekt in der Gewalt der Behörden. Insbesondere dies läuft dem Zweck des Art. 3 EMRK, nämlich dem Schutz der Menschenwürde, zuwider. Ebenso wie das BVerfG unter Zuhilfenahme der Objektformel eine Würdeverletzung versucht festzustellen, sieht auch der EGMR eine Degradierung einer Person zum bloßen Objekt als einen Verstoß gegen dessen Menschenwürde an. Der Gerichtshof legt daher Art. 3 EMRK im Lichte eines Menschenwürdeverständnisses aus, das insofern dem Menschenwürdebegriff des BVerfG ähnelt. 124

EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 35. EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 33. 126 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 33. 125

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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So wie auch das BVerfG darauf verweist, dass eine Betrachtung dessen, was die Menschenwürde im Einzelnen fordert, nicht völlig von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen losgelöst werden könne,127 betonte auch der EGMR erstmals in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, dass bei der Bestimmung dessen, was als unmenschlich oder erniedrigend i. S. d. Art. 3 EMRK anzusehen ist, im Kontext der gegenwärtigen Verhältnisse zu betrachten ist.128 Dies wird damit begründet, dass es sich bei der Konvention um ein „living instrument“ handelt.129 Mittlerweile bezeichnet der Gerichtshof die Konvention in ständiger Rechtsprechung als „living instrument“130 („instrument vivant“), die „im Lichte der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse auszulegen ist“131. Mit dieser Rechtsprechung etablierte der Gerichtshof die evolutive Auslegung, die „Auslegung in der Zeit“.132 Diese Auslegung der Konvention findet vor dem Hintergrund der jeweils aktuell herrschenden Vorstellungen und gesellschaftlichen Umstände statt133 und entspricht dem Programmsatz in den Bestimmungen der Präambel zur EMRK, wonach diese eine „kollektive Garantie“ darstellt und es insbesondere das „Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Ziels die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist“ (Abs. 3). Damit trägt der EGMR gar eine Verpflichtung, eine dynamische sowie eine effektive,134 also eine den Konventionsgarantien zur größtmöglichen Wirksamkeit verhelfende, dem Grundsatz des effet utile verpflichtete135 Interpretation aller Konventionsbestimmungen136 sowie der Konvention als

127

Vgl. hierzu bereits die Einleitung zu Teil C. EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 31. 129 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 31. 130 EGMR, Urt. v. 08.07.2004, Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), NJW 2005, 727 (730). 131 EGMR, Urt. v. 08.07.2004, Beschw. Nr. 53924/00 (Vo  ./. Frankreich), NJW 2005, 727 (730); EGMR, Urt. v. 22.01.2008, Beschw. Nr. 43546/02 (E. B. ./. Frankreich), Nr. 46: „[…] the Convention is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions.“; EGMR, Urt. v. 24.06.2010, Beschw. Nr. 30141/04 (Schalk und Kopf ./. Österreich), Nr. 46. 132 Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 172 f. 133 Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (312). 134 Frowein, in: Marauhn (Hrsg.), Recht, Politik und Rechtspolitik in den internationalen Beziehungen, S. 1 (5), vergleicht die Auslegung im Sinne eines „effet utile“, also einer an einem nützlichen Ergebnis orientierten Auslegung, mit dem, was deutsche Juristen als teleologische Auslegung bezeichnen und verweigert sich damit gegen die Behauptung, dass es sich um eine rein politische Auslegung handelt. 135 Vgl. Schweizer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, § 138 Rn. 26. 136 Die evolutive Auslegung soll sich nicht nur auf die in der Konvention niedergelegten Grundrechte beziehen, sondern vielmehr auf alle Konventionsnormen. In seinem Urteil der Großen Kammer v. 12.12.2001, Beschw. Nr. 52207/99 (Bankovic u. a. ./. Belgien u. a.), Nr. 64, machte er dies deutlich: „It is true that the notion of the Convention being a living instrument to be interpreted in light of present-day conditions is firmly rooted in the Court’s case-law. The Court has applied that approach not only to the Convention’s substantive provisions […] but more relevantly to its interpretation of former Articles 25 and 46 concerning the recognition by a Contracting State of the competence of the Convention organs […].“ 128

208

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Ganzes137 vorzunehmen. Damit sind auch die Begriffe der Konvention nicht anhand des jeweiligen national geltenden Standards, sondern vielmehr anhand eines gemeinsamen europäischen Standards auszulegen.138 Der Gerichtshof machte auch in seiner weiteren Rechtsprechung deutlich, dass dies auch die Möglichkeit einschließt, zunächst als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK eingestufte Handlungen später als unmenschliche Behandlung bzw. gar als Folter anzusehen. Diese Flexibilität ist gerade vor dem Hintergrund wünschenswert, dass der Grundrechtschutz nach der Konvention flexibel bleibt, um auf neue, bislang unbekannte Bedrohungszenarien reagieren zu können bzw. weiter schrittweise ein höheres Schutzniveau zu erreichen. (2) Die absolute Geltung von Art. 3 EMRK und das Erfordernis eines gewissen Schweregrades In seinem Urteil hob der EGMR hervor, dass das in Art. 3 EMRK enthaltene Verbot absolut gelte, Ausnahmen nicht vorgesehen seien und von Art. 3 EMRK nach Art. 15 Abs. 2 EMRK auch nicht abgewichen werden könne.139 Dabei stellte der Gerichtshof klar, dass es niemals zulässig ist, auf Bestrafungen zurückzugreifen, die gegen Art. 3 EMRK verstoßen, gleichgültig welche abschreckende Wirkung sie auch haben mögen.140 Damit machte der EGMR unmissverständlich deutlich, dass eine erniedrigende Bestrafung nicht aus Gründen der Abschreckung gerechtfertigt sein kann. Somit wird schon auf der Ebene der Schutzbereichsbestimmung die absolute Grenze des Art. 3 EMRK gezogen: Liegt eine erniedrigende Strafe i. S. v. Art. 3 EMRK vor, kann diese auch nicht mehr gerechtfertigt werden, sondern es ist bereits dann eine Konventionsverletzung anzunehmen. Der Gerichtshof stellte in seiner Entscheidung klar, dass das in Art. 3 EMRK enthaltene Verbot erniedrigender Strafe vor Demütigungen oder Herabsetzungen („humiliation or debasement“) schützt, die jedoch einen gewissen Schweregrad erreichen müssen, wobei es auf die Umstände des Einzelfalls ankomme, insbesondere

137 Der EGMR hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Bestimmungen der Konvention isoliert auszulegen sind, sondern jeweils im Lichte der gesamten Konvention zu betrachten sind: „The Convention is to be read as a whole […].“ (EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Beschw. Nr. 14038/88 (Soering ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 103). 138 Ebenso Frowein / Peukert, EMRK, Art. 3 Rn. 1. 139 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 30. Siehe zur absoluten Geltung von Art. 3 EMRK bereits die obigen Ausführungen in diesem Teil. 140 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 31: „[…] it must be pointed out that a punishment does not lose its degrading character just because it is believed to be, or actually is, an effective deterrent or aid to crime control. Above all, as the Court must emphasise, it is never permissible to have recourse to punishments which are contrary to Article 3 (art. 3), whatever their deterrent effect may be.“

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

209

auf Art und Zusammenhang der Strafe sowie Art und Weise ihrer Vollstreckung.141 Der Gerichtshof hob hervor, dass die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 3 EMRK relativ sei, denn sie hänge von den jeweiligen Umständen im Einzelfall ab.142 Mit dem Erfordernis, dass der Eingriff einen bestimmten Schweregrad erreichen muss, um noch in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, bemühte sich der Gerichtshof, trotz der mit einer Einzelfallbetrachtung verbundenen Unsicherheiten, Bagatelleinwirkungen vom Schutzbereich auszunehmen143 und die Grenze dieser absoluten Garantie aufzuzeigen. Somit spielt die Frage nach der Schwere des Eingriffs eine doppelte Rolle: Sowohl bei der Frage nach der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK als auch bei der Zuordnung zu den drei Tatbestands­ varianten der Vorschrift.144 In ständiger Rechtsprechung betont der Gerichtshof mittlerweile, dass die Grenze des absolut geltenden Art. 3 EMRK relativ verläuft, denn sie bedürfe der Betrachtung im Einzelfall und hänge von den jeweiligen Umständen ab. So verwies der EGMR in der Rs. Selmouni ./. Frankreich, in der es um Misshandlungen des Beschwerdeführers im Polizeigewahrsam ging, auf Art. 1 UN-CAT, der für die Annahme von Folter ebenfalls eine bestimmte Schwere von Schmerz oder Leid voraussetzt,145 und ebenso wie die zur Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK notwendige Schwere relativ zu verstehen sei: „The Court considers that this ‚severity‘ is, like the ‚minimum severity‘ required for the application of Article 3, in the nature of things, relative; it depends on all the circumstances of the case, such as the duration of the treatment, its physical or mental effects and, in some cases, the sex, age and state of health of the victim, etc.“146

Der EGMR machte in seiner Rechtsprechung wiederholt deutlich, dass zu diesen Gesamtumständen des Falls, nach denen sich die Eingriffsschwelle bestimmen lässt, nur solche zählen, die sich auf die Person des Beschwerdeführers auswirken, unab 141 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 30: „In the Court’s view, in order for a punishment to be „degrading“ and in breach of Article 3 (art. 3), the humiliation or debasement involved must attain a particular level and must in any event be other than usual element of humiliation […]. The assessment is, in the nature of things, relative: it depends on all the circumstances of the case and, on the nature and context of the punishment itself and the manner and method of ist execution.“ 142 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 30. 143 Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  12. 144 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 27; Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  17. 145 Art. 1 Nr. 1 UN-CAT: „For the purposes of this Convention, the term „torture“ means any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally inflicted on a person […].“ 146 EGMR, Urt. v. 28.06.1999, Beschw. Nr. 25803/94 (Selmouni  ./. Frankreich), Nr. 100. Ebenso in der Rs.  Moldovan  ./. Rumänien, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01, Nr. 100, sowie im Urt. v. 10.07.2001, Beschw. Nr. 33394/96 (Price  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 24, sowie im Urt. v. 15.07.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 95.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

hängig von den Umständen und vom Verhalten des Opfers.147 Der Gerichtshof wies daher das Argument der französischen Regierung in der Rs. Tomasi ./. Frankreich zurück, die auf die besonderen Umstände auf Korsika zu der Zeit verwies sowie darauf, dass der Beschwerdeführer unter dem Verdacht stand, an einem Terroranschlag beteiligt gewesen zu sein, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen und ein weiterer schwer verletzt worden war.148 Der EGMR sah es bereits durch die medizinischen Gutachten hinreichend belegt, dass es nach Anzahl und Intensität der dem Beschwerdeführer zugefügten Schläge zu unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen gekommen war und stellte fest: „The requirements of the investigation and the undeniable difficulties inherent in the fight against crime, particularly with regard to terrorism, cannot result in limits being placed on the protection to be afforded in respect of the physical integrity of individuals.“149

Der Gerichtshof macht die Annahme einer erniedrigenden Strafe oder Behandlung und damit die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK also davon abhängig, ob eine Demütigung oder Herabsetzung der Person in einer die Menschenwürde verletzenden Weise geschieht. Die Menschenwürde ist somit schon seit der Entscheidung in der Rs. Tyrer häufig das ausschlaggebende Kriterium für die Frage, ob es sich um eine erniedrigende Behandlung oder Strafe handelt und damit der zentrale Anknüpfungspunkt bei der Schutzbereichsbestimmung von Art. 3 EMRK. Dies ist positiv zu bewerten, denn würde der Gerichtshof jede erniedrigende Behandlung oder Strafe als eine Verletzung der Menschenwürde ansehen, liefe er Gefahr, gerade die besondere Bedeutung der Menschenwürde als letzte unhintergehbare Prämisse der Rechtsordnung und absolute Grenze zwischen zulässigem staatlichem Handeln und unverletzbarem höchstpersönlichem Bereich jeder Person durch übermäßigen Gebrauch zu entwerten. Von Schwichow sieht hingegen die Menschenwürde im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK nicht als Tatbestandsmerkmal zur Bestimmung des Schutzbereichs an, sondern vielmehr „als Schranken-Schranke“150, als „vorgezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung“151. Seiner Ansicht nach nehme der EGMR eine „Vorverlagerung der Eingriffsrechtfertigung auf die Ebene der Schutzbereichsdefinition“152 vor. Demnach lege eine rein grammatikalische Auslegung des Art. 3 EMRK zunächst 147 EGMR, Urt. v. 27.08.1992, Beschw. Nr. 12850/87 (Tomasi ./. Frankreich), Nr. 114 f. Ausdrücklich formuliert dies der EGMR in seinem Urt. v. 12.07.2007, Beschw. Nr. 20877/04 (Testa ./. Kroatien), Nr. 42: „The Court reiterates that Article 3 of the Convention enshrines one of the most fundamental values of a democratic society. It prohibits in absolute terms torture or inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the circumstances and the victim’s behaviour.“; in diesem Sinne auch bereits zuvor im Urt. v. 06.04.2000 (GK), Beschw. Nr. 26772/95 (Labita ./. Italien), Nr. 119. 148 EGMR, Urt. v. 27.08.1992, Beschw. Nr. 12850/87 (Tomasi ./. Frankreich), Nr. 114. 149 EGMR, Urt. v. 27.08.1992, Beschw. Nr. 12850/87 (Tomasi ./. Frankreich), Nr. 115. 150 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 164. 151 Von Schwichow, a. a. O., S. 165. 152 Von Schwichow, a. a. O., S. 164.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

211

eine Unabwägbarkeit des Folterverbots nahe – insbesondere i. V. m. Art. 15 Abs. 2 EMRK.153 Diese „schrankenlose Unbedingtheit“154, mit der die Menschenwürde geschützt werde, verleite aber in der Praxis „zur unvermittelten Verneinung des Verletzungstatbestandes“155. Die Menschenwürde diene daher dem Gerichtshof vielmehr als „zweite Eingriffsschwelle“ und „somit als Instrument zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit i. S. des Individuums“156. Er stellt daher die Absolutheit des Schutzes durch Art. 3 EMRK grundlegend in Frage: „Aller gerichtlicher Beteuerung zum Trotz lässt sich damit feststellen, dass die scheinbare Absolutheit des Schutzes unter Art. 3 EMRK in Wirklichkeit nur eine Vorverlagerung der Verhältnismäßigkeitsprüfung und eine damit verbundene Anpassung des Schutzbereichs bedingt.“157 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass der Begriff der Schranken-Schranke hier irreführend ist. Der Gerichtshof nimmt hier auch keine Abwägung bereits auf der Ebene des Schutzbereichs vor, sondern definiert  – dies wird bereits anhand der Rechtsprechung in der Rs. Tyrer deutlich – vielmehr den Schutzbereich von Art. 3 EMRK mithilfe des Schutzgutes der absolut zu achtenden und zu schützenden Menschenwürde. Im Rahmen einer (auch vorgezogenen) Verhältnismäßigkeitsprüfung stünden sich hingegen Rechtsgüter und unter diesen auch die Menschenwürde gegenüber. Die Menschenwürde wird aber vom EGMR gerade aufgrund ihrer Absolutheit nicht in eine Abwägung eingestellt sondern dient vielmehr der Schutzbereichsbestimmung bzw. der Feststellung, ob bereits eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegt. Bereits kurz vor der Entscheidung des EGMR in der Rs. Tyrer hatte Richter Sir Gerald Fitzmaurice in seinem Sondervotum zur Rs. Irland ./. Vereinigtes Königreich158 darauf verwiesen, dass das Problem darin bestehe, dass nach dem Verständnis des allgemeinen Sprachgebrauchs unter den Begriff „erniedrigende Behandlung“ fast alles gefasst werden könne, was persönlich als unangenehm oder ablehenswert empfunden werde.159 In diesem Fall ging es um die zum Teil bei Verhören angewendeten sog. „fünf Techniken“160. Diese waren bei festgenommenen bzw. 153

Von Schwichow, a. a. O., S. 161. Von Schwichow, a. a. O., S. 163. 155 Von Schwichow, a. a. O., S. 163. 156 Von Schwichow, a. a. O., S. 166. 157 Von Schwichow, a. a. O., S. 166. 158 Separate Opinion of Judge Sir Gerald Fitzmaurice, in: EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich). 159 Separate Opinion of Judge Sir Gerald Fitzmaurice, in: EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 27. 160 Bei diesen sogenannten „fünf Techniken“ handelt es sich um folgende Maßnahmen: (1) das „wall-standing“, bei dem sich die Betroffenen mit gespreizten Armen und Beinen so gegen eine Wand stellen müssen, dass das Körpergewicht überwiegend auf den Fingern ruht, (2) das „hooding“, bei dem den Betroffenen ein Sack über den Kopf gezogen wird, der lediglich für die Zeit der Vernehmung abgenommen wird, (3) der Einsatz eines lauten Pfeiftons vor der jeweiligen Vernehmung, (4) Schlafentzug vor den Vernehmungen und (5) die Reduktion von Essen und 154

212

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

inhaftierten Personen im Zusammenhang mit dem Nordirland-Konflikt in Kombination angewendet worden, um deren Orientierung und Sinneswahrnehmungen zu stören. Der Gerichtshof hatte in dieser Entscheidung bereits betont, dass es bei den drei Tatbestandsvarianten des Art. 3 EMRK um das Leiden des Opfers geht, wobei eine Abstufung nach dem Intensitätsgrad des zugefügten Leids zu erfolgen habe.161 Der EGMR sah die kombinierte Anwendung der fünf Vernehmungstechniken zwar nicht als Folter, jedoch als unmenschliche und erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK an162 und blieb bei der Umschreibung dessen, was unter „erniedrigender Behandlung“ zu verstehen ist, noch sehr vage.163 Zwar stellte der EGMR bereits in dieser Entscheidung fest, dass die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK von der Erreichung eines gewissen Schweregrades und dieses wiederum von den Umständen des Einzelfalls abhänge.164 Der Gerichtshof bezog sich in seiner Entscheidung jedoch noch nicht auf die Menschenwürde, wohingegen Richter Sir Gerald Fitzmaurice in seinem Sondervotum diese bereits zur Bestimmung der „erniedrigenden“ Behandlung heranzog und zugleich einen gewissen Schweregrad forderte: „In the present context it can be assumed that it is, or should be, intended to denote something seriously humiliating, lowering as to human dignity, or disparaging […].“165 Sir Gerald Fitzmaurice hat in seinem Sondervotum bereits das vorweggenommen, was dann der Gerichtshof auch seit der Entscheidung in der Rs. Tyrer seiner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK zugrunde legt: Das Schweregraderfordernis und der damit im Zusammenhang stehende Verweis auf die Menschenwürde soll gerade dazu dienen, den Schutzbereich von Art. 3 EMRK auf die Eingriffe zu beschränken, die nach ihrer Art und Intensität geeignet sind, eine Missachtung der Person in ihrem Menschsein zum Ausdruck zu bringen.166 Trinken während des Lageraufenthalts und vor den Vernehmungen. Durch diese Maßnahmen sollten die Betroffenen ihre Orientierung verlieren und in ihren Sinneswahrnehmungen gestört werden. Vgl. hierzu die Ausführungen bei Weilert, Grundlagen und Grenzen des Folterverbotes in verschiedenen Rechtskreisen, S. 18 ff. 161 EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 167. 162 EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 168. 163 EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 167: „The techniques were also degrading since they were such as to arouse in their victims feelings of fear, anguish and inferiority capable of humiliating and debasing them and possibly breaking their physical or moral resistance.“ Dies kritisiert ebenfalls Judge Sir Gerald Fitzmaurice in seinem Sondervotum, a. a. O., Nr. 28. 164 EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 162. 165 Separate Opinion of Judge Sir Gerald Fitzmaurice, in: EGMR, Urt. v. 18.01.1978 (Plenum), Beschw. Nr. 5310/71 (Irland /. Vereinigtes Königreich), Nr. 27. Im Folgenden benannte er Beispiele für eine erniedrigende Behandlung nach seinem Verständnis: „having one’s head shaved, being tarred and feathered, smeared with filth, pelted with muck, paraded naked in front of strangers, forced to eat excreta, deface the portrait of one’s sovereign or head of State, or dress up in a way calculated to provoke ridicule or contempt […].“ 166 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 27.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

213

(3) Die Ableitung einer staatlichen Pflicht zum Schutz der Menschenwürde Fraglich ist, ob der Gerichtshof, indem er den Schutz der Menschenwürde neben der physischen Integrität als einen der Hauptzwecke des Art. 3 EMRK benennt, hieraus bereits eine staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwürde ableitet,167 oder ob der Gerichtshof die Menschenwürde lediglich als Interpretationshilfe bzw. teleologischen Wertungsgrundsatz des Art. 3 EMRK ansieht168. Sähe man die Menschenwürde als Letzteres, hätte dies die Konsequenz, dass damit keine normative Verpflichtung des jeweiligen Mitgliedstaates einherginge, die Menschenwürde zu achten bzw. zu schützen. Auch der EGMR wäre nicht gezwungen, die Prüfung von Grundrechtsverletzungen anhand der Menschenwürde vorzunehmen. Dies wäre hingegen der Fall, nähme man eine staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwürde an. Zudem würde die Annahme einer solchen Pflicht auch darauf hindeuten, dass der EGMR der Menschenwürdegarantie nach der Konvention eine subjektiv-rechtliche Dimension beimessen würde.169 Dafür, dass der EGMR bereits an dieser Stelle der Menschenwürde eine eigenständige Bedeutung beimisst, die über eine bloße Interpretationshilfe hinausgeht und aus der sich eine staatliche Achtungs- und Schutzpflicht ableiten lässt, spricht, dass er eine Strafe nur dann als erniedrigend i. S. v. Art. 3 EMRK ansieht, wenn ein weiteres Moment hinzutritt: das der Demütigung oder Herabsetzung – insbesondere in Form der Degradierung zu einem bloßen Objekt. Es ist danach die Pflicht des Staates, die Subjektstellung des Einzelnen zu wahren. Nicht zuletzt mit dem Verweis auf die Degradierung zu einem Objekt lässt der EGMR erkennen, dass er dem Kantschen Würdeverständnis zuneigt, wonach der Mensch niemals bloß als Mittel, sondern immer als Zweck an sich selbst zu sehen ist.170 Diese Selbstzweckhaftigkeit gipfelt in dem Achtungsanspruch, den der EGMR grundsätzlich jedem Menschen einräumt, unabhängig von dem mit der erniedrigenden Strafe verfolgten Zweck. Der Gerichtshof lässt mit dem Verbot, den Menschen zum Objekt zu degradieren, erkennen, dass er die Subjektstellung des 167

So Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 264; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 190; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 182; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK  – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 31, der davon ausgeht, dass bereits Einigkeit darüber besteht, dass Art. 3 EMRK nicht nur einen Achtungsanspruch des Individuums gegenüber dem Staat formuliert, sondern auch eine positive Schutzpflicht des Staates, die seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen vor Verstößen gegen Art. 3 EMRK zu schützen, „auch bei Bedrohung durch private Dritte.“ 168 So Maurer, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l’homme S. 329; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 104 f. 169 So Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 182. 170 Vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 190; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 119.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Einzelnen und die Stellung des Menschen als Person zu den wesentlichen Elementen der Menschenwürde zählt.171 Dies wird insbesondere auch im Urteil in der Rs. Raninen ./. Finnland deutlich. Der Gerichtshof betonte in dieser Entscheidung, dass, um festzustellen, ob eine „erniedrigende Behandlung“ i. S. v. Art. 3 EMRK vorliegt, einbezogen werden sollte, ob die betreffende Maßnahme gerade darauf abzielt, den Betroffenen in seiner Persönlichkeit zu erniedrigen oder herabzusetzen.172 Zwar stellte der Gerichtshof auch in späteren Entscheidungen klar, dass es einer solchen Zwecksetzung in Form einer Absicht von staatlicher Seite nicht bedarf, um eine „erniedrigende Behandlung“ anzunehmen.173 Dennoch kommt diesem Umstand eine gewisse Indizwirkung zu, denn er deutet an, dass es sich um eine Verletzung der Menschenwürde und damit um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK handelt. Dass der jedem Menschen zukommende Achtungs- und Schutzanspruch als etwas Unverfügbares angesehen wird, wird durch den Verweis auf die Absolutheit des in Art. 3 EMRK niedergelegten Verbots betont. Indem der EGMR die Menschenwürde als den eigentlichen Schutzzweck des Art. 3 EMRK benennt, macht der Gerichtshof deutlich, dass die Menschenwürde als äußere Grenze der Zugriffsmöglichkeiten des Staates auf den Menschen zu verstehen ist. Insofern dient die Menschenwürde nicht lediglich als Interpretationshilfe oder normverstärkende Argumentationsstütze sondern ist vielmehr als Satz des objektiven Rechts zu verstehen, der mit normativer Wirkung das Verhältnis des Einzelnen zur staatlichen Gewalt bestimmt und staatliche Macht in absoluter Weise begrenzt. Insbesondere aber die Formulierung in der Tyrer-Entscheidung „that which it is one of the main purposes of Article 3 to protect, namely a person’s dignity and physical integrity“174 deutet darauf hin, dass auch eine positive Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde auch vor dem EGMR geltend gemacht werden kann. In dieser Entscheidung deutete sich bereits die Wandlung von einer von klassischen Abwehrrechten geprägten zu einer auch Schutzpflichten statuierenden Konvention an.

171

Vgl. Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (324). EGMR, Urt. v. 16.12.1997, Beschw. Nr. 20972/92 (Raninen ./. Finnland), Nr. 55. 173 EGMR, Urt. v. 19.04.2001, Beschw. Nr. 28524/95 (Peers ./. Griechenland), Nr. 74: „However, the Court notes that, although the question whether the purpose of the treatment was to humiliate or debase the victim is a factor to be taken into account, the absence of any such purpose cannot conclusively rule out a finding of violation of Article 3 […].“; Urt. v. 18.06.2009, Beschw. Nr. 45603/05 (Budina ./. Russland), Nr. 3: „Finally, in considering whether a treatment is ‚degrading‘ within the meaning of Article 3, the Court will have regard to whether its object is to humiliate and debase the person concerned and whether, as far as the consequences are concerned, it adversely affected his or her personality in a manner incompatible with Article 3. Even the absence of such a purpose cannot conclusively rule out a finding of a violation of Article 3 […].“ 174 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 33. 172

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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(4) Die Wahrung der Selbstachtung und Selbstbestimmung als Elemente der Menschenwürde Dass der Gerichtshof die Menschenwürde zunächst insbesondere mit Art. 3 EMRK verband, der mit dem Folterverbot aber auch dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe insbesondere Fragen der Selbstbestimmung sowie die Selbstachtung des Einzelnen thematisiert,175 macht deutlich, dass auch der Gerichtshof die Menschenwürde in einen engen Zusammenhang mit diesen Aspekten bringt. Die Selbstbestimmung und Selbstachtung des Einzelnen, mithin die Autonomie des Individuums, wurden schon von internationalen Menschenrechtspakten sowie vom BVerfG in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürdegarantie nach dem GG mit der Menschenwürde in Verbindung gebracht. Ebenfalls kommen diese Aspekte in der Rechtsprechung des EuGH zum Ausdruck. Dass auch der Gerichtshof diesen Zusammenhang herstellt, wird nicht zuletzt dadurch erkennbar, dass er es bei der Prüfung, ob es sich um eine erniedrigende Strafe handelt, trotz einer objektiven Bewertung der Situation ausreichen lässt, „that the victim is humiliated in his own eyes, even if not in the eyes of others.“176 Es kommt also wesentlich darauf an, wie der Betroffene selbst die Situation bewertet und inwieweit er sich selbst als in der jeweiligen Situation ausgeliefert sieht. Diesen Umstand hat der Gerichtshof erstmals in dieser Entscheidung betont, während er in der Rs. Irland ./. Vereinigtes Königreich kurz zuvor noch keine Erwähnung gefunden hatte. Mit der Rs. Tyrer stellte der Gerichtshof zum ersten Mal vor allem auf das subjektive Empfinden des Individuums ab. Es geht nun vor allem um die Wahrung der Selbstachtung und des Selbstwert des Einzelnen, mithin seine Subjektqualität, die sich neben der physischen insbesondere auch aus seiner psychischen Integrität und Stabilität ableitet.177 Dies wurde vom Gerichtshof auch in der Rs. Peers ./. Griechenland betont, in der es um die Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Weigerung der zuständigen Behörden ging, die unhaltbaren Haftbedingungen des Beschwerdeführers zu verbessern.178 In dem Fall befand sich der Beschwerdeführer für mindestens zwei Monate in einer zum Teil unerträglich aufgeheizten Zelle ohne Belüftung und Fenster. Größtenteils war er praktisch an das Bett gefesselt und musste die in der Zelle befindliche Toilette in Gegenwart eines Mitinsassen benutzen. Der EGMR sah dies als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK und damit als Verstoß gegen die Menschenwürde an:

175

Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  10. EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Beschw. Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 32; ebenso im Urt. v. 16.12.1997, Beschw. Nr. 20972/92 (Raninen ./. Finnland), Nr. 55; Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  10. 177 Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (324). 178 EGMR, Urt. v. 19.04.2001, Beschw. Nr. 28524/95 (Peers ./. Griechenland), Nr. 75. 176

216

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

„[…] the Court is of the opinion that the prison conditions complained of diminished the applicant’s human dignity and aroused in him feelings of anguish and inferiority capable of humiliating and debasing him and possibly breaking his physical or moral resistance.“179

Das Abstellen auf die subjektive Wahrnehmung des Beschwerdeführers und dass dieser in seinem Willen nicht gebrochen wird, also weiterhin dessen Selbstachtung und Selbstbestimmung gewahrt ist, zeigt, dass sich mit der ausdrücklichen Einbeziehung der Menschenwürde in der Rs. Tyrer ein entscheidender Wandel in der Rechtsprechung des EGMR vollzog. In der Folge ist dieser Umstand wiederholt vom Gerichtshof in mit der Menschenwürde im Zusammenhang stehenden Fällen betont worden. Anhand der Rechtsprechung des EGMR wird somit deutlich, dass, auch wenn der Wortlaut dies nicht sofort erkennen lässt, Schutzzweck des Art. 3 EMRK ebenso wie von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 GRCh die Achtung und der Schutz der Menschenwürde ist.180 dd) Diskriminierungen als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK – Rs. Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich und Rs. Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2) Das in Art. 3 EMRK nach seiner Eingriffsintensität vergleichsweise mildere Tatbestandsmerkmal der „erniedrigenden Behandlung“181 ist vom EGMR nicht zuletzt mithilfe des Schweregraderfordernisses zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt diverser Fallkonstellationen von Verletzungen der Menschenwürde gemacht worden. Erst die Beantwortung der Frage, ob die Behandlung eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, ermöglichte nach der Rechtsprechung des EGMR häufig die Entscheidung darüber, ob es sich um eine erniedrigende Behandlung oder Strafe i. S. v. Art. 3 EMRK handelt. So bereitete der Gerichtshof über dieses Tatbestandsmerkmal zugleich den Weg, insbesondere auch gewisse Lebensbedingungen sowie Diskriminierungen – etwa aus Gründen ethnischer Zugehörigkeit – als Verletzung der Menschenwürde und damit von Art. 3 EMRK anzusehen, sofern die jeweiligen Handlungen eine gewisse Intensität erreicht hatten. Schon die EKMR in der Rs. East African Asians ./. Vereinigtes Königreich182 sowie der EGMR in der Rs. Zypern ./. Türkei183 sahen Diskriminierungen aufgrund der Rasse als Verlet­zung der Menschenwürde und daher als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK 179

EGMR, Urt. v. 19.04.2001, Beschw. Nr. 28524/95 (Peers ./. Griechenland), Nr. 75. Vgl. ebenso EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Beschw. Nr. 33985/96 (Smith and Grady ./. Vereinigtes König­ reich), Nr. 120; EGMR, Urt. v. 18.06.2009, Beschw. Nr. 45603/05 (Budina ./. Russland), Nr. 3. 180 Ebenso Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap. 11 Rn. 10. 181 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 104. 182 EKMR, Entsch. v. 06.03.1978, 3 EHRR (1981) 76 (East African Asians ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 203–207. 183 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 25781/94 (Zypern ./. Türkei), Nr. 306.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

217

an. Der Gerichtshof hatte in seinem Urteil ebenfalls einen Verstoß gegen die Menschenwürde und damit gegen Art. 3 EMRK von den jeweiligen Umständen und einem gewissen Schweregrad der Verletzungshandlung abhängig gemacht.184 Auch in seiner Entscheidung in der Rs. Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich stellte der Gerichtshof heraus, dass zur Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK die betreffende Behandlung einen gewissen Schweregrad („minimum level of severity“) erreicht haben muss und verwies ebenfalls auf die Umstände im Einzelfall.185 In diesem Fall hatten die Beschwerdeführer unter Verweis auf die Entscheidung der EKMR in der Rs. East African Asians186 geltend gemacht, dass der Ausschluss von Homosexuellen aus der Armee aufgrund einer entsprechenden policy des britischen Ministry of Defence und die damit verbundenen Untersuchungen und anschließenden Entlassungen als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK anzusehen seien.187 Sie argumentierten, die vor ihrer Entlassung aus der Armee durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen hätten eine auf geschmacklosen Vorurteilen basierende diskriminierende Behandlung dargestellt, die ihre Würde missachte und verletze und daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstelle.188 Wenngleich der EGMR in seiner Entscheidung feststellte, dass diese Behandlung der Beschwerdeführer trotz ihrer peinigenden und demütigenden Wirkung nicht den erforderlichen Schwellenwert überschritten habe, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen, machte der Gerichtshof deutlich, dass eine Behandlung, die auf der Voreingenommenheit einer heterosexuellen Mehrheit gegenüber einer homosexuellen Minderheit beruhe, grundsätzlich in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fallen könne.189 Dies betonte der Gerichtshof auch in seiner Entscheidung in der Rs. Identoba u. a. ./. Georgien, in der es um die Gewaltanwendung gegenüber Teilnehmern einer friedlichen Demonstration für die Rechte von LGBT ging und der Untätigkeit hiergegen durch die zuständigen Polizeibehörden.190 Auch in dieser 184 Vgl. die obigen Ausführungen […], EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 25781/94 (Zypern ./. Türkei), Nr. 306, 310. 185 EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Beschw. Nr. 33985/96 (Smith and Grady ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 120. 186 Vgl. hierzu bereits unter Punkt E. I. 3. aa). 187 EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Beschw. Nr. 33985/96 (Smith and Grady ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 117, 119. 188 EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Beschw. Nr. 33985/96 (Smith and Grady ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 119. Siehe zu diesem Urteil auch Wiemann, Sexuelle Orientierung im Völker- und Europarecht, S. 197 f. 189 EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Beschw. Nr. 33985/96 (Smith and Grady ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 121 f. 190 EGMR, Urt. v. 12.05.2015, Beschw. Nr. 73235/12 (Identoba u. a.  ./. Georgien), Nr. 65: „The Court further reiterates that discriminatory treatment as such can in principle amount to degrading treatment within the meaning of Article 3 where it attains a level of severity such as to constitute an affront to human dignity. More specifically, treatment which is grounded upon a predisposed bias on the part of a heterosexual majority against a homosexual minority may, in principle, fall within the scope of Article 3 […]. Discriminatory remarks and insults must in any event be considered as an aggravating factor when considering a given instance of ill-treatment in the light of Article 3 […].“

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Entscheidung machte der EGMR die Annahme einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK davon abhängig, dass sie einen Schweregrad erreicht, der einen Angriff auf die Menschenwürde darstellt.191 In der Rs. Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2) setzte der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung fort und nahm eine Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund rassistischer Diskriminierungen und der schlechten Lebensbedingungen der Beschwerdeführer an.192 In dieser Entscheidung ging es um die Behandlung einer Gruppe von Roma durch verschiedene staatliche Stellen. Zudem bejahte der Gerichthof eine Verletzung von Art. 8 EMRK.193 Nach Ansicht des EGMR waren die Lebensbedingungen der Beschwerdeführer über einen Zeitraum von zehn Jahren in Form überfüllter und mit schlechter sanitärer Versorgung ausgestatteter Unterkünfte und deren nachteiligen Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschwerdeführer sowie das gesamte Verhalten der staatlichen Stellen geeignet, bei diesen erhebliches seelisches Leid hervorzurufen, mithin sie in ihrer Menschenwürde herabzusetzen und in ihnen Gefühle der Demütigung oder Herabsetzung hervorzurufen.194 Diskriminierende Behandlungen durch staatliche Stellen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe sowie die Tatsache, dass die betroffenen Personen bestimmten Lebensbedingungen ausgesetzt sind, können nach Ansicht des EGMR einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen und somit eine erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK.195 Wie bereits in der Rs. Tyrer und weiteren Entscheidungen196 sah der Gerichtshof auch hier die Menschenwürde dadurch missachtet, dass der Betroffene aufgrund des Eingriffs in die psychische Stabilität und Integrität nach seinem subjektiven Empfinden in seinem Selbstwert herabgesetzt wurde. Art. 3 EMRK schützt daher nicht vor jeder Demütigung oder Herabsetzung, sondern nur vor solchen, die den jedem Menschen zukommenden 191 EGMR, Urt. v. 12.05.2015, Beschw. Nr. 73235/12 (Identoba u. a.  ./. Georgien), Nr. 65, 71. „In the light of the foregoing, the Court concludes that the treatment of the applicants must ­necessarily have aroused in them feelings of fear, anguish and insecurity (compare with ­Begheluri and Others, cited above, §§ 108 and 117), which were not compatible with respect for their human dignity and reached the threshold of severity within the meaning of Article 3 taken in conjunction with Article 14 of the Convention.“ (Nr. 71). 192 EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2)), Nr. 113. 193 EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2)), Nr. 109. 194 EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2)), Nr. 110: „[…] thus diminishing their human dignity and arousing in them such feelings as to cause humiliation and debasement.“ 195 EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2)), Nr. 113: „In the light of the above, the Court finds that the applicants’ living conditions and the racial discrimination to which they have been publicly subjected by the way in which their grievances were dealt with by the various authorities, constitute an interference with their human dignity which, in the special circumstances of this case, amounted to ‚degrading treat­ ment‘ within the meaning of Article 3 of the Convention.“ 196 Vgl. zu dieser Rechtsprechung unter Punkt E. I. 3. a) cc).

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Achtungsanspruch vermissen lassen bzw. seine Subjektstellung missachten und damit gegen die Menschenwürde verstoßen. Zwar nahm der EGMR in seiner Entscheidung in der Rs. Moldovan ./. Rumänien auch eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i. V. m. Art. 6 und 8 EMRK an.197 Jedoch bezog sich der Gerichtshof hierbei – anders als bei der Prüfung von Art. 3 EMRK – nicht auf die Menschenwürde. Dass der Gerichtshof das Diskriminierungsverbot mit der Menschenwürde nur im Rahmen des Art. 3 EMRK verband, ist konsequent. Denn der EGMR setzt für die Annahme einer Diskriminierung bei dem akzessorischen Gleichheitssatz des Art. 14 EMRK, der nur dann Anwendung findet, wenn der Schutzbereich eines anderen Grundrechts der Konvention eröffnet ist, voraus, dass die Ungleichberechtigung nicht gerechtfertigt ist.198 Eine Diskriminierung, die gegen die Menschenwürde verstößt, kann hingegen gar nicht gerechtfertigt sein, denn die Menschenwürde gilt absolut. Insofern ist es richtig, einen Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung, der zugleich eine Ver­letzung der Menschenwürde darstellt, beim vorbehaltlos anwendbaren Art. 3 EMRK zu verorten. So wie auch bei der Herausbildung des ideengeschichtlichen Menschenwürdebegriffs die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen ebenso eine wichtige Rolle gespielt hat wie hinsichtlich des Rechtsbegriffs,199 lässt auch der EGMR in seiner Rechtsprechung erkennen, dass mit der Menschenwürde das Gebot der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung verbunden ist. Eine staatliche Diskriminierung etwa aus Gründen ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Identität, Rasse oder Religion verbietet sich nach der Rechtsprechung des EGMR schon aufgrund der zu achtenden und zu schützenden Menschenwürde.200

197 EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2)), Nr. 140. 198 EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Beschw. Nr. 41138/98 und 64320/01 (Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2)), Nr. 136 f. 199 Vgl. die obigen Ausführungen Teil B; dies zeigt insbesondere auch die mehrfache Betonung der Gleichheit in der AEMR: Art. 1 AEMR betont, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind und in Art. 2 AEMR findet sich das Verbot der Diskriminierung; O’Mahoney, ICON (2012). Vol. 10 No. 2, S. 551, 560: „[…] perhaps the most universally recognized aspect of human dignity is its equal treatment and respect aspect […].“; ebenso McCrudden, EJIL 2008, S. 655 (689 ff., 723). 200 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 94 f., 96, scheint hingegen davon auszugehen, dass der EGMR aus der Menschenwürde und Art. 3 EMRK nur einen Schutz vor schwerer staatlicher Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, Rasse oder Religion gewährt (von Schwichow, a. a. O., S. 96) und ein Schutz vor Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Identität nur im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK relevant wird (von Schwichow, a. a. O., S. 134). Hingegen habe der EGMR nach Ansicht von Schwichows, a. a. O., S. 134, „die sexuelle Orientierung des Individuums bisher nicht mit der Menschenwürde in Verbindung“ gebracht.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

ee) Die Menschenwürde als Hauptanknüpfungspunkt von Art. 3 EMRK – Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich Bei der Bestimmung dessen, was als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK anzusehen ist, war die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich wegweisend. Weitergehend als in seiner bisherigen Rechtsprechung bezog der Gerichtshof hier die Menschenwürde in die Begriffsbestimmung ein und machte die Menschenwürde zum Hauptanknüpfungspunkt bei der Prüfung von Art. 3 EMRK, wenngleich er eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Ergebnis verneinte.201 Zugleich betonte der Gerichtshof die herausgehobene Stellung der Menschenwürde im Gefüge des Europaratsrechts, indem er feststellte, was mittlerweile ständige Rechtsprechung ist: „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.“202

Diese Entscheidung ist daher für die weitere Herausbildung und genauere Konturierung des Menschenwürdekonzepts der EMRK von erheblicher Bedeutung.203 Neben Art. 3 EMRK bezog sich der Gerichtshof bei seiner Prüfung insbesondere auch auf Art. 8 EMRK204 sowie auf Art. 2 EMRK. Die Beschwerdeführerin litt an einer unheilbaren Erkrankung des motorischen Nervensystems, die zu einer zunehmenden Lähmung der Muskeln führt. Infolge dieser Krankheit war sie bereits vom Kopf abwärts gelähmt und hatte nur noch wenige Wochen oder Monate zu leben. Aus Angst vor noch größerem Leid und entsprechend ihrem Willen nach einem Sterben in Würde beabsichtigte sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Da sie dies jedoch nicht selber durchführen konnte, sollte ihr dabei ihr damit einverstandener Ehemann zu Hilfe kommen. Die britischen Behörden sowie der High Court wiesen jedoch ihr Begehren zurück, ihrem Mann für die Beihilfe zum Selbstmord Straffreiheit zu gewähren. Die Beschwerdeführerin bezog sich in ihrer Argumentation vor dem Gerichtshof insbesondere auf Art. 3 EMRK und sah das Leid, dem sie ausgesetzt war, als erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK an.205 Dabei verwies sie auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK. Danach trüge der Staat nicht nur negative Verpflichtungen, derlei verletztende Handlungen zu unterlassen, sondern vielmehr eine positive Verpflichtung, seinen Bürgern entsprechenden Schutz zu gewähren, der sie vor zu erwartendem Leiden bewahrt.206 Der Gerichtshof nahm in seinem Urteil eine Definition der „erniedrigenden Behandlung“ i. S. v. Art. 3 EMRK vor und bezog dabei erstmals explizit die Menschenwürde ein: 201

EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 65. 203 So auch Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-War Europe, S. 221. 204 Siehe hierzu die noch folgenden Ausführungen unter Punkt E. I. 3. b). 205 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 206 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 202

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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„Where treatment humiliates or debases an individual, showing  a lack of respect for, or diminishing, his or her human dignity, or arouses feelings of fear, anguish or inferiority capable of breaking an individual’s moral and physical resistance, it may be characterised as degrading and also fall within the prohibition of Article 3.“207

Der EGMR verneinte jedoch im Ergebnis das Vorliegen einer erniedrigenden Behandlung und somit eine Verletzung von Art. 3 EMRK. So zweifelte der Gerichtshof in seinem Urteil schon an, ob es sich hier überhaupt um eine „Behandlung“ i. S. v. Art. 3 EMRK handelte.208 Der Gerichtshof verwies zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, nach der es in bestimmten Fällen in der Tat eine positive Verpflichtung des Staates geben könne, Schutz vor Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu bieten.209 Dies habe der Gerichtshof auch in Fällen anerkannt, in denen die Behandlung durch Private erfolgt sei, etwa im Falle schweren Missbrauchs und Vernachlässigung von Kindern durch deren Eltern.210 Der EGMR stellte jedoch klar, dass es keine aus Art. 3 EMRK ableitbare positive Verpflichtung eines Mitgliedstaats geben könne, Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führten bzw. dabei Hilfe leisteten, menschliches Leben zu beenden.211 Daher kam der EGMR zu dem Ergebnis: „[…] no positive obligation arises under Article 3 of the Convention to require the respondent State either to give an undertaking not to prosecute the applicant’s husband if he assisted her to commit suicide or to provide a lawful opportunity for any other form of assisted sucide.“212

Mit seiner Entscheidung zeigte der Gerichtshof auf, dass eine erniedrigende Behandlung gem. Art. 3 EMRK dann vorliegt, wenn eine staatliche Handlung oder Unterlassung die Menschenwürde einer Person, also das, was den Kern der Konvention ausmacht, missachtet. Zugleich ließ der EGMR aber auch erkennen, wo die staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwürde endet. ff) Die Frage nach der Erforderlichkeit der Gewaltanwendung – Rs. Ribitsch ./. Österreich In der Rs. Ribitsch ./. Österreich ging es um die Anwendung von körperlicher Gewalt durch Schläge und Tritte u. a. an den Kopf gegenüber einer in Polizeigewahr­ sam befindlichen Person, so dass es zu inneren und äußeren Verletzungen dieser 207

EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 52. EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 53. 209 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 51: Der EGMR verwies darauf, dass sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten „to take measures designed to secure that individuals within their jurisdiction are not subjected to torture or inhuman and degrading treatment or punishment, including such treatment administered by private individuals“ aus der sich aus Art. 1 EMRK ergebenden Verpflichtung i.Vm. Art. 3 EMRK ergebe. 210 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 51. 211 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 55. 212 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 56. 208

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Person kam. Der Gerichtshof nahm in seiner Entscheidung eine Verletzung von Art. 3 EMRK an.213 Zunächst gelangte der EGMR zu der Überzeugung, dass die Verletzungen des Beschwerdeführers ein Mindestmaß an Schwere erreicht hatten, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen.214 Allein bei dieser Wirkung beließ es der Gerichtshof jedoch nicht. Vielmehr stellte er zur Feststellung einer Verletzung der Menschenwürde und damit von Art. 3 EMRK zudem darauf ab, ob die Gewaltanwendung im Hinblick auf das eigene Verhalten des Opfers unbedingt erforderlich war: „The Court emphasises that, in respect of a person deprived of his liberty, any recourse to physical force which has not been made strictly necessary by his own conduct diminishes human dignity and is in principle an infringement of the right set forth in Article 3 (art. 3) of the Convention.“215

Mit seiner Entscheidung wollte der Gerichtshof jedoch keine Abkehr vom absoluten Schutzcharakter des Art. 3 EMRK vollziehen. So wird vom Gerichtshof auch in dieser Entscheidung wie in seiner folgenden Rechtsprechung die absolute Wirkung der in Art. 3 EMRK niedergelegten Verbotstatbestände betont.216 Zwar wurde hier anders als noch in der Entscheidung in der Rs. Tyrer für die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung nicht mehr nur allein auf die Wirkung der Gewaltanwendung beim Opfer abgestellt, sondern zudem danach gefragt, inwieweit das Verhalten des Opfers eine Gewaltanwendung erforderlich macht. Insofern bezog der EGMR schon bei der Feststellung, ob die Gewaltanwendung überhaupt in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fällt, einen Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein.217 Dies soll jedoch entgegen der zum Teil in der Literatur vertretenen Ansicht218 nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Verletzung von Art. 3 EMRK verhältnismäßig sein kann und eine Verletzung im Wege der Abwägung mit anderen Rechtsgütern überwunden werden kann. Denn der Gerichtshof nahm keine 213

EGMR, Urt. v. 04.12.1995, Beschw. Nr. 18896/91 (Ribitsch ./. Österreich), Nr. 38 ff. EGMR, Urt. v. 04.12.1995, Beschw. Nr. 18896/91 (Ribitsch ./. Österreich), Nr. 37. 215 EGMR, Urt. v. 04.12.1995, Beschw. Nr. 18896/91 (Ribitsch ./. Österreich), Nr. 38; ebenso EGMR, Urt. v. 15.05.2008, Beschw. Nr. 7178/03 (Dedovskiy u. a. ./. Russland), Nr. 73; EGMR, Urt. v. 17.05.2011, Beschw. Nr. 29835/05 (Gazioglu u. a. ./. Türkei), Nr. 42. 216 EGMR, Urt. v. 04.12.1995, Beschw. Nr. 18896/91 (Ribitsch ./. Österreich), Nr. 32; ebenso auch etwa im Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 50; Urt. v. 30.06.2008 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 87: hiernach soll kein noch so gewichtiges gegenläufiges Interesse einen Verstoß gegen das Folterverbot rechtfertigen können; Urt. v. 03.11.2009, Beschw. Nr. 10049/04 (Staszewska ./. Polen), Nr. 54. 217 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 35. 218 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 106, unter Verweis auf die Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs: „Obwohl Art. 3 EMRK keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt enthält, lässt sich in der Rechtsprechungspraxis eine Abwägung im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erkennen. Eingriffe in den durch Art. 3 EMRK garantierten Schutzbereich sind demnach dann zulässig, wenn diese notwendig und Maß haltend vor sich gehen.“ Im Widerspruch hierzu steht allerdings die Bekräftigung von Krammer, wonach die Konvention mit absoluten Worten sowohl Folter als auch unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet (S. 108). 214

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Verhältnismäßigkeitsprüfung im Anschluss an die Feststellung, dass ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK vorliegt, vor. Vielmehr nahm der EGMR bereits auf Schutzbereichsebene dann eine Behandlung aus dem Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK heraus, wenn sie erforderlich ist, wobei er zugleich aufzeigte, wo die absolute Grenze verläuft und wann eine Erforderlichkeit nicht mehr angenommen werden kann. Eine Verhältnismäßigkeit der Verletzung der Menschenwürde und von Art. 3 EMRK und damit eine Eingriffsrechtfertigung kann es wegen des Absolutheitsanspruchs der in Art. 3 EMRK niedergelegten Rechte auch nicht geben, sodass hier die Frage nach der Erforderlichkeit bereits auf Schutzbereichsebene thematisiert wird und somit zur Bestimmung der Reichweite der Menschenwürdegarantie selbst dient. Dass eine Rechtfertigung nicht in Betracht kommt, stellte der Gerichtshof zudem an derselben Stelle des Urteils ausdrücklich klar: „It reiterates that the requirements of an investigation and the undeniable difficulties inherent in the fight against crime cannot justify placing limits on the protection to be afforded in respect of the physical integrity of individuals […].“219 Der EGMR machte mit dieser sowie weiteren, an diese Entscheidung anknüpfenden Entscheidungen deutlich, dass jede Form unverhältnismäßiger Gewaltanwendung im Rahmen des Freiheitsentzugs als Verstoß gegen die Menschenwürde und damit gegen Art. 3 EMRK anzusehen ist.220 Der Gerichtshof betonte zwar wiederholt, dass die absolute Geltung der Verbotstatbestände des Art. 3 EMRK bedeutet, dass die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK unabhängig von den Umständen und vom Verhalten des Opfers zu bestimmen ist.221 Dem steht jedoch nicht entgegen, dass der Gerichtshof in Bezug auf die Behandlung von Inhaftierten bzw. in Polizeigewahrsam befindlichen Personen nun auch auf das Verhalten des Opfers abstellt. Der Gerichtshof stellte damit nicht die absolute Geltung von Art. 3 EMRK in Frage. Mit seiner Entscheidung in der Rs. Ribitsch ./. Österreich durchbrach der Gerichtshof auch nicht wie zum Teil angenommen seine bisherige Rechtsprechungslinie, wonach es zur Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK allein der Erreichung eines gewissen Schweregrades bedarf.222 Vielmehr wurde hier das Schweregradargument konkretisiert und um ein erhöhtes Erklärungserfordernis in dem menschenwürdesensiblen Bereich der Ingewahrsamnahme und Inhaftierung von Personen erweitert. Insofern sichert der Gerichtshof einen menschenwürdegerechten Standard für die Behandlung Inhaftierter.223 219

EGMR, Urt. v. 04.12.1995, Beschw. Nr. 18896/91 (Ribitsch ./. Österreich), Nr. 38. Vgl. in der Folge etwa im Urt. v. 09.06.1998, Beschw. Nr. 22496/93 (Tekin ./. Türkei), Nr. 53. In dieser Entscheidung sah es der EGMR als eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und als eine Herabsetzung der Menschenwürde des Beschwerdeführers an, dass dieser in einer kalten, dunklen Zelle, mit verbundenen Augen zurückgelassen wurde und im Rahmen einer Vernehmung so mißhandelt wurde, dass er Wunden und Prellungen an seinem Körper davontrug. 221 Vgl. EGMR, Urt. v. 06.04.2000, Beschw. Nr. 26772/95 (Labita ./. Italien), Nr. 119; Urt. v. 15.11.1996, Beschw. Nr. 22414/93 (Chahal ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 79. 222 So aber Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 157. 223 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 112. 220

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Gerade in Fällen, in denen sich die betroffene Person in der Gewalt von Behörden befindet und in denen sie daher in besonderer Weise staatlicher Gewalt ausgeliefert ist, besteht nicht nur die Gefahr der Demütigung, sondern vor allem, dass sie zum Objekt in den Händen des Staates wird. Um der besonderen Situation des Ausgeliefertseins und damit der Gefahr von Exzessen224 entgegenzuwirken, ist schon bei der Feststellung, ob ein Minimum an Schwere erreicht ist und damit eine Menschenwürdeverletzung vorliegt, nach der unbedingten Erforderlichkeit der Gewaltanwendung zu fragen. Insofern fordert der Gerichtshof von den Staaten eine plausible Erklärung.225 Gerade die Achtung der Subjektstellung der betroffenen Person erfordert, dass ein Eingriff in ihre Rechte sowie ihre körperliche und geistige Integrität gerechtfertigt werden kann.226 Eine Rechtfertigung kommt dann nicht mehr in Betracht und stellt eine unverhältnismäßige Gewaltanwendung dar, sodass ein gewisser Grad an Schwere erreicht und damit der Schutzbereich des Art. 3 EMRK eröffnet ist, wenn die einzelne Person dem Staat dergestalt ausgeliefert ist, dass sie ihre Subjektstellung verliert. Dementsprechend hat der EGMR auch eine Gewaltanwendung im Rahmen von Polizeieinsätzen etwa zum Zweck der Verhaftung oder gegenüber im öffentlichen Gewahrsam befindlichen Personen grundsätzlich als zulässig erachtet.227 So stellte der Gerichtshof etwa in der Rs. Hellig ./. Deutschland fest: „According to the Court’s case-law, Article 3 does not prohibit in absolute terms the use of force against persons in public custody. However, such force may be used only if indispensable and must not be excessive.“228 Hieran schloss der Gerichtshof wieder seine Formel aus der Rs. Ribbitsch ./. Österreich an und betonte die Erforderlichkeit der Maßnahmen, da sie ansonsten den Betroffenen in seiner Menschenwürde herabsetzen würde.229 Dass die Gewaltanwendung somit nicht in absoluter Weise verboten ist, ist auch folgerichtig, wenn die betroffene Person nach wie vor die Möglichkeit hat, unter Wahrung ihrer Selbstachtung ihrem eigenen Willen gemäß die Situation zu steuern und etwa keinen Widerstand bei der Verhaftung zu leisten. 224

Bröhmer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, § 139 Rn. 32 f. 225 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 35. 226 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 158. 227 EGMR, Urt. v. 02.04.2009, Beschw. Nr. 22684/05 (Muradova ./. Aserbaidschan), Nr. 109. Nach der Feststellung, dass Art. 3 EMRK unter ganz bestimmten Umständen Gewaltanwendungen nicht verbietet, stellt der Gerichtshof aber auch in dieser Entscheidung auf die Erforderlichkeit ab: „However, such force may be used only if indispensable and must not be excessive […]. Recourse to physical force which has not been made strictly necessary by a person’s own conduct diminishes human dignity and is in principle an infringement of the right set forth in Article 3 of the Convention.“; vgl. ebenso bereits zuvor im Urt. v. 24.07.2007, Beschw. Nr. 36672/97 (Kurnaz u. a. ./. Türkei), Nr. 52 m. w. N.: „[…] Article 3 does not prohibit the use of force in certain well-defined circumstances such as to effect an arrest. However, such force may be used only if indispensable and must not be excessive […].“ Ebenso im Urt. v. 03.11.2009, Beschw. Nr. 10049/94 (Staszewska ./. Polen), Nr. 53. 228 EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 33. 229 EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 33.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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gg) Menschenwürdige Bedingungen in der Haft – Rs. Valasina ./. Litauen Das besondere Problem der Schutzlosigkeit von Personen hat der EGMR neben den Fällen des Polizeigewahrsams auch in den Fällen, die Fragen von Haftbedingun­ gen betreffen, erkannt. Im Rahmen der Frage nach menschenwürdigen Bedingungen in der Haft konkretisierte der Gerichtshof, welche Pflichten in diesem Zusammenhang dem jeweiligen Staat obliegen. In der Rs. Valasina ./. Litauen beschäftigte sich der Gerichtshof neben sonstigen widrigen Haftbedingungen auch mit der Vereinbarkeit von Leibesvisitationen mit der Konvention. Dabei formulierte er nicht nur eine Verpflichtung des jeweiligen Staates zur Achtung der Menschenwürde, sondern stellte zudem auch eine Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde fest. Der Gerichtshof hob in dieser Entscheidung noch einmal ausdrücklich die besondere Situation des Freiheitsentzuges für den Inhaftierten hervor. Da dem Freiheitsentzug ohnehin häufig das Element des Leidens und der Demütigung innewohnt, muss nach Ansicht des EGMR der betreffende Staat sicherstellen, dass die Inhaftierung einer Person unter die Menschenwürde achtenden Bedingungen erfolgt.230 Bereits in der Rs. Kudła ./. Polen hatte der Gerichtshof betont, dass der jeweilige Staat sicherzustellen hat, dass zu den menschenwürdigen Bedingungen, unter denen eine inhaftierte Person untergebracht werden muss, auch ein entsprechender Zugang zu medizinischer Versorgung zählt.231 In seiner Entscheidung in der Rs. Valasina ./. Litauen bestätigte der Gerichtshof diese Rechtsprechung, bezog sie nun aber nicht mehr nur auf eine sicherzustellende medizinische Grundversorgung, sondern vielmehr auf die gesamten Umstände der Haft. Dies stellte der Gerichtshof sicher, indem er auch hier forderte, dass der Strafvollzug nicht über das unvermeidbare Maß des mit einer Inhaftierung einhergehenden Leids hinausgehen dürfe.232 Daher sah der Gerichtshof Leibesvisitationen zur Sicherstellung der Gefängnissicherheit und -ordnung und zur Vermeidung von 230

EGMR, Urt. v. 24.07.2001, Beschw. Nr. 44558/98 (Valasinas ./. Litauen), Nr. 102. EGMR, Urt. v. 26.10.2000, Beschw. Nr. 30210/96 (Kudła ./. Polen), Nr. 94: „Nevertheless, under this provision the State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that, given the practical demands of imprisonment, his health and well-being are adequately secured by, among other things, providing him with the requisite medical assistance […].“ Im Ergebnis verneinte der Gerichtshof in dieser Entscheidung jedoch einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, da der erforderliche Schweregrad nicht erreicht worden sei (Nr. 100). 232 EGMR, Urt. v. 24.07.2001, Beschw. Nr. 44558/98 (Valasinas ./. Litauen), Nr. 102: „[…] the State must ensure that a person is detained in conditions which are compatible with respect for his human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that, given the practical demands of imprisonment, his health and well-being are adequately secured […].“ 231

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Straftaten zwar grundsätzlich als notwendig an, sofern sie allerdings in angemessener Weise durchgeführt werden.233 Als mit der Menschenwürde unvereinbar und somit als erniedrigende Behandlung gem. Art. 3 EMRK wertete es der EGMR jedoch, dass der Beschwerdeführer gezwungen war, sich im Beisein einer Frau nackt auszuziehen und anschließend an den Genitalien von Gefängnisaufsehern berühren zu lassen, die daraufhin sein Essen mit denselben ungewaschenen Händen anfassten. Dies zeige „a clear lack of respect for the applicant, and diminished in effect his human dignity. It must have left him with feelings of anguish and inferiority capable of humiliating and debasing him.“234 Diese Formel zur Umschreibung dessen, was als Verletzung der Menschenwürde zu werten ist, wird vom Gerichtshof immer wieder im Zusammenhang mit dem Tatbestandsmerkmal der erniedrigenden Behandlung gem. Art. 3 EMRK gewählt und dann weiter ausgebaut. Damit zeigt der EGMR, dass es ihm wie schon in der Rs. Tyrer um die Wirkung geht, die die Behandlung beim Opfer auslöst, um dessen subjektives Empfinden und die Wahrung seiner Selbstachtung und seines Selbstwertgefühls. Indem der Gerichtshof den mangelnden Respekt gegenüber der Person des Opfers und das Hervorrufen von Gefühlen der Angst und der Minderwertigkeit betont, bezieht er sich vor allem auf das Moment der Demütigung.235 Zugleich deutet sich an, dass gerade dann, wenn die Intimsphäre einer Person betroffen ist – etwa in Fällen, in denen sich der Betroffene komplett entkleiden musste – der Gerichtshof um so eher einen Verstoß gegen die Menschenwürde annimmt.236 hh) Einzelhaft sowie Unterbringung in der Sicherheitszelle ohne Kleidung – Rs. Hellig ./. Deutschland, Rs. van der Ven ./. Niederlande und Rs. Ramirez Sanchez ./. Spanien Der Gerichtshof sieht die Einzelhaft bislang nicht aufgrund der Menschenwürde als per se mit der EMRK unvereinbar an.237 So bewertete der EGMR etwa eine Einzelhaft über zwölf Jahre noch nicht als grundsätzlich konventionswidrig.238 Zur 233

EGMR, Urt. v. 24.07.2001, Beschw. Nr. 44558/98 (Valasinas ./. Litauen), Nr. 117. EGMR, Urt. v. 24.07.2001, Beschw. Nr. 44558/98 (Valasinas ./. Litauen), Nr. 117. In einem vergleichbaren Fall, in dem sich der Beschwerdeführer zum Zweck der Leibesvisitation ebenfalls vor einer Gruppe von Gefängniswärtern ausziehen musste, stellte der Gerichtshof ebenfalls einen Verstoß gegen die Menschenwürde des Beschwerdeführers fest: „In addition, whilst strip searches may be necessary on occasions to ensure prison security or prevent disorder in prisons, they must be conducted in an appropriate manner. In the present case, the prison’s guards verbally abused and derided the applicant. Their behaviour was intended to cause in the applicant feelings of humiliation and inferiority. This, in the Court’s view, showed a lack of respect for the applicant’s human dignity.“ (EGMR, Urt. v. 15.11.2001, Beschw. Nr. 25196/94 (Iwanczuk ./. Polen), Nr. 59. 235 Vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 31. 236 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 156. 237 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 66. 238 EGMR, Urt. v. 12.11.2005, Beschw. Nr. 56317/00 (Argenti ./. Italien), Rn. 6 ff. 234

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Feststellung, ob die Haftsituation noch mit der Konvention im Einklang steht, fragte der Gerichtshof aber wiederholt danach, inwieweit dem Häftling noch Kontakt- und Interaktionsmöglichkeiten zur Außenwelt und zu Mitmenschen verblieben,239 mithin über welche Möglichkeiten zu einer gewissen Selbstbestimmung und Selbstachtung der Häftling noch verfügte. So bezog sich der Gerichtshof wiederholt im Zusammenhang mit Fällen der Einzelhaft auf die Menschenwürde und fragte vor allem zur Feststellung, ob es sich um eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK handelte, danach, ob die Behandlung beim Opfer Gefühle der Angst, Furcht oder Unterlegenheit auslöst, die geeignet sind, es zu demütigen oder zu erniedrigen und so die physische oder moralische Widerstandskraft zu brechen.240 In seinem Urteil in der Rs. Hellig ./. Deutschland stellte der Gerichtshof aus diesem Grund eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung fest, da der Gefängnisinsasse in einer Sicherheitszelle ohne jegliche Kleidung über einen Zeitraum von sieben Tagen verbleiben musste.241 Eine Rechtfertigung dieser brutalen Maßnahme („harsh treatment“) verneinte der Gerichtshof, da sich etwa auch eine Selbstverletzungs- bzw. Selbstmordgefahr nach der Beweiserhebung vor dem Tatsachengericht nicht ergeben habe.242 Das BVerfG bezog sich in einer Kammerentscheidung vom 18.03.2015243 auf diese Entscheidung des EGMR. Hierin sah es das BVerfG als mit der Menschenwürde unvereinbar an und bejahte einen Verstoß gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, dass der Beschwerdeführer einen Tag lang vollständig entkleidet in einer durchgängig videoüberwachten Gefängniszelle untergebracht war.244 Zunächst verwies das BVerfG auf seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 1 Abs. 1 GG, wonach der öffentlichen Gewalt jede Behandlung verboten sei, „die die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt.“245 Sodann hob das Gericht hervor, dass dies für den Strafvollzug bedeute, „dass die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins dem Gefangenen auch in der Haft erhalten bleiben müssen und der Staat zu den dafür erforderlichen Leistungen verpflichtet ist.“246 Das BVerfG ging in seiner Entscheidung davon aus, dass seine Wertung auch der Rechtsprechung des EGMR zugrunde läge und verwies auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Wertung des EGMR bei der Aus-

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Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 66. 240 EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 33, 51; Urt. v. 04.02.2003, Beschw. Nr. 50901/99 (van der Ven ./. Niederlande), Nr. 48, 62. 241 EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 56 f. 242 EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 56 f. 243 BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13. 244 BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 29. 245 BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 30. 246 BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 30.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

legung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen seien.247 Das BVerfG formulierte in aller Deutlichkeit, dass dem betreffenden Staat eine Verpflichtung zur Leistung daraus erwächst, dass auch dem Inhaftierten ein menschenwüdiges Dasein garantiert werden muss. Darüber hinaus nahm das BVerfG auch Bezug auf Feststellungen des CPT in vergleichbaren Fällen, denn „[b]ei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Haftbedingungen ist auch die Indizwirkung internationaler Standards mit Menschenrechtsbezug zu berücksichtigen.“248 Bezog sich bereits der EGMR in seiner Entscheidung in der Rs. Hellig ./. Deutschland in einer ähnlich gestalteten Fallkonstellation auf die Menschenwürde, griff das BVerfG dies auf und glich seine Rechtsprechung ganz im Sinne der vom Gericht immer zuvor deutlich betonten Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes mit der des EGMR ab.249 In seinem Urteil in der Rs. van der Ven ./. Niederlande stellte der EGMR unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung fest, dass grundsätzlich die räum­ liche Trennung eines Inhaftierten von anderen Gefängnisinsassen aus Gründen der Sicher­heit, Ordnung oder des Schutzes nicht per se als unmenschliche Behandlung oder erniedrigende Strafe i. S. v. Art. 3 EMRK anzusehen sei.250 Vielmehr müssten die besonderen Umstände betrachtet werden: „the stringency of the measure, its duration, the objective pursued and its effects on the person concerned“251. Aus diesen Umständen ergibt sich dann, ob die Einzelhaft gegen Art. 3 EMRK verstößt. Unmissverständlich machte der Gerichtshof aber deutlich, wann eine unmenschliche Behandlung vorliegt und die Einzelhaft den notwendigen Respekt vor der Menschenwürde vermissen lässt: Der EGMR bemühte zunächst seine in Haftfällen gängige Formel, wonach Art. 3 EMRK den Konventionsstaaten abverlangt, dass die betroffene Person unter Bedingungen inhaftiert ist, die mit der Menschenwürde vereinbar ist und fuhr mit der Feststellung fort, die schon die EKMR im Jahre 1978 in der Rs. Ensslin, Baader und Raspe ./. Deutschland getroffen hatte252: „In this context, complete sensory isolation, coupled with total social isolation, can destroy the 247

BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 31. BVerfG (Kammer), Beschl. v. 18.03.2015, 2 BvR 1111/13, Rn. 31. 249 In diesem Sinne auch Steinbeis, Nackt in der Zelle: Menschenwürde im deutschen Strafvollzug, http://www.verfassungsblog.de/nackt-in-der-zelle-menschenwuerde-im-deutschen-straf​ vollzug/, zul. einges. am 01.12.2018: „Mit seinem heutigen Kammerbeschluss richtet das BVerfG, wie es sich im europäischen Verfassungsgerichtsverbund gehört, die verfassungs- und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der deutschen öffentlichen Gewalt parallel zueinander aus.“ Steinbeis geht allerdings unzutreffend davon aus, dass in dem Urteil des EGMR in der Rs. Hellig ./. Deutschland die Menschenwürde nicht unmittelbar vorkomme. Wie bereits dargestellt, macht der EGMR diese aber zur Grundlage seiner Entscheidung darüber, ob es sich um eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK handelt. 250 EGMR, Urt. v. 04.02.2003, Beschw. Nr. 50901/99 (van der Ven ./. Niederlande), Nr. 51. 251 EGMR, Urt. v. 04.02.2003, Beschw. Nr. 50901/99 (van der Ven ./. Niederlande), Nr. 51. 252 EKMR, Entscheidung v. 08.07.1978, Beschw. Nr. 7572/76, 7586/76 und 7587/76 (Ensslin, Baader und Raspe ./. Deutschland), S. 64. Die EKMR bezog sich jedoch in ihrer Entscheidung nicht auf die Menschenwürde. 248

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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personality and constitutes a form of inhuman treatment which cannot be justified by the requirements of security or any other reason.“253 Der Gerichtshof zeigte hier deutlich die Grenze des Zulässigen bei der Einzelhaft auf. Dort, wo der einzelne in Sinnesisolation, verbunden mit einer totalen sozialen Isolation gehalten wird, sodass dies seine Personalität zerstört, ist die Schwelle zur unmenschlichen Behandlung überschritten. Es geht dem EGMR somit darum, dass dem Betroffenen auch in der Haft die Möglichkeit verbleibt, seine Personalität zu wahren. Der Entscheidung in der Rs. Ramirez Sanchez ./. Frankreich zufolge soll dies etwa dann noch der Fall sein, wenn der Inhaftierte zwar von Aktivitäten der Mithäftlinge ausgeschlossen wird, jedoch Zugang zu Fernsehen und Zeitungen hat, an Sprachkursen teilnehmen kann, Kontakt zu einem Seelsorger sowie wöchentlich zu einem Anwalt hat und Besuch von Familienmitgliedern erhalten kann.254 Es kommt mithin wieder auf die Umstände des Einzelfalls an. Im Urteil der Großen Kammer in der Rs. Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich255, in der es um die Frage der Vereinbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe mit Art. 3 EMRK ging, bezog sich der Gerichtshof auch auf die Rechtsprechung des BVerfG in dessen Urteil zur Lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 1977256 und verwies auf die Feststellung des Gerichts, „that the State could not turn the offender into an object of crime prevention to the detriment of his constitutionally protected right to social worth. Respect for human dignity and the rule of law meant the humane enforcement of life imprisonment was possible only when the prisoner was given ‚a concrete and realistically attainable chance‘ to regain his freedom at some later point in time; the State struck at the very heart of human dignity if it stripped the prisoner of all hope of ever earning his freedom.“257

Der Gerichtshof betonte zudem die Feststellung des BVerfG, wonach „rehabilitation was constitutionally required in any community that established human dignity as its centrepiece.“258 Der EGMR verwies darauf, dass es nach der Rechtsprechung des BVerfG unvereinbar mit der Menschenwürde sei, „for the State forcefully to deprive a person of his freedom without at least providing him with the chance to someday regain that freedom“ und dass daher den Staat die Pflicht treffe, 253 EGMR, Urt. v. 04.02.2003, Beschw. Nr. 50901/99 (van der Ven ./. Niederlande), Nr. 50 f.; diese Rechtsprechung griff der EGMR auf in der Rs.  Öcalan  ./. Türkei, Urt. v. 12.05.2005, Beschw. Nr. 46221/99, Nr. 191; ebenso im Urt. v. 04.07.2006, Beschw. Nr. 59450/00 (Ramirez Sanchez ./. Frankreich), Nr. 123, unter Verweis auf die Entscheidung der EKMR in der Rs. Ensslin, Baader und Raspe ./. Deutschland. 254 EGMR, Urt. v. 04.07.2006, Beschw. Nr. 59450/00 (Ramirez Sanchez ./. Frankreich), Nr. 134 f. 255 EGMR, Urt. v. 09.07.2013 (GK), Beschw. Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10 (Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich). 256 Siehe hierzu Teil C. IV. 2. 257 EGMR, Urt. v. 09.07.2013 (GK), Beschw. Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10 (Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 69. 258 EGMR, Urt. v. 09.07.2013 (GK), Beschw. Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10 (Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 69.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

für den zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten die Möglichkeit zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu geben.259 Der EGMR betonte abschließend, dass auch nach der Konvention nichts anderes gelten könne, da Kern der Konvention ebenfalls die Achtung der Menschenwürde sei.260 Damit deutete der Gerichtshof selbst an, dass er zumindest im Hinblick auf die lebenslange Freiheitsstrafe Art. 3 EMRK den gleichen Schutzbereich zuerkennt wie Art. 1 Abs. 1 GG.261 In diesen Urteilen wird erneut erkennbar, dass es dem EGMR um die Wahrung der Autonomie des Einzelnen geht. Die gesellschaftliche Partizipation des Häftlings und die Wahrung seiner Selbstbestimmung und -achtung sowie die Wiedereingliederungsmöglichkeit des Individuums in die Gesellschaft stehen für den Gerichtshof im Vordergrund. Diese Annahme lässt sich dadurch untermauern, dass der Gerichtshof zumindest in den Urteilen in den Rs. Hellig ./. Deutschland, van der Ven  ./. Niederlande und Ramirez Sanchez  ./. Spanien gleich zu Beginn der Urteilsbegründungen in den seiner jeweiligen Entscheidung zugrunde liegenden „General principles“ herausstellte, dass Art. 3 EMRK „enshrines one of the most fundamental values of democratic society“.262 Art. 3 EMRK schützt gerade die für eine Demokratie unerlässliche Selbstbestimmtheit des Individuums, das als autonomes Wesen am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben kann. Selbst wenn sich also eine Person in Haft befindet, bleibt sie Teil der Gesellschaft. Ihr soll nach wie vor die Möglichkeit gegeben sein, sich über gesellschaftliche Entwicklungen zu informieren bzw. ihre rechtlichen Interessen wahrnehmen zu können sowie ihre sozialen Bindungen aufrechtzuerhalten – sofern dies mit der besonderen Situation der Haft vereinbar ist. Darüber hinaus wird durch die Möglichkeit, mit Vertrauenspersonen sowie einem Rechtsbeistand Kontakt halten zu können, die Transparenz des Haftverlaufs erhöht.263

259 EGMR, Urt. v. 09.07.2013 (GK), Beschw. Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10 (Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 113. 260 EGMR, Urt. v. 09.07.2013 (GK), Beschw. Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10 (Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 113: „Similar considerations must apply under the Convention system, the very essence of which, as the Court has often stated, is respect for human dignity […].“ 261 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 50, 53, nimmt an, dass das BVerfG mit seiner Rechtsprechung den Grundstein für ein neues Verständnis der Anforderungen der lebenslangen Freiheitsstrafe gelegt habe, das der EGMR in seiner Rechtsprechung dankbar übernommen habe. 262 EGMR, Urt. v. 04.07.2006, Beschw. Nr. 59450/00 (Ramirez Sanchez  ./. Frankreich), Nr. 115; Urt. v. 04.02.2003, Beschw. Nr. 50901/99 (van der Ven ./. Niederlande), Nr. 46; Urt. v. 07.07.2011, Beschw. Nr. 20999/05 (Hellig ./. Deutschland), Nr. 50. 263 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 129.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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ii) Demütigung und Brandmarkung – Rs. Yankov ./. Bulgarien Der Beschwerdeführer machte in dieser Sache u. a. eine Verletzung von Art. 3 EMRK geltend, da ihm in der Haft unter Zwang die Haare abrasiert worden seien und er sich zudem über sieben Tage in Isolationshaft unter schlechten Bedingungen befunden habe, nachdem er in Notizen kritische Äußerungen über das Gefängnispersonal und staatliche Einrichtungen gemacht hatte.264 Unter Verweis unter anderem auf sein Urteil in der Rs. Tyrer nahm der Gerichtshof auch in der Rs. Yankov ./. Bulgarien eine erniedrigende Behandlung gem. Art. 3 EMRK an, da das Opfer in seiner Menschenwürde herabgesetzt worden sei.265 Wie bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung betonte der EGMR die besondere Bedeutung von Art. 3 EMRK, der einen der grundlegendsten Werte der demokratischen Gesellschaft beinhalte und absolut und unabhängig vom Verhalten des Opfers gelte.266 Der Gerichtshof betonte noch einmal ausdrücklich die den Staaten im Falle des Freiheitsentzuges einer Person zukommende besondere Verpflichtung, Bedingungen in der Haft zu ermöglichen, „which are compatible with respect for his human dignity […].“267 Der EGMR löste diesen Fall über die Frage nach der Notwendigkeit der Kahlrasur des Betroffenen gegen dessen Willen, insbesondere im Hinblick auf hygienische Erwägungen, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass hierfür weder eine rechtliche Grundlage noch eine stichhaltige Begründung vorgelegen habe.268 Durch das Kahlrasieren gegen den Willen des Opfers werde dieses aufgrund der damit einhergehenden Sichtbarmachung für andere in seiner Menschenwürde verletzt: „Furthermore, for at least a certain period of time a prisoner whose hair has been shaved off carries a mark of the treatment he has undergone. The mark is immediately visible to others, including prison staff, co-detainees and visitors or the public, if the prisoner is released or brought into a public place soon thereafter. The person concerned is very likely to feel hurt in his dignity by the fact that he carries a visible physical mark.“269

Auch in dieser Entscheidung betonte der Gerichtshof, dass es unabhängig davon, ob die staatliche Einrichtung mit der vorgenommenen Behandlung darauf abzielte, eine demütigende Wirkung herbeizuführen, allein auf die potenzielle Wirkung beim Opfer ankommt und ob in dessen Augen ein abwertender und / oder unterdrücken-

264

EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 3. EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 104, 107, 113 f. 266 EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 103. 267 EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 107. 268 EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 110 f., 115 f. 269 EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 113. Daher stellte der EGMR fest: „The Court thus considers that the forced shaving off of detainees’ hair is in principle an act which may have the effect of diminishing their human dignity or may arouse in them feelings of inferiority capable of humiliating and debasing them.“ (Nr. 114). 265

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

der Zweck verfolgt wird.270 Mit dieser Entscheidung erweiterte der Gerichtshof die bislang anerkannten Fallgruppen271 der Verletzung der Menschenwürde. Nunmehr zählt der EGMR auch besondere Brandmarkungen, die dadurch eine demütigende Wirkung beim Betroffenen entfalten, dass er durch ein nach außen weithin erkennbares körperliches Kennzeichen („physical mark“) als Strafgefangener sichtbar wird. Somit sieht der Gerichtshof auch derlei Stigmatisierungen als der Menschenwürde zuwiderlaufend an. jj) Haftbedingungen und positive Verpflichtungen – Rs. Kalashnikov ./. Russland Seine bisherige Rechtsprechung zur Achtung der Menschenwürde von inhaftierten Personen bestätigte der Gerichtshof auch in der Rs. Kalashnikov ./. Russland und betonte zugleich die dem Konventionsstaat in diesem Zusammenhang zukommenden positiven Verpflichtungen. In diesem Fall hatte sich der Gerichtshof mit den widrigen Bedingungen in der Haft auseinanderzusetzen. Der Beschwerdeführer wandte sich zum einen gegen die Länge des Strafverfahrens sowie gegen die Länge seiner Haft und zum anderen gegen die Haftbedingungen.272 Die Unterbringung des Beschwerdeführers erfolgte hier in einer stark überbelegten, ca. 17 bis 20 Quadratmeter großen Zelle, die für acht Personen angelegt, jedoch zu keinem Zeitpunkt mit weniger als elf Personen besetzt war.273 Nach Ansicht des Gerichtshofs war die Zelle mithin dauerhaft und massiv überfüllt.274 Die Zelle war zudem ständig beleuchtet, unzureichend belüftet und von Insekten befallen. Der Beschwerdeführer selbst litt mehrfach an Hauterkrankungen und Pilzinfektionen, die Mitinsassen zum Teil an Tuberkulose und Syphilis. Die Toilette befand sich in der Zelle ohne nennenswerten Sichtschutz und musste im Beisein der Mitinsassen benutzt werden.275 Der EGMR nahm hier das Vorliegen einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK an276 und hob wie bereits zuvor die Pflicht des betreffenden Staates hervor, dafür Sorge zu tragen, dass die Inhaftierung einer Person unter Achtung der Menschenwürde erfolgt.277 Dabei stellte der Gerichtshof klar, dass im Rahmen der Bewertung der Haftbedingungen die kumulative Wirkung der einzelnen Haftumstände zu betrachten ist: „When assessing conditions of detention, account has to be taken of the cumulative effects of those conditions, as well as the specific 270

EGMR, Urt. v. 11.12.2003, Beschw. Nr. 39084/97 (Yankov ./. Bulgarien), Nr. 117. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 157. 272 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 2. 273 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 97. 274 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 97. 275 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 97 ff. 276 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 102 f. 277 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 95. 271

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

233

allegations made by the applicant […].“278 So hätten hier die Überbelegung der Zelle, die unhygienischen Umstände und deren Wirkung auf die Gesundheit des Beschwerdeführers zusammen mit der Haftdauer unter diesen Umständen zur Annahme einer erniedrigenden Behandlung geführt.279 Somit ergab sich erst in dem Zusammenwirken der gesamten Umstände der Haft eine die Menschenwürde der betroffenen Person herabsetzende Wirkung.280 Auch hiermit machte der Gerichtshof seine Haltung deutlich, dass es zur Feststellung einer Menschenwürdeverletzung nicht auf die einzelne Handlung ankommt, sondern vielmehr auf die Wirkung beim Opfer abzustellen ist. Während es in den bislang dargestellten Entscheidungen des Gerichtshofs um eine Verletzung der Menschenwürde aufgrund der Behandlungen durch Polizisten bzw. Gefängnispersonal in Form aktiven Handelns ging, stellte der EGMR mit diesem Urteil – wie auch bereits zuvor mit dem Urteil in der Rs. Kudła ./. Polen hinsichtlich einer im Rahmen der Haft zu gewährenden medizinischen Versorgung281 – klar, dass ein Verstoß gegen die Konvention auch im Falle menschenwürdewidriger Umstände in der Haft anzunehmen ist. Dies ist mittlerweile ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs282 und macht deutlich, dass der Gerichtshof aus der Konvention nicht nur eine negative Verpflichtung im Sinne einer Pflicht zum Unterlassen von der Menschenwürde zuwiderlaufenden Behandlungen ableitet, sondern vielmehr eine Pflicht zum staatlichen Handeln, mithin eine positive Verpflichtung, die Menschenwürde zu schützen. Seit der Entscheidung in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich entwickelte der Gerichtshof somit auch den von seinem Wortlaut her 278 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov  ./. Russland), Nr. 95. Ebenso auch im Urt. v. 04.02.2003, Beschw. Nr. 50901/99 (van der Ven ./. Niederlande), Nr. 49 sowie im Urt. v. 04.07.2006, Beschw. Nr. 59450/00 (Ramirez Sanchez ./. Frankreich), Nr. 119, sowie im Urt. v. 10.03.2015, Beschw. Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13 (Varga u. a. ./. Ungarn), Nr. 72. Auf den kumulativen Effekt der Haftbedingungen verwies der Gerichtshof bereits in seinem Urt. v. 06.03.2001, Beschw. Nr. 40907/98 (Dougoz  ./. Griechenland), Nr. 46, ohne jedoch in diesem Urteil auf die Menschenwürde Bezug zu nehmen. 279 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov ./. Russland), Nr. 102. 280 EGMR, Urt. v. 15.08.2002, Beschw. Nr. 47095/99 (Kalashnikov  ./. Russland), Nr. 101: „[…] the conditions of detention, which the applicant had to endure for approximately 4 years and 10 months, must have caused him considerable mental suffering, diminishing his human dignity and arousing in him such feelings as to cause humiliation and debasement.“ 281 Ebenso EGMR, Urt. v. 11.07.2006, Beschw. Nr. 33834/03 (Rivière ./. Frankreich), Nr. 62; Urt. v. 10.03.2009 (GK), Beschw. Nr. 39806/05 (Paladi ./. Moldawien), Nr. 71; sowie im Urt. v. 16.02.2010, Beschw. Nr. 7078/02 (V. D. ./. Rumänien), Nr. 92, in letzterem Urteil jedoch ohne Verweis auf die Menschenwürde. 282 Vgl. nur etwa EGMR, Urt. v. 10.03.2015, Beschw. Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13 (Varga u. a. ./. Ungarn), Nr. 71, unter Verweis auf weitere Rechtsprechung: „The State must ensure that  a person is detained in conditions which are compatible with respect for human dignity, that the manner and method of the execution of the measure do not subject him to distress or hardship of an intensity exceeding the unavoidable level of suffering inherent in detention and that, given the practical demands of imprisonment, his health and well-being are adequately secured […].“

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

als klassisches Abwehrrecht formulierten Art. 3 EMRK unter Verweis auf die Menschenwürde zu einem Schutzgewähr- bzw. Leistungsrecht ständig weiter.283 Indem der Gerichtshof wiederholt betonte, dass der Staat nach der Vorschrift des Art. 3 EMRK sicherzustellen habe, dass die betroffene Person unter Bedingungen festgehalten bzw. inhaftiert wird, die mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind,284 werden die Achtung und der Schutz der Menschenwürde zum eigentlichen Tatbestandsmerkmal von Art. 3 EMRK. Ob also eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung vorliegt, ist daran zu messen, ob das staatliche Handeln oder Unterlassen mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies ist auch unerlässlich, denn würde Art. 3 EMRK allein als Abwehrrecht begriffen, wäre der Schutz des Inhaftierten lückenhaft. Da das Abwehrrecht als Gewährleistung des status negativus vor allem die „Freiheit vom Staat“285 garantiert,286 ist dem Inhaftierten, der sich schließlich in seiner besonderen Situation nicht selbst behelfen und versorgen kann, noch nicht geholfen. Vielmehr ist er auf bestimmte staatliche Gewährleistungen angewiesen, die jedoch nur durch die Gewährleistung des status positivus garantiert werden kann. Insofern müssen den Staat Schutz- bzw. Leistungspflichten treffen, um die Achtung der Menschenwürde des einzelnen zu gewährleisten. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus einer Zusammenschau von Art. 1 EMRK, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten zuzusichern, und Art. 3 EMRK, dessen eigentlicher Schutzzweck der Schutz der Menschenwürde ist. Hatte der EGMR in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich bereits aus Art. 1 i. V. m. Art. 3 EMRK die positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, Schutz vor Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu gewährleisten,287 lässt sich eine solche Verpflichtung zum Schutz nun auch hinsichtlich der Menschenwürde formulieren. So wie das BVerfG in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürdegarantie eine Wendung von einer bloßen Achtungs- zu einer Schutzpflicht vollzogen hat288, zeichnet sich auch im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie nach der Rechtsprechung des EGMR ein solcher Wandel ab. So hat der Staat menschenwürdige Bedingungen auch in gerichtlich angeordneter und staatlich vollzogener Haft zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass der Staat zu garantieren hat, dass die Subjektqualität und der Status als Rechtssubjekt der betroffenen Personen grundsätzlich gewahrt bleiben. Haftbedingungen, die den einzelnen Häftling zum bloßen Objekt etwa generalpräventiver Zwecke verkommen lassen, sind hiermit nicht vereinbar. 283

So auch Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 124 f. Vgl. etwa auch EGMR, Urt. v. 10.03.2015, Beschw. Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13 (Varga u. a. ./. Ungarn), Nr. 71; EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Beschw. Nr. 42527/07, 60800/08 (Ananyev u. a. ./. Russland), Nr. 141. 285 So Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff., auf den die Statuslehre zurückgeht. 286 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 3. 287 Vgl. hierzu ausführlich die obige Darstellung bzgl. der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Punkt E. I. 3. b) aa). 288 Siehe hierzu ausführlich Teil C. VI. 1. d). 284

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

235

Insofern trifft den Staat die Pflicht, einen die Menschenwürde schützenden Rahmen auch in Situationen wie der der Haft zu schaffen. Nur kurze Zeit nach der Entscheidung in der Rs. Kalashnikov ./. Russland formulierte der Gerichtshof im Urteil in der Rs. Mouisel ./. Frankreich noch deutlicher die Verpflichtung der Staaten zum Schutz der Menschenwürde: „Although Article 3 of the Convention cannot be construed as laying down a general obligation to release detainees on health grounds, it nonetheless imposes an obligation on the State to protect the physical well-being of persons deprived of their liberty, for example by providing them with the requisite medical assistance […]. The Court has also emphasised the right of all prisoners to conditions of detention which are compatible with human dignity […].“289

Hier ist ausdrücklich die Rede von einer Verpflichtung („obligation“) zum Schutz des Wohlbefindens der Inhaftierten sowie von einem Recht aller Inhaftierten („right of all prisoners“) auf Haftbedingungen, die mit der Menschenwürde vereinbar sind. Auch in seiner Entscheidung in der Rs. Dedovskiy ./. Russland spricht der EGMR von einer Pflicht zum Schutz des körperlichen Wohlbefindens inhaftierter Personen, da diese besonders verletztlich seien.290 Mittlerweile hat der EGMR seine Rechtsprechung in Bezug auf menschenunwürdige Haftbedingungen weiter ausdifferenziert. Diverse Haftumstände können danach mit der Menschenwürde des Häftlings unvereinbar sein und die Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK rechtfertigen. Welches diese Aspekte sind, arbeitete der Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Rs. Ananyev u. a. ./. Russland heraus.291 Danach sei es einer der schwerwiegendsten Umstände, die eine erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK darstellen können, wenn die Unterbringung in einer überbelegten bzw. zu kleinen Haftzelle erfolge.292 Der Gerichtshof stellte dabei einen Kriterienkatalog auf, wonach im Falle des Eintritts einer der genannten Umstände eine erniedrigende Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegen soll: „(a) each detainee must have an individual sleeping place in the cell; (b) each must dispose of at least 3 square metres of floor space; and (c) the overall surface area of the cell must be such as to allow detainees to move freely between items of furniture.“293 289 EGMR, Urt. v. 14.11.2002, Beschw. Nr. 67263/01 (Mouisel ./. Frankreich), Nr. 40. Ebenso in EGMR, Urt. v. 11.07.2006, Beschw. Nr. 33834/03 (Rivière ./. Frankreich), Nr. 62. 290 EGMR, Urt. v. 15.05.2008, Beschw. Nr. 7178/03 (Dedovskiy ./. Russland), Nr. 73: „In the context of detainees, the Court has emphasised that persons in custody are in a vulnerable position and that the authorities are under a duty to protect their physical well-being […].“ 291 EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Beschw. Nr. 42527/07, 60800/08 (Ananyev u. a. ./. Russland), Nr. 143 ff. 292 EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Beschw. Nr. 42527/07, 60800/08 (Ananyev u. a. ./. Russland), Nr. 143; EGMR, Urt. v. 10.03.2015, Beschw. Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13 (Varga u. a. ./. Ungarn), Nr. 73. 293 EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Beschw. Nr. 42527/07, 60800/08 (Ananyev u. a. ./. Russland), Nr. 148; EGMR, Urt. v. 10.03.2015, Beschw. Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13 (Varga u. a. ./. Ungarn), Nr. 74.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Weitere wichtige Aspekte bei der Beurteilung, ob die Haftbedingungen mit Art. 3 EMRK vereinbar sind, sollen u. a. die Möglichkeit bzw. die Dauer und Umstände von Freiluftaktivitäten sowie Zugang zu Sonnenlicht und frischer Luft294 sowie die Dauer der Haft unter bestimmten Umständen sowie die geistige und körperliche Gesundheit des Häftlings sein.295 Den Zugang zu ausreichend vorhandenen und hygienischen sanitären Einrichtungen bezeichnete der EGMR in Übereinstimmung mit dem CPT als von höchster Bedeutung, um der Würde des Häftlings zu entsprechen.296 In seiner Entscheidung in der Rs. Torreggiani u. a. ./. Italien ging der EGMR dann noch einen Schritt weiter. Zunächst betonte der Gerichtshof neben der positiven Verpflichtung des Staates, Häftlinge unter Wahrung ihrer Menschenwürde unterzubringen und ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen in angemessener Weise sicherzustellen,297 die Verpflichtung, die festgestellten Verletzungshandlungen oder -unterlassungen rasch abzustellen (sog. „präventive“ Abhilfe). Darüber hinaus – und das ist das Besondere an dieser Entscheidung – muss der Staat dafür Sorge tragen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Verletzung seiner Würde durch die Haft, eine wirksame Entschädigung für die erlittene Verletzung erhält (sog. „kompensatorische“ Abhilfe).298 Da dies in diesem Fall nicht gewährleistet war, sprach der EGMR den Beschwerdeführern Entschädigungen in Geld für ihre Würdeverletzungen gem. Art. 41 EMRK zu.299 Aus der Pflicht der Konventionsstaaten zum Schutz der Menschenwürde leitet der Gerichtshof also ein Recht des Einzelnen auf einen entsprechenden Schutz ab. Mithin spricht der EGMR dem Einzelnen zumindest bezogen auf Situationen, in denen eine Person wie in der Haft einer gewissen Ohnmacht300 gegenüber staatlichen Stellen ausgesetzt ist, ein aus der Konvention abgeleitetes subjektives Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde zu.301 Dieser Anspruch des Betroffenen kann sich primär auf ein Handeln oder Unterlassen des Staates oder sekundär auf eine angemessene Entschädigung beziehen. Die Schutzpflicht des Staates um 294

EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Beschw. Nr. 42527/07, 60800/08 (Ananyev u. a. ./. Russland), Nr. 149 ff. 295 EGMR, Urt. v. 10.03.2015, Beschw. Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/ 13 und 64586/13 (Varga u. a. ./. Ungarn), Nr. 76. 296 EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Beschw. Nr. 42527/07, 60800/08 (Ananyev u. a. ./. Russland), Nr. 156. 297 EGMR, Urt. v. 08.01.2013, Beschw. Nr. 43517/09, 55400/09, 57875/09, 61535/09, 35315/ 10 und 37818/10 (Torreggiani u. a. ./. Italien), Nr. 65. 298 EGMR, Urt. v. 08.01.2013, Beschw. Nr. 43517/09, 55400/09, 57875/09, 61535/09, 35315/ 10 und 37818/10 (Torreggiani u. a. ./. Italien), Nr. 96. 299 EGMR, Urt. v. 08.01.2013, Beschw. Nr. 43517/09, 55400/09, 57875/09, 61535/09, 35315/ 10 und 37818/10 (Torreggiani u. a. ./. Italien), Nr. 102 ff. 300 Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, S. 124. 301 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 10: „Die sekundären Grundrechtsgehalte vermitteln dem Grundrechtsträger trotz der weiten Spielräume ein subjektives Recht. Dies gilt für den Bereich der Schutzpflichten wie für andere Leistungsgehalte.“

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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fasst auch die positive Verpflichtung des Staates, rechtlichen Schutz der grundrechtlichen Güter vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu gewähren.302 kk) Fälle der Auslieferung und Ausweisung – Konkretisierung der positive obligations Insbesondere im Zusammenhang mit Fällen der Auslieferung sowie der Ausweisung spielt die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK eine wichtige Rolle. Gerade in diesen Fällen hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zu den sich aus der EMRK ergebenden positive obligations weiter konkretisiert. Die Mitgliedstaaten trifft danach in Fällen der Auslieferung bzw. Ausweisung dann eine positive Verpflichtung, wenn der oder dem Betroffenen in dem Zielstaat, also dem Staat, in welches die Abschiebung erfolgen soll, Folter oder eine unmenschliche Behandlung droht. (1) Rs. Soering ./. Vereinigtes Königreich In der Rs. Soering ./. Vereinigtes Königreich war der Beschwerdeführer und deutsche Staatsangehörige Soering im Vereinigten Königreich inhaftiert. Ihm drohte die Auslieferung in die USA, da er dort im US-Bundesstaat Virginia wegen zweifachen Mordes angeklagt war. Die Anklage lautete auf zwei getrennte Straftatbestände: auf mit der Todesstrafe bedrohten Mord („capital murder“) sowie auf nicht mit der Todesstrafe bedrohten Mord.303 Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er einem schwerwiegenden Risiko ausgesetzt sei, im Falle einer Auslieferung in die USA zur Todesstrafe verurteilt zu werden. Seiner Ansicht nach sei er daher und insbesondere im Hinblick auf das „death row phenomenon“ einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterworfen.304 Der EGMR stellte in seiner Entscheidung fest, dass das Vereinigtes Königreich im Falle einer Auslieferung des Beschwerdeführers an die USA Art. 3 EMRK verletzten würde.305 Der Gerichtshof machte dies insbesondere an der zu erwartenden sehr langen Zeitspanne, die der Beschwerdeführer im Todeszellentrakt verbringen müsse, mit der immer gegenwärtigen und wachsenden Furcht vor der Vollstreckung der Todesstrafe. Außerdem bezog er die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers mit ein, insbesondere sowohl dessen Alter als auch dessen Geisteszustand 302

Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 8. EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 14. 304 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 76. 305 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 111. 303

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

zum Zeitpunkt der Tat.306 Zudem seien im konkreten Fall die legitimen Ziele der Auslieferung auch durch andere Maßnahmen erreichbar gewesen, die keine Leiden von derlei außergewöhnlicher Intensität und Dauer nach sich ziehen würden.307 Anders als etwa in der Rs. Tyrer fand die Menschenwürde in dieser Entscheidung trotz einer vergleichbaren Prüfung von Art. 3 EMRK308 keine Erwähnung. Dennoch ist entscheidend für die Weiterentwicklung der Garantie des Art. 3 EMRK durch dieses Urteil, dass der Gerichtshof die aus dieser Vorschrift erwachsende positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten betonte: Gerade um die Effektivität des Schutzes durch Art. 3 EMRK zu gewährleisten, sei dann eine Ausnahme von der allgemeinen Regel, nach der Konventionsorgane nur das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer potenziellen Verletzung der Konvention feststellen, geboten, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, die Auslieferungsentscheidung würde wegen ihrer vorhersehbaren Folgen im ersuchenden Staat gegen Art. 3 EMRK verstoßen.309 „In sum, the decision by a Contracting State to extradite a fugitive may give rise to an issue under Article 3, and hence engage the responsibility of that State under the Convention, where substantial grounds have been shown for believing that the person concerned, if extradited, faces  a real risk of being subjected to torture or to inhuman or degrading treatment or punishment in the requesting country. The establishment of such responsibility inevitably involves an assessment of conditions in the requesting country against the standards of Article 3 of the Convention.“310

Zwar machte der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt deutlich, dass es den Mitgliedstaaten unbenommen ist, die Zuwanderung, den Aufenthalt sowie die Ausweisung von fremden Staatsangehörigen selbst zu regeln.311 Auch sei ein Recht auf Aufenthalt bzw. politisches Asyl nicht in der Konvention oder in einem ihrer Protokolle enthalten.312 Dennoch kann sich aus Art. 3 EMRK dann eine Ver-

306 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 111. 307 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 111. 308 Siehe insbes. Nr. 100 im Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering ./. Deutschland), in der der Gerichtshof wie auch in seiner bisherigen Rechtsprechung zur unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK auf das Erreichen eines bestimmten Schweregrades abhebt sowie darauf, dass eine Behandlung vorliegen bzw. zu erwarten sein muss, die beim Opfer Gefühle der Furcht, Angst und Minderwertigkeit hervorruft, die geeignet sind, das Opfer zu demütigen und zu erniedrigen und möglicherweise dessen physischen oder moralischen Widerstand zu brechen. 309 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 90. 310 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 91. 311 EGMR, Urt. v. 15.11.1996 (GK), Beschw. Nr. 22414/93 (Chahal  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 73; Urt. v. 30.10.1991, Beschw. Nr. 13163/87 (Vilvarajah u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 102. 312 EGMR, Urt. v. 15.11.1996 (GK), Beschw. Nr. 22414/93 (Chahal  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 73.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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antwortlichkeit des ausweisenden Staates ergeben, denn dieser muss sich die in dem Zielstaat zu erwartende Behandlung der auszuweisenden Person zurechnen lassen. Insofern trifft den ausweisenden Staat eine Prüfpflicht, ob eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung zu befürchten ist.313 Diese zu befürchtende Behandlung – so machte der Gerichtshof in seiner Entscheidung deutlich – muss dabei nicht unbedingt in körperlichen Schmerzen bestehen, sondern könne bereits darin zu sehen sein, dass eine erhebliche Verzögerung der Strafvollstreckung zu seelischem Leid durch die zu erwartende Gewalt führt.314 Entscheidend ist jedoch, dass es sich um ein reales Risiko, einer solchen Behandlung im Zielstaat ausgesetzt zu sein, handelt. Die bloße Möglichkeit einer Misshandlung reicht hingegen nach Ansicht des EGMR noch nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen.315 (2) Rs. M. S. S. ./. Belgien und Griechenland In der Rs. M. S. S. ./. Belgien und Griechenland nahm der Gerichtshof in einer Entscheidung der Großen Kammer eine Verletzung von Art. 3 EMRK – zum Teil in Verbindung mit Art. 13 EMRK – sowohl durch Griechenland als auch durch Belgien an.316 Gegenstand der Beschwerde war die Überstellung eines aus Afghanistan stammenden Flüchtlings, der über Griechenland in die EU gelangt war und in Belgien Asyl beantragt hatte. Die belgischen Behörden hatten den Beschwerdeführer unter Berufung auf die Vorschriften der Dublin-II-VO317 an Griechenland überstellt. Nach dieser Verordnung war Griechenland für das Asylverfahren zuständig. Diese Zuständigkeit besteht grundsätzlich immer seitens des Mitgliedstaats, in dem der Asylbewerber erstmalig das Gebiet der EU betritt. Hinsichtlich der Haft- und Lebensbedingungen in Griechenland bejahte der EGMR eine die Menschenwürde verletzende und daher erniedrigende Behand 313 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 41 m. w. N. Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 92, sah hingegen hinsichtlich des Urteils des EGMR in der Rs. Soering ./. Vereinigtes Königreich noch begründete Zweifel, ob der Gerichtshof „nicht vielleicht einen relativistischen Ansatz in Bezug auf unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Strafe prägte“. Erst in späteren Urteilen des EGMR habe sich gezeigt, dass das Verbot der Auslieferung bei drohender unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung – genau wie das Verbot der Folter – als absolut anzusehen sei. 314 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 (Plenum), Beschw. Nr. 14038/88 (Soering  ./. Deutschland), Nr. 100. 315 EGMR, Urt. v. 30.10.1991, Beschw. Nr. 13163/87 (Vilvarajah u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 111. 316 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 233, 321, 360, 367. 317 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates v. 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Unterzeichnerstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Unterzeichnerstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EG L 50/01).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

lung des Beschwerdeführers.318 Der Gerichtshof legte dabei seine in der Rs. Pretty herausgebildete Definition der „erniedrigenden Behandlung“ i. S. v. Art. 3 EMRK zugrunde, die insbesondere darauf abstellt, ob die Behandlung „humiliates or debases an individual, showing a lack of respect for, or diminishing, his or her human dignity, or arouses feelings of fear, anguish or inferiority capable of breaking an individual’s moral and physical resistance […].“319 Zudem betonte der EGMR auch hier, dass es ausreiche, dass der Betroffene in seinen Augen eine Demütigung erfahre.320 Im nächsten Absatz verwies der Gerichtshof noch einmal auf die Menschenwürde, die insbesondere in Haftsituationen fordere, dass die Bedingungen in der Haft mit der Menschenwürde vereinbar sind.321 Im Folgenden stellte der Gerichtshof dar, welche Umstände der Haft von Asylbewerbern er als erniedrigende Behandlung angesehen hatte. Hierzu zählte er u. a. die zwei Monate währende Unterbringung in einer Fertigbauhütte ohne Ausgang, ohne Möglichkeit zu telefonieren, ohne frische Bettwäsche bei unzureichender Versorgung mit Hygieneartikeln.322 Zudem stellte er in anderen Fällen auf schlechte hygienische Bedingungen, keinen freien Zugang zu Toiletten, überfüllte Unterkünfte sowie mangelnden Zugang zu Freizeitaktivitäten ab.323 Der Beschwerdeführer befand sich wiederholt in Haft, zuletzt zwei Mal in der Abschiebehaft am Flughafen Athen für vier Tage bzw. eine Woche. Wegen dieser letztgenannten Inhaftierungen nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK sowohl durch Griechenland als auch durch Belgien an. Dem Vortrag des Beschwerdeführers zufolge soll dieser mit zwanzig Personen in einem kleinen Raum ein­ geschlossen gewesen sein, der Zugang zu den Toiletten sei ihm nur nach Ermessen der Aufseher gewährt worden, ein Hofgang sei nicht zulässig und das Essen nicht ausreichend gewesen und er hätte auf einer schmutzigen Matratze bzw. auf dem Boden schlafen müssen und er sei zum Teil auch von Wärtern geschlagen worden.324 Diese Haftbedingungen bezeichnete der Gerichtshof als „unacceptable“ und als erniedrigende Behandlung – aufgrund des Zusammenspiels von Gefühlen der Willkür und Unterlegenheit sowie der Furcht ebenso wie den tiefgreifenden Auswirkungen,

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EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 233. 319 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 220. 320 Unter Verweis auf seine Rechtsprechung in der Rs. Tyrer: EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 220. 321 Unter Verweis auf seine Rechtsprechung in der Rs. Kudła ./. Polen: EGMR, Urt. v. 21.01. 2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 221. 322 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 222. 323 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 222. 324 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 206.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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die derlei Haftbedingungen zweifellos auf die Würde einer Person hätten.325 Die besondere Notlage des Beschwerdeführers sah der Gerichtshof zudem dadurch noch verschärft, dass er als Asylbewerber in einer besonders verletzlichen Situation gewesen sei, weshalb er die verhältnismäßig kurze Haftzeit trotzdem als ausreichend für die Annahme einer erniedrigenden Behandlung ansah.326 Darüber hinaus nahm der EGMR einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK seitens Griechenlands durch die mangelhaften Lebensbedingungen an, denen der Beschwerdeführer in Griechenland ausgesetzt war. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er von den griechischen Behörden weder Informationen über mögliche Unterkünfte bekommen, noch Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten habe, sodass er obdachlos war.327 Die griechische Regierung verwies hingegen darauf, dass der EGMR selbst in seiner Rechtsprechung in der Rs. Chapman ./. Vereinigtes Königreich328 deutlich gemacht habe, dass es – auch wenn es wünschenswert sei, dass jeder Mensch einen Ort habe, an dem er in Würde leben könne – eine politische und keine juristische Entscheidung sei, ob der Staat ein solches Obdach garantiere.329 Der Gerichtshof bestätigte zwar, dass sich aus Art. 3 EMRK keine solche Verpflichtung zur Gewährung eines Obdachs ergebe und auch keine Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung von Asylbewerbern bestehe, damit sich diese einen bestimmten Lebensstandard ermöglichen können.330 Dennoch verwies der Gerichtshof noch einmal auf die besonders verletzliche Situation von Asylbewerbern und den breiten Konsens auf internationaler und europäischer Ebene, dass dies einen besonderen Schutz erfordere, weshalb es fraglich sei, ob nicht Situationen extremer Armut unter Art. 3 EMRK fielen.331 Der Gerichtshof bezog sich dabei auf seine Rechtsprechung in der 325 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 233: „On the contrary, in the light of the available information on the conditions at the holding centre next to Athens International Airport, the Court considers that the conditions of detention experienced by the applicant were unacceptable. It considers that, taken together, the feeling of arbitrariness and the feeling of inferiority and anxiety often associated with it, as well as the profound effect such conditions of detention indubitably have on a person’s dignity, constitute degrading treatment contrary to Article 3 of the Convention.“ 326 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 232: „In the present case, the Court must take into account that the applicant, being an asylum-seeker, was particularly vulnerable because of everything he had been through during his migration and the traumatic experiences he was likely to have endured previously.“; Nr. 233: „In addition, the applicant’s distress was accentuated by the vulnerability inherent in his situation as an asylum-seeker.“ 327 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 236 ff. 328 EGMR, Urt. v. 18.01.2001 (GK), Beschw. Nr. 27238/95 (Chapman ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 99. 329 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 243. 330 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 249. 331 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 251 f..

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Rs. Budina ./. Russland332, wonach er es nicht für ausgeschlossen hält, dass eine Verantwortlichkeit des Staates nach Art. 3 EMRK wegen der Behandlung eines Beschwerdeführers zu bejahen ist, wenn sich der Beschwerdeführer in einer völlig von staatlicher Unterstützung abhängigen Situation befindet und behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in schwerer Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist.333 Die griechischen Behörden hätten die besondere verletzliche Situation, in der sich der Beschwerdeführer als Asylbewerber befand, außer Acht gelassen und seien daher aufgrund ihrer Untätigkeit verantwortlich dafür, dass er über Monate ohne hinreichende Versorgung seiner Grundbedürfnisse auf der Straße leben musste.334 Daher sei der Beschwerdeführer Opfer einer demütigenden Behandlung geworden, die Ausdruck mangelnden Respekts vor seiner Würde gewesen sei.335 Mit seiner Entscheidung unterstrich der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechungslinie, wonach dem Staat eine besondere Verantwortlichkeit gegenüber Personen wie Häftlingen oder Asylbewerbern oder auch von staatlichen Zuwendungen abhängigen Personen zukommt, mithin solchen, die sich in einer besonders verletzlichen Situation befinden und daher dem Staat ausgeliefert sind.336 Gerade das besondere Abhängigkeitsverhältnis des Betroffenen zum Staat versetzt den Staat in die Pflicht, insbesondere in 332

In seiner Entscheidung in der Rs. Budina ./. Russland, Urt. v. 18.06.2009, Beschw. Nr. 45603/ 05, stellte der EGMR fest, dass sich eine positive Verpflichtung eines Staates zum Schutz einzelner Personen aus Art. 3 EMRK in Situationen ableiten lässt, „where an applicant, in circum­ stances wholly dependent on State support, found herself faced with official indifference when in a situation of serious deprivation or want incompatible with human dignity […].“ (a. a. O.) In diesem Fall rügte die schwerbehinderte Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 EMRK wegen einer zum Überleben zu geringen Pension. Der Gerichtshof bezog sich jedoch auf Art. 3 EMRK und stellte fest, dass „a wholly insufficient amount of pension and social benefits may raise an issue under Article 3 of the Convention […].“ (a. a. O.) Der Gerichtshof wies jedoch die Beschwerde wegen des unzureichend dargelegten Sachverhalts als unzulässig zurück, da sich aus dem dargelegten Sachverhalt nicht ergebe, dass die Pension der Beschwerdeführerin so gering ist, dass dies einen Schutz vor einer mit der Menschenwürde nicht zu vereinbarenden Erniedrigung erfordere (a. a. O.). 333 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 253. 334 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 263. 335 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 263: „The Court considers that the applicant has been the victim of humiliating treatment showing a lack of respect for his dignity and that this situation has, without doubt, aroused in him feelings of fear, anguish or inferiority capable of inducing desperation. It considers that such living conditions, combined with the prolonged uncertainty in which he has remained and the total lack of any prospects of his situation improving, have attained the level of severity required to fall within the scope of Article 3 of the Convention.“ 336 Diese besondere Schutzbedürftigkeit aufgrund ihrer verletzlichen Situation machte der Gerichtshof etwa auch hinsichtlich der Gruppe der Sinti und Roma im Urt. v. 16.03.2010, Beschw. Nr. 15766/03 (Oršuš u. a. ./. Kroatien), Nr. 147 f., deutlich. In seinem Urt. v. 15.05.2008, Beschw. Nr. 7178/03 (Dedovskiy ./. Russland), Nr. 73, bezeichnete der EGMR inhaftierte Personen als in einer verletzlichen Position befindlich.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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diesen Situationen die Menschenwürde zu achten und zu schützen, da sich diese hier als besonders verletzlich erweist. Der Gerichtshof stellte zudem einen Verstoß Belgiens gegen Art. 3 EMRK fest, da die belgischen Behörden den Beschwerdeführer nach Griechenland überstellten, obwohl sie von den dortigen erniedrigenden Haft- und Lebensbedingungen wussten oder hätten wissen müssen.337 Unter Verweis u. a. auf seine Entscheidung in der Rs. Soering betonte der Gerichtshof auch hier, dass im Falle der Ausweisung von Asylbewerbern Art. 3 EMRK eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates begründen kann, wenn ein ernsthaftes Risiko besteht, dass diese im Zielstaat der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt sind.338 (3) Rs. Tarakhel ./. Schweiz Seine Rechtsprechung in der Rs. M. S. S. ./. Belgien und Griechenland griff der EGMR auch in seiner Entscheidung der Großen Kammer in der Rs. Tarakhel ./. Schweiz vom 04.11.2014 auf.339 In diesem Fall ging es ebenfalls um die Über­stellung von Asylbewerbern nach der Dublin-II-VO von der Schweiz nach Italien. Die Beschwerdeführer (ein afghanisches Ehepaar mit sechs minderjährigen Kindern) machten dabei unter Berufung auf Art. 3 EMRK geltend, im Fall einer Überstellung nach Italien ohne „individual guarantees concerning their care“ seien sie wegen der systematischen Mängel der Unterkünfte für Asylbewerber in Italien einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt.340 Der Gerichtshof stellte fest, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorläge, wenn die Schweizer Behörden die Beschwerdeführer ohne vorherige Zusicherungen der italienischen Behörden, dass sie bei Ankunft in Italien in Einrichtungen unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder entsprechen und die eine Familieneinheit garantieren, nach Italien überstellten.341 Der Gerichtshof bekräftigte noch einmal unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung, dass den betreffenden Staat eine sich aus Art. 3 EMRK ergebende Verpflichtung trifft, einen Asylbewerber dann nicht auszuweisen, wenn nachweislich ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Gefahr besteht, dass dieser im Zielstaat der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt sein wird.342 337 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 358, 367 f. 338 EGMR, Urt. v. 21.01.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09 (M. S. S. ./. Belgien und Griechenland), Nr. 365: „In such circumstances, Article 3 implies an obligation not to expel the individual to that country […].“ 339 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz). 340 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz), Nr. 53, 57. 341 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz), Nr. 120, 122. 342 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz), Nr. 93.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Von Schwichow fragt hinsichtlich der Fälle von Abschiebung und Ausweisung danach, inwieweit die Bestimmungen der EMRK innerhalb der Konventionsstaaten auch auf Drittstaaten anwendbar sind.343 Er spricht sich allerdings dagegen aus, die für die Konventionsstaaten grundsätzlich geltende Eingriffsschwelle für eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung auch auf die Drittstaaten, in die dann die Abschiebung bzw. Auslieferung erfolgen soll, anzuwenden.344 Dies sei wenig sinnvoll, „[d]a der Gerichtshof selbst jedoch judiziert, dass die Verhältnisse in Drittstaaten nicht notwendigerweise mit denen innerhalb der Konventionsgrenzen vergleichbar sein müssen“.345 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass gem. Art. 1 EMRK die Staaten verpflichtet sind, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die sich aus der Konvention ergebenden Rechte zuzugestehen. Dies muss auch in gleicher Weise geschehen. Da der Schutz der Menschenwürde gem. Art. 3 EMRK absolut und unabhängig von der Staatsangehörigkeit gilt, ist dieser auch bezüglich der zu befürchtenden Behandlung durch einen Drittstaat ab der gleichen Eingriffsintensität zu gewährleisten. Des Weiteren verwies der EGMR in der Rs. Tarakhel ./. Schweiz auf seine Entscheidung in der Rs. M. S. S., in dem der Gerichtshof die besondere Bedeutung des Status des Beschwerdeführers hervorgehoben hatte, der als Asylbewerber einer besonders benachteiligten und verletzlichen Personengruppe angehörte und daher besonders schutzbedürftig war, worüber ein weiter internationaler Konsens herrsche.346 In seiner Entscheidung hob der EGMR nun die besonders verwundbare Situation von Minderjährigen hervor: „With more specific reference to minors, the Court has established that it is important to bear in mind that the child’s extreme vulnerability is the decisive factor and takes precedence over considerations relating to the status of illegal immigrant […]. Children have specific needs that are related in particular to their age and lack of independence, but also to their asylum-seeker status.“347

Dabei bezog sich der EGMR auch auf die UN-Kinderrechtskonvention und seine Entscheidung in der Rs. Popov ./. Frankreich vom 19.01.2012. In dieser Sache, in der es um die Vereinbarkeit einer fünfzehntägigen Unterbringung einer Familie mit Kleinkindern in der Abschiebehaft unter widrigen Bedingungen ging, hatte der Gerichtshof seine Entscheidung auch auf Art. 37 der UN-Kinderrechtskonvention gestützt, wonach jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden

343

Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 92 f. 344 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 93. 345 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 93. 346 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz), Nr. 97. 347 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz), Nr. 99.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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soll.348 Die Unterbringung von Kindern in Abschiebehafteinrichtungen kann auch unabhängig von ihrer Länge und unabhängig davon, ob die Kinder unbegleitet sind oder nicht, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen, wenn sie unter so schlechten Bedingungen erfolgt, „that they undermine […] the very essence of human dignity […].“349 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung betonte der EGMR in der Rs. Tarakhel ./. Schweiz, dass wegen ihrer extremen Verletzlichkeit die Aufnahmebedingungen für minderjährige Asylbewerber an ihr Alter angepasst werden müssten, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierender Wirkung für die Psyche der Kinder entstehe.350 Der Gerichtshof machte mit seiner Rechtsprechung deutlich, dass je eher eine Person verletzlich und damit schutzwürdig ist, desto eher das erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht ist, sodass auch die Menschenwürde betroffen und ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen ist. (4) Rs. Khlaifia u. a. ./. Italien In Fortsetzung dieser Rechtsprechung formulierte der EGMR dann in seinem Urteil vom 01.09.2015 in der Rs. Khlaifia u. a. ./. Italien noch einmal deutlich die positive Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der absolut gewährten Menschenwürde. Dieser Entscheidung lag die Beschwerde dreier Tunesier zugrunde, die 2011 auf die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa nach der Revolution in ihrem Heimatland geflohen waren und dort mit ca. 50.000 weiteren Flüchtlingen ankamen. Sie wurden in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht und nach ihrer Verhaftung infolge einer Revolte in dem Heim, bei dem dieses in Teilen niederbrannte, nach Tunesien abgeschoben. Die hygienischen und sanitären Bedingungen der Unterbringung in der überfüllten Flüchtlingsunterkunft sowie die Behandlung durch das Personal waren unzumutbar. Zudem waren die Beschwerdeführer von der Außenwelt abgeschnitten und hatten keine Möglichkeit, Zugang zu Rechtsschutz zu erhalten. Sie wurden weder einem Richter vorgeführt, noch über die Gründe ihrer Festnahme informiert. Dies sah der Gerichtshof als Verletzung ihrer Rechte aus Art. 5 Abs. 1, 2 und 4 EMRK an.351 Neben einem Verstoß gegen das Recht auf

348 EGMR, Urt. v. 19.01.2012, Beschw. Nr. 39472/07 und 39474/07 (Popov ./. Frankreich), Nr. 90. 349 EGMR, Urt. v. 19.01.2012, Beschw. Nr. 39472/07 und 39474/07 (Popov ./. Frankreich), Nr. 90. 350 EGMR, Urt. v. 04.11.2014 (GK), Beschw. Nr. 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz), Nr. 119. Zudem stellte der Gerichtshof auch hier wieder zur Feststellung, ob die Behandlung in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK fällt, darauf ab, ob sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht. Da dabei auf die Umstände des Einzelfalls wie u. a. die psychischen und physischen Wirkungen sowie das Alter des Opfers abzustellen sei, bezog sich der Gerichtshof hierbei auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern und die Tatsache der besonderen Verwundbarkeit von Kindern (Nr. 94, 118 f.). 351 EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Beschw. Nr. 16483/12 (Khlaifia u. a. ./. Italien), Nr. 40 ff.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Freiheit sah der EGMR die Zustände als mit der Menschenwürde unvereinbar und daher als erniedrigende Behandlung, mithin als Verstoß gegen Art. 3 EMRK an.352 Eine erniedrigende Behandlung und eine Verletzung der Menschenwürde nahm der Gerichtshof nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund an, dass die tunesischen Bootsflüchtlinge bereits eine sehr belastende Überfahrt hinter sich hatten.353 In diesem Zusammenhang betonte der Gerichtshof unter Verweis auf die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde, dass eine Rechtfertigungsmöglichkeit seitens des die Flüchtlinge aufnehmenden Staates nicht in Betracht kommt. So hatte sich Italien darauf berufen, dass binnen kürzester Zeit sehr viele Flüchtlinge angekommen seien.354 Dieses Argument wiesen die Richter jedoch zurück, indem sie die besondere Bedeutung des Art. 3 EMRK als absolut gewährtes Grundrecht hervorhoben. So ergebe sich bereits aus Art. 15 Abs. 2 EMRK, dass Art. 3 EMRK absolut gelte und auch eine Rechtfertigung in Krisen oder Notstandssituationen nicht in Betracht komme.355 Während der Gerichtshof also der Menschenwürde im Zusammenhang mit der Unterbringung bzw. der Abschiebung von Flüchtlingen eine große Bedeutung einräumt und diese als absoulut zu wahrendes Schutzgut des Art. 3 EMRK herausstellt, fehlte es in seiner Rechtsprechung an anderer Stelle gar komplett an einer Einbeziehung der Menschenwürde in die Prüfung: So sah der EGMR etwa in dem Urteil der Großen Kammer in der Rs. Hirsi Jamaa u. a. ./. Italien zwar einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darin, dass Italien auf dem Weg nach Lampedusa befindliche Bootsflüchtlinge abgefangen und nach Libyen zurückgebracht wurden, obwohl den italienischen Behörden bewusst gewesen sein muss, dass diese dort unmenschlicher Behandlung ausgesetzt sein würden.356 Auf die Menschenwürde hob der EGMR – ebenso wie bereits im Urteil in der Rs. Soering – dabei jedoch trotz der Betonung 352

EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Beschw. Nr. 16483/12 (Khlaifia u. a. ./. Italien), Nr. 99 ff. EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Beschw. Nr. 16483/12 (Khlaifia u. a. ./. Italien), Nr. 135: „Il est vrai que les requérants n’ont séjourné au CSPA que pour une courte durée, de sorte que le manque allégué de contact avec le monde extérieur ne pouvait pas avoir de conséquences graves pour la situation personnelle des intéressés […]. La Cour ne perd cependant pas de vue que les requérants, qui venaient d’affronter un voyage dangereux en mer, se trouvaient dans une situa­ tion de vulnérabilité. Dès lors, leur rétention dans des conditions portant atteinte à leur dignité humaine s’analyse en un traitement dégradant contraire à l’article 3.“ 354 EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Beschw. Nr. 16483/12 (Khlaifia u. a. ./. Italien), Nr. 111. 355 EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Beschw. Nr. 16483/12 (Khlaifia u. a. ./. Italien), Nr. 128: „Ces facteurs ne peuvent cependant pas exonérer l’État défendeur de son obligation de garantir que toute personne qui, comme les requérants, vient à être privée de sa liberté puisse jouir de conditions compatibles avec le respect de sa dignité humaine. À cet égard, la Cour rappelle que l’article 3 doit être considéré comme l’une des clauses primordiales de la Convention consacrant l’une des valeurs fondamentales des sociétés démocratiques qui forment le Conseil de l’Europe (Soering c. Royaume-Uni, 7 juillet 1989, § 88, série A no 161). Contrastant avec les autres dispositions de la Convention, il est libellé en termes absolus, ne prévoyant ni exceptions ni limitations, et en vertu de l’article 15 de la Convention il ne souffre nulle dérogation […].“ 356 EGMR, Urt. v. 23.02.2012 (GK), Beschw. Nr. 27765/09 (Hirsi Jamaa u. a.  ./. Italien), Nr. 113 ff. 353

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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der positiven Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Schutz vor einer unmensch­ lichen oder erniedrigenden Behandlung nicht ab.357 Zur Wahrung einer einheitlichen Schutzbereichssystematik von Art. 3 EMRK, wie sie der Gerichtshof bereits seit der Entscheidung in der Rs. Tyrer herausgearbeitet hat, und vor dem Hintergrund der Bedeutung, die der Gerichtshof der Menschenwürde mittlerweile bei der Schutzbereichsbestimmung von Art. 3 EMRK und insbesondere dem Tatbestandsmerkmal der erniedrigenden Behandlung einräumt, wäre aber ein Abstellen auf die zu schützende Menschenwürde der Beschwerdeführer wünschenswert gewesen. ll) Rettungsfolter und absoluter Schutz – Rs. Gäfgen ./. Deutschland Der im Jahre 2003 vom Landgericht Frankfurt am Main u. a. wegen Mordes an dem von ihm entführten Bankierssohn Jakob von Metzler verurteilte Beschwerdeführer Gäfgen machte in seiner Beschwerde zum EGMR geltend, dass ihm von einem hohen Polizeibeamten Folter angedroht worden sei. Dies stelle einen Verstoß gegen das Folterverbot des Art. 3 EMRK dar.358 Zudem läge ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) vor, denn in dem Strafverfahren vor dem Landgericht sei diese Androhung nicht ausreichend berücksichtigt worden.359 Bereits zuvor hatte das BVerfG in einer Kammerentscheidung die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts sowie des BGH als unzulässig erachtet und daher nicht zur Entscheidung angenommen.360 Der EGMR stellte zunächst in einer Kammerentscheidung vom 30.06.2008 fest, dass die Androhung von Folter selbst keine Folter i. S. v. Art. 3 EMRK darstelle, jedoch zumindest als unmenschliche Behandlung anzusehen sei: „Moreover, a mere threat of conduct prohibited by Article 3, provided it is sufficiently real and immediate, may be in conflict with that provision. Thus, to threaten an individual with torture may constitute at least inhuman treatment […].“361

Im Ergebnis wies der Gerichtshof die Beschwerde jedoch als unbegründet zurück, da der Beschwerdeführer durch die deutschen Gerichte für seine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung hinreichende Wiedergutmachung erlangt 357

Ebenso keine Bezugnahme erfolgte in dem Urteil v. 28.02.2008 (GK), Beschw. Nr. 37201/06 (Saadi ./. Italien). 358 EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 3. 359 EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 3. 360 BVerfG (Kammer), Beschl. v. 14.12.2004, 2 BvR 1249/04, Rn. 5. Der Beschwerdeführer hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG sowie des Misshandlungsverbots gem. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG gerügt. Der EGMR nahm im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung Bezug auf diese Entscheidung: EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 37 ff. 361 EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 66.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

habe und er daher nicht mehr behaupten könne, Opfer einer Verletzung von Art. 3 EMRK zu sein.362 Mit derselben Sache war daraufhin auch die Große Kammer des EGMR befasst. In seinem Urteil betonte der Gerichtshof noch einmal Art. 3 EMRK als absolutes Recht und erteilte unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung der Möglichkeit der sog. Rettungsfolter eine klare Absage: „Torture, inhuman or degrading treatment cannot be inflicted even in circumstances where the life of an individual is at risk. No derogation is allowed even in the event of a public emergency threatening the life of the nation.“363 Der Wortlaut des Art. 3 EMRK sei eindeutig gefasst und erkenne an, dass jeder Mensch ein „absolute, inalienable right not to be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment under any circumstances, even the most difficult“364 habe. Dieser absolute Charakter des Rechts aus Art. 3 EMRK werde durch die philosophische Grundlage („philosophical basis“365) untermauert, die keine Ausnahmen, Rechtfertigungen oder Interessenabwägungen gestatte – ungeachtet des Verhaltens der betreffenden Person und der Art der in Rede stehenden Straftat.366 Was diese philosophische Grundlage ist, ließ die Große Kammer des Gerichtshofs in ihrem Urteil erkennen, indem sie auf die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte verwies, wonach die Achtung und der absolute Schutz der Menschenwürde sowohl der Kerngedanke des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG als auch des Art. 3 EMRK sei.367 Der Gerichtshof stellte fest, dass die innerstaatlichen Gerichte ausdrücklich und unmissverständlich anerkannt hätten, dass es sich hier daher um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK handele und auch der Gerichtshof in seiner Kammerentscheidung dies zuvor zutreffend erkannt habe. Der Gerichtshof hob in dieser Entscheidung nun hervor, dass er mit den Feststellungen übereinstimme.368 Mit dem Verweis auf die philosophische Grundlage machte der Gerichtshof nun deutlich, dass die Schrankenlosigkeit von Art. 3 EMRK nicht allein in der zu wahrenden seelischen und körperlichen Integrität begründet liegt, sondern dass es um den Schutz eines höheren Gutes geht, nämlich um die – insbesondere hinter dieser absolut geltenden Konventionsgarantie stehende – philosophische Grundlage.369 Diese ist die Überzeugung von der zu achtenden und zu schützenden menschlichen Würde. Der Gerichtshof sah die Androhung von Folter als Mittel zur Vernehmung als unmenschliche Behandlung und daher als Verstoß gegen Art. 3 EMRK an.370 Darüber 362

EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 82 f. EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 107. 364 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 107. 365 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 107. 366 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 107. 367 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 48, 120. 368 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 120. 369 So auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK; a. A.: Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 27. 370 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 131 f. 363

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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hinaus fragte der EGMR danach, ob dem Beschwerdeführer eine angemessene und hinreichende Wiedergutmachung für den Verstoß gegen Art. 3 EMRK geleistet wurde.371 Er stellte fest, dass die für die Folterandrohung und damit für die unmenschliche Behandlung verantwortlichen Polizeibeamten nur zu sehr milden Strafen und zu Geldstrafen verurteilt worden seien.372 Zwar sei es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, die angemessene Strafe für einen Straftäter festzustellen, dennoch stellte er unmissverständlich seine Verpflichtung, effektiven Schutz zu gewähren, heraus: „However, under Article 19 of the Convention and in accordance with the principle that the Convention is intended to guarantee rights that are not theoretical or illusory, but practical and effective, the Court has to ensure that a State’s obligation to protect the rights of those under its jurisdiction is adequately discharged […].“373

Indem der Gerichtshof in seiner Entscheidung der sog. Rettungsfolter eine klare Absage erteilte, betonte er noch einmal ausdrücklich, dass Art. 3 EMRK ein absolutes Recht verbürgt, auf das der Betroffene einen Anspruch hat. Dabei verwies der EGMR darauf, dass er dieser Garantie dieselbe philosophische Annahme zugrundelegt wie das Grundgesetz in Art. 104 Abs. 1 S. 2 (Verbot der seelischen oder körperlichen Behandlung): Die von der zu achtenden und in absoluter Weise zu schützenden menschlichen Würde. mm) Rs. Svinarenko und Slyadnev ./. Russland In der Entscheidung in der Rs. Svinarenko und Slyadnev ./. Russland verneinte die Große Kammer des EGMR die Vereinbarkeit des Einsperrens der Angeklagten während der Gerichtsverhandlung in einen Metallkäfig mit der Konvention.374 In ihrer Entscheidung schätzte die Große Kammer dies als erniedrigende Behandlung der Beschwerdeführer i. S. v. Art. 3 EMRK ein. Wie bereits zuvor machte der EGMR deutlich, dass eine Behandlung dann erniedrigend sei, wenn sie gegen die Menschenwürde als den Kern der Konvention verstoße.375 Art. 3 EMRK verpflichte den Staat, sicherzustellen, dass eine Person unter Bedingungen festgehalten werde, die mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sei.376 Diese Verpflichtung sah die Große Kammer hier jedoch als verletzt an, denn das Einsperren von Personen in Metallkäfigen während einer Gerichtsverhandlung sei wegen der objektiv erniedrigenden Art unvereinbar mit den Anforderungen an ein zivilisiertes Verhalten, das 371

EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 123. EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 123. 373 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 123. 374 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. ­Slyadnev ./. Russland), Nr. 138. 375 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. ­Slyadnev ./. Russland), Nr. 115, 118, 138. 376 Unter Verweis auf seine Entscheidung in der Rs. Kudła ./. Polen: EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 116. 372

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft sei und eine Verletzung der Menschenwürde darstelle, die gegen Art. 3 EMRK verstoße.377 Entscheidend bei diesem Urteil ist, dass der Gerichtshof nun die Soering-Rechtsprechung mit seiner bisherigen Rechtsprechung zur Menschenwürde als Kern der Konvention verbindet und so viel deutlicher wird, was Gegenstand des Menschenwürdekonzepts der Konvention ist. In Rn. 118 seines Urteils wiederholte der Gerichtshof hinsichtlich der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Grundsätze zunächst die Kernaussage des Pretty-Urteils: „Respect for human dignity forms part of the very essence of the Convention […].“378 Anschließend fuhr der Gerichtshof mit der Wiederholung der Grundsätze aus dem Soering-Urteil fort, wonach es Ziel und Zweck der Konvention als einem Instrument zum Schutz des Einzelnen verlangen, ihre Vorschriften so auszulegen und anzuwenden, dass ihre Garantien praktisch und wirksam sind.379 Hieraus wird erkennbar: Die EMRK als Verfassungsinstrument dient dem effektiven Schutz des Individuums. Dies findet wiederum darin seine Begründung, dass der Grund der Konvention in dem jedem Einzelnen zukommenden Anspruch auf Achtung und Schutz seiner Menschenwürde liegt. Diese Annahme liegt damit jeder einzelnen Konventionsgarantie zugrunde und ist dabei bei jeder Auslegung und Anwendung der Konventionsgarantien mitzudenken und gegebenenfalls auch zu prüfen. Indem der Gerichtshof die Menschenwürde als Kern der Konvention, als philosophischen Hintergrund, bezeichnet, verweist er auf die Wurzeln der Konvention, nämlich auf das, was bereits vor der Verabschiedung der EMRK vorhanden war, also als vorrechtlich zu begreifen ist: der Achtungsanspruch jedes Individuums. Zudem begreift der Gerichtshof die Menschenwürde als absolute Grenze staatlicher Zugriffsmöglichkeit. Diese Grenze ist dort überschritten, wo der Einzelne über das – etwa mit der Haft verbundene – unvermeidbare Maß hinaus gedemütigt oder herabgesetzt wird, etwa dadurch, dass sein Ansehen beschädigt wird und in ihm Gefühle der Erniedrigung, Hilflosigkeit, Furcht, Beklemmung und Unterlegenheit erweckt werden.380 Dies widerspricht einem zivilisierten Handeln des demokratischen Staates. Diese absolute Grenze wird allerdings im selben Urteil dann wieder in Frage gestellt. Einerseits stellte die Große Kammer heraus, dass die Verwendung eines Käfigs nach Art. 3 EMRK niemals mit dem Verweis auf angebliche Gefahren für die 377 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. ­Slyadnev ./. Russland), Nr. 138. 378 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 u. 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 118. 379 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 u. 43441/08 (Svinarenko u. Slyad­ nev ./. Russland), Nr. 118. Ebenso heißt es dann in Rn. 138: „Regardless of the concrete circumstances in the present case, the Court reiterates that the very essence of the Convention is respect for human dignity and that the object and purpose of the Convention as an instrument for the protection of individual human beings require that its provisions be interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective.“ 380 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyad­nev ./. Russland), Nr. 129.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Sicherheit gerechtfertigt werden könne.381 Insofern betonte die Große Kammer auch hier den Absolutheitsanspruch des Art. 3 EMRK und der Menschenwürde­garantie. Andererseits erörterte die Große Kammer im selben Urteil dann jedoch mögliche Rechtfertigungsgründe für eine derartige Behandlung, etwa aufgrund von Sicherheitserwägungen, Fluchtgefahr oder um mit ungebührlichem oder aggressivem Verhalten fertig zu werden.382 Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass der Gerichtshof sowohl in diesem Urteil wie auch in anderen Urteilen den absoluten Charakter des Art. 3 EMRK immer wieder bekräftigt hat, inkonsequent. Bezieht sich der Gerichtshof hier einerseits deutlich auf die Menschenwürde als den Kern der Konvention und den Schutz des Individuums um seiner Würde Willen vor Demütigung und Herabsetzung als Ziel und Zweck der Konvention, kann er andererseits nicht die Rechtfertigung einer Verletzung der Menschenwürde in Erwägung ziehen. Auch in weiteren Entscheidungen setzte sich der Gerichtshof mit ähnlichen Fallkonstellationen auseinander. So kam der EGMR in seiner Entscheidung in der Rs. Calovskis ./. Lettland ebenfalls zu dem Schluss, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer während der Gerichtsverhandlung in einem Metallkäfig sitzen musste, gegen Art. 3 EMRK verstieß.383 In diesem nur wenige Tage nach der Entscheidung der Großen Kammer in der Rs. Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland ergangenen Urteil bezog sich der Gerichtshof allerdings mit keinem Wort auf die Menschenwürde bei der Prüfung der Verletzung von Art. 3 EMRK. Auch wenn also der Beschwerdeführer einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist, die ihrer Art und Weise nach geeignet ist, diesen zu demütigen und herabzusetzen, führt dies nicht automatisch dazu, dass der Gerichtshof eine Prüfung anhand der Menschenwürdegarantie als notwendig ansieht. nn) Rs. Bouyid ./. Belgien Während sich aus der bisherigen Rechtsprechung des EGMR wie auch aus der Entscheidung in der Rs. Svinarenko bereist ergab, dass eine Behandlung dann als erniedrigend i. S. v. Art. 3 EMRK anzusehen ist, wenn sie die Menschenwürde verletzt, zeigte der Gerichtshof in der Entscheidung der Großen Kammer in der Rs. Bouyid ./. Belgien vom 28.09.2015 erstmals expressis verbis den Zusammenhang zwischen dem Konzept der erniedrigenden Behandlung und dem Menschenwürdekonzept der EMRK auf. Zum ersten Mal setzte sich der Gerichtshof in dieser Entscheidung ausführlicher mit der Menschenwürde auseinander. Zunächst stellte der Gerichtshof in seiner Entscheidung fest, dass die Menschenwürde in vielen internationalen und re 381 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyad­nev ./. Russland), Nr. 137. 382 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 u. 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev . /. Russland), Nr. 119, 135, 137. Siehe hierzu ebenso die kurze Kritik in den Anmerkungen zu dem Urteil von Meyer-Ladewig und Petzold, NJW 2015, 3423 (3426 f.). 383 EGMR, Urt. v. 24.07.2014, Beschw. Nr. 22205/13 (Calovskis ./. Lettland).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

gionalen Texten und Menschenrechtsinstrumenten zu finden sei,384 die Konvention die Menschenwürde zwar selber nicht nenne – auch wenn diese in der Präambel zum 13. Zusatzprotokoll zur Konvention auftauche –, der Gerichtshof aber wiederholt herausgestellt habe, dass die Achtung der Menschenwürde gemeinsam mit der Freiheit „forms […] the very essence of the Convention.“385 Entscheidend ist dann aber die erstmals in einem Urteil ausdrücklich getroffene folgende Feststellung: „More­ over, there is a particular strong link between the concepts of ‚degrading‘ treatment or punishment within the meaning of Article 3 of the Convention and respect for ‚dignity‘.“386 Hierbei verwies der Gerichtshof auf die Entscheidung der EKMR in der Rs. East African Asians sowie seine bisherige Rechtsprechung beginnend mit der Entscheidung in der Rs. Tyrer bis zur Entscheidung in der Rs. Svinarenko.387 Etwas Entscheidendes wird aus diesem Urteil des EGMR aber deutlich: Erstmals fordert der Gerichtshof ausdrücklich dazu auf, einen Verstoß gegen die Konvention dann anzunehmen, wenn eine Verletzung der Menschenwürde vorliegt: „Any interference with human dignity strikes at the very essence of the Convention.“388 In der Sache ging es hier um Ohrfeigen, die den in Polizeigewahrsam befindlichen beiden Beschwerdeführern von Polizeibeamten verabreicht worden waren. Aus diesem Grund fuhr der Gerichtshof fort: „For that reason any conduct by law-enforcement officers vis-à-vis an individual which diminishes human dignity constitutes a violation of Article 3 of the Convention.“389 Anders als noch in der vorangegangenen Entscheidung des Gerichtshofs390 nahm die Große Kammer des Gerichtshofs hier einen ernsthaften Angriff auf die Würde der unter der Kontrolle des Polizeibeamten befindlichen Betroffenen durch die Ohrfeigen an391 und daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK.392 Hatte der Gerichtshof in derselben Sache in seiner Kammerentscheidung zwar auch auf die zu achtende Menschenwürde verwiesen, eine erniedrigende Behandlung jedoch unter Verweis auf das Schweregradargument noch verneint,393 erscheint in der Entscheidung der Großen Kammer die hier deutlich differenziertere Prüfung einer Verletzung der Menschenwürde das ausschlaggebende Moment dafür gewesen zu sein, dass der Gerichtshof nun eine Verletzung von Art. 3 EMRK annahm. 384

EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 45–47, 89: „The word ‚dignity‘ appears in many international and regional texts and instruments […].“ 385 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 89. 386 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 90. 387 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 90. 388 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 101. 389 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 101. 390 EGMR, Urt. v. 21.11.2013, Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 51 f. 391 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 103. Auch in dieser Entscheidung betonte der Gerichtshof wieder die besondere Verletzlichkeit des Beschwerdeführers, da er sich in Polizeigewahrsam befand und daher den Behörden in besonderer Weise ausgeliefert sei (Nr. 107). 392 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 113. 393 EGMR, Urt. v. 21.11.2013, Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 46, 51 f.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Entscheidend war dabei vor allem, dass der EGMR in diese Entscheidung zudem sein Konzept von identity zur Prüfung einer Menschenwürdeverletzung einbezog. Wie die folgende Untersuchung zeigen wird, verband der EGMR dieses mit der Menschenwürde im Zusammenhang stehende Konzept in seinen Entscheidungen bislang mit Art. 8 EMRK.394 Dass dieses Konzept von identity unabhängig von der damit in Verbindung stehenden Konventionsgarantie grundsätzlich einen engen Zusammenhang mit der Menschenwürde aufweist, unterstrich die Große Kammer nun damit, dass sie es auch im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK anwendete und aufgrunddessen das Vorliegen einer Verletzung der Menschenwürde bejahte. So sei eine Ohrfeige ein ernsthafter Angriff auf den Körperbereich einer Person, der ihre Individualität und soziale Identität ausdrücke und für die Kommunikation mit anderen von Bedeutung sei,395 und verletze daher die Würde der Beschwerdeführer und sei somit eine erniedrigende Behandlung, die einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstelle.396 oo) Fragen sozialer Not – Rs. D. ./. Vereinigtes Königreich, Rs. Z. u. a. ./. Vereinigtes Königreich und Rs. N. ./. Vereinigtes Königreich Der Gerichtshof hat sich mittlerweile unter Verweis auf den Schutz der Menschenwürde einer Anwendung des Art. 3 EMRK auf Fälle mangelnder Unterbringung und widriger Lebensbedingungen insbesondere verletzlicher Personen wie etwa Asylbewerbern geöffnet. Der EGMR nahm bereits eine positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten an, die über eine bloße klassische Schutzpflicht hinausgeht und vielmehr auf den sozialen Zustand der betroffenen Person abhebt. Dabei stellte der Gerichtshof in den benannten Fällen insbesondere auf das Moment der Demütigung bzw. die Situation des Betroffenen ab, die eine selbstbestimmte Steuerung aufgrund widriger Lebensumstände und seiner besonderen Verletzlichkeit unmöglich macht. In der Rs. Budina ./. Russland hatte der EGMR zudem bereits deutlich gemacht, dass er nicht ausschließt, dass sich aus Art. 3 EMRK eine positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten ableiten lässt, wenn der Beschwerdeführer vollständig auf staatliche Hilfe angewiesen ist und bei den Behörden nur auf Gleichgültigkeit trifft, obwohl er sich in einer Situation schwerer Entbehrungen befindet, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist.397 Zugleich ließ der Gerichtshof aber auch in dieser 394

Siehe hierzu im Einzelnen Teil E. I. 3. b). EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 104: „A slap has a considerable impact on the person receiving it. A slap to the face affects the part of the person’s body which expresses his individuality, manifests his social identity and constitutes the centre of his senses – sight, speech and hearing – which are used for communication with others.“ An dieser Stelle verwies der Gerichtshof auf seine Entscheidung in der Rs. S. A. S. ./. Frankreich, in der er unter Verweis auf die Notwendigkeit zur Kommunikation mit anderen das französische Burkaverbot rechtfertigte (siehe zu dieser Entscheidung Teil E. I.3. b) ee). 396 EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 111–113. 397 Siehe zu dieser Entscheidung bereits oben unter Punkt E. I. 3. a) kk) (2). 395

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Entscheidung erkennen, dass der jeweilige Beschwerdeführer grundsätzlich das konkrete Leid darlegen muss und daher der Verweis auf eine sehr niedrige Rente, die zwar die grundlegenden Bedürfnisse nach Unterkunft, Ernährung und körper­ liche Hygiene befriedigte, jedoch auch nicht darüber hinausging, nicht ausreichte, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen.398 Insofern formulierte der Gerichts­hof in dieser Entscheidung nicht positiv, welche genauen Voraussetzungen nach Art. 3 EMRK für eine positive Verpflichtung zur Verhinderung sozialer Not vorliegen müssen.399 Der Gerichtshof machte in seiner Entscheidung in der Rs. Z. ./. Vereinigtes König­ reich deutlich, dass er besonders verletzliche Personen auch dann den durch Art. 3 EMRK gewährten Schutz zugesteht, wenn sie sich nicht in Haft oder einer sonstigen Situation staatlicher Unterbringung befinden und die Einwirkung nicht durch den Staat sondern durch Dritte erfolgt.400 In dem betreffenden Fall war es zu einer massiven Vernachlässigung und regelmäßigen körperlichen und seelischen Misshandlung der null bis sieben Jahre alten Kinder durch die Eltern gekommen. Den zuständigen Behörden waren diese Umstände über viereinhalb Jahre lang bekannt, ohne dass sie hiergegen vorgingen. Der Gerichtshof sah das Unterlassen der staatlichen Behörden, gegen diese Missstände vorzugehen, als unmenschliche und erniedrigende Behandlung und somit als Verstoß gegen Art. 3 EMRK an.401 Der EGMR machte auch hier deutlich, dass der Staat nach Art. 1 i. V. m. Art. 3 EMRK verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Personen vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu schützen:402 „These measures should provide effective protection, in particular, of children and other vulnerable persons and include reasonable steps to prevent ill-treatment of which the autho­rities had or ought to have had knowledge […].“403 Da dies unterblieben war, sprach der Gerichtshof den vier Beschwerdeführern Entschädigungssummen für zukünftige medizinische Kosten bzw. für den Verlust von Beschäftigungsmöglichkeiten zwischen 8.000 und 50.000 Britischen Pfund zu.404 Sofern dieses Urteil in der Literatur als „soziale Leitentscheidung“405 bezeichnet worden ist, muss dem entgegnet werden, dass der Gerichtshof zwar deutlich positive Verpflichtungen der Mitgliedstaaten formulierte, die sich auch auf ein Eingreifen im Falle der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch Dritte erstrecken. Zudem gewährte der Gerichtshof den Betroffenen auch eine finanzielle Entschädigung für den entstandenen Schaden durch medizinische Behandlungskosten und zu erwartenden Erwerbsausfall. Jedoch statuierte der Gerichtshof damit keinen direk 398

EGMR, Urt. v. 18.06.2009, Beschw. Nr. 45603/05 (Budina ./. Russland). Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn.  113. 400 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 29392/95 (Z. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 73 ff. 401 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 29392/95 (Z. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 74 f. 402 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 29392/95 (Z. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 73. 403 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 29392/95 (Z. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 73. 404 EGMR, Urt. v. 10.05.2001, Beschw. Nr. 29392/95 (Z. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 127. 405 So etwa Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 85. 399

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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ten Leistungsanspruch auf Gewährung eines sozialen Mindeststandards. Vielmehr zeigte der Gerichtshof auch hier die äußersten Grenzen dessen auf, was noch im Rahmen des Zulässigen ist und was hingegen mit der staatlichen Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde nicht mehr vereinbar ist und daher gegen Art. 3 EMRK verstößt. Der vom EGMR anerkannte und den Mitgliedstaaten in sozialen Fragen eingeräumte weite Spielraum findet mithin seine Grenze im konventionsrechtlich gewährleisteten Schutz der Menschenwürde.406 Insofern handelte es sich hier vielmehr um die Formulierung der den Mitgliedstaaten zukommenden klassischen Schutzpflichten gegenüber Dritten.407 In der Rs. D. ./. Vereinigtes Königreich bejahte der EGMR eine unmenschliche Behandlung und daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Entscheidung, den an AIDS erkrankten Beschwerdeführer auszuweisen, da dieser in seinem Heimatstaat nicht mit der entsprechenden medizinischen Versorgung sowie familiärer Betreuung rechnen konnte, obwohl er nur noch acht bis zwölf Monate zu leben hatte.408 Ist also eine lebenswichtige medizinische Behandlung durch eine Ausweisung durch einen Mitgliedstaat unmöglich, kann dies konventionswidrig sein. Der Gerichtshof betonte jedoch, dass nur aufgrund der außergewöhnlichen Umstände dieses Einzelfalls und den zwingenden humanitären Gründen eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzunehmen sei.409 Grundsätzlich bleibe es aber dabei, dass Ausländer, die einer Ausweisungsentscheidung unterlägen, nicht geltend machen könnten, im betreffenden Mitgliedstaat zu verbleiben, um in den Genuss sozialer, medizinischer oder anderer Unterstützung durch diesen Staat zu kommen.410 Auch wenn der Gerichtshof sich in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich auf die Menschenwürde bezog, ließ er auch hier wieder erkennen, dass die äußerste Grenze des mitgliedstaatlichen Ermessensspielraums im Hinblick auf die sozialen Leistungsrechte dort verläuft, wo humanitäre Erwägungen eine andere Entscheidung nicht mehr gewähren. Dies unterstrich der Gerichtshof unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK, hob zugleich die „fundamental importance of Article 3 in the Convention system“ hervor und machte deutlich, dass der Gerichtshof „must reserve to itself sufficient flexibility to address the application of that Article in other contexts which might arise.“411 Würde die Anwendbarkeit des Art. 3 EMRK an dieser Stelle verneint, liefe dies dem absoluten Charakter der Norm zuwider.412 Es ist zutreffend, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zwar keine schematische Systematisierung derivativer Teilhaberechte erkennen lässt,413 und in diversen Entscheidungen Ansprüche auf Wohnung, Erziehungsgeld, Rente und 406

Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 329. So auch Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 369. 408 EGMR, Urt. v. 02.07.1997, Beschw. Nr. 30240/96 (D. /. Vereinigtes Königreich), Nr. 54. 409 EGMR, Urt. v. 02.07.1997, Beschw. Nr. 30240/96 (D. /. Vereinigtes Königreich), Nr. 54. 410 EGMR, Urt. v. 02.07.1997, Beschw. Nr. 30240/96 (D. /. Vereinigtes Königreich), Nr. 54. 411 EGMR, Urt. v. 02.07.1997, Beschw. Nr. 30240/96 (D. /. Vereinigtes Königreich), Nr. 49. 412 EGMR, Urt. v. 02.07.1997, Beschw. Nr. 30240/96 (D. /. Vereinigtes Königreich), Nr. 49. 413 Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 328. 407

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Sozialhilfe verneinte.414 Dennoch hat er in Einzelfällen eine Erweiterung des Art. 3 EMRK auch auf Fälle besonderer sozialer Not vorgenommen. In diesen Entscheidungen ließ der Gerichtshof erkennen, dass sich eine Verletzungssituation nach Art. 3 EMRK nicht unbedingt auf konkrete Handlungen des Mitgliedstaates beziehen muss, sondern sich vielmehr auch auf Zustände wie schwere Vernachlässigung oder dem Ausgeliefertsein einer völlig unzureichenden medizinischen Versorgung beziehen kann.415 Zumeist muss die Not aufgrund dieser Zustände jedoch so groß sein, dass humanitäre Erwägungen ein Eingreifen erfordern. Auch hier handelte es sich wieder um Fälle besonders verletzlicher Personen, denen aufgrund ihrer ausweglosen Situation die Wahlfreiheit fehlte und sie somit in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu dem betreffenden Mitgliedstaat standen. Der Gerichtshof hat jedoch der Annahme einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten, z. B. die bestehenden unterschiedlichen Standards in den Mitgliedstaaten hinsichtlich der medizinischen Versorgung auszugleichen, grundsätzlich eine Absage erteilt.416 In der Entscheidung der Großen Kammer in der Rs. N ./. Vereinigtes König­ reich417 betonte der Gerichtshof, dass auch wenn viele der Konventionsgarantien soziale oder wirtschaftliche Implikationen hätten, „the Convention is essentially directed at the protection of civil and political rights […].“418 Der Konvention als Ganzes wohne das Suchen inne nach einem gerechten Ausgleich „between the demands of the general interest of the community and the requirements of the protection of the individual’s fundamental rights […].“419 Nur in besonderen Ausnahmesituationen müsse aufgrund der fundamentalen Bedeutung von Art. 3 EMRK im Konventionssystem der Gerichtshof soweit flexibel bleiben, eine Ausweisung zu verhindern.420

414

Vgl. hierzu näher Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (194). Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  11 Rn. 113 f. Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK  – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 98, verweist darauf, dass sich die bisherige Judikatur des EGMR auf akute Härtefälle begrenze, die sich einer politischen Abwägung entzögen und durch ihre Unmenschlichkeit eine Bedrohung für die Würde des Betroffenen darstellten. Es sei abzuwarten, ob sich die Rechtsprechung vielleicht in Richtung einer umfassenden Zusicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen entwickele. 416 EGMR, Urt. v. 27.05.2008 (GK), Beschw. Nr. 26565/05 (N. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. Der Gerichtshof fügte an: „A finding to the contrary would place too great a burden on the Contracting States.“ 417 EGMR, Urt. v. 27.05.2008 (GK), Beschw. Nr. 26565/05 (N. ./. Vereinigtes Königreich). In dieser Rs. wandte sich der ugandische Beschwerdeführer gegen die Ausweisungsentscheidung der britischen Behörden, da er selbst an AIDS erkrankt sei und eine Behandlung könne in seiner Wohngegend in Uganda nicht erlangt werden. 418 EGMR, Urt. v. 27.05.2008 (GK), Beschw. Nr. 26565/05 (N. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 419 EGMR, Urt. v. 27.05.2008 (GK), Beschw. Nr. 26565/05 (N. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 420 EGMR, Urt. v. 27.05.2008 (GK), Beschw. Nr. 26565/05 (N. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 415

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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b) Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK Neben Art. 3 EMRK ist für die Interpretation des Menschenwürdekonzepts der EMRK die Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem. Art. 8 EMRK von großer Bedeutung. Auch wenn der Gerichtshof erst seit relativ kurzer Zeit die Menschenwürde mit Art. 8 EMRK in Verbindung bringt, spielt sie mittlerweile für dieses Recht eine wichtige Rolle.421 So kommt der Menschenwürde erhebliche Relevanz – insbesondere auch in neueren Entscheidungen – bei der Herausbildung des Konzepts des EGMR von identity und private life sowie persönlicher Freiheit zu.422 Dies entspricht der hier vertretenen Annahme, wonach die Idee der Menschenwürde häufig verbunden ist mit den Begriffen der Persönlichkeit bzw. der Identität.423 aa) „The very essence of the Convention“ – Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich In der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich ging es um die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord, die dem Mann der Beschwerdeführerin in Aussicht gestellt wurde für den Fall, dass er seiner Frau Sterbehilfe leisten würde.424 Der Gerichtshof verneinte eine Verletzung von Art. 3 EMRK in diesem Fall. Zwar stellte der EGMR in seiner Entscheidung fest, dass er nicht ausschließen könne, dass hier ein Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 8 Abs. 1 EMRK auf Achtung ihres Privatlebens vorlag, da das betreffende Gesetz die Beschwerdeführerin daran hinderte, ihre Wahl zu treffen und zu vermeiden, was sie als unwürdiges und qualvolles Ende ihres Lebens ansieht.425 Jedoch sah der Gerichtshof diesen Eingriff als nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt an, da er „‚necessary in a democratic society‘ for the protection of the rights of others“ sei.426 Wenngleich der Gerichtshof auch zuvor schon – insbesondere im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK – die grundlegende Bedeutung der Menschenwürde für das grundrechtliche Schutzsystem der Konvention und die demokratische Gesellschaft betont hatte, wurde der Gerichtshof in dieser Entscheidung wesentlich deutlicher, 421

Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393, 399. Siehe zur Bedeutung des Schutzes der Identität auch für das Verständnis von Art. 1 Abs. 1 GG Hufen, JuS 2010, 1 (2). Dieser betont: „Im Mittelpunkt des Schutzbereichs stehen die Identität des Menschen und die Achtung vor dem Eigenwert und der Einmaligkeit seiner Persönlichkeit […].“ 423 Vgl. Schlussanträge der GA’in Stix-Hackl vom 18.03.2004, Rs. C-36/02 (Omega-Spielhallen), Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 79. 424 Siehe zum Sachverhalt und zu der Entscheidung des Gerichtshofs in dieser Sache bzgl. einer Verletzung von Art. 3 EMRK bereits die Ausführungen unter Punkt E. I. 3. a) ee). 425 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 67. 426 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 67, 78. 422

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

indem er formulierte: „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.“427 Indem der Gerichtshof die Menschenwürde und die menschliche Freiheit erstmals ausdrücklich als den Kern, als das Wesentliche („the very essence“) der Konvention benannte, hob er den objektiv-rechtlichen Gehalt der Menschenwürdegarantie im Grundrechtsschutzsystem der Konvention hervor.428 Die erhebliche Bedeutung dieser Entscheidung wird daran deutlich, dass der Gerichtshof mit dieser Feststellung seine bisherige Rechtsprechung bekräftigte, die bereits erkennen ließ, dass es sich bei der Menschenwürde eben nicht um eine bloße Hintergrundannahme oder einen einfachen Auslegungsgrundsatz handelt, sondern vielmehr um den Kerngehalt der Konvention und ihrer einzelnen Verbürgungen.429 Hiermit erkannte der Gerichtshof die normative Bedeutung des Menschenwürdesatzes an und machte einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Etablierung eines umfassenden Menschenwürdeschutzes, obwohl die Menschenwürde in der Konvention selbst keine ausdrückliche Erwähnung fand. Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde werden hier als „Grundlage und durchgehendes Motiv“430 der Konvention erkennbar. Mittlerweile gehört dieser Ausspruch des Gerichtshofs von der Menschenwürde als dem Kern der Konvention zu seiner ständigen Rechtsprechung.431 Welcher Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde dabei jedoch eigentlich zukommt, wird aus dieser Entscheidung zumindest in Teilen erkennbar. So wurde die Menschenwürde hier vom Gerichtshof auf eine Stufe mit der menschlichen Freiheit gestellt, denn auch diese bezeichnete er als das Wesentliche der Konvention. Zugleich beleuchtete der EGMR in dieser Entscheidung näher sein hinter dem in Art. 8 EMRK verbürgten Recht stehendes Konzept von private life und identity: Dem Konzept des EGMR des private life liege ein umfassendes Begriffsverständnis zugrunde und es beziehe sowohl die physische wie auch die psychische Integrität einer Person ein wie auch Aspekte der körperlichen und sozialen Identität eines Individuums und das Recht auf Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.432 Näher führte der Gerichtshof aus: „Elements such as, for example, gender identification, name and sexual orientation and sexual life fall within the personal sphere protected by Article 8 […].“433 Art. 8 EMRK liege die Vorstellung von der Autonomie der 427

EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 65. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 109. 429 Vgl. Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-War Europe, S. 221. 430 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 117. 431 Vgl. etwa in jüngerer Zeit EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 118, 138; ebenso EGMR, Urt. v. 13.01.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland), Nr. 142. 432 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 61: „right to personal development“. Ebenso EGMR, Urt. v. 12.06.2003 (van Kück ./. Deutschland), Nr. 69. 433 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 61. Des Weiteren benennt der Gerichtshof als von Art. 8 EMRK geschützt: „Article 8 also protects a right to personal development, and the right to establish and develop relationships with other 428

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Person als wichtigem Prinzip und das Recht auf Selbstbestimmung zugrunde.434 Daher stellte der Gerichtshof im Hinblick auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin fest, dass Vorstellungen von Lebensqualität an Bedeutung gewönnen und es vielen Personen vor dem Hintergrund wachsenden medizinischen Fortschritts im Zusammenhang mit einer gestiegenen Lebenserwartung ein Anliegen sei, im Alter oder bei fortschreitendem körperlichen oder geistigen Abbau nicht gezwungen zu sein weiterzuleben.435 Dies stehe im Widerspruch zu ihren Vorstellungen von selbstbestimmter und persönlicher Freiheit.436 Nach der Vorstellung des Gerichtshofs vom Menschen als autonomer Person umfasse die „ability to conduct one’s life in a manner of one’s own choosing“ auch die Möglichkeit „to pursue activities perceived to be of a physically or morally harmful or dangerous nature for the individual concerned.“437 Staatliche Maßnahmen wie etwa Strafgesetze zur Verhinderung solcher Handlungen stellen nach Ansicht des Gerichtshofs einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar und bedürften daher der Rechtfertigung nach Abs. 2.438 In diesem Zusammenhang verwies der Gerichtshof wiederum auf den den Mitgliedstaaten eingeräumten margin of appreciation.439 Zwar verwies der EGMR auf seine Rechtsprechung, wonach dieser Beurteilungsspielraum bei staatlichen Eingriffen in die Intimsphäre – etwa in das Sexualleben – eng sei. In diesem Fall aber fasste er den gesetzgeberischen Spielraum im Rahmen der Rechtfertigung weiter.440 Es ist hier erkennbar, dass sich der Gerichtshof angesichts der unterschiedlichen Auffassungen in den einzelnen Mitgliedstaaten über die komplexe und umstrittene Frage der Sterbehilfe nicht positionieren wollte. Möglicherweise stellte der EGMR in seiner Entscheidung schon wegen des absoluten Charakters von Art. 3 EMRK fest, dass sich aus Art. 3 EMRK keine Verpflichtung der Staaten ergebe, die aktive Sterbehilfe auf ihrem Hoheitsgebiet zuzulassen. Indem er dann den Weg über Art. 8 EMRK ging, verblieb dem Gerichtshof die Möglichkeit, eine Eingriffsrechtfertigung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK anzunehmen und so einer eindeutigen Entscheidung zu entgehen.441

human beings and the outside world […].“ Ebenso EGMR, Urt. v. 12.06.2003 (van Kück ./. Deutschland), Nr. 69. 434 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 61. 435 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 65. 436 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 65. 437 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 62. 438 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 62. 439 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 70. 440 EGMR, Urt. v. 29.04.2002, Beschw. Nr. 2346/02 (Pretty ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 71. 441 Dies begrüßend: von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 100: „Der Gerichtshof hat daher in seinem Urteil zum Fall Pretty sicherlich gut daran getan, die Klage hauptsächlich unter Art. 8 EMRK abzuhandeln, der eine Abwägung gegen gesellschaftliche und moralische Interessen ausdrücklich vorsieht. Die Unabwägbarkeit des Art. 3 EMRK macht diesen zu einem denkbar ungeeigneten Aufhänger für eine derart delikate und emotional aufgeladene Angelegenheit wie der aktiven Sterbehilfe.“

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Dass der EGMR hier keine klare Position bezog, ist zwar bedauerlich, vor allem da es sich hierbei um eine Frage des höchstpersönlichen Lebensbereichs handelt, mithin um den Kern der Privatsphäre. Konsequenterweise hätte der Gerichtshof hier daher den margin of appreciation der Mitgliedstaaten enger ziehen müssen.442 Allerdings handelt es sich insbesondere bei der Frage nach der Zulässigkeit der Sterbehilfe um einen sensiblen Bereich, der Fragen der Ethik und Moral und auch religiöse Fragen tangiert.443 Dagegen ließe sich argumentieren, dass wenn es bei der Menschenwürde gerade darum geht, dem Einzelnen als autonomer Person die Möglichkeit zu gewähren, entsprechend seiner eigenen Vorstellungen und Wünsche seine Identität zu bestimmen und über sein Leben und damit auch über sein Sterben zu entscheiden, eine Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK hätte ausgeschlossen werden müssen.444 Des Weiteren ließe sich ins Feld führen, dass gerade in derlei umstrittenen Fragen, die eine vermeintlich herrschende Moral bzw. herrschende kulturelle Identität berühren, der Gerichtshof bereit sein müsse, zumindest einen Minimalstandard zu definieren und den Gehalt der in der Konvention garantierten Rechte – insbesondere wenn sie den Kern der Konvention berühren – zu bestimmen und zu schützen,445 um einen effektiven Schutz der Rechte des Individuums zu gewährleisten. Andererseits ist es gerade im Hinblick auf derlei sensible Fragen, die häufig noch nicht einmal in den einzelnen Mitgliedstaaten selbst von einem gesellschaftlichen Konsens getragen sind, wichtig, dass der EGMR behutsam  – auch um die Akzeptanz seiner Rechtsprechung und der EMRK in den Konventionsstaaten zu erhalten – vorgeht. Er muss dabei im Auge behalten, dass die Aus­ legung eines völkerrechtlichen Vertrages wie der EMRK wesentlich auch auf einem Konsens unter den Mitgliedstaaten beruhen sollte und er eine Weiterentwicklung der Konvention nur auf einen weitgehenden Konsens unter den Vertragsstaaten stützen kann.446 Dennoch ist dieses Urteil für das Verständnis des Menschenwürdekonzepts der EMRK wegweisend, denn es wird deutlich, dass der Gerichtshof die Menschenwürde als mit der persönlichen Freiheit des Einzelnen untrennbar verbunden ansieht.447 Der Gerichtshof versteht den Menschen als autonomes Wesen, weshalb 442

Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 117 ff. Siehe hierzu von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundan­ nahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 100. 444 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 117, stellt an dieser Stelle fest, dass die Freiheit zur Selbstbestimmung grundsätzlich auch die Beendigung des Lebens mit einbeziehe. Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983), sieht es als „etwas überraschend“ an, dass der Gerichtshof nicht zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK kommt, weil er den Eingriff als nach Abs. 2 gerechtfertigt ansieht. 445 So auch Schweitzer, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, § 138 Rn. 42. 446 Ebenso Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 212. 447 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 109; Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (326). 443

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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der Grundsatz der Selbstbestimmung jedes Einzelnen die Grundlage von Art. 8 EMRK bildet.448 bb) Weitere Entscheidungen zur Sterbehilfe – Rs. Koch ./. Deutschland In der Rs. Koch ./. Deutschland ging es um die Weigerung der deutschen Behörden, der querschnittsgelähmten Ehefrau des Beschwerdeführers, die auf künstliche Beatmung angewiesen war, die Erlaubnis zum Erwerb tödlicher Medikamente zu erteilen, die ihre Selbsttötung ermöglicht hätten.449 Der Beschwerdeführer machte geltend, die Weigerung der Erlaubnis stelle einen Verstoß gegen das Recht seiner Frau auf menschenwürdiges Sterben dar sowie gegen sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Der Gerichtshof kam in seinem Kammerurteil zu dem Schluss, dass die Weigerung der deutschen Gerichte, die Beschwerde des Beschwerdeführers über diese Entscheidung in der Sache zu prüfen, einen Verstoß gegen seine Verfahrensrechte nach Art. 8 EMRK darstellte.450 Hinsichtlich der materiellen Beschwerde in dieser Sache war der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass aufgrund des Subsidiaritätsprinzips diese Prüfung den nationalen Gerichten obliege, insbesondere vor dem Hintergrund, dass unter den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Zulässigkeit jeglicher Form der Beihilfe zum Suizid kein Konsens herrsche.451 In Ermangelung eines solchen Konsenses stehe den Mitgliedstaaten ein breiterer margin of appreciation bezüglich dieser Frage zu.452 Immerhin aber stützte der Gerichtshof die Annahme einer Verletzung der Verfahrensrechte des Beschwerdeführers in dieser Entscheidung auf seine Rechtsprechung in der Rs. Pretty zum Konzept des private life i. S. v. Art. 8 EMRK und die Bedeutung des Konzepts persönlicher Autonomie, die den Gewährleistungen nach Art. 8 EMRK zugrunde liegt.453 Zudem bezog sich der Gerichtshof aud die Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung in der Rs. Haas ./. Schweiz454, in der es um die Frage ging, ob die Schweiz einen rezeptfreien Zugang zu einem tödlich wirkenden Medikament ermöglichen muss: „In the case of Haas v. Switzerland, the Court further developed this case-law by acknowledging that an individual’s right to decide in which way and at which time his or her life 448

So auch Judge Rosalyn Higgins, vormals Präsident des IGH, zit. nach Reis Monteiro, Ethics of Human Rights, S. 229; Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). 449 EGMR, Urt. v. 19.07.2012, Beschw. Nr. 497/09 (Koch ./. Deutschland). 450 EGMR, Urt. v. 19.07.2012, Beschw. Nr. 497/09 (Koch ./. Deutschland), Nr. 72. Darüber hinaus entschied der Gerichtshof, dass Deutschland dem Beschwerdeführer 2.500 EUR für den erlittenen immateriellen Schaden und 26.736,25 EUR für die entstandenen Kosten zu zahlen habe (Nr. 86 ff.) 451 EGMR, Urt. v. 19.07.2012, Beschw. Nr. 497/09 (Koch ./. Deutschland), Nr. 70 f. 452 EGMR, Urt. v. 19.07.2012, Beschw. Nr. 497/09 (Koch ./. Deutschland), Nr. 70. 453 EGMR, Urt. v. 19.07.2012, Beschw. Nr. 497/09 (Koch ./. Deutschland), Nr. 51. 454 EGMR, Urt. v. 20.01.2011, Beschw. Nr. 31322/07 (Haas ./. Schweiz).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

should end, provided that he or she was in a position freely to form her own will and to act accordingly, was one of the aspects of the right to respect for private life within the meaning of Article 8 of the Convention […].“455

cc) Die Verengung des margin of appreciation – Rs. Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich Mit der Entscheidung in der Rs. Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich hat der EGMR seine bisherige Rechtsprechung zur Menschenwürde insbesondere in Verbindung mit dem Konzept von identity weiter gefestigt und die Achtung und den Schutz der Menschenwürde als objektiv-rechtlichen Grundsatz bestärkt.456 In dieser Sache machte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer aus der Konvention garantierten Rechte geltend, da ihr von den staatlichen Behörden als postoperative Transsexuelle die Eintragung ihres neuen Geschlechts in das Geburtenregister ebenso versagt worden war wie die Möglichkeit zur Eheschließung mit einer Person des nunmehr anderen Geschlechts. Der Gerichtshof nahm eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 EMRK sowie ihres Rechts auf Eheschließung gem. Art. 12 EMRK an457 und revidierte damit zudem seine bisherige Rechtsprechung in gleich gelagerten Fällen wie in der Rs. Rees ./. Vereinigtes Königreich, in der der Gerichtshof noch eine Verletzung von Art. 8 und Art. 12 EMRK unter Verweis auf einen den Mitgliedstaaten eingeräumten weiten margin of appreciation verneinte.458 Entsprechend der Auffassung des Gerichtshofs von der Konvention als living instrument459 machte der EGMR nun deutlich, dass er seine Rechtsprechung keineswegs starr an Präzedenzen gebunden sieht.460 Die Konvention sei in erster Linie ein System zum Schutz der Menschenrechte, weshalb sich der Gerichtshof auf geänderte Umstände in den Mitgliedstaaten einzustellen habe, damit die Konvention so ausgelegt und angewendet wird, dass eine praktische und 455

EGMR, Urt. v. 19.07.2012, Beschw. Nr. 497/09 (Koch ./. Deutschland), Nr. 52. Der Gerichtshof verneinte in seinem Urteil in der Rs. Haas ./. Schweiz eine Verletzung von Art. 8 EMRK und ließ die Frage offen, ob die Mitgliedstaaten eine positive Verpflichtung trifft, Vorkehrungen für die Erleichterung eines „Suizids in Würde“ zu treffen und zog sich dabei wieder auf den den Staaten eingeräumten margin of appreciation zurück: „Having regard to the foregoing and to the margin of appreciation enjoyed by the national authorities in such a case, the Court considers that, even assuming that the States have a positive obligation to adopt measures to facilitate the act of suicide with dignity, the Swiss authorities have not failed to comply with this obligation in the instant case.“ 456 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich). 457 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 93, 104. 458 EGMR, Urt. v. 17.10.1986, Beschw. Nr. 9532/81 (Rees ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 37, 44. In dieser Entscheidung bezog sich der Gerichtshof noch nicht auf die Menschenwürde. 459 Vgl. hierzu insbesondere die obigen Ausführungen zur Entscheidung in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Teil E. I. 3. a) cc). 460 Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (398).

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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effektive Anwedung ihrer Rechte erfolgt und nicht eine bloß theoretische und illusorische.461 Der Gerichtshof betonte mithin, dass er als Motor der Integration eine dynamisch-evolutive „Auslegung in der Zeit“462 vornimmt,463 die dazu bestimmt ist, die Gewährleistungen der Konvention weiterzuentwickeln, um so etwa auch in Bezug auf die Menschenwürde die Herausbildung eines gemeineuropäischen Standards zu ermöglichen. Im Gegensatz etwa zu seiner Entscheidung in der Rs. Rees ./. Vereinigtes König­ reich bezeichnete der EGMR wie bereits in dem kurz zuvor ergangenen Urteil in der Rs. Pretty die Achtung der menschlichen Würde und menschlichen Freiheit als „the very essence of the Convention“464. In diesem Zusammenhang hob der EGMR das Recht der Beschwerdeführerin auf Selbstbestimmung sowie die Autonomie der Persönlichkeit hervor und unterstrich die Bedeutung des Schutzes der Identität des Individuums: „Under Article 8 of the Convention in particular, where the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees, protection is given to the personal sphere of each individual, including the right to establish details of their identity as individual human beings […].“465

Der Gerichtshof merkte an, dass „serious interference with private life can arise where the state of domestic law conflicts with an important aspect of personal identity […].“466 Ein Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Realität, in der sich die transsexuelle Person befinde, und dem Recht ergebe sich dort, wo die betroffene Person in eine Situation gebracht werde, „in which he or she may experience feelings of vulnerability, humiliation and anxiety“467. Daher bedürfe es auch einer rechtlichen Anerkennung der autonomen Entscheidung über die Wahl des Geschlechts, denn: „[T]he Court considers that society may reasonably be expected to tolerate a certain inconvenience to enable individuals to live in dignity and worth in accordance with the sexual identity chosen by them at great personal cost.“468

461 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 74. 462 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 172 f. 463 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 74. 464 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 90. Ebenso EGMR, Urt. v. 12.06.2003 (van Kück ./. Deutschland), Nr. 69. 465 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 90. 466 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 77. 467 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 77. 468 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 91.

264

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Mit seiner in dieser Entscheidung weiter ausdifferenzierten Rechtsprechung zur Menschenwürde und dem damit im Zusammenhang stehenden Konzept der identity lässt der Gerichtshof erkennen, was seiner Ansicht nach Gegenstand des Menschenwürdekonzepts der EMRK ist: Es geht um den Anspruch auf gleichberechtigte Anerkennung469 eines jeden Individuums in seiner persönlichen Identität. Hierzu zählt auch die Geschlechtsidentität, die einen wesentlichen Bestandteil der Persönlichkeit ausmacht. Aufgrund des jedem Einzelnen zukommenden Rechts auf Selbstbestimmung und aufgrund der Autonomie der Persönlichkeit kommt jedem Menschen aufgrund seiner Würde und Freiheit das Recht zu, über seinen persönlichen Lebensbereich frei zu entscheiden, sich selbst zu definieren und daher über seine Geschlechtsidentität selbst zu bestimmen. Zu begrüßen ist, dass sich der Gerichtshof zudem in dieser Entscheidung nicht auf einen der Annahme einer Konventionsverletzung möglicherweise entgegenstehenden weiten margin of appreciation des betreffenden Mitgliedstaats zurückzog, sondern diesen zum Schutz der Identität des Individuums enger zog.470 Nach Ansicht des EGMR ist es dem Konventionssystem inhärent, einen Ausgleich zwischen den öffentlichen Interessen, also den Interessen der Gemeinschaft und den Interessen des Individuums zu finden.471 Dieses Interesse überwog nach Ansicht des EGMR in der Rs. Christine Goodwin – im Unterschied noch zur Entscheidung in der Rs. Rees – nun entschieden zugunsten der Beschwerdeführerin.472 Auch dies dürfte nicht zuletzt auf die deutlich ausdifferenzierte Rechtsprechung hinsichtlich der Identität des Individuums unter Betonung der Menschenwürde als dem Kern der Konvention zurückzuführen sein. Noch deutlicher hob der Gerichtshof in der Rs. V. C. ./. Slowakei die Bedeutung eines Rechts auf Autonomie („right to personal autonomy“) im Zusammenhang

469

Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 150. EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 93. Auf diese Verengung des margin of appreciation im Urteil in der Rs. Christine Goodwin bezog sich der Gerichtshof auch in seiner Entscheidung in der Rs. Gross ./. Schweiz, Urt. v. 14.05.2013, Beschw. Nr. 67810/10, Nr. 6: „With regard to the margin of appreciation enjoyed by the State, for the purposes of the balancing process, we reiterate that a number of factors must be taken into account when determining the breadth of that margin in relation to any case under Article 8 of the Convention. Where a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake, the margin allowed to the State will normally be restricted […].“ 471 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 72: „In determining whether or not a positive obligation exists, regard must also be had to the fair balance that has to be struck between the general interest of the community and the interests of the individual, the search for which balance is inherent in the whole of the Convention […].“; ebenso im Urt. v. 20.03.2007, Beschw. Nr. 5410/03 (Tysiac ./. Polen), Nr. 111: „[…] regard must be had to the fair balance that has to be struck between the competing interests of the individual and of the community as a whole […].“ 472 EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Beschw. Nr. 28957/95 (Christine Goodwin  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 93. 470

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

265

mit der Menschenwürde hervor.473 Hier nahm der Gerichtshof sowohl einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK als auch gegen Art. 8 EMRK an, da die Beschwerdeführerin gegen ihren Willen in einem staatlichen Krankenhaus sterilisiert worden war. Dies stelle eine Missachtung ihres „right to autonomy and choice as a patient“ dar, wenn eine solche Behandlung ohne die Zustimmung „of a mentally competent adult patient“ erfolge. Der Gerichtshof stellte fest: „Such a way of proceeding is to be regarded as incompatible with the requirement of respect for human freedom and dignity, one of the fundamental principles on which the Convention is based.“474 Des Weiteren fasste der EGMR hier noch einmal zusammen, welche Aspekte der persönlichen Identität vom Konzept des private life umfasst sind: „‚Private life‘ is a broad term, encompassing, inter alia, aspects of an individual’s physical, psychological and social identity such as the right to personal autonomy and personal development, the right to establish and develop relationships with other human beings and the right to respect for both the decisions to have and not to have a child […].“475

In jüngster Zeit führte der EGMR diese Rechtsprechung, nach der dem Begriff des private life ein weites Verständnis zugrunde liegt, noch weiter aus. In der Entscheidung in der Rs. Ernst August von Hannover ./. Deutschland, in der der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK darin sah, dass der Vorname einer prominenten Person in der Werbung, die deren Identifikation zuließ, genannt worden war, stellte der EGMR fest, dass der Begriff private life weit gefasst sei und nicht abschließend definiert werden könne.476 Der Begriff schließe die körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person ein und könne zahlreiche Aspekte ihrer Identität umfassen wie den Namen einschließlich des Vornamen.477 Zudem erfasse er persönliche Informationen, von denen eine Person berechtigterweise erwarten könne, dass sie nicht ohne ihr Einverständnis veröffentlicht oder verwendet würden.478 Der Gerichtshof schließt mittlerweile also eine abschließende Begriffsbestimmung aus und will so die Möglichkeit wahren, auch auf neue, noch nicht absehbare Fallkonstellationen, die Aspekte des private life umfassen, reagieren zu können. Schutzgut des private life nach Art. 8 EMRK ist aber auch nach dieser Entscheidung vor allem die Wahrung der Identität und damit die Selbstbestimmung der Person. Die Menschenwürde blieb in dieser Entscheidung jedoch unerwähnt.

473

EGMR, Urt. v. 08.11.2011, Beschw. Nr. 18968/07 (V. C. ./. Slowakei), 119, 138. EGMR, Urt. v. 08.11.2011, Beschw. Nr. 18968/07 (V. C. ./. Slowakei), 107, 119. 475 EGMR, Urt. v. 08.11.2011, Beschw. Nr. 18968/07 (V. C. ./. Slowakei), 138, unter Verweis auf die Urteile v. 10.04.2007 (GK), Beschw. Nr. 6339/05 (Evans  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 71, und 22.01.2008 (GK), Beschw. Nr. 43546/02 (E. B. ./. Frankreich), Nr. 43. 476 EGMR, Urt. v. 19.02.2015, Beschw. Nr. 53649/09 (Ernst August von Hannover ./. Deutschland), Nr. 44). 477 EGMR, Urt. v. 19.02.2015, Beschw. Nr. 53649/09 (Ernst August von Hannover ./. Deutschland), Nr. 44). 478 EGMR, Urt. v. 19.02.2015, Beschw. Nr. 53649/09 (Ernst August von Hannover ./. Deutschland), Nr. 44). 474

266

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

dd) Die Betonung einer positive obligation zur Achtung der Menschenwürde – Rs. L. ./. Litauen; Rs. Dordevic ./. Kroatien Vor allem auch in der Zusammenschau mit seiner weiteren Rechtsprechung nach den Entscheidungen in den Rs. Pretty und Christine Goodwin wird deutlich, dass sich das Konzept des private life nach der Konvention vor allem auch auf die Achtung der Menschenwürde stützt. So spitzte der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK und der damit im Zusammenhang stehenden Menschenwürde in der Rs. L. ./. Litauen zu: „The Court would emphasise the positive obligation upon States to ensure respect for private life, including respect for human dignity and the quality of life in certain respects […].“479 In dieser Rechtssache machte der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen seine Rechte aus der Konven­tion, u. a. aus Art. 3 sowie Art. 8 EMRK geltend, da in Litauen keine gesetzlichen Regelungen bezüglich Transsexueller bestünden und insbesondere da es keine rechtmäßige Möglichkeit gebe, sich einer Operation zur vollen Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Der Gerichtshof sah hier keinen Anwendungsfall von Art. 3 EMRK, sondern vielmehr von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens)480 und nahm im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK an: „The Court finds that the circumstances of the case reveal a limited legislative gap in gender reassignment surgery, which leaves the applicant in a situation of distressing uncertainty vis-à-vis his private life and the recognition of his true identity.“481 Diese nunmehr ausdrückliche Betonung einer positiven Verpflichtung482 zur Achtung der Menschenwürde nach Art. 8 EMRK griff der Gerichtshof auch in der Entscheidung in der Rs. Dordevic ./. Kroatien auf. In dieser Entscheidung nahm der EGMR neben einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK auch einen Verstoß gegen das Recht aus Art. 8 EMRK auf Achtung des Privatlebens an.483 Dies ergebe sich daraus, dass es die kroatischen Behörden pflichtwidrig unterlassen hätten, eine körperlich und geistig behinderte Person vor wiederholten Übergriffen durch Minderjährige zu schützen. Bereits im Jahre 1985 hatte der Gerichtshof darauf verwiesen, dass sich aus Art. 8 EMRK nicht nur eine negative Verpflichtung des Staates ergebe, das Individuum vor staatlichen Übergriffen zu schützen, sondern einem effektiven Schutz des Privat- und Familienlebens auch positive Verpflichtungen inhärent seien, die den Staat verpflichteten, Maßnahmen zu ergreifen, um das Privatleben zu 479

EGMR, Urt. v. 11.09.2007, Beschw. Nr. 27527/03 (L. ./. Litauen), Nr. 56. EGMR, Urt. v. 11.09.2007, Beschw. Nr. 27527/03 (L. ./. Litauen), Nr. 47 f. 481 EGMR, Urt. v. 11.09.2007, Beschw. Nr. 27527/03 (L. ./. Litauen), Nr. 59. 482 Vgl. etwa grundlegend zu den sich aus dem Recht aus Art. 8 EMRK ergebenden positiven Verpflichtungen: EGMR, Urt. v. 20.03.2007, Beschw. Nr. 5410/03 (Tysiac ./. Polen), Nr. 110: „In addition, there may also be positive obligations inherent in an effective „respect“ for private life. These obligations may involve the adoption of measures designed to secure respect for private life even in the sphere of relations between individuals, including both the provision of a regulatory framework of adjudicatory and enforcement machinery protecting individuals’ rights and the implementation, where appropriate, of specific measures […].“ 483 EGMR, Urt. v. 24.07.2012, Beschw. Nr. 41526/10 (Dordevic ./. Kroatien), Nr. 152 f. 480

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

267

schützen – auch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Individuen selbst.484 Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung und der Annahme, dass den Staat eine positive Verpflichtung trifft, dass die Achtung der Menschenwürde sichergestellt wird, sah der Gerichtshof hier auch eine Verpflichtung des Staates, geeignete und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die geistige Integrität des Individuums vor den Übergriffen anderer Personen zu schützen.485 ee) Weitere Fälle zu „identity“ im Zusammenhang mit der Menschenwürde Insbesondere im Hinblick auf Fragen der Identität des Einzelnen i. R. d. Art. 8 EMRK und dem den Staaten eingeräumten margin of appreciation zeichnet sich in jüngster Zeit in der Rechtsprechung des EGMR ein eher uneinheitliches Bild ab. In der Rs. Mennesson ./. Frankreich hatte es der Gerichtshof als Verletzung von Art. 8 EMRK angesehen, dass sich die französischen Behörden geweigert hatten, die Geburtsurkunden der in den USA geborenen Beschwerdeführer, die als Kinder französischer Eltern von einer Leihmutter ausgetragen worden waren, in das Personenstandsregister als Kinder der französischen Eltern einzutragen.486 Der Gerichtshof verwies zunächst wieder auf den weiten margin of appreciation der Mitgliedstaaten in Fällen, in denen unter den Mitgliedstaaten kein Konsens über die Lösung einer sensiblen moralischen oder ethischen Frage herrscht.487 Zugleich betonte der EGMR aber: „[…] where a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake, the margin allowed to the State will normally be restricted […].“488 Obwohl über die Leihmutterschaft unter den Vertragsstaaten kein Konsens herrscht, zog der Gerichtshof den margin of appriciation dennoch in diesem Fall zum Schutze der Identität des Kindes enger:489

484

EGMR, Urt. v. 26.03.1985, Beschw. Nr. 8978/80 (X. und Y. ./. Niederlande), Nr. 23. EGMR, Urt. v. 24.07.2012, Beschw. Nr. 41526/10 (Dordevic ./. Kroatien), Nr. 152 f. „The Court has previously held, in various contexts, that the concept of private life includes a person’s psychological integrity. Under Article 8, States have in some circumstances a duty to protect the moral integrity of an individual from acts of other persons. The Court has also held that States have a positive obligation to ensure respect for human dignity and the quality of life in certain respects […].“ (Nr. 152). 486 EGMR, Urt. v. 26.06.2014, Beschw. Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Nr. 101. 487 EGMR, Urt. v. 26.06.2014, Beschw. Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Nr. 77. 488 EGMR, Urt. v. 26.06.2014, Beschw. Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Nr. 77. 489 Zuvor betonte der Gerichtshof aber den grundsätzlich weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten: „This lack of consensus reflects the fact that recourse to a surrogacy arrangement raises sensitive ethical questions. It also confirms that the States must in principle be afforded a wide margin of appreciation, regarding the decision not only whether or not to authorise this method of assisted reproduction but also whether or not to recognise a legal parent-child relationship between children legally conceived as the result of a surrogacy arrangement abroad and the intended parents.“ (Nr. 79). 485

268

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

„However, regard should also be had to the fact that an essential aspect of the identity of individuals is at stake where the legal parent-child relationship is concerned. The margin of appreciation afforded to the respondent State in the present case therefore needs to be reduced.“490

Im Ergebnis achtet der Gerichtshof mit dieser Rechtsprechung das Recht auf eine gesicherte Identität höher als den ansonsten häufig vorgezogenen margin of ­appreciation der Mitgliedstaaten in Bezug auf besonders sensible Fragestellungen, über die kein europäischer Konsens herrscht. Der EGMR hebt mithin die unbedingt zu wahrende Identität des Individuums über die Interessen der Mitgliedstaaten bzw. einen irgendwie gearteten ordre public in dem betreffenden Staat, wenn dieser dem Konzept des Art. 8 EMRK der identity widerspricht. Ganz im Gegensatz zu dieser Rechtsprechung und der Betonung, dass der margin of appreciation dort enger ist, wo ein wichtiger Aspekt der Identität des Individuums betroffen ist, zog der EGMR in der Rs. Hämäläinen ./. Finnland diesen Beurteilungsspielraum weiter. Auch in dieser Sache ging es um einen der Kernaspekte der menschlichen Identität: die Geschlechtsidentität.491 In dem betreffenden Fall hatte die zuständige Behörde die Eintragung ihres neuen Geschlechts in das Personenstandsregister mit der Begründung verweigert, dass die Beschwerdeführerin der Umwandlung ihrer Ehe in eine eingetragene Lebenspartnerschaft nicht zugestimmt habe. In seiner Entscheidung sah der Gerichtshof keinen Verstoß gegen Art. 8 EMRK, da den Mitgliedstaaten in Ermangelung eines Konsenses darüber, ob gleichgeschlechtliche Ehen zu erlauben seien, und da es sich um sensible ethische und moralische Fragen handele, ein weiter margin of appreciation zukommen müsse.492 Bemerkenswert ist an dieser Entscheidung jedoch die Joint Dissenting Opinion der Richter Sajó, Keller und Lemmens. In dieser zweifeln die Richter die Herangehensweise zur Bestimmung des margin of appreciation allein anhand der Frage nach einem bestehenden Konsens an und verweisen dabei auf die Recht­sprechung des EGMR, wonach der Beurteilungsspielraum wieder begrenzt ist, wo „a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake“493. Genau dies sei hier der Fall, denn es handele sich um Fragen der 490

EGMR, Urt. v. 26.06.2014, Beschw. Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Nr. 80. Dass es sich hierbei um besonders wichtige Aspekte der Identität handelt, hat der Gerichtshof auch in dieser Entscheidung deutlich gemacht: EGMR, Urt. v. 16.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 37359/09 (Hämäläinen ./. Finnland), Nr. 67 f.; ebenso bereits in den Urteilen zu den Rs. Christine Goodwin sowie L. ./. Litauen, vgl. bereits die obigen Ausführungen. Vgl. auch die Joint Dissenting Opinion der Richter Sajó, Keller und Lemmens zu diesem Urt. v. 16.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 37359/09 (Hämäläinen ./. Finnland), Nr. 2: „[…] one’s gender identity is a particularly important facet of individual existence and that States are required to recognise the change of gender undergone by post-operative transsexual individuals […].“ 492 EGMR, Urt. v. 16.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 37359/09 (Hämäläinen ./. Finnland), Nr. 74 f. 493 Joint Dissenting Opinion der Richter Sajó, Keller und Lemmens zum Urt. v. 16.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 37359/09 (Hämäläinen ./. Finnland), Nr. 5: „In other words, the existence of a consensus is not the only factor that influences the width of the State’s margin of appreciation […].“ 491

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

269

Geschlechtsidentität. Der Gerichtshof habe solche Fälle daher einer strikten Prüfung zu unterziehen und im Falle einer Unvereinbarkeit mit Konventionsstandards eine Verletzung der Konventionsrechte anzunehmen.494 In der Rs. S. A. S. ./. Frankreich wandte sich die Beschwerdeführerin gegen das französische Verbot, eine Burka bzw. ein Niqab im öffentlichen Raum zu tragen. Der EGMR sah in einer Entscheidung der Großen Kammer hierin jedoch keinen Verstoß gegen Art. 8, 9 oder 14 der Konvention.495 Der Gerichtshof zog hier den margin of appreciation der Mitgliedstaaten wieder deutlich weiter496 und stellte im Hinblick auf die Rechtfertigung eines Eingriffs sowohl in Art. 8 EMRK als auch in Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) fest, dass das Verbot „necessary in a democratic society“ gem. Art. 8 Abs. 2 bzw. Art. 9 Abs. 2 EMRK sei.497 Der Gerichtshof rechtfertigte das französische Verbot „in its principle solely in so far as it seeks to guarantee the conditions of ‚living together‘ [‚vivre ensemble‘]“498. Der Gerichtshof stellte fest, dass die von der französischen Regierung mit dem Verschleierungsverbot mitunter zur Begründung angeführte „respect for the minimum requirements of life in society“ bzw. des „living together“ unter den Begriff des „Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ i. S. v. Art. 8 Abs. 2 bzw. Art. 9 Abs. 2 EMRK fallen könne.499 Der Gerichtshof wies jedoch die von der französischen Regierung angeführte Achtung der Menschenwürde als eines der mit dem Verbot verfolgten Ziele, zurück: „[…] the Court takes the view that, however essential it may be, respect for human dignity cannot legitimately justify a blanket ban on the wearing of the full-face veil in public places.“500 Allerdings prüfte der Gerichtshof hier nur einen eventuellen Verstoß gegen die Menschenwürde von Personen, die verschleierten Frauen begegnen und ob dieses eine Form der Verachtung diesen gegenüber ausdrückt.501 Hingegen fehlt es in der gesamten Entscheidung an einer Auseinandersetzung mit einer möglichen Verletzung der Menschenwürde der Personen, die von dem Verbot unmittelbar betroffen sind.502 Immerhin erkennt der Gerichtshof aber an, dass – auch wenn es von anderen Personen als fremdartig wahrgenommen 494 Joint Dissenting Opinion der Richter Sajó, Keller und Lemmens zum Urt. v. 16.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 37359/09 (Hämäläinen ./. Finnland), Nr. 5. 495 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 159. 496 Siehe hierzu kritisch Grabenwarter / Struth, EuGRZ 2015, 1, 6 ff., insbesondere auch im Hinblick auf den hier nun eingeräumten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffes in Art. 9 EMRK. 497 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 155 ff. 498 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 142. 499 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 121. 500 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 120. 501 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 120: „Moreover, it does not have any evidence capable of leading it to consider that women who wear the full-face veil seek to express a form of contempt against those they encounter or otherwise to offend against the dignity of others.“ 502 Grabenwarter / Struth, EuGRZ 2015, 1, 6, begrüßen dies jedoch: „Der Annahme, dass in dem Eingriff gleich ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschenwürde liegt, kann jedoch nicht zugestimmt werden.“

270

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

wird  – das betreffende Kleidungsstück Ausdruck einer kulturellen Identität ist, die zum Pluralismus beiträgt, von dem die Demokratie lebt.503 Auch wenn er das Verbot als verhältnismäßig ansah, stellte der EGMR zudem fest, dass das Verbot unzweifelhaft starken Einfluss auf die Situation der Frauen habe, die aus Gründen ihrer Überzeugung den Ganzkörperschleier trügen.504 Es bestehe die Gefahr, dass die Autonomie der Frauen gefährdet würde und sie das Verbot als Angriff auf ihre Identität wahrnähmen.505 Diese Entscheidung ist insbesondere deshalb überraschend, da der Gerichtshof eine nie zuvor in dieser Weise da gewesene Betonung der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft und deren Interessen sowie der Rechte anderer vornimmt und die Interessen des Individuums hinten anstellt.506 Insbesondere werden die miteinander verbundenen Aspekte der Wahrung der Identität des Individuums sowie der Achtung der Menschenwürde fast völlig außer Acht gelassen. So stellt der Gerichtshof die von ihm wiederholt und auch in dieser Entscheidung als „hallmarks in a ‚democratic society‘“ bezeichneten Werte von „[p]luralism, tolerance and broadmindedness“507 nun in den Dienst der Gesellschaft. Diese ansonsten vom Gerichtshof vor allem zum Schutz des Einzelnen und von Minderheiten vor der Mehrheit bemühten Werte508 werden nun mit dem Verweis auf das Gemeinschaftsinteresse preis­ gegeben, indem der EGMR feststellt: „It can thus be said that the question whether or not it should be permitted to wear the full-face veil in public places constitutes a choice of society.“509 Es steht mithin für den Gerichtshof nicht mehr die Freiheit

503

EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 120. EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 146. 505 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 146. 506 Vgl. Grabenwarter / Struth, EuGRZ 2015, 1, 8. So insbesondere auch die Joint Partly Dissenting Opinion der Richterinnen Nußberger und Jäderblom zum Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 2: „[…] we cannot share the opinion of the majority as, in our view, it sacrifices concrete individual rights guaranteed by the Convention to abstract principles. It is doubtful that the blanket ban on wearing a full-face veil in public pursues a legitimate aim […].“ 507 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 128. So auch in EGMR, Urt. v. 10.11.2005 (GK), Beschw. Nr. 44774/98 (Leyla Sahin ./. Türkei), Nr. 108. 508 So bekennt es der EGMR zunächst auch noch in dieser Entscheidung: EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 128: „Although individual interests must on occasion be subordinated to those of a group, democracy does not simply mean that the views of a majority must always prevail: a balance must be achieved which ensures the fair treatment of people from minorities and avoids any abuse of a dominant position […]. […] It is precisely this constant search for a balance between the fundamental rights of each individual which constitutes the foundation of a ‚democratic society‘ […].“ 509 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 153. „The Court has, moreover, already had occasion to observe that in matters of general policy, on which opinions within a democratic society may reasonably differ widely, the role of the domestic policy-maker should be given special weight […].“ (Nr. 154). Dieses wird ebenfalls kritisiert in der Joint Partly Dissenting Opinion der Richterinnen Nußberger und Jäderblom zum Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 14: „In our view, the 504

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

271

des Individuums im Vordergrund, verbunden mit der Freiheit des Einzelnen, selbst zu wählen, wie er seinen persönlichen Lebensbereich gestaltet, sondern vielmehr welche Wahl die Gesellschaft trifft. Dies ist noch weniger nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass der Gerichtshof selbst wiederholt und so auch in dieser Entscheidung betont hat, dass es sich bei der Religionsfreiheit gem. Art. 9 EMRK um einen der wesentlichen Aspekte der Identität einer Person handelt.510 Die Religionsfreiheit – so der EGMR – sei in erster Linie eine Angelegenheit des individuellen Gewissens, jedoch gehöre zu ihr auch die Freiheit, seine Religion zu bekennen.511 c) Weitere Anknüpfungspunkte für die Menschenwürde in der Konvention Neben Art. 3 und Art. 8 EMRK hat sich der EGMR auch im Zusammenhang mit weiteren Konventionsgarantien auf die Menschenwürde bezogen.512 Die in Art. 9 EMRK verbürgte Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bezieht sich auf einen wichtigen Aspekt der Identität der Person und ist Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft, deren Grundpfeiler Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit sind. Der EGMR hatte schon in der Rs. Handyside ./. Vereinigtes

applicant is right to claim that the French legislature has restricted pluralism, since the measure prevents certain women from expressing their personality and their beliefs by wearing the full-face veil in public (see paragraph 153). Therefore the blanket ban could be interpreted as a sign of selective pluralism and restricted tolerance.“ 510 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 124: „As enshrined in Article 9, freedom of thought, conscience and religion is one of the foundations of a „democratic society“ within the meaning of the Convention. This freedom is, in its religious dimension, one of the most vital elements that go to make up the identity of believers and their conception of life, but it is also a precious asset for atheists, agnostics, sceptics and the unconcerned. The pluralism indissociable from a democratic society, which has been dearly won over the centuries, depends on it. That freedom entails, inter alia, freedom to hold or not to hold religious beliefs and to practise or not to practise a religion […].“; ebenso in EGMR, Urt. v. 26.06.2014, Beschw. Nr. 26587/07 (Krupko u. a. ./. Russland), Nr. 47. 511 EGMR, Urt. v. 01.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 43835/11 (S. A. S. ./. Frankreich), Nr. 124; EGMR, Urt. v. 26.06.2014, Beschw. Nr. 26587/07 (Krupko u. a. ./. Russland), Nr. 47: „While religious freedom is primarily a matter of individual conscience, it also implies, inter alia, freedom to „manifest [one’s] religion“. Bearing witness in words and deeds is bound up with the existence of religious convictions […].“ 512 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 151, stellt fest, dass sich außerhalb von Art. 3 und 8 EMRK Urteile betreffend die Menschenwürde ausgesprochen selten fänden. In der Rechtsprechung spiegele sich die Annahme, dass die Würde als Grundlage der Konvention grundsätzlich jeden, oder zumindest viele ihrer Artikel bedinge, jedoch ungenügend wider. Die Rolle der Menschenwürde beschränke sich für den Gerichtshof abgesehen von Fällen, die Art. 3 und Art. 8 EMRK beträfen, auf „‚schmückendes Beiwerk‘“. (von Schwichow, a. a. O., S. 159). Diese Ansicht verkennt jedoch, dass – wie sich im Folgenden zeigen soll – die Rechtsprechung des EGMR erkennen lässt, dass der Gerichtshof häufig die Achtung bzw. den Schutz der Menschenwürde in seiner Rechtsprechung im Blick hat.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Königreich sowie deutlich auch in der Rs. Leyla Sahin ./. Türkei darauf verwiesen, dass eine demokratische Gesellschaft durch diese drei Grundpfeiler bedingt sei.513 In seiner Entscheidung in der Rs. Müslüm Gündüz ./. Türkei betreffend die Freiheit der Meinungsäußerung gem. Art. 10 EMRK zog der Gerichtshof dann wiederum in deutlicher Weise Verbindungslinien zwischen der Menschenwürde und der Demokratie.514 In dieser Sache war der Beschwerdeführer wegen sog. hate speech in Form islamistischer Aussagen, die er in einer Fernsehsendung getroffen hatte, verurteilt worden. Der Gerichtshof sah darin wegen der besonderen Umstände des Falls und trotz des mitgliedstaatlichen margin of appreciation eine Verletzung von Art. 10 EMRK.515 Die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 10 EMRK ist nach Ansicht des Gerichtshofs eine der wesentlichen Grundlagen der demokratischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung, aber auch für „each individual’s self-fulfilment“516. Auch dieses Recht beinhaltet damit einen Aspekt des Gemeinschaftsinteresses, zugleich dient es aber auch dem Individuum und dem Schutz von dessen Selbstverwirklichung. Auch hier klingt deutlich der Aspekt der selbstbestimmten Entfaltung des Individuums an. Dennoch sah es der EGMR grundsätzlich als mit Art. 10 EMRK vereinbar an, dass der Mitgliedstaat auch eine Bestrafung wegen der Anstiftung vorsieht, wenn dies gem. Art. 10 Abs. 2 EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist und die vorgesehene Strafe, Beschränkung o.ä. verhältnismäßig ist.517 Es bestehe kein Zweifel, dass „concrete expressions constituting hate speech, which may be insulting to particular individuals or groups“518 nicht von Art. 10 EMRK geschützt seien. Diese Annahmen leitete der Gerichtshof aus der Toleranz und der Achtung der gleichen Würde aller menschlichen Wesen ab: „Having regard to the relevant international instruments […] and to its own case-law, the Court would emphasise, in particular, that tolerance and respect for the equal dignity of all human beings constitute the foundations of a democratic, pluralistic society.“519

Dass der EGMR bei der näheren Bestimmung des Inhalts der Konventionsgarantien dem sonstigen Europaratsrecht einen besonderen Platz einräumt,520 wird auch 513

EGMR, Urt. v. 07.12.1976, Beschw. Nr. 5493/72 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 48 f.: In dieser Entscheidung betonte der Gerichtshof dabei, dass es seiner Überwachungsfunktion inhärent sei „to pay the utmost attention to the principles characterising a ‚democratic society‘.“; EGMR, Urt. v. 10.11.2005 (GK), Beschw. Nr. 44774/98 (Leyla Sahin  ./. Türkei), Nr. 108. 514 Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 158 f., geht hingegen davon aus, dass der Gerichtshof betreffend Art. 10 EMRK nicht weiter auf die Menschenwürde eingehe und kommt zu folgendem Schluss: „Eine Subsumtion der Menschenwürde unter diesen Artikel scheint daher im Moment abwegig.“ 515 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), Nr. 52 f. 516 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), Nr. 37. 517 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), Nr. 40. 518 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), Nr. 40. 519 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), Nr. 40. 520 Vgl. hierzu bereits Teil E. I.1.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

273

deutlich bei der näheren Bestimmung des Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) in Bezug auf den Menschenhandel. Nach der Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16.05.2005 handelt es sich beim Menschenhandel um einen Verletzung der Menschenwürde.521 In der Entscheidung in der Rs. Rantsev ./. Zypern und Russland bezog sich der Gerichtshof neben weiteren internationalen Verträgen auch auf diese Konvention des Europarats vom 16.05.2005 sowie auf Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Menschenhandel.522 Entsprechend der Kon­ vention vom 16.05.2005 kam der Gerichtshof dann ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Menschenhandel eine Verletzung der Menschenwürde darstelle und daher in den Anwendungsbereich des Art. 4 EMRK falle: „There can be no doubt that trafficking threatens the human dignity and fundamental freedoms of its victims and cannot be considered compatible with a democratic society and the values expounded in the Convention.“523 Somit bezog der Gerichtshof den unter den Mitgliedstaaten gefundenen Konsens über einen Aspekt der Menschenwürde in die Auslegung mit ein und erkannte an, dass die Menschenwürde auch Schutzgut des Art. 4 EMRK ist. Bereits in der Rs. Siliadin ./. Frankreich, in der es um einen Fall sog. moderner Sklaverei ging, hatte der Gerichtshof zuvor entschieden, dass im Falle von Leibeigenschaft i. S. v. Art. 4 EMRK die Ausbeutung der betreffenden Person gegen die Menschenwürde verstößt.524 Der Gerichtshof bezog sich auch im Rahmen des Rechts auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK auf die Menschenwürde. In der Rs. Bock ./. Deutschland stützte der EGMR seine Entscheidung vor allem auch auf die Feststellung, dass die überlange Verfahrensdauer von mehr als neun Jahren vor dem Hintergrund der Auswirkungen auf die persönliche Situation, des Beschwerdeführers, einschließlich seines Privat- und Familienlebens, eine schwere Beeinträchtigung der Menschenwürde darstellte und daher nicht als „angemessene Frist“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK anzusehen war.525 Damit machte der Gerichtshof deutlich, dass die Menschenwürde auch die äußersten Grenzen eines fairen Verfahrens i. S. v. Art. 6 EMRK 521

Vgl. die obigen Ausführungen Teil E. I. 1. a). EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 146 ff., bzgl. der Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels vom. 16.05.2005: Nr. 160 ff. 523 EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 282. Weiter heißt es: „In view of its obligation to interpret the Convention in light of present-day conditions, the Court considers it unnecessary to identify whether the treatment about which the applicant complains constitutes ‚slavery‘, ‚servitude‘ or ‚forced and compulsory labour‘. Instead, the Court concludes that trafficking itself, within the meaning of Article 3(a) of the Palermo Protocol and Article 4(a) of the Anti-Trafficking Convention, falls within the scope of Article 4 of the Convention. The Russian Government’s objection of incompatibility ratione materiae is accordingly dismissed.“ 524 EGMR, Urt. v. 26.07.2005, Beschw. Nr. 73316/01 (Siliadin ./. Frankreich), Nr. 135, 142. 525 EGMR, Urt. v. 29.03.1989 (Kammer), Beschw. Nr. 11118/84 (Bock  ./. Deutschland), Nr. 48. 522

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

mitbestimmt. Zudem ist ein Menschenwürdebezug des Art. 6 EMRK darin zu sehen, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens verlangt, die Prozessbeteiligten nicht zum Objekt des Verfahrens werden zu lassen, sondern ihnen zu jedem Zeitpunkt als Subjekte des Verfahrens ihre Mitwirkungsrechte sowie das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, verbunden mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör, zuzugestehen.526 Auch im Zusammenhang mit dem nulla-poena-sine-lege-Grundsatz in Art. 7 EMRK bezog sich der Gerichtshof auf die Menschenwürde. So stellte sich der Gerichtshof in seinen Entscheidungen in den verbundenen Rs. S. W. und C. R. ./. Vereinigtes Königreich vom selben Tag527 auf den Standpunkt, dass hier kein Verstoß gegen Art. 7 EMRK vorlag. Der Gerichtshof machte deutlich, dass vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Schutz der Menschenwürde als Kern der Konvention um eines der fundamentalen Ziele der Konvention handelt, ein Gesetz, das keine eindeutigen Aussagen trifft, ob eine Vergewaltigung in der Ehe strafrechtlich relevant ist, so auszulegen ist, dass dies mit der Menschenwürde vereinbar ist.528 Im Zusammenhang mit der Vereinigungsfreiheit gem. Art. 11 EMRK hob der Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Rs. Rafah Partisi ./. Türkei ebenfalls auf die Menschenwürde ab. Noch deutlicher als in den verbundenen Rs. S. W. und C. R. ./. Vereinigtes Königreich, in der der Gerichtshof die Achtung der Menschenwürde als eines der „fundamental objectives of the Convention“529 bezeichnet hatte, wird der EGMR in dieser Entscheidung: „The European Convention on Human Rights must be understood and interpreted as  a whole. Human rights form an integrated system for the protection of human dignity; in that connection, democracy and the rule of law have a key role to play.“530

Dies macht deutlich, dass auch nach dem Verständnis des EGMR fundamentales Ziel und Zweck der Konvention in ihrer Gesamtheit der Schutz der Menschenwürde ist.531 Dabei kommt dem Demokratieprinzip sowie der rule of law eine erhebliche 526

Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). EGMR, Urt. v. 22.11.1995, Beschw. Nr. 20166/92 und Nr. 20190/92 (S. W. und C. R. ./. Vereinigtes Königreich). Siehe hierzu ausführlicher Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (398 f.). 528 EGMR, Urt. v. 22.11.1995, Beschw. Nr. 20166/92 und Nr. 20190/92 (S. W. und C. R.  ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44: „What is more, the abandonment of the unacceptable idea of a husband being immune against prosecution for rape of his wife was in conformity not only with a civilised concept of marriage but also, and above all, with the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom.“ 529 EGMR, Urt. v. 22.11.1995, Beschw. Nr. 20166/92 und Nr. 20190/92 (S. W. und C. R. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 530 EGMR, Urt. v. 31.07.2001, Beschw. Nr. 41340, 41343, 41344/98 (Rafah Partisi ./. Türkei), Nr. 43. 531 So auch Haßmann, Embryonenschutz im Spannungsfeld, S. 62, der jedoch die Rechtsprechung des EGMR zum damaligen Zeitpunkt (2003) noch kritisiert und festgestellt, dass „[f]ür die zusätzliche Funktion der Menschenwürde, nämlich als objektives Rechtsprinzip der universellen Menschenrechtsordnung zu fungieren, lässt sich aus der Rechtsprechung des EGMR wenig ableiten.“ (S. 62). 527

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

275

Bedeutung zu. In dieser Entscheidung, in der es um das – letztlich erfolgreiche – Verbot der türkischen Wohlfahrtspartei ging, stellte der Gerichtshof einen dem Grundgesetz vergleichbaren Funktionszusammenhang zwischen der Gewährleistung von Menschenrechten und dem Demokratieprinzip her. Der EGMR zeigte zugleich, dass der Konvention ebenso wie dem Grundgesetz das Konzept der wehrhaften Demokratie zugrunde liegt,532 indem der Gerichtshof betonte: „In view of the very clear link between the Convention and democracy […], no one must be authorised to rely on the Convention’s provisions in order to weaken or destroy the ideals and values of a democratic society.“533

Bezüglich des in Art. 2 des 1. ZP EMRK verbürgten Rechts auf Bildung stellte der Gerichtshof bereits im Jahre 1982 in der Rs. Campbell und Cosans ./. Vereinigtes Königreich fest, dass zu den in dieser Vorschrift benannten elterlichen Überzeugungen („philosophical convictions“534), die der Staat im Rahmen seiner Bildungsaufgaben zu achten hat, auch die gehören, die in einer demokratischen Gesellschaft Respekt verdienen und nicht mit der Menschenwürde unvereinbar sind.535 d) Die zeitliche Dimension des Menschenwürdeschutzes: Pränataler und postmortaler Würdeschutz Während sich bereits die EKMR in Fällen betreffend Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) einer genaueren Bestimmung dessen, was als Leben i. S. d. Vorschrift zu verstehen ist, in Zurückhaltung geübt hatte,536 setzte auch der EGMR diese Linie fort. Auch hier zog sich der Gerichtshof vor allem auf den den Mitgliedstaaten verbleibenden margin of appreciation zurück, und umging damit einer direkten Beantwortung der Frage, ob auch bzw. ab wann dem ungeborenen menschlichen Wesen Menschenwürde zukommt. Auch mit Aspekten, die einen postmortalen Würde 532

Vgl. Volp, NJW 2016, 459 (463), der sich in seinem Aufsatz mit der Möglichkeit des Parteiverbots in Deutschland beschäftigt und das Konzept der „wehrhaften“ und „streitbaren“ Demokratie beleuchtet. Auch der EGMR befinde sich Volps Ansicht nach mit seiner Argumentation in Verfahren die Parteiverbote betrafen auf einer Linie mit den Verfechtern der „wehrhaften“ Demokratie. Auch die Konvention stelle für den EGMR ein System „streitbarer“ Demokratie dar (ebd.). 533 EGMR, Urt. v. 31.07.2001, Beschw. Nr. 41340, 41343, 41344/98 (Rafah Partisi ./. Türkei), Nr. 99. Zudem hob der Gerichtshof in seinen dann folgenden Ausführungen hervor, dass Pluralismus und Demokratie auf einem Kompromiss beruhten, der Einzelpersonen und Personengruppen Zugeständnisse abverlange, sodass sie auch Einschränkungen bestimmter ihnen zukommender Rechte hinnehmen müssten, um eine größere Stabilität des Landes insgesamt zu garantieren (ebd.). 534 EGMR, Urt. v. 25.02.1982, Beschw. Nr. 7511/76 und 7743/76 (Campbell und Cosans ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 36. 535 EGMR, Urt. v. 25.02.1982, Beschw. Nr. 7511/76 und 7743/76 (Campbell und Cosans ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 36. 536 Siehe hierzu die Ausführungen bei Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 275 f.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

schutz betreffen, hat sich der Gerichtshof auseinandergesetzt. Einen solchen Schutz gewährt er jedoch nicht absolut und auch lediglich zeitlich begrenzt. aa) Die Rs. Vo ./. Frankreich In der Rs. Vo ./. Frankreich war die Beschwerdeführerin infolge eines ärztlichen Behandlungsfehlers gezwungen, eine Spätabtreibung durchführen zu lassen. Die französischen Gerichte schlossen eine Verurteilung des behandelnden Arztes wegen fahrlässiger Tötung mit dem Verweis darauf aus, dass sich dieser Straftatbestand nicht auf Ungeborene beziehe, da es sich beim Fötus nicht um ein strafrechtlich geschütztes menschliches Wesen handele. Die Beschwerdeführerin machte aus diesem Grund eine Verletzung von Art. 2 EMRK geltend, da das Lebensrecht des Ungeborenen nur ungenügend geschützt sei. Die Große Kammer des Gerichtshofs verneinte hier jedoch eine Verletzung von Art. 2 EMRK, indem sie die Entscheidung darüber verweigerte, ob das ungeborene Kind ein Mensch i. S. v. Art. 2 EMRK ist537 und billigte den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum zur Bestimmung des Lebensbeginns zu.538 Der Gerichtshof scheute in seiner Entscheidung zudem – ebenfalls unter Verweis auf einen mangelnden Konsens unter den Mitgliedstaaten und einen daher diesen einzuräumenden weiten margin of appreciation – vor einer Definition des Begriffs „Leben“ i. S. v. Art. 2 EMRK zurück und überließ diese Definition und somit bereits die Schutzbereichsbestimmung eines Konventionsrechts den Mitgliedstaaten.539 Anders als in dieser Entscheidung fragt der EGMR in der Regel erst auf der Rechtfertigungsebene danach, ob den Mitgliedstaaten ein margin of

537

EGMR, Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 85: „[…] the Court is convinced that it is neither desirable, nor even possible as matters stand, to answer in the abstract the question whether the unborn child is a person for the purposes of Article 2 of the Convention („personne“ in the French text).“ 538 EGMR, Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 95, 82: „It follows that the issue of when the right to life begins comes within the margin of appreciation which the Court generally considers that States should enjoy in this sphere, notwithstanding an evolutive interpretation of the Convention, a ‚living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions‘ […]. The reasons for that conclusion are, firstly, that the issue of such protection has not been resolved within the majority of the Contracting States themselves, in France in particular, where it is the subject of debate […] and, secondly, that there is no European consensus on the scientific and legal definition of the beginning of life […].“ 539 In dieser Entscheidung wird anhand der Sondervoten einzelnern Richter deutlich, dass die margin-of-appreciation-Rechtsprechung des EGMR zunehmend zu Kritik aus den eigenen Reihen führt. So kritisiert Richter Ress in seiner Dissenting Opinion zum Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 8, dass der Gerichtshof bereits die Schutzbereichsbestimmung den Mitgliedstaaten überlässt. Hingegen wäre die Einräumung eines Beurteilungsspielraums hinsichtlich der Art und Weise der Achtung der ihrem Schutzbereich nach anwendbaren Garantien hinnehmbar gewesen. „The question of the interpretation or applicability of Article 2 (an absolute right) cannot depend on a margin of appreciation.“; in diesem Sinne auch Lux-Wesener, EuGRZ 2005, 558.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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appreciation einzuräumen ist, also mithin nachdem sich der Gerichtshof selbst mit dem Schutzbereich und der Feststellung eines Eingriffs auseinandergesetzt hat.540 Sicherlich ist es dem Gerichtshof zuzugestehen, dass es sich hierbei um eine komplexe ethische Problematik handelt, die politische Kontroversen birgt und verfassungrechtliche Fragen in den Mitgliedstaaten aufwirft.541 Eine entsprechende richterliche Zurückhaltung ist jedoch zumindest deshalb problematisch, weil der Gerichtshof die Ausfüllung des Normtextes, die im Regelfall ureigenste Aufgabe des Richters ist, hier den Mitgliedstaaten übergab.542 Denn schließlich ist es gemäß seinem eigenen Verständnis von der Konvention die Aufgabe des Gerichtshofs, auch unbestimmte Rechtsbegriffe der EMRK auszulegen.543 Zugleich wird hier die Gefahr gesehen, dass die Konvention ihrer Rolle als living instrument nicht mehr gerecht wird, die Auslegung von Art. 2 EMRK nicht entsprechend den neueren Entwicklungen vorangeht und auf die wahren Gefahren für das menschliche Leben keine Antworten geben kann.544 Zudem gilt es zu beachten, dass insbesondere das Zurückweichen des EGMR vor der Beantwortung der Frage, ob Ungeborene als Menschen i. S. v. Art. 2 EMRK anzusehen sind, nicht nur Bedeutung für das Recht auf Leben hat, sondern hiermit vielmehr die tiefer liegende Fragestellung nach der Rechtssubjektivität des Ungeborenen verbunden ist.545 Wie die Untersuchung bereits gezeigt hat, ist die Rechtssubjektivität des Einzelnen eng mit der jedem Menschen zukommenden Würde verbunden.546 Erst die Achtung und der Schutz der jedem Menschen aufgrund seiner Würde zukommenden Subjektstellung bewahren diesen davor, als bloßes Objekt missachtet zu werden. Und erst mit der Anerkennung als Mensch und der damit verbundenen Anerkennung von Rechtssubjektivität kann etwa im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs geklärt werden, welche Rechte und Interessen der Mutter im Falle einer Kollision mit denen des Ungeborenen gewichtig genug sind, um einen

540 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 16.12.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), Nr. 229 ff. 541 Groh / Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (714). 542 Lux-Wesener, EuGRZ 2005, 558. 543 So auch die Seperate Opinion des Richters Costa, dem sich der Richter Traja angeschlossen hat, zum Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 7: „It is the task of lawyers, and in particular judges, especially human rights judges, to identify the notions – which may, if necessary, be the autonomous notions the Court has always been prepared to use – that correspond to the words or expressions in the relevant legal instruments (in the Court’s case, the Convention and its Protocols). Why should the Court not deal with the terms „everyone“ and the „right to life“ (which the European Convention on Human Rights does not define) in the same way it has done from its inception with the terms „civil rights and obligations“, „criminal charges“ and „tribunals“, even if we are here concerned with philosophical, not technical, concepts?“; ebenso Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 277. 544 In diesem Sinne die Dissenting Opinion des Richters Ress zum Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 5. 545 Groh / Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (715). 546 Vgl. hierzu die Ausführungen in Teil B. II. 2. b).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

solchen Abbruch und damit einen Eingriff in das Recht auf Leben des Ungeborenen gegebenenfalls zu rechtfertigen.547 Dennoch hat sich der Gerichtshof in der Entscheidung in der Rs. Vo kurz zur Menschenwürde geäußert: „At best, it may be regarded as common ground between States that the embryo / foetus belongs to the human race. The potentiality of that being and its capacity to become a person […] require protection in the name of human dignity, without making it a ‚person‘ with the ‚right to life‘ for the purposes of Article 2.“548 Nichtsdestotrotz resultierte die Feststellung, dass die Potentialität des Embryos und damit seine Entwicklungsmöglichkeit zu einem Individuum im Namen der menschlichen Würde zu schützen sei, nicht in einer eindeutigen Entscheidung über den Schutz des ungeborenen Lebens nach Art. 2 EMRK. Dieser letztlich folgenlose Verweis auf die Menschenwürde zeigt ebenso wie die hohe Anzahl an Sondervoten zu der Entscheidung,549 dass innerhalb des Gerichtshofs deutliche Uneinigkeit über diese Frage herrschte.550 Dass man aber den Verweis auf die Menschenwürde unternahm und die Tatsache, dass fünf Richter immerhin die Auffassung vertraten, dass der Schutz des Art. 2 EMRK auch den nasciturus umfassen müsse,551 lässt es möglich erscheinen, dass ein pränataler Würdeschutz in Zukunft nicht ausgeschlossen ist552 und der Begriff „Leben“ i. S. v. Art. 2 EMRK so auszulegen sein könnte, dass 547

Groh / Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (716). Die Wirkungen, die eine solche Anerkennung für das Ungeborene hätte, erkennt auch der Gerichtshof, indem er feststellt: „[…] the unborn child is not regarded as a „person“ directly protected by Article 2 of the Convention and that if the unborn do have a „right“ to „life“, it is implicitly limited by the mother’s rights and interests […].“ (EGMR, Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 80). Groh / Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (716), sprechen sich im Ergebnis – trotz der Tatsache, dass gerade grundlegende ethische Überzeugungen den Ausschlag für eine Festlegung in die eine oder andere Richtung geben würden – dafür aus, Ungeborene als Menschen i. S. v. Art. 2 EMRK anzusehen und verweisen dabei auch u. a. auf die Ausführungen des Richters Ress in seinem Sondervotum zum Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 4 ff. 548 EGMR, Urt. v. 08.07.2004 (GK), Beschw. Nr. 53924/00 (Vo ./. Frankreich), Nr. 84. 549 Von der mit 17 Richtern besetzten Großen Kammer gaben 10 Richter Sondervoten ab. 550 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 152 f., hingegen deutet die Rechtsprechung des EGMR in diesem Urteil so, dass sich hier „ein weiteres der wenigen Indizien für ein paternalistisches Würdeverständnis des Gerichtshofs“ zeige. Der Gerichtshof zeige dadurch, dass er zwar das ungeborene Kind unter den Schutz der Menschenwürde stelle, ohne ihm jedoch den Status einer Person zuerkennen zu wollen, ein Würdeverständnis, „das mit dem ursprünglichen, auf das Individuum zugeschnittenen Kern dieses Werts nicht mehr viel zu tun hat.“ (von Schwichow, a. a. O., S. 152). Vielmehr impliziere der Bezug auf die Würde, losgelöst von der Existenz der Person, eine Würde der menschlichen Rasse oder des menschlichen Wesens, die es unabhängig vom Individuum „– und damit möglicherweise auch gegen dessen Willen – zu schützen gilt.“ (von Schwichow, a. a. O., S. 152). 551 So die Richter Costa, Traja, Ress und die Richterinnen Mularoni und Stráznická. 552 Hiervon überzeugt Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 116; hingegen diesbezüglich skeptischer Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 278 f.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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er auch schon den nasciturus umfasst. Es lässt sich jedoch festhalten, dass sich der Gerichtshof bislang – in Ermangelung eines Konsenses unter den Vertragsstaaten hinsichtlich dieser sensiblen Frage – einer Anwendung des von ihm insbesondere im Hinblick auf Art. 3 EMRK deutlich gemachten absoluten Menschenwürdeschutzes enthält.553 bb) Die Rs. Tysiac ./. Polen sowie die Rs. A, B und C ./. Irland In Bezug auf den Schutz des private life der Schwangeren und damit auch auf ihre Menschenwürde554 hat sich der Gerichtshof dennoch geäußert. So nahm der EGMR in der Rs. Tysiac ./. Polen eine positive Verpflichtung der Mitgliedstaaten an, das Recht auf Achtung der Privatsphäre zu schützen und daher auch die Möglichkeit zu einer therapeutischen Abtreibung nicht zu verweigern.555 Wenngleich sich der Gerichtshof hier nicht mit der Frage auseinandersetzte, welcher Status dem Umgeborenen zukommt, machte er doch zumindest deutlich, welch hohen Stellenwert er der Achtung vor dem Privatleben der Schwangeren und damit ihrer Menschenwürde einräumt. Der Gerichtshof nahm auch keine Abwägung etwaiger Rechte des Ungeborenen mit dem betroffenen Interesse der Schwangeren an der Wahrung ihrer physischen Integrität durch den Schwangerschaftsabbruch vor. In der Entscheidung in der Rs. A, B und C ./. Irland556 setzte sich der Gerichtshof dann mit dem irischen Abtreibungsverbot auseinander. Die Beschwerdeführerinnen machten geltend, dass die Kriminalisierung der Abtreibung in Irland und die Tatsache, dass sie deshalb gezwungen seien, ins Ausland zu reisen um eine Abtreibung vornehmen zu können, gegen ihre Menschenwürde verstoße.557 Immerhin erkannte der Gerichtshof hier, dass eine Abwägung zwischen dem Recht der Schwangeren auf Achtung ihres Privatlebens und den widerstreitenden Interessen des ungeborenen Kindes zu erfolgen hat: „The woman’s right to respect for her private life must be weighed against other competing rights and freedoms invoked including those of

553 Dies kritisch bewertend Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-War Europe, S. 222; Mahlmann, EuR 2011, 469 (484), deutet die Rechtsprechung des Gerichtshofs so, dass dieser „eine konsequente Anwendung der von ihm gutgeheißenen Prinzipien selbst nicht für akzeptabel hält.“ Mahlmann kritisiert in diesem Zusammenhang, dass der EGMR trotz der bestehenden Konkretisierungsspielräume bei der Auslegung von Grundrechten, die dabei erforderliche „dogmatische Feinarbeit“ und das „judizielle Fingerspitzengefühl“ vermissen lässt. So bleibe seine Rechtsprechung teilweise und so auch in der Entscheidung in der Rs. Vo ./. Frankreich „hinter dem zurück, was man angesichts der internationalen Diskussion und Rechtsprechung auch in Anbetracht der notwendigen Vielfalt der Grundrechtskulturen von einem Menschenrechtsgerichtshof erwarten kann, dessen zentrale Aufgabe es ist, individuelle Rechte zu schützen und widerstreitende zu einem Ausgleich zu bringen.“ 554 Alting von Geusau, Human Dignity and the Law in post-War Europe, S. 225. 555 EGMR, Urt. v. 20.03.2007, Beschw. Nr. 5410/03 (Tysiac ./. Polen), Nr. 128 ff. 556 EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland). 557 EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 162.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

the unborn child […].“558 Eine solche Abwägung nahm der Gerichtshof hier jedoch nicht vor. Immerhin äußerte er sich zu einem eventuellen Recht auf Abtreibung aus Art. 8 EMRK: „[…] Article 8 cannot, accordingly, be interpreted as conferring a right to abortion […].“559 Wie bereits in der Rs. Tysiac ./. Polen ging es in dieser Entscheidung aber um die Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK und nicht um das Recht auf Leben des Ungeborenen gem. Art. 2 EMRK. Zwar stellte der Gerichtshof fest, dass das Recht auf Achtung des Privatlebens berührt ist, wenn man ins Ausland ausweichen muss, um aus Gesundheitsgründen eine Schwangerschaft abzubrechen.560 Sodann verwies der Gerichtshof aber wieder auf den den Mitgliedstaaten im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung eingeräumten margin of appreciation bei der Bestimmung, ob das Verbot zum Schutz der Moral gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.561 Im Ergebnis verneinte der Gerichtshof bezüglich zweier Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Bezüglich der dritten Beschwerdeführerin kam er immerhin zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung vorlag.562 Die Beschwerdeführerin war an Krebs erkrankt, fürchtete aber, sich Zugang zu Informationen über die Möglichkeiten einer rechtmäßigen Abtreibung in ihrer Situation zu verschaffen. Da die irischen Behörden keinen hinreichenden Zugang zu Informationen hierüber zur Verfügung gestellt hatten, hätten sie gegen ihre positive Verpflichtung auf Achtung des Privatlebens verstoßen.563 Insofern ging es dem EGMR hier um die Sicherstellung eines selbstbestimmten Zugangs zu wichtigen Informationen für die Schwangere. Wieder verband der Gerichtshof hier das Recht auf Achtung des Privatlebens mit der staatlichen Verpflichtung, die Handlungsfreiheit der Person zu garantieren und dass diese ihrem Willen gemäß entscheiden kann. cc) Die Rs. Evans ./. Vereinigtes Königreich und die Rs. Parrillo ./. Italien Mit seiner Kammerentscheidung in der Rs. Evans ./. Vereinigtes Königreich564, die sodann von der Großen Kammer bestätigt wurde,565 hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung in der Rs. Vo bekräftigt. Auch in dieser Entscheidung, in der es um die Zerstörung eines eingefrorenen Embryo nach britischem Recht ging und in der der Gerichtshof einen Schutz des Embryos in vitro nach Art. 2 EMRK ablehnte, zog 558

EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 213. EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 214. 560 EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 216. 561 EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 229. 562 EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 267 f. 563 EGMR, Urt. v. 16.10.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A, B und C ./. Irland), 267. 564 EGMR, Urt. v. 07.03.2006, Beschw. Nr. 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich). 565 EGMR, Urt. v. 10.04.2007 (GK), Beschw. Nr. 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich). 559

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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sich der EGMR ebenfalls wieder auf den mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum mit dem Verweis auf einen fehlenden europäischen Konsens zurück.566 Einen Verweis auf die Potentialität des Embryos und die Menschenwürde wie in der Rs. Vo unternahm der Gerichtshof jedoch nicht. Dies sollte jedoch nicht dahingehend verstanden werden, dass der EGMR hiermit einen gestuften Schutz des Embryos im Verlauf seiner Entwicklung andeuten wollte567 bzw. einen Unterschied zwischen dem Embryo in vitro und dem Embryo in utero machen wollte. Auch in seinem Urteil in der Rs. Parrillo ./. Italien, in der es um ein italienisches Verbot der Freigabe von Embryonen für Stammzellenforschung ging, ­äußerte sich der EGMR nicht zu der Frage, wann menschliches Leben i. S. v. Art. 2 EMRK beginnt und ob einem menschlichen Embryo Menschenwürde zukommt. Der EGMR bejahte hier unter Verweis auf sein Konzept des „private life“ und seine Rechtsprechung in der Rs.  Evans zwar einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK der Beschwerdeführerin und ihr daraus resultierendes Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen,568 sprach aber dem Beschwerdegegner Italien gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK wieder einen weiten margin of appreciation zu, gerade da es sich hierbei um „delicate moral and ethical questions“ handele und hierüber unter den Mitgliedstaaten bislang kein Konsens auszumachen sei569. Erstmalig allerdings bestätigte der EGMR mit diesem Urteil, dass grundsätzlich zur Identität der biologischen Eltern auch der kryokonservierte (eingefrorene) Embryo sowie die Entscheidung über dessen Schicksal als Teil des Selbstbestimmungsrechts und damit des Rechts auf Privatleben gehören. dd) Die Rs. Jäggi ./. Schweiz und die Rs. Elberte ./. Lettland Auch mit der Frage nach einem postmortalen Würdeschutz befasste sich der EGMR. In der Entscheidung in der Rs. Jäggi ./. Schweiz war es dem Beschwerdeführer verwehrt worden, einen Vaterschaftstest mithilfe einer DNA-Analyse an einer bereits verstorbenen Person durchführen zu lassen.570 Der Beschwerde­führer wollte auf diesem Wege Gewissheit über die Identität seines leiblichen Vaters erlangen. Er machte daher einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK geltend. Das von den Schweizer Gerichten angeführte Recht auf Unverletzlichkeit des Körpers des Verstorbenen sowie das auf Achtung der Toten stützte das Schweizerische Bundes-

566 EGMR, Urt. v. 10.04.2007 (GK), Beschw. Nr. 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 54. 567 So mutmaßt Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 278: „Vielmehr zeigen sich Ansätze eines gestuften, im Verlauf der pränatalen Ontogenese intensiver werdenden Schutzkonzepts, dessen Beginn allerdings offen bleibt.“ (S. 278). 568 EGMR, Urt. v. 27.12.2015 (GK), Beschw. Nr. 46470/11 (Parrillo ./. Italien), Nr. 71. 569 EGMR, Urt. v. 27.12.2015 (GK), Beschw. Nr. 46470/11 (Parrillo ./. Italien), Nr. 176. 570 EGMR, Urt. v. 13.07.2006, Beschw. Nr. 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

gericht auf den postmortalen Schutz der Würde des Verstorbenen sowie seiner Angehörigen.571 Der EGMR hielt fest, dass das Recht auf Identität, das das Recht beinhaltet, seine eigene Abstammung zu kennen, einen integralen Bestandteil des Schutzes des Privatlebens darstelle.572 Zugleich betonte der Gerichtshof jedoch das dem gegenüberstehende Recht Dritter auf körperliche Unversehrtheit des Verstorbenen sowie das Recht auf Respekt vor den Toten und bezog dies in eine Abwägung der widerstreitenden Interessen ein.573 Hieran wird deutlich, dass der Gerichtshof auch den Schutz des Einzelnen über den Tod hinaus in die Abwägung einbezieht und insofern dem Verstorbenen ein postmortaler Schutz seiner Würde zukommt.574 Insofern standen sich in dieser Entscheidung zwei die Menschenwürde betreffende Positionen gegenüber: Das dem Beschwerdeführer zukommende Recht auf Achtung seiner Identität als Ausdruck seiner Menschenwürde sowie der postmortale Würdeschutz des Vaters des Beschwerdeführers. Jedoch wird dieser postmortale Würdeschutz zumindest nicht absolut garantiert, denn im Wege der Abwägung kam der EGMR hier zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Beschwerdeführers überwog und daher ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK vorlag.575 Im Übrigen begrenzte der Gerichtshof das Recht, in Frieden zu ruhen, mit der Begründung, dass dieses nur zeitlich begrenzten Schutz genieße.576 Keine Abwägung nahm der Gerichtshof hingegen in seiner Entscheidung in der Rs. Elberte ./. Lettland vor.577 In dieser Sache sprach der EGMR der Witwe des verunglückten Ehemanns eine Entschädigung zu. Dem Verstorbenen war ohne Wissen seiner Angehörigen Körpergewebe von dem forensischen Institut, das die Autopsie vorgenommen hatte, entnommen worden. Der Gerichtshof sah hierin eine erniedrigende Behandlung und damit einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK578 und stellte fest: „In the special field of organ and tissue transplantation it has been recognised that the human body must still be treated with respect even after death.“579 Dabei bezog sich der EGMR vor allem auf die zu wahrende Menschenwürde, indem er sich auf 571

EGMR, Urt. v. 13.07.2006, Beschw. Nr. 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz), Nr. 19. EGMR, Urt. v. 13.07.2006, Beschw. Nr. 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz), Nr. 37. Weiter heißt es: „The Court considers that persons seeking to establish the identity of their ascendants have a vital interest, protected by the Convention, in receiving the information necessary to uncover the truth about an important aspect of their personal identity.“ (Nr. 38). 573 EGMR, Urt. v. 13.07.2006, Beschw. Nr. 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz), Nr. 39. 574 So auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 117. 575 EGMR, Urt. v. 13.07.2006, Beschw. Nr. 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz), Nr. 44. 576 EGMR, Urt. v. 13.07.2006, Beschw. Nr. 58757/00 (Jäggi ./. Schweiz), Nr. 41. Zudem verneinte der Gerichtshof mit Verweis auf seine Rechtsprechung in der Rs.  Kresten Filtenborg Mortensen ./. Dänemark, Urt. v. 15.05.2006, Beschw. Nr. 1338/03, ein eigenes Recht des Verstorbenen aus Art. 8 EMRK mit der Begründung, dass das Recht auf Privatleben nicht durch eine Handlung nach dem Tod beeinträchtigt werden könne (Nr. 42). 577 EGMR, Urt. v. 13.04.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland). 578 EGMR, Urt. v. 13.04.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland), Nr. 142 f. 579 EGMR, Urt. v. 13.04.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland), Nr. 142. 572

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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seine ständige Rechtsprechung zur Menschenwürde als den Kern der Konvention bezog und auf internationale Verträge, insbesondere die Biomedizin-Konvention des Europarats und das Zusatzprotokoll sowie den Erläuternden Bericht verwies.580 Schutzzweck dieser Verträge seien die Menschenwürde, die Identität und Integrität „of ‚everyone‘ who has been born, whether now living or dead“.581 Dies deutet zumindest an, dass der Gerichtshof mit diesem Urteil den Weg auch zu einem postmortalen Würdeschutz beschreiten wollte. Im Folgenden erweckt der Gerichtshof dann aber den Anschein, dass er nicht nur den postmortalen Würdeschutz des Verstorbenen prüft, sondern vielmehr zugleich das Vorliegen einer erniedrigenden Behandlung der Beschwerdeführerin und damit eine Verletzung ihrer Würde.582 Die Geltendmachung einer Verletzung der Würde des Verstorbenen scheint wiederum vermittelt über die Geltendmachung der Würde der hinterbliebenen Ehefrau.583 Die Verletzung der postmortalen Würde stellt zugleich eine Würdeverletzung der Beschwerdeführerin dar. 4. Ergebnis Seitdem sich der EGMR in seiner Entscheidung in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich erstmals näher mit der Menschenwürde befasste, hat die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EGMR stetig an Bedeutung gewonnen. Zunächst bezog der Gerichtshof die Menschenwürde in Entscheidungen ein, die Art. 3 EMRK betrafen. Dabei diente die Menschenwürde vor allem zur näheren Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der erniedrigenden Behandlung. Bald jedoch wurde die Menschenwürde zum Anknüpfungspunkt für weitere Konventionsrechte, insbesondere von Art. 8 EMRK. Seit seinem Urteil in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich bekennt sich der Gerichtshof nun ausdrücklich und in ständiger Rechtsprechung zur Menschenwürde als „the very essence of the Convention“ und fasst deren Schutz 580 EGMR, Urt. v. 13.04.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland), Nr. 142; siehe zur Biomedizin-Konvention oben, Teil E. I. 1. a). 581 EGMR, Urt. v. 13.04.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland), Nr. 142. 582 EGMR, Urt. v. 13.04.2015, Beschw. Nr. 61243/08 (Elberte ./. Lettland), Nr. 142: „treatment is considered ‚degrading‘ within the meaning of Article 3 of the Convention when, inter alia, it humiliates an individual, showing a lack of respect for human dignity. The applicant’s suffering was caused not only by the breach of her rights as the closest relative and the ensuing uncertainty about what had been done in the Forensic Centre, but was also due to the instrusive nature of the acts carried out on her deceased husband’s body and the anguish she suffered in that regard as his closest relative.“ 583 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 101 f., ist der Ansicht, dass der EGMR trotzdem die Würde des Toten im Auge hatte. „Ob dieser Würdeschutz nun letzten Endes indirekt über einen Angehörigen geltend gemacht wird, tritt damit in den Hintergrund […].“ (von Schwichow, a. a. O., S. 101) „Mit dem Fall Elberte scheint nun […] der Würde der Toten eine Anerkennung in der Rechtsprechung zuzustehen.“ (von Schwichow, a. a. O., S. 102).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

neben dem der Freiheit als fundamentales Ziel und als Zweck der Konvention in ihrer Gesamtheit auf. Diese Entwicklung lässt sich sowohl auf die zunehmende Bedeutung der Menschenwürde im Rahmen des sonstigen Europaratsrechts als Begründung und Schutzzweck – etwa im Zusammenhang mit Fragen der Folter, der Freiheitsentziehung, der Behandlung von Kindern, des Menschenhandels, der Biomedizin – als auch auf den bestehenden Einfluss des sonstigen internationalen Menschenrechtsschutzes zurückführen. So handelt es sich nach Ansicht des EGMR bei der sich ausdrücklich auf die Menschenwürde beziehenden AEMR um die wesentliche Inspirationsquelle für die Konvention. Der Gerichtshof verband die Menschenwürde in seiner Rechtsprechung mit Fragen der Nichtdiskriminierung bzw. Gleichbehandlung, mit dem Schutz vor Demütigung und Herabsetzung, der Wahrung der physischen und psychischen Integrität sowie vor allem mit der zu achtenden und zu schützenden Selbstachtung und Selbstbestimmung des Einzelnen und damit der Wahrung seiner Identität und seines Eigenwertes sowie seiner Intimsphäre. Zudem geht es dem EGMR in seiner Rechtsprechung um die Möglichkeit des Einzelnen zur gesellschaftlichen Teilhabe und der Bewahrung vor einer Erniedrigung zum bloßen Objekt, mithin um die Achtung der Subjektstellung des Menschen, weshalb der Mensch niemals bloß als Mittel, sondern immer als Zweck an sich selbst zu sehen ist.584 In seinem wegweisenden Urteil in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich fasste der EGMR die Menschenwürde als Schutzzweck des Art. 3 EMRK auf. Indem der Gerichtshof nicht nur das absolute Folterverbot des Art. 3 EMRK mit der Menschenwürde begründete, sondern auch dem Verbot unmenschlicher sowie insbesondere erniedrigender Behandlung oder Strafe gem. Art. 3 EMRK mithilfe der Menschenwürde Konturen verlieh, machte der Gerichtshof Art. 3 EMRK zum Hauptanknüpfungspunkt der Menschenwürde.585 Daran, dass der EGMR die Menschenwürde als den eigentlichen Schutzzweck des Art. 3 EMRK benennt, wird deutlich, dass er die Menschenwürde als äußerste Grenze der staatlichen Zugriffsmöglichkeiten auf den Menschen versteht. Insofern dient die Menschenwürde nicht lediglich als Auslegungssatz und Abwägungstopos586 bzw. als normverstärkende Argumentationsstütze, sondern ist vielmehr als Satz des objektiven Rechts zu verstehen, der eine staatliche Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde statuiert und mit normativer Wirkung das Verhältnis des Einzelnen zur staatlichen Gewalt bestimmt und staatliche Macht in absoluter Weise begrenzt. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass der EGMR schon mit seiner Entscheidung in der Rs. Tyrer unter Verweis auf die zu schützende 584

Vgl. Meyer-Ldewig, NJW 2004, 981 (984); Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 119; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 190. 585 Vgl. Giakoumopoulos, Opening Speech, in: Council of Europe / European Commission for democracy through law (Venice Commission), The principle of respect for human dignity, S. 5 (7), abrufbar unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-STD​ (1998)026-e (zul. einges. am 01.12.2018). 586 So interpretiert jedoch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 185, die bisherige Rechtsprechung des EGMR.

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Menschenwürde eine Abkehr von einer klassischen Abwehrfunktion der Konventionsgrundrechte zu aus der Konvention abzuleitenden positiven Verpflichtungen vollzog. Der jeweilige Mitgliedstaat hat also auch ggf. Maßnahmen zu ergreifen, um einer Verletzung der Menschenwürde entgegenzuwirken. Gelingt dies nicht, kann auch ein Ausgleichsanspruch für den durch die Verletzung der Menschenwürde entstandenen Schaden in Geld bestehen. Auch wenn in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 3 EMRK bislang der wichtigste Anknüpfungspunkt für die Menschenwürde ist, ist hieraus nicht zu schließen, dass der EGMR beabsichtigt, eine normative Verankerung eines umfassenden Menschenwürdeschutzes in Art. 3 EMRK anzustreben.587 Vielmehr belässt es der Gerichtshof entsprechend seiner Annahme, dass die Menschenwürde Grundlage der Konvention in ihrer Gesamtheit und damit jeden Konventionsrechts ist, dabei, den Anknüpfungspunkt für die Menschenwürde jeweils in der einschlägigen Konventionsgarantie zu suchen. Auch wenn Art. 3 EMRK – insbesondere auch über das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der erniedrigenden Behandlung – für eine weitere Öffnung zugunsten der Menschenwürde prädestiniert scheint, sollte die Menschenwürde i. V. m. der jeweils einschlägigen Konventionsgarantie geprüft werden. Ebenso wie dem Menschenwürdeverständnis Kants liegt dem Verständnis des EGMR die Vorstellung der allen Menschen innewohnenden und in gleicher Weise zukommenden Würde zugrunde. Diese Vorstellung sieht den Einzelnen als autonomes Wesen,588 das aufgrund seiner Wesenhaftigkeit grundsätzlich befähigt ist, seine Identität und sein Leben selbst zu bestimmen. Dies lässt sich zum einen aus der umfangreichen Rechtsprechung zu Fragen hinsichtlich der Unterbringung und Behandlung von Inhaftierten sowie der Auslieferung und Ausweisung ablesen. Hierbei spielt die Wahrung der Selbstbestimmtheit des Einzelnen um seiner Menschenwürde willen gerade in Situationen des Ausgeliefertseins – insbesondere wenn es sich um eine besonders verletzliche Person bzw. Personengruppe handelt – eine wichtige Rolle. Wenngleich der Gerichtshof keine derivativen Teilhaberechte aus der Menschenwürde ableitet oder gar ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum annimmt, hat er dennoch erkennen lassen, dass die äußerste Grenze des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die sozialen Leistungsrechte dort verläuft, wo humanitäre Erwägungen eine andere Entscheidung nicht mehr zulassen. Zum anderen wird das Verständnis des EGMR von der Begrifflichkeit und der normativen Bedeutung der Menschenwürde insbesondere anhand der Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK und den vom Gerichtshof entwickelten Konzepten von identity und private life deutlich. Nach der Vorstellung des Gerichtshofs stützen sich diese Konzepte auf die Menschenwürde. Bezüglich des identity-Konzepts wird dies 587

So aber Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 120. So auch Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (328).

588

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

mit Blick auf die jüngste Rechtsprechung des EGMR daran deutlich, dass der Gerichtshof dieses Konzept mittlerweile nicht mehr nur in die Prüfung einer Verletzung von Art. 8 EMRK einbezieht, sondern auch im Rahmen der Prüfung von Art. 3 EMRK.589 Die Identität des Einzelnen ist daher ein wichtiges Schutzgut der Menschenwürdegarantie der Konvention. Bei der identity geht es um die Wahrung der körperlichen und sozialen Identität des Individuums und um das Recht auf Entwicklung der eigenen Persönlichkeit als Kerngehalt der Menschenwürdegarantie. Dabei betont der Gerichtshof die Vorstellung von der Autonomie der Person als wichtigem Prinzip und gestaltet zugleich das Recht auf Selbstbestimmung näher aus. Die Menschenwürde steht damit auch in einem untrennbaren Zusammenhang mit der persönlichen Freiheit des Einzelnen, die er ebenfalls ja als „the very essence of the Convention“ bezeichnet hat.590 Aus Art. 8 EMRK ergibt sich eine positive Verpflichtung zum Schutz des private life, wozu nach Ansicht des EGMR die Achtung und der Schutz der Menschenwürde gehören. Insofern kombiniert der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die etwa in Deutschland vorherrschende Betonung der Menschenwürde als Grundrechtsfunktion mit der insbesondere im anglo-amerikanischen Raum vorherrschenden Begründung der Grundrechte mit der persönlichen Freiheit.591 Zugleich verbindet der Gerichtshof die Konventionsgarantien – wie insbesondere etwa Art. 8, 9, 10 und 11 EMRK – auch mit einem funktionalen Ansatz, indem diese auf die Förderung eines bestimmten Ziels gerichtet sind.592 Zu diesen Zielen zählt der Gerichtshof vor allem die Demokratie bzw. eine demokratische, pluralistische Gesellschaft, deren Grundvoraussetzungen wiederum die Achtung der gleichen Würde aller Menschen und Toleranz sind. Insofern begreift der Gerichtshof die menschliche Würde ebenso wie die einzelnen Konventionsgarantien als Grundlagen der demokratischen Gesellschaft. Zugleich versteht er die Einbindung des Individuums in die Gemeinschaft als Voraussetzung der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten.593 Demokratie und Menschenwürde bedingen also einander. Neben dem Demokratieprinzip zählen zu den Gewährleistungsvoraussetzungen der Menschenwürde auch die Beachtung des fair-trial-Grundsatzes, wie er seinen Ausdruck in Art. 6 EMRK gefunden hat, sowie der Grundsatz der rule of law.

589

Vgl. EGMR, Urt. v. 28.09.2015 (GK), Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 103 ff. So auch Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (326). 591 Von Ungern-Sternberg, EuGRZ 2011, 199 (201), die diese beiden Funktionen als autonome Grundrechtskonzeptionen bezeichnet, die auf dem Gedanken der Menschenwürde oder der menschlichen Autonomie beruhten, wobei die einzelnen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte als deren spezielle Ausprägung zu verstehen seien. Demgegenüber stehe die funktionale Grundrechtskonzeption, die auf die Förderung eines bestimmten Zieles durch die jeweiligen Grundrechte verweise (S. 199). 592 Von Ungern-Sternberg, EuGRZ 2011, 199 (201). 593 Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (332, 337), der bzgl. der EMRK vom „Menschenbild der gebundenen Freiheit“ spricht. 590

I. Die Rechtsquellen der Menschenwürde  

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Die Rechtsprechungsanalyse macht deutlich, dass der Gerichtshof die Menschenwürde als für die einzelnen Konventionsgarantien sowie die Konvention als Ganzes grundlegend ansieht.594 Auch für die EMRK ist die Menschenwürde somit Wurzel und Geltungsgrund der in ihr niedergelegten Rechte und der Konvention überhaupt.595 Wenn der Gerichtshof also von der Menschenwürde als dem Wesen, dem Kern der Konvention spricht, wird deutlich, dass er die Menschenwürde ebenso wie es auch bezüglich der Menschenwürde nach dem Grundgesetz verstanden wird, als objektiven Rechtsgrundsatz,596 als Konstitutionsprinzip versteht. Dennoch scheut der EGMR gerade in sensiblen Bereichen, die zur näheren Bestimmung der Reichweite des Menschenwürdeschutzes hilfreich wären, wie etwa der Frage, wer „Mensch“ i. S. v. Art. 2 EMRK und damit Rechtssubjekt der Konvention ist, mit Verweis auf einen bislang nicht hinreichend vorhandenen Konsens unter den Mitgliedstaaten vor einer Entscheidung zurück und räumt den Mitgliedstaaten häufig einen weiten margin of appreciation ein. Es geht dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Konventionsgarantien darum, im Interesse eines lückenlosen Individualrechtsschutzes diese praktisch und effektiv zu machen. Hierbei soll zwar eine gelungene Balance zwischen den Interessen des Individuums sowie denen der Gemeinschaft gefunden werden. Das Hauptaugenmerk der Konvention als Verfassungsinstrument aber liegt auf der Gewährleistung des effektiven Schutzes der Rechte des Einzelnen. Dieser Schutzanspruch wiederum liegt in dem Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde begründet, weshalb der EGMR deutlich klarstellte, wozu die Konventionsrechte dienen: „Human rights form an integrated system for the protection of human dignity […].“597 Indem der EGMR also auf die Menschenwürde als Kern („the very essence“), als fundamentales Ziel („fundamental objective […] of the Convention“598) bzw. philosophischer Grundlage („philosophical basis“599) der Konvention verweist, weist er in den vorrechtlichen Bereich und damit auf die Menschenwürde als Geltungsgrund auch der Konvention und ihrer einzelnen Rechte als Ausdifferenzierungen der Menschenwürdegarantie.

594

Vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 186. 596 So auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 182, der von einem „objektive[n] Grundprinzip“ spricht. 597 EGMR, Urt. v. 31.07.2001, Beschw. Nr. 41340, 41343, 41344/98 (Rafah Partisi ./. Türkei), Nr. 43. 598 EGMR, Urt. v. 22.11.1995, Beschw. Nr. 20166/92 und Nr. 20190/92 (S. W. und C. R. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 44. 599 EGMR, Urt. v. 01.06.2010 (GK), Beschw. Nr. 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Nr. 107. 595

288

E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

II. Rechtsqualität und Bestimmung des normativen Gehalts des Menschenwürdesatzes in der EMRK II. Rechtsqualität und normativer Gehalt

Die Menschenwürde stellt nach der Rechtsprechung des EGMR neben der Freiheit das Wesen, den Kern der Konvention dar. Die Rechtsprechungsanalyse in Teil  E. I. hat ergeben, dass der EGMR die Menschenwürde nicht als eine bloße Hintergrundannahme i. S. einer Wertentscheidung sieht, der lediglich eine interpretationsleitende Funktion zukommt, sondern vielmehr als einen objektiv-rechtlichen Grundsatz, der als Konstitutionsprinzip normative Verbindlichkeit beansprucht. In Teil B. II. wurde zudem bereits herausgearbeitet, dass es sich bei der Menschenwürde um ein universelles Rechtsprinzip und Konstitutionsprinzip allen Rechts handelt. Dennoch stellt sich die Frage nach der näheren Bestimmung des normativen Gehalts, namentlich des Begriffsinhalts sowie der normativen Funktion der Menschenwürde in der EMRK. Fraglich ist zudem, ob es sich auch bei der Menschenwürde nach der EMRK um ein eigenständig einklagbares Grundrecht handelt oder allein um einen objektiv-rechtlichen Rechtssatz. Zur Bestimmung des Gewährleistungsgehalts des Menschenwürdesatzes der EMRK sollen die Möglichkeiten einer positiven Begriffsbestimmung unter Rückgriff auf die wissenschaftliche Diskussion und die Rechtsprechung des EGMR ausgelotet werden – und dies trotz der bestehenden Unterschiede in den Mitgliedstaaten hinsichtlich Fragen, die Vorstellungen von Moral und Ethik betreffen. Im Rahmen der Begriffsbestimmung erscheint eine Bezugnahme auf die Untersuchung zum ideengeschichtlichen Hintergrund des Menschenwürdebegriffs in Teil B hilfreich.600 Ebenso sollen die völkerrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Menschenwürde in die Betrachtung einbezogen werden. Dabei spielt die AEMR und mithin das Verständnis der Menschenwürde in völkerrechtlicher Perspektive eine wichtige Rolle für das Menschenwürdekonzept der EMRK.601 1. Die Begriffsbestimmung vom Verletzungsvorgang her Die Auswertung der Rechtsprechung des EGMR legt auf den ersten Blick die Vermutung nahe, dass der Gerichtshof hinsichtlich der Menschenwürde nur eine Begriffsbestimmung vom Verletzungsvorgang her vornimmt. Auch der Wortlaut der Konvention deutet darauf zunächst einmal hin, denn die ohnehin unerwähnte 600

Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 4, verweist darauf, dass Verfassungsinterpretation zwar nicht Philosophie sei. Dennoch müsse es verwundern, wenn über die Last der Philosophiegeschichte, die an der Menschenwürde hafte, geklagt werde: „Ist denn nicht die Stellung des Menschen zum Staat, die in der Menschenwürdegarantie zum Ausdruck kommt, von Rechtsphilosophie und Rechtspraxis gemeinsam im Laufe der Geschichte herausgearbeitet worden?“ 601 Vgl. die bisherigen Ausführungen in Teil B zum universellen Menschenwürdebegriff sowie in Teil E. I. zum Entstehungshintergrund der EMRK und ihrer Teleologie.

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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Menschenwürde kann lediglich in die Verletzungstatbestände der einzelnen Konventionsrechte hineingelesen werden. Nach der Rechtsprechung des EGMR sowie der herrschenden Ansicht in der Literatur ist Hauptanknüpfungspunkt der Menschenwürde in der EMRK das Folterverbot sowie das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe gem. Art. 3 EMRK.602 Diese Konventionsgarantie, der die weitestgehende Übereinstimmung mit der Menschenwürde zugesprochen wird,603 beschreibt ihrem Wortlaut nach jedoch nur eine Form der Menschenwürdeverletzung und gibt somit selbst ebenfalls keine ausdrückliche positive Begriffsbestimmung vor. Die EMRK ist sowohl von ihrer Entstehungsgeschichte wie auch von ihrem Ziel und Zweck her eng mit der AEMR verbunden. Mit der Konvention bezweckten die Vertragsstaaten das Verbindlichmachen sowie die Weiterentwicklung der in der AEMR anerkannten universellen Menschenrechte. Die ausdrückliche Betonung der Menschenwürde in der AEMR, in der UN Charta und im Grundgesetz sowie die Anerkennung universeller Menschenrechte in diesen beiden Verträgen, im Grundgesetz wie auch in der EMRK erfolgten unter dem Eindruck der massiven Menschenrechtsverletzungen zur Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg. Insofern hatten die Vertragsstaaten bei der Verabschiedung der Konvention ebenfalls konkrete Verletzungshandlungen vor Augen. Zugleich waren die AEMR im Ganzen und die Betonung der Menschenwürde im Speziellen ebenso wie die EMRK – hier insbesondere das schrankenlos geltende Folterverbot in Art. 3 EMRK604 – eine Antwort auf die völlige Negierung der Rechte des Individuums und die Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen einer totalitären Gemeinschaft. Dies zeigt, dass man nicht nur bestimmte Verletzungstatbestände im Blick hatte, sondern bereits eine bestimmte Vorstellung von dem, was diese Menschenwürde beinhaltet: Dies impliziert ein Menschenwürdeverständnis, das geprägt ist von der Vorstellung einer allen Menschen innewohnenden Würde, die dem Menschen nicht erst zuerkannt werden muss, sondern als vorrechtlich gegeben anzusehen ist. Die einzelnen in der AEMR und in der EMRK anerkannten Menschenrechte sind dabei Ausdruck der Menschenwürde und geben damit deren Eckpunkte zu erkennen.605

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So auch von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 150. Er bezeichnet Art. 3 EMRK gar „als Kern des Würdeschutzes im Konventionssystem“ (von Schwichow, a. a. O., S. 157). 603 Siehe hierzu bereits die ausführliche Darstellung in den Teilen E. I. und B. 604 Siehe ausführlich zur Folter unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und der Verneinung der Individualität und Subjektqualität des Menschen als Grundlage der Folter: Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 125 ff. 605 Vgl. die obigen Ausführungen in Teil B. II. 1. a).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

2. Möglichkeiten einer positiven Begriffsbestimmung Zur Wahrung weltanschaulicher Neutralität bedarf es auch nicht einer bloß negativen, das heißt lediglich vom Verletzungsvorgang her vorgenommenen Begriffs­ bestimmung.606 Insbesondere vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Deutungsansätze und des universellen Gehalts der Menschenwürde, der Teleologie der Konvention sowie mithilfe der Rechtsprechung des EGMR soll eine positive Bestimmung des Menschenwürdebegriffs vorgenommen werden. Die Untersuchung der Rechtsprechung des BVerfG in Teil C hat gezeigt, dass es das Gericht trotz der Vielgestaltigkeit möglicher Fallkonstellationen ebenfalls nicht bei einer rein negativen Begriffsumschreibung bewenden lässt. Eine lediglich im Wege der Regelbeispieltechnik vorgenommene Begriffsbestimmung gerät zudem häufig an ihre Grenzen. So ist eine differenzierte und genauere Bestimmung der Menschenwürde mithilfe der Herausarbeitung eines positiven Menschenwürdebegriffs schon deshalb wünschenswert, da ansonsten das Schutzgut nicht klar genug bestimmt werden kann.607 Durch eine rein negative Begriffsbestimmung wird keine hinreichende Rechtssicherheit geschaffen, und neue Fallkonstellationen sowie geänderte gesellschaftliche Umstände sind der Gefahr ausgesetzt, nicht unter die bislang anerkannten Regelbeispielsfälle von Menschenwürdeverletzungen subsumiert zu werden. Somit ist zu befürchten, dass auf neue Gefährdungslagen für die Menschenwürde sowie auf Herausforderungen für den Menschenrechtsschutz insgesamt nicht angemessen reagiert werden kann.608 Dies würde aber gerade einem Verfassungsverständnis ebenso wie einem Verständnis von menschenrechtlichen Verträgen zuwiderlaufen, wonach eine dynamische Interpretation und damit eine Auslegung im jeweiligen Kontext der Zeit als notwendig erachtet wird und mit denen eine starre Begriffsbestimmung unvereinbar ist. Eine solche dynamische Auslegungsweise wird auch vom EGMR hinsichtlich der Auslegung der EMRK befürwortet. Das BVerfG hat sich ebenfalls wiederholt für diese Auslegungsweise – expressis verbis auch in Bezug auf die Menschenwürde – ausgesprochen.609 So stellte das Gericht fest: „Was die Achtung der Menschenwürde im Einzelnen erfordert, kann von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig losgelöst werden.“610 Der Forderung nach einer positiven Umschreibung des Gewährleistungsgehalts der Menschenwürde kann durchaus Gewichtiges entgegengehalten werden: So handelt es sich bei Grundrechtsfragen wie der Bestimmung solch zentraler Begriffe 606

So jedoch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 137; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 83 f.; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 206 f. 607 Vgl. Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235 (241). 608 Vgl. Lembcke, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235 (241). 609 BVerfGE 45, 187 (229); 96, 375 (400). 610 BVerfGE 96, 375 (400).

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wie etwa der Menschenwürde immer auch um politische Fragen, denn schließlich betreffen sie die Verteilung von fundamentalen Rechten innerhalb einer Gesellschaft.611 Die Kompetenz zur autoritativen Festlegung des Gehalts dieser Rechte ist dabei ein tragender Baustein der politischen Herrschaftsordnung und Selbst­ bestimmung einer Gruppe von Menschen.612 Von Schwichow spricht sich im Falle der Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde nach der EMRK ebenfalls für eine Negativdefinition aus, um so „einen Katalog an Verletzungstatbeständen zu erhalten, der einen Überblick über den Inhalt der Menschenwürde auf EMRK Ebene vermittelt.“613 Dies berge den Vorteil großer rechtlicher Flexibilität, „da, ausgehend von einer offenen Anzahl unumstrittener Eingriffsmomente, eine fallweise Konkretisierung stattfinden kann.“614 Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein effektiver menschenrechtlicher Schutz nur dann gewährt werden kann, wenn der Schutzgehalt des Menschenwürdesatzes näher bestimmt worden ist und damit ein hinreichendes Fundament geschaffen wird, mit dem sich argumentieren lässt.615 611

Mahlmann, EuR 2011, 469 (472). Mahlmann, EuR 2011, 469 (472). 613 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 26. 614 Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 19. Gleichzeitig verweist er aber darauf, dass sich dabei nachteilig auswirke, dass durch das explizite Fehlen einer Definition stets auf Evidenz und Konsens, letztlich gar auf „Intuition“ zurückgegriffen werden müsse. „Ist diese Voraussetzung schon auf nationaler Ebene oft nur schwer zu erfüllen, so kann diese Form der Übereinstimmung wohl gerade im Fall eines internationalen Gerichtshofs wie des EGMR nicht als selbstverständlich gelten.“ (von Schwichow, a. a. O., S. 19). Dass sich von Schwichow dennoch für eine vom Verletzungsvorgang ausgehende Negativbestimmung des Menschenwürdebegriffs entscheidet, begründet er damit, dass sich eine Positivdefinition äußerst schwierig gestalte und darüber hinaus stets im Ungefähren bleiben müsse. „Gerade im Fall der EMRK erscheint es unmöglich, ein scharf umrissenes Bild der Menschenwürde zu zeichnen, obwohl der Begriff der Menschenwürde in diesem Kontext nicht unbekannt ist.“ (Von Schwichow, a. a. O., S. 26). 615 Dass es einer hinreichenden positiven Begriffsbestimmung auch schwierig zu erfassender Begriffe, die in das Recht kommen, bedarf und diese auch möglich ist, hat das Bundesverfassungsgericht etwa in Bezug auf die in Art. 5 Abs. 3 GG gewährte Kunstfreiheit bewiesen. Das Gericht vertritt dabei nunmehr einen „offenen“ Kunstbegriff und hat wiederholt die Schwierigkeit hervorgehoben, „den Begriff der Kunst abschließend zu definieren“ (BVerfGE 119, 1 (20); 75, 369 (377)) sowie einerseits festgestellt, „die verfassungsrechtliche Verbürgung dieser Freiheit“ geböte es, „ihren Schutzbereich bei der konkreten Rechtsanwendung zu bestimmen“ (BVerfGE 75, 369 (377); 67, 213 (225)). Andererseits nimmt es dann doch eine positive Begriffsbestimmung des Kunstwerks als „eine freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache […] zur Anschauung gebracht werden.“ (BVerfGE 119, 1 (20 f.); 75, 369 (377)). Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (383), verweist darauf, dass häufig in Grundrechts- bzw. Menschenrechtskatalogen lediglich das Schutzobjekt benannt, aber nicht definiert werde: „the press, the art, property, the home, etc.“ und stellt zugleich klar: „Vagueness does not deprive a norm of its legal nature. Vagueness has to be reduced by way of interpretation. The orientation towards application of the law to concrete cases and the necessity to end up with a decision distinguishes legal interpretation from interpretation of other texts.“ 612

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Dabei kann die Auslegung im Recht ohnehin immer nur eine Annäherung bedeuten und keine abschließende Gewissheit bieten. Dennoch ist sie unerlässlich, um die bestehenden Unsicherheiten bei der Begriffsauslegung weiter zurückzudrängen.616 3. Ansätze für eine positive Begriffsbestimmung – der Bedeutungsinhalt der Menschenwürde a) Der Rückgriff auf positive Definitionsansätze in der Literatur Bezüglich der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG haben sich in der Literatur verschiedene Deutungsansätze für eine positive Begriffsbestimmung herausgebildet. Da wohl bislang nirgendwo in der Rechtswissenschaft derart intensiv über den Begriff der Menschenwürde diskutiert wurde wie in Deutschland, erscheint es sinnvoll, auf die hiesige Debatte zurückzugreifen.617 Da die Menschenwürdegarantie im Grundgesetz wie auch die AEMR und die EMRK fast zum selben Zeitpunkt entstanden sind und ihre Entstehung somit im selben zeitgeschichtlichen Kontext standen, bietet sich eine gewisse Vergleichbarkeit der Bedeutung und Funktion der Menschenwürdegarantien der AEMR bzw. der EMRK mit der des GG an.618 Hierbei lassen sich insbesondere mitgift- bzw. werttheoretische Ansätze, ein leistungstheoretischer sowie ein kommunikationstheoretischer Ansatz ausmachen. Diese Erklärungsversuche sollen im Folgenden daraufhin untersucht werden, ob sie zur positiven Begriffsbestimmung der Menschenwürde nach der EMRK fruchtbar gemacht werden können. aa) Mitgift- bzw. werttheoretische Ansätze Die mitgift- bzw. werttheoretischen Ansätze bildeten sich bereits früh zur Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG heraus und orientierten sich an christlichen Naturrechtslehren bzw. an einem werttheoretischen Denken.619 Danach wird die Menschenwürde als ein dem Menschen von der Natur bzw. von Gott mitgegebener vorstaatlicher Wert verstanden. Bei der Menschenwürde handele es sich um den „Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin“620. Es wird insbesondere auf die herausgehobene Stellung des Individuums abgehoben und damit die Subjekteigenschaft des Individuums begründet.621 Dabei wird zum Teil auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ver 616

Grimm, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 381 (383). Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 66 f. 618 Siehe zu den Hintergründen der EMRK sowie der Nähe zur AEMR bereits Teil E. I.; näheres zur Entstehung des Grundgesetzes vgl. Teil C. 619 Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 37. 620 Nipperdey, Die Grundrechte II, S. 1. 621 Hofmann, AöR 1993, 353 (357). 617

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wiesen.622 Der säkulare Ansatz nimmt hingegen Bezug auf Kant und orientiert sich bei der Begründung an Vernunft und Freiheit des Menschen und seiner Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung und seiner sittlichen Autonomie.623 Dass dem Entwurf des Parlamentarischen Rats bei der Schaffung des Art. 1 Abs. 1 GG ebenfalls diese Vorstellungen von der Menschenwürde zugrunde lagen,624 ist nicht zuletzt auch an der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG erkennbar, die darauf hindeutet, dass die Menschenwürde als etwas bereits Vorhandenes, als etwas Vorrechtliches begriffen wird. Aus der von diesen beiden Ansätzen betonten herausgehobenen Stellung des Menschen leitete Dürig die sogenannte Objektformel ab,625 die wiederum Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG fand, ohne dass sich jedoch das BVerfG auf den von Dürig noch betonten wertphilosophischen Hintergrund bezog.626 Auch dem Gerichtshof ging es in seiner Rechtsprechung wiederholt darum, eine Herabwürdigung des Einzelnen zum bloßen Objekt zu verhindern.627 Zur Bestimmung dessen, was unter dem Begriff Menschenwürde zu verstehen ist, greifen die mitgift- bzw. werttheoretischen Ansätze teilweise auf metaphysische, theologische bzw. philosophische Begründungsansätze zurück. Hierdurch kann jedoch unter Umständen die Gefahr einer gewissen Ideologisierung des Begriffsverständnisses bestehen.628 So birgt insbesondere der Rückgriff auf ein christlich-jüdisch geprägtes Menschenbild zur Begriffsbestimmung auch im Hinblick auf die Pluralität der Gesellschaften in den 47 Mitgliedstaaten der EMRK und die in manchen Staaten zunehmend säkular geprägte Bevölkerung sowie den Universalitätsanspruch hinsichtlich des Menschenwürdesatzes ein Akzeptanzproblem.629 bb) Leistungstheoretischer Ansatz Die den mitgift- bzw. werttheoretischen Ansätzen gegenüberstehende Leistungstheorie sieht die Leistung zur Identitätsbildung als das Wesentliche der Menschen 622

Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 132; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 114. 623 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 132; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 114; Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 83. 624 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 6 f. 625 vgl. hierzu ausführlich Teil C. IV. 626 Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 38; Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 1 f., führte nämlich aus: „In der Erkenntnis, dass die Verbindlichkeit und die verpflichtende Kraft auch einer Verfassung letztlich nur in objektiven Werten begründet sein kann, hat sich der Grundgesetzgeber […] zum sittlichen Wert der Menschenwürde bekannt […]. 627 Vgl. hierzu Teil E. I. etwa hinsichtlich der Rechtsprechung des EGMR in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich sowie den Fällen zur Situation von Inhaftierten. 628 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 115 f.; Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 83 f. 629 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 203.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

würde an. Danach kommt dem Menschen aufgrund seines selbstbestimmten Verhaltens Würde zu. Nach Luhmanns systemtheoretischem Ansatz lebt der Mensch in diversen sozialen Rollen. Der individuellen Persönlichkeit des Menschen kommt dabei eine besondere Bedeutung für das Funktionieren des Systems zu: Sie bedeutet, dass der Einzelne eine Identität aufbaut, die seinen individuellen Kern ausmacht, den er trotz des Wechsels seiner sozialen Rollen durchgehend beibehält.630 Allein hieraus ergibt sich damit für Luhmann die Bedeutung des Menschenwürdeschutzes. Denn Luhmann zufolge wird der Mensch „die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt“631. Freiheit und Würde sind dabei die „Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“632, denn der Mensch „gewinnt seine Individualität als Persönlichkeit nur im sozialen Verkehr, indem auf seine Selbstdarstellung […] eingegangen wird.“633 Für eine gelungene Selbstdarstellung bedarf es nach Luhmann jedoch Freiheit und Würde als „Vorbedingungen dafür, dass der Mensch sich in diesem Sinne als Individuum sozialisieren […] kann.“634 Darüber hinaus sieht Luhmann die Würde nicht als etwas Unantastbares an, denn sie kann als „eines der empfindlichsten menschlichen Güter“635 jederzeit verloren gehen.636 Daher sei es Aufgabe etwa der Grundrechte, dafür zu sorgen, dass dem Menschen der zu seiner überzeugenden Selbstdarstellung notwendige Handlungsspielraum eingeräumt wird.637 Der Menschenwürdebegriff Luhmanns ist nicht so gemeint, dass Würde etwas ist, das dem Menschen nur aufgrund richtigen Rollenverhaltens zukommt, die Menschenwürde also ganz allein durch Leistung erworben wird.638 Zwar orientiert sich 630

Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (58). Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 60. 632 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 61. 633 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 61 f. 634 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 63; zudem merkt Luhmann an, dass Selbstdarstellung „mithin Freiheit von offensichtlichem Zwang und Freiheit von genau durchgezeichneten sozialen Erwartungen“ voraussetzt. Zum Verhältnis von Freiheit und Würde führt Luhmann, a. a. O., aus: „Es handelt sich nicht um angeborene natürliche Qualitäten des Menschen und auch nicht […] um sich implizierende Werte, sondern um die äußeren und inneren Vorbedingungen der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit im Kommunikationsprozess. Freiheit hätte keinen Sinn, wenn sie nur zu inkonsistenten Selbstdarstellungen oder zu solchen führte, mit denen der Mensch sich nirgendwo sehen lassen kann. Und Würde fände kein Darstellungsmaterial, wenn es keine freien Handlungen oder Handlungsaspekte gäbe.“ (S. 70) – „Die Würde bezieht sich auf die inneren, die Freiheit auf die äußeren Bedingungen und Probleme der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit.“ (S. 77). 635 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 69. 636 So hänge sie nach Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 69, „sogar von manchen kulturellen Requisiten, z. B. von Kleidung“ ab. 637 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 78; „Freiheit unter Fremdregie ist das Ende der Würde, jedenfalls der öffentlichen Würde des Menschen […].“ (S. 73). 638 So aber Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24: „Die Einschränkung des Würdeschutzes auf selbst hergestellte Würde stellt diejenigen schutzlos, die ‚würdelos‘ sind.“; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 134; a. A.: Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 119. 631

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Luhmann bei seiner Begriffsbestimmung tatsächlich an den Rollenerwartungen, die an den einzelnen Menschen gestellt werden.639 Jedoch hat nicht nur der einzelne Mensch den Aufbau und die Erhaltung seiner Würde in der Hand. Sie ist ebenso von den Mitmenschen sowie dem Staat abhängig: So macht er deutlich, dass sich der Mensch nur dann eine Würde aufbauen und sie erhalten kann, wenn ihm dazu sein Umfeld den notwendigen Raum gibt. Auch hier wird Menschenwürde also mit der Freiheit von äußeren Zwängen – sei es durch Erniedrigung, Demütigung oder materielle Not – verbunden. Luhmann bringt zum Ausdruck, dass die Würde des Menschen davon abhängig ist, inwieweit die Mitmenschen dem Einzelnen den Aufbau und die Entfaltung seiner individuellen Identität gewähren. Es handelt sich also vielmehr um einen Anspruch auf die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen, die notwendig sind, um ein Leben in Würde zu führen bzw. um einen Anspruch auf Unterlassen von der Selbstdarstellung im Wege stehenden Handlungen. Die Würde wird mithin erst von der Gesellschaft konstituiert. Dies ist gemeint, wenn Luhmann davon spricht, dass die Menschenwürde nichts Unantastbares ist:640 Sie ist zwar anders als etwa bei Kant nichts dem Menschen Angeborenes, aber sie ist – ebenso wie die Freiheit – etwas, das der Mensch benötigt, um eine individuelle Persönlichkeit sein zu können. Aus diesem Grund sei es „sinnvoll, Freiheit und Würde als vorstaatliche Rechtsgüter zu betrachten“.641 Kritikwürdig an diesem Ansatz ist, dass es sich hierbei um ein bloß relatives Menschenwürdeverständnis handelt, wonach die Menschenwürde erst durch eine erfolgreiche Identitätsbildung geschaffen werden muss642 und nicht bereits als seinsgegebener Wert vorhanden ist. Außerdem wird die Würde von der Achtung und vom Schutz des Staates bzw. der Mitmenschen abhängig gemacht, also davon, dass sie – vorbehaltlich der Systemnotwendigkeit – dem Einzelnen auch gewährt wird. cc) Kommunikationstheoretischer Ansatz Dem kommunikationstheoretischen Ansatz zufolge handelt es sich bei der Würde um einen „Relations- und Kommunikationsbegriff“.643 Im Unterschied zu den mitgift- bzw. werttheoretischen Ansätzen sowie dem leistungstheoretischen Ansatz handelt es sich bei der Menschenwürde nach diesem Verständnis weder um einen 639

Stoecker / Neuhäuser, in: Joerden u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin, S. 37 (59). Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 69. 641 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 72. Diese Fingierung als vorstaatliche Rechtsgüter hält Luhmann für notwendig, auch wenn der „geisteswissenschaftliche und rechtsdogmatische Sinn derartiger Charakterisierungen der Grundrechte als vorstaatlich, allmenschlich, naturrechtlich nicht disponibel […] unklar und umstritten sein und bleiben“ möge. „Die Funktion dieser Symbolik ist eindeutig […].“ (S. 72). 642 Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 85. 643 Hofmann, AöR 1993, 353 (364). 640

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

seinsgegebenen noch um einen Wert, der noch erworben werden muss.644 Im Wege sozialer Anerkennung wird die Würde als die gegenseitige Achtung des Menschen in seinen kommunikativen Beziehungen und in seinem sozialen Geltungsanspruch verstanden.645 Es handelt sich mithin um einen normativ verstandenen Würdebegriff, der in der Gemeinschaft zuerkannt wird und das Miteinander in der Gemeinschaft regelt.646 Diesem Ansatz ist zugute zu halten, dass er entsprechend der transzendentalphilosophischen Auffassung von der Menschenwürde diese als einem jeden Menschen zukommenden Achtungsanspruch versteht und zudem die Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen erkennt, auf der sich dann die Subjektstellung jedes Menschen begründen lässt. Nicht erkennbar wird jedoch anhand dieser Theorie der Inhalt des wechselseitigen Menschenwürdeversprechens.647 Zudem ließe diese Theorie gerade die Personen schutzlos, die selber nicht fähig sind, dieses gegenseitige Anerkennungsversprechen in der Gemeinschaft einzulösen, da sie etwa aufgrund einer Behinderung oder wegen ihres Alters daran gehindert sind, dennoch aber selbst auf die Anerkennung und den Schutz durch die Gemeinschaft angewiesen sind.648 Im Übrigen ist dieser Ansatz weder mit dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG, auf den sich diese Theorie ursprünglich bezog, noch mit dem der AEMR vereinbar. So vermittelt der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG ebenso wie der Wortlaut der AEMR, dass es sich bei der Menschenwürde um etwas bereits Vorhandenes handelt. Insofern liefe es dem Wortlaut zuwider, wenn die Konstituierung der Menschenwürde erst von einem Zuerkennungsakt abhinge. dd) Die fünf Komponenten der Menschenwürde nach Podlech Einen weniger auf eine transzendentale Begründung, sondern vielmehr auf die empirischen Bedingungen ihrer Erhaltung abzielenden Ansatz649 wählt Podlech.650 Dieses Würdekonzept nennt als die fünf zentralen Bedingungen zur Erhaltung der Menschenwürde: die Freiheit von Existenzangst im Sozialstaat, insbesondere durch die Möglichkeit zur Arbeit sowie eine soziale Mindestsicherung, die Wahrung der menschlichen Identität und Integrität durch freies Handeln als selbstverantwortliche Persönlichkeit, den Grundsatz der Gleichheit des Menschen, die Begrenzung staatlicher Gewalt durch deren rechtsstaatliche Einbindung sowie die Achtung der körperlichen Kontingenz des Menschen als Moment seiner autonom verantworteten

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Hofmann, AöR 1993, 353 (364). Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 85. 646 Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 85. 647 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 135. 648 Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 86; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 17 f. 649 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 117. 650 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 15 ff. 645

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Individualität.651 Die bisherige Untersuchung stützt diese Auflistung, denn häufig werden diese Aspekte sowohl auf nationalstaatlicher wie auch auf regionaler bzw. internationaler Ebene mit der Menschenwürde in Verbindung gebracht.652 Maßstab für die Menschenwürde ist bei der Bestimmung dieser Bedingungen nicht die „Vernunftnatur“, sondern ein weiterer Begriff vom „Wesen“ bzw. der „Natur“ des Menschen, der mit dem fundamentalen Gehalt der Menschenrechte übereinstimmt.653 Würde ist nach Podlech das, „auf das zu verzichten niemandem zugemutet werden darf, dasjenige, das nicht als möglicher Gegenstand einer im Rechtsbereich wirksamen Verfügung gedacht werden kann, weil es dasjenige ist, was Zustimmung und Einordnung erst ermöglicht, nämlich, dass jeder Mensch Zweck an sich ist, selbstverantwortende Persönlichkeit“654. Zwar gibt dieser Ansatz keine näheren Hinweise auf die dogmatische Sonder­ struktur der Menschenwürde als Rechtsgrundsatz.655 Dennoch geht diese „FünfKomponenten-Theorie“656 über eine bloße Umschreibung der Menschenwürde anhand von einzelnen Verletzungstatbeständen hinaus.657 Es handelt sich vielmehr um 651 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 15 ff. Ebenso finden sich diese fünf Komponenten bei Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 190. Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 216, spricht sich ohne weitergehende Aus­ einandersetzung mit den fünf Komponenten und ihr Verhältnis zur Menschenwürde gegen diese These aus. Er verweist dabei darauf, dass Menschenwürdefälle zu einem Großteil immer noch Einzelfallentscheidungen seien, auch wenn sich mittlerweile in vielen Bereichen eine Systematik erkennen lasse. „Es würde der Menschenwürde in der Rechtsprechung jedoch nicht gerecht, sie schon heute auf die explizite Garantie fiktiver Grundrechtstatsbestände zu verpflichten, die in der Rechtsprechung des EGMR noch keine hinreichende Ensprechung finden.“ (von Schwichow, a. a. O., S. 216). 652 Auch McCrudden, EJIL 19 (2008), S. 655 (723), kommt zu einem ähnlichen Schluss. Nach seiner Analyse der nationalen und internationalen Dokumente könne ein „basic minimum content of the meaning of human dignity“ festgestellt werden: „that each human being possesses an intrinsic worth that should be respected, that some forms of conduct are inconsistent with respect for this intrinsic worth, and that the state exists for the individual not vice versa. The fault lines lie in disagreement on what that intrinsic worth consists in, what forms of treatment are inconsistent with that worth, and what the implications are for the role of the state. […] It is significant that dignity is so often drawn on where there is some personal security issue at stake (torture, death), where equality is at stake (including as a basis for limiting other rights like freedom of expression), and where some forms of autonomy are at stake (abortion, sexual practices).“ Auch Kirchhof, in: Grote (Hrsg.), FS Starck zum 70. Geburtstag, S. 275 (289), zeigt deutliche Übereinstimmungen mit den fünf Komponenten nach Podlech: „Die Verpflichtung des Staates, die Würde des jedes Menschen zu achten und zu schützen, bewahrt den Einzelnen vor Verachtung und Erniedrigung, schützt seine körperliche Integrität, sichert ihm menschengerechte Lebensgrundlagen, wahrt seine personale Identität und Ehre, bietet die Mindestbedingungen zur Entfaltung seiner Freiheit, gewährleistet elementare Rechtsgleichheit.“ 653 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 117. 654 Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 15. 655 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 132. 656 Häberle, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 45. 657 So aber Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 137.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

einen funktionellen Ansatz, der bei der Bestimmung dessen, was Menschenwürde ist, zunächst danach fragt, welche Funktionen dieser eigentlich zukommen. Anhand dieser Funktionen wird dann deutlich, worauf der Schutz der Menschenwürdegarantie abzielt, was also die Wesensmerkmale der Menschenwürde sind. Auch das BVerfG legte bereits in seiner frühen Rechtsprechung in ähnlicher Weise in etwa diese Wesensmerkmale, die von Podlech als Bedingungen der Menschenwürde bezeichnet werden, seinem Menschenbild zugrunde und machte sie zu Voraussetzungen für die Achtung und den Schutz der Menschenwürde. Allerdings bezieht das BVerfG auch das Demokratieprinzip mit ein, das bei Podlech keine ausdrückliche Erwähnung findet. Das Gericht bekannte bereits im Jahre 1956:658 „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert.“ Der Mensch sei „eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ‚Persönlichkeit‘“. Dies bedeutet, er sei fähig und es werde ihm abverlangt, „seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen. Um seiner Würde willen muss ihm eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit ge­ sichert werden.“ Für den politisch-sozialen Bereich bedeute dies, dass der Einzelne möglichst umfangreich verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken solle. Der Staat habe ihm dazu den Weg zu öffnen. Dies geschehe in erster Linie dadurch, dass „der geistige Kampf, die Auseinandersetzungen der Ideen frei ist, dass mit anderen Worten geistige Freiheit gewährleistet wird. Die Geistesfreiheit ist für das System der freiheitlichen Demokratie entscheidend wichtig, sie ist geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung […].“659 Weiter betonte das BVerfG: „Da Menschenwürde und Freiheit jedem Menschen zukommen, die Menschen insoweit gleich sind, ist das Prinzip der Gleichbehandlung aller für die freiheitliche Demokratie ein selbstverständliches Postulat.“660 In seiner jüngsten Rechtsprechung wird das Gericht noch deutlicher hinsichtlich der Funktion der Menschenwürdegarantie, indem es von der „als Freiheits- und Gleichheitsversprechen zugunsten aller Menschen konzipierte[n] Menschenwürdegarantie“661 sprach. Anhand dieser Rechtsprechung wird deutlich, dass das BVerfG die Freiheit der Persönlichkeit, die Demokratie und die Gleichheit als die wesentlichen Voraussetzungen zum Erhalt der Menschenwürde benennt und hieraus einen Gewährleistungsanspruch des Einzelnen ableitet, seinem Wesen als eigenverantwortliche Persönlichkeit weitestgehend entsprechen zu können. Zu diesem Gewährleistungs-

658

BVerfGE 5, 204 f. BVerfGE 5, 204 f. 660 BVerfGE 5, 204 f. Weiter betont das Gericht in diesem Zusammenhang: „Das Recht auf Freiheit und Gleichbehandlung durch den Staat schließt jede wirkliche Unterdrückung des Bürgers durch den Staat aus, weil alle staatliche Entscheidung den Eigenwert der Person achten und die Spannung zwischen Person und Gemeinschaft im Rahmen des auch dem Einzelnen Zumutbaren ausgleichen soll.“ 661 BVerfG, Urt. v. 09.05.2016 (Kammer), 1 BvR 2202/13, Rn. 57. 659

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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anspruch gehört insbesondere die Gewährung geistiger Freiheit sowie der Gleichbehandlung als Voraussetzungen für die Demokratie. Der EGMR neigt in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürde – ebenso wie es sich auch zum Teil aus dem sonstigen Europaratsrecht ergibt – prinzipiell der Auffassung von Würde als Wert zu und folgt insoweit auch der Annahme Kants, der Mensch sei jederzeit zugleich als Zweck und nicht als bloßes Mittel zu behandeln.662 Zudem hat die Untersuchung in Teil E. I. jedoch auch ergeben, dass es dem Gerichtshof wesentlich um die Begrenzung staatlicher Macht um der Wahrung der Identität und selbstverantwortlichen Persönlichkeit des Individuums willen geht. Indem der Gerichtshof wiederholt betonte, dass der Staat die Menschenwürde zu achten und zu schützen habe, zeigt die Menschenwürde im Konventionssystem die absolute Grenze staatlicher Gewalt auf und ist als etwas Unantastbares zu verstehen.663 Damit deutete der Gerichtshof wiederholt die Funktionen der Menschenwürdegarantie nach der EMRK an. Hieran lässt sich anknüpfen, weshalb ein Ansatz hilfreich ist, der nach der Funktion der Menschenwürde fragt, um anhand dessen die Wesensmerkmale des Menschenwürdebegriffs der EMRK festzustellen und damit dann Anhaltspunkte dafür zu liefern, wann eine Menschenwürdeverletzung anzunehmen ist,664 ohne dabei lediglich auf einen reinen Katalog von Verletzungstatbeständen zurückzugreifen. Kommt es also zu einer schweren Beeinträchtigung bzw. kompletten Negierung einer dieser Funktionen bzw. Wesensmerkmale, kann davon ausgegangen werden, dass der Mensch als würdiges Wesen in seiner Selbstzweckhaftigkeit bzw. Selbstbestimmung und damit seiner selbstverantworteten Persönlichkeit so beschränkt ist, dass es mit der Konvention nicht vereinbar ist.665 Im Folgenden sollen diese Komponenten als die Wesensmerkmale der Menschenwürde herausgearbeitet werden. b) Die Wesensmerkmale der Menschenwürde als Wesensmerkmale des ordre public européen Die EMRK enthält nicht lediglich eine Sammlung einzelner Rechtsverbürgungen ohne inneren Zusammenhang. Vielmehr bildet die Konvention eine objektive europäische Wertordnung in der Weise ab, wie es auch das BVerfG in seinem Lüth-Urteil

662 Zu diesem Schluss kommt auch Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 198 f. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 209 ff., plädiert dafür, Kants Würdebegriff als „kleinsten gemeinsamen Nenner“ ethischer Gemeinsamkeiten der 47 Mitgliedstaaten der EMRK zu begründen. Insofern biete es sich an, die auf Kants umfassender Moralphilosophie beruhende Objektformel Dürigs als negativen Erklärungsansatz hinsichtlich des Menschenwürdebegriffs nutzbar zu machen (S. 227). 663 Vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 190. 664 Einen solchen funktionellen Ansatz befürwortet ebenfalls Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 275. 665 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 190.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

für den Grundrechtsabschnitt des GG gesehen hat.666 Durch die Konvention haben die Europaratsstaaten ein Instrument geschaffen, das in verbindlicher Weise ihren gemeinsamen Werten und Idealen Ausdruck verleiht und als „kollektive Garantie“ den ordre public européen als gemeinsames, überstaatliches Fundament der Konventionsstaaten etabliert, dessen Hauptanknüpfungspunkt das Individuum ist. Der Gerichtshof hat sich daher ebenfalls ausdrücklich zur Konvention als einem „constitutional instrument of European public order“ bekannt.667 Dadurch, dass die Konvention gemeinsame Werte und eine gemeinsame (Rechts-)Kultur zum Ausdruck bringt, lässt sie auch ein bestimmtes Menschenbild erkennen. Dieses ist ebenso wie das Menschenbild der AEMR insbesondere von der zu achtenden und zu schützenden Würde des Menschen als seinsgegebener Wert668 und als ein der EMRK immanenter Wert669 geprägt, der das Wesen der Konvention („very essence“) darstellt. aa) Freiheit und die Freiheit von Existenzangst (1) Die Menschenwürde als „Urgrund“ der Konventionsrechte und die individuelle Selbstbestimmung als ihre direkte Ausprägung Die Vertragsstaaten der Konvention haben sich das der AEMR zugrunde liegende Wertesystem, dessen wesentliche Elemente die Menschenwürde, die Freiheit sowie die Gleichheit sind, für die EMRK zueigen gemacht.670 Der Konvention liegt daher ein der AEMR vergleichbares Menschenbild zugrunde. Der ausdrückliche Verweis in der Konvention auf die AEMR macht dies deutlich. So bildet nach Abs. 1 der Präambel der AEMR die Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit. Nach Art. 1 AEMR sind alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Daher ist es auch Ziel und Zweck der EMRK, die Vertragsstaaten zu verpflichten, die allen Menschen innewohnende Würde zu achten und zu schützen, um dem Einzelnen die Bedingungen zu gewähren, die notwendig sind, um die Entfaltung seiner Freiheit und zugleich eine elementare Rechtsgleichheit zu gewähren.671 Aus der Menschenwürde leitet sich somit das Recht auf Freiheit ab. Die Menschenwürde ist daher auch dem Verständnis der EMRK zufolge ebenso wie nach der AEMR das oberste Prinzip, auf dem sich dann das Recht auf Freiheit und die Gleichheit des Menschen gründen. Gegenstand dieses Rechts auf Freiheit ist der Anspruch jeder einzelnen Person, in ihrer Autonomie sowohl vom Staat, wie auch von gesellschaftlichen Mächten sowie anderen Menschen nicht verletzt zu werden.672 Für Kant 666

Vgl. im Einzelnen Teil C. VII. 1. EGMR, Urt. v. 23.03.1995 (GK), Beschw. Nr. 15318/89 (Loizidou ./. Türkei), Nr. 75. 668 Vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 232. 669 Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 263. 670 Siehe hierzu Teil E. I. 2. a). 671 Kirchhof, in: Grote (Hrsg.), FS Starck zum 70. Geburtstag, S. 275, 289. 672 Kirchhof, in: Grote (Hrsg.), FS Starck zum 70. Geburtstag, S. 275, 289. 667

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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handelte es sich bei der Freiheit um das einzige dem Menschen angeborene Recht,673 mithin bei der „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“674 um die direkte Ausprägung der Würde eines jeden einzelnen. Der Schutz der Menschenwürde also schreibt den Kernbereich der individuellen Selbstbestimmung fest.675 Dieser Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der Freiheit findet sich indes auch in der Rechtsprechung des EGMR. So bezeichnete der EGMR die Achtung der Menschenwürde sowie der menschlichen Freiheit erstmals in der Rs. Pretty im Jahre 2002 als „the very essence of the Convention“676 und betonte dies in ständiger Rechtsprechung.677 In dieser Entscheidung bezog sich der Gerichtshof auf Art. 8 EMRK und hob hervor, dass diesem die Vorstellung von der Autonomie der Person als wichtigem Prinzip und das Recht auf Selbstbestimmung zugrunde lägen. Diese Rechtsprechung lässt sich vor dem Hintergrund erklären, dass die EMRK von einem personalistischen Menschenbild geprägt ist.678 Diesem Verständnis nach wird die Würde als seinsgegebener Wert, als etwas dem Menschen Angeborenes, Unantastbares und Unveräußerliches verstanden. Das Hauptaugenmerk staatlichen Handelns ist dabei – trotz des zu findenden Interessenausgleichs zwischen den Individualinteressen und den Interessen der Gemeinschaft – auf den Menschen zu richten. Denn die Menschenwürde stellt den alle Rechte umfassenden und zusammenschließenden Wert dar.679 Der Mensch ist seinem Wesen nach mit einem umfassend zu schützenden Eigenwert ausgestattet und darf als potentielle Persönlichkeit nie zum bloßen Mittel für staatliche Zwecke oder zum reinen Objekt staatlichen Handelns missbraucht werden.680 Aus diesem Grund steht der Mensch als einmaliges Wesen im Mittelpunkt der Konvention. Bereits der AEMR lag die Annahme zugrunde, dass Frieden und Freiheit auf Dauer nur dann gewährleistet werden können, wenn dem Einzelnen eine menschenwürdige Existenz gewährleistet wird.681 Die persönliche Freiheit des Menschen ist ein mit der Menschenwürde untrennbar verbundenes Element dieses Menschenbildes.682 Zu dieser Freiheit zählen sowohl die physische wie auch die geistige Freiheit. 673

Vgl. Teil B. I. 6. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 237. 675 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 75 f.; von der Pfordten, Menschenwürde, S. 54 ff., zufolge konkretisiert sich die Menschenwürde „als innere Eigenschaft der Selbstbestimmung über die eigenen Belange“ (S. 61 f.). Gerade diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung gegenüber den eigenen Belangen erklärten auch, warum es sich bei Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit um Menschenwürdeverletzungen handele (S. 62). 676 Siehe hierzu ausführlich Teil E. I. 3. b) aa). 677 So auch im Urt. v. 28.09.2015, Beschw. Nr. 23380/09 (Bouyid ./. Belgien), Nr. 89: „[…] respect for human dignity forms part of the very essence of the Convention […], alongside ­human freedom […].“ 678 Siehe hierzu Teil E. I. 2. 679 Siehe hierzu Teil E. I. 2. 680 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 233. 681 Siehe hierzu Teil E. I. 2. 682 Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (326). 674

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Tiedemann fasst dieses Verhältnis von Menschenwürde und Freiheit folgendermaßen zusammen: „Die Menschenwürde verbürgt selbst eine Freiheit, und zwar die Freiheit von allem, was die Entwicklung und Aufrechterhaltung der personalen Identität und Authentizität hindert.“683 Und genau dies ist auch, was die einzelnen Konventionsgarantien festschreiben: Sie beschreiben selbst das Recht auf diese Freiheit.684 Um seiner Würde Willen hat der Mensch also frei zu sein. Und um der persönlichen Freiheit Willen hat der Mensch wiederum Rechte. An dieser Stelle wird erkennbar, dass die Menschenwürde auch nach der Konvention als die Voraussetzung der einzelnen in ihr verbürgten Rechte zu sehen ist. Also auch der Konvention lässt sich entnehmen, dass die Menschenwürde das Konstitutionsprinzip ist, mit dem sich erst die einzelnen Konventionsgarantien begründen lassen.685 Insofern fußt auch das Menschenwürdekonzept der EMRK auf der schon Kants Moralphilosophie zugrunde liegenden Annahme, wonach es sich bei der Menschenwürde um den eigentlichen „Urgrund“ der Menschenrechte handelt.686 Der Menschenwürde kommt daher auch im Konventionsrecht eine herausgehobene Stellung zu. (2) Anknüpfungspunkte für die Freiheit in der EMRK In der EMRK finden sich an mehreren Stellen Anknüpfungspunkte für die Freiheit. So bezieht sich die Konvention zum einen auf die physische Freiheit. Nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Insofern handelt es sich um eine Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG vergleichbare Garantie. Der sachliche Schutzbereich umfasst neben dem Verbot der willkürlichen Festnahme und Freiheitsentziehung die Garantie der richterlichen Kontrolle des Freiheitsentzuges.687 In mit Art. 104 Abs. 1 GG vergleichbarer Weise sieht Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK die Möglichkeit des Eingriffs in dieses Recht vor, wobei S. 2 einen abschließenden Katalog zulässiger Eingriffe enthält. Art. 4 Abs. 1 EMRK gewährleistet ebenfalls die physische Freiheit mit dem Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft. Gem. Abs. 2 darf niemand gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.688 Ebenso wie von den Verboten in Art. 3 EMRK darf auch von dem Verbot in Art. 4 Abs. 1 EMRK gem. Art. 15 Abs. 2 EMRK nicht abgewichen werden. Ein weiterer Aspekt physischer Freiheit kommt zudem in den jeweiligen zweiten Absätzen der Art. 8, 9 und 11 EMRK zum Ausdruck, indem dort die Gesundheit 683

Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 552. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 552. 685 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 552, resümiert daher: „Es gibt also keine Konkurrenz zwischen Menschenwürde und Menschenrechten. Letztere folgen aus ersterer.“ 686 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 121. 687 Grabenwarter, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 5. 688 Der EGMR zog in seinem Urt. v. 26.07.2005 in der Rs. Siliadin ./. Frankreich, Beschw. Nr. 73316/01, Verbindungslinien zwischen der Ausbeutung durch Arbeit und dem Ausgeliefertsein gegenüber Arbeits- und Lebensbedingungen, die unvereinbar mit der Menschenwürde sind (Nr. 142). 684

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als Schranke der gewährleisteten Rechte benannt wird.689 Dass die Verbote in Art. 3 EMRK mit der persönlichen Freiheit eng verbunden sind, hat auch der EGMR in seiner Rechtsprechung erkennen lassen. Hier kommen neben Aspekten der physischen Freiheit auch solche der geistigen Freiheit zum Tragen. Weitere Aspekte geistiger Freiheit werden zudem mit der in Art. 9 EMRK niedergelegten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie der in Art. 10 EMRK zu findenden Meinungsäußerungsfreiheit verbürgt. Während der Gerichtshof unter anderem in dem Urteil S. A. S.  ./. Frankreich bezüglich der Religionsfreiheit betonte, dass es sich hierbei um einen wesentlichen Aspekt der Identität einer Person handelt, die auch die Bekenntnisfreiheit umfasse, kam der EGMR in demselben Urteil jedoch zu dem Schluss, dass das französische Burkaverbot gerechtfertigt sei, indem er das französische Konzept des „vivre ensemble“ und damit das Interesse der Gemeinschaft über den Schutz der Freiheit des Individuums stellte.690 Auch wenn die Meinungsäußerungsfreiheit nach Ansicht des Gerichtshofs der Selbstverwirklichung eines jeden Individuums dient, wird auch anhand dieser Konventionsgarantie deutlich, dass die Autonomie des Individuums durch die Gemeinschaftsgebundenheit beschränkt wird,691 denn bei Art. 10 EMRK handelt es sich um eine der wesentlichen Grundlagen der demokratischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung.692 So ist ein Eingriff nach Art. 10 Abs. 2 EMRK dann gerechtfertigt, wenn dies in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. In der EMRK steht somit neben dem Menschen als autonomem Individuum immer auch dessen unabdingbare Verbundenheit mit der Gemeinschaft.693 Zur Gewährleistung einer möglichst weitestgehenden Freiheit des eigenverantwortlichen Individuums von heteronomem Zwang bedarf es daher immer wieder eines behutsamen Ausgleichs zwischen den Interessen des Individuums und denen der Gemeinschaft. Dennoch spielt die Gebundenheit der Gemeinschaft an die Interessen des Individuums und die Wahrung seiner Freiheit nach der Konvention eine bedeutende Rolle. So verweist der EGMR in ständiger Rechtsprechung auf die Bedeutung des Schutzes des Individuums – insbesondere auch von Angehörigen von Minderheiten – für die Demokratie und betont, dass Eckpfeiler einer demokratischen Gesellschaft die Werte Pluralismus, Toleranz und Offenheit seien.694 Der Gerichtshof greift hiermit selber einen wesentlichen Aspekt der Freiheitsgewährleistung für das Individuum auf – insbesondere auch gegenüber der Gemeinschaft.

689

Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (326). So in seinem Urteil in der Rs. S. A. S. ./. Frankreich, vgl. hierzu die obige Darstellung in Teil E. I. 3. b) ee). 691 Vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 233. 692 Vgl. hierzu und zu dem Urteil in der Rs. Müslüm Gündüz ./. Türkei die Ausführungen in Teil E. I. 3. c). 693 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 233. 694 So etwa in dem Urteil in der Rs.  Leyla Sahin  ./. Türkei sowie in dem Urteil in der Rs. S. A. S. ./. Frankreich. Siehe hierzu die Darstellung in Teil E. I. 3. b) ee). 690

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Insbesondere aber bei der Konventionsgarantie des Art. 8 EMRK wird der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit deutlich. Anknüpfend an Art. 8 EMRK bezeichnete der Gerichtshof neben der Würde auch die Freiheit als das Wesentliche der Konvention sowie als eines der fundamentalen Prinzipien, auf der die Konvention begründet sei.695 Dem vom EGMR in seiner Entscheidung zur Rs. Pretty sowie in der folgenden Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK herausgearbeiteten Konzept des „private life“ sowie der „identity“ liegt die Vorstellung von der Autonomie der Person als wichtigem Prinzip und das Recht auf Selbstbestimmung zugrunde.696 Neben der physischen und psychischen Integrität der Person umfasst dieses Konzept Aspekte der körperlichen und sozialen Identität des Individuums und das Recht zu persönlicher Autonomie sowie das Recht auf Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.697 Nach der Idee des Gerichtshofs von der selbstbestimmten und persönlichen Freiheit der autonomen Person verfügt jeder Mensch über die Fähigkeit, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu führen. Staatliche Maßnahmen, die dieser Vorstellung zuwiderlaufen, stehen zugleich im Widerspruch zur Konvention. Mehr noch nimmt der Gerichtshof eine positive Verpflichtung staatlicher Stellen an, das Privatleben und die Menschenwürde zu schützen.698 Aufgrund seiner Würde und Freiheit kommt jedem Menschen das Recht zu, über seinen persönlichen Lebensbereich frei zu entscheiden, sich selbst zu definieren, etwa auch seine Geschlechtsidentität zu bestimmen,699 oder etwa seine Religion zu bekennen700. (3) Die Freiheit von Existenzangst Die Einsicht, dass freies Handeln als selbstverantwortliche Persönlichkeit nur dann hinreichend gewährleistet werden kann, wenn jeder Mensch unter bestimmten Mindestbedingungen lebt, schließt zudem die Freiheit von Existenzangst als Wesensmerkmal der Menschenwürde ein. Zwar übt sich der EGMR bezüglich der Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Vergleich zum BVerfG in deutlich größerer Zurückhaltung. Dennoch kommt in seiner Rechtsprechung insbesondere zu Haftbedingungen als auch zur Unterbringung von Asylbewerbern zum Ausdruck, dass Personen – vor allem auch Minderjährige –, die als besonders 695

So betonte es der EGMR in seinem Urteil in der Rs. V. C. ./. Slowakei, vgl. Teil E. I. 3. b) cc). Siehe ausführlich zu dem Konzept des Gerichtshofs des „private life“ und der „identity“ sowie zum Urteil in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich in Teil E. I. 3. b) aa). 697 So auch in dem Urteil in der Rs. V. C. ./. Slowakei, vgl. hierzu die obige Darstellung in Teil E. I. 3. b) cc). 698 So betonte es der Gerichtshof etwa in seinem Urteil in der Rs. Dordevic ./. Kroatien, vgl. hierzu Teil E. I. 3. b) dd). 699 So bestimmte es der EGMR in seinem Urteil in der Rs. Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich. Siehe hierzu ausführlich Teil E. I. 3. b) cc). 700 Vgl. die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK etwa in der Rs. S. A. S. ./. Frankreich, vgl. die obigen Ausführungen in Teil E. I. 3. b) ee). 696

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verletzlich gelten und dem Staat in besonderer Weise ausgeliefert sind, ein bestimmtes Existenzminimum als materielle Basis menschlichen Daseins701 zu gewähren ist.702 Zwar erteilte der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung der Verpflichtung der Vertragsstaaten zur finanziellen Unterstützung bzw. der Gewährung eines Obdachs bislang eine Absage. Zugleich betonte der EGMR jedoch zum Schutz und zur Achtung der Menschenwürde die Verpflichtung der Vertragsstaaten, eine in völlig von staatlicher Unterstützung abhängige Person, die sich in schwerer Armut und Bedürftigkeit befindet, nicht ihrem Schicksal zu überlassen.703 Bei ihrer Verabschiedung war die EMRK zunächst nicht so konzipiert, dass sie einen modernen holistischen Menschenrechtsschutz gewährleistete, da sie keine sozialen Rechte umfasste.704 Dies änderte sich jedoch auf der Ebene des Europarates nicht zuletzt auch durch die Verabschiedung der Europäischen Sozialcharta705 und eine Wandlung in der Rechtsprechung des EGMR, die nunmehr zunehmend von einem holistischen Menschenrechtsverständnisses geprägt zu sein scheint.706 Wenngleich sich damit aus der Konvention und ihrem Menschenwürdekonzept noch kein zwischen den Vertragsstaaten einheitlich zu gestaltender sozialer Mindestschutz ableiten lässt, der in bestimmten finanziellen Verpflichtungen seinen Ausdruck findet, ergibt sich aus der Konvention dennoch durchaus eine an humanitären Erwägungen orientierte, positive Verpflichtung der Staaten, Personen, die sich in sozialer Not und sich in einer besonderen Abhängigkeit vom Staat befinden, Hilfe zu leisten.707 Dies betrifft jedoch lediglich das, was zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse wie etwa hinreichende hygienische Bedingungen oder lebenswichtige medizinische Behandlungen unbedingt erforderlich ist. Ebenso besteht eine Verpflichtung zum humanitären Schutz auch dann, wenn sich Personen in hilfloser und auswegloser Lage befinden, aus der sie sich selbst nicht mehr befreien können – etwa wenn Menschen bei illegaler Einwanderung schutzlos Menschenhändlern ausgeliefert sind und auf See in Not geraten und so der Tod Unschuldiger in Kauf genommen wird. Mithin trifft auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Verpflichtung zur Wahrung der Menschenwürde im Rahmen der Wahrnehmung ihrer Aufgaben an den EU-Außengrenzen708 ebenso 701

Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 181. Siehe etwa Teil E. I. 3. a) kk). 703 Siehe Teil E. I. 3. a) kk) (2). 704 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (191 f.). 705 Vgl. hierzu Teil E. I. 1. b). 706 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (194). 707 So auch Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 213. 708 Vgl. Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 30; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 41. In einem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit (COM/2013/0197 final – 2013/0106 (COD), wurde in den Erwägungsgründen 702

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

wie die Vertragsstaaten bei der humanitären Aufnahme und Unterbringung von schutzsuchenden Personen. Frenz zufolge negiert die eigene Würde, „wer bei Mitmenschen hinnimmt, dass sie sich in höchst menschenunwürdigen Verhältnissen befinden und darin belassen werden. Damit wird der beim Menschen allgemein zu wahrende unantastbare Rahmen in Frage gestellt.“709 bb) Demokratie Sowohl in den jeweiligen zweiten Absätzen der Art. 8 bis 11 EMRK und Art. 3 Zusatzprotokoll Nr. 1 (Recht auf freie Wahlen) wie auch in der Präambel zur EMRK („eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“) kommt das Demokratieprinzip zum Ausdruck. Neben der Meinungsäußerungsfreiheit stehen Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK), der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 EMRK) sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 EMRK) unter dem Vorbehalt der Notwendigkeit in der demokratischen Gesellschaft (jeweils Abs. 2) und damit in besonderem Zusammenhang zum Demokratieprinzip. Das Demokratieprinzip fungiert somit als Schranken-Schranke.710 Die Vorstellung von einer demokratisch verfassten Gesellschaft stellt eines der Wesensmerkmale der Konvention und das „Herzstück“711 des ordre public européen dar.712 Nach Ansicht des Gerichtshofs selbst ist die Demokratie die einzige von der Konvention erwähnte Herrschaftsform und auch die einzige, die mit der Konvention vereinbar sei.713 Was jedoch genauer deutlich hinsichtlich der Menschenwürde formuliert, dass „während eines Überwachungseinsatzes getroffene Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen, nicht diskriminierend sein und die Menschenwürde, die Grundrechte sowie die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden, einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, uneingeschränkt achten [sollten].“ 709 Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 30. 710 Vgl. Eiffler, KJ 2003, 218 (220). 711 Schweitzer, in: Merten / Papier, (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, § 138 Rn. 22: „Hierin widerspiegeln sich die gemeinsamen Ideale und Werte der Staaten des Europarates.“ 712 EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Beschw. Nr. 22954/93 (Ahmed u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 52: „The Court recalls in this respect that democracy is a fundamental feature of the European public order. That is apparent from the Preamble to the Convention, which establishes a very clear connection between the Convention and democracy by stating that the maintenance and further realisation of human rights and fundamental freedoms are best ensured on the one hand by an effective political democracy and on the other by a common understanding and observance of human rights […].“; ebenso Urt. v. 30.01.1998, Beschw. Nr. 19392/92 (United Communist Party of Turkey u. a. ./. Türkei), Nr. 45; nach Pellonpää, EuGRZ 2006, 483, 484, stellt „das Ideal ‚eines wahrhaft demokratischen politischen Regimes‘ eines der Grundwerte der Konvention“ dar. 713 EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Beschw. Nr. 19392/92 (United Communist Party of Turkey u. a. /. Türkei), Nr. 45; Urt. v. 31.07.2001 (GK), Beschw. Nr. 41340, 41343, 41344/98 (Rafah Partisi ./. Türkei), Nr. 86.

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Bedeutungsinhalt des Schutzgutes Demokratie ist, hat der EGMR bislang nicht abschließend definiert. Allerdings hat er durch seine Rechtsprechung Teilaspekte eines gemeineuropäischen Demokratiebegriffs mit Blick auf die Gemeinsamkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen herausgearbeitet.714 Nach der Vorstellung des Gerichtshofs ist eine demokratische Gesellschaft von individueller Freiheit geprägt. Ihre zentralen Elemente sind danach insbesondere der Minderheitenschutz, der in der Meinungs-, Versammlungs- sowie der Religionsfreiheit zum Ausdruck kommende Pluralismus, die staatliche Neutralität bezüglich Religion, Moral und Philosophie, die Berücksichtigung sozialer Belange, Angeklagtenrechte wie insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie die Kontrolle und Begrenzung staatlicher Macht beim Eingriff in Individualrechte.715 Nur in einer demokratisch verfassten Gesellschaft kann also auch der notwendige Raum an Freiheit bestehen, der die Selbstbestimmung des Einzelnen über seine eigenen Belange hinreichend gewährt. Das der Demokratie innewohnende Moment der Mitbestimmung und Teilhabe ist Ausdruck der durch die Selbstbestimmung des Einzelnen geprägten Menschenwürde.716 In Form der gleichen Teilhabe am Gesetzgebungsprozess  – sei es in Form direkter oder repräsentativer demokratischer Mitbestimmung – erlegt sich die Gemeinschaft von Individueen freiwillig Grenzen und Möglichkeiten durch rechtliche Bindungen auf.717 Indem das Individuum somit an der Schaffung von Recht gemeinsam mit den anderen Individuen partizipiert, bringt es als Subjekt seine eigenen Interessen mit denen anderer in Ausgleich. Auch Mahoney ist der Ansicht, dass die Konvention auf einer ganz bestimmten politischen Philosophie beruhe: „[…] namely that political democracy is the best system of government for ensuring respect of fundamental freedoms and human rights.“718 Dementsprechend stellte auch der Gerichtshof klar, dass eine „effective political democracy“719 sowie ein „common understanding and observance of human rights“720 die Voraussetzungen für einen effektiven Grundrechtschutz darstellen. Dementsprechend hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung deutlich 714

Eiffler, KJ 2003, 218 (220). Eiffler, KJ 2003, 218 (220). Vgl. auch Thoma, Die Europäisierung und die Vergemeinschaftung des nationalen ordre public, S. 29 f., der darauf verweist, dass der EGMR unter anderem die Menschenwürde, das Folterverbot, das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Gewissensfreiheit, alle relevanten Bürgerrechte, Pluralismus, offene und freie Wahlen, das Recht auf ein Sexual- und Familienleben als die Hauptgrundlagen des demokratischen Staates bezeichnet habe. 716 Vgl. Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (984): „Wesentlich ist, dass der Grundsatz von der Achtung der Menschenwürde ein Bollwerk gegen Erniedrigung und Demütigung von Menschen bleibt, aber auch gegen Missbrauch des Menschen als Objekt, die ihm nicht die Möglichkeit gibt, als menschliches Subjekt am demokratischen Leben eines Staates mitbestimmend zeilzunehmen.“ 717 Kirste, in: Demko / Seelmann / Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, S. 65 (88 f.). 718 Mahoney, HRLJ 19 (1998), 1 (3). 719 EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Beschw. Nr. 22954/93 (Ahmed u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 52. 720 EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Beschw. Nr. 22954/93 (Ahmed u. a. ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 52. 715

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

gemacht, dass es die ihm zukommende Kontrollfunktion gebiete, den Grundsätzen, die eine „demokratische Gesellschaft“ („democratic society“) ausmachen, größte Aufmerksamkeit zu widmen.721 Eine solche demokratische Gesellschaft könne es jedoch ohne Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit nicht geben, denn diese seien das Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft.722 Aus diesem Grund kam der EGMR etwa in der Rs. Handyside zu dem Schluss, dass das Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 10 Abs. 1 EMRK) eine der „essential foundations of such a society“ ist, und damit „one of the basic conditions for its progress and for the development of every man“723. Der EGMR machte damit selber deutlich, dass die Konvention nicht irgendeine Gesellschaft vor Augen hat, sondern vielmehr von einer demokratischen ausgeht, die ihren eigenen Fortschritt ebenso vor Augen hat wie die freie Entfaltung des Individuums. Insofern brachte der Gerichtshof hier im Zusammenhang mit der für die demokratische Willensbildung essentiellen Meinungsfreiheit das zum Ausdruck, was bereits das BVerfG bezüglich der Kommunikationsgrundrechte (Art. 5, 8 und 9 GG) und des allgemeinen Gleichheitssatzes festgestellt hat: Die Kerngehalte dieser Grundrechte sind vom Demokratieprinzip umfasst.724 Zudem müsse sich in einer Demokratie die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk vollziehen.725 Zentraler Gegenstand des konventionsrechtlichen Demokratiebegriffs ist daher die Wahrung der politischen Rechte des Einzelnen um seiner Selbstbestimmung Willen.726 Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft ist nach Ansicht des EGMR ein zivilisiertes Verhalten („standards of civilised behaviour“) seitens des Staates,727 weshalb staatliche Institutionen gehalten sind, jeden Einzelnen in seiner Menschenwürde zu achten und diese nicht etwa durch Demütigung und Herabsetzen zu verletzen.728 An dieser Stelle klingt in der Rechtsprechung des EGMR deutlich der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an, der wiederum Ausdruck eines demokratisch verfassten Rechtsstaates 721 EGMR, Urt. v. 07.12.1976, Beschw. Nr. 5493/72 (Handyside ./.Vereinigtes Königreich), Nr. 49: „The Court’s supervisory functions oblige it to pay the utmost attention to the principles characterising a ‚democratic society‘“. 722 EGMR (GK), Urt. v. 10.11.2005 (Leyla Sahin ./. Türkei), Beschw. Nr. 44774/98, Nr. 108: „Pluralism, tolerance and broadmindedness are hallmarks of a ‚democratic society‘.“ 723 EGMR, Urt. v. 07.12.1976, Beschw. Nr. 5493/72 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich), Nr. 49. 724 BVerfGE 69, 315 (345 ff.). 725 BVerfGE 20, 56 (98 f.). 726 So auch Eiffler, KJ 2003, 218 (221). 727 So formuliert es der EGMR in seinem Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 138: „It is therefore of the view that holding a person in a metal cage during a trial constitutes in itself – having regard to its objectively degrading nature which is incompatible with the standards of civilised behaviour that are the hallmark of a democratic society – an affront to human dignity in breach of Article 3.“ 728 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 und 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 138.

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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ist. So kommt dem zum Teil auch als „Übermaßverbot“ bezeichneten729 und aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten730 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Ansicht des BVerfG „eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu“731. Der sich aus der Menschenwürde ergebende allgemeine Freiheitsanspruch des Einzelnen gegenüber dem Staat erfordert, dass dieser bei der Ausübung staatlicher Gewalt nur insoweit eingeschränkt wird, wie dies zum Schutz öffentlicher Interessen erforderlich ist.732 Zudem leitete der Gerichtshof das der Konvention zugrunde liegende Demokratieprinzip dementsprechend deutlich etwa in seiner Entscheidung in der Rs. Müslüm Gündüz aus der Menschenwürde ab, indem er darauf verwies, dass Toleranz und die Achtung der gleichen Würde aller Menschen die Grundlage einer demokra­tischen, pluralistischen Gesellschaft sind.733 Daher kann die Demokratie als die „orga­ nisatorische Konsequenz der Menschenwürde“734 bezeichnet werden. Achtung und Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte bilden die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats735 und sind zugleich nur in einem demokratisch verfassten Staatswesen möglich, denn schließlich bedeutet Demokratie die „freie Selbstbestimmung aller Bürger“736. So ermöglichen auch erst die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der einzelnen Menschenrechte den demokratischen Prozess, ohne den Menschenwürde und Menschenrechte wiederum selbst nicht positiviert und konkretisiert werden könnten.737 Mit den Worten Carlo Schmids vor dem Parlamentarischen Rat am 08.09.1948 gesprochen, muss man daher die Demokratie „als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges“738 bezeichnen. cc) Rechtsstaatlichkeit Nach deutschem Recht setzt sich das Rechtsstaatsprinzip (insbesondere Art. 20 Abs. 3 GG) als „eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes“739 aus verschiedenen Teilelementen zusammen.740 Hierzu zählen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, ein effektiver gerichtlicher 729

Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 112. BVerfGE 111, 54 (82). 731 BVerfGE 81, 310 (338). 732 Vgl. hierzu Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 285. Ähnlich formulierte es das BVerfG (E 77, 308 (334)). 733 Siehe ausführlich Teil E. I. 3. c). 734 Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 548. 735 Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, S. 74, zufolge sei die Menschenwürde die „kulturanthropologische Prämisse auch der Demokratie […].“ 736 BVerfGE 44, 125 (142); 107, 59 (92). 737 Vgl. Habermas, Zur Verfassung Europas, S. 27 (Fn. 24). 738 Schmid, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv: Der Parlamentarische Rat 1948–49, Akten und Protokolle, München 1996, Bd. 9, S. 20 ff. 739 BVerfGE 20, 323 (331). 740 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 37. 730

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Rechtsschutz, das Recht auf ein rechtsstaatliches faires Verfahren, ein allgemeines Willkürverbot sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.741 Es handelt sich bei dem Begriff der Rechtsstaatlichkeit um einen deutschen Begriff, weshalb bei der Übertragung dieses Grundsatzes auf das Konventionsrechts Vorsicht geboten ist. Dennoch benennt auch die EMRK in ihrer Präambel die Rechtsstaatlichkeit, bzw. in der englischen Fassung „rule of law“ und in der französischen Fassung der Konvention „prééminence du droit“, als das gemeinsame Erbe der Vertragsstaaten. Die Vertragsstaaten zielten also darauf ab, mithilfe der EMRK auch den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit bzw. der „rule of law“ kollektiv verbindlich durchzusetzen.742 Daher verbürgt denn auch Art. 6 EMRK als das „Kernstück der Justizgrundrechte der EMRK“743 das Recht auf ein faires Verfahren („fair trial“).744 Wesentlich für ein faires Verfahren ist es, dass die Prozessbeteiligten bzw. der Angeklagte nicht zum Objekt des Verfahrens werden, sondern zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens ihre Subjektstellung behalten.745 Hierzu zählen entsprechende Mitwirkungsrechte, das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör und Waffengleichheit insbesondere auch mit den beteiligten staatlichen Institutionen.746 Art. 6 EMRK bestimmt seiner Formulierung nach recht deutlich, was vom Recht auf ein faires Verfahren umfasst ist. So enthält Abs. 1 zunächst eine Organisationsgarantie,747 wonach jede Person über das Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden unabhängigen und unparteiischen Gericht verfügt. Abs. 1 enthält zudem Verfahrensgarantien, die Ausdruck des fair-trial-Grundsatzes sind. Diesem Grundsatz entsprechend soll der Verfahrensablauf so gestaltet sein, dass den am Prozess beteiligten Personen jederzeit die Möglichkeit verbleibt, ihre Rechtspositionen unter im Wesentlichen gleichen Voraussetzungen effektiv vertreten zu können.748 Hierzu zählt laut Konvention nicht nur der in Abs. 1 verbürgte Grundsatz der öffentlichen Verhandlung sowie der angemessenen Verfahrensdauer, 741

Vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 41 ff.; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 568. 742 Vgl. Thoma, Die Europäisierung und Vergemeinschaftung des nationalen ordre public, S. 29 f., der in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des EGMR in der Rs. Golder ./. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 21.02.1975, Beschw. Nr. 4451/70, Rn. 34, verweist, in der der Gerichtshof bereits deutlich gemacht habe, dass die Präambel der Konvention keine reine rhetorische Verweisung auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beinhalte. 743 Grabenwarter / Struth, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 36. 744 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK weist darauf hin, dass es sich bei dem Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK um das „bei weitem relevanteste Grundrecht“ handele, das in 2012 44 Prozent der insgesamt 1093 Urteile des EGMR betroffen habe. 745 Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). 746 Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983); Grabenwarter / Struth, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 45. 747 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Bd. I, Kap. 14 Rn. 37. 748 Grabenwarter / Struth, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 44.

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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sondern auch die zum Grundsatz des fair trial zählenden, in Art. 3 aufgeführten, einer angeklagten Person mindestens zu garantierenden Rechte, die wesentlich vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung sowie der Waffengleichheit geprägt sind.749 Ebenso gehört zu den Angeklagtenrechten der nemo-tenetur-Grundsatz, wonach der Angeklagte das Recht hat, zu schweigen und nicht gehalten ist, sich selbst zu beschuldigen. Der EGMR zählt diesen Grundsatz zum Kernbereich des fairen Verfahrens und weist in diesem Zusammenhang auf den engen Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung gem. Art. 6 Abs. 2 EMRK hin.750 Dass dieser Grundsatz Ausdruck der Menschenwürde ist, machte das BVerfG deutlich, indem es feststellte, dass der in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO verbürgte Grundsatz in der Menschenwürde wurzelt und zu den anerkannten Prinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zählt.751 Wenngleich der EGMR sich in seiner Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 6 EMRK bislang lediglich in seiner auf einen Fall überlanger Verfahrensdauer bezogenen Entscheidung in der Rs. Bock ./. Deutschland einen Eingriff in die Menschenwürde annahm,752 wird auch hinsichtlich der EMRK deutlich, was hinter Art. 6 EMRK und insbesondere dem Grundsatz des fair trial sowie der Unschuldsvermutung steht: die Achtung der Subjektstellung des Einzelnen als eigenverantwortlich handelnde, gleichberechtigte Person.753 Zudem soll durch die Verfahrensgarantien Rechtssicherheit geschaffen werden, um so den Handlungsspielraum des Betroffenen klar zu definieren und zu garantieren und die Gefahren durch staatliche Willkür einzudämmen. Durch die klare Konturierung des Handlungsspielraums wird zugleich die Handlungsfreiheit des Einzelnen definiert.754 Auf diese Weise gewährt auch die EMRK, entsprechend dem deutschen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, bindet die Staatsgewalt an das Gesetz und schützt das Vertrauen.755 Zudem wird auf diese Weise Rechtsgleichheit hergestellt.756 Der Grundsatz der Waffengleichheit ist dabei eine besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes.757 Insofern dient gerade der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Garantie der Menschenwürde und der Sicherung der Menschenrechte.758 Nur in einem Rechtsstaat, in dem die Rechte des Einzelnen garantiert werden und Verletzungen dieser Rechte in einem fairen Verfahren effektiv durchgesetzt werden können, wird die Freiheit und 749 Grabenwarter / Struth, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 46. 750 EGMR, Urt. v. 21.12.2000, Beschw. Nr. 34720/97 (Heaney and McGuinness ./. Irland), Nr. 40 („at the heart of the notion of a fair procedure under Article 6.“) 751 BVerfGE 38, 105 (113); 56, 37 (43). 752 EGMR, Urt. v. 29.03.1989 (Kammer), Beschw. Nr. 11118/84 (Bock  ./. Deutschland), Nr. 48; vgl. hierzu bereits in Teil E. I.3. c). 753 Vgl. Frenz, DVBl 2013, 1572 (1576); Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 180. 754 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 570. 755 BVerfGE 95, 96 (130). 756 Vgl. Frenz, DVBl 2013, 1572, der in diesem Zusammenhang auf BVerfGE 84, 90 (121), verweist. 757 Grabenwarter / Struth, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 46. 758 Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 570 f.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Gleichheit der Person gewährt und die Subjektstellung des Einzelnen geachtet und geschützt sowie die Menschenwürde garantiert. Ist also die Menschenwürde – mit den Worten Kants – die Bedingung der Möglichkeit von Recht, ist die Rechtsstaatlichkeit wiederum eine Voraussetzung für die Sicherung der Menschenwürde.759 dd) Die Gleichheit des Menschen und Solidarität Während bereits früh von der allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Würde die Rede war, wird die Ansicht, dass es sich bei der Gleichheit um ein „wesens­bestimmendes Merkmal der Menschenwürde“760 handelt,761 zum Teil kritisiert. Tiedemann zufolge sei die Gleichheit weder aus der Menschenwürde abzuleiten, noch die Menschenrechte aus dem Gleichheitssatz.762 Vielmehr sei die Gleichheit eine Idee, die eigenständig neben der Freiheit und der Menschenwürde stehe: Während Menschenwürde, Menschenrechte und Freiheit das einzelne Individuum im Auge hätten, gehe es bei der Gleichheit schon immer um die Relation des Individuums zu anderen.763 Menschenwürde und Menschenrechte seien auch in einer Situation der Nichtkooperation gültige Werte und Normen. Das Gleichheitsprinzip setze hingegen kooperative Verbundenheit zwischen Individuen voraus.764 Dieser Ansicht ist zuzugestehen, dass Hauptanknüpfungspunkt des konventionsrechtlichen Schutzsystems zwar allein das Individuum ist. Im Mittelpunkt steht „allein der autonome und autarke Bürger […], der (lediglich) den Prinzipien der ‚demokratischen Gesellschaft‘ umfassend verbunden ist“765. Dennoch erkennt auch der EGMR in seiner Rechtsprechung, dass es eines Ausgleichs zwischen den Interessen der Gemeinschaft und denen des Individuums bedarf. Dass das Individuum in gesellschaftlichen Bezügen lebt, nicht losgelöst von der Gemeinschaft leben kann766 759

Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 570 f., der die Rechtsstaatlichkeit als „eine juridische Technik zur Sicherung der Grundwerte der Menschenwürde, der Menschenrechte, der Freiheit und der Gleichheit“ bezeichnet. 760 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 113. 761 Ebenso stellt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Gleichheitssatz und der Menschenwürde Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 18, her. Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 6, zufolge schließt die Würde des Menschen die prinzipielle Gleichheit der Menschen ein. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (560), streicht bei seiner Analyse diverser Menschenwürdekonzepte in verschiedenen Staaten heraus, dass das gemeinsame Herzstück der Menschenwürde „the principle that every human being is worthy of equal treatment and respect“ sei. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 12 m. w. N., zufolge „schließt die Menschenwürde die prinzipielle Gleichheit aller Menschen ein, trotz aller tatsächlichen Unterschiede“. 762 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 559 f. 763 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 559 f. 764 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 561. 765 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 114. 766 Insbesondere das BVerfG hebt immer wieder die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen hervor, vgl. BVerfGE 125, 175 (223): „[…] der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen […].“

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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und zugleich aber auch eine demokratisch verfasste Gesellschaft von dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft abhängig ist, zeigt, dass auch der Konvention die Vorstellung von einer kooperativen Verbundenheit zugrunde liegt. Dies machte der EGMR insbesondere etwa in seinem Urteil in der Rs. Müslüm Gündüz im Hinblick auf die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK deutlich, indem er die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit einerseits für die individuelle Selbstentfaltung hervorhob und andererseits auch als wesentliche Grundlage der demokratischen Gesellschaft.767 Neben der individuellen Freiheit hat die Konvention somit immer auch die Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen vor Augen. In dieser Entscheidung machte der Gerichtshof deutlich, dass die Achtung der gleichen Würde eines jeden Einzelnen („respect for the equal dignity of all human beings“) die Grundlage für eine demokratische, pluralistische Gesellschaft ist.768 Was unter dieser gleichen Würde zu verstehen ist, findet sich schon bei Kant. Dieser löste bereits die Würde von der einzelnen Person und ihren konkreten Eigenschaften und Umständen und begründete eine a priori gedachte, abstrakte Würde.769 Es handelt sich mithin um eine auf die Gattung Mensch insgesamt bezogene Würde,770 die jedem Menschen die Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung abstrakt und in gleicher Weise zugesteht. Der somit bereits von Kant hergestellte Zusammenhang zwischen der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit manifestiert die Gegenseitigkeit des Achtungsanspruchs. Dies ist der Grund, weshalb es keine Abstufungen zwischen dem Anspruch auf Achtung der Würde des einen und dem Achtungsanspruch des anderen geben kann und der Menschenwürde die Vorstellung von Gleichheit zugrunde liegt, ja die Gleichheit Wesensmerkmal der Würde ist.771 Nur wenn die Menschenwürde die prinzipielle Gleichheit jedes Menschen einschließt,772 wird die Würde auch allen Menschen zuteil, unabhängig von ihren Eigenschaften und Merkmalen.773

767 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), vgl. hierzu ausführlich Teil E. I. 3. c). 768 EGMR, Urt. v. 04.12.2003, Beschw. Nr. 35071/97 (Müslüm Gündüz ./. Türkei), Nr. 40, vgl. hierzu Teil E. I. 3. c). 769 Siehe hierzu ausführlich Teil B. I.5. 770 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 122; Herdegen, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, 67. Erg.-Lfg., Art. 1 Abs. 1 Rn. 2. 771 In diesem Sinne auch Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (334): „Gleichheit kann daher derzeit als Element des Menschenbildes der EMRK nur insoweit bezeichnet werden, als allen Menschen die in der Konvention gewährleisteten Rechte und Freiheiten einschließlich der diesen zugrunde liegenden menschlichen Würde gleichermaßen zustehen. Die Gleichheit ist damit, ebenso wie die Sozialgebundenheit, insoweit Element der durch die EMRK gewährleisteten Freiheit und Würde.“ 772 So auch Jarass, GRCh, Art. 1 Rn. 6. O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (555): „Because dignity inheres in human beings, irrespective of external characteristics, every human being should be entitled to enjoy his or her human rights without suffering any discrimination or distinc­tion based on such external characteristics.“ 773 Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 Rn. 33.

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Die sich bereits auf Formulierungen der Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789 beziehende AEMR verankerte erstmals auf internationaler Ebene ein Diskriminierungsverbot und einige Gleichheitsrechte.774 Während der Einfluss der AEMR auf die Entstehung des Gleichheitssatzes in Art. 3 GG gering blieb, war dieser hinsichtlich der Entstehung des Art. 14 EMRK stärker.775 Die Vertragsparteien konnten sich bei den Beratungen im Rahmen des Europarates bezüglich des Art. 14 EMRK dennoch nicht auf die ausdrückliche Verankerung eines allgemeinen Gleichheitssatzes neben dem Diskriminierungsverbot einigen.776 Eine verbotene Diskriminierung liegt dann vor, wenn die festgestellte Ungleichbehandlung sachlich nicht gerechtfertigt ist.777 Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK ist akzessorisch, denn dessen Anwendbarkeit setzt immer auch die Betroffenheit eines Freiheitsrechts voraus.778 Dies führt dazu, dass die Bedeutung des Art. 14 EMRK eher gering ist.779 Andererseits ist Art. 14 EMRK nach Ansicht des EGMR immer auch integraler Bestandteil eines jeden Freiheitsrechts, denn eine Verletzung einer anderen materiellen Konventionsnorm ist nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK, sondern bereits anwendbar, wenn der Regelungsbereich eines Freiheitsrechts eröffnet ist.780 Nicht akzessorisch ist hingegen das im 12. Zusatzprotokoll zur EMRK statuierte allgemeine und umfassende Diskriminierungsverbot.781 Artikel 1 des Protokolls bestimmt: „The enjoyment of any right set forth by law shall be secured without discrimination on any ground such as sex, race, colour, language, religion, political or other opinion, national or social origin, association with a national minority, property, birth or other status. [para. 1] 774

Peters / König, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  21 Rn. 3. 775 Peters / König, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  21 Rn. 4. 776 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 67. 777 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 70. 778 Ress, in: Stern / Grupp (Hrsg.), GS Burmeister, S. 309 (334); Vgl. hierzu ausführlich Peters /  König, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  21 Rn.  31 ff.; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 67 f. 779 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 68. 780 EGMR, Urt. v. 28.05.2009, Beschw. Nr. 3545/04 (Brauer ./. Deutschland), Nr. 28: „The Court reiterates that Article 14 of the Convention complements the other substantive provisions of the Convention and its Protocols. It has no independent existence since it has effect solely in relation to ‚the enjoyment of the rights and freedoms‘ safeguarded by those provisions. Although the application of Article 14 does not presuppose a breach of those provisions – and to this extent it is autonomous – there can be no room for its application unless the facts in issue fall within the ambit of one or more of the latter […].“ 781 Protocol No. 12 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, ETS No. 177, in Kraft getreten am 01.04.2005. Deutschland hat dieses Protokoll zwar unterzeichnet aber nicht ratifiziert (Stand: 01.12.2018). Die Menschenwürde findet allerdings im Zusammenhang mit diesem Protokoll keine ausdrückliche Erwähnung.

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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No one shall be discriminated against by any public authority on any ground such as those mentioned in paragraph 1. [para. 2]“

Bereits die EKMR hatte in ihrer Entscheidung in der Rs. East African Asians ./. Vereinigtes Königreich festgestellt, dass rassistische Diskriminierungen als Verletzung der Menschenwürde gewertet werden können.782 In seiner Entscheidung in der Rs. Zypern ./. Türkei bestätigte der Gerichtshof diese Entscheidung der Kommission.783 Wenngleich der Gerichtshof keine eindeutige Definition der Diskriminierung erkennen ließ, ließe sich aus seiner Rechtsprechung jedoch herauslesen, dass er nicht jede Form der Diskriminierung auch zugleich als Menschenwürdeverletzung werte.784 So forderte der EGMR in seiner Entscheidung in der Rs. Zypern ./. Türkei für die Annahme einer Verletzung der Menschenwürde, die als erniedrigende Behandlung gem. Art. 3 EMRK zu werten ist, dass die Diskriminierung einen gewissen Schweregrad erreicht. Im Umkehrschluss könnte dies bedeuten, dass all die Diskriminierungen, die nicht einen solchen Schweregrad erreicht haben, nicht als Verletzung der Menschenwürde zu werten sind, jedoch nach wie vor Diskriminierungen i. S. v. Art. 14 EMRK sind, ein Würdebezug also nicht unbedingt erforderlich ist. Dennoch sprechen gewichtige Gründe dafür, die Diskriminierungsverbote der Konvention sowie des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK nicht losgelöst von ihrem Zweck, der Achtung der gleichen Würde jedes Einzelnen, zu betrachten785 und Diskriminierungen als Verletzung der Menschenwürde zu sehen.786 So geht es bei dem Diskriminierungsverbot der Konvention gerade um die Verhinderung von Ungleichbehandlungen, Herabstufungen, Ausgrenzungen, Stigmatisierungen aufgrund eines bestimmten Merkmals einer Person oder Personengruppe. Unterscheidungen aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Lebensumstände einer Person – wie der in Art. 14 EMRK sowie in Art. 1 Abs. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK aufgezählten sowie weiterer möglicher Eigenschaften787 – laufen aber gerade der Auffassung von der gleichen Menschenwürde zuwider, wonach diese als abstrakt auf die Menschheit als Gattung bezogen zu verstehen ist. Auch die Missachtung der Personalität von Individuen, also wenn diese bloßen Stereotypien untergeordnet werden, lässt den Achtungsanspruch, der jedem Einzelnen in gleicher Weise zukommt, vermissen und stellt mithin eine Herabwürdigung dar.788 782

Siehe zu dieser Entscheidung Teil E. I. 3. a) aa). Siehe zu dieser Entscheidung Teil E. I. 3. a) aa). 784 So Peters / König, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap. 21 Rn. 65. 785 Ebenso in Bezug auf Art. 14 EMRK O’Mahoney, ICON 10 (2012), S. 551 (560); a. A. Peters /  König, Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap.  21 Rn.  63 ff. 786 So auch Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 Rn. 33. 787 O’Mahoney, ICON 10 (2012), 551 (555): „Every human being has an inherent dignity by virtue of his or her humanity, irrespective of external characteristics including (but not limited to) sex, age, race or ethnicity, religious or political belief, nationality, status, sexual orientation, or mental or physical condition.“ 788 A. A.: Peters / König, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap. 21 Rn. 65, die eine „Missachtung der Personalität von Individuen“ nicht als menschenver 783

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

ee) Ergebnis Die Untersuchung macht deutlich, dass die Menschenwürde als Fundament der Konvention in ihrer Gesamtheit eng mit der Wahrung der körperlichen und sozialen Identität und Selbstbestimmtheit des Einzelnen verbunden ist. Dahinter steht die Annahme, dass jeder Mensch Persönlichkeit ist, also grundsätzlich zu einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung fähig ist. Der EMRK liegt somit ebenso wie dem Grundgesetz die Vorstellung von der Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen, von seiner Subjektqualität zugrunde, weshalb der Einzelne schon Zweck an sich ist und nicht zum Instrument für andere herabgewürdigt werden darf.789 Es besteht mithin eine dergestalt enge Verbindung zwischen der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit, der Autonomie, dass es sich bei letzterer um das zentrale Wesensmerkmal der Menschenwürde handelt.790 Des Weiteren ist die Demokratie als Grundvoraussetzung der Achtung der gleichen Würde zu verstehen. Demokratie und Gleichheit sind also ebenfalls gemeinsame Grundwerte des ordre public européen und Voraussetzungen der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde.791 Des Weiteren betonte der Gerichtshof in der Rs. Rafah Partisi ./. Türkei neben dem Demokratieprinzip auch die Bedeutung der rule of law als „key role“ im Zusammenhang mit den Menschenrechten, die ein integriertes System zum Schutz der Menschenwürde darstellten.792 Somit handelt es sich bei den Wesensmerkmalen des ordre public européen in Form von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zugleich um die Wesensmerkmale der Menschenwürde. Diese Wesensmerkmale sind mithin Bestandteile des sach­ lichen Schutzbereichs der Menschenwürdegarantie. Da wo diese Wesensmerkmale nicht geachtet bzw. gewährleistet werden, wird der Mensch in seiner Selbstzweckhaftigkeit und damit seiner selbstverantworteten Persönlichkeit missachtet, sodass es mit der Konvention nicht vereinbar ist und eine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen ist.

achtende, entwürdigende Behandlung einordnen, dies aber dennoch als Diskriminierung i. S. d. Konvention ansehen, ohne jedoch einen Menschenwürdebezug herstellen zu wollen. Dieser „weite Diskriminierungsbegriff“ engt jedoch den Anspruch auf Achtung der Menschenwürde zu sehr ein. 789 Mahlmann, EuR 2011, 469 (480); Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 Rn. 29. 790 Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 36, zufolge handelt es sich bei der Autonomie um „das Herzstück der Menschenwürde“. 791 So auch Thoma, Die Europäisierung und die Vergemeinschaftung des nationalen ordre ­public, S.  29  f. 792 EGMR, Urt. v. 31.07.2001, Beschw. Nr. 41340, 41343, 41344/98 (Rafah Partisi ./. Türkei), Nr. 43.

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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4. Die Funktionen der Menschenwürdegarantie Hinsichtlich der Menschenwürde nach dem Grundgesetz scheint es sich schon anhand des Wortlauts des Art. 1 Abs. 1 GG leichter bestimmen zu lassen, welche normative Funktion der Menschenwürdegarantie zukommt. Mit der Formulierung, dass die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“, wird der Menschenwürdegarantie eine grundrechtliche Abwehrund Schutzdimension zugesprochen.793 Aufgrund dieses Wortlauts lässt sich ein staatlicher Schutzauftrag, der in Form einer „subjektiv-rechtliche[n] Gewährleistung“794 realisiert wird, zumindest leichter begründen. Die Menschenwürde nach dem Grundgesetz verfügt über einen normativen Doppelcharakter, denn sie ist zum einen ein Satz des objektiven Rechts, das Konstitutionsprinzip, das „Grund, Grenze und Ziel der folgenden Menschenrechte und Grundrechte“795 ist. Zum anderen verfügt sie über eine subjektiv-rechtliche Dimension als einklagbares Grundrecht.796 In Ermangelung einer solchen Formulierung in der EMRK – ja noch nicht einmal einer Nennung der Menschenwürde in der Konvention – fällt die Feststellung eines solchen normativen Doppelcharakters der Menschenwürdegarantie in der EMRK hingegen schwerer. Die bisherige Untersuchung hat aber ergeben, dass es sich bei der Menschenwürde zumindest um ein Konstitutionsprinzip allen Rechts handelt und damit auch der EMRK.797 Dies wird auch mithilfe der Analyse der Rechtsprechung des EGMR bestätigt.798 a) Abwehrfunktion Bei der EMRK handelt es sich dem Text nach um eine  – wenn auch lückenhafte – Auflistung klassischer Abwehrrechte.799 Abwehrgrundrechte sichern dem 793 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 11 ff.; diese Feststellung trifft auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 165, bezüglich der insofern gleich lautenden Formulierung der Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 S. 2 GRCh. Vgl. zur Menschenwürde auf EU-Ebene auch Teil D. 794 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46. 795 Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, S. 37; Lembcke, in: Gröschner /  Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 235, 244; siehe hierzu bereits Teil B. II. 2. b). 796 Siehe zum Ganzen ausführlich die Darstellung in Teil C. VII. 2. 797 A. A.: von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 200: „für eine weitreichende dogmatische Fundierung der Menschenwürde als Konstitutionsprinzip fehlt jedoch noch die quantitative Evidenz.“ An anderer Stelle geht er jedoch davon aus, dass „[s]elbst wenn die Menschenwürde bislang erst im Zusammenhang mit einer handvoll spezieller Konventionsgarantien Erwähnung fand, liegt doch die Annahme nahe, dass alle Freiheits- und Gleichheitrechte in ihr verwurzeln.“ (von Schwichow, a. a. O., S. 183). 798 Siehe Teil E. I. 3. 799 Vgl. Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 255; siehe hierzu auch die obigen Ausführungen in Teil E. I. 2. b).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Grundrechtsberechtigten einen Abwehranspruch gegen den dem Grundrechtsverpflichteten zurechenbaren Eingriff zu.800 Diese Abwehrgrundrechte zielen primär auf ein staatliches Unterlassen ab.801 Dem BVerfG zufolge dienen diese zu einer negativen Verpflichtung des Grundrechtsverpflichteten führenden Abwehrgrundrechte dazu, „die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern“802. Der dem „autonomen Einzelwesen ‚Mensch‘“803 von den Vertragsstaaten im Rahmen der EMRK zugesicherte „Minimalstandard“804 ist dennoch mit der Zeit durch soziale Rechte auf der Ebene des Europarates sowie durch vom EGMR formulierte soziale Schutzpflichten erweitert worden.805 b) Schutzfunktion Während sich Abwehrgrundrechte primär auf ein staatliches Unterlassen beziehen, können Grundrechte auch auf eine positive Handlungspflicht des Staates im Sinne einer Schutzpflicht abzielen.806 Diese den Staat treffende Schutzpflicht enthält ein subjektives Recht des Betroffenen.807 Sie gebietet vor allem, den Schutzgegenstand des Grundrechts vor Verletzungen und Gefährdungen zu schützen, die nicht vom Staat selber ausgehen, mithin um Beeinträchtigungen durch private Dritte.808 Mitunter kann die dem Staat zukommende Schutzpflicht aber auch darin bestehen, Teilhabe zu ermöglichen – etwa in Form des Zugangs zu staatlichen Einrichtungen wie Gerichten oder in Form staatlicher Zuwendungen als derivative Teilhaberechte.809 Der EGMR gab bereits in der Rs.  Tyrer  ./. Vereinigtes Königreich sowie insbesondere auch in Fällen, die Fragen zu Haftbedingungen betrafen, zu erkennen, dass er der Konvention im Zusammenhang mit der Menschenwürde nicht nur Abwehransprüche, sondern auch positive obligations entnimmt.810 In weiteren Entscheidungen wie in der Rs. Kalashnikov ./. Russland sowie in den Rs. Mouisel ./. Frankreich, Rivière ./. Frankreich und Dedovskiy ./. Russland betonte der EGMR 800

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 38 f.; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 3. 801 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 3. 802 BVerfGE 68, 193 (205). 803 Frohwerk, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, S. 255. 804 Grote, in: ders. / Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG-Konkordanzkommentar, Kap. 1 Rn. 27. 805 Vgl. Teil E. I. 2. b). 806 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 4, 8. 807 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 10. 808 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 8. Auch dem BVerfG zufolge bedeutet „Schutz“ der Menschenwürde „nicht Schutz vor materieller Not, sondern gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere“ (BVerfGE 1, 97 (104)). 809 Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 9. 810 Siehe hierzu bereits ausführlich Teil E. I. 3. a) cc) (3).

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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unmissverständlich ein Recht des Inhaftierten auf Haftbedingungen, die mit der Menschenwürde vereinbar sind.811 Dies deutet ebenso wie die Tatsache, dass der EGMR auf diese Rechtsprechung in der Folge immer wieder Bezug nahm, darauf hin, dass der Gerichtshof die Menschenwürdegarantie zugleich als subjektives Grundrecht begreift812 und die Konvention – in diesen Fällen anknüpfend an Art. 3 EMRK – so auszulegen ist, dass diese eine staatliche Verpflichtung vorsieht, im Rahmen der Ausübung staatlicher Gewalt die Achtung der Menschenwürde zu garantieren sowie darüber hinaus die Verpflichtung des Staates, dafür Sorge zu tragen, dass diese Menschenwürdegarantie auch im Verhältnis zwischen den Bürgern gewährleistet wird.813 Dass diese Schutzpflicht also auch bedeuten kann, dass demjenigen, der in seiner Menschenwürde aufgrund privaten Handelns verletzt ist bzw. droht, verletzt zu werden, staatlicher Schutz gewährt wird, machte der Gerichtshof in der Rs. Budina ./. Russland deutlich.814 Dass die Menschenwürde somit auch das Verhältnis zwischen Privaten betrifft, ergibt sich notwendigerweise schon aus dem – universell gültigen – Postulat der Unantastbarkeit der Menschenwürde.815 Allerdings bedeutet diese Schutzpflicht nicht, dass der Menschenwürdegarantie eine sog. unmittelbare Drittwirkung zukommt, sie also unmittelbar bindende Wirkung zwischen Privaten entfaltet.816 811

Siehe zu diesen Entscheidungen bereits ausführlich Teil E. I. 3. a) hh). Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 182; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 184, hingegen sieht die Menschenwürde nach der Rechtsprechung des EGMR im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK lediglich als „Schranken-Schranke“, mithin als etwas, was im Vorfeld der Prüfung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK als Teil einer Abwägung dient (S. 164, 213), vgl. hierzu bereits Teil E. I. 3. a) cc) (3). Nach Ansicht von Schwichows, a. a. O., S. 184, diene die Menschenwürde dem EGMR vielmehr in den Bereichen, „in denen er ohne sie argumentativ schlecht weiterkam. Danach fungiert die Würde vielmehr als die flüssige, klebrige Masse, die die Einzelgarantien der Konvention zusammenhält und die dort hinfließt, wo sich Lücken im Recht auftun. […] Der Sinn der Menschenwürde innerhalb der Konvention ist daher ein doppelter: Erstens dient sie dem EGMR als ideologisches Fundament, indem sie für ihn als Hintergrundannahme der Einzelgarantien der gesamten Konvention zugrunde liegt. Zweitens jedoch äußert sie sich in konkret einklagbaren Rechten, die im Laufe der Zeit immer deutlicher durch den Gerichtshof ausgestaltet wurden und werden.“ 813 Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 121; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 166; a. A. Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983 f.), der die Rechtsprechung des EGMR dahingehend deutet, dass der Gerichtshof in der Menschenwürde lediglich ein objektives Grundprinzip sieht. Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 3, stellt ohne nähere Begründung fest, dass die EMRK kein Grundrecht der Menschenwürde enthalte und die Menschenwürde „den Rechten der EMRK als Wertsystem eigener Art“ zugrunde liege. Sie bilde die hinein zu lesende Basis. 814 Siehe zu dieser Rechtsprechung Teil E. I. 3. a) oo). 815 In diesem Sinne auch Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 14. 816 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 166; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 94 f.; a. A. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art.  1 Rn. 4, 14a, der darauf verweist, dass das BVerfG in E 96, 375 (398 f.), von einer bloßen „Ausstrahlungswirkung“ der Menschenwürdegarantie in das Privatrecht ausgehe. 812

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Dafür, dass sich auch aus der EMRK eine staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwürde ergibt, die in Form eines subjektiven Rechts zu gewährleisten ist, spricht auch, dass – wie es der EGMR selber deutlich in der Rs. Rantsev ./. Zypern formulierte817 – Ziel und Zweck der Konvention der effektive Schutz des Individuums ist. Dementsprechend bezog sich der Gerichtshof zum Teil auch in den Entscheidungen, in denen er eine positive obligation des Vertragsstaats zum Schutz des Betroffenen vor die Menschenwürde verletzenden Handlungen annahm, auf Art. 1 EMRK.818 Dieser verpflichtet gerade die Vertragsstaaten dazu, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Konventionsrechte zuzusichern. Ein solches Zusichern ist jedoch nur dann umfassend möglich, wenn der Betroffene eine Verletzung der Menschenwürdegarantie auch wirksam geltend machen kann. Insofern entspricht dies auch dem vom EGMR betonten Gebot, dass die Konvention so auszulegen und anzuwenden ist, dass ihre Gewährleistungen praktisch und effektiv sind.819 Da die Konvention – ebenso wie die AEMR und das GG – deutlich unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Unrechts und der völligen Negierung der Rechte des Individuums stand, wäre es jedenfalls nicht nachvollziehbar, der Menschenwürde lediglich die Rolle eines Konstitutionsprinzips zukommen zu lassen820 und dem Einzelnen den ihm aufgrund der Menschenwürde zukommenden Achtungsanspruch auf eine lediglich objektiv-rechtliche Funktion zu verkürzen und ihm somit ein Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde zu verweigern. c) Die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht Wenn allerdings angenommen wird, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen bereits spezielle Ausformungen der Menschenwürdegarantie sind, stellt sich die Frage, inwieweit noch Raum für ein Grundrecht auf Achtung und Schutz der Würde mit einem eigenen Schutzbereich verbleibt und wo dieses in Konvention Anknüpfung finden kann. aa) Der eigenständige Schutzbereich der Menschenwürdegarantie In den meisten Fällen wird davon auszugehen sein, dass bereits der Schutzbereich eines der sonstigen Gewährleistungen eröffnet ist und der Würdeschutz so mit um-

817 EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 275; siehe hierzu bereits Teil E. I. 2. a). 818 Vgl. Teil E. I. 3. a) hh). 819 EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Beschw. Nr. 25965/04 (Rantsev  ./. Zypern und Russland), Nr. 275; siehe hierzu bereits Teil E. I. 2. a). 820 So auch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 77; Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, 67. Erg.-Lfg., Art. 1 Abs. 1 Rn. 29.

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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fasst ist.821 Allerdings zeigt gerade die Rechtsprechung des EGMR, dass in manchen Fällen erst die Anerkennung einer Schutzpflicht der Menschenwürdegarantie durch den Gerichtshof dazu geführt hat, dass bestimmte staatliche Maßnahmen als Verstoß gegen die Konvention gewertet wurden. So hat insbesondere im Hinblick auf Art. 3 EMRK und das Tatbestandsmerkmal der erniedrigenden Behandlung die Hervorhebung der Menschenwürde als eigentlicher Schutzzweck der Norm dazu geführt, dass bestimmte staatliche Maßnahmen, namentlich solche, die die Subjektstellung des Einzelnen infrage stellten, als Verletzung angesehen wurden. Dies zeigt sich deutlich an der Entscheidung in der Rs. Tyrer, aber auch anhand der größeren Anzahl an Art. 3 EMRK betreffenden Entscheidungen, die menschenunwürdige Haftbedingungen betrafen und in denen gerade aufgrund des Ausgeliefertseins der betroffenen Personen und die damit einhergehende Missachtung der Subjektstellung eine Verletzung der Menschenwürde angenommen wurde. Insofern hat die Menschenwürdegarantie auch nicht lediglich interpretationsleitende oder etwa normverstärkende Wirkung822 hinsichtlich der spezifischen Grundrechtsgewährleistungen, sondern sie verfügt über einen eigenen Gewährleistungsgehalt und damit über einen eigenständigen Schutzbereich.823 Der Annahme eines eigenständigen Grundrechts auf Achtung und Schutz der Menschenwürde ist jedoch insbesondere entgegenzuhalten, dass sich dem Konventionstext keine ausdrücklichen Hinweise auf die Existenz eines solchen Rechts entnehmen lassen. Sofern man ein solches Recht in die Konvention hineinlesen wollte, ist zu beachten, dass die Auslegung der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag – im Unterschied etwa zu einer supranationalen Rechtsordnung wie der EU – von einer zwischenstaatlichen Konsensbildung abhängig ist.824 Dem völkerrechtlichen Konsensprinzip kommt dabei auf zwischenstaatlicher Ebene die Aufgabe zu, die innerstaatlichen Vorstellungen von Demokratie und Gewaltenteilung abzusichern.825 Insbesondere wenn es – wie auch hinsichtlich der Menschenwürde – um die Statuierung positiver Handlungspflichten der Staaten geht, stellt sich die Frage, wer in einem Mehrebenensystem grundsätzliche gesellschaftspolitische Entscheidungen 821

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 33; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU, S. 247. 822 So aber Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (400), nach dessen Ansicht der „judicial approach“ des EGMR bei der Verwendung des Menschenwürdekonzepts ist, „to reinforce the reasoning leading to a violation of the Convention“. Ebenso Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 118, sowie Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983). 823 A. A. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 118, unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR; Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 (983), gibt nur zu erkennen, dass es sich um einen interpretationsleitenden Grundsatz der Konvention handelt, der allen Konventionsgarantien zugrunde liegt; ebenso Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art.  8 Rn.  8. 824 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 212. Ebenso unter Verweis auf das völkerrechtliche Konsensprinzip Zweifel anmeldend: Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (193). 825 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (193 f.).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

treffen soll, denn die Auswirkungen gerichtlicher Entscheidungen auf den demokratischen Prozess können im Fall positiver Handlungspflichten sehr viel weiter reichen als bei abwehrrechtlichen Unterlassungspflichten.826 Der EGMR hat aber wiederholt mit Hilfe der dynamisch-evolutiven Auslegung über den Wortlaut der von klassischen Abwehrrechten geprägten Konvention hinaus aus dieser auch positive Verpflichtungen – etwa auch im Zusammenhang mit der Menschenwürde, vgl. Rs. Tyrer – abgeleitet.827 Die dynamisch-evlolutive Auslegung sieht sich daher der Kritik ausgesetzt, sich einer Zustimmung der Mitgliedstaaten zu entziehen. Diese Kritik verkennt jedoch das Wesen der Menschenrechte: Diese sollen gerade – so wird es auch anhand von Art. 1 EMRK deutlich – das Interesse des Einzelnen gegenüber der Mehrheitsentscheidung zur Geltung bringen.828 Gerade mithilfe der Menschenrechte sollen die Interessen des Einzelnen mit den Vorstellungen und Interessen einer (demokratischen) Mehrheit in Einklang gebracht werden. Ins­besondere internationale Menschenrechtsschutzregime wie die EMRK ermöglichen dem Einzelnen – trotz des zu wahrenden Subsidiaritätsprinzips und eines den Mitgliedstaaten eingeräumten margin of appreciation – dabei manchmal das, was ihm in seinem eigenen Staat aufgrund dort vorherrschender Traditionen und Vorstellungen nicht möglich war, durchzusetzen und so Schutz zu finden.829 Dies zumindest spricht dafür, mithilfe der dynamisch-evolutiven Auslegung der Konvention den Weg zu einem eigenen Schutzbereich der Menschenwürdegarantie zu ebnen. bb) Der Anknüpfungspunkt für die Prüfung der Menschenwürdeverletzung Als Anknüpfungspunkt für die Prüfung, ob eine Menschenwürdeverletzung vorliegt, dient dem Gerichtshof jedoch nach wie vor eine der Konventionsgarantien. Dies ist auch nachvollziehbar, denn Gewährleistungen wie insbesondere Art. 3 oder Art. 8 EMRK weisen einen engen Bezug zur Menschenwürde auf. Vor allem die in Art. 3 EMRK niedergelegten Verbote – insbesondere das Folterverbot – stimmen am weitestgehenden mit dem Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde überein830 und boten sich daher schon immer am ehesten für die Feststellung einer Verletzung der Menschenwürde auch für den Gerichtshof an.831 Wenngleich es sich bei Art. 3 EMRK somit bislang um den Hauptanknüpfungspunkt der Menschenwürde han 826

Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (196 f.). Vgl. Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (194). 828 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (198). 829 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (199). 830 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (115). Siehe zur Menschenwürde und Folterverbot bereits Teil B. II. 831 So auch Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (400): „The very notion of inhuman and degrading treatment, and even more of torture, is in the Court’s view manifestly contrary to human dignity.“ 827

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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delt, besteht jedoch entgegen der zum Teil in der Literatur vertretenen Ansicht832 keine Notwendigkeit, Art. 3 EMRK zum alleinigen Anknüpfungspunkt der Menschenwürde auszubauen. Dies würde weitere wesentliche Aspekte der Menschenwürde wie etwa die Wahrung der Identität, die Selbstbestimmung des Einzelnen, sei es in einem Prozess oder im Rahmen von Meinungsäußerungen oder der Religionsausübung, ihres eigentlichen Anknüpfungspunktes in der Konvention berauben. Die Verletzung der Menschenwürde vor allem etwa an das relativ unbestimmte Merkmal der erniedrigenden Behandlung in Art. 3 EMRK anzuknüpfen, wäre der ohnehin schwierigen begrifflichen Fassbarkeit der Menschenwürde abträglich. Vielmehr helfen die einzelnen Konventionsgarantien als Konkretisierungen der Menschenwürde833 bereits dabei, kenntlich zu machen, welche Aspekte die Menschenwürde umfasst. Insofern bietet sich an, zunächst die Prüfung einer Konventionsverletzung anhand des jeweils einschlägigen speziellen Konventionsgrundrechts vorzunehmen. Da es sich bei den einzelnen Grundrechten der Konvention um spezielle Ausformungen der Menschenwürde handelt, sind zunächst diese als konkrete Normen zu prüfen.834 Ein echtes Spezialitätsverhältnis der übrigen Grundrechte gegenüber der Menschenwürdegarantie bzw. die Reduzierung der Menschenwürdegarantie auf ein bloßes „Auffanggrundrecht“835 ist jedoch nicht anzunehmen.836 Vielmehr kommt die Menschenwürde erst dann zum Tragen und der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie ist eröffnet, wenn der jedem Grundrecht innewohnende Menschenwürdekern837 berührt ist.838 Dies ist in gewisser Weise vergleichbar mit der Bedeutung der Menschenwürdegarantie für das vom BVerfG für das deutsche GG herausgearbeitete APR aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Erst wenn der Kernbereich privater Lebensgestaltung, die Intimsphäre, des einzelnen betroffen ist, greift auch der absolute Schutz der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG, sodass eine Abwägung nicht mehr möglich ist. Insofern handelt es sich bei der Men-

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Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der EU, S. 119. Bereits Echterhölzer, JZ 1956, 142 (144), sah Art. 3 EMRK als Generalklausel, die auf Fälle angewendet werden könne, die vom Wortlaut der Vorschrift nicht umfasst seien. 833 Calliess, in: Gröschner / Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, S. 136; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 5, stellt hinsichtlich des GG fest: „Die Gewährleistung des Art. 1 Abs. 1 wird durch die nachfolgenden Grundrechte konkretisiert, zumal die Grundrechte im Lichte des Art. 1 Abs. 1 auszulegen sind.“ 834 So auch das BVerfG, indem es etwa auf die Prüfung von Art. 1 GG mit Verweis auf die Prüfung der insoweit spezielleren Vorschrift des Art. 13 GG verzichtete (E 51, 97 (105)). 835 Vgl. die Nachweise aus der Literatur bei Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 121 Fn. 20, der sich selber – ebenso wie Frenz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Art. 1 GRCh Rn. 44 – gegen eine Auffangfunktion der Menschenwürdegarantie ausspricht. 836 So hinsichtlich Art. 1 GG Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 5; Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, S. 121. 837 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (119), verweist darauf, dass auch der UN-Menschenrechtsausschuss explizit davon ausgeht, dass alle Menschenrechte des Zivilpakts über einschränkungsfeste Kerngehalte verfügen. 838 Siehe hierzu ausführlich Teil C. VI. 1. e).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

schenwürde um die äußerste Rückfalllinie, die dem staatlichen Eingriff entzogen ist und somit die absolute Grenze staatlichen Zugriffs aufzeigt. cc) Der Schutz des Menschenwürdekerns des jeweiligen Grundrechts Der Menschenwürdekern ist der Teil eines Grundrechts, der einer Abwägung entzogen ist. Ist also die Menschenwürde einer Person betroffen, kann ein Eingriff in eines der übrigen Grundrechte nicht gerechtfertigt werden.839 Die Menschenwürdegarantie kann daher auch als „kerngehaltsschützende Querschnittsklausel“840 der EMRK bezeichnet werden. Im Grundgesetz finden sich in Art. 1 GG sowie Art. 19 Abs. 2 GG (sog. Wesensgehaltsgarantie) Garantien zur Sicherung des Kerngehalts grundrechtlicher Verbürgungen, wonach davon auszugehen ist, dass der Wesensgehalt eines jeden Grundrechts in seinem Menschenwürdegehalt besteht.841 Einen gewissen Anklang fand diese Idee auch auf Ebene der EMRK in Art. 17 EMRK. Dort wird bestimmt, dass die Konvention nicht so auszulegen ist, dass sie das Recht begründet, Handlungen vorzunehmen, die darauf abzielen, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Dennoch hat der EGMR Art. 17 EMRK nicht als kerngehaltsschützende Querschnittsklausel ausgelegt.842 Gerade die Spruchpraxis des EGMR im Hinblick auf die Menschenwürde zeigt jedoch, dass es zur Sicherung des jeweiligen Würdekerns der Konventionsgarantien und damit zur vollen Gewährleistung der Menschenwürde als subjektives und absolut geschütztes Grundrecht hilfreich wäre, Art. 17 EMRK in diesem Sinne auszulegen. Zwar hat der EGMR vor allem 839

So auch BVerfGE 107, 275 (284). Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 185, geht demgegenüber davon aus, dass die Unabwägbarkeit der Menschenwürde mit dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK ende. Es müsse immer strikt zwischen dem „Kern des Würdeschutzes, der sich allein auf Art. 3 EMRK beschränkt, und seinem Randbereich unterschieden werden.“ (S. 186). „Der außerhalb vom Kernbereich des Art. 3 EMRK gewährleistete Schutz der Menschenwürde kann sich zwar auf eine Einstrahlungswirkung der Menschenwürde berufen, nicht jedoch auf die innerhalb des Kernbereichs gewährleistete Absolutheit. Unterschieden wird also gewissermaßen, ob ein Recht auf Grund der Menschenwürde gewährt wird (Art. 3 EMRK), oder ob die Menschenwürde nur berücksichtigt wird.“ (S. 178) Von Schwichow, a. a. O., S. 178, betont, dass mitnichten jede Einzelgarantie der Konvention einen unantastbaren Kern besitze. Dieser befinde sich allein in Art. 3 EMRK und verlange bei entsprechend schwerem Eingriff in jedes andere Einzelrecht eine Subsumtion unter diese Norm. Die Menschenwürde erhöhe nach Ansicht von Schwichows, a. a. O., S. 186, lediglich „die Rechtfertigungslasten für staatliche Eingriffe.“ 840 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (110). 841 Kokott, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, § 22 Rn. 89. 842 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (111).

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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im Hinblick auf Fälle, die Art. 3 EMRK betrafen, die Menschenwürde als absolutes Recht anerkannt und die Abwägung der Menschenwürde mit anderen Rechtsgütern ausgeschlossen. Dies ist wohl nicht zuletzt auch auf die klare Normstruktur des Art. 3 EMRK als absolutes Recht zurückzuführen. Denn allein hieran wird schon die hohe Kerngehaltsrelevanz dieser Konventionsgarantie deutlich.843 Der Gerichtshof hat dementsprechend auch den kategorialen Charakter des Folterverbots etwa in seiner Entscheidung in der Rs.  Gäfgen  ./. Deutschland erkannt und eine Abwägung selbst in einem solch extremen Fall kollidierender Interessen unterlassen.844 Dennoch bleibt der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung nicht immer konsistent. So prüfte der Gerichtshof etwa in seinem Urteil in der Rs. Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland betreffend Art. 3 EMRK die Möglichkeit einer Rechtfertigung.845 In einem vergleichbaren Fall (Rs. Calovskis ./. Lettland) erwähnte der Gerichtshof die Menschenwürde erst gar nicht und thematisierte ihre Verletzung trotz der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK nicht. Diese Prüfung hätte jedoch nicht zuletzt deshalb erfolgen müssen, weil der EGMR noch in dem Urteil in der Rs. Svina­renko unter Verweis auf seine Rechtsprechung in der Rs. Soering betont hatte, dass jede Auslegung der von der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten mit dem allgemeinen Geist der Konvention vereinbar sein müsse. Zu diesem Geist zählte der Gerichtshof unmissverständlich in derselben Entscheidung die Achtung der Menschenwürde, indem er diese noch einmal als zum Kernbereich der Konvention gehörig bezeichnete.846 Um der EMRK als Instrument zum Schutze des Einzelnen um seiner Würde willen gerecht zu werden, ist der Gerichtshof gehalten, auch eine mögliche Verletzung der Menschenwürde zu prüfen und gegebenenfalls festzustellen. Hingegen zeigt sich bei den Grundrechten der Konvention, die wie die Art. 8 bis 11 EMRK über sehr weite Schranken verfügen, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Möglichkeit einer Abwägung einem absolut gewährten Schutz der Menschenwürde häufig vorzieht. Dies zeigt sich etwa deutlich anhand seiner Entscheidung in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich. Bezeichnete der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung von Art. 8 EMRK die Achtung der Menschenwürde zwar einerseits als „essence of the convention“, stellte er sie aber dennoch in die Abwägung mit dem Recht auf Leben ein. Insofern bestehen berechtigte Zweifel, inwiefern der Gerichtshof die Menschenwürde wirklich als absolutes subjektives

843 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (115). 844 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (115); siehe zum Urteil in der Rs. Gäfgen ./. Deutschland Teil E. I. 3. a) ll). 845 Vgl. zur Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs. Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland Teil E. I.3. a) mm). 846 Vgl. zu den Urteilen in der Rs. Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland sowie in der Rs. Calovskis ./. Lettland Teil E. I. 3. a) mm).

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

Recht begreift und nicht lediglich als bloßen Abwägungstopos.847 Darüber hinaus verwies der EGMR im Zusammenhang mit der Rechtfertigung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK auf den den Vertragsstaaten seiner Ansicht nach zuzugestehenden – in diesem Fall sogar weit gezogenen – margin of appreciation. Auch in vielen weiteren Fällen zog sich der Gerichtshof auf diese Doktrin zurück.848 Insbesondere im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung unter dem Rechtfertigungsgrund „necessary in a democratic society“ nimmt der EGMR nicht selten eine Gesamtabwägung vor. Dabei lässt der Gerichtshof durchaus auch die von der Konvention geschützten Individualinteressen hinter im Einzelfall seiner Ansicht nach höher einzustufenden gesellschaftlichen Zielen zurücktreten.849 Deutlichstes Beispiel hierfür ist die Entscheidung des Rs. S. A. S. ./. Frankreich, in der der EGMR Frankreich einen weiten margin of appreciation hinsichtlich des gesetzlichen Verbots des Tragens einer Burka bzw. Niqab einräumte, das Verbot als „necessary in a democratic society“ ansah und zudem die angeführten Belange der Gesellschaft („living together“) über die Belange des Individuums stellte.850 Ähnlich kritikwürdig ist das mangelnde Bekenntnis des Gerichtshofs hinsichtlich des Beginns menschlichen Lebens851 sowie hinsichtlich des postmortalen Würdeschutzes852. Auch hier zog sich der EGMR vielfach auf den margin of appreciation der Mitgliedstaaten zurück und umging die Frage hinsichtlich der zeitlichen Reichweite des Menschenwürdeschutzes. Insofern zeigt sich eine Uneinheitlichkeit in der Handhabung der Menschenwürde durch den EGMR. Zur Sicherung eines effektiven Schutzes der Einzelnen wäre es jedoch notwendig, dass sich der Gerichtshof zu einer abwägungsunabhängigen Grenzziehung mithilfe der Menschenwürde sowohl beim absolut gewährten Art. 3 EMRK wie auch bei den grundsätzlich einschränkbaren Grundrechten wie etwa den Art. 8 bis 11 EMRK durchringen würde. Gerade in menschenwürderelevanten Fallkonstellationen bedarf es aber zumindest einer vorsichtigen Anwendung der sich der Kritik der mangelnden Rechtssicherheit853 ausgesetzten Figur der margin of appreciation. Ehe sich der Gerichtshof unter Verweis auf einen mangelnden Konsens unter den Mitgliedstaaten auf einen weiten Beurteilungsspielraum zurückzieht und damit eine Entscheidung über Beschwerden, die die Menschenwürde, also den – wie es der Gerichtshof selbst benennt – Kern, das Wesen der Konvention 847 Hierzu unter Verweis auf die Rspr. des EGMR in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich ebenso kritisch Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 183 f., S. 228. Von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK – Mögliche Grundannahmen, ideologische Aufladung und rechtspolitische Perspektiven nach der Rechtsprechung des EGMR, S. 186, zufolge wirkt die Menschenwürde lediglich auf die gesamte Ausübung der Konventionsordnung ein und erhöht die Rechtfertigungslasten für staatliche Eingriffe im Sinne einer Schranken-Schranke. 848 Siehe ausführlich zur Entscheidung in der Rs. Pretty ./. Vereinigtes Königreich Teil E. I. 3. b) aa). 849 Von Bernstorff, in: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Menschenwürde, S. 106 (120). 850 Siehe ausführlich zum Urteil in der Rs. S. A. S. ./. Frankreich Teil E. I. 3. b) ee). 851 Vgl. diesbezüglich insbes. zum Urteil des EGMR in der Rs. Vo ./. Frankreich Teil E. I. 3. d) aa). 852 Vgl. zum Urteil des EGMR in der Rs. Jäggi ./. Schweiz Teil E. I. 3. d) dd). 853 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (207).

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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betreffen, umgeht, bedarf es vielmehr einer umfassenden und genauen Prüfung der Weite der mitgliedstaatlichen margin of appreciation. Für einen gerechten Ausgleich zwischen einem angemessenen Menschenwürdeschutz und der Rücksichtnahme auf den Demokratie- sowie den Gewaltenteilungsgrundsatz bei Einräumung eines margin of appreciation ist in die Bewertung, ob bereits ein gemeinsamer europäischer Standard im Hinblick auf die betreffende Frage auszumachen ist, auch die Betrachtung weiterer völkerrechtlicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – insbesondere auch im Rahmen des Europarats – einzustellen.854 Zudem stellte der Gerichtshof selbst fest, dass ihn eine umso größere Begründungslast für den Umfang des Beurteilungsspielraums trifft, je mehr dem betroffenen Rechtsgut grundlegende Bedeutung zukommt.855 In der Literatur wird darüber hinaus vorgeschlagen, mithilfe der sog. Kontrolldichte den Individualrechtsschutz mit den Grundsätzen von völkerrechtlichem Konsensprinzip und innerstaatlichen Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsätzen in Einklang zu bringen.856 Dabei hängt die vom Gerichtshof vorzunehmende Kontrolldichte ebenfalls davon ab, welche Bedeutung dem betroffenen Rechtsgut zukommt bzw. inwieweit die betroffene Person eine besondere Schutzbedürftigkeit trifft,857 etwa da es sich um ein Kind oder um eine dem Staat gegenüber in besonderer Abhängigkeit befindliche Person handelt. Des Weiteren ist es notwendig, dass der Gerichtshof einen konsequenten Menschenwürdeschutz auch dadurch gewährleistet, dass er in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen die Prüfung einer möglichen Menschenwürdeverletzung auch tatsächlich vornimmt. So ist es fraglich, warum die Menschenwürde in manchen Entscheidungen keine Erwähnung gefunden hat. In seiner Entscheidung in der Rs. Jalloh ./. Deutschland unterließ es der Gerichtshof etwa, im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK die Verletzung der Menschenwürde des Opfers zu prüfen,858 obwohl es auch hier um das Ausgeliefertsein des Inhaftierten gegenüber dem Personal

854

So auch Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187, 204 (207). EGMR, Urt. v. 16.12.2010 (GK), Beschw. Nr. 25579/05 (A., B. und C. ./. Irland), Nr. 232. 856 Krieger, ZaöRV 74 (2014), 187 (212). Krieger, a. a. O. (209 f.), fordert für die Legitimität der Spruchpraxis eine „konsistente Bestimmung des Umfangs der Kontrolldichte.“ Die verschiedenen Stufen der Kontrolldichte seine zwar bereits in der Rechtsprechung des EGMR angelegt, würden aber nicht immer konsequent angewandt. Krieger macht im Wesentlichen drei Stufen der Kontrolldichte aus: „eine Offenkundigkeitsprüfung, ob der Mitgliedstaat Schutzmaßnahmen überhaupt nicht ergriffen hat oder ob die getroffenen Maßnahmen offensichtlich gänzlich unzureichend sind; eine am Untermaßverbot orientierte Prüfung, bei der der Gerichtshof nachvollzieht, ob der Mitgliedstaat alle wesentlichen Umstände ausreichend berücksichtigt und von seinem Beurteilungsspielraum vertretbar Gebrauch gemacht hat; sowie Prüfungskonstellationen, in denen der Gerichtshof unter Anlegung eines engen Kontrollmaßstabes seine Argumentation an die Stelle der nationalen Argumentation setzt.“ Siehe zur Kontrolldichtefrage auch ausführlich: Rubel, Entscheidungsfreiräume in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes – Ein Beitrag zur Beantwortung der Kontrolldichtefrage. 857 EGMR, Urt. v. 12.11.2013, Beschw. Nr. 5786/08 (Söderman ./. Schweden), Nr. 81. 858 Vgl. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, S. 185. 855

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E. Die Würde des Menschen nach der EMRK

der Hafteinrichtung ging und damit um die Subjektstellung des Betroffenen und seine Selbstbestimmung. Diese Prüfung einer möglichen Verletzung der Menschenwürde kann nicht vom Vorbringen der Parteien oder der philosophischen oder ideologischen Grundüberzeugung der jeweiligen Richter abhängen.859 Der Vergleich der Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rs. Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland sowie Calovskis ./. Lettland zeigt dieses Problem aber noch einmal deutlich. Der EGMR ordnete das Einsperren der Angeklagten in einem Metallkäfig während der Gerichtsverhandlung in beiden Entscheidungen als eine Verletzung von Art. 3 EMRK ein. In der Rs. Svinarenko u. Slyadnev bezog sich der Gerichtshof deutlich auf die Menschenwürde und nahm eine Verletzung derselben an, während er hingegen in seiner Entscheidung in der Rs. Calovskis ./. Lettland die Menschenwürde unerwähnt ließ.860 Die Vermutung Costas, dass sich der Gerichtshof häufig nur dann auf die Menschenwürde in seiner Entscheidung bezieht, wenn diese auch zuvor von den jeweiligen Beschwerdeführern ins Feld geführt worden ist,861 wird hier bestätigt. So bezogen sich die Beschwerdeführer in der Rs. Svinarenko u. Slyadnev in ihrem Vorbringen deutlich auf die Menschenwürde,862 während dies seitens des Beschwerdeführers in der Rs. Calovskis unterblieben war. Auch wenn der Gerichtshof in der Rs. Calov­ skis nicht zu einem anderen Ergebnis kam, hätte die Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 3 EMRK anhand der Menschenwürde erfolgen müssen. Denn in dieser Fallkonstellation ging es schließlich um die Verletzung der Menschenwürde als den Kernbereich des Art. 3 EMRK. So hatte der Gerichtshof gerade in seiner Entscheidung in der Rs. Svinarenko erkennen lassen, was Gegenstand des Menschenwürdekonzepts der EMRK ist: Grund der Konvention ist der vorrechtlich jedem Einzelnen zukommende Achtungsanspruch. Daher ist Ziel und Zweck der 859

So versucht zumindest Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (401), die uneinheitliche Handhabung der Menschenwürde durch den EGMR zu erklären: „[…] it is not very clear why in some of the less ‚serious‘ matters, the Court has recourse from time to time to the same concept, and why in other similar matters it does not. There is no clear answer. Probably, the special circumstances of same cases, and the insistence by the applicants on dignity when presenting their arguments to the Court, may explain why there is a selective use of the concept.“ 860 Siehe zu diesen beiden Entscheidungen bereits Teil E. I. 3. a) mm). 861 Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, S. 393 (401). 862 EGMR, Urt. v. 17.07.2014 (GK), Beschw. Nr. 32541/08 u. 43441/08 (Svinarenko u. Slyadnev ./. Russland), Nr. 105. Der EGMR betonte in seinem Urteil, dass sich der mit dem Strafverfahren gegen die Beschwerdeführer befasste Oberste Gerichtshof Russlands zuvor dahingehend geäußert, dass Untersuchungshaft „in accordance with the principles of legality, fairness, presumption of innocence, equality before the law, humanism, and respect for human dignity […]“ erfolgen müsse, wenngleich es sich bei der Unterbringung in einem Metallkäfig während der Verhandlung nicht um einen Verstoß gegen die menschliche Ehre und Würde handele (Nr. 59). Zudem zog der EGMR als „relevant domestic law and practice“ Art. 21 der Verfassung der Russischen Föderation heran, in dem es heißt: „1. Human dignity shall be protected by the State. Nothing may serve as a basis for derogation therefrom. 2. No one shall be subjected to torture, violence or other severe or degrading treatment or punishment …“ (Nr. 53).

II. Rechtsqualität und normativer Gehalt  

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Konvention die Verwirklichung des jedem in gleicher Weise zukommenden Anspruchs auf Achtung und Schutz seiner Würde. Ist also der Schutzbereich eines der sonstigen Konventionsgrundrechte eröffnet, kann zugleich auch der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie eröffnet sein. In einem solchen Fall ist eine Eingriffsrechtfertigung aufgrund des absoluten Charakters der Menschenwürdegarantie verwehrt.

F. Schlussbetrachtung Die Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes und des Zweiten Weltkrieges haben sowohl auf internationaler wie auch auf der Ebene des nationalstaatlichen Rechts dazu geführt, dass der Schutz des Individuums in den Mittelpunkt gerückt worden ist. Hauptanknüpfungspunkt menschenrechtlicher Verträge sowie zunehmend auch der nationalen Verfassungen war nun das Individuum und nicht mehr der Staat. Sehr deutlich zeigte sich dies sowohl in der UN Charta, der AEMR, später auch im UN-Zivilpakt sowie im UN-Sozialpakt und weiteren internationalen und regionalen Menschenrechtspakten, sowie vor allem im deutschen Grundgesetz an der deutlichen Betonung der zu achtenden und zu schützenden Menschenwürde und mittlerweile auch auf der Ebene des EU-Rechts, insbesondere mit Art. 1 GRCh. Mit der EMRK wollten die Europaratsstaaten kurz nach der nur unverbindlich geltenden AEMR das verbindlich machen, was ihrer Ansicht nach universelle Gültigkeit besitzt: Den zu gewährleistenden Schutz des Individuums. Der Mensch ist daher auch die zentrale Figur der Konvention geworden. Die EMRK ist ein deut­ liches Beispiel für die Bestrebung, sich von der das klassische Völkerrecht prägenden Vorstellung zu lösen, nach der Zuordnungssubjekte allein die Staaten sind und dem Individuum allenfalls „passive Rechtspersönlichkeit“ zukommt. Nunmehr sollte der Einzelne eine subjektive Grundrechtsberechtigung erhalten. Es herrschte die Einsicht vor, dass es einer Ordnung des Verhältnisses zwischen dem Individuum und dem Staat bedurfte, bei der auch die absolute Grenze staatlicher Zugriffsmöglichkeiten auf die Sphäre des Individuums klar definiert wird. Die Vertragsstaaten brachten mit der EMRK ihre gemeinsamen Werte sowie ihr gemeinsames Menschenbild zum Ausdruck. Die Gewährleistung der individuellen Rechte sollte in Form einer kollektiven Garantie, die Verbindlichkeit beansprucht und auch gerichtlich durchsetzbar ist, als Grundlage eines gemeinsamen europäischen ordre public, einem Instrument zum Schutze gemeinsamer Überzeugungen, Werte und Ideale, gesichert werden. Die Untersuchung hat gezeigt, dass diesem Menschenbild die Vorstellung von einer allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Würde zugrunde liegt. Hauptzweck der Konvention als – wie es der EGMR selbst nennt – „constitutional instrument of European public order“ ist also der Schutz des Individuums und seiner Menschenwürde. Als Verfassungsinstrument übernimmt die Konvention daher mitunter Funktionen, die sonst grundsätzlich Gegenstand materiellen Verfassungsrechts sind. Die Vertragsstaaten haben ihre Verfassungsordnungen dem Konventionsrecht gegenüber – in Deutschland insbesondere mit dem Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit sowie durch ein von offener Staatlichkeit geprägtes Verfassungsverständnis – geöffnet. Die nicht als starres Gebilde, sondern vielmehr als „living instrument“ verstandene Konvention, die

F. Schlussbetrachtung

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im Lichte der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse auszulegen ist, entwickelt somit als kollektive Garantie den gemeineuropäischen Bestand an Grundrechten im Dialog mit den vertragsstaatlichen Verfassungsordnungen sowie unter Einbeziehung anderer internationaler Regelungen weiter. Im Folgenden sollen nun die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung im Hinblick auf die eingangs gefasste Fragestellung stichpunktartig dargestellt werden: 1. Dass die AEMR lediglich eine von der Generalversammlung der Vereinten Nationen erlassene unverbindliche Resolution war, veranlasste die Europarats­staaten, die EMRK zu verabschieden. Teile der in der AEMR lediglich anerkannten und als vorrechtlich aufgefassten universell gültigen Menschenrechte wurden von den Vertragsstaaten in die Konvention übernommen und sollten mithilfe eines Über­ wachungsmechanismus rechtlich durchsetzbar gemacht werden. Weitere Rechte der AEMR wurden später in Form von Zusatzprotokollen zur Konvention bzw. in der europäischen Sozialcharta ebenfalls in das Europaratsrecht übernommen. 2. Dass die Menschenwürde in der EMRK nicht ausdrücklich benannt ist, schmälert ihre Bedeutung als Grund sowie als Ziel und Zweck der Konvention nicht. Die bereits in der AEMR zum Ausdruck gekommene Einsicht in die Notwendigkeit, das Individuum dem Staat gegenüberzustellen und staatliche Macht und Eingriffsmöglichkeiten wirksam zu begrenzen, lag auch der EMRK zugrunde. 3. Mit der ausdrücklichen Bezugnahme in der Prämbel der EMRK auf die AEMR und unterstützt durch die Rechtsprechung des EGMR sowie den Verweis in der Präambel der AEMR auf die sich ebenfalls auf die Menschenwürde beziehende Charta der Vereinten Nationen, machte sich die EMRK das menschenrechtliche Wertesystem der AEMR zueigen. Dies ist damit ebenfalls von der Vorstellung der Menschenwürde als etwas Vorrechtlichem und als Grund der einzelnen Menschenrechte, wie sie in der AEMR anerkannt wurden, geprägt. 4. Die Menschenwürde ist gemeinsame Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes, ein allgemeiner Rechtsgrundsatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut und ein universelles Rechtsprinzip. Sie trägt als Konstitutionsprinzip eine normative Funktion und ist Geltungsgrund sowie Voraussetzung allen Rechts. Der Menschenwürde kommt daher auch nach dem Menschenwürdekonzept der EMRK nicht lediglich eine deskriptive, sondern vielmehr eine normative Funktion zu. Es handelt sich bei der Menschenwürde nach der EMRK nicht um eine bloße normative Hintergrundannahme im Sinne eines gemeinsamen Grundgedankens der einzelnen Grundrechtsgarantien. Vielmehr stellt die Menschenwürde ein objektives Rechtsprinzip im Sinne eines Konstitutionsprinzips dar, als Geltungsgrund und Voraussetzung allen Rechts. Diese normative Funktion ist universell und gilt daher auch für die Menschenwürde in der EMRK. Bei den einzelnen Grundrechten der Konvention handelt es sich also um nähere Ausprägungen der Menschenwürde. Als oberstes teleologisches Prinzip des Konventionsrechts kommt der Menschenwürde auch eine interpretationsleitende Funktion bei der Auslegung der einzelnen Konventionsrechte zu.

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F. Schlussbetrachtung

5. Die hier vorgenommene Untersuchung der internationalen sowie der nationalen Rechtsdokumente hat ergeben, dass sich auch ein Minimalkonsens über den Begriffsinhalt abzeichnet. Dieses Begriffsverständnis scheint insbesondere vom Menschenwürdeverständnis Kants geprägt und geht von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als anthropologische Prämisse aus und leitet daraus einen Achtungsanspruch des Menschen ab. Dieser Achtungsanspruch zielt auf die Wahrung der individuellen Selbstbestimmung ab. Es geht also um die Wahrung der Subjektstellung des Menschen. Im Übrigen wird häufig das mit dem Menschenwürdebegriff in Verbindung gebracht, was bereits früh auch vom BVerfG anerkannt wurde: Das Verbot, den Einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns zu machen, indem er gefoltert oder in sonstiger Weise psychisch oder physisch misshandelt, aufgrund bestimmter persönlicher Eigenschaften diskriminiert, gedemütigt, erniedrigt oder gebrandmarkt wird. 6. Der EGMR bezieht sich seit seiner Entscheidung in der Rs. Tyrer ./. Vereinigtes Königreich regelmäßig auf die Menschenwürde. Im Vergleich zur Rechtsprechung des BVerfG scheint die Rechtsprechung des EGMR diesbezüglich aber noch wesentlich weniger ausdifferenziert. Auch wenn es an einer ausdrücklichen Vorgabe, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, in der EMRK fehlt, besteht nach der Rechtsprechung des EGMR eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Die Menschenwürdegarantie der EMRK umfasst daher sowohl eine Abwehrfunktion als auch eine Schutzfunktion. 7. Diese Garantie wird ebenfalls wie nach dem GG und nach Art. 1 GRCh absolut gewährt, ein Eingriff in die Menschenwürde kann damit nicht gerechtfertigt werden. Eine solche absolute Wirkung der Menschenwürde nimmt der EGMR auch häufig – insbesondere in Entscheidungen, die den schrankenlos gewährten Schutzbereich des Art. 3 EMRK betreffen – an. Allerdings zeigt sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich der Absolutheit der Menschenwürdegarantie eine gewisse Uneinheitlichkeit. So nimmt er nach der Feststellung einer Menschenwürdeverletzung dennoch zum Teil eine Abwägung mit kollidierenden Rechtsgütern vor. Auch prüft er in manchen Fällen, die den Schutzbereich der Menschenwürdegarantie jedoch betreffen und die er in vergleichbaren Fällen bereits erörtert hat, eine mögliche Menschenwürdeverletzung nicht. 8. In der Rechtsprechung des EGMR zeigt sich eine Zurückhaltung im Hinblick auf elementare Fragen, die etwa die Religionsfreiheit, den Beginn oder das Ende menschlichen Lebens oder andere sensible moralische Grundentscheidungen betreffen und in den Mitgliedstaaten selbst noch umstritten sind. Hier räumt der EGMR den Mitgliedstaaten zum Teil einen weiten margin of appreciation ein. Der Gerichtshof befindet sich hier in einem Spannungsfeld zwischen dem völkerrechtlichen Konsensprinzip und der Rücksichtnahme auf den Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsatz einerseits und der zu achtenden und schützenden Menschenwürde als Kern der Konvention andererseits. Um zwischen diesen Polen einen schonenden Ausgleich herzustellen, bedarf es im Hinblick auf Fragen, die Moral,

F. Schlussbetrachtung

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Ethik oder Sitten betreffen, daher einer umfassenden und genauen Prüfung der Weite des mitgliedstaatlichen margin of appreciation. Den Gerichtshof trifft hier mithin – bevor er den Beurteilungsspielraum erweitert – eine erhöhte Begründungslast, die dann besonders erhöht ist, wenn etwa die betroffene Person besonders schutzbedürftig oder dem Staat in besonderer Weise ausgeliefert ist. 9. Die Rechtsprechungsanalyse hat ergeben, dass wichtige Anknüpfungspunkte für die Achtung bzw. den Schutz der Menschenwürde das Folterverbot in Art. 3 EMRK als direkteste Ausprägung der Menschenwürdegarantie, das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe gem. Art. 3 EMRK sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem. Art. 8 EMRK sind. Im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK kommt der Menschenwürde erhebliche Relevanz – insbesondere auch in neueren Entscheidungen – bei der Herausbildung des Konzepts des EGMR von identity und private life sowie persönlicher Freiheit zu. Auch im Zusammenhang mit weiteren Konventionsgarantien wie dem Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK, der in Art. 9 EMRK verbürgte Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, dem Recht auf freie Meinungsäußerung gem. Art. 10 EMRK, dem Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit in Art. 4 EMRK, dem nulla-poena-sine-lege-Grundsatz in Art. 7 EMRK, der Vereinigungsfreiheit in Art. 11 EMRK sowie etwa auch dem in Art. 2 des 1. ZP EMRK verbürgten Recht auf Bildung, bezog sich der EGMR auf die Menschenwürde. 10. Der EGMR gibt selbst keine eigene Definition des Menschenwürdebegriffs vor. Die Analyse der Entscheidungen des Gerichtshofs macht jedoch deutlich, in welchen Fällen er immer wieder eine Menschenwürdeverletzung annimmt. Eine Verletzung der Menschenwürde liegt danach insbesondere in Fällen vor, die die körperliche und geistige Integrität einer Person betreffen und in denen es um die Zufügung psychischen bzw. physischen Leids geht, das über ein bestimmtes Mindestmaß an Schwere hinausgeht, sei es etwa auch durch Demütigung oder Herabsetzung und damit durch Missachtung der Subjektstellung einer Person. Ebenso ist dies anzunehmen in Fällen von Diskriminierungen, etwa aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen bzw. einer Minderheit, aufgrund der Religion, sexuellen Identität oder Orientierung oder des Alters. Insbesondere liegt auch eine Verletzung der Menschenwürde in Fällen vor, die die Identität und die Privat- bzw. Intimsphäre sowie den Eigenwert oder den Kernbereich der Selbstbestimmung einer Person betreffen. Gerade dann, wenn die betroffene Person dem Staat in besonderer Weise ausgeliefert ist und die Gefahr der Schutzlosigkeit wie etwa in Haftfällen bzw. Fällen, die Minderjährige betreffen, besonders groß ist, prüft der Gerichtshof die Möglichkeit einer Menschenwürdeverletzung. 11. Was aber meint der EGMR mit der Bezeichnung der Menschenwürde als „the essence of the Convention“? Begreift man die EMRK als eine kollektive Garantie, deren einzelne Gewährleistungen ein aufeinander abgestimmtes System zum Schutze gemeinsamer Ideale und Wertevorstellungen darstellen, wie sie nicht nur anhand der einzelnen Konventionsrechte erkennbar und auch in der Präambel der

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F. Schlussbetrachtung

Konvention aufgeführt werden, insbesondere die Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sowie eine wahrhaft demokratische politische Ordnung, werden das der EMRK zugrunde liegende Menschenbild und das Verständnis des EGMR von der normativen Funktion der Menschenwürde sowie das Begriffsverständnis deutlich. Letzteres ist vom zur Selbstbestimmung über die eigenen Belange fähigen Individuum geprägt. Der Schutz der selbstverantwortlichen Persönlichkeit und Identität, mithin die Wahrung der Subjektstellung des Einzelnen ist der zentrale Schutzzweck der Konvention. Insofern verbietet es sich schon, hier lediglich von einer rein negativen, allein vom Verletzungsvorgang ausgehenden Begriffsbestimmung zu sprechen. Ebenso wie das BVerfG hebt der EGMR in seiner Rechtsprechung nicht allein auf eine Verletzung der Objektstellung ab, sondern geht vielmehr von der zu wahrenden Subjektstellung des Einzelnen aus. 12. Zur positiven Begriffsbestimmung wurde hier ein funktionaler Ansatz gewählt. Dieser fragt zunächst danach, welche Funktionen der Menschenwürde in der EMRK zukommen. Anhand dieser Funktionen wird deutlich, worauf der Schutz der Menschenwürde abzielt und was seine Voraussetzungen sind. Diese Voraussetzungen stellen also die Wesensmerkmale des Menschenwürdebegriffs der Konvention und damit zugleich des europäischen ordre public dar. Wird also einer oder mehrerer dieser Voraussetzungen nicht entsprochen, ist die Menschenwürde verletzt. 13. Zu diesen Wesensmerkmalen zählen die persönliche Freiheit im Sinne physischer sowie psychischer Freiheit sowie die Freiheit von Existenzangst. Hierbei geht es um die Gewährleistung, über den eigenen Lebensbereich frei entscheiden zu können und gemäß der eigenen Identität selbstbestimmt und ohne staatlichen Zwang bzw. ohne soziale Existenznot im Hinblick auf Grundbedürfnisse wie Hygiene und lebenswichtige medizinische Behandlungen leben zu können. 14. Weiteres Wesensmerkmal ist die Achtung des Demokratieprinzips bzw. die Wahrung demokratischer Grundsätze. Dieses Wesensmerkmal ist wieder eng verbunden mit der Wahrung individueller Freiheit, wobei insbesondere die Möglichkeit politischer Teilhabe den Einzelnen zum Subjekt im Verhältnis zum Staat werden lässt. Insbesondere nur durch die damit eng verbundene Gewährung der Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie einen effektiven Minderheitenschutz kann der notwendige Raum bestehen, der die Selbstbestimmung des Einzelnen über seine eigenen Belange hinreichend gewährt. 15. Auch in dem weiteren Wesensmerkmal der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit geht es um die Achtung der Subjektstellung des Einzelnen als eigenverantwortlich handelnde, gleichberechtigte Person. Durch die Schaffung von Rechtssicherheit durch Verfahrensgarantien, die Wahrung des fair-trial-Grundsatzes und die Unschuldsvermutung sowie das Schuldprinzip soll verhindert werden, dass der Einzelne zum Objekt des Verfahrens wird. 16. Dem Wesensmerkmal der Gleichheit liegt die Annahme zugrunde, wonach Ungleichbehandlungen, Herabstufungen, Ausgrenzungen, Stigmatisierungen auf-

F. Schlussbetrachtung

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grund eines bestimmten Merkmals einer Person oder Personengruppe der Auffassung von der allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Würde, die abstrakt auf die Menschheit als Gattung bezogen zu verstehen ist, zuwiderlaufen. Die Würde gilt daher für jeden Menschen in gleicher Weise, unabhängig von seinen persönlichen Eigenschaften und Umständen, in denen er sich befindet. Da die Menschenwürde als Grundannahme bereits eine Menschheitswürde darstellt, mithin auf die Gattung Mensch bezogen ist, kommt sie auch Personen zu, die selber nicht zur Selbstbestimmung – sei es aufgrund von Krankheit, Behinderung oder dem Alter – fähig sind. Diskriminierungen, die die Personalität von Individuen durch pauschale Zuschreibungen und Abwertungen außer Acht lassen, sind mit der Menschenwürde unvereinbar. 17. Ebenso wie nach dem GG und nach dem Recht der EU handelt es sich auch bei der Menschenwürdegarantie nach der EMRK um ein Grundrecht mit einem eigenständigen Schutzbereich. Dieses kann vor dem EGMR im Wege der Individualbeschwerde geltend gemacht werden. Da jedes einzelne Grundrecht eine spezielle Ausprägung der Menschenwürdegarantie darstellt, ist – wie es auch die Rechtsprechung des BVerfG zur Menschenwürde nach dem GG bestätigt – häufig auch zugleich der Schutzbereich eines der Konventionsgrundrechte neben dem des Grundrechts auf Achtung und Schutz der Menschenwürde eröffnet. Auch wenn der EGMR wiederholt betonte, dass die Vertragsstaaten eine Pflicht haben, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, erscheint die Rechtsprechung bezüglich der Frage nach der Menschenwürdegarantie als eigenständigem Grundrecht dennoch immer wieder uneinheitlich. So vermittelte der Gerichtshof in manchen Urteilen den Eindruck, als verstehe er die Menschenwürde lediglich als objektiven Rechtsgrundsatz, dem allein interpretationsleitende Wirkung zukommt. 18. Der zum Teil in der Literatur geäußerte Vorschlag, als Anknüpfungspunkt für die Prüfung einer Menschenwürdeverletzung allein Art. 3 EMRK heranzuziehen bzw. als Menschenwürdegrundrecht auszubauen, ist abzulehnen. Vielmehr sollte die Prüfung im Rahmen des jeweils einschlägigen Konventionsrechts erfolgen, da dieses als betroffener Aspekt der Menschenwürdegarantie sachnäher ist. Da jedes Grundrecht über einen eigenen unantastbaren Menschenwürdekern verfügt, ist dieser auch schrankenlos zu gewähren und somit einer Eingriffsrechtfertigung entzogen. Ist also etwa der Menschenwürdekern des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK betroffen, kommt eine Eingriffsrechtfertigung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht mehr in Betracht. Dieser Menschenwürdekern ist vor dem grundrechtsspezifischen Menschenwürdeaspekt zugleich anhand des oben herausgearbeiteten Menschenwürdebegriffs zu konkretisieren. 19. Für den Fall, dass keines der Konventionsrechte einschlägig ist, kann eine Menschenwürdeverletzung dennoch vorliegen. Die Prüfung bedarf dann keiner Anknüpfung an ein spezielles Konventionsgrundrecht, sondern hat lediglich anhand des obigen Menschenwürdebegriffs zu erfolgen. Insofern bietet auch das offene Begriffsverständnis der Menschenwürde die Möglichkeit, auf neue Bedrohungs-

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F. Schlussbetrachtung

lagen, die zur Zeit der Formulierung der Konvention noch nicht absehbar waren bzw. zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind, entsprechend reagieren zu können. 20. Der Vergleich des Menschenwürdekonzepts der EMRK mit dem des GG sowie mit dem auf der Ebene des EU-Rechts zeigt, dass die Menschenwürde sowohl nach dem GG wie auch im EU-Recht einen zentralen Stellenwert einnimmt und jeweils über eine normative Doppelfunktion verfügt. Dabei kommt weder der Menschenwürdegarantie des GG noch der EMRK noch Art. 1 GRCh die Funktion eines „Auffanggrundrechts“ zu, sondern vielmehr die eines eigenständigen Grundrechts mit eigenem Schutzbereich. Dennoch bestehen hinsichtlich der Frage nach dem jeweiligen Gehalt der Menschenwürdegarantie Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des EuGH und der des EGMR. Unter Verweis auf die kulturelle Bedingtheit der Menschenwürde und einem uneinheitlichen Menschenwürdeverständnis unter den Mitgliedstaaten war der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürde bislang zurückhaltender. Zugleich weitete er seinen Menschenwürdebegriff im Hinblick auf menschliche Embryonen wiederum aus – allerdings vor allem um den europäischen Binnenmarkt zu erhalten. 21. Die Menschenwürdebegriffe nach dem GG sowie auf EU-Ebene weisen ebenfalls enge Bezüge zu den Begriffen Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf. Auch anhand von Art. 2 EUV sowie der Präambel der GRCh und ihrer Systematik wird deutlich, dass sich die EU auf dieselben Werte gründet wie der ordre public européen, der sich unter den Konventionsstaaten mithilfe der Konvention etabliert hat: Hierzu zählen die Werte, die zugleich die Wesensmerkmale der Menschenwürdegarantie nach der EMRK bilden: Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Solidarität sowie Rechtsstaatlichkeit. Während der EGMR hinsichtlich einer demokratischen Gesellschaft als Voraussetzung der Achtung der Menschenwürde deutlich gemacht hat, dass diese sich auf Pluralismus, Toleranz und Offenheit gründet, findet sich eine sehr ähnliche Annahme auch für die EU. So heißt es in Art. 2 S. 2 EUV, dass die Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte allen Mitgliedstaaten einer Gesellschaft gemeinsam sind, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. 22. Das BVerfG hat in seiner bereits über Jahrzehnte herausgebildeten Menschenwürderechtsprechung die sog. Objektformel zur Subjektformel weiterentwickelt und sich von einer rein am Verletzungsvorgang orientierten negativen Begriffsbestimmung gelöst. Auch wenn sich der EuGH hingegen bei der Begriffsbestimmung mit Blick auf die „kulturelle Bedingtheit“ des Menschenwürdebegriffs deutlich zurückhaltender zeigte, entwickelte sich mit der Benennung der Achtung der Menschenwürde als oberstem Grundwert der EU in Art. 2 EUV sowie mit Art. 1 GRCh in den letzten Jahren mehr und mehr ein Bewusstsein für die Bedeutung der Menschenwürde als Höchstwert der Grundrechtsordnung der EU. Gerade auch im Hinblick auf die Menschenwürde zeigt sich die Komplexität mehrpoliger Grund-

F. Schlussbetrachtung

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rechtsverhältnisse. Bei der Auslegung der GRCh legt der EuGH dabei zunächst ein unionsrechtliches Menschenwürdeverständnis zugrunde bevor er eine Prüfung anhand des Maßstabes der EMRK vornimmt. Zudem zog der EuGH – auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG zur Wahrung der Verfassungsidentität – dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens mithilfe der Menschenwürdegarantie Grenzen. 23. Zumindest ist aber allen drei Ansätzen gemeinsam, dass sie die Selbstbestimmtheit des Einzelnen und die Wahrung menschlicher Selbstachtung, der Subjektstellung durch die Bestimmung einer absoluten Grenze staatlicher Zugriffsmöglichkeiten zum zentralen Anknüpfungspunkt der Menschenwürdegarantie machen. Im Vergleich zur EU-Ebene sowie zur EMRK und der Rechtsprechung des EGMR findet die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums auch heute noch in der Rechtsprechung des BVerfG einen stärkeren Ausdruck.

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Bezüglich im Text verwendeter und nicht erläuterter Abkürzungen wird verwiesen auf: Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auflage, Berlin 2018.

Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis A, B und C ./. Irland (EGMR)  279 f. Abschiebung / Ausweisung  243 ff. Absolutheit der Menschenwürdegarantie ​ 75, 96 f., 119, 121 ff., 130 ff., 208, 247 ff., 332 Abtreibung siehe Schwangerschaftsabbruch Abwägung siehe Abwägungsfeindlichkeit der Menschenwürde Abwägungsfeindlichkeit der Menschenwürde ​103, 107, 119, 121 ff., 128, 133 ff., 136 f., 144 Abwehrrecht ​205, 317  f. Achtungsanspruch/-pflicht  30, 111, 139 – der Menschenwürde ​22, 43, 58, 65, 86 f., 88, 92, 96, 103, 106, 174, 213, 313, 320, 328, 332 African Charter on Human and Peoples’ Rights (ACHPR, sog. Banjul-Charta, 1981) ​58 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) ​13 f., 15, 18, 41 ff., 51, 53, 55, 82, 91, 98, 103, 108, 185, 193 ff., 330 Allgemeine Rechtsgrundsätze (EU) ​150, 152, 176 Allgemeiner Rechtsgrundsatz (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) ​76 f., 83, 331 Allgemeines Persönlichkeitsrecht ​123  f., 129 ff., 323 American Convention on Human Rights (ACHR, 1969) ​58 American Declaration of the Rights of Man (1948) ​57 Ananyev u. a. ./. Russland (EGMR) ​235 Antiochien, Theophilos von ​23 Anwendungsvorrang des Unionsrechts ​148, 151 Arab Charter on Human Rights (2004) ​58 f. Aranyosi und Căldăraru (EuGH) ​158, 160, 163 Arbeits- und Lebensbedingungen, menschenwürdige ~ ​49

Arendt, Hannah ​13, 40 Aristoteles ​19  f., 22 Asylbewerber / Asylbewerberinnen ​241, 243 Asylbewerberleistungsgesetz (BVerfG) ​144 Augustinus ​23 Ausweisung von ausländischen Staatsangehörigen ​56  f., 255 Autonomie  ​27, 30, 36, 49, 86, 91, 115, 258 f., 263 f., 303 Begriffskern/-hof der Menschenwürde ​135 f. Behinderung, Menschen mit ~ ​49, 113, 296, 335 Beurteilungsspielraum ​259 f., 261, 262 ff., 267 f., 272, 275 ff., 280, 285, 322, 326, 332 f. Bildung, Recht auf ~ ​47 f., 50 Biopatentrichtlinie (EuGH) ​168  ff. BKA-Gesetz (BVerfG) ​127 Bloch, Ernst ​35 Bock ./. Deutschland (EGMR) ​273, 311 Bouyid ./. Belgien ​251 f. Brandmarkung ​112, 231 Brüstle (EuGH) ​171 Budina ./. Russland (EGMR) ​242, 253, 319 Burkaverbot / Niqabverbot ​269 ff. Cairo Declaration on Human Rights in Islam (CDHRI, 1990) ​59  f. Calovskis ./. Lettland (EGMR) ​251, 325, 328 Campbell und Cosans ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​275 Chapman ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​241 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) ​147, 151, 332, 336 f. Chefarzt-Beschluss (BVerfG) ​157 Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​14, 262 ff.

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Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis

Cicero, Marcus Tullius ​20 ff., 36 Cohen v. California (US Supreme Court) ​69 Conseil Constitutionnel (Frankreich) ​62 Cybercrime-Konvention des Europarats ​187 Datenerhebung ​128  f. DDR, Verfassung der ~ ​35 De hominis dignitate (Pico della M ­ irandola) ​ 25 f. De officiis (Marcus Tullius Cicero) ​21 f. Dedovskiy ./. Russland (EGMR) ​235, 318 Defense of Marriage Act (USA) ​68 Demokratieprinzip ​39, 43, 51, 64, 81, 86, 139, 274, 298, 306 ff. Demütigung ​208, 213, 218, 231, 308 Dignitas ​20 ff., 26, 28, 36 Diskriminierungen ​64, 74, 81, 217, 334 f. – aufgrund des Geschlechts ​47, 166 f. Diskriminierungsverbot ​45, 47, 217, 219, 334 f. Dordevic ./. Kroatien (EGMR) ​266 f. Dublin-II-VO (EU) ​239, 243 Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​68 Due Process Clause (USA) ​67 East African Asians ./. Vereinigtes Königreich (EKMR) ​201, 252, 315 Effet utile ​207 Ehe ​68  f. Einzelhaft ​226 f., 228 f. Elberte ./. Lettland (EGMR) ​281 ff. Elfes-Urteil ​122  f. Embryo ​278, 280 f., 336 Engels, Friedrich ​34  f. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789)  ​39, 43 Erniedrigung ​58, 93, 103, 112, 188, 211, 216, 295 Ernst August von Hannover ./. Deutschland (EGMR) ​265 Europäische Konvention über die internationale Geltung von Strafurteilen (1970) ​ 184 Europäische Konvention über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechern (1974) ​184

Europäische Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) ​ 189, 202 Europäische Sozialcharta ​198, 331 Europäisches Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen (1989) ​ 184 Europäischer Haftbefehl (BVerfG) ​158 Europaratssatzung (1949) ​184 European Prison Rules ​190 Evans ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​ 280 f. Existenzminimum, menschenwürdiges ~ ​ 45, 75, 93, 118, 142, 143 f., 165, 285, 304 ff., 334 Faires Verfahren, Recht auf ein ~ ​74, 273, 286, 309 ff., 334 Flüchtlingsunterkünfte ​245  f. Folterverbot ​45, 66, 78 f., 97 ff., 164, 200 ff., 289, 322 Forschung an embryonalen Stammzellen ​ 171 f. Forster, Georg ​34 Freiheit des Menschen ​30 f., 39, 43, 49, 51, 64, 70, 72, 74, 81, 93, 202, 259, 298, 300, 302 ff., 334 Freiheitsstrafe ​138 Gäfgen ./. Deutschland (EGMR) ​98, 247 ff., 325 Gedanken- und Gewissensfreiheit ​45, 269 ff., 306 Geistnatur des Menschen ​24 Gemeinschaftsbezogenheit des Indivi­ duums ​43, 116 ff., 118 f., 123 f., 129, 137, 272, 303 Genfer Abkommen (1949) ​45 f. Geschlechtsidentität ​81, 130, 258, 268 Geschlechtsumwandlung ​266  f. Gewaltanwendung ​221  ff. Gleichheit / Gleichbehandlungsgrundsatz ​ 39, 43, 51, 74, 81, 93, 139, 166, 202, 214, 298, 300, 311, 312 ff., 334 f. Gottesebenbildlichkeit des Menschen ​23 f., 25, 36, 292 Großer Lauschangriff (BVerfG) ​127, 131

Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis Haas ./. Schweiz (EGMR) ​261 Habermas, Jürgen ​87 Haft / Haftbedingungen ​74, 113, 138, 190, 205, 215, 225 ff., 231 ff., 239 ff., 319 Hämäläinen ./. Finnland (EGMR) ​268 Handyside ./. Vereinigtes Königreich ​271 f. Hartz-IV-Entscheidung (BVerfG) ​143 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  ​34 Hellig ./. Deutschland (EGMR) ​224, 226 ff. Herabsetzung / Herabwürdigung ​208, 218, 308, 315 Herrmann ./. Deutschland (EGMR) ​99 ff. Hinterbliebenenrente (BVerfG) ​112, 143 Homosexualität ​68 f., 72, 123, 217 House of Lords (Vereinigtes Königreich) ​ 64 Humanitäres Völkerrecht ​53 Humanitätsgrundsatz / principle of ­humanity ​ 79 f. Hygiene ​245, 305 Identitätskontrolle ​159 Identity / Identität ​64, 73, 186, 253, 258, 262 f., 264, 267 f., 269 ff., 284, 285 f., 302 f., 304, 323, 334 Identoba u. a. ./. Georgien (EGMR) ​217 Imago-dei-Lehre ​23 Integrität, physische ​72, 76, 78, 284 International Declaration on Human ­Genetic Data (UNESCO, 2003) ​51 International Bill of Human Rights ​46 International Law Commission (ILC) ​ 52 ff. Internationale Handelsgesellschaft mbH (EuGH) ​150 Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICRMW) ​ 48 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt, 1966) ​ 45 ff., 55, 330 f. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt, 1966) ​45 ff., 55, 93, 330 f. Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED) ​50

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Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (ICERD) ​47, 55 Intimsphäre ​123 ff., 132, 226, 259, 284, 332 f. Investitionshilfe-Entscheidung (BVerfG) ​116 Isolationshaft ​231 Jäggi ./. Schweiz (EGMR) ​281 ff. Jalloh ./. Deutschland (EGMR) ​327 Kalashnikov ./. Russland (EGMR) ​232 ff., 318 Kant, Immanuel ​15, 29 ff., 36, 62, 72, 74, 79, 84, 89, 102, 112, 114 f., 144 f., 213, 293, 300 f., 313, 332 Kategorischer Imperativ (Kant) ​30 ff., 114 Kernbereich der Menschenwürde / Menschenwürdekern ​119, 127 f., 131 f., 135 f., 159, 323 ff., 335 Kernbereich privater Lebensgestaltung 127 ff. Kerngehalt der EMRK ​257 ff. Kerngehalt der Grundrechte ​65 Khlaifia u. a. ./. Italien (EGMR) ​245 Koch ./. Deutschland (EGMR) ​261 f. Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Menschenwürde mit Blick auf die Anwendung von Erkenntnissen aus der Biomedizin (Biomedizin-Konvention) ​14, 57, 283 Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (2005) ​187 KPD-Verbot (BVerfG) ​115 Kudła ./. Polen (EGMR) ​225, 233 Kunstfreiheit ​120 Landesverfassung – der Freien Hansestadt Bremen ​109 f. – des Freistaates Bayern ​110 – des Landes Brandenburg ​111 – des Landes Hessen ​110 Lawrence v. Texas (US Supreme Court) ​70 Leben (Begriffsbestimmung) ​276  ff. Lebenslange Freiheitsstrafe (BVerfG) ​117, 143, 229 Leibeigenschaft, Verbot der ~ ​67, 203, 273, 302 Leibesvisitationen ​225

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Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis

Leihmutterschaft ​267  f. Leyla Sahin ./. Türkei (EGMR) ​272 Lissabon-Urteil (BVerfG) ​159 Luftsicherheitsgesetz (BVerfG) ​126 f., 133 f. Luhmann, Niklas ​294  ff. Lüth-Urteil (BVerfG) ​140, 299 f. M. S. S. ./. Belgien und Griechenland (EGMR) ​239  ff., 243 Margin of appreciation siehe Beurteilungsspielraum Marx, Karl ​34  f. Meinungs- und Informationsfreiheit ​45, 69, 272, 306, 308, 334 Mennesson ./. Frankreich (EGMR) ​267 Menschenbild des Grundgesetzes ​118 f. Menschenhandel ​273 Menschenrechte, universelle ~ ​40 ff., 77, 86, 88, 91, 93, 95, 198, 331 Menschenwürde – als allgemeiner Rechtsgrundsatz (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) ​76 f. – als Grund der Menschenrechte ​88, 90, 93 f., 160, 287, 300 ff. – als Konstitutionsprinzip ​61, 63, 65, 82, 87 ff., 92, 95, 103, 122, 140 ff., 287, 288 ff., 317, 331 – als positive Begriffsumschreibung ​82, 84 f., 107, 290 ff., 333 f. – als Rechtsbegriff ​17 f., 37 ff., 82 f., 86, 89, 92 f., 103, 288 ff. – als subjektives Recht / als (Auffang-) Grundrecht ​65, 74 f., 95 f., 122, 140 ff., 164, 176, 236 – als universelles Rechtsprinzip ​18, 38, 77, 82 f., 85 ff., 93 f., 96, 103, 331 – als Verfassungsbegriff ​60 ff., 82 – im Verhältnis zu den Menschenrechten ​ 54 ff., 57, 287, 317, 320 ff. – in der griechischen antiken Philosophie  19 f. – in der Moderne ​33 ff. – in der Renaissance und im Humanismus ​ 25 ff. – in der Spätantike und im Mittelalter ​ 23 ff. – in Früher Neuzeit und Aufklärung ​ 27 ff., 49

– in internationalen Verträgen ​39 ff., 82, 287, 300 ff. Mephisto-Entscheidung (BVerfG) ​117 Mikrozensus-Entscheidung (BVerfG) ​124, 131 Minderheitenschutz ​303, 334 Mindestschutzstandard ​96 Misshandlungen ​57 Moldovan ./. Rumänien (Nr. 2) (EGMR) ​ 216 ff. Mouisel ./. Frankreich (EGMR) ​235, 318 Müslüm Gündüz ./. Türkei (EGMR) ​167, 272, 309, 313 Nasciturus ​278 Nationalsozialismus ​40 f., 44, 108 f., 111 Nemo-tenetur-Grundsatz ​311 Nulla-poena-sine-lege-Grundsatz ​274, 333 Obergefell v. Hodges (US Supreme Court) ​ 68 f., 71 Objektformel 3​ 2, 94, 114 f., 127, 174, 206, 293 Öcalan ./. Türkei (EGMR) ​98 Omega-Spielhallen (EuGH) ​173  ff. Omega-Spielhallen, Schlussanträge der GA’in Stix-Hackl v. 13.03.2004 ​16, 169, 180 Ordre public européen ​299 ff., 306, 316, 330, 336 Österreichischer Verfassungsgerichtshof ​66 Parlamentarischer Rat ​97, 108 Parrillo ./. Italien (EGMR) ​280 f. Patentverbot ​171 Peers ./. Griechenland (EGMR) ​215 Persönlichkeit ​30, 114, 118 f. – freie Entfaltung der ~ ​44, 63, 124 f. Pico della Mirandola  ​25 ff. Platon ​19  f., 22 Polizeigewahrsam ​252 Popov ./. Frankreich (EGMR) ​244 Positive Verpflichtungen ​232 ff., 237 ff., 253 f., 266 f., 320 Präambel (EMRK) ​15, 192 ff., 331 Pränataler und postmortaler Würdeschutz ​ 275 ff., 281 ff. Pretty ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​ 54, 220 ff., 234, 240, 250, 252, 257 ff., 283, 325

Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis Principle of humanity ​53 Privat- und Familienleben ​45, 70, 81, 127, 257 ff., 264 f., 281, 285 f., 304, 333 Privatsphäre, Schutz der ~ siehe Privat- und Familienleben Prügelstrafe ​206 Pufendorf, Samuel von ​28 f., 36, 86 Radbruch’sche Formel ​87 Rafah Partisi ./. Türkei (EGMR) ​274, 316 Ramirez Sanchez ./. Spanien (EGMR)  226 ff. Raninen ./. Finnland (EGMR) ​214 Rantsev ./. Zypern und Russland (EGMR) ​ 273, 319 Rassismus ​75 Recht auf Rechte ​115, 142 Rechtsquellen des Völkerrechts ​52 Rechtsstaatlichkeit ​88, 139, 274, 286, 309 ff. Rechtssubjektivität  ​79, 90, 94, 101, 126, 234, 277, 330 Rees ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​ 262 Religionsfreiheit ​45, 269 f., 306 Rettungsfolter ​247  ff. Ribitsch ./. Österreich (EGMR) ​221 ff. Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ​51 Roosevelt, Eleanore ​42, 45 Roosevelt, Theodor ​198 Rousseau, Jean-Jaques ​29 Rule of law ​274, 286, 309 ff. S. A. S. ./. Frankreich (EGMR) ​269 ff., 303, 326 S. W. und C. R. ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​274 Scharia  ​59  f. Schiller, Friedrich ​33 Schmid, Carlo ​309 Scholastik  ​23 Schrankenlosigkeit der Menschenwürde  ​ 101 Schuldprinzip ​138 Schutz der natürlichen L ­ ebensgrundlagen ​ 99 Schutz von Personen im Katastrophenfall ​ 53 ff.

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Schutzbereich der Menschenwürde ​97, 210, 320 ff. Schutzpflichten des Staates ​91 f., 93, 106, 126, 199, 202, 205, 213 f., 234, 236, 253 ff., 266 f., 298 f., 317 Schwangerschaftsabbruch ​67, 81, 111, 276 ff., 279 f. Schwangerschaftsabbruch (BVerfG) ​111 Schweizerisches Bundesgericht ​65 Schweregraderfordernis ​208 f., 216 f., 223, 252 Selbstbestimmung – Recht auf ~ ​98, 259, 263 f., 281, 286, 332, 300 ff. – Recht auf informationelle ~ ​117 – am Arbeitsplatz (dignity at work) ​191 Selbstbestimmung des Menschen ​27, 36, 43, 49 f., 58, 70, 73, 84, 91, 101, 109, 111, 115, 118, 124, 139, 144, 174, 180, 191, 215 ff., 227, 258 f., 263 f., 293, 299, 300 ff., 307, 309, 323, 332, 334 f. Selbstgesetzgebung ​29 ff., 49, 84, 101 f., Selbsttötung ​220  f. Selbstzweckhaftigkeit ​80, 103 Selmouni ./. Frankreich (EGMR) ​209 Sexuelle Orientierung ​64, 74, 81, 123, 258 Sexuelle Selbstbestimmung ​67, 74, 166 ff., 258, 262 ff. Sicherungsverwahrung (BVerfG) ​133, 137 Siliadin ./. Frankreich (EGMR) ​273 Sittengesetz ​123 Sklaverei, Verbot / Schutz vor ~ ​45, 97, 97, 273, 302 Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​216 Soering ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​ 159, 237 ff., 243, 246, 250, 325 Solange I (BVerfG) ​148 Soldaten sind Mörder (BVerfG) ​120 Soziale Not ​253 ff., 304 ff. Sozialstaatsprinzip ​118, 142, 144 Speziezismus ​100 Staatsgewalt ​83 Staatszielbestimmung ​100  f. Stammzellenforschung ​281 Status negativus ​234 Status positivus ​234 Stauder ./. Stadt Ulm (EuGH) ​150, 165

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Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis

Stem Cell (EuGH) ​171 Sterbehilfe ​81, 220 f., 254 ff., 261 f. Stoa ​20  f. Strafgefangene siehe Haft / Haftbedingungen Strauß-Karikaturen (BVerfG) ​120 Subjektqualität des Menschen ​31, 38, 62, 79, 93, 114 f., 118, 139, 224, 277, 328, 292, 334 Subsistenzrechte ​93 Supreme Court of India  ​72 Svinarenko und Slyadnev ./. Russland (EGMR) ​249 ff., 325, 328 Tarakhel ./. Schweiz (EGMR) ​243 ff. Teilhabe ​74, 118, 255 Thomas von Aquin ​24 Todesstrafe ​80, 237  ff. Tomasi ./. Frankreich (EGMR) ​210 Torreggiani u. a. ./. Italien (EGMR) ​236 Transsexuelle(n), Rechte von ~ ​166 f., 262 ff., 266 f. Transsexuellen-Entscheidung (Rs. P. ./. S. und Cornwall County Council – EuGH) ​ 165 f. Treaty-override-Beschluss (BVerfG) ​157 Tyrer ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​ 53, 205 ff., 210, 214, 233, 238, 283, 318, 321, 332 Tysiac ./. Polen (EGMR) ​279 f. Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (sog. Biomedizin-Konvention, 1997) ​185 Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller ­Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (sog. Lanzarote-Konvention) ​191 Übereinkommen des Europarats zur Ver­ hütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (sog. Istanbulkonvention, 2014) ​188 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT) ​ 48, 78, 98, 202 Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) ​48

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) ​49 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ​47 Umweltschutz ​99 UN Charta ​13, 40 f., 47, 53, 108, 185, 330 f. UN-Menschenrechtskommission ​195 Unantastbarkeit der Menschenwürde ​120 Unbegleitete Minderjährige ​63 UNESCO ​50  f. Ungeborenes Leben ​32, 277 United Nations Millennium Declaration ​51 United States v. Windsor (US Supreme Court) ​68 Universal Declaration on Bioethics and ­Human Rights (UNESCO, 2005) ​51 Unverletzlichkeit der Wohnung ​127 Unversehrtheit, körperliche ~ ​62 US Supreme Court ​67 ff. V. C. ./. Slowakei (EGMR) ​264 Valasina ./. Litauen (EGMR) ​225 Van der Ven ./. Niederlande (EGMR) ​ 226 ff. Van Gend & Loos (EuGH) ​148 Van Kück ./. Deutschland (EGMR) ​14 Verächtlichmachung  ​116 Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ​66, 73 f., 78 f., 93, 200 ff., 206, 211, 215 ff., 240, 289 Verfahrensdauer ​310 Verfassung – Belgien (1994) ​62 – China ​76 – Frankreich ​62 – Griechenland (1975) ​61 – Indien (1950) ​71  ff. – Irland (1937) ​40, 61 – Israel ​75  f. – Italien ​63 – Kanada ​72 – Österreich ​66  f. – Polen (1997) ​62 – Portugal (1976) ​61 – Russland (1993) ​66

Sach- / Personen- und Rechtsprechungsverzeichnis – Schweiz ​65, 99  f. – Spanien (1978) ​61 – Südafrika (1996) ​71, 73 f. – Türkei ​66 – Ungarn (1989, 2011) ​62 – USA ​67  ff. – Vereinigtes Königreich ​63  f. Verfassungskonvent (GG) ​108 Verfassungsrecht, kollidierendes ~ ​121 Verfolgung ​112 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ​128  f., 132, 210, 222 f., 308 f., 310 Verhörmethoden ​211 Vernunftbegabung ​24, 29, 36, 43 Vertrag von Lissabon (2009) ​148 Vertrag von Maastricht (1993) ​147 Vienna Declaration and Programme of ­Action (World Conference on Human Rights, 1993) ​37 ff., 82, 91

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Vinter u. a. ./. Vereinigtes Königreich (EGMR) ​229 Virginia Declaration of Rights (1776) ​39 Vo ./. Frankreich (EGMR) ​276 ff. Völkergewohnheitsrecht  ​76 Völkerrechtsfreundlichkeit des Grund­ gesetzes ​145, 156 ff., 228, 330 Volkszählungsurteil (BVerfG) ​117 Weimarer Reichsverfassung (WRV) ​35, 39 Wertegemeinschaft ​146  ff. Wertordnung des Grundgesetzes ​118 Würde der Kreatur / des Tieres ​66, 99 ff. Würde der Pflanzen ​99 ff. Yankov ./. Bulgarien (EGMR) ​231 Zwangsarbeit ​97, 273, 302 Zypern ./. Türkei (EGMR) ​315