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German Pages 320 Year 2016
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 333
Das deutsche Beamtenstreikverbot im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention Von
Christoph Ickenroth
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTOPH ICKENROTH
Das deutsche Beamtenstreikverbot im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Jacobs, Hamburg Prof. Dr. Rüdiger Krause, Göttingen Prof. Dr. Sebastian Krebber, Freiburg Prof. Dr. Thomas Lobinger, Heidelberg Prof. Dr. Markus Stoffels, Heidelberg Prof. Dr. Raimund Waltermann, Bonn
Band 333
Das deutsche Beamtenstreikverbot im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention
Von
Christoph Ickenroth
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.
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© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis April 2015 berücksichtigt werden. Mein Dank gilt zuvorderst meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis, der mich im Lauf meiner gesamten juristischen Ausbildung bis zum Abschluss dieser Arbeit begleitete und stets unterstützte. Frau Professorin Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger, M.A., Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ihre Bereitschaft dazu und ihre wertvollen Anregungen sind mir eine besondere Ehre. Dank schulde ich ferner Herrn Dr. Adam Sagan, der mir stets als Ansprechpartner zur Verfügung stand und damit zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Für die Korrektur des Manuskripts sowie zahlreiche wertvolle Anregungen danke ich herzlich Herrn Dr. Roland Kühne, Herrn Thomas Dorando und Frau Mareike Köllejan. Von Herzen danken möchte ich Astrid Valentiner für ihre Geduld und ihren immerwährenden Zuspruch, den ich jeden Tag neu als großes Geschenk empfinde. Schließlich danke ich meinen Geschwistern und ganz besonders meinen Eltern. Ohne ihre bedingungslose Unterstützung wären weder mein Studium noch der Abschluss dieser Arbeit möglich gewesen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, im Oktober 2015
Christoph Ickenroth
Inhaltsübersicht Kapitel 1 Einleitung
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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
B. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das hergebrachte deutsche Beamtenstreikverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die neuerliche Bewegung in einer scheinbar geklärten Frage . . . . . . . . . . . . III. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 29 33
C. Gang der Untersuchung und Eingrenzung der Prüfungsmaterie . . . . . . . . . . . . . .
34
Kapitel 2 Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts nach Art. 11 EMRK für Angehörige des Staatsdienstes
36
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. Persönlicher Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Schutz der kollektiven Koalitionsrechte im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III. Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige des Staatsdienstes und die Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 IV. Prüfungsprogramm für Streikrechtsrestriktionen im öffentlichen Dienst . . 141 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . I. Methodische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bindungswirkung der Rechtsprechung für die Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Bindungswirkung der EGMR-Rechtsprechung über das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 145 156 160 161
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Inhaltsübersicht Kapitel 3 Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben auf die deutsche Rechtsordnung
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot als konventionskonforme Streikrechtsregelung im öffentlichen Dienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eingriff in die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verfassungsrechtliche Analyse zur Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorfrage: Ist die Streikverbotsregelung für Beamte einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung überhaupt zugänglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Positivierter verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Implizite verfassungsrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen für die Implikation der konventionsrechtlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Handlungsspielraum und Umsetzungsmöglichkeiten der Judikative . . . . . . . II. Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbeitskampfrechtliche Fragestellungen und Mindestanforderungen . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
165 165 170 187 188 188 189 190 252 253 253 257 265 287
D. Rechts- und verwaltungspolitische Gestaltungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Bestandsaufnahme nach Umsetzung der Konventionsvorgaben . . . . . . . . . . . 289 II. Mögliche Gestaltungsoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
Kapitel 4 Schlussbetrachtung
295
A. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 B. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung
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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das hergebrachte deutsche Beamtenstreikverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die neuerliche Bewegung in einer scheinbar geklärten Frage . . . . . . . . . . . . 1. Ein neuer völkerrechtlicher Kontext: Die jüngere Rechtsprechung des EGMR zur Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rezeption durch die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . III. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 29 29 30 33
C. Gang der Untersuchung und Eingrenzung der Prüfungsmaterie . . . . . . . . . .
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Kapitel 2 Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts nach Art. 11 EMRK für Angehörige des Staatsdienstes A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Persönlicher Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Schutz der kollektiven Koalitionsrechte im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge der Rechtsprechung zu den kollektiven Koalitionsrechten 2. Die Gewährleistung des Streikrechts als besondere Kollektivmaßnahme a) Die Streikrechtsgarantie im freien Gestaltungsermessen der Vertragsstaaten – Schmidt und Dahlström und National Association of Teachers in Further and Higher Education (NATFHE) . . . . . . . . . . . . b) Das Streikrecht als Mittel gewerkschaftlicher Interessenverfolgung im System freiwilliger Kollektivverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) UNISON und Federation of Offshore Workers’ Trade Union . . . bb) Wilson, National Union of Journalists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die methodische Neuausrichtung der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK – Demir und Baykara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die evolutive Interpretation des Art. 11 EMRK unter Rezeption des internationalen Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 37 37 39 39 43
43 44 44 48 49 51
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Inhaltsverzeichnis b) Die Ausweitung des Schutzumfangs der Koalitionsfreiheit – das Recht auf Kollektivverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorfrage: Anwendbarkeit der Schutzgarantie der Koalitionsfreiheit auf „Angehörige der Staatsverwaltung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Recht auf Kollektivverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einordnung in die bisherige Rechtsprechungslinie . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die schrittweise Anerkennung der konventionsrechtlichen Gewährleistung des Streikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die implizite Anerkennung des Streikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Karacay und Urcan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Dilek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die explizite Anerkennung des Streikrechts – Enerji Yapi-Yol Sen . . aa) Die Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 11 Abs. 1 EMRK um die Gewährleistung des Streikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Anerkennung des Streikrechts durch den Gerichtshof . . (2) Exkurs: Rechtsquellen der internationalen Streikrechtsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Streikrechtsgarantie in den Übereinkommen der ILO (b) Die Streikrechtsgarantie in der ESC . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Das Streikrecht in den internationalen Pakten der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Das Recht auf Kollektivmaßnahmen und Streik nach Art. 28 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Das Streikrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Das Streikrecht in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einschränkbarkeit für Angehörige des öffentlichen Diensts nach Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Interpretation des Urteilsspruchs im Hinblick auf seine Übertragbarkeit auf das deutsche Beamtenrechtssystem . . . . . . . . . . . . (1) Eng gefasste Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Weiter gefasste Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Konkretisierung des konventionsrechtlichen Streikrechts . . . . . . . . . a) Disziplinarmaßnahmen gegen die individuelle Beteiligung von Lehrern an Kollektivmaßnahmen – Kaya und Seyhan und Saime Özcan b) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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53 55 58 60 60 60 61 62 63 64 64 65 66 68 70 71 74 76 78 78 79 80 80 81 83 83 84 85
Inhaltsverzeichnis 6. R.M.T. – Eine Kehrtwende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konventionsrechtliche Zulässigkeit eines Verbots sekundärer Streikmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die weitere Konsolidierung der Streikrechtsrechtsprechung . . . . . . . . . . 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige des Staatsdienstes und die Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Rechtfertigungsvoraussetzungen gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingriff verfolgt ein legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Streikrechtsbezogene Konkretisierung anhand der sonstigen internationalen und europäischen Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einschränkungsvorbehalt für Angehörige der Polizei, Streitkräfte und der Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prüfungssystematische Einordnung und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als Rechtsausübungsschranke . . . . bb) Systematische Funktion und Auswirkungen auf die Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als Modifikation der allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Auswirkungen auf die Prüfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltliche Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wortlaut und systematische Auslegung innerhalb des Konventionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erster funktionsorientierter Interpretationsansatz der Menschenrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Rechtsprechung zu der Verfahrensgarantie des Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Funktionales Kriterium im Rahmen des Art. 6 EMRK – Pellegrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Weiterentwicklung des Abgrenzungskriteriums – Vilho Eskelinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Übertragung der Grundsätze auf Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Punktueller Ausschluss von Berufsgruppen vom Begriff der Staatsverwaltung durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 87 87 90 92 94 95 96 97 98 99 99 102 104 105 105 106 107 107 109 111 111 112 113 113 115 116 118
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Inhaltsverzeichnis bb) Systematische Konkretisierung anhand des internationalen und europäischen Regelungsumfeldes der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Streikrechtsschranken im Rahmen der ILO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Grundkonzeption der Schranken des Streikrechts im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Konkretisierung durch die Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . (2) Grenzen des Streikrechts nach der ESC . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Bewertung von Streikverboten in der Spruchpraxis des EASR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Unionsrechtlicher Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ . . . (a) Die „systematische Aktion“ der EU-Kommission vom 18.3.1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Das Leitbild der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 45 Abs. 4 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Konkretisierung durch Einzelfallrechtsprechung . . . . . . . (d) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Auslegung unter den internationalen Pakten der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Übertragung der Ergebnisse auf das Konventionsrecht . . . . . . . . . (1) Bestätigung der konventionsautonomen funktionsorientierten Definition der Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bewertungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Determinierung des Anwendungsbereichs in Abgrenzung zu Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Korrektiv vergleichender Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prüfungsprogramm für Streikrechtsrestriktionen im öffentlichen Dienst . . . 1. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendbarkeit des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Polizei und Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abstrakt-funktionelle Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Konkret-funktionelle Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnismäßigkeit, Rechtsmissbrauchskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnismäßigkeit, Proportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143 143 144 144
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung der Urteile des EGMR . . . . . . I. Methodische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstärkte Rezeption der Spruchpraxis von Sachverständigenausschüssen a) ILO-Sachverständigenausschuss und Ausschuss für Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Europäischer Ausschuss für soziale Rechte und Ausschüsse des UN-Sozial- und Zivilpakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heranziehung nicht einheitlich ratifizierter Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tragfähigkeit rechtsvergleichender Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee und abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bindungswirkung der Rechtsprechung für die Bundesrepublik Deutschland 1. Völkerrechtliche Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Geltung der EMRK im nationalen Recht der Bundesrepublik . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Bindungswirkung der EGMR-Rechtsprechung über das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 145 146
V.
147 150 151 154 155 156 156 158 160 161
Kapitel 3 Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben auf die deutsche Rechtsordnung A. Das deutsche Beamtenstreikverbot als konventionskonforme Streikrechtsregelung im öffentlichen Dienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eingriff in die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herleitung und normatives Fundament des deutschen Beamtenstreikverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die kollektivrechtlichen Gewährleistungen der Beamten innerhalb der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Schutz der Bildung und des Bestandes von Beamtenkoalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Koalitionsbetätigungsfreiheit und die instrumentelle Verfassungsgarantie des Streikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Einschränkung der Koalitionsfreiheit der Beamten durch das kollidierende Verfassungsrecht des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG . . . . . . 2. Kein Eingriff aufgrund restriktiver Auslegung des Schutzbereichs? . . . II. Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
165 165 165 165 166 166 167 169 170
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Inhaltsverzeichnis 1. Bestehen einer Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK . . . . . . . a) Polizei und Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abstrakt-funktionelle Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konkret-funktionelle Überprüfung; Eine punktuelle Analyse . . . (1) Punktuelle Analyse des Beamteneinsatzes in Daseinsvorsorge und Bildungssektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik durch die internationale Überwachungspraxis . . . . . . . (3) Bestätigung durch Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . c) Verhältnismäßigkeit, Willkürkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfolgung eines legitimen Zwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Verfassungsrechtliche Analyse zur Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorfrage: Ist die Streikverbotsregelung für Beamte einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung überhaupt zugänglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Positivierter verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Implizite verfassungsrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Statusrechtliche Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses . . . . . . . . . . . . . a) Die gesetzliche Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Grundsatz des allgemeinen Gesetzesvorbehalts . . . . . . . . . . . (1) Der Gesetzesvorbehalt als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die subordinationsrechtliche Konzeption des Beamtenverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Der implizite Regelungsauftrag des Art. 33 Abs. 5 GG . . . . bb) Das Streikverbot als Konsequenz der einseitigen gesetzlichen Festlegung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen . . . . . . . . . . (1) Unanwendbarkeit des Arbeitskampfes in der Konzeption des Beamtenrechts und inhaltliche Determiniertheit . . . . . . . (2) Beamtenstreik und Tarifbezogenheit des Arbeitskampfs . . . . (3) Beamtenstreik als politischer Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Pflichtenstellung des Beamten im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171 171 171 172 173 175 175 178 180 181 181 182 182 183 186 187 188 188 189 190 191 191 191 191 192 193 194 194 196 200 202 202
Inhaltsverzeichnis aa) Die allgemeine Treuepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gegenansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Pflicht zur uneigennützigen und gemeinwohlorientierten Amtsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Arbeitskampf als Pflichtverstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gegenansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Pflicht zur vollen Hingabe und zum vollen persönlichen Einsatz (1) Ganzheits- und Entschädigungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Konkretisierung der allgemeinen Dienstpflicht mit Appellfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Alimentationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgestaltung der Besoldungsstruktur durch den Gesetzgeber . . bb) Feste Determinanten der inhaltlichen Ausgestaltung . . . . . . . . . . cc) Alimentation als grundrechtsähnliches subjektives Beamtenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Grundsatz des Haupt- und Lebenszeitberufs und Paritätserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Folgerung eines Streikverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionsfähigkeit der Verwaltung und verfassungsrechtliche Funktionsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktionsfähigkeit der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Funktionsgarantie des Art. 33 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Aufgabenzuweisung und Streikverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reichweite des Art. 33 Abs. 4 GG – Ein Rezeptionshindernis? (1) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Regel-Ausnahme-Verhältnis und Rückschlüsse aus Privatisierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Vereinbarkeit mit konventionsrechtlichen Vorgaben . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beamtenstreik im Lichte staatsverfassungsrechtlicher Strukturentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beeinträchtigung der parlamentarischen Entschließungsfreiheit und Unterbrechung der demokratischen Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 202 203 204 205 206 206 207 208 210 210 211 213 214 214 215 217 219 220 221 224 224 224 226 227 229 229 231 233 237 237 238
238 238
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Inhaltsverzeichnis bb) Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einwendungen der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Streikverbot als eigener hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Traditionslinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestehen eines Grundsatzes im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG . . . . . . aa) Das Streikverbot als fundamentales Strukturprinzip . . . . . . . . . . . bb) Berücksichtigungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Notwendigkeit der statuseinheitlichen Geltung? . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen für die Implikation der konventionsrechtlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Handlungsspielraum und Umsetzungsmöglichkeiten der Judikative . . . . . . . II. Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mögliche Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgeprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kritische Würdigung der Entscheidung des BVerwG vom 27. Februar 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbeitskampfrechtliche Fragestellungen und Mindestanforderungen . . . . . . 1. Grenzen der Streikrechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitskampfparität und Gebot der Staatsneutralität . . . . . . . . . . . . . . b) Zulässiges Streikziel und Tarifbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einhaltung von Friedenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Qualitative und quantitative Streikbegrenzungen . . . . . . . . . . (2) Obligatorischer Schlichtungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ankündigungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) „Cooling-of-period“ und Urabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Angemessenheit – Die Sicherstellung einer ausreichenden Mindestversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vereinbarung von Notdiensten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zulässigkeit des Beamteneinsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
240 241 241 242 243 244 245 246 248 252 252 253 253 257 257 260 261 262 265 266 266 269 271 272 274 274 275 276 278 280 281 282 285 287 287
Inhaltsverzeichnis
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D. Rechts- und verwaltungspolitische Gestaltungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Bestandsaufnahme nach Umsetzung der Konventionsvorgaben . . . . . . . . . . 289 II. Mögliche Gestaltungsoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
Kapitel 4 Schlussbetrachtung
295
A. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 B. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Abkürzungsverzeichnis a. A. AEUV a. F. AJDA AöR AP App. ArbG AuR BAG BAG GS BayVBl. BBesG BBG Bd. BetrVG BGB BGBl. BGH BGHZ BK BPersVG BRD BRRG BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE CEACR
CESCR CLLPJ DB
anderer Ansicht Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung L’actualité juridique Droit administratif Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Application Number Arbeitsgericht Arbeit und Recht Bundesarbeitsgericht Großer Senat des Bundesarbeitsgerichts Bayerische Verwaltungsblätter Bundesbesoldungsgesetz Bundesbeamtengesetz Band Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (amtliche Sammlung) Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundespersonalvertretungsgesetz Bundesrepublik Deutschland Beamtenrechtsrahmengesetz Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (amtliche Sammlung) Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations (Sachverständigenausschuss für die Anwendung von Übereinkommen und Empfehlungen) Committee on Economic, Social and Cultural Rights (Sachverständigenausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Comparative Labor Law and Policy Journal Der Betrieb
Abkürzungsverzeichnis DB AG DBB DBGrG ders. DESA
DNeuG DÖD DÖV DP DRdA Drucks. DVBl. EASR ECHR EFILWC
EG EGMR EHRLR EMRK ErfK ESC ETUI EU EuGH EuGRZ EuR EUV EuZA FAZ FS GdP GEW GG GRC GSGA HbStR
21
Deutsche Bahn AG Deutscher Beamtenbund Deutsche Bahn Gründungsgesetz derselbe United Nations Division for Public Administration and Development Management: Departement of Economic and Social Affairs (Vereinte Nationen: Abteilung für öffentliche Verwaltung und Entwicklungsmanagement: Departement für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten) Dienstrechtsneuordnungsgesetz Der öffentliche Dienst Die öffentliche Verwaltung Discussion Paper Das Recht der Arbeit Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte European Convention on Human Rights European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen) Vertrag zur Gründung der Europäischen (Wirtschafts-)gemeinschaft in der Fassung von Nizza Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Human Rights Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht Europäische Sozialcharta European Trade Union Institute (Europäisches Gewerkschaftsinstitut) Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung Festschrift Gewerkschaft der Polizei Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Grundgesetz Europäische Grundrechtecharta Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland
22 HbVerfR HRC Hrsg. ICLQ IGH ILC ILJ ILO ILO-FAC
ILR IPBPR IPWSKR JR JUS JZ KESK KJ KRG KritV LAG Ls. m.w. Nw. NdsVBl. NJW NVwZ NWVBl. NZA NZA-RR OFS OVG PersR PersV PostPersRG RdA RG RGBl. RGZ RiA Rn. Rs. RTDH
Abkürzungsverzeichnis Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland Human Rights Committee (Ausschuss für Menschenrechte) Herausgeber International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof International Labour Conference (Internationale Arbeitskonferenz) Industrial Law Journal International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation) Freedom of Association Committee of the Governing Body of the ILO (Ausschuss für Vereinigungsfreiheit des Verwaltungsrats der Internationalen Arbeitsorganisation) International Labour Review Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Türkischer Dachverband der öffentlichen Dienstgewerkschaften Kritische Justiz Kontrollratsgesetz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landesarbeitsgericht Leitsatz mit weiteren Nachweisen Niedersächsische Verwaltungsblätter Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht Federation of Offshore Workers’ Trade Union Oberverwaltungsgericht Der Personalrat Die Personalvertretung Postpersonalrechtsgesetz Recht der Arbeit Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (amtliche Sammlung) Recht im Amt Randnummer Rechtssache Revue trimestrielle des droits de l’homme
Abkürzungsverzeichnis SAE Slg. TVG TVöD VG WVK ZAF ZBR ZESAR ZEuS ZfA ZG zit. ZTR
23
Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz (amtliche Sammlung) Tarifvertragsgesetz Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Verwaltungsgericht Wiener Vertragsrechtskonvention Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für europäische Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Gesetzgebung zitiert Zeitschrift für Tarifrecht
Kapitel 1
Einleitung A. Einführung „From time to time, a decision is handed down by a court, which, for different reasons, may be epoch-making, usually because of the great political consequences that flow in its wake.“ 1 Dieser Ausspruch der englischen Rechtswissenschaftler Keith Ewing und John Hendy zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Demir und Baykara lässt die enorme Tragweite der jüngeren Straßburger Rechtsprechung für die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention erahnen. Das deutsche Arbeitsrecht sieht sich seit langem einer zunehmenden Beeinflussung durch internationale Rechtsnormen sowie die dazu ergangene Rechtsprechung und Spruchpraxis der für die Überwachung zuständigen Gerichte und sonstigen Kontrollgremien ausgesetzt. Dies gilt in Besonderheit für das Unionsrecht sowie die Rechtsprechung des EuGH, welche allerdings das Arbeitskampfrecht weitgehend unangetastet ließen.2 Gerade in diesem Bereich tritt nunmehr die EMRK als weiterer internationaler Impulsgeber in Erscheinung. Jahrzehntelang hatte sich der EGMR bei der Anerkennung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte weitgehend zurückgenommen und deren Gewährleistung in das Gestaltungsermessen der Mitgliedsstaaten überantwortet. Der Einfluss des Konventionsrechts im Bereich des Arbeitsrechts und insbesondere auch des Arbeitskampfrechts war entsprechend gering; Entscheidungen des EGMR in diesem Bereich wurden lediglich beiläufig zur Kenntnis genommen. Wie die Analyse von Ewing und Hendy nahelegt, markieren die jüngeren Urteile aus Straßburg3 zur Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK insoweit einen entscheidenden Wendepunkt. Der EGMR weitet hierin den Konventionsschutz erheblich aus und berührt damit den hochsensiblen Bereich der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Europa. Die eigentliche Sprengkraft dieser Rechtsprechung liegt dabei, neben der Anerkennung der konkreten Arbeitnehmerrechte als solchen, vor allem darin, 1
Hendy/Ewing ILJ 2010, 1, 47. Dieses ist gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV (ex-Art. 137 Abs. 5 EG) nicht Teil der übertragenen unionalen Kompetenzen in der Sozialpolitik. 3 Zentrale Bedeutung kommt zwei Urteilen des EGMR in den Rechtssachen Demir und Baykara (EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97) sowie Enerji Yapi-Yol Sen (EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01) zu. 2
26
Kap. 1: Einleitung
dass in der Folge auch jegliche Einschränkungen der betroffenen Rechte den konventionsrechtlichen Rechtmäßigkeitsanforderungen unterstellt werden. Auf diesem Wege entfalten die Konventionsregelungen ihre Wirkung bis hin in empfindliche Bereiche innerstaatlicher Organisation, wie etwa der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen innerhalb des öffentlich-staatlichen Beschäftigungssektors, für welchen die Nationalstaaten regelmäßig einen gesteigerten Souveränitätsanspruch reklamieren.4 Die Reaktionen auf eine expansive Straßburger Rechtsprechung in den Mitgliedsstaaten bewegen sich regelmäßig zwischen der Bezeichnung als geradezu störendem „Einmischer aus Europa“ 5 bis hin zur Preisung als „David der Menschenrechte“ 6, welcher die Rechte der Bürger der Mitgliedsstaaten verteidigt. In Deutschland lassen sich die Gemüter selten so erhitzen, ist doch die Bundesrepublik überhaupt nur in seltensten Fällen selbst Partei der Verfahren vor dem Gerichtshof und damit unmittelbar betroffen. Zielt die Schleuder des Davids dagegen doch einmal auf Deutschland, so sind die Reaktionen auch hier unübersehbar, da sich der EGMR bei der Bewertung der ihm vorgelegten Rechtsfragen nahezu immer in prominenter Gesellschaft des BVerfG befindet.7 Für die Karlsruher Richter ist die Interaktion mit den unterschiedlichen Akteuren des Verfassungsgerichtsverbunds im europäischen Mehrebenensystem keineswegs neu. Auch im Umgang mit der Rechtsprechung des EGMR haben sie einen Weg gefunden, die konventionsrechtlichen Wertungen im Rahmen einer völkerrechtsfreundlichen Verfassungsexegese auf die deutsche Rechtsordnung zu übertragen.8 Dennoch stellt die ambivalente Wirkungsweise des Konventionsrechts die deutsche Rechtswissenschaft immer wieder vor größere Herausforderungen im Zusammenhang mit der Umsetzung und Übertragung der Rechtsprechung aus Straßburg. Im Kern geht es dabei stets um den zu bewältigenden Konflikt zwischen einer gewollten Integration in eine internationale Menschenrechtsgemeinschaft auf der einen Seite und einem mitgliedsstaatlichen Souveränitätsanspruch zur Wahrung nationaler Besonderheiten und Rechtstraditionen auf der anderen Seite. Aus eben diesem Konflikt erwächst auch die der vorliegende Bearbeitung zugrundeliegende Problematik. So gerät durch die jüngste Rechtsprechung des 4 Vgl. etwa für das Unionsrecht die Bereichsausnahmen des Art. 45 Abs. 4 AEUV (ex-Art. 39 Abs. 4 EG) und Art. 51 (ex-Art. 45 EG); siehe auch Di Fabio, RdA 2012, 262, 265. 5 Volkery, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Briten wollen Macht der Straßburger Richter beschneiden, Der Spiegel, Ausgabe vom 18.4.2012. 6 Prantl, Europäischer Gerichtshof – David der Menschenrechte, Süddeutsche Zeitung, Ausgabe vom 14.11.2011. 7 Man denke etwa an das Urteil des EGMR zur Sicherungsverwahrung, EGMR 17.12.2009 – App. 18359/04 (M/Deutschland) = NJW 2010, 2495. 8 Siehe etwa BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407, 3408; BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1934.
B. Problemaufriss
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EGMR nunmehr auch das für die kollektiven Arbeitsbeziehungen im deutschen öffentlichen Dienst charakteristische Arbeitskampfverbot für Beamte in das Visier des internationalen Menschenrechtsschutzes. Wie aber ist zu reagieren, wenn ein „Querschläger“ aus Straßburg Deutschland und seine Rechtsordnung in einer Regelungsfrage trifft, die durch die gefestigte Rechtspraxis und ständige höchstrichterliche Rechtsprechung abschließend geklärt zu sein scheint? Kann ein Rechtsprechungswechsel des EGMR, welcher in einem Verfahren ohne die Beteiligung Deutschlands erfolgte, einen Anlass oder gar eine Verpflichtung begründen, das hergebrachte deutsche Beamtenstreikverbot neu zu überdenken und, wenn ja, mit welchen Folgen?
B. Problemaufriss I. Das hergebrachte deutsche Beamtenstreikverbot Der deutsche öffentliche Dienst ist geprägt von der Zweiteilung seiner Beschäftigten in Beamte einerseits sowie Arbeitnehmer und Angestellte des öffentlichen Diensts andererseits. Dementsprechend ist auch das öffentliche Dienstrecht unterteilt in das Beamtenrecht, konzipiert als öffentlich-rechtliches Dienstund Treueverhältnis (Art. 33 Abs. 4 GG), und das „Arbeitsrecht“ der öffentlich Bediensteten auf der Basis privatrechtlicher Beschäftigungsverhältnisse.9 Diese strikte Trennung setzt sich im Bereich des Arbeitskampfrechts fort. Während den Arbeitnehmern und Angestellten des öffentlichen Diensts nach nahezu einhelliger Auffassung10 der Arbeitskampf zur Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen offensteht, ist er den Beamten gänzlich verwehrt. Das Beamtenstreikverbot hat in Deutschland eine lange Tradition und wird seit jeher von der Rechtsprechung11 und der herrschenden Lehre12 vertreten. Gamillscheg führte hierzu einst aus: 9
Battis, BBG, Einl. Rn. 7. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 362; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 189, 190; einschränkend Lecheler, in: HbStR V, § 110 Rn. 112. 11 Vgl. nur BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1039/75, E 44, 249, 264; BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228, 1230; BVerwG 22.11.1979 – 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809, 1810; BGH 31.1.1978 – VI ZR 32/77 (Celle), AP Nr. 61 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1978, 816, 817. 12 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Badura, in: Badura/Stern, Die Rechtmäßigkeit des Beamteneinsatzes, S. 25; ders., Die Rechtmäßigkeit des dienstlichen Einsatzes von Beamten, S. 25 f.; Battis, BBG, § 4 Rn. 5 f.; ders., in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 71, 74; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 500 ff.; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 190; Dietz, JuS 1968, 1, 4; Feindt, ZBR 1974, 309, 317 ff.; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1109; Hilg, Beamtenrecht, S. 327; Hanau, JuS 1971, 120, 121 f.; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II, S. 979 ff.; Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 63; ders., Beamtenstreik, S. 53 ff.; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck Art. 33 GG Rn. 44; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 GG Rn. 56 und Art. 33 GG Rn. 51; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rn. 190; Lecheler, in: HbStR V, § 110 Rn. 43; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9 GG Rn. 101; Lorenz, AöR 1973, 410, 424; Masing, in: 10
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Kap. 1: Einleitung
„Wenige Aussagen des Arbeitskampfrechts lassen sich auf eine ähnlich solide Grundlage stützen.“ 13 Gänzlich unumstritten war diese solide geglaubte Grundlage des Streikverbots allerdings in der Vergangenheit nicht. So entbrannte in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre, ausgelöst durch aufsehenerregende Arbeitskampfaktionen von Beamten bei der Deutschen Bundesbahn und Bundespost14 sowie der beamteten Fluglotsen15, eine lebhafte Debatte über die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit des Beamtenstreiks16, welche sich bis in die achtziger Jahre fortsetzte.17 Im Jahre 1984 konstatierte Bieback noch, dass „kaum ein anderes Problem des Streikrechts in Sonderbereichen [. . .] so heftig umstritten [sei] wie das Streikverbot für Beamte“.18 Nachdem jegliche Streikteilnahmen durch die zuständigen Verwaltungsinstanzen und Gerichte disziplinarrechtlich konsequent geahndet und unterbunden wurden,19 beruhigte sich die Debatte in der Folgezeit zusehends. Eine größere Auseinandersetzung mit der einst so umstrittenen Frage des Beamtenstreikverbots erfolgte vorerst nicht mehr bis es schließlich im Jahre 2009 abermals zu einer Häufung von Beteiligungen beamteter Lehrer an Streikaufrufen der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) kam. Erneut hatten sich die Verwaltungsgerichte mit der Frage der Zulässigkeit von Streikteilnahmen von Beamten zu befassen. Im Unterschied zu den Verfahren in den siebziger und achtziger Jahren allerdings war nunmehr ein durch das Konventionsrecht veränderter völkerrechtlicher Kontext zu beachten.
Dreier, Art. 33 GG Rn. 84; Mayer, BayVBl. 1973, 225 ff.; von Münch, in: BK, Art. 9 GG Rn. 193; Otto, Arbeitskampfrecht § 9 Rn. 2 ff.; Pfohl, ZBR 1997, 78, 83; Reuss, in: FS Ule, S. 417, 422 f.; Rieble, in: Löwisch, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 13; Schinkel, ZBR 1974, 282, 283; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rn. 520; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 333; ders., in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 379; Seidel, DVBl. 1974, 141, 142 ff.; Weber, in: Leisner, Berufsbeamtentum, S. 199, 201. 13 Gamillscheg, KollArbR I, S. 1109. 14 Zu nennen sind insbesondere die Aktionen „Igel“ und „Adler“ aus dem Jahre 1962, in denen es zu einer verabredeten kollektiven Minderleistung in Form des sogenannten Diensts nach Vorschrift kam, vgl. Isensee, JZ 1971, 73. 15 Vgl. Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 16 ff. 16 Von zahlreichen Publikationen haben insbesondere die Monographien von Däubler (Der Streik im öffentlichen Dienst) aus dem Jahre 1970 als Befürworter eines Beamtenstreikrechts sowie von Isensee (Beamtenstreik) aus dem Jahre 1971 als Gegner eines Beamtenstreikrechts den Diskurs entscheidend geprägt. 17 Vgl. etwa aus dem Jahre 1980 Blanke/Sterzel, Beamtenstreik. Im November 1980 kam es nach Aufruf der DPG bei der Deutschen Bundespost ebenfalls zu umfangreichen Streikmaßnahmen, an denen wiederum Beamte beteiligt waren. Insbesondere stellte sich im Zuge dieser Arbeitskampfmaßnahmen die Frage nach der Zulässigkeit des Beamteneinsatzes auf streikbedingt ausfallenden Arbeitsplätzen, vgl. etwa Badura/ Stern, Die Rechtmäßigkeit des Beamteneinsatzes. 18 Bieback, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, 1. Auflage, Rn. 466. 19 Vgl. hierzu die Nachweise bei Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 17.
B. Problemaufriss
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II. Die neuerliche Bewegung in einer scheinbar geklärten Frage 1. Ein neuer völkerrechtlicher Kontext: Die jüngere Rechtsprechung des EGMR zur Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK Die EMRK garantiert in ihrem Art. 11 Abs. 1 die Koalitionsfreiheit einschließlich des Rechts, zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer Gewerkschaften zu gründen und diesen beizutreten. Einschränkungen sind unter den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK möglich, wobei Abs. 2 Satz 2 einen speziellen Einschränkungsvorbehalt für Angehörige der Streitkräfte, Polizei und der Staatsverwaltung enthält. Die Rechtsprechung des EGMR war in der Vergangenheit stets geprägt von Zurückhaltung bei der Herleitung und Anerkennung spezifischer Koalitionsrechte innerhalb dieser Bestimmung. Dementsprechend spielte das Konventionsrecht bei der Bewertung nationaler arbeitskampfrechtlicher Fragestellungen und somit letztlich auch für die Frage der Zulässigkeit des deutschen Beamtenstreikverbots keine Rolle. Diese Haltung des Gerichtshofs erfuhr in der jüngeren Rechtsprechung zur konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit jedoch eine deutliche Kehrtwende. Nicht länger beantworteten die Richter Fragen der Gewährleistung und Einschränkung der Koalitionsfreiheit isoliert konventionsrechtlich. Vielmehr interpretierten sie die Menschenrechtsgarantie im Kontext eines zusammenhängenden Gefüges europäischer und internationaler arbeits- und sozialrechtlicher Schutzsysteme. Insbesondere unter Heranziehung der Grundsätze der Übereinkommen der ILO, der ESC und der Europäischen Grundrechtecharta halfen sie sich über den konzisen Wortlaut des Art. 11 EMRK hinweg, um auf diesem Wege zu einer Erweiterung des konventionsrechtlichen Schutzumfangs zu gelangen. Nach der neuerlichen Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK im Urteil vom 12. November 2008 in der Rechtssache Demir und Baykara20 umfasst die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit fortan auch das Recht der Gewerkschaften auf Kollektivverhandlungen mit dem Arbeitgeber. Hieran anknüpfend erkannte der Gerichtshof in einem weiteren zentralen Urteil vom 21. April 2009 in der Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen im Wege seiner extensiven Auslegungspraxis ebenfalls auf eine konventionsrechtliche Streikrechtsgarantie.21 Die streitgegenständlichen Eingriffsmaßnahmen durch die Türkei als beteiligter Verfahrenspartei sah er jeweils als nicht gerechtfertigt an, da sie den Anforderungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK nicht genügten und dies obgleich die Betroffenen in beiden Fällen Beschäftigte des türkischen Staatsdienstes waren, weshalb sich die
20 21
EGMR 12.11.2008 – Nr. 34503/97 (Demir and Baykara). EGMR 21.4.2009 – Nr. 68959/01, Rn. 24, 32 (Enerji Yapi-Yol Sen).
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Kap. 1: Einleitung
türkische Regierung auf die den Beschäftigungsverhältnissen zugrundeliegenden dienstrechtlichen Besonderheiten berufen hatte.22 Obschon Deutschland weder in diesen noch in nachfolgenden Verfahren vor dem EGMR direkt als Partei beteiligt war, entflammte in der deutschen Rechtswissenschaft eine Debatte über die möglichen Folgen des neuen Straßburger Rechtsprechungskurses für die Zulässigkeit des deutschen Beamtenstreikverbots. Dieser Diskurs wurde ebenfalls durch die Rechtsprechung verschiedener Verwaltungsgerichte aufgegriffen, welche sich aus gegebenem Anlass erneut mit der Zulässigkeit des statusrechtlichen Streikverbots für deutsche beamtete Lehrer zu beschäftigen hatten. 2. Die Rezeption durch die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit Die Rezeption der konventionsrechtlichen Entwicklungen durch die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgte höchst unterschiedlich und deckte inhaltlich nahezu alle denkbaren Varianten möglicher Auswirkungen des Konventionsrechts auf die deutsche Rechtsordnung sowie das geltende Beamtenstreikverbot ab. Den Grundstein der verwaltungsgerichtlichen Aufarbeitung der Problematik legten drei erstinstanzliche Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Düsseldorf, Kassel und Osnabrück.23 Das VG Düsseldorf hob mit Urteil vom 15. Dezember 201024 eine aufgrund der Teilnahme an einem Warnstreik ergangene Disziplinarverfügung gegen eine beamtete Lehrerin im nordrhein-westfälischen Schuldienst auf. Dabei kam das Gericht zunächst zu der Überzeugung, dass die Klägerin durch die vorsätzliche Streikteilnahme während der Dienstzeit ein einheitliches Dienstvergehen im Sinne des § 47 Abs. 1 BeamtStG begangen habe. Obgleich Art. 11 EMRK nach neuerer Rechtsprechung des EGMR auch das Streikrecht umfasse und das deutsche Beamtenstreikverbot keine zulässige Einschränkung dieser Garantie im Sinne des Art. 11 Abs. 2 EMRK darstelle, somit also „europarechtswidrig“ sei, ändere dies nichts an der Gültigkeit der Verbots. Die beamtenrechtlichen Vorschriften ließen sich aufgrund der entgegenstehenden hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nicht völkerrechtsfreundlich auslegen. Vielmehr sei es
22 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 89 ff. (Demir and Baykara); EGMR 21.4.2009 – Nr. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). 23 Die nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren erfolgen allesamt mit Unterstützung bzw. auf Betreiben der GEW. Der DBB dagegen bezieht in seiner offiziellen Stellungnahme genau die Gegenposition und wendet sich entschieden gegen die Anerkennung eines Streikrechts für Beamte, vgl. das Geleitwort des Bundesvorsitzenden Heesen zu dem im Auftrag des DBB erstellten Rechtsgutachten von Di Fabio (Das beamtenrechtliche Streikverbot); siehe auch http://www.dbb.de/themen/beamte/beamteund-streik.html (Stand 27.4.2015). 24 VG Düsseldorf 15.12.2010 – 31 K 3904/10, PersR 2011, 167.
B. Problemaufriss
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Aufgabe des Gesetzgebers einen mit Art. 11 EMRK zu vereinbarenden Rechtszustand herbeizuführen.25 Trotz dieses Befunds hob das Gericht die Disziplinarmaßnahmen und damit die Sanktion des Dienstvergehens auf. Denn auch diese Einzelmaßnahme stelle einen – ebenfalls nicht gerechtfertigten – Eingriff in das Streikrecht der Klägerin gemäß Art. 11 Abs. 1 EMRK dar, weshalb das Disziplinarverfahren nach § 33 Abs. 1 Nr. 4 LDG NRW „aus sonstigen Gründen“, nämlich wegen Verstoßes gegen das Konventionsrecht, hätte eingestellt werden müssen, um auf diesem Wege eine konventionswidrige Verwaltungspraxis zu verhindern.26 Weitergehend als das VG Düsseldorf erkannte das VG Kassel mit Urteil vom 27. Juni 2011 erstmals ein konkretes Streikrecht eines von einer Disziplinarmaßnahme betroffenen Beamten an. Durch die für die Bundesrepublik Deutschland verbindliche Auslegung der EMRK durch den EGMR habe sich der hergebrachte Grundsatz des Beamtenstreikverbots dergestalt gewandelt, dass eine Streikteilnahme durch Beamte unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig erachtet werden müsse.27 Das Konventionsrecht habe die beamtenrechtlichen Grundsätze des Art. 33 Abs. 5 GG fortentwickelt, sodass nunmehr allenfalls noch für eine nach den Kriterien des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu bestimmende Gruppe von Beamten ein generelles Streikverbot in Betracht käme. Der Kläger sei als Lehrer nicht Teil dieser Gruppe.28 Strikt entgegengesetzt zu den vorstehenden Entscheidungen lehnte das VG Osnabrück in seinem Urteil vom 19. August 2011 ein etwaiges Streikrecht für Beamte ab und bestätigte die aufgrund einer Streikteilnahme verhängte Geldbuße gegen einen beamteten Lehrer im niedersächsischen Schuldienst.29 Zwar spreche nach Ansicht des Gerichts vieles dafür, dass das absolute Streikverbot für Beamte in Deutschland dem Konventionsrecht widerspreche. Allerdings liege der Ausschluss des Arbeitskampfs in den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums und ihrer Interpretation durch das BVerfG begründet und stünde einer wie auch immer gearteten funktionsbezogenen Differenzierung nicht offen. Das Gericht sei gemäß § 31 Abs. 1 BVerfG an diese Vorgaben gebunden. Für eine Anpassung der Grundsätze des Art. 33 Abs. 5 GG sei einzig das BVerfG als maßgeblicher Interpret des Verfassungsrechts oder der Gesetzgeber berufen.30 Die drei verwaltungsgerichtlichen Urteile weisen völlig unterschiedliche Ergebnisse bei der Bewertung nahezu identischer Sachverhalte auf. Jedoch gelangten alle Gerichte zu der Überzeugung, dass das bestehende deutsche Beamten25 26 27 28 29 30
VG Düsseldorf 15.12.2010 – 31 K 3904/10, PersR 2011, 167, 168. VG Düsseldorf 15.12.2010 – 31 K 3904/10, PersR 2011, 167, 168 f. VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 474. VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 474 f. VG Osnabrück 19.8.2011 – 9 A 1/11, Juris Rn. 21 ff. VG Osnabrück 19.8.2011 – 9 A 1/11, Juris Rn. 36 ff.
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Kap. 1: Einleitung
streikverbot im Widerspruch zu Art. 11 EMRK in seiner neuerlichen Auslegung durch den EGMR steht. Einzig die daraus erwachsenden Konsequenzen für die nationale (verfassungsrechtliche) Rechtslage wurden unterschiedlich eingeschätzt. In der nachfolgenden Berufungsinstanz änderte das OVG Münster mit Urteil vom 7. März 2012 die Entscheidung des VG Düsseldorf ab und wies die Klage der beamteten Lehrerin zurück.31 In Abweichung zu den geschilderten erstinstanzlichen Entscheidungen ließ sich nach Ansicht des Berufungsgerichts weder aus der EMRK noch aus der Rechtsprechung des EGMR ein Streikrecht für deutsche Beamte ableiten. Vielmehr stelle das deutsche Beamtenstreikverbot eine den Anforderungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK genügende Einschränkungsregelung dar.32 Überdies sei es gemäß Art. 33 Abs. 5 GG im Rahmen der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums verfassungsrechtlich verbürgt. Eine funktionsbezogene Differenzierung innerhalb der Beamtenschaft stelle ein systemwidriges und mit dem Verfassungsrecht nicht zu vereinbarendes Aliud dar.33 Diesem Ergebnis schloss sich auch das OVG Lüneburg in seinem Urteil vom 12. Juni 2012 an und wies damit gleichzeitig die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil des VG Osnabrück vom 19. August 2011 zurück.34 Anders als das OVG Münster äußerte es jedoch ebenfalls Zweifel an der Vereinbarkeit des deutschen Beamtenstreikverbots mit dem Konventionsrecht.35 Gleichwohl stünde einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung der verfassungsrechtlich geschützte Kernbestand der Art. 33 Abs. 4 und 5 GG entgegen. Die Anwendung des Konventionsrechts würde Grundprinzipien des deutschen Verfassungsrechts in Frage stellen, sodass es für eine Anpassung einer Verfassungsänderung durch den Verfassungsgesetzgeber oder zumindest einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch das BVerfG bedürfte.36 Im Nachgang zu den Entscheidungen des OVG Münster und des OVG Lüneburg ergingen zwei weitere erstinstanzliche Urteile des VG Bremen vom 3. Juli 2012 und des VG Berlin vom 18. Dezember 2012. Beide orientierten sich inhaltlich weitgehend an den vorgenannten Urteilen der Berufungsinstanz und wiesen die Klagen der beamteten Lehrer gegen die Disziplinarverfügungen, welche gegen sie aufgrund von Streikteilnahmen ergangen waren, jeweils zurück. In der Entscheidung vom 27. Februar 2014 befasste sich schließlich das BVerwG mit der Frage der konventionsrechtlichen Zulässigkeit des deutschen 31 32 33 34 35 36
OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890. OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 895 ff. OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 895. OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 30 ff. OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 74 ff., 79 ff. 85. OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 68, 86.
B. Problemaufriss
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Beamtenstreikverbots. Im Ergebnis bestätigte der 2. Senat das Berufungsurteil des OVG Münster vom 7. März 2012 und ging in Übereinstimmung mit der Vorinstanz – auch in Ansehung des veränderten konventionsrechtlichen Kontextes – von einem (Fort-)Bestehen des generellen Beamtenstreikverbots aus.37 Abseits des gleichlautenden Tenors stellte das BVerwG in der Begründung jedoch entgegen der Ansicht des OVG Münster explizit die Konventionswidrigkeit der nationalen Rechtslage aufgrund des geltenden Beamtenstreikverbots heraus.38 Aufgrund der fehlenden Möglichkeit einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des nationalen Verfassungsrechts allerdings trete im Falle dieser Kollisionslage das konventionsrechtlich verbürgte Streikrecht hinter dem durch Art. 33 Abs. 5 GG begründeten Beamtenstreikverbot zurück.39 Mit dieser Feststellung begnügten sich die Leipziger Richter jedoch nicht, sondern richteten zusätzlich einen Gesetzgebungsauftrag an den Bundesgesetzgeber, verbunden mit konkreten Vorschlägen zur Auflösung der derzeitigen konventionswidrigen Rechtslage.40 Der Überblick über die bisherige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung prägt demnach ein ambivalentes Bild sowohl bezüglich der Interpretation der konventionsrechtlichen Entwicklungen, als auch hinsichtlich der Frage nach den möglichen Auswirkungen für die deutsche Rechtsordnung.41
III. Fragestellung „Wer sich aus rechtlicher Sicht mit der Zulässigkeit und evtl. Modalitäten eines Beamtenstreiks befaßt (sic.), sollte sich zunächst die Frage vorlegen, ob er etwa nur wirklichkeitsfremd theorisiert, ob er einem aus Verbandsinteresse künstlich belebten Thema nachgeht oder ob er sich mit einem aktuellen Aspekt unserer sozialen Wirklichkeit beschäftigt.“ 42 Diese Prüfungsprämisse, welcher sich Schinkel in seiner Abhandlung aus dem Jahre 1974 selbst unterwarf, sollte sicherstellen, dass seiner theoretischen Untersuchung auch eine tatsächliche Relevanz zugrunde lag. Vor dem Hintergrund der oben zitierten Feststellung Gamillschegs43, nach welcher die Frage nach dem Streikverbot für Beamte abschließend geklärt sei44, muss sich auch die vorliegende Untersuchung der Vorfrage 37 Einzig die verhängte Geldbuße in Höhe von 1.500 A erschien dem Senat unangemessen hoch (BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736). 38 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 740. 39 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741. 40 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741 ff. 41 Das bestehende Meinungsspektrum zusammenfassend Henneberger-Sudjana/Henneberger, DP Nr. 127 2012, S. 19. 42 Schinkel, ZBR 1974, 282, 283. 43 Siehe Fn. 13. 44 „Dürfen Beamte streiken? Eine Frage, die unter der Geltung von Art. 33 Abs. 5 GG nie eine Frage war [. . .].“ (von der Weiden, jurisPR-BVerwG 10/2014 Anm. 2, S. 1).
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Kap. 1: Einleitung
Schinkels stellen. Findet also eine erneute Auseinandersetzung mit der Problematik des Beamtenstreikverbots eine Veranlassung in aktuellen Aspekten der sozialen Wirklichkeit? Die vorstehend beschriebenen Entwicklungen in der Rechtsprechung des EGMR und die darauf folgende unterschiedliche Rezeption derselben durch die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie große Teile der Literatur legen ein eindeutiges Zeugnis darüber ab, dass die neuerliche Auslegung des Art. 11 EMRK durch den EGMR die soziale Wirklichkeit in Deutschland und konkret die Frage nach der Zulässigkeit des geltenden Beamtenstreikverbots erheblich beeinflusst.45 Der EGMR hat den völkerrechtlichen Kontext der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Europa neu ausgerichtet und somit nicht nur einen Anlass für eine neuerliche Prüfung der Zulässigkeit des generellen Streikrechtsausschlusses für deutsche Beamte gegeben, sondern gleichzeitig den Ausgangspunkt dieser Prüfung festgelegt. Auf der Grundlage des bereits geführten Diskurses um das Beamtenstreikrecht geht es in der nachfolgenden Untersuchung um folgende Fragestellung: Ist das deutsche Beamtenstreikverbot mit den neu ausgerichteten Konventionsgarantien des Art. 11 EMRK vereinbar und, falls dem nicht so sein sollte, inwiefern besteht die Möglichkeit, die deutsche Rechtsordnung an die konventionsrechtlichen Vorgaben anzupassen?
C. Gang der Untersuchung und Eingrenzung der Prüfungsmaterie Die vorstehende Fragestellung gibt nachfolgenden Gang der Untersuchung vor. In ihrem ersten Teil widmet sich die Bearbeitung der Darstellung der genauen Vorgaben der EMRK im Hinblick auf die Streikrechtsgarantie des Art. 11 Abs. 1 EMRK. Der knappe Regelungswortlaut sowie dessen lakonische, einzelfallbezogene Anwendung und Auslegung durch den EGMR machen hierfür einen genaueren Blick auf den historischen Entwicklungskontext der Rechtsprechung zu den Koalitionsrechten erforderlich. Gleichzeitig wird ein vertiefter Exkurs zu den sonstigen internationalen Rechtsquellen des Streikrechts vollzogen, welche der EGMR seinerseits zur Auslegung des Konventionsrechts heranzieht. Sodann werden die Einschränkungsmöglichkeiten des konventionsrechtlichen Streikrechts gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK für Angehörige des Staatsdienstes unter Berücksichtigung des internationalen und europäischen Regelungsumfeldes der EMRK 45 Im Anschluss an die Rechtsprechung des EGMR kam es zur Einbringung eines Gesetzesentwurfes der Piratenfraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag zur Einführung eines Streikrechts für Beamte im nicht hoheitlichen Bereich, siehe LTSHDrucks. 18/731; vgl. dazu auch Schleswig-Holsteinischer Richterverband, Stellungnahme 14/2013 zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Streikrechts für bestimmte Beamtinnen und Beamte, Juni 2013, abrufbar unter: http://www.richterver band-sh.de/stelln/2013/14-2013-SH-Richterverband.pdf (Stand: 27.4.2015).
C. Gang der Untersuchung
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herausgearbeitet. Ein konventionsrechtliches Prüfungsprogramm fasst im Anschluss die gefundenen Ergebnisse komprimiert und strukturiert zusammen. Abschließend wird die Rechtsprechung des EGMR einer kritischen Würdigung unterzogen und die Bindungswirkung der ergangenen Urteile für die Bundesrepublik Deutschland untersucht. Im zweiten Teil der Untersuchung erfolgt die Überprüfung des deutschen Beamtenstreikverbots anhand des zuvor entwickelten Prüfungsprogramms zu Art. 11 EMRK. Wurde anhand dessen die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit der deutschen Regelung mit der Konventionsgarantie bestimmt, so widmet sich die weitere Prüfung den verfassungsrechtlichen Aspekten einer Übertragung der Grundsätze des Art. 11 ERMK auf die deutsche Rechtsordnung. Eruiert wird demzufolge die Frage nach der Möglichkeit einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung der verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG. Darauffolgend werden die „einfachgesetzlichen“ Rahmenbedingungen für eine Implikation der Streikrechtsvorgaben der EMRK insbesondere in arbeitsrechtlicher Hinsicht konkretisiert. Im Rahmen dessen erfolgt ein kursorischer Blick auf die hiermit verbundenen Fernwirkungen für das sonstige beamtenrechtliche Dienstrecht, welcher gleichsam die Brücke zur abschließenden Betrachtung möglicher rechtspolitischer Gestaltungsoptionen schlägt. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich auf die Überprüfung der Vereinbarkeit des deutschen Beamtenstreikverbots mit der EMRK. Eine Auseinandersetzung mit sonstigem internationalen und europäischen Recht – insbesondere dem Unionsrecht – erfolgt nur insoweit dieses für die Auslegung der EMRK von Bedeutung ist. Ziel der Bearbeitung ist es überdies nicht, das Arbeitskampfverbot jedes in Deutschland bestehenden Beamtenstatusverhältnisses auf seine Vereinbarkeit mit Art. 11 EMRK zu prüfen. Vielmehr soll eine allgemeine Bewertung der nationalen deutschen Regelung im Lichte des Konventionsrechts vollzogen werden, welche sich sodann anhand spezifischer Parameter im Einzelfall konkretisieren lässt. Exemplarisch wird eine einzelfallbezogene Konkretisierung anhand der beamteten Lehrer sowie der Beamten bei der Deutschen Bahn AG und den Postnachfolgeunternehmen erfolgen. Sofern die nachfolgende Prüfung sich mit der Rechtsstellung der Beamten befasst, gelten die getroffenen Feststellungen stets auch für die weiteren Sonderbereiche des öffentlichen Beschäftigungssektors der Richter und der Soldaten. Auch sie werden im Rahmen eines öffentlichrechtlichen Dienstverhältnisses beschäftigt und stehen insoweit den Beamten gleich.46
46 Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 380; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 190; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1112.
Kapitel 2
Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts nach Art. 11 EMRK für Angehörige des Staatsdienstes Die EMRK stellt den in der heutigen Zeit wohl wichtigsten und bedeutendsten Menschenrechts- bzw. Grundrechtskatalog im europäischen Rechtsraum dar und zählt als ältestes Vertragswerk des regionalen Menschenrechtsschutzes mittlerweile 47 Mitgliedsstaaten.1 Die Entstehungsgeschichte der Konvention steht dabei im engen Zusammenhang mit der Gründung des Europarats im Jahre 1949. So war die Schaffung eines internationalen Menschenrechtskatalogs bereits ein entscheidendes Motiv und eine zentrale Forderung im Rahmen der Gründungsinitiative.2 Entsprechend wurde die EMRK im unmittelbaren Anschluss an seine Gründung am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat nach der erforderlichen Ratifikation durch 10 Mitgliedsstaaten schließlich am 3. September 1953 in Kraft. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Konvention mit Gesetz vom 7. August 1952 ratifiziert.3 Derzeit gilt sie in der durch das Protokoll Nr. 11 vom 11.5.1994 geänderten Fassung, welche Deutschland durch Gesetz vom 24.7.1995 ratifizierte.4 Die ursprüngliche Konzeption des Vertragswerks zielte indessen nicht auf die Schaffung einer allgemeinen und umfassenden Grundrechtscharta mit der Bedeutung und Tragweite, wie sie sich in der heutigen Rechtswirklichkeit darstellt. Vielmehr beschränkte sich die Konvention zunächst auf die Festschreibung der klassischen bürgerlich-liberalen und politischen Rechte, über welche ein schneller Konsens der Unterzeichnerstaaten gefunden werden konnte. Die Regelung der in ihren Einzelheiten sehr viel stärker umstrittenen wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte erfolgte schließlich erst einige Zeit später durch die Verabschiedung der Europäischen Sozialcharta im Jahre 1961.5 Diese wiederum entstand unter 1 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rn. 1 ff. In den 47 Mitgliedsstaaten erreicht der Menschenrechtsschutz der Konvention rund 800 Millionen Menschen, vgl. Hendy/ Ewing ILJ 2010, 1, 47. 2 Däubler, in: Däubler/Kittner/Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 539; Art. 1 lit. b der Satzung des Europarats formuliert den „Schutz und [die] Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ als zentrale Aufgabe des Europarats. 3 BGBl. II 1952, S. 685. 4 BGBl. II 1995, S. 578. 5 Vgl. Czycholl, Frieling, ZESAR 2011, 322; Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf das deutsche Arbeits-
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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anderem auf der Grundlage der entsprechenden Übereinkommen der ILO.6 Inhaltlich und konzeptionell war und ist somit die EMRK von der ESC zu unterscheiden,7 weshalb der EGMR in seiner Rechtsprechung zum Schutzumfang der Konvention im Hinblick auf eine Erweiterung auch auf soziale Rechte zunächst eine zurückhaltende Auslegung der Konventionsnormen praktizierte.8 Tatsächlich jedoch bestehen zwischen den Garantien der beiden Regelungswerke derart vielfältige Überschneidungen und Interdependenzen, dass der EGMR in seiner Auslegung und Interpretation der Konvention stets auch auf die entsprechenden Normen der Charta und die korrespondierende Auslegung durch den zuständigen Sachverständigenausschuss berücksichtigt und auf diesem Wege letztlich auch den Schutzbereich der Konvention erweitert.9 Wie die nachfolgende Untersuchung verdeutlicht, spielt dieses Phänomen auch bei der Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Schutzbereich des Art. 11 EMRK im Hinblick auf die Gewährleistung des Streikrechts eine entscheidende Rolle.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK I. Persönlicher Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK In Anlehnung an Art. 20 und 23 Nr. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 194810 garantiert Art. 11 Abs. 1 EMRK die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit im Rahmen der Konvention. Demnach hat jede Person das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen. Dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten. Ähnlich wie in
recht 2012, S. 1 f., Schlachter, RdA 2011, 341, 344. In der Bundesrepublik Deutschland trat die Charta am 26.2.1965 in Kraft. 6 Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 20. 7 Vgl. Levy, in: Europe today No. 2, S. 5 ff.: „The Convention enables man to live in dignity and the charter allows him to work in dignity.“ 8 Vgl. beispielhaft die Ausführungen des EGMR (27.10.1975 – App. 4464/70, Rn. 38 (National Union of Belgian Police)) zur Frage nach der Gewährleistung eines Anhörungs- und Beratungsrechts der Gewerkschaften durch Art. 11 Abs. 1 EMRK: „Thus it cannot be supposed that such a right derives by implication from Article 11 para. 1 (Art. 11-1) of the 1950 Convention, which incidentally would amount to admitting that the 1961 Charter took a retrograde step in this domain“; vgl. weiterhin Hendy/ Ewing, ILJ 2010, 1, 5. Siehe allerdings auch die weitergehenden Intentionen der Gründungsväter der Konvention gerade auch im Hinblick auf die zukünftige Einbeziehung sozialer Rechte, Robertson, Travaux préparatoires, Band 1, S. 264 ff., 277. 9 Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 20; Schlachter, RdA 2011, 341, 344. 10 Französischer Urtext in ArchVR 1950, 213; deutsche Übersetzung in Sartorius Bd. II Internationale Verträge – Europarecht Nr. 19.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Art. 9 Abs. 3 GG, erfolgt die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in der Konvention systematisch im Zusammenhang mit bzw. als Sonderfall der Vereinigungsfreiheit und gekoppelt an die Verfolgung der „koalitionsspezifischen“ Interessen.11 Die besondere Hervorhebung der Gewerkschaftsrechte im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK bedeutet indessen keine Privilegierung gegenüber anderen Teilgarantien der Vereinigungsfreiheit, sondern lediglich eine Konkretisierung derselben zum Zweck der Sicherstellung der Gewährleistung der Koalitionsfreiheit unabhängig davon, ob die Koalitionen nach dem jeweiligen nationalen Recht als Vereinigungen anzusehen sind oder nicht.12 Der konventionsrechtliche Gewerkschaftsbegriff umfasst alle Zusammenschlüsse und Verbände abhängig Beschäftigter zur Vertretung ihrer Interessen aus dem Beschäftigungsverhältnis.13 Ebenso wie im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG gilt dies auch für Staatsbedienstete. Die Nationalstaaten sind Adressaten der Schutzverpflichtung der Konvention, weshalb die öffentlich Bediensteten, also insbesondere auch die nach dem deutschen Beamtenmodell Beschäftigten, ihre Rechte aus der Konvention unmittelbar auch gegen den Staat als Arbeitgeber geltend machen können.14 Vom Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst sind sowohl die Koalitionen selbst als auch die einzelnen Mitglieder.15 Ähnlich wie bei Art. 9 Abs. 3 GG handelt es sich mithin um ein Doppelgrundrecht, welches sowohl die individuelle als auch die kollektive Koalitionsfreiheit schützt. Unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 EMRK ergibt sich die Gewährleistung der Gründung und des Beitritts zu den Gewerkschaften und darüber hinaus deren Betätigungsfreiheit („zum Schutz seiner Interessen“).16 Anders als etwa in Art. 6 Nr. 4 ESC 11 Art. 9 Abs. 3 GG ist insoweit freilich enger gefasst, da nicht pauschal der Schutz der gewerkschaftlichen Interessen, sondern vielmehr die Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Zwecksetzung normiert wird. Allerdings bezieht auch der EGMR (25.4.1996 – App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson)) den Schutz der Interessenvertretung auf den Bereich der Arbeitsbedingungen: „[. . .] the words ,for the protection of [their] interests‘ in Article 11 para. 1 (Art. 11-1) show that the Convention safeguards freedom to protect the occupational interests of trade-union members by trade-union action“; vgl. auch Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 54. 12 Heringa/van Hoof, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 825. 13 Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 EMRK Rn. 13. 14 Vgl. etwa EGMR 6.2.1976 – App. 5614/72, Rn. 37 (Swedish Engine Drivers’ Union); EGMR 6.2.1976 – App. 5589/72, Rn. 33 (Schmidt and Dahlström); EGMR 21.2.2006 – App. 28602/95, Rn. 29 (Tüm Haber Sen and Cinar). Die Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK entfaltet dagegen keine unmittelbare Drittwirkung. Es gilt vielmehr die Lehre der „positive obligations“, der „positiven Schutzpflichten“ der Staaten vgl. Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf das deutsche Arbeitsrecht 2012, S. 4; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 85. 15 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 18 ff. 16 Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 85.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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oder Art. 28 GRC wird das Streikrecht allerdings nicht explizit erwähnt. In welchem Umfang grundsätzlich Kollektivmaßnahmen und im Besonderen auch spezielle Maßnahmen der Koalitionen, wie der Streik, mitumfasst sind, lässt sich alleine aus dem Wortlaut nicht erschließen und war bzw. ist folglich der Ausgestaltung durch die Konventionsorgane vorbehalten.17
II. Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Schutz der kollektiven Koalitionsrechte im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK 1. Die Anfänge der Rechtsprechung zu den kollektiven Koalitionsrechten Seit nunmehr knapp 40 Jahren befassen sich die Konventionsorgane und dabei in erster Linie der EGMR mit der Gewährleistung der kollektiven Koalitionsrechte im Rahmen der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK. Schon frühzeitig stellte der Gerichtshof fest, dass letztere nicht nur ein Abwehrrecht des Einzelnen bzw. des Kollektivs vor willkürlichen Eingriffen der Staatsgewalt in seine geschützten Rechte enthält. Vielmehr statuiert Art. 11 Abs. 1 EMRK zusätzlich positive Schutzpflichten des Staates, die Voraussetzungen für die uneingeschränkte Ausübung der insoweit geschützten Rechte sicherzustellen.18 In der Rechtssache National Union of Belgian Police führte der Gerichtshof erstmals zu der aus dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 EMRK („zum Schutz [ihrer] Interessen“) abgeleiteten Betätigungsfreiheit der Koalitionen aus: „These words, clearly denoting purpose, show that the Convention safeguards freedom to protect the occupational interests of trade union members by trade union action, the conduct and development of which the Contracting States must both permit and make possible. [. . .] What the Convention requires is that under national law trade unions should be enabled, in conditions not at variance with Article 11 (Art. 11), to strive for the protection of their members’ interests.“ 19
Demnach gewähre die Konvention die Freiheit, die beruflichen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder durch gewerkschaftliche Maßnahmen zu schützen und zu wahren. Dies müssten die Vertragsstaaten im Rahmen der Vorgaben des Art. 11 EMRK nicht nur erlauben, sondern gleichzeitig auch ermöglichen. Über die konkrete Bedeutung dieser Formel herrschte jedoch Uneinigkeit zwischen
17
Vgl. OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 896. EGMR 25.4.1996 – App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson): „Although the essential object of Article 11 (Art. 11) is to protect the individual against arbitrary interferences by the public authorities with his or her exercise of the rights protected, there may in addition be positive obligations to secure the effective enjoyment of these rights.“; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 542. 19 EGMR 27.10.1975 – App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police) (Hervorhebung durch Bearbeiter). 18
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
den Konventionsorganen. Die Mehrheit der seinerzeit noch bestehenden20 Menschenrechtskommission (EKMR) war in ihrem Bericht davon ausgegangen, dass für die Gewerkschaften ein umfassendes Konsultationsrecht21 gegenüber dem jeweiligen Arbeitgeber – gleich, ob dieser der Staat oder ein Privater sei – bestehe, sofern die Berufsangelegenheiten ihrer Mitglieder betroffen seien.22 Dieser Auffassung trat der Gerichtshof explizit entgegen und stellte fest, dass der breit gefasste Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 EMRK den Gewerkschaften und deren Mitgliedern keine bestimmte Behandlung durch den Staat, wie insbesondere das Recht, von ihm konsultiert zu werden, garantiere. Außerhalb der durch Art. 11 Abs. 1 EMRK explizit erwähnten Rechte bestünden speziellere Garantien lediglich dann, wenn alle Vertragsstaaten diese als Grundsatz ihrer Gesetzgebung oder innerstaatlichen Praxis eingeführt hätten oder sie für die wirksame Ausübung der Gewerkschaftsfreiheit unabdingbar seien.23 In Anwendung dieser restriktiven Auslegungsvorgaben aber unter gleichzeitiger Berücksichtigung der grundsätzlichen Gewährleistung von Kollektivmaßnahmen24 folgerte der Gerichtshof, dass die Mitglieder einer Gewerkschaft zum Schutz ihrer Interessen Anspruch darauf hätten, dass ihre Organisation gehört werde („[. . .] members of a trade union have a right, in order to protect their interests, that the trade union should be heard“). Dabei überlasse Art. 11 Abs. 1 EMRK den Vertragsstaaten die freie Wahl über die Mittel, die sie zur Gewährleistung dieses Rechts zur Verfügung stellen wollten.25 Dieses Verständnis des Schutzbereichs festigte der EGMR in den Folgeentscheidungen. Im Fall Swedish Engine Drivers’ Union weigerte sich das staatliche Büro für Tarifverhandlungen in Schweden über mehrere Jahre mit der betroffenen Lokomotivführergewerkschaft in Kollektivverhandlungen einzutreten und Kollektivverträge zu schließen, worin die Gewerkschaft eine Verletzung ihrer Kollektivrechte aus Art. 11 EMRK sah.26 Hintergrund war, dass die Arbeitsbedingungen der schwedischen Staatsbediensteten und damit ebenfalls der Lokomotivführer durch Kollektivverträge mit vier großen Gewerkschaftsverbänden 20 Die Menschenrechtskommission wurde durch das 11. Protokoll im Jahre 1998 abgeschafft und ihre Aufgaben – vor allem die Prüfung der Zulässigkeit von Beschwerden – auf den Gerichtshof übertragen, vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 6 Rn. 1. 21 Dieses hatte die belgische Polizeigewerkschaft zur Erfüllung ihrer Aufgaben gegenüber dem Staat beansprucht, vgl. EGMR 27.10.1975 – App. 4464/70, Rn. 34 (National Union of Belgian Police). 22 EKMR 27.5.1974 – App. 4464/70, Rn. 76 (National Union of Belgian Police). 23 EGMR 27.10.1975 – App. 4464/70, Rn. 38 (National Union of Belgian Police). Auffallend ist die Ähnlichkeit dieses Auslegungsansatzes mit der früher vom BVerfG vertretenen Kernbereichslehre im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG, vgl. unten Kapitel 3 A.I.1.a)bb). 24 Vgl. oben Fn. 19. 25 EGMR 27.10.1975 – App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police). 26 EGMR 6.2.1976 – App. 5614/72, Rn. 32 (Swedish Engine Drivers’ Union).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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geregelt wurden. Die betroffene Gewerkschaft war diesen nicht zugehörig, weshalb die vereinbarten Regelungen für ihre Mitglieder keine Anwendung fanden. Hierdurch wurde die Lokomotivführergewerkschaft erheblich in ihren Möglichkeiten, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten und zu schützen, beschränkt. Gleichwohl gingen die Richter nicht von einer Verletzung der Koalitionsrechte aus Art. 11 Abs. 1 EMRK aus und blieben damit abermals hinter der Auffassung der Mehrheit der EKMR27 zurück. Ein Recht der Gewerkschaften auf Abschluss eines bestimmten Kollektivvertrages mit dem Staat als Arbeitgeber sei nicht von Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst.28 Zur Verfolgung der gewerkschaftlichen Interessen sei einzig das Recht gehört zu werden unabdingbar und somit durch Art. 11 Abs. 1 EMRK garantiert. Um dieses sicherzustellen, sei das Aushandeln von Kollektivverträgen nur ein Mittel von vielen. Die Auswahl der Mittel unterliege allerdings dem Gestaltungspielraum der Vertragsstaaten.29 In der Rechtssache Gustafsson bestätigte der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung und betonte nochmals die Sensibilität und Unterschiedlichkeit der jeweilig involvierten vertragsstaatlichen Interessen und den daraus resultierenden Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Mittel zur Gewährleistung des Konventionsschutzes: „In view of the sensitive character of the social and political issues involved in achieving a proper balance between the competing interests [. . .] and the wide degree of divergence between the domestic systems in the particular area under consideration, the Contracting States should enjoy a wide margin of appreciation in their choice of the means to be employed.“ 30
Bemerkenswerterweise ging der Gerichtshof in keinem der vorgenannten Fälle von einem Eingriff in die Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK der Beschwerdeführer aus. Der Grund für diese Zurückhaltung ist wohl vorrangig in dem anfänglichen Verständnis bzw. der Einordnung der Konvention im Kontext der übrigen internationalen Vertragswerke zu Koalitions- und Gewerkschaftsrechten zu sehen. Wie eingangs des Kapitels bereits erwähnt, ist die positive Gewährleistung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte, insbesondere auch der Koalitionsfreiheit mitsamt ihren Teilgarantien, sowohl Regelungsgegenstand der Übereinkom27 Diese war in ihrem Bericht mehrheitlich davon ausgegangen, dass das Recht der Gewerkschaften auf Kollektivverhandlungen ein wesentliches Element der Koalitionsfreiheit sei. Gleichwohl leitete die Kommission hieraus keinen gewerkschaftlichen Anspruch auf Aufnahme von Kollektivverhandlungen gegen den jeweiligen Arbeitgeber ab. Art. 11 EMRK beinhalte lediglich ein Abwehrrecht gegen den Staat vor Eingriffen in bereits bestehende Verhandlungsmechanismen, EKMR 27.5.1974 – App. 4464/70, Rn. 77 (National Union of Belgian Police). 28 EGMR 6.2.1976 – App. 5614/72, Rn. 39 (Swedish Engine Drivers’ Union). 29 EGMR 6.2.1976 – App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union). 30 EGMR 25.4.1996 – App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
men der ILO als auch der ESC. Bezüglich der Positionierung der Konvention innerhalb dieses völkerrechtlichen Normenkanons bestanden für den Gerichtshof im Grundsatz zwei Möglichkeiten, welche wiederum unterschiedliche Folgen für die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK bedeuteten. Zum einen konnten die Richter die weiteren internationalen Rechtsquellen in ihrer jeweiligen Interpretation durch die zur Auslegung berufenen Organe ihrerseits zur Bestimmung des Schutzbereichs des Art. 11 Abs. 1 EMRK heranziehen.31 Andererseits ließen sich die Regelungswerke der ILO und der ESC als leges speciales für den Bereich der Koalitionsrechte verstehen, wodurch die Annahme einer Gewährleistung spezieller Arbeitnehmerrechte durch Art. 11 Abs. 1 EMRK aus systematischen Erwägungen ausschied. Der Gerichtshof entschied sich zunächst für die letztere Vorgehensweise. So berief er sich in seinen Entscheidungsgründen ausdrücklich auf Art. 6 ESC bzw. Art. 20 ESC, nach welchen es den Vertragsstaaten freigestellt sei, die jeweiligen besonderen Gewerkschaftsrechte anzuerkennen oder nicht. Nähme man nunmehr an, dass die bereits früher verabschiedete Menschenrechtskonvention in ihrem Art. 11 Abs. 1 diese Rechte bereits zwingend gewährleistete, so bedeutete dies eine rückschrittliche Rechtsentwicklung durch die jüngere Sozialcharta, da diese die Anerkennung der Rechte in das Gestaltungsermessen der Vertragsstaaten stellt.32 Demzufolge konnte ein Schutz spezieller Arbeitnehmerrechte durch die konventionsrechtliche Koalitionsfreiheit bis dato nicht angenommen werden. Im Ergebnis gestaltete der Gerichtshof den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK primär im Sinne eines Abwehrrechts der Koalitionen vor staatlichen freiheitverkürzenden Eingriffen aus und ging indessen davon aus, dass positive Gewährleistungspflichten der Vertragsstaaten nur insoweit bestünden, wie das jeweilige Recht für die Ausübung der Koalitionsfreiheit unabdingbar sei.33 Darüber hinaus entnahm er Art. 11 Abs. 1 EMRK keine speziellen Garantien für die Arbeitnehmer und deren Verbände.
31 Im Kontext der kollektiven Gewerkschafsrechte so bereits andeutungsweise in Wilson, National Union of Journalists (EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96, Rn. 30 ff., 48) und schließlich explizit in Demir und Baykara (EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 146 ff.). 32 EGMR 27.10.1975 – App. 4464/70, Rn. 38 (National Union of Belgian Police), EGMR 6.2.1976 – App. 5614/72, Rn. 39 (Swedish Engine Drivers’ Union), vgl. auch Seifert, KritV 2009, 357, 358; Schlachter, RdA 2011, 341, 344. In der rund 20 Jahre späteren Rechtssache Gustafsson wurde diese Auffassung allerdings von einigen Richtern schon nicht mehr geteilt, vgl. die abweichende Meinung der Richter Martens und Matcher (EGMR 25.4.1996 – App. 15573/89, Dissenting Opinion of Judge Martens Rn. 6 (Gustafsson). 33 Vgl. auch Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 501.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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2. Die Gewährleistung des Streikrechts als besondere Kollektivmaßnahme a) Die Streikrechtsgarantie im freien Gestaltungsermessen der Vertragsstaaten – Schmidt und Dahlström und National Association of Teachers in Further and Higher Education (NATFHE) Im Jahre 1976 befasste sich der EGMR in der Rechtssache Schmidt und Dahlström 34 erstmals mit der Gewährleistung des Streikrechts im Rahmen der Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK. Zugrunde gelegen hatte dem Urteil eine Beschwerde zweier schwedischer Staatsbediensteter gegen eine kollektivvertragliche Klausel, die nach Ansicht der Beschwerdeführer darauf abzielte, Gewerkschaftsmitglieder von der Teilnahme an Streikaktionen abzuhalten. Demzufolge sahen sie sich in ihren Rechten aus Art. 11 Abs. 1 EMRK verletzt, welcher als „organic right“ auch das Streikrecht umfasse.35 Der Gerichtshof schloss sich dieser Auffassung nicht an. Er wendete erneut die in National Union of Belgian Police und Swedish Engine Drivers’ Union entwickelten Grundsätze an, wonach Art. 11 Abs. 1 EMRK den Gewerkschaftsmitgliedern keine bestimmte Behandlung durch den Staat garantiere. Obgleich das Streikrecht ein wichtiges Mittel zur Interessenwahrnehmung darstelle, komme den Vertragsstaaten bei der Frage des „Wie“ der Gewährleistung der koalitionsspezifischen Betätigungsfreiheit ein weiter Gestaltungsspielraum zu.36 Wörtlich führten die Richter aus: „The grant of a right to strike represents without any doubt one of the most important of these means, but there are others. Such a right, which is not expressly enshrined in Article 11 (Art. 11), may be subject under national law to regulation of a kind that limits its exercise in certain instances.“ 37
Erneut lehnten die Richter bereits den Eingriff in ein durch Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgtes Recht ab, sodass es der Erwägung einer Rechtfertigung nach Abs. 2 nicht bedurfte. Dennoch wurden Ausführungen des Gerichtshofs zu den Einschränkungsmöglichkeiten des Streikrechts unter Hinweis auf die Vorgaben des Art. 11 EMRK („in conditions not at variance with Article 11“) sowie Art. 31 ESC 38 teilweise als erste Anzeichen der Anerkennung eines Streikrechts durch den EGMR gedeutet. Hendy etwa folgerte hieraus, dass mit guten Gründen angenommen werde könne, dass ein Verbot des Streikrechts außerhalb der von der EMRK vorgesehenen Schranken den Gestaltungsspielraum der Staaten überschreite, folglich also ein Streikrecht der Konvention grundsätzlich inhärent sei. Der völlige Ausschluss 34 35 36 37 38
EGMR 6.2.1976 – App. EGMR 6.2.1976 – App. EGMR 6.2.1976 – App. EGMR 6.2.1976 – App. EGMR 6.2.1976 – App.
5589/72 (Schmidt and Dahlström). 5589/72, Rn. 8 ff., 36 (Schmidt and Dahlström). 5589/72, Rn. 34 ff. (Schmidt and Dahlström). 5589/72, Rn. 36 (Schmidt and Dahlström). 5589/72, Rn. 36 (Schmidt and Dahlström).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
des Streikrechts sei demnach mit Art. 11 EMRK unvereinbar.39 Gleich ob man dieser Argumentation folgen wollte, ging der EGMR im vorliegenden Fall faktisch nicht von einem (rechtfertigungsbedürftigen) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 EMRK aus, obgleich eine für die Ausübung des Streikrechts offensichtlich repressiv wirkende Maßnahme in Rede stand. Eine tatsächliche Verbesserung des Streikrechtsschutzes konnte somit auch nach Schmidt und Dahlström nicht konstatiert werden. Dieser Befund wurde im Folgenden auch durch eine Entscheidung der Menschenrechtskommission in der Rechtssache National Association of Teachers in Further and Higher Education (NATFHE) bestätigt.40 So wies die Kommission die Beschwerde einer britischen Gewerkschaft gegen eine einstweilige Verfügung als unzulässig zurück, in der dieser die Durchführung geplanter Streikmaßnahmen untersagt wurde. Anlass der Verfügung war, dass die Gewerkschaft es unterlassen hatte, einer Regelung nachzukommen, nach welcher sowohl vor der Urabstimmung als auch vor der Durchführung der tatsächlichen Streikmaßnahme dem Arbeitgeber eine Liste mit den jeweils beteiligten Arbeitnehmern zukommen zu lassen war. Obschon die Verbotsverfügung und die zugrunde liegende Informationspflicht für die Gewerkschaft eine offensichtliche Einschränkung der freien Ausübung des Streikrechts darstellte, nahm die Kommission wiederum keinen Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK an.41 b) Das Streikrecht als Mittel gewerkschaftlicher Interessenverfolgung im System freiwilliger Kollektivverhandlungen aa) UNISON und Federation of Offshore Workers’ Trade Union Wenngleich die Beschwerdeführer in den vorstehenden Verfahren mit ihrem Rechtsschutzgesuch abgewiesen wurden,42 legte der Verweis des EGMR in Schmidt und Dahlström auf die Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 31 ESC – insbesondere auch wegen dessen Ähnlichkeit zu Art. 11 Abs. 2 EMRK – durchaus nahe, dass der Gerichtshof das Streikrecht nicht gänzlich außerhalb des Schutzbereichs des Art. 11 Abs. 1 EMRK stellen wollte.43 Hatten die Konven39 Hendy, EHRLR 1998, 582, 587; so auch Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 EMRK Rn. 18; Marauhn, RabelsZ 1999, 537, 547; a. A. Villinger, Handbuch der EMRK, S. 417 f. 40 EKMR 16.9.1998 – App. 28910/95 (NATFHE). 41 EKMR 16.9.1998 – App. 28910/95 (NATFHE). 42 So etwa auch in EGMR 9.11.2000 – App. 29529/95 (Schettini aO). 43 Auch die Kommission (EKMR 16.9.1998 – App. 28910/95 (NATFHE)) räumte ein, dass eine gesetzliche Verpflichtung der Gewerkschaften, die Namen der an Streikmaßnahmen beteiligten Mitglieder einer dritten Partei vorher offen zu legen, unter besonderen Umständen zu einem ungerechtfertigten Eingriff in das durch Art. 11 EMRK geschützte Recht auf Kollektivmaßnahmen führen kann.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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tionsorgane vorerst nur eine Gewährleistung des Streikrechts durch Art. 11 Abs. 1 EMRK unter besonderen Umständen angedeutet, so konkretisierte sich dieser Ansatz in den nachfolgenden Urteilen des Gerichtshofs. In der Rechtssache UNISON qualifizierten die Straßburger Richter erstmals eine nationale Beschränkung des Streikrechts in Großbritannien als Eingriff in die Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK.44 Erneut war einer Gewerkschaft durch einstweilige Verfügung eines nationalen Gerichts die Durchführung von Streikmaßnahmen untersagt worden. Durch den Streik sollte die zukünftige Sicherung von Belegschaftsrechten vor einem bevorstehenden Betriebsübergang gesichert werden. Der EGMR qualifizierte den geplanten Streik entgegen der Annahme des britischen Berufungsgerichts45 als dem Schutz der beruflichen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder dienend im Sinne des Anwendungsbereichs des Art. 11 Abs. 1 EMRK46 und führte hierzu aus: „The Court further considers that the prohibition of the strike must be regarded as a restriction on the applicant’s power to protect those interests and therefore discloses a restriction on the freedom of association guaranteed under the first paragraph.“ 47
Den festgestellten Eingriff unterzog der Gerichtshof im Folgenden der Prüfung der Vereinbarkeit mit den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK48 und kam im Zuge dessen zu einer Rechtfertigung des Streikverbots. Dabei begnügten sich die Richter damit, dass das Verbot den wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers und somit dem „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ als legitimem Ziel im Sinne des Art. 11 Abs. 2 EMRK diente und sahen die Maßnahme insoweit als verhältnismäßig und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ an. Die Gewerkschaft und ihre Mitglieder hätten immer noch die Möglichkeit, mit den neuen Arbeitgebern neue Kollektivvereinbarungen zu vereinbaren und diese mit wirkungsvollen Streikaktionen zu unterstützen.49
44
EGMR 10.1.2002 – App. 53574/99, S. 11 (UNISON). Die britischen Richter hatten sich auf den Standpunkt gestellt, dass der Streik insofern nicht die beruflichen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder verfolge, als dass es sich (wegen des bevorstehenden Betriebsübergangs) um die Rechte einer noch unbestimmten Gruppe von Individuen handele, die zukünftig von einem noch unbestimmten Arbeitgeber angestellt würde. 46 EGMR 10.1.2002 – App. 53574/99, S. 10 f. (UNISON). 47 EGMR 10.1.2002 – App. 53574/99, S. 11 (UNISON). 48 „[. . .] namely whether it was ,prescribed by law‘, pursued one or more legitimate aims under paragraph 2 and was ,necessary in a democratic society‘ for the achievement of those aims“ (EGMR 10.1.2002 – App. 53574/99, S. 11 (UNISON)). Entgegen der Annahme des OVG Münster (7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 896) wendete der Gerichtshof also erstmals in UNISON die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK an und nicht in Wilson, National Union of Journalists (EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96). In letzterem Urteil verzichtete der Gerichtshof vielmehr gänzlich auf Rechtfertigungserwägungen, vgl. unten Kapitel 2 A.II.2.b)bb). 49 EGMR 10.1.2002 – App. 53574/99, S. 12 f. (UNISON). 45
46
Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Trotz dieser sehr weit gefassten Rechtfertigungsbegründung blieb nach UNISON festzuhalten, dass der Gerichtshof das Streikrecht als spezielles Mittel der gewerkschaftlichen Interessenverfolgung erstmals dem Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK unterstellte und somit – anders als in den vorangegangenen Entscheidungen – die nationale Beschränkungsmaßnahme an den Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK überprüfte. Zwar sah sich die praktische Handhabung dieser Prüfung mitunter berechtigter Kritik ausgesetzt, da die von den Richtern angelegten Maßstäbe wohl zur Rechtfertigung nahezu jedes Eingriffs ausgereicht hätten.50 Gleichwohl erhielten nationale streikrechtsbegrenzende Maßnahmen fortan ein festes konventionsrechtliches Prüfungsprogramm nach Art. 11 Abs. 2 EMRK.51 Fraglich blieb, ob der EGMR seine Rechtsprechung zu den Anforderungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK verschärfen würde, da sich anderenfalls für das konventionsrechtliche Schutzniveau des Streikrechts faktisch keine Verbesserung eingestellt hätte. Die wenig später folgende Entscheidung im Fall Federation of Offshore Workers’ Trade Union (OFS)52 konnte in diesem Punkt vorerst keine Klarheit schaffen. Gegenstand war eine Verordnung der norwegischen Regierung, durch welche die an Kollektivverhandlungen in der Öl- und Gasindustrie beteiligten Streitparteien der Zwangsschlichtung unterworfen wurden, mit welcher gleichzeitig ein Verbot von Streikmaßnahmen verbunden war.53 Der Gerichtshof wertete das Streikverbot erneut als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK.54 Im Rahmen der Rechtfertigung bzw. der Frage nach der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft betonte er zwar
50 Hendy/Ewing (ILJ 2010, 1, 12) wiesen zu Recht kritisch darauf hin, dass Streikmaßnahmen notwendigerweise mit den wirtschaftlichen Interessen der Gegenseite kollidieren. 51 Bröhmer (in: EMRK/GG, Kap. 19 Rn. 108) spricht insoweit von einem flexibleren neuen Ansatz des Gerichtshofs, welcher aufgrund der durchaus passenden Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 11 Abs. 2 EMRK auch überzeugender gewesen sei als die restriktive Haltung der Vorentscheidungen. 52 EGMR 27.6.2002 – App. 38190/97 (OFS). 53 EGMR 27.6.2002 – App. 38190/97, S. 4 (OFS). 54 Die Ausführungen des EGMR (27.6.2002 – App. 38190/97, S. 15 (OFS)) in diesem Punkt waren allerdings nicht stringent. Zum einen wiederholten die Richter, dass das (in Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht explizit erwähnte) Streikrecht eines der wichtigsten Mittel der gewerkschaftlichen Interessenwahrnehmung sei, es aber gleichwohl auch andere Mittel gäbe und die Vertragsstaaten insoweit einen Gestaltungsspielraum hätten. Hieraus folgerten sie, dass von den Staaten vorgenommene Einschränkungen des Streikrechts nicht per se auch konventionsrechtliche Relevanz im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EMRK hätten. Andererseits nahmen sie diese Feststellung nicht zum Anlass, im zugrundeliegenden Fall sorgfältig zu prüfen, ob das angeordnete Streikverbot dem Schutzbereich der Konvention unterfiel, sondern stellten schlicht fest, dass die Anordnung der Regierung einen Eingriff in die durch Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützten Rechte darstellte.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
47
erneut den weiten Ermessensspielraum der Vertragsstaaten, stellte jedoch gleichzeitig fest, dass auch dieser nicht uneingeschränkt bestehe und gerichtlich überprüfbar sei: „In assessing whether such a ,need‘ exists and what measures should be adopted to deal with it, the national authorities have a wide margin of appreciation in the area under consideration (on this point, see the Gustafsson v. Sweden judgment of 25 April 1996, Reports 1996-II, § 45; and, mutatis mutandis, the above-mentioned Schmidt and Dahlström judgment, § 36). This power of appreciation is not, however, unlimited but goes hand in hand with a European supervision by the Court, whose task it is to give a final ruling on whether a restriction is reconcilable with freedom of association as protected by Article 11.“ 55
In Fortsetzung des in UNISON entwickelten Ansatzes bewertete der Gerichtshof zwar die Zulässigkeit der Streikverbotsverordnung anhand der Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK.56 Aufgrund der desaströsen Folgen einer andauernden Arbeitsniederlegung in der Öl- und Gasindustrie sowohl im Hinblick auf die wirtschaftliche Schädigung der Arbeitgeber als auch die allgemeine Versorgungslage der betroffenen Haushalte, sah er sich jedoch nicht veranlasst, auf Einzelheiten zu den dabei anzulegenden Maßstäben näher einzugehen.57 Es bleibt nach UNISON und OFS schließlich festzuhalten, dass der Gerichtshof einen ersten Schritt in Richtung Anerkennung eines Streikrechts der Gewerkschaften im Rahmen ihrer konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit machte. Zwar lehnte er die abstrakte Gewährleistung des Streikrechts weiterhin ab, sah jedoch gleichzeitig den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK dann als eröffnet an, wenn sich eine durch die Vertragsstaaten verhängte oder gebilligte Beschränkung des Streikrechts nachteilig auf die effektive Interessenwahrnehmung der Arbeitnehmer auswirkte. Hierdurch bestärkten die Straßburger Richter all jene Stimmen, die das Streikrecht als notwendiges Element einer effektiven Interessenverfolgung durch die Arbeitnehmerschaft und somit ebenfalls als vom Schutz der Konvention mitumfasst betrachteten.58
55
EGMR 27.6.2002 – App. 38190/97, S. 16 (OFS). Entsprechend verschiebt sich – wie auch der Verweis auf Gustafsson und mutatis mutandis auf Schmidt und Dahlström zeigt – der Aspekt des zu berücksichtigenden Gestaltungsspielraums der Vertragsstaaten nunmehr auf die Ebene der „Verhältnismäßigkeit“ der jeweiligen Maßnahmen. 57 EGMR 27.6.2002 – App. 38190/97, S. 17 (OFS). 58 Vgl. etwa Hendy/Ewing, ILJ 2010, 1, 12. Die seinerzeit herrschende Meinung allerdings interpretierte die Rechtsprechung des EGMR (weiterhin) so, dass es den Gewerkschaften durch Art. 11 Abs. 1 EMRK zwar eingeräumt werde, zur Verfolgung der Interessen ihrer Mitglieder zu kämpfen, dabei jedoch kein spezielles Mittel der Interessenverfolgung garantiert sei, Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 54 m.w. Nw. 56
48
Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
bb) Wilson, National Union of Journalists In der nachfolgenden Rechtssache Wilson, National Union of Journalists betonte der Gerichtshof eher beiläufig die Bedeutung des Streiks als gewerkschaftliche Maßnahme im System freiwilliger Kollektivverhandlungen: „The Court agrees [. . .] that the essence of a voluntary system of collective bargaining is that it must be possible for a trade union which is not recognised by an employer to take steps including, if necessary, organising industrial action, with a view to persuading the employer to enter into collective bargaining with it on those issues which the union believes are important for its members’ interests“.59
Konkreter als in den vorherigen Entscheidungen60 stellten die Richter heraus, dass das Streikrecht eine wesentliche Funktionskomponente in einem System freiwilliger Kollektivverhandlungen darstelle und etablierten damit eine neue Begründungsperspektive für den konventionsrechtlichen Schutz des Streikrechts.61 Bemerkenswert ist, dass sie zwar darauf verzichteten, ausdrücklich von einem Gewerkschaftsrecht auf Kollektivverhandlungen zu sprechen. Gleichwohl sahen sie den betroffenen Vertragsstaat dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass es den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern stets möglich sei, repräsentiert durch ihre Gewerkschaft, die Arbeitsbeziehungen zu ihrem Arbeitgeber zu regeln.62 Zumindest „zwischen den Zeilen“ deutete der Gerichtshof bereits an, dass auch das Recht auf Kollektivverhandlungen dem Schutz des Art. 11 Abs. 1 EMRK unterfallen sollte.63 Methodisch erfolgte die Urteilsbegründung in Wilson, National Union of Journalists erstmalig durch eine Interpretation der Konventionsgarantien unter vergleichender Betrachtung – und nicht in Abgrenzung zu – der ESC (Art. 5 und 6) 59 EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96, Rn. 46 (Wilson, National Union of Journalists aO) (Hervorhebung durch Bearbeiter). 60 Einzig in OFS (EGMR 27.6.2002 – App. 38190/97, S. 15) hatte der Gerichtshof diesen Aspekt einmal explizit erwähnt. 61 Bröhmer (in EMRK/GG, Kap. 19, Rn. 108) führt aus, der Gerichtshof habe „zwar nicht das Streikrecht als abstraktes Recht anerkannt, aber das Recht zu streiken, wenn es um die effektive Interessenwahrnehmung geht“. An diesen Begründungsansatz knüpfte der Gerichtshof etwa in dem nachfolgenden Urteil in der Sache Enerji Yapi-Yol Sen (EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01) an, vgl. unten Kapitel 2 A.II.4.b). 62 EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96, Rn. 44 (Wilson, National Union of Journalists aO): „However, the Court has consistently held that although collective bargaining may be one of the ways by which trade unions may be enabled to protect their members’ interests, it is not indispensable for the effective enjoyment of trade union freedom. [. . .] The Court has not yet been prepared to hold that the freedom of a trade union to make its voice heard extends to imposing on an employer an obligation to recognise a trade union. The union and its members must however be free, in one way or another [compulsory collective bargaining or strike action], to seek to persuade the employer to listen to what it has to say on behalf of its members.“ 63 Seifert, KritV 2009, 357, 358.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
49
sowie der einschlägigen Übereinkommen der ILO (Nr. 87 und 98), insbesondere einschließlich der entsprechenden Stellungnahmen des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte64 und des Sachverständigenausschusses der ILO: „The Court notes that this aspect of domestic law has been the subject of criticism by the Social Charter’s Committee of Independent Experts and the ILO’s Committee on Freedom of Association (see paragraphs 32–33 and 37 above)“.65
Diese eher beiläufig wirkende Feststellung stand über das konkrete Urteil hinaus in einem breiteren Kontext. Sie zeugte von einem neuen Verständnis des Verhältnisses der Rechtsschutzsysteme der ESC sowie der Übereinkommen der ILO auf der einen Seite und den Garantien der Konvention auf der anderen Seite.66 So begriff der Gerichtshof, anders als noch in den Anfängen seiner Rechtsprechung,67 die sonstigen „speziellen“ völkerrechtlichen Schutznormen sozialer Rechte nicht länger als leges speciales und demzufolge als Begrenzung der Konventionsgarantien. Vielmehr wandelte sich dieses Verständnis in Richtung einer Rechtserkenntnisquelle für die ursprünglich ausschließlich als Freiheitsgarantien verstandenen Konventionsrechte. Auf diesem Wege verschaffte der Gerichtshof verstärkt auch sozialen Rechten Zugang zum Geltungsbereich der EMRK, wodurch deren Bedeutungsgehalt erheblich erweitert wurde.68 3. Die methodische Neuausrichtung der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK – Demir und Baykara Hatte der Gerichtshof im Jahre 2002 in der Sache Wilson, National Union of Journalists lediglich beiläufig andere völkerrechtliche Rechtsschutzsysteme sowie die entsprechende Spruchpraxis der zuständigen Sachverständigenausschüsse in Bezug genommen, so wurde dieser Auslegungsansatz in der jüngeren Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit zur Grundlage für weitreichende Erweiterungen des Schutzumfangs des Art. 11 Abs. 1 EMRK. Ausgangspunkt war das insbeson64 65
Vgl. zu Zusammensetzung und Aufgaben des Ausschusses Art. 24–26 ESC. EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96, Rn. 48 (Wilson, National Union of Journalists
aO). 66 Vgl. auch EGMR 27.2.2007 – App. 11002/05, Rn. 38 (Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF)). 67 Kapitel 2 A.II.1. 68 Den Ausgangspunkt für diese Rechtsprechungsentwicklung legte der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Airey (EGMR 9.10.1979, App. 6289/73, Rn. 26): „Whilst the Convention sets forth what are essentially civil and political rights, many of them have implications of a social or economic nature. The Court therefore considers, like the Commission, that the mere fact that an interpretation of the Convention may extend into the sphere of social and economic rights should not be a decisive factor against such an interpretation; there is no water-tight division separating that sphere from the field covered by the Convention.“
50
Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
dere im Hinblick auf seine Begründung revolutionäre Urteil der Straßburger Richter in der Rechtssache Demir und Baykara.69 Im zugrundeliegenden Fall ging es um die konventionsrechtliche Zulässigkeit eines seinerzeit in der Türkei bestehenden Verbots der Gründung von Gewerkschaften für Angehörige des öffentlichen Diensts70 sowie die darauf gestützte rückwirkende Nichtigkeitserklärung eines Kollektivvertrags zwischen einer Gemeinde und einer Gewerkschaft der dort beschäftigten Gemeindebediensteten. Nachdem der türkische Kassationsgerichtshof in zweiter Instanz den Kollektivvertrag aufgrund der rückwirkenden Aberkennung der Rechtsfähigkeit der Gewerkschaft für unwirksam erklärt hatte,71 wendeten sich die Beschwerdeführer im Jahre 1996 mit ihrem Rechtsschutzgesuch an die Menschenrechtskommission und rügten hierin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 11 und Art. 11 i.V. m. Art. 14 EMRK. Die Zweite Sektion des EGMR entschied rund 10 Jahre später am 21. November 2006 einstimmig, dass Art. 11 EMRK verletzt worden sei.72 Daraufhin beantragte die türkische Regierung die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des Gerichtshofs gemäß Art. 43 EMRK. Diese entschied ebenfalls einstimmig und unter Ausweitung der Urteilsgründe der Zweiten Sektion73 mit Urteil vom 12. November 2008 erneut auf eine Verletzung des Art. 11 EMRK.74 Dabei unterschieden die Straßburger Richter in beiden Entscheidungen zwischen der Gewährleistung des Rechts auf Gründung einer Gewerkschaft, auch für „Angehörige der Staatsverwaltung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK, auf der einen Seite und der Garantie eines Rechts auf Kollektivverhand69 EGMR [2. Section] 21.11.2006 – App. 34503/97; EGMR [Grand Chamber] 12.11.2008 – App. 34503/97 (Demir and Baykara). 70 In den amtlichen Fassungen des Urteils in englischer und französischer Sprache werden die Begriffe „civil servants“ bzw. „fonctionnaires“ verwendet. Im Hinblick auf die deutsche Übersetzung dieser Begriffe mit Angehörige des öffentlichen Dienstes oder Beamte bestehen unterschiedliche Auffassungen, vgl. unten Kapitel 2 A.II.4.b)cc). Vorerst wird, ohne Wertung, der weiter gefasste und damit neutralere Begriff der Angehörigen des öffentlichen Dienstes verwendet, so auch die Übersetzung von Meyer-Ladewig, Petzold, NZA 2010, 1425 ff. 71 Das Verbot der Gründung von Gewerkschaften und Führung von Kollektivverhandlungen wurde aus der fehlenden positiven Normierung eines entsprechenden Rechts der Angehörigen des öffentlichen Dienstes abgeleitet, da Art. 128 der Türkischen Verfassung statuierte, dass alle Rechte dieser Gruppe gesetzlich garantiert sein müssen, vgl. EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 34 (Demir and Baykara). Dies wurde mittlerweile durch Anpassung der Art. 53 und 128 der Türkischen Verfassung geändert. 72 EGMR [2. Section] 21.11.2006 – App. 34503/97, Rn. 46 (Demir and Baykara). 73 Obschon die Richter in beiden Urteilen zum gleichen Ergebnis kamen, waren weder die dezidierten Ausführungen über die grundsätzliche Bedeutsamkeit internationalen Rechts bei der Auslegung der Konvention (dazu sogleich) noch die darauf fußende allgemeine abstrakte Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen innerhalb des Schutzspektrums des Art. 11 Abs. 1 EMRK Inhalt der Urteilsgründe des Richterspruchs der zweiten Sektion vom 21.11.2006. 74 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 170 (Demir and Baykara).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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lungen im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK allgemein und im Speziellen wiederum für die „Angehörigen der Staatsverwaltung“ auf der anderen Seite. Diesen Fragen stellte die Große Kammer eine wegweisende Neuausrichtung der Auslegungsmethodik zur Bestimmung des Inhalts der Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK voran. a) Die evolutive Interpretation75 des Art. 11 EMRK unter Rezeption des internationalen Arbeitsrechts Der Gerichtshof nahm die erneute Entscheidungsbefugnis der Großen Kammer zum Anlass, das methodische Fundament für die Auslegung des Gewährleistungsumfangs der Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK neu zu definieren. Hatten die Richter der Zweiten Sektion in Wilson, National Union of Journalists76 und dem ersten Urteil zu Demir und Baykara77 die sonstigen völkerrechtlichen Bestimmungen – insbesondere die Regelungen der ESC und der ILO – lediglich als Abwägungskriterien bei der Rechtfertigungsprüfung im Einzelfall herangezogen, so etablierten sie nunmehr die neben der Konvention bestehenden internationalen Arbeitsrechtsnormen in ihrer Auslegung durch die zuständigen Institutionen als allgemeine Maßstäbe bei der Auslegung des Schutzumfangs der Konventionsrechte.78 Nach den Ausführungen des Gerichts sollen bei der Bestimmung von Begriffen und Formulierungen der Konvention zwar vorrangig weiterhin die allgemeinen Auslegungsregeln für völkerrechtliche Übereinkommen nach Art. 31–33 WVK gelten. Gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK müsse der Gerichtshof dabei allerdings über die konkreten Vorschriften der Konvention hinaus auch alle Regeln und Grundsätze des Völkerrechts berücksichtigen, die zwischen den Vertragsstaaten gelten. Die Konvention sei als „lebendiges Instrument“ („living nature of the convention“) im Lichte der gegenwärtigen Verhältnisse und unter Berücksichtigung der sich entwickelnden Normen des nationalen und internationalen Rechts auszulegen.79 Wörtlich führten die Richter aus:
75 76
Zum Begriffsverständnis vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 12 ff. EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96, Rn. 48 (Wilson, National Union of Journalists
aO). 77
EGMR [2. Section] 21.11.2006 – App. 34503/97, Rn. 44 ff. (Demir and Baykara). EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 60 ff., 85 f. (Demir and Baykara). Diese dynamische Anpassung der Konventionsvorschriften unter Heranziehung anderer internationaler Rechtsquellen ist eine durchaus übliche Auslegungsmethodik des Gerichtshofs, vgl. etwa EGMR 13.6.1979 – App. 6833/74, Rn. 58 (Marckx); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 8 ff.; Schlachter, RdA 2011, 341, 345. 79 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 67 f. (Demir and Baykara). Flauss (AJDA 2010 (66), 997) spricht insoweit von der „méthodologie d’interprétation ,globalisée‘ de la Convention“. Wedl (DRdA 2009, 458, 461) bezeichnet die Vorgehensweise des Gerichts als „internationalistische Methode“. 78
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts „The Court, in defining the meaning of terms and notions in the text of the Convention, can and must take into account elements of international law other than the Convention, the interpretation of such elements by competent organs, and the practice of European States reflecting their common values.“ 80
Die gebotene Berücksichtigung anderer völkerrechtlicher Vereinbarungen und Grundsätze sowie der entsprechenden Auslegung durch die zuständigen Spruchkörper soll zudem unabhängig davon gelten, ob der beklagte Staat die Vereinbarungen ratifiziert hat oder nicht. Vielmehr genüge es, „dass die einschlägigen internationalen Vorschriften und Grundsätze des Völkerrechts oder des staatlichen Rechts der Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats zeigen und beweisen, dass bei einer bestimmten Frage eine übereinstimmende Auffassung der modernen Gesellschaft besteht [. . .]“ 81. Gesucht wurde somit ein gemeinsamer Konsens, zur Bestimmung dessen der Gerichtshof sowohl weltweit geltende Rechtsinstrumentarien („universal instruments“ 82) als auch regional-europäische Völkerrechtsvereinbarungen („european instruments“ 83) heranzog. Konkret beriefen sich die Richter für die Herleitung der in Frage stehenden Rechte der Gemeindebediensteten auf Art. 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)84 sowie Art. 8 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR).85 Weiterhin zogen sie die ILO-Übereinkommen Nr. 87 (Art. 2), 98 (Art. 4, 5 und 6) und 151 (Art. 1 und 7) heran.86 Aus dem Normenkanon der europäischen Völkerrechtsvereinbarungen verwies der Gerichtshof auf Art. 5 und 6 ESC sowie auf Art. 12 und 28 GRC.87 Schließlich müsse auch ein sich aus einer gleichlaufenden Praxis der europäischen Vertragsstaaten ergebender Konsens bei der Bestimmung der Konventionsgarantien Berücksichtigung finden.88 Auf der Grundlage dieses erweiterten Auslegungskontexts beschäftigte sich der Gerichtshof in den nachfolgenden Teilen der Urteilsbegründung mit der Gewährleistung eines Rechts der türkischen Gemeindebediensteten auf Gründung einer Gewerkschaft89 und auf das Führen von Kollektivverhandlungen90 durch 80
EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 85 (Demir and Baykara). EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, NZA 2010, 1425, 1428 (Demir and Baykara). Zur Kritik an dieser Vorgehensweise vgl. unten Kapitel 2 B.I.2. 82 Hierbei handelt es sich um völkerrechtliche Vereinbarungen unter dem Dach der Vereinten Nationen, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 37 ff. (Demir and Baykara). 83 Gemeint sind sowohl innerhalb des Europarats als auch innerhalb der EU geltende Regelungswerke, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 45 (Demir and Baykara). 84 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 40, 99 (Demir and Baykara). 85 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 41, 99 (Demir and Baykara). 86 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 37, 42 ff. (Demir and Baykara). 87 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 45 ff. (Demir and Baykara). 88 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 85 (Demir and Baykara). 89 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 87 ff. (Demir and Baykara). 81
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Art. 11 Abs. 1 EMRK sowie mit der jeweiligen Zulässigkeit nationaler Beschränkungen gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK. b) Die Ausweitung des Schutzumfangs der Koalitionsfreiheit – das Recht auf Kollektivverhandlungen aa) Vorfrage: Anwendbarkeit der Schutzgarantie der Koalitionsfreiheit auf „Angehörige der Staatsverwaltung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Gegenstand des Verfahrens war zunächst die Frage, ob die Gemeindebediensteten in ihrem Recht auf Gewerkschaftsgründung verletzt wurden. Bedeutsamer als die Bewertung des konkreten Falles, ist für die vorliegende Untersuchung allerdings die durch das Gericht behandelte Vorfrage zum Bestehen bzw. der möglichen Einschränkbarkeit eines solchen Rechts für „Angehörige der Staatsverwaltung“ nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK im Allgemeinen.91 So hatte die türkische Regierung eingewendet, Art. 11 EMRK sei ratione materiae nicht auf die Angehörigen des türkischen öffentlichen Diensts anwendbar, da diese in einem gesetzlich ausgestalteten Beschäftigungsverhältnis stünden, welches sie – im Vergleich zu Arbeitnehmern des Privatsektors – zu besonderer Loyalität im Hinblick auf die Erfüllung der ihnen übertragenen spezifischen Aufgaben verpflichte.92 Diese Auffassung wies der EGMR zurück und stellte fest, dass die „Angehörigen der Staatsverwaltung“ keineswegs gänzlich aus dem Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK ausgenommen sind.93 Allerdings könnten ihre 90
EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 128 ff. (Demir and Baykara). Der EGMR (12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 97 (Demir and Baykara)) stellt ausdrücklich fest: „that municipal civil servants, who are not engaged in the administration of the State as such, cannot in principle be treated as ,members of the administration of the State‘ and, accordingly, be subjected on that basis to a limitation of their right to organise and to form trade unions (see, mutatis mutandis, Tüm Haber Sen and Cnar, cited above, §§ 35–40 and 50).“ Gleichwohl begründet er auch darüber hinaus noch anhand allgemeiner Erwägungen die Zurückweisung des Einwands der türkischen Regierung, die Beschwerde sei ratione materiae unvereinbar mit den Vorschriften der Konvention, da Art. 11 Abs. 1 EMRK für „Angehörige der Staatsverwaltung“ nicht gelte. 92 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 89 ff. (Demir and Baykara). Bereits in Metin Turan (EGMR 14.11.2006 – App. 20868/02, Rn. 17) sowie in Karacay (EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 20) hatte die türkische Regierung diesen Einwand vorgetragen. 93 Dies entsprach vom Ergebnis her der gefestigten Diktion des Gerichtshofs, vgl. oben Kapitel 2 A.II. Die Begründung und nähere Ausdifferenzierung erfolgte dabei jedoch erstmalig mit Hilfe der Rezeption des übrigen internationalen Arbeitsrechts. Vgl. auch van Drooghenbroeck, RTDH 2009 (79), 811, 814. In einer späteren Entscheidung in der Sache Sindicatul Pastorul Cel Bun (EGMR 9.7.2013 – App. 2330/09, Rn. 140 ff.) stellte die Große Kammer – ebenso mit Verweis auf die Auslegungsmethodik in Demir und Baykara – fest, dass auch Priester der Römisch Orthodoxen Kirche, trotz ihrer Zugehörigkeit zum Klerus bzw. der Geistlichkeit, unter den Schutzbereich 91
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Rechte94 Einschränkungen unterworfen werden. Diese müssten zum einen eng gefasst sein und sich zum anderen auf die Ausübung der in Frage stehenden Rechte beschränken.95 Dabei dürften sie die Vereinigungsfreiheit in ihrem Wesensgehalt nicht antasten.96 Diese Anwendung der Konventionsvorschriften wurde nach Ansicht der Richter bestätigt durch die Mehrheit der relevanten internationalen Normen.97 Konkret nahmen sie dabei Bezug auf den mit Art. 11 Abs. 2 EMRK nahezu wortgleichen Art. 22 IPBPR sowie auf Art. 8 Abs. 2 IPWSKR, welcher ebenfalls besondere Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige der Staatsverwaltung erlaubt. Ohne nähere Einlassungen zu diesen Regelungen verwiesen sie nachfolgend besonders auf Art. 2 des ILO-Übereinkommens Nr. 87, welcher unterschiedslos allen Arbeitnehmern das Recht einräumt, sich zu organisieren. Gleichzeitig wurde die Auslegung durch den ILO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit und den ILOSachverständigenausschuss in Bezug genommen, nach welcher die einzig zulässigen Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit solche für die Streitkräfte und die Polizei sind.98 Eine ähnliche Aussage entnahm der EGMR auch Art. 5 ESC, welcher ebenfalls partielle nationale Beschränkungsmöglichkeiten der Vereinigungsfreiheit nur für Angehörige der Streitkräfte und der Polizei, nicht aber für sonstige Mitglieder der Staatsverwaltung, vorsehe. Zusätzlich wurde eine Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats99 zum Status der öffentlich Bediensteten in Europa angeführt, nach welcher letzteren im Grundsatz die gleichen Rechte zuteilwerden sollten, wie allen anderen Bürgern mit Ausnahme angemessener gesetzlicher Beschränkungen zur Sicherstellung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben.100 Schließlich arbeitete der EGMR nach einem kurzen Verweis auf Art. 12 Abs. 1 GRC, welcher ebenfalls für jedermann das Recht auf Gewerkschaftsgründung statuiert, heraus, dass die vorstehenden Erkenntnisse auch der nationalen Praxis der europäischen Mitgliedsstaaten entsprächen. Diese ge-
des Art. 11 Abs. 1 EMRK fallen. Gleiches gelte für kirchliche „Laienarbeitnehmer“ (EGMR 9.7.2013 – App. 2330/09, Rn. 143 ff. (Sindicatul Pastorul Cel Bun). 94 Ebenso wie die Rechte der „Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei“ gemäß Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK. 95 Dies führt dazu, dass den Vertragsstaaten bei der Bewertung der Frage, ob die jeweilige Beschränkung im Einzelfall „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, nur ein eingeschränkter Beurteilungsspielraum zukommt, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 119 (Demir and Baykara). 96 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 97, 107 (Demir and Baykara); so auch bereits EGMR 21.2.2006 – App. 28602/95, Rn. 35 (Tüm Haber Sen and Cinar). 97 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 98 ff. (Demir and Baykara). 98 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 38 ff., 100 ff. (Demir and Baykara). Zum personellen Anwendungsbereich des Art. 2 ILO-Übereinkommen Nr. 87 mit Blick auf Beamte vgl. Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 148. 99 R (2000) 6. 100 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 103 f. (Demir and Baykara).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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währleisteten im Grundsatz allesamt das Recht auf gewerkschaftlichen Zusammenschluss der Angehörigen des öffentlichen Diensts und dies unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse.101 Zusammenfassend hielt der Gerichtshof fest: „The Court concludes from this that ,members of the administration of the State‘ cannot be excluded from the scope of Article 11. At most the national authorities are entitled to impose ,lawful restrictions‘ on those members, in accordance with Article 11 § 2.“ 102
In Anwendung dieser Grundsätze wertete der EGMR die rückwirkende Aberkennung der Rechtsfähigkeit der Gewerkschaft durch den türkischen Kassationsgerichtshof als Eingriff in die durch Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgten Koalitionsrechte.103 In der sich anschließenden Rechtfertigungsprüfung verwiesen die Richter in ihrer Abwägung im Rahmen der Frage nach der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft erneut auf das internationale Arbeitsrecht. Zum einen wiederholten sie in diesem Zusammenhang die Feststellungen zur grundsätzlichen Gewährleistung des Rechts zur Gründung von Gewerkschaften für Angehörige des öffentlichen Diensts nach den vorstehend aufgezeigten internationalen arbeitsrechtlichen Grundsätzen. Zum anderen hoben sie hervor, dass die Türkei zum damaligen Zeitpunkt bereits an die insoweit maßgeblichen internationalen Normen des ILO-Übereinkommens Nr. 87 gebunden gewesen sei. Im Ergebnis sah der Gerichtshof den Eingriff damit als nicht gerechtfertigt an.104 bb) Das Recht auf Kollektivverhandlungen Nach den Einlassungen zu der Auslegungsmethodik sowie der Feststellung der Verletzung des Rechts der Gemeindebediensteten auf Gewerkschaftsgründung befasste sich der Gerichtshof im Schwerpunkt der Urteilsgründe mit der Nichtigkeitserklärung des streitgegenständlichen Kollektivvertrags durch den türkischen Kassationsgerichtshof.105 Dies nahm er zum Anlass, sich grundsätzlich mit der Gewährleistung des Rechts auf Kollektivverhandlungen als speziellem Mittel gewerkschaftlicher Interessenverfolgung auseinanderzusetzen. Hierdurch ebnete er letztlich, zusammen mit der Methode evolutiver Konventionsauslegung, den Weg 101
EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 48, 106 (Demir and Baykara). EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 107 (Demir and Baykara). 103 Gleichzeitig weisen die Richter drauf hin, dass auch die fehlende Gewährleistung eines entsprechenden Rechts auf Gewerkschaftsgründung eine konventionsrechtlich relevante Verletzung der den Vertragsstaaten obliegenden positiven Schutzpflichten aus Art. 11 EMRK darstellt, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 116 (Demir and Baykara). 104 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 119 ff. (Demir and Baykara). 105 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 128 ff. (Demir and Baykara). 102
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
zur späteren Anerkennung der konventionsrechtlichen Garantie eines Streikrechts. Hatten die Straßburger Richter in der Vergangenheit vermehrt auf die Wichtigkeit von Kollektivmaßnahmen als Funktionskomponente in einem System freiwilliger Tarifverhandlungen hingewiesen,106 so lag die Annahme nahe, dass eine Grundsatzentscheidung zum Bestehen eines Rechts auf Kollektivverhandlungen ebenfalls Orientierungswirkung für die Frage nach der Gewährleistung eines Streikrechts haben würde.107 In seinen Erwägungen zum Gewerkschaftsrecht auf Kollektivverhandlungen ging der Gerichtshof weit über die Urteilsgründe des Urteils der 2. Sektion hinaus. Diese hatte die rückwirkende Nichtigerklärung des Kollektivvertrags zwar im Ergebnis ebenfalls als einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die durch Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgten Rechte der Gewerkschaft gewertet, sie hatte dabei jedoch explizit davon abgesehen, eine grundsätzliche Gewährleistung des Rechts auf Kollektivverhandlungen durch Art. 11 Abs. 1 EMRK anzunehmen und sah sich somit in einer Linie mit der bis dahin ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.108 Bereits die ergänzenden Stellungnahmen der Richter Türmen, Fura-Sandström und Popovi der 2. Sektion109 ließen indes Tendenzen erkennen, in der Grundsatzfrage nach der Garantie eines Rechts auf Kollektivverhandlungen durch Art. 11 EMRK noch über die Urteilsgründe der 2. Sektion hinausgehen zu wollen. Dies geschah schließlich mit dem Urteil der Großen Kammer: „[. . .] the right to bargain collectively with the employer has, in principle, become one of the essential elements of the ,right to form and to join trade unions for the protection of [one’s] interests‘ set forth in Article 11 of the Convention, it being understood that States remain free to organise their system [. . .].“ 110 106
Vgl. oben Kapitel 2 A.II.2.b)bb). Die Richter bezogen sich in den nachfolgenden Verfahren zur konventionsrechtlichen Gewährleistung eines Rechts auf Kollektivmaßnahmen in wesentlichen Punkten auf die Urteilsgründe der Großen Kammer in Demir und Baykara, vgl. etwa EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24, 32 (Enerji Yapi-Yol Sen), vgl. Hendy/Ewing, ILJ 2010, 1, 13. 108 EGMR [2. Section] 21.11.2006 – App. 34503/97, Rn. 35 (Demir and Baykara): „The Court observes that its case-law does not exclude the possibility that the right to enter into a collective agreement may represent, in the particular circumstances of a case, one of the principal means – even the foremost of such means – for trade unionists to protect their interests.“ (Hervorhebung durch Bearbeiter). 109 In ihren ergänzenden Stellungnahmen wiesen die drei Richter vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Bereich des internationalen Arbeitsrechts bereits auf die enge Verbindung zwischen dem Recht auf Gründung und Beitritt zu einer Gewerkschaft auf der einen und dem Recht auf Kollektivverhandlungen auf der anderen Seite hin, EGMR [2. Section] 21.11.2006 – App. 34503/97, S. 15 ff. (Demir and Baykara). 110 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 154 (Demir and Baykara). Nach dem Sondervotum des Richters Spielmann, dem sich die Richter Bratza, Casadevall und Villinger anschlossen, sei es fehlerhaft, die Gewährleistung des Rechts auf Kollektivverhandlungen mit dem Recht auf Abschluss eines Kollektivvertrags gleich zu setzen. Frei107
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Als essentieller Bestandteil der Rechte auf Gewerkschaftsgründung und -beitritt sei das Recht auf kollektives Verhandeln durch Art. 11 EMRK gewährleistet, wobei die Staaten in der Frage der Ausgestaltung frei blieben. Diese in expliziter Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung vollzogene Erweiterung des Konventionsschutzes stützte der EGMR erneut auf die weiterentwickelten internationalen arbeitsrechtlichen Standards.111 So sei das Recht auf Kollektivverhandlungen insbesondere durch das ILO-Übereinkommen Nr. 98 und durch Art. 6 Nr. 2 ESC verbürgt. Zudem bestätigten auch die Grundrechtecharta der EU112, welche in ihrem Art. 28 das Arbeitnehmergrundrecht auf Kollektivverhandlungen statuiere, sowie die Praxis der weit überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten die grundsätzliche Gewährleistung eines Rechts auf Kollektivverhandlungen.113 Nach den Erwägungen des EGMR soll dies im Grundsatz auch für die Angehörigen des öffentlichen Diensts gelten. Hierfür bezog er sich insbesondere auf die restriktive Auslegung der Einschränkungsmöglichkeiten in den oben genannten Normen durch die zuständigen Auslegungsorgane. So sei etwa die Ausnahmeregelung für die „öffentlichen Beamten“ („public servants engaged in the administration of the State“) in Art. 6 des ILO-Übereinkommens Nr. 98 nach Auffassung des Sachverständigenausschusses so zu verstehen, dass nur solche öffentlich Bedienstete aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens fielen, die in der unmittelbaren Staatsverwaltung beschäftigt seien. Alle anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes genössen demnach die durch das Übereinkommen eingeräumten Rechte.114 Zudem wiesen die Richter darauf hin, dass auch Art. 1 Abs. 3 des ILO-Übereinkommens Nr. 151 Beschränkungen bei der Beteililich müsse es den Gewerkschaften fortan ermöglicht werden, in einen sozialen Dialog mit der Arbeitgeberseite zu treten, nicht jedoch notwendigerweise auch einen Kollektivvertrag mit derselben abschließen zu können. Auch seien die Vertragsstaaten nicht dazu zu verpflichtet derartige Verträge zu ermöglichen, sondern ihnen verbleibe vielmehr eine gewisse Freiheit bei der Auswahl der Mittel, etwa auch in Richtung einer kompensatorischen Beteiligung der betreffenden Gewerkschaft im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens, vgl. S. 50 ff.; anderes Verständnis etwa Arndt/Schubert, in: Karpenstein/ Mayer, EGMR, Art. 11 Rn. 53. 111 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 153 (Demir and Baykara). 112 Die Grundrechtecharta wurde am 7.12.2000 erstmals feierlich proklamiert. 113 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 147 ff. (Demir and Baykara). 114 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 147 (Demir and Baykara); vgl. auch ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 200: „The Committee has adopted a restrictive approach concerning this exception by basing itself in particular on the English text of Article 6 of the Convention which refers to public servants engaged in the administration of the State. [. . .] The distinction must therefore be drawn between, on the one hand, public servants who by their functions are directly employed in the administration of the State [. . .] who may be excluded from the scope of the Convention and, on the other hand, all other persons employed by the government, by public enterprises or by autonomous public institutions, who should benefit from the guarantees provided for in the Convention.“
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
gung an der Festlegung der Beschäftigungsbedingungen der öffentlich Bediensteten nur für Mitglieder der Streitkräfte oder der Polizei zulasse, im Umkehrschluss also für den restlichen öffentlichen Dienst diese Rechte – gegebenenfalls unter besonderen Bedingungen – Anwendung fänden.115 Dies entspreche schließlich auch der Praxis der europäischen Staaten, die das Recht auf Kollektivverhandlungen zwar mit gewissen spezifischen Ausnahmen im Grundsatz aber doch mehrheitlich anerkannt hätten.116 Schließlich stellte der Gerichtshof fest: „Like other workers, civil servants, except in very specific cases, should enjoy such rights, but without prejudice to the effects of any ,lawful restrictions‘ that may have to be imposed on ,members of the administration of the State‘ within the meaning of Article 11 § 2 [. . .].“ 117
Die Möglichkeit, Kollektivverhandlungen mit der Arbeitgeberseite führen zu können, gehöre nach alledem – und dies gelte im Grundsatz auch für die Angehörigen des öffentlichen Diensts – zu den essentiellen Bestandteilen des Rechts „zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“ gemäß Art. 11 Abs. 1 EMRK. Einschränkungen gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK blieben hiervon unberührt. Vor dem Hintergrund dieser Erweiterung des Schutzumfangs des Art. 11 EMRK erachtete der Gerichtshof die fehlende nationale Umsetzung der bereits durch die Türkei ratifizierten Vorschriften der internationalen arbeitsrechtlichen Übereinkommen durch die Gesetzgebung sowie die daraus resultierende rückwirkende Nichtigkeitserklärung des Kollektivvertrags durch den Kassationsgerichtshof als Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführer.118 Bei der Prüfung der angeführten Rechtfertigung aufgrund der Zugehörigkeit der Beschwerdeführer zur Staatsverwaltung nahmen die Richter erneut Bezug auf die entsprechende Ausnahmeregelung des Art. 6 des ILO-Übereinkommens Nr. 98 in seiner restriktiven Auslegung durch den Sachverständigenausschuss. Dies zugrunde gelegt, hielten sie die bloße undifferenzierte Behauptung der türkischen Regierung, Angehörige des öffentlichen Dienstes genössen im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern eine besondere Stellung, für unzureichend und den Eingriff im Ergebnis für nicht gerechtfertigt.119 c) Einordnung in die bisherige Rechtsprechungslinie Das Urteil in der Rechtssache Demir und Baykara ist ein wesentlicher Teil des vorläufigen Höhepunkts der vorstehend aufgezeigten Entwicklung der Rechtspre115 116 117 118 119
EGMR 12.11.2008 – App. EGMR 12.11.2008 – App. EGMR 12.11.2008 – App. EGMR 12.11.2008 – App. EGMR 12.11.2008 – App.
34503/97, Rn. 148 (Demir and Baykara). 34503/97, Rn. 151 (Demir and Baykara). 34503/97, Rn. 154 (Demir and Baykara). 34503/97, Rn. 157 (Demir and Baykara). 34503/97, Rn. 166 ff. (Demir and Baykara).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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chung des EGMR zu den kollektiven Koalitionsrechten. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung des Konventionsschutzes der Koalitionsfreiheit, zum anderen aber auch für die methodische Begründung desselbigen. Der Gerichtshof gab sein seit den siebziger Jahren judiziertes „Mantra“ zum Schutz der kollektiven Gewerkschaftsrechte auf. Hierin hatte er es fortwährend abgelehnt, außer den Rechten auf Gewerkschaftsgründung und Beitritt sowie dem Recht, von der Gegenseite angehört zu werden, eine grundsätzliche Garantie weiterer konkreter Kollektivrechte im Rahmen des Art. 11 EMRK anzuerkennen. Hatte dieser Rechtsprechung noch das Verständnis zugrunde gelegen, die übrigen internationalen Arbeitsrechtsnormen – aufgrund ihrer systematischen Nähe insbesondere die ESC – begrenzten den Anwendungsbereich der Konvention vor allem im Hinblick auf die positive Gewährleistung sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte,120 so vollzogen die Richter in Demir und Baykara hierzu eine klare Kehrtwende. Wie bereits in Wilson, National Union of Journalists angedeutet,121 sahen sie die sonstigen internationalen arbeitsrechtlichen Standards nicht länger als materielle Schranke für Erweiterungen des Schutzumfanges der Konvention, sondern vielmehr als zu beachtenden Orientierungsmaßstab, an den die Konvention als „lebendiges Instrument“ anzupassen sei, um den wachsenden Anforderungen an den Schutz der Menschenrechte gerecht zu werden. Dies bedinge ein weiteres Verständnis des Schutzbereichs auf der einen Seite, vor allem aber eine eng umgrenzte Auslegung zulässiger Einschränkungsmöglichkeiten der garantierten Rechte auf der anderen Seite.122 Fortan sind somit sowohl für die Bestimmung der Reichweite des Konventionsschutzes als auch für die Bewertung der Zulässigkeit von Einschränkungen die übrigen internationalen arbeitsrechtlichen Standards – also die jeweiligen Normen in der Auslegung der dafür zuständigen Organe – zu berücksichtigen.123 Vor diesem Hintergrund sah der Gerichtshof nunmehr auch das Recht auf Kollektivverhandlungen als durch Art. 11 EMRK verbürgt an. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass das Urteil der Großen Kammer einstimmig ergangen ist, folglich sowohl inhaltlich als auch methodisch von einem besonders breiten Konsens unter den Straßburger Richtern getragen wird. Wie die weitere Untersuchung zeigen wird, lehnen sich dann auch die nachfolgenden Entscheidungen in ihren Begründungen teils weitgehend an Demir und Baykara an.
120
Vgl. oben Kapitel 2 A.II.1. Vgl. oben Kapitel 2 A.II.2.b)bb). 122 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 146 (Demir and Baykara). 123 Hendy/Ewing, ILJ 2010, 1, 7 f. Einige Stimmen in der Literatur hatten bereits im Vorfeld eine Berücksichtigung des sonstigen Völkerrechts, insbesondere der ESC, bei der Auslegung der EMRK nahegelegt, Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 47; Neubeck, Europäische Sozialcharta, S. 136 f. 121
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
4. Die schrittweise Anerkennung der konventionsrechtlichen Gewährleistung des Streikrechts Die Frage, ob auf der Grundlage der Rechtsprechung in Demir und Baykara nunmehr auch auf eine Garantie des Streikrechts im Rahmen der Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK geschlossen werden konnte, hatte die Große Kammer zunächst noch explizit ausgeklammert.124 Bevor der Gerichtshof in der Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen125 die Gelegenheit bekommen sollte, sich mit dieser Problematik zu befassen, hatte er zuvor in drei Individualbeschwerdeverfahren türkischer Arbeitnehmer über die konventionsrechtliche Zulässigkeit von Sanktionsmaßnahmen zu befinden, welche aufgrund der Teilnahme an Streikaktionen gegen diese ergangen waren.126 In diesen Verfahren entwickelten die Richter ihre Rechtsprechung bereits in Richtung einer impliziten Anerkennung der konventionsrechtlichen Streikrechtsgarantie fort. a) Die implizite Anerkennung des Streikrechts aa) Karacay und Urcan Der Beschwerdeführer Erhan Karacay arbeitete im türkischen öffentlichen Dienst als Elektriker. Gegen ihn erging eine Disziplinarmaßnahme in Form einer Warnung127 aufgrund der mutmaßlichen Teilnahme an einem nationalen Streiktag des türkischen Dachverbands der öffentlichen Dienstgewerkschaften (KESK) gegen die Kürzung der Löhne im öffentlichen Dienst während seiner Arbeitszeit.128 Der Gerichtshof erachtete die Warnung trotz ihres geringen Sanktionscharakters129 ohne nähere Ausführungen als einen Eingriff in die Vereinigungsfreiheit des Beschwerdeführers. Bei der sich anschließenden Frage nach der Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK wendete er – in deutlicher Abkehr von seiner Rechtsprechung in UNISON 130 – einen ersichtlich strengeren Maßstab zur Bewertung der „Not124
EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 158 (Demir and Baykara). EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen). 126 Zeitlich lagen die Beschwerden in den Jahren 2007 und 2008 zwischen den Verfahren der 2. Sektion und der Großen Kammer in der Sache Demir und Baykara, weshalb auf die methodischen und inhaltlichen Vorgaben des Urteils der Großen Kammer vom 12.11.2008 noch kein Bezug genommen wurde. 127 Gemäß Art. 129 der türkischen Verfassung i.V. m. Art. 125 A, 136 des Gesetzes Nr. 657, welches das Recht des türkischen öffentlichen Diensts näher regelt. 128 EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 5 ff. (Karacay). 129 Der Betroffene wird lediglich darauf hingewiesen, dass er bei Erfüllung seiner Pflichten aufmerksamer sein soll, vgl. Lörcher, AuR 2011, 303, 306. 130 Vgl. zur Kritik bei der Auslegung der Rechtfertigungsmöglichkeiten in Unison oben Kapitel 2 A.II.2.b)aa). 125
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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wendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft“ an. Der Aktionstag sei im Vorfeld angekündigt worden und darüber hinaus nicht verboten gewesen. Folglich habe der Beschwerdeführer durch die Teilnahme lediglich von seinem Recht auf friedliche Versammlung Gebrauch gemacht.131 Unter Rekurs auf das Urteil vom 26. April 1991 in der Sache Ezelin132 betonten die Richter die herausragende Bedeutung der Freiheit zur friedlichen Versammlung. Obgleich die streitgegenständliche Maßnahme einen vergleichsweise schwachen Sanktionscharakter aufweise, sei sie dennoch geeignet, Gewerkschaftsmitglieder von der Teilnahme an rechtmäßigen Streiks oder Aktionen zur Verteidigung der Interessen ihrer Mitglieder abzuhalten und stelle damit einen nicht gerechtfertigten Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK dar. In konsequenter Fortführung dieses Urteils erkannte der Gerichtshof auch im nachfolgenden Verfahren in der Sache Urcan133 auf einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Konventionsrechte aus Art. 11 EMRK. Ausgangspunkt war hier die Verurteilung mehrerer türkischer Lehrer zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe134 in Verbindung mit einer Geldstrafe und einem 3-monatigen Ausschluss aus ihrer öffentlichen Funktion, aufgrund der Teilnahme an einem nationalen Streiktag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrern.135 Der Gerichtshof betonte nochmals die Wichtigkeit der freien Meinungskundgabe und des offenen Diskurses über Meinungsverschiedenheiten insbesondere im Wege einer friedlichen Versammlung. Entsprechend sah er die gegenüber den Beschwerdeführern ergangenen Strafmaßnahmen, die die Disziplinarmaßnahmen aus Karacay in ihrer Intensität deutlich überstiegen, ebenfalls als unangemessen und damit konventionswidrig an.136 bb) Dilek In der Rechtssache Dilek hatte der KESK am 2.3.1998 zu Arbeitskampfmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Angehörigen des öffentlichen Diensts aufgerufen. Anlass war, dass das türkische Parlament Beratungen über das Gesetz der Angehörigen des öffentlichen Diensts auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Dem Aufruf der KESK waren unter anderem die Beschwerdeführer gefolgt und hatten für 3 Stunden ihren Arbeitsplatz an einer Mautkontrollstelle verlassen. Im Anschluss daran wurden sie von staatlicher Stelle für die hierdurch
131 132 133 134 135 136
EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 36 (Karacay). EGMR 26.4.1991 – App. 11800/85, Rn. 41, 53 (Ezelin). EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a. (Urcan aO). Diese wurde jedoch umgewandelt in eine weitere Geldstrafe. EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a., Rn. 7 ff. (Urcan aO). EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a., Rn. 30 ff. (Urcan aO).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
entstandenen Schäden – die Autofahrer konnten in diesem Zeitraum ohne Entrichtung der Maut die Kontrollstelle passieren – in Anspruch genommen.137 Wiederum erkannte der EGMR auf einen Eingriff in die Vereinigungsfreiheit der Betroffenen. Die Begründung der Richter fiel dabei erneut, wie auch schon im Urteil der 2. Sektion in Demir und Baykara,138 ausdrücklich einzelfallbezogen aus. So verzichteten sie auf eine grundsätzliche Einlassung zu der Frage nach der konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistung und begnügten sich mit der Feststellung, dass die streitgegenständlichen Maßnahmen der Beschwerdeführer jedenfalls als Kollektivmaßnahme im Rahmen der durch Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützten Gewerkschaftsrechte angesehen werden könne.139 Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung wiederholten sie zunächst zwar die hergebrachte Formel, dass das nicht explizit garantierte Streikrecht zwar eine der wichtigsten gewerkschaftlichen Maßnahmen darstelle, gleichwohl den Vertragsstaaten bei der Wahl der zu gewährleistenden Mittel ein weiter Gestaltungsspielraum zukomme.140 Wie bereits zuvor in Karacay legten die Richter jedoch an die Rechtfertigungsvoraussetzungen und indessen insbesondere an die Abwägung im Hinblick auf die Angemessenheit des Eingriffs einen strengen Maßstab an und befanden das undifferenzierte und generelle Verbot von Kollektivmaßnahmen der Angehörigen des öffentlichen Diensts für unangemessen. Die türkische Regierung habe überdies nicht ausreichend dargelegt, welche anderen Mittel der Interessenverfolgung der Gewerkschaft offengestanden hätten.141 cc) Schlussfolgerung Sowohl inhaltlich als auch methodisch lassen sich Karacay, Urcan und Dilek unschwer in den Verlauf der Rechtsprechungslinie des EGMR einordnen. So zeigt sich, wie auch im Urteil der 2. Sektion zu Demir und Baykara, dass die Richter zum einen nicht länger gewillt waren, an der restriktiven Ausgestaltung des Konventionsschutzes142 festzuhalten, zum anderen jedoch auch nicht im Grundsatz von der insoweit gefestigten Rechtsprechung abweichen wollten. Folg137
EGMR 17.7.2007 – App. 74611/01, Rn. 6 ff. (Dilek aO). Siehe oben Kapitel 2 A.II.3.b)bb). 139 EGMR 17.7.2007 – App. 74611/01, Rn. 57 (Dilek aO). Der Gerichtshof bezeichnet die dreistündige Arbeitsniederlegung als „Arbeitsverzögerung“ (ralentissement de travail), lässt dabei aber offen, ob diese Maßnahme als Streik angesehen werden konnte bzw. ob der Streik als solcher überhaupt dem Schutz des Art. 11 Abs. 1 EMRK unterliegt. 140 EGMR 17.7.2007 – App. 74611/01, Rn. 65 (Dilek aO). 141 EGMR 17.7.2007 – App. 74611/01, Rn. 70 ff. (Dilek aO). 142 Anfangs durch das eingeschränkte Verständnis des Schutzbereichs (oben Kapitel 2 A.II.2.a)), später durch die weite Interpretation der Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 11 Abs. 2 EMRK (Kapitel 2 A.II.2.b)aa)). 138
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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lich nutzten sie den durch UNISON begründeten „flexibleren“ 143 Ansatz dazu, die jeweilige Maßnahme im Einzelfall als durch Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützte Kollektivmaßnahme anzuerkennen und gleichzeitig einen strengeren Maßstab an die Einschränkungsmöglichkeiten zu legen. Vom Ergebnis her war mit dieser Handhabung des Art. 11 EMRK das Streikrecht bereits faktisch anerkannt. Eine methodische Begründung für die neuerliche Diktion des Gerichtshofs fehlte jedoch bis zum Urteil der Großen Kammer in Demir und Baykara. Dieses nahmen die Richter erstmalig in Enerji Yapi-Yol Sen ausdrücklich in Bezug, um die Streikfreiheit fest im Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK zu verankern. b) Die explizite Anerkennung des Streikrechts – Enerji Yapi-Yol Sen Der Startpunkt der Rechtsprechung zur konventionsrechtlichen Gewährleistung des Streikrechts nach der methodischen Neuausrichtung des Art. 11 EMRK durch die Große Kammer in Demir und Baykara war das Urteil der 3. Sektion vom 21. April 2009 in der Sache Enerji Yapi-Yol Sen.144 Anders als bei Dilek handelte es sich nicht um die Rechtsschutzgesuche von Einzelpersonen, vielmehr war in diesem Fall die türkische Gewerkschaft Enerji Yapi-Yol Sen Beschwerdeführerin. In dieser sind Staatsbedienstete des Katasterwesens, des Energiesektors sowie des Dienstleistungssektors im Bereich Infrastruktur und Straßenbau organisiert. Mit der Beschwerde wehrte sich die Gewerkschaft gegen einen am 13. April 1996 ergangenen Runderlass der Generalleitung der Personalabteilung beim türkischen Ministerpräsidenten, in welchem es den Angehörigen des öffentlichen Dienstes untersagt wurde, sich an geplanten Streikaktionen zu beteiligen, da diese gegen geltendes Gesetz verstießen und das Funktionieren des öffentlichen Dienstes gefährdeten. Für den Fall des Zuwiderhandelns wurden disziplinarische Maßnahmen angedroht.145 Hintergrund dessen war, dass der türkische Gesetzgeber zu dieser Zeit über eine Reform der Rechtsstellung der Staatsbediensteten zur Harmonisierung des türkischen Rechts mit den internationalen völkerrechtlichen Vorgaben beriet. Diesbezüglich hatte der türkische Gewerkschaftsdachverband KESK am 18. April 1996 zu einem nationalen Aktionstag aufgerufen. An diesem fanden Protestkundgebungen zur Anerkennung des Rechts auf Kollektivvereinbarungen für die Staatsbediensteten statt, an denen sich – trotz des Erlasses – auch mehrere Mitglieder des Verwaltungsrats der Beschwerdeführerin beteiligten, woraufhin sie sich Disziplinarmaßnahmen ausgesetzt sahen. Das Rechtsschutzgesuch der Gewerkschaft gegen den streitgegenständlichen Runderlass vor den zuständigen türkischen Instanzen blieb ohne
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Bröhmer, in: EMRK/GG, Kap. 19, Rn. 108. EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen). EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 7 (Enerji Yapi-Yol Sen).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Erfolg.146 Die 3. Sektion des EGMR hatte sich daraufhin im Kern zum einen mit der Frage zu befassen, ob die in Rede stehenden Kollektivmaßnahmen dem Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK unterfallen, und zum anderen, inwieweit Einschränkungen des Konventionsschutzes nach Art. 11 Abs. 2 EMRK insbesondere für Angehörige des Staatsdienstes möglich sind. aa) Die Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 11 Abs. 1 EMRK um die Gewährleistung des Streikrechts (1) Die Anerkennung des Streikrechts durch den Gerichtshof Eingangs der materiellen Prüfung der Rechtmäßigkeit des Runderlasses stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass die beschwerdeführende Gewerkschaft zu Recht behaupten konnte, durch den Erlass in ihren durch die Konvention geschützten Rechten verletzt worden und damit auch „Opfer“ im Sinne des Art. 34 EMRK zu sein.147 Bei den nachfolgenden Ausführungen über das Vorliegen eines Eingriffs wiederholten die Richter zunächst die hergebrachte Rechtsprechungsformel, dass die Konvention dazu verpflichte, es den Gewerkschaften zu ermöglichen, sich für die Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder einzusetzen, und dass dabei der Streik, durch welchen sich die Gewerkschaften Gehör verschaffen könnten, ein wichtiges Mittel darstelle.148 Dabei betonten sie in diesem Zusammenhang erstmalig: „[. . .] que le droit de grève est reconnu par les organes de contrôle de l’Organisation internationale du travail (OIT) comme le corollaire indissociable du droit d’association syndicale protégé par la Convention C87 de l’OIT sur la liberté syndicale et la protection du droit syndical (pour la prise en compte par la Cour des éléments de droit international autres que la Convention, voir Demir et Baykara, précité). Elle rappelle que la Charte sociale européenne reconnaît aussi le droit de grève comme un moyen d’assurer l’exercice effectif du droit de négociation collective. Partant, la Cour rejette l’exception du Gouvernement.“ 149
Der schlichte Verweis auf die Anerkennung des Streikrechts durch die Kontrollorgane der ILO als untrennbarer Teil der durch das ILO-Übereinkommen 146
EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 8 ff. (Enerji Yapi-Yol Sen). EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 19 ff. (Enerji Yapi-Yol Sen). Diesen formalen Aspekt hatte die türkische Regierung in Abrede gestellt. Der Gerichtshof wies die Einrede allerdings zurück mit der Begründung, dass die Gewerkschaft als Personengruppe auch ohne einen unmittelbaren Vollzugsakt Gefahr liefe, von der gesetzlichen Regelung betroffen zu werden und somit „Opfer“ im Sinne des Art. 34 EMRK sei. 148 Hierzu verweist der EGMR auf seine ersten Urteile zu den kollektiven Gewerkschaftsrechten, EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24 (Enerji Yapi-Yol Sen); vgl. auch oben Kapitel 2 A.II.1. und Kapitel 2 A.II.2. 149 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24 (Enerji Yapi-Yol Sen). 147
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Nr. 87 geschützten Vereinigungsfreiheit sowie die Anerkennung im Rahmen der ESC als Mittel zur wirksamen Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen genügte den Richtern, um einen Eingriff in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin anzunehmen. Auf die ausdrückliche Feststellung, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK in der nach Demir und Baykara gebotenen erweiterten Auslegung auch das Streikrecht garantiere, verzichteten sie jedoch an dieser Stelle. Gleichwohl legt der Verweis auf die Gewährleistung des Streikrechts durch andere internationale Normen in Verbindung mit deren Beachtlichkeit bei der Konventionsauslegung nach Demir und Baykara nahe, dass der EGMR fortan das Streikrecht als Gewährleistungsbestandteil der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK betrachtet. Dies gilt vor allem, weil der Gerichtshof es – anders als noch in seiner früheren Rechtsprechung – gerade unterließ, die Streikrechtsgarantie durch die anschließende Feststellung zu relativieren, dass es neben dem Streikrecht auch andere Mittel der gewerkschaftlichen Interessenverfolgung gebe und den Vertragsstaaten insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zukomme.150 Überdies wies er im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs einleitend darauf hin, dass das Streikrecht nicht absolut gewährleistet werde.151 Dies setzt denknotwendig voraus, dass das Streikrecht als im Grundsatz von Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst angesehen wird.152 Diese Rechtsprechungslinie entspricht zudem den Grundsätzen der sonstigen europäischen und internationalen Rechtsschutzsysteme. (2) Exkurs: Rechtsquellen der internationalen Streikrechtsgarantie Der Gerichtshof belässt es zur Herleitung des konventionsrechtlich gewährleisteten Streikrechts bei einem knappen Verweis auf die Rechtsstandards der ILO und der ESC und die entsprechende Rezeptionsmethodik nach Demir und Baykara. Eine nähere Erläuterung seiner Auslegung und eine Herleitung seiner Auslegungsergebnisse lässt er dabei vermissen.153 Dieses Begründungsdefizit soll im Folgenden durch einen zumindest kursorischen Blick auf die entsprechenden Streikrechtsgarantien der direkt bzw. indirekt in Bezug genommenen internationalen Vertragswerke, insbesondere in Bezug auf ihre grundsätzliche Geltung für 150 Vgl. EGMR 10.1.2002 – App. 53574/99, S. 10 (UNISON). Darüber hinaus wird dies, soweit ersichtlich, selbst von den Stimmen, die um eine restriktive Interpretation des Urteils bemüht sind, nicht in Zweifel gezogen. Umstritten sind vielmehr die zulässigen Einschränkungsmöglichkeiten, vgl. m.w. Nw. OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/ 11.O, NVwZ 2012, 890, 897; Lindner, DöV 2011, 305, 307. 151 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). Vgl. auch Ebert/Oelz, DP 212, 2012, S. 11. 152 Lörcher, AuR 2009, 229, 236. 153 Wißmann (ZJS 2011, 395, 400) sieht gerade in der Kürze der Urteilsbegründung die Gefahr „erheblicher Unschärfen“ bei der Übertragung auf die nationalen Rechtsordnungen.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
öffentlich Bedienstete, aufgearbeitet werden. Gerade auch für die sich anschließende Frage nach der Reichweite der konventionsrechtlichen Streikrechtsgarantie für Angehörige des öffentlichen Diensts und insbesondere für die Bereiche der Beamten nach deutschem Verständnis sind die hier gefundenen Ergebnisse gleichzeitig auch Orientierungsmaßstäbe für die Erarbeitung von Zulässigkeitsvoraussetzungen eventueller nationaler Beschränkungen. (a) Die Streikrechtsgarantie in den Übereinkommen der ILO Der EGMR bezog sich in seinen Urteilsgründen zunächst ohne nähere Ausführungen auf die Anerkennung des Streikrechts durch die Kontrollorgane der ILO.154 Anders als etwa in Art. 6 Nr. 4 ESC findet die Gewährleistung des Streikrechts in den Übereinkommen der ILO keine ausdrückliche Erwähnung.155 Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass sich die Organisation einer Aussage zum Streikrecht enthält.156 Das wichtigste Übereinkommen in diesem Zusammenhang ist die ILO-Konvention Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes aus dem Jahre 1948, welche in ihrem Art. 2 für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ohne jeden Unterschied das Recht statuiert, „ohne vorherige Genehmigung Organisationen nach eigener Wahl zu bilden und solchen Organisationen beizutreten“. Zudem wird den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen das Recht eingeräumt, „ihre Geschäftsführung und Tätigkeit zu regeln und ihr Programm aufzustellen“ (Art. 3 Abs. 1) mit dem Ziel der Förderung und des Schutzes der Interessen der Mitglieder (Art. 10). Diese verbundene Lesart der genannten Konventionsnormen machten die zuständigen Kontrollgremien der ILO – der Sachverständigenausschuss sowie der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit – zur Grundlage der Herleitung einer Streikrechtsgarantie.157 So könnten die Begriffe „Tätigkeit“ und „Programm“ des Art. 3 Abs. 1 ihre volle Bedeutung nur durch ein Zusammenlesen mit der Koalitionszweckbestimmung des Art. 10, nämlich der Förderung und des Schutzes der Mitgliederinteressen, entfalten. Die För154 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24 (Enerji Yapi-Yol Sen). Zur Beachtlichkeit der Spruchpraxis der verschiedenen Kontroll- und Überwachungsgremien für die Auslegung der EMRK vgl. nochmals EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 75 (Demir and Baykara). 155 Ausdrücklich genannt wird das Streikrecht allerdings in zwei Resolutionen der Internationalen Arbeitskonferenz, durch welche die Richtlinien der ILO-Politik festgesetzt werden. Dies ist zum einen die „Resolution concerning the abolition of anti-trade union legislation in the States Members of the International Labour Organisation“ (Resolutions ILC, 40th session, S. 1) und zum anderen um die „Resolution concerning Trade Union Rights and Their Relation to Civil Liberties“ (Resolutions ILC, 54th session, 1970, S. 9). 156 Vgl. ausführlich zur Gewährleistung des Streikrechts innerhalb der ILO-Übereinkommen Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130 ff. 157 ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 147 f.; vgl. auch Gernigon/Odero/ Horacio, ILR 1998 (137), 441, 442, Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 181 f.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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derung und der Schutz der Arbeitnehmerinteressen setzten in der traditionellen Wirtschaftsordnung jedoch voraus, dass die Arbeitnehmer zumindest zeitweise ihre Arbeitsleistung vorenthalten könnten, um mit den dadurch verursachten Kosten ihre Forderungen gegenüber dem Arbeitgeber mit Nachdruck geltend machen zu können.158 Der Begriff des „Programms“ umfasse nach der ihm folglich zuzumessenden Bedeutung auch Streikmaßnahmen.159 Die vorstehende Auslegung sieht sich mit Blick auf den tatsächlichen Wortlaut der herangezogenen Regelungen durchaus nachvollziehbarer Kritik ausgesetzt.160 Auch innerhalb der ILO herrscht eine heftige Kontroverse über die Auslegung des Übereinkommens Nr. 87 mit Blick auf die Gewährleistung eines Streikrechts. So stemmt sich im Konferenzausschuss der Internationalen Arbeitskonferenz, welcher sich aus der Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammensetzt, die Arbeitgeberseite in jüngerer Zeit vehement gegen die vorgenannte Auslegung des Sachverständigenausschusses.161 Gleichwohl sieht sich der EGMR – auch in Kenntnis der innerhalb der ILO bestehenden Uneinigkeiten – nicht dazu veranlasst, die Spruchpraxis als Referenzpunkt für die nach Demir und Baykara gebotene Auslegung in Frage zu stellen.162 Für die vorliegende Untersuchung ist somit zunächst nur die Tatsache von Bedeutung, dass sowohl der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit163 als auch der Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen164 auf diesem Wege zur Ge-
158 Diese an der freien Wirtschaftsordnung ausgerichtete Argumentation könne zwar nicht ohne weiteres auf den öffentlichen Dienst übertragen werden, gleichwohl sei auch für die hier Bediensteten die Arbeitsniederlegung das letzte Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen, ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 148. 159 ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 148, vgl. auch Kovacs, CLLPJ 2005, 445, 446. 160 Vgl. etwa Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20 Rn. 46; Sagan, DB 2012, 11, 13 f.; Laubinger, in FS Klein, S. 1141, 1155. 161 ILC, CEACR Report III (Part 1B), 2012, Rn. 117 ff.; ILC, CCAS Report 101st session, 2012, Rn. 82 ff. Der Konflikt führte schließlich dazu, dass sich die Gruppe der Arbeitgebervertreter im Jahre 2012 im Rahmen der Internationalen Arbeitskonferenz weigerte, den Bericht des Sachverständigenausschusses anzunehmen und eine Liste von 25 ILO-Mitgliedsstaaten zu verabschieden, denen die gravierendsten Verletzungen von ILO-Übereinkommen vorgeworfen wurden. 162 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 97 (R.M.T.): „The Court does not consider that this clarification requires it to reconsider this body’s role as a point of reference and guidance for the interpretation of certain provisions of the Convention (see generally Demir and Baykara, cited above, §§ 65–86).“ 163 Zuletzt ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 520 ff.: „The right to strike is an intrinsic corollary to the right to organize protected by Convention No. 87.“ 164 Erstmals ausdrücklich ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 142, 151: „In the light of the above, the Committee confirms its basic position that the right to strike is an intrinsic corollary of the right to organize protected by Convention No. 87“; zuletzt bestätigt ILC, CEACR Report III (Part 1A), 2012, S. 8 und beispielsweise S. 157 ff. (für die BRD); vgl. aber bereits ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1983, Rn. 200, 205.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
währleistung des Streikrechts als untrennbarer Folge der durch das Übereinkommen Nr. 87 garantierten Vereinigungsfreiheit kommen.165 Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit betont insbesondere die Bedeutung des Streikrechts als Mittel zur Förderung und zum Schutz der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeitnehmer,166 welches als gewerkschaftlich, also kollektiv, auszuübendes Recht gewährleistet sei.167 Gleichzeitig müsse jedoch auch der einzelne Arbeitnehmer vor Diskriminierungen aufgrund der Organisation von Streikmaßnahmen oder der Teilnahme an selbigen geschützt werden.168 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Ausübung der durch die Vereinigungsfreiheit des ILO-Übereinkommens Nr. 87 geschützten Rechte findet sich ausdrücklich normiert in Art. 1 des ILO-Übereinkommens Nr. 98. Die aus der Vereinigungsfreiheit hergeleitete Streikrechtsgarantie gilt nach Ansicht der Ausschüsse auch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, wobei sie gleichzeitig auch die Möglichkeit notwendiger Einschränkungen in diesem Bereich betonen.169 Zu den Voraussetzungen bzw. Anforderungen an derartige Beschränkungen haben die Ausschüsse eine ausführliche Spruchpraxis entwickelt, auf welche im weiteren Verlauf der Bearbeitung noch vertieft einzugehen sein wird. (b) Die Streikrechtsgarantie in der ESC Neben dem Verweis auf die Anerkennung des Streikrechts durch die Kontrollorgane der ILO bezogen sich die Richter zusätzlich auf die Gewährleistung durch die ESC. Ebenso wie die ILO-Konvention Nr. 87 schützt auch die ESC in ihrem Art. 5 die Freiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Organisationen zum Schutze ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu bilden und diesen Organisationen beizutreten. Darüber hinaus gewährleistet Art. 6 ESC das Recht auf Kollektivverhandlungen, zu dessen wirksamer Ausübung er gleichzeitig einen Kanon von Gestaltungsinstrumenten der kollektiven Beziehungen der Sozialpartner in der Arbeitswelt gewährleistet.170 Als eines dieser Gestaltungsinstrumente 165 Denn ungeachtet etwaiger Kritik, zieht der EGMR die Spruchpraxis der Ausschüsse zur Auslegung der Konvention heran, vgl. zum Ganzen näher unten Kapitel 2 B.I.1. 166 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 521 f. 167 ILO-FAC, Digest 1996, Rn. 477; ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 524. 168 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 524. Auch der EGMR (vgl. etwa 17.7.2007 – App. 74611/01 (Dilek aO) oder 30.7.2009 – App. 67336/01 (Danilenkov aO)) bezieht im Falle von Individualbeschwerden bei vorgetragenen Verletzungen von Arbeitnehmerrechten der EMRK vermehrt das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 11 zur Feststellung eines Konventionsverstoßes mit ein. Vgl. auch Edström, Labour law, fundamental rights and social Europe 2011, 57, 58 f. 169 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 572; ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 156. 170 ECSR, Conclusion I (1969), Statement of Interpretation on Article 6 § 4, S. 34.
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wurde in Absatz 4 als erster Regelung in einem internationalen Vertrag die ausdrückliche Anerkennung171 des Rechts „der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten“ aufgenommen.172 Anders als im Rahmen der ILO-Konventionen sind damit Arbeitskampfmaßnahmen durch die Sozialcharta explizit vorgesehen. Der gemäß Teil IV Art. 25 ESC (rev.) gebildete Europäische Ausschuss für Soziale Rechte (EASR)173 ordnet dabei das Recht zum Streikaufruf den Gewerkschaften zu,174 geht allerdings im Grundsatz von einer individualrechtlichen Konzeption des Streikrechts aus.175 Des Weiteren betont der Ausschuss, dass Art. 6 Nr. 4 ESC nur bei Interessenkonflikten, nicht jedoch auch bei Streitigkeiten über Rechtsfragen, anwendbar sei.176 Nach ständiger Spruchpraxis umfasst der Begriff des Arbeitnehmers („worker“, „travailleur“) dabei auch die Bediensteten im öffentlichen Sektor, einschließlich den Beamten nach deutschem Recht.177 Auch sie müssten berechtigt sein, ihre Arbeitsleistung zurückzuhalten.178 Im Hinblick auf Einschränkungsmöglichkeiten des Rechts nach Art. 6 Nr. 4 ESC statuiert Teil V Art. G ESC (rev.) (vorher: Anhang zu Art. 6 Nr. 4 ESC 171 Evju, AuR 2012, 276. Vgl. zu der umstrittenen Deutung der hervorgehobenen Formulierung „und anerkennen“ im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Regelung für die Vertragsstaaten Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD und die ESC, S. 36 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20 Rn. 14 ff.; Bepler, in: FS Wissmann, S. 97, 106. 172 Ebenso wie im Rahmen der Menschenrechtskonvention sind gemäß Artikel O ESC (rev.) die offiziellen Sprachfassungen in englischer und französischer Sprache. 173 Zur Rolle des EASR als Auslegungsorgan bei Rechtsfragen innerhalb der revidierten ESC vgl. Schlachter, RdA 2011, 314, 346. 174 Dies gelte allerdings nur für den Fall, dass die Gründung von Gewerkschaften ohne übermäßige Formalitäten und Hindernisse möglich sei, vgl. so bspw. im Falle einer finnischen Regelung ECSR, Conclusions XV-1 (2000), Vol. 1, S. 200 (Finnland); siehe auch Evju, AuR 2012, 276, 284. 175 ECSR, Digest 2008, S. 56; ausführlich hierzu Kovacs, CLLPJ 2005, 445, 454 ff.; vgl. auch Edström, Labour law, fundamental rights and social Europe 2011, 57, 62; Bepler, in: FS Wissmann, S. 97, 107. 176 ECSR, Digest 2008, S. 56. 177 A. A. Laubinger, in: FS Klein, S. 1141, 1156. Ausführlich zu dieser Problematik Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD und die ESC, S. 96 ff.; Dumke, Streikrecht i. S. des Art. 6 Nr. 4 ESC, S. 122 f. 178 ECSR, Conclusion I (1969), Statement of Interpretation on Article 6 § 4, S. 38. Obgleich die BRD die ESC ratifiziert hat (BGBl. II. 1964, S. 1251; 1965, S. 1122), hat sie in der Deklaration vom 28. September 1961 gegenüber dem Generalsekretariat sowie sämtlichen Mitgliedsstaaten die Nichtanwendbarkeit des Art. 6 Nr. 2 und 4 ESC auf die Beamten nach deutschem Recht erklärt. Unabhängig von der umstrittenen Qualifizierung und Wirkung dieser Vorbehaltserklärung, führte dies jedenfalls nicht dazu, dass sich der EASR letztlich nicht doch mit der Vereinbarkeit der rechtlichen Situation der deutschen Beamten mit den Vorgaben des Art. 6 ESC befasste, vgl. etwa ECSR, Conclusions XVII-1 (2004), Vol. 1, S. 203 (Germany); Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD und die ESC, S. 116 f.; Lörcher, AuR 2009, 229, 233.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
i.V. m. Art. 31 ESC) ähnliche Vorgaben wie Art. 11 Abs. 2 EMRK. Zu diesen Vorgaben haben die Organe und Ausschüsse der ESC eine ausführliche Spruchpraxis entwickelt, auf welche an einer späteren Stelle der Bearbeitung noch vertieft einzugehen sein wird. (c) Das Streikrecht in den internationalen Pakten der Vereinten Nationen Weitere internationale Verbürgungen des Streikrechts finden sich in den multilateralen Verträgen unter dem Dach der Vereinten Nationen, namentlich dem IPWSKR179 und dem IPBPR180. Beide Abkommen wurden am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York verabschiedet und von Deutschland im Jahre 1973 ratifiziert. Zwar bezog sich der EGMR in Enerji Yapi-Yol Sen zum Nachweis der internationalen Gewährleistung des Streikrechts nicht explizit auf die UN-Pakte. Jedoch verwies er eingangs der Urteilsgründe bezüglich des einschlägigen internationalen Rechts auf die von der Großen Kammer in Demir und Baykara herangezogenen Regelungswerke, worunter sich auch die genannten Übereinkommen der UN befanden.181 Ein näherer Blick auf deren Garantien ist somit geboten. Der UN-Sozialpakt statuiert die essentiellen sozialen Rechte auf internationaler, „über-europäischer“ Ebene. Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR enthält neben Art. 6 Nr. 4 ESC eine weitere explizite Garantie des Streikrechts in einem internationalen völkerrechtlichen Vertrag.182 Hiernach verpflichten sich die Vertragsstaaten „unter Ausschöpfung aller [ihrer] Möglichkeiten“ (Art. 2 Abs. 1 IPWSKR) das Streikrecht zu gewährleisten, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird. Wird das Streikrecht bereits nur unter dem Vorbehalt der Konformität mit dem jeweiligen nationalen Recht eingeräumt, sieht Art. 8 Abs. 2 IPWSKR, ebenso wie Art. 11 Abs. 2 EMRK, darüber hinaus noch explizite Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der öffentlichen Verwaltung vor.183 Die sehr weitreichend angelegten
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BGBl. II 1973, S. 1569. BGBl. II 1973, S. 1533. 181 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 16 (Enerji Yapi-Yol Sen). Zudem legt in diesem Zusammenhang auch der weitere Verweis der Kammer (21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24) auf Demir und Baykara bezüglich der Berücksichtigung anderer völkerrechtlicher Instrumente nahe, dass die Richter sowohl den UN-Sozialpakt als auch den UN-Zivilpakt, wenn auch nur implizit, berücksichtigt haben. 182 Als solche wird die Streikrechtsgewährleistung des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR auch von den Ausschüssen der ILO zur Auslegung herangezogen, vgl. etwa ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 143. 183 Nach früherem Verständnis führten diese Vorbehalte dazu, dass dem Streikrecht nach Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR nur ein geringer materieller Inhalt beigemessen wurde. Als eindeutig konventionswidrig schien demnach zunächst nur der „Totalentzug“ 180
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Einschränkungsvorbehalte werden allerdings nach neuerem Verständnis deutlich restriktiver ausgelegt. Der mit Resolution des UN-Wirtschafts- und Sozialrats184 vom 28. Mai 1985185 gegründete und zur Überwachung und Auslegung des Abkommens berufene Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erkennt das Streikrecht im Grundsatz auch für Staatsbedienstete an. Zwar fehlt es bislang an einer diesbezüglichen Grundsatzaussage („General Comment“) zu Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR und somit auch zu der Frage nach dem Anwendungsbereich bzw. der Reichweite des Schutzbereichs des durch die Konvention garantierten Streikrechts. Gleichwohl verdeutlichen die Einzelfallentscheidungen des Ausschusses – insbesondere auch bezüglich der Rechtslage in Deutschland – sowie die Inbezugnahme des ILO-Übereinkommens Nr. 87,186 dass er von einer grundsätzlichen Geltung des Streikrechts auch für öffentlich Bedienstete ausgeht.187 Vor dieser Grundannahme hat sich der Ausschuss im Rahmen seiner Überwachungs- und Interpretationsaufgaben insbesondere auch mit den verschiedenen Streikrechtseinschränkungen im öffentlichen Sektor der Vertragsstaaten auseinandergesetzt, worauf in der weiteren Bearbeitung detailliert einzugehen sein wird. Auch der für die Überwachung des IPBPR zuständige Ausschuss für Menschenrechte188 scheint, trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Gewährleistung des Streikrechts im Rahmen des Art. 22 Abs. 1 IPBPR, letzteres als vom Schutzbereich der Konvention umfasst zu betrachten. Jedenfalls widmet sich der Ausschuss in seiner Spruchpraxis zu Art. 22 IPBPR auch den in den jeweiligen Vertragsstaaten im Hinblick auf die bei der Gewährleistung des Streikrechts bestehenden Missstände,189 sodass in der weiteren Bearbeitung auch diese Interpretationsparameter zu berücksichtigen sein werden. (d) Das Recht auf Kollektivmaßnahmen und Streik nach Art. 28 GRC Die im Jahr 2000 proklamierte und schließlich am 1. Dezember 2009 als verbindliches Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 EUV) in Kraft getretene Grundrechtecharta des Streikrechts, so etwa Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht in den universellen und europäischen Kollektivabkommen, S. 100, 103. 184 Vgl. zu dessen Überwachungsaufgaben Teil IV IPWSKR. 185 United Nations Economic and Social Council-Resolution 1985/17, abrufbar unter: http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/(Stand: 27.5.2015). 186 Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(a). 187 So etwa in seinen jüngsten Anmerkungen zum fünften Staatenberichts der BRD zur Implementierung der Regelungen des IPWSKR gemäß Teil IV Art. 16 ff. IPWSKR, CESCR, Concluding Observations Germany 2012 (E/C.12/2011/3), Rn. 94; vgl. auch Lörcher, in Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 57. 188 Vgl. Teil IV Art. 28 ff. IPBPR. 189 Siehe etwa exemplarisch für die BRD HRC, Concluding Observations Germany 1996 (CCPR/C/79/Add.73) Rn. 18.
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der Europäischen Union190 enthält in ihrem Art. 28 Var. 2 eine weitere explizite Verbürgung des Rechts auf Kollektivmaßnahmen einschließlich des Streikrechts. Der Gerichtshof bezog sich in Enerji Yapi-Yol Sen ebenfalls nicht explizit auf die Grundrechtecharta. Gleichwohl legen die bereits genannten Verweise191 auf das Demir und Baykara-Urteil, in welchem sich die Große Kammer zur Bestimmung des Konventionsschutzes des Art. 11 EMRK mehrfach auf die Grundrechtecharta stützte,192 nahe, dass auch die 3. Sektion die Garantien der Charta bei der Herleitung der konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistung berücksichtigt hat bzw. bei der weiteren Ausgestaltung derselben zukünftig berücksichtigen wird. Die Grundrechtecharta statuiert in ihrem Art. 28 GRC: „Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.“
Die Normierung des Rechts auf Kollektivmaßnahmen und Streik als Unionsgrundrecht stützt sich ihrerseits auf Art. 6 ESC sowie Nummer 12 bis 14 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (GSGA193). Zudem wurde bei der Ausarbeitung des Art. 28 GRC auch Art. 11 EMRK sowie die korrespondierende Rechtsprechung des EGMR zugrunde gelegt, in welcher letzterer bereits das Recht auf kollektive Maßnahmen als einen der Bestandteile des gewerkschaftlichen Vereinigungsrechts anerkannt hatte.194 190 191 192
BGBl. II, S. 1223. Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(c). Vgl. etwa EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 47, 51, 150 (Demir and Bay-
kara). 193 Die GSGA war eine politische, rechtlich nicht verbindliche, Erklärung aus dem Jahre 1989, die von allen der seinerzeit 11 EG-Mitgliedsstaaten mit Ausnahme von Großbritannien, zur Sicherstellung der Beachtung bestimmter sozialer Rechte in der Gemeinschaft, angenommen wurde, vgl. Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 157 ff.; Rixen, in: Tettinger/Stern, EuGRCh, Art. 28 Rn. 1. Die für die vorliegende Thematik des Streikrechts, insb. auch der öffentlich-rechtlich Bediensteten, relevanten Bestimmungen lauten: „Nr. 13: Das Recht, bei Interessenkonflikten Kollektivmaßnahmen zu ergreifen, schließt vorbehaltlich der Verpflichtung aufgrund der einzelstaatlichen Regelungen und der Tarifverträge das Streikrecht ein. Um die Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten zu erleichtern, ist in Übereinstimmung mit den einzelstaatlichen Gepflogenheiten die Einführung und Anwendung von Vermittlungs-, Schlichtungs- und Schiedsverfahren auf geeigneter Ebene zu erleichtern. Nr. 14: Die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten bestimmt, unter welchen Bedingungen und inwieweit die Rechtegemäß Artikel 11 bis 13 für die Streitkräfte, die Polizei und den öffentlichen Dienst gelten.“ 194 So die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der ChartaEntwurfs zu Art. 28 GRC, CHARTE 4473/00 Convent 49 vom 11. Oktober 2000,
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Die besondere Bedeutung der EMRK für die Gewährleistungen der Grundrechtecharta zeigt sich darüber hinaus in der Aufnahme der Kongruenzsicherungs- bzw. Mindestsicherungsklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC, wonach im Falle der Identität der geschützten Rechtspositionen die Grundrechte der Charta in ihrer Bedeutung und Tragweite mindestens dem Schutzniveau der korrespondierenden Regelungen der Menschenrechtskonvention entsprechen müssen.195 Nach Art. 53 Abs. 3 Satz 2 GRC schließt dies allerdings nicht aus, dass die Charta-Grundrechte in ihrem Schutz über die Menschenrechtskonvention hinausgehen. Sofern man eine Identität oder zumindest partielle Identität der Regelungsbereiche der Art. 28 GRC und 11 EMRK bejahte,196 so war in der Streikrechtsgarantie des Art. 28 Var. 2 GRC – jedenfalls bis Enerji Yapi-Yol Sen – gerade ein solcher Fall des weitergehenden Schutzes der Grundrechtecharta zu sehen.197 Der persönliche Schutzbereich des Grundrechts auf Kollektivmaßnahmen und Streik ist begrenzt auf Arbeitnehmer, wobei Art. 28 GRC keine nähere Begriffsdefinition normiert. Gleichzeitig enthält Art. 28 GRC allerdings auch keine Bereichsausnahme für den öffentlichen Sektor oder Teile der Beschäftigten des öffentlichen Diensts, was eine Einbeziehung dieser Personengruppe in den Schutzbereich des Art. 28 GRC nahelegt. Dies steht im Einklang mit dem weiten europäischen Arbeitnehmerbegriff,198 welcher ebenfalls alle BeschäftigungsverS. 27, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/charter/ (Stand: 27.5.2015); vgl. erneut oben Kapitel 2 A.II.2.a). 195 Vgl. Lindner, EuR 2007, 0160, 0172, Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 467 ff. 196 Das Präsidium des Grundrechtekonvents ging ersichtlich nicht von einer Identität der Art. 28 GRC und 11 EMRK aus, vgl. die Auflistung der sich nach Ansicht des Präsidiums entsprechenden Rechte in den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GRC, wo als dem Art. 11 EMRK entsprechendes Charta-Grundrecht einzig Art. 12 Abs. 1 GRC aufgeführt wird, CHARTE 4473/00 Convent 49 vom 11. Oktober 2000, S. 49 f. Gerade vor dem Hintergrund der ausdrücklichen Berücksichtigung der EMRK und der korrespondierenden Rechtsprechung des EGMR (oben Fn. 194) bei der Schaffung des Art. 28 GRC, scheint es jedoch überzeugender, von einer Entsprechung im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC auszugehen, ebenso Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 138. 197 Gleiches galt für das Recht auf Kollektivverhandlungen bis zum Urteil der Großen Kammer des EGMR in Demir und Baykara. 198 Im Sinne einer einheitlichen Auslegung des Schutzbereichs, welche insbesondere im Hinblick auf die originär dem Unionsrecht unterfallenden Arbeitsverhältnisse (bspw. EU-Beamte) geboten ist, bestimmt sich der persönliche Schutzbereich des Art. 28 GRC nicht nach den jeweiligen nationalen Arbeitnehmerbegriffen, sondern nach dem einheitlichen europäischen Begriffsverständnis. Unionsrechtliche und insbesondere auch einzelstaatliche Einschränkungen sind jedoch in einem zweiten Schritt als Grundrechtsschranken möglich, vgl. bereits EuGH 11.12.2007, Rs. C438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 44 (Viking); EuGH 18.12.2007, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 91 (Laval); Ricken, in: MünchHbArbR § 197 Rn. 14; Thüsing/Traut, RdA 2012, 65, 71; Willemsen/ Sagan, NZA 2011, 258, 262; a. A. etwa Krebber, in Calliess/Ruffert, Art. 28 GRC Rn. 3; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 3751.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
hältnisse des öffentlichen Diensts mitumfasst.199 Zudem folgt die grundsätzliche Geltung für Angehörige des öffentlichen Diensts auch bereits aus Art. 52 Abs. 3 GRC in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 EMRK, da Art. 11 EMRK anerkanntermaßen ebenso für diese Berufsgruppe gilt200 und insoweit eine inhaltliche Mindestvorgabe für den persönlichen Schutzbereich des Art. 28 GRC darstellt.201 Auch die bei der Schaffung des Art. 28 GRC weiterhin zugrunde gelegten Regelungen des Art. 6 ESC sowie Nr. 12 bis 14 GSGA gelten ihrerseits für alle öffentlich Bediensteten.202 Das Recht auf Kollektivmaßnahmen und Streik gemäß Art. 28 GRC besteht demnach grundsätzlich auch für Beschäftigte im öffentlichen Dienst.203 (e) Das Streikrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts Bereits bevor Art. 28 GRC mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verbindliches Primärrecht wurde, war das Recht auf kollektive Maßnahmen in der EU als ungeschriebener, allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) gewährleistet. Dies hatte der EuGH in den Rechtssachen Viking Line204 und Laval 205 festgestellt. Obgleich nach Art. 137 Abs. 5 EG (jetzt Art. 153 Abs. 5 AEUV) eine Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft für das Streik- und Aussperrungsrecht nicht bestand, stellte der Gerichtshof klar, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts als Gemeinschaftsgrundrecht anzuerkennen sei und als solches eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten – in diesen Fällen der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 43, 49 EG (jetzt Art. 49, 56 AEUV) – rechtfertigen könne.206 Zur Herleitung des Grundrechts auf Kollektivmaßnahmen und Streik berief sich der Gerichtshof auf andere internationale Rechtsakte sowie auf solche Rechtsakte, die die Mitgliedsstaaten im Rahmen der Gemeinschaft erarbeitet hatten. So zogen die Richter die Rege-
199 Vgl. zum europäischen Arbeitnehmerbegriff m.w. N. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV Rn. 12 ff. 200 Oben Kapitel 2 A.I. 201 Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 153 f. 202 Für Art. 6 Nr. 4 ESC siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(b). Die grundsätzliche Geltung der Nr. 13 GSGA für öffentlich-rechtlich Bedienstete ergibt sich aus dem nachstehenden Ausgestaltungsvorbehalt der Nr. 14 GSGA für die Streitkräfte, die Polizei und den öffentlichen Dienst. 203 Rixen, in: Tettinger/Stern, EuGRCh, Art. 28 Rn. 1; Jarass, GRCh, Art. 28 Rn. 10; Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 28 GRC Rn. 13. 204 EuGH 11.12.2007 – C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 44 (Viking). 205 EuGH 18.12.2007 – C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 91 (Laval). 206 EuGH 11.12.2007 – C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 45 (Viking); EuGH 18.12.2007 – C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 93 (Laval). Siehe auch Franzen, in: FS Buchner, S. 231, 232 ff.
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lungswerke der Europäischen Sozialcharta, das ILO-Übereinkommen Nr. 87, die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und der bis dato noch nicht verbindlichen Grundrechtecharta in ihren Urteilsgründen heran. Mit der Neufassung des Art. 6 EUV und der damit verbundenen Inkorporation der Grundrechtecharta in das Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 EUV) bei gleichzeitiger Beibehaltung des durch die Judikatur entwickelten Grundrechtekatalogs (Art. 6 Abs. 3 EUV) kommt es somit zu einem Nebeneinander von kodifiziertem und ungeschriebenem Grundrechtsschutz. Für den persönlichen Schutzbereich des innerhalb beider Grundrechtsschichten verbürgten Streikrechts ergeben sich hieraus allerdings keine Besonderheiten, da bereits für den Arbeitnehmerbegriff des Art. 28 GRC auf den durch den EuGH zu 45 AEUV bzw. ex-Art. 39 EG in ständiger Rechtsprechung entwickelten europäischen Arbeitnehmerbegriff abgestellt wird.207 Die rechtliche Ausgestaltung des Lohn- und Gehaltsverhältnisses – privatrechtlicher Vertrag oder öffentlich-rechtlicher Status – spielt insoweit keine Rolle, sodass im Grundsatz auch öffentlich-rechtlich Bedienstete, einschließlich der deutschen Beamten, dem persönlichen Schutzbereich der Streikrechtsgarantie unterfallen.208 Für die Ausgestaltung des konventionsrechtlichen Streikrechtsschutzes im Bereich des öffentlichen Diensts ist die Rechtsprechung des EuGH darüber hinaus von besonderer Bedeutung. So verwies der EGMR in Enerji Yapi-Yol Sen im Rahmen der Rechtfertigung auf sein Urteil vom 8. Dezember 1999 in der Sache Pellegrin,209 in welchem zur näheren Bestimmung des Merkmals „öffentlicher Dienst“ im Rahmen des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK wiederum auf eine Mitteilung der EU-Kommission vom 18. März 1988210 sowie die entsprechende Rechtsprechung des EuGH zur Bereichsausnahme für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag (ex-Art. 39 Abs. 4 EG, jetzt Art. 45 Abs. 4 AEUV) Bezug genommen wurde.211 Insoweit werden die durch die Or-
207
Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(d). Vgl. etwa EuGH 24.3.1994 – C-71/93, Slg. 1994, I-1101, Rn. 17 ff. (Van Poucke); EuGH 16.12.2004 – C-293/03, Slg. 2004, I-2013, Rn. 37 (My). Für mögliche Beschränkungen wiederum bezieht sich der EuGH (11.12.2007 – C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 44 (Viking); 18.12.2007 – C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 91 (Laval)) auf die Einschränkungsvorbehalte des Art. 28 GRC und dabei speziell auf die „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“; vgl. auch Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 273. 209 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). 210 Mitteilung der EU-Kommission: „Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Zugang zur Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung der Mitgliedstaaten – Aktion der Kommission auf dem Gebiet der Anwendung von Artikel 48 Absatz 4 EWG-Vertrag“, ABl. 1988 Nr. C72, S. 2. 211 EGMR 8.12.1999 – App. 28541/95, Rn. 38 ff., 66 (Pellegrin). 208
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gane der EU entwickelten Kriterien bei der Frage nach der Einschränkbarkeit des konventionsrechtlichen Streikrechts zu berücksichtigen sein.212 (f) Das Streikrecht in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten Zur Rechtsfortbildung im Rahmen des Konventionsschutzes bedient sich der Gerichtshof häufig der sogenannten „wertenden Rechtsvergleichung“, bei welcher nach idealtypischer Vorgehensweise alle Rechtsordnungen der Konventionsstaaten einer Analyse unterzogen werden, um hieraus einen (neuen) europäischen Konsens bzw. gemeinsame Wertüberzeugungen („common values“ 213) im Hinblick auf eine Rechtsgarantie herauszufiltern. In der Praxis jedoch wird die Rechtsprechung diesem Anspruch in aller Regel nicht gerecht. Vielmehr ist in den Entscheidungsbegründungen des EGMR regelmäßig bereits eine in der Mehrheit der Rechtssysteme zum Ausdruck kommende Rechtsgewährleistung für die Annahme einer gemeinsamen Wertüberzeugung ausreichend. Zudem wird der Aspekt der Praxis der europäischen Mitgliedsstaaten bei der Rechtsfortbildung durch den EGMR nicht durchgehend berücksichtigt.214 Diesem Muster entsprechend, erfolgte auch die Anwendung der rechtsvergleichenden Methode durch den Gerichtshof in der jüngsten Rechtsprechung zu den kollektiven Gewerkschaftsrechten in Demir und Baykara und Enerji Yapi-Yol Sen. In Demir und Baykara etwa beließ es der EGMR bei einer kurz gefassten Feststellung, dass die aus den internationalen und europäischen Regelungssystemen hergeleiteten Koalitionsrechte der Angehörigen des öffentlichen Diensts auf Gewerkschaftsgründung und -beitritt sowie auf Kollektivverhandlungen ihrerseits auch durch die Mehrheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten gewährleistet würden.215 Hierzu erfolgten allerdings keinerlei Erläuterungen oder Hinweise auf diesbezügliche Belegstellen oder Quellen. Vielmehr unterstrich der Gerichtshof die bereits gefundenen Ergebnisse mit einem „behaupteten“ europäischen Konsens, fußend auf der mehrheitlichen Praxis der Vertragsstaaten. Inwiefern dem rechtsvergleichenden Argument gleichwohl ein zu beachtendes Gewicht im Rahmen der Rechtsfortbildung zugemessen werden kann, ist zweifelhaft.216 Die 3. Sektion verzichtete in Enerji Yapi-Yol Sen gänzlich auf einen expliziten Rechtsvergleich zur Herleitung der konventionsrechtlichen Streikrechtsgaran-
212
So auch Seifert, KritV 2009, 357, 376; Lörcher, AuR 2009, 241. EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 85 (Demir and Baykara). 214 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 11. 215 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 52, 106, 151 (Demir and Baykara); siehe auch oben Kapitel 2 A.II.3.b)aa). 216 Kritisch etwa Seifert, KritV 2009, 357, 367; Grabenwarter/Pabel, § 5 Rn. 11; a. A.: Fütterer, EuZA 2011, 505, 514. 213
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tie.217 Tatsächlich hätte sich ein solcher – jedenfalls im Hinblick auf die grundsätzliche Gewährleistung des Streikrechts in den Konventionsstaaten – durchaus angeboten. Denn obgleich nur 41, der insgesamt 47 Vertragsstaaten, Art. 6 Nr. 4 ESC bislang ratifiziert haben,218 wird das Streikrecht im Grundsatz von nahezu allen Konventionsmitgliedern gewährleistet.219 Wesentlich differenzierter gestaltet sich die Situation dagegen für die Streikrechtsgewährleistungen im öffentlichen Sektor. Zwar herrscht vielfach eine der deutschen Rechtslage ähnelnde Einteilung der öffentlich Bediensteten in solche mit einem besonderen, zumeist öffentlich-rechtlich ausgestalteten, Beschäftigungsverhältnis auf der einen und solche mit „gewöhnlichen“, zumeist privatrechtlich begründeten Arbeitsverhältnissen auf der anderen Seite.220 Die nähere Ausgestaltung der Dienstbereiche und die Definitionen der verschiedenen Sektoren ist dabei jedoch höchst unterschiedlich, mit der Folge, dass auch das Streikrecht in sehr unterschiedlichem Maße gewähreistet wird221 bzw. stellenweise nahezu vollständig ausgeschlossen ist.222 Vor diesem Hintergrund kann eine einheitliche Aussage über die innerstaatliche Praxis der Konventionsmitglieder im Hinblick auf die Gewährung eines Streikrechts im öffentlichen Dienst nicht getroffen werden.
217 Auch hier ist allerdings wiederum der Verweis der 3. Sektion auf den methodischen Ansatz der Großen Kammer in Demir und Baykara zu beachten, siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(c). 218 Andorra, Österreich, Griechenland, Luxemburg, Polen und die Türkei haben Art. 6 Nr. 4 ESC weder im Rahmen der ursprünglichen noch der revidierten Fassung der Charta bislang akzeptiert, vgl. die „country factsheets“: Member States of the Council of Europe and the European Social Charter (Stand: 27.4.2015) abrufbar unter: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/socialcharter/Presentation/Overview_en.asp. (Stand: 27.5.2015). 219 Vgl. Warnecke/Clauwaert, ETUI Report Part II – country reports; „Country factsheets“: Member States of the Council of Europe and the European Social Charter (Stand: 27.5.2015), abrufbar unter: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/socialcharter/ Presentation/Overview_en.asp (Stand: 27.5.2015).; US Departement of State, 2011 Country Reports on Human Rights Practies, abrufbar unter: http://www.state.gov/j/drl/ rls/hrrpt/2011/index.htm. (Stand: 27.5.2015). Die einzig ersichtliche Ausnahme ist Andorra. Zwar enthält Art. 19 der Verfassung die grundsätzliche Anerkennung des Rechts der Arbeitnehmer, ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu verteidigen. Die notwendige gesetzliche Ausgestaltung ist allerdings bislang nicht geschehen, weshalb de facto nicht von einem bestehenden Streikrecht ausgegangen werden kann, vgl. US Departement of State, 2011 Country Reports on Human Rights Practies (Andorra) S. 9 f. abrufbar unter: http://www.state.gov/j/drl/ rls/hrrpt/2011/index.htm. (Stand: 27.5.2015). 220 Vgl. Demke, ZBR 2010, 109 122. 221 Siehe Fn. 219; vgl. auch EFILWC, industrial relations in the public sector, S. 35 ff. 222 Sehr restriktive Regelungssysteme bestehen bspw. in Bulgarien (ECSR, Conclusions ESC (rev.) 2010, Vol. 1, S. 286 (Bulgaria)), Estland (ECSR, Conclusions ESC (rev.) 2010, Vol. 1, S. 228 (Estonia); US Departement of State, 2011 Country Reports on Human Rights Practies (Estonia), S. 27 f.) oder der Ukraine (ECSR, Conclusions ESC (rev.) 2010, Vol. 2, S. 634 ff. (Ukraine)).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
(g) Zusammenfassung Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, ist das soziale Grundrecht auf Kollektivmaßnahmen bzw. Streik sowohl durch internationale, als auch durch europäische Rechtsinstitute auf mannigfaltigen Ebenen geschützt. Hierbei wird deutlich, dass dieser Schutz im Grundsatz auch die Angehörigen des öffentlichen Diensts mitumfasst, was allerdings nicht ausnahmslos gilt. Vielmehr haben insbesondere die im Rahmen der ILO, der ESC und des IPBPR eingerichteten Ausschüsse eine weitreichende Spruchpraxis zur Einschränkbarkeit des Streikrechts entwickelt, welche auch für die Rechtsprechung des EGMR eine wichtige Erkenntnisquelle darstellt.223 Die kodifizierten sowie die nicht kodifizierten unionsrechtlichen Streikrechtsgarantien unterliegen im Einklang mit der von Art. 153 Abs. 5 AEUV (ex-Art. 137 Abs. 5 EG) vorgesehenen Kompetenzverteilung vornehmlich den jeweiligen rechtlichen Beschränkungen der Mitgliedstaaten.224 Der EGMR berücksichtigt indessen die Spruchpraxis der Unionsorgane zu den Bereichsausnahmen für die öffentliche Verwaltung im Rahmen der Grundfreiheiten zur Konkretisierung der Einschränkungsvoraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK. Die von den Straßburger Richtern ebenfalls häufig bemühte Methode der wertenden Rechtsvergleichung zwischen den Konventionsstaaten bringt jedenfalls im Bereich der Streikrechtsgewährleistung für Angehörige des Staatsdienstes keinen Erkenntnisgewinn in Gestalt eines einheitlichen europäischen Konsenses. bb) Einschränkbarkeit für Angehörige des öffentlichen Diensts nach Art. 11 Abs. 2 EMRK Im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs bestätigte der Gerichtshof zunächst noch einmal die Anerkennung des Streikrechts als grundsätzlich durch die Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgte Maßnahme, die allerdings nicht absolut gewährleistet sei.225 Zur Konkretisierung führten die Richter weiter aus: „Ainsi, le principe de la liberté syndicale peut être compatible avec l’interdiction du droit de grève des fonctionnaires exerçant des fonctions d’autorité au nom de l’Etat. Toutefois, si l’interdiction du droit de grève peut concerner certaines catégories de fonctionnaires (voir, mutatis mutandis, Pellegrin c. France [GC], no 28541/95, §§ 64–67, [. . .]), elle ne peut pas s’étendre aux fonctionnaires en général, comme en l’espèce, ou aux travailleurs publics des entreprises commerciales ou industrielles de l’Etat.“ 226 223 Vgl. etwa EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 165 (Demir and Baykara); Hendy/Ewing ILJ 2010, 1, 7 ff. 224 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 3757; oben Fn. 208. 225 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen): „La Cour reconnait que le droit de grève n’a pas de caractère absolu.“ 226 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Der Gerichtshof verwies demnach bezüglich der vom Streikrecht möglicherweise auszunehmenden Gruppen der öffentlich Bediensteten auf seine frühere Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Angehörige des öffentlichen Diensts, namentlich auf das Urteil in der Sache Pellegrin vom 8. Dezember 1999.227 Zusätzlich stellte er fest, dass Streikverbote jedenfalls nicht pauschal den öffentlichen Dienst228 sowie die öffentlich Bediensteten staatlicher Wirtschafts- und Industrieunternehmen betreffen könnten. Die Richter beließen es bei diesen recht knappen Ausführungen bzw. dem abstrakten Verweis auf Pellegrin. Eine nähere Einlassung im Hinblick auf konkretere Vorgaben zu zulässigen Einschränkungsmöglichkeiten erachteten sie offenbar nicht als notwendig, da das von der türkischen Generalleitung der Personalabteilung ausgesprochene Streikverbot in seiner Pauschalität jedenfalls einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft darstellte. Die gesetzlichen Beschränkungen müssten so klar und eng wie möglich gefasst sein. Der Runderlass allerdings sei generell und ohne eine hinreichende Abwägung der in Art. 11 Abs. 2 EMRK genannten Ziele ergangen. Im Ergebnis also habe das Verbot keinem „dringenden sozialen Bedürfnis“ entsprochen und habe somit unverhältnismäßig in die wirksame Ausübung der von Art. 11 EMRK garantierten Rechte eingegriffen.229 cc) Interpretation des Urteilsspruchs im Hinblick auf seine Übertragbarkeit auf das deutsche Beamtenrechtssystem Wie vorstehend gesehen, hat das Urteil, neben der grundsätzlichen Anerkennung des Streikrechts als konventionsrechtlich geschützte Arbeitskampfmaßnahme, noch eine zweite Dimension. So befassten sich die Richter überdies mit den möglichen Ausnahmen von der grundsätzlichen Gewährung des Streikrechts im Bereich des öffentlichen Diensts. Wörtlich führten sie aus: „[. . .] l’interdiction du droit de grève [. . .] ne peut pas s’étendre aux fonctionnaires en général.“ 230
Da parallel zu den gemäß Art. 59 Abs. 4 EMRK einzig verbindlichen Fassungen der Konvention in englischer und französischer Sprache gemäß Art. 34 227 EGMR 8.12.1999 – App. 28541/95 (Pellegrin). In diesem Urteil hatte der Gerichtshof zur Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK („zivilrechtliche Ansprüche“) auf Angehörige des öffentlichen Diensts abweichend von seiner bis dahin ständigen Rechtsprechung auf ein sog. funktionales Kriterium abgestellt. Dieses berücksichtigte – unabhängig vom jeweiligen Status – die Natur der ausgeübten Aufgaben und Verantwortlichkeit in Bezug auf eine direkte oder indirekte Beteiligung an der Ausübung der Staatsgewalt („functional criterion based on the nature of the employee’s duties and responsibilities“). 228 Zu der umstrittenen genauen Übersetzung sogleich unter Kapitel 2 A.II.4.b)cc). 229 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 f. (Enerji Yapi-Yol Sen). 230 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen).
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Abs. 1 der Verfahrensordnung des EGMR231 auch die entsprechenden Amtssprachen Englisch und Französisch sind, kommt es für die Interpretation des Urteilsspruchs prima facie entscheidend auf die gewählte Übersetzung an. Denn je nach gewählter Übersetzungsvariante scheint das Verdikt des EGMR auch unmittelbar auf das in der Bundesrepublik bestehende statusbezogene Streikverbot für Beamte übertragbar zu sein. (1) Eng gefasste Interpretation So wird für den Urteilsspruch verbreitet eine Übersetzung gewählt, nach welcher das Streikverbot zwar eine näher bezeichnete Gruppe von Beamten betreffen, nicht aber die gesamte Beamtenschaft umfassen dürfe.232 Der Begriff „fonctionnaires“ wird demnach mit „Beamte“ übersetzt,233 was rein terminologisch eine Übertragbarkeit auf die deutsche Rechtslage nahegelegt. In der direkten Konsequenz nämlich impliziert diese Übersetzung, dass das Streikrecht auch für Beamte im Grundsatz durch die Konvention anerkannt wird bzw. nicht generell ausgeschlossen werden kann, was zu der in der Deutschland bestehenden Rechtslage im Widerspruch stünde. (2) Weiter gefasste Interpretation Nach anderer Auffassung234 statuiert der Urteilsspruch, dass das Streikverbot bestimmte Gruppen des öffentlichen Diensts betreffen, nicht aber insgesamt für den öffentlichen Dienst ausgesprochen werden könne. Der Begriff „fonctionnaires“ wird als „Angehörige des öffentlichen Diensts“ übersetzt.235 Entsprechend könne dem Urteil ein generelles Streikrecht für Beamte nicht ohne weiteres entnommen werden. Im Hinblick auf die konventionsrechtliche Situation in der Bundesrepublik wird im Gegenteil angenommen, dass die auch im Hinblick auf das Streikrecht bestehende Zweiteilung zwischen öffentlich-rechtlichen Beamten-
231 Vgl. die Bekanntmachung der Neufassung der Verfahrensordnung des EGMR vom 27. Juli 2006, BGBl. II, 2006, S. 693, BGBl. II, 2010, S. 1198. 232 So etwa VG Düsseldorf 15.12.2010 – 31 K 3904/10.O, PersR 2011, 167, 168; Niedobitek, ZBR 2010, 361, 368; Lörcher, AuR 2009, 229, 235 ff.; ders., PersR 2011, 452 f.; Seifert, KritV 2009, 357, 362; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 94; Sangi, KritV 2012, 103, 108. 233 So die Übersetzung bei Buschmann/Lörcher, AuR 2009, 274 ff. 234 Ausgangspunkt dieser Übersetzungs- und Interpretationsvariante ist der Beitrag von Lindner in DöV 2011, 305, 307; so auch OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 897 ff.; tendenziell zustimmend aber im Ergebnis offenlassend OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 78 ff.; siehe auch Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 22; Hense, in: Epping/Hillgruber, Art. 33 GG Rn. 42.3; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 29. 235 So die Übersetzung von Meyer-Ladewig/Petzold, NZA 2010, 1423 ff.
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verhältnissen auf der einen und privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnissen als Arbeiter und Angestellte auf der anderen Seite eine ausreichende Differenzierung im Sinne des Urteilsspruches des EGMR darstelle. (3) Stellungnahme Es gilt zu beachten, dass die Urteilsformel in Enerji Yapi-Yol Sen nicht auf einen dem deutschen Recht unterfallenden Sachverhalt zugeschnitten ist. Wie vorstehend dargestellt,236 sind die jeweiligen konventionsstaatlichen Konzeptionen des öffentlichen Dienstes – obwohl vielfach von einer Zweiteilung ähnlich dem deutschen Modell geprägt – stark unterschiedlich ausgestaltet. Im Falle der Türkei etwa unterscheidet Art. 128 der türkischen Verfassung ebenfalls zwischen Beamten und sonstigen Angehörigen des öffentlichen Diensts. Gleichzeitig räumt allerdings der zuletzt am 7. Mai 2010 geänderte Art. 53 der Verfassung, anders als in Deutschland, für beide Gruppen das Recht auf Tarifverhandlungen ein.237 An einer entsprechenden Streikrechtsgewährleistung in Art. 54 der Verfassung fehlt es dagegen bis zum heutigen Tage.238 Dies legt zwar zunächst den Schluss nahe, dass der streitgegenständliche Runderlass der Personalleitung nicht nur den türkischen Beamten, sondern vielmehr allen Angehörigen des öffentlichen Diensts die Streikteilnahme untersagte, da ausdrücklich ein Zuwiderhandeln gegen das Gesetz verhindert werden sollte. Entsprechend wäre mit der zweitgenannten Auffassung davon auszugehen, dass sich auch der Urteilsspruch auf alle Angehörigen des öffentlichen Diensts erstreckte. Aber auch wenn entgegen dieser Annahme nur die türkischen Beamten Adressaten des Streikverbots wären, ließe sich aus dessen erklärter Konventionswidrigkeit kein unmittelbarer Rückschluss auf die deutsche Rechtslage ziehen. Denn nicht nur die rechtliche Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen, sondern auch die von türkischen Beamten wahrgenommenen Aufgabenbereiche sind keinesfalls
236
Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(f). Vgl. auch die korrespondierende Ausnahmeregelung zu der grundsätzlich vorgeschriebenen gesetzlichen Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse in Art.128 Abs. 2 der türkischen Verfassung. Zudem erfolgt auch die nähere Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse beider Gruppen unterschiedslos durch das Gesetz Nr. 657, vgl. auch Rumpf, Gutachten ArbG Köln, S. 7 f. 238 Der türkische Kassationsgerichtshof hatte bereits in dem dem Urteil zu Demir und Baykara vorangegangenen nationalen Verfahren betont, dass die Verfassung Arbeitnehmerrechte nur insoweit gewährleiste, wie sie durch spezifische Gesetze eingeräumt würden. Fehlten die entsprechenden gesetzlichen Regelungen, so könne nicht vom Bestehen eines Rechts ausgegangen werden, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 26 (Demir and Baykara): „In fact, the Constitution, by the indication ,the exercise of this right shall be governed by legislation‘ clearly earmarked the rights and freedoms which, to be used and applied, required the enactment of specific legislation. Absent such legislation, these rights and freedoms [. . .] could not be exercised.“ 237
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mit der Organisation des deutschen Beamtenapparats deckungsgleich.239 Die aus der Übersetzung resultierende rein terminologische Identität geht somit nicht mit einer inhaltlichen Identität der Ausgestaltung der Aufgabenwahrnehmung im Bereich des öffentlichen Diensts einher. Folglich kann der Versuch, dem Urteil durch die jeweilig gewählte Übersetzung des Begriffs „fonctionnaire“ eine auf die deutsche Rechtslage bzw. den sonstigen der Konvention unterfallenden Rechtsraum unmittelbar anwendbare Aussage zu entnehmen, nur misslingen.240 Aus gerade diesen Erwägungen ist ebenso wenig ein Rekurs auf die im französischen Recht bestehende Unterscheidung der Angehörigen des öffentlichen Diensts und die korrespondierenden Statusbezeichnungen zur Auffindung eines allgemeinverbindlichen Aussagegehalts des Urteilsspruches geeignet.241 Denn weder hatte der Gerichtshof über die französische Rechtslage zu befinden, noch bestehen im Hinblick auf den türkischen öffentlichen Dienst ersichtliche Parallelen.242 Die Urteilsformel kann Allgemeingültigkeit nur insoweit beanspruchen, wie sie ein undifferenziertes, nicht näher begründetes Pauschalverbot des Streiks im öffentlichen Dienst betrifft.243 Die Einschränkungen müssen so klar und eng umgrenzt wie möglich erfolgen. Hierfür ist es zielführend, anhand einer abstrahierenden Betrachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs sowie der darin enthaltenen konkretisierenden Verweise allgemeingültige Parameter zu entwickeln, mit Hilfe derer dann die konventionsrechtliche Konformität der nationalen Streikrechtsrestriktionen im Einzelfall bestimmt werden können. Folglich sind zunächst die im Nachgang zu Enerji Yapi-Yol Sen ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs zu untersuchen, um ein abschließendes Bild der Rechtsprechung zur Thematik des Streikrechts zeichnen zu können.
239 DESA, Turkey Administration Profile, S. 11 f., abrufbar unter: www.unpan.org (Stand: 27.5.2015); vgl. zudem die Übersicht World Bank, The Scope of the Civil Service in OECD and Select CEE Countries, abrufbar unter: http://www1.worldbank.org/ publicsector/civilservice/cs_law_OECD.htm. (Stand: 27.5.2015). 240 Die Definition des Beamtenbegriffs ist in den europäischen Staaten sehr unterschiedlich, vgl. Demke, ZBR 2010, 109 111. Vgl. zu den parallelen terminologischen Schwierigkeiten im Geltungsbereich der ILO-Konvention Nr. 87, ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 158. 241 Diesen bemüht allerdings Buschmann, in: FS Kempen, S. 255, 274. 242 Auch der Verweis des OVG Münster (7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 897) auf die differenzierte Unterscheidung der Begrifflichkeiten in Pellegrin geht fehl, da der EGMR in diesem Fall – anders als in Enerji Yapi-Yol Sen – auch über die spezifisch französische Rechtlage zu entscheiden hatte. Zudem stellte der Gerichtshof in eben diesem Urteil fest, dass ein bloßes Abstellen auf Begrifflichkeiten bzw. den Status aufgrund der Systemunterschiede in den Konventionsstaaten gerade einem einheitlichen Konventionsschutz abträglich ist, vgl. EGMR 8.12.1999 – App. 28541/95, Rn. 59 ff. (Pellegrin). 243 Beachte insoweit auch bereits EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 168 (Demir and Baykara).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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c) Zwischenergebnis Hatte der Gerichtshof in den Verfahren Karacay, Urcan und Dilek u.a das Streikrecht zwar bereits faktisch als geschützte Maßnahme im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EMRK anerkannt, so beschränkten sich die Begründungen dennoch stets auf den Einzelfall. In Enerji Yapi-Yol Sen schließlich nahm er das Streikrecht erstmals in den Kanon der grundsätzlich durch die Konvention geschützten Arbeitnehmerrechte auf. Im Windschatten des Demir und Baykara-Urteils der Großen Kammer und der damit verbundenen methodischen Neuausrichtung der Interpretation der Konventionsgarantien des Art. 11 EMRK nutzte die 3. Sektion die Gelegenheit, das Streikrecht als weiteren Gewährleistungsbestandteil der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK anzuerkennen und damit eine sich bereits vorher andeutende Rechtsprechungsentwicklung244 weiter zu festigen.245 Die Gewährleistung des Streikrechts besteht dabei dem Grunde nach auch für die Angehörigen des öffentlichen Diensts, weshalb jedenfalls ein undifferenziertes Streikverbot für diese Beschäftigtengruppe konventionswidrig ist. Unter den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK sind gleichwohl inhaltlich klar bestimmte und eng umgrenzte Ausnahmen von der Streikrechtsgewährleistung möglich. Ob das in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Beamtenstreikverbot eine diese Anforderungen wahrende Beschränkung darstellt, lässt sich alleine anhand der Urteilsformel nicht abschließend bestimmen. 5. Die Konkretisierung des konventionsrechtlichen Streikrechts Im Nachgang zur Anerkennung der konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistung verdienen weitere Entscheidungen des Gerichtshofs besondere Beachtung, in denen sich dieser mit verschiedenen Eingriffen in die durch Art. 11 EMRK verbürgten Rechtspositionen von Individualpersonen zu beschäftigen hatte. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf solche inhaltlichen Aspekte der Streikrechtskonzeption des Gerichtshofs zu legen, die auch durch Enerji Yapi-Yol Sen noch nicht abschließend geklärt wurden. Offen blieb etwa, ob sich neben der Gewerkschaft auch die einzelnen Arbeitnehmer auf eine positive Streikrechtsgarantie berufen können.246 Klärungsbedürftig war zudem, ob der Gerichtshof das Streikrecht konzeptionell als akzessorisch zum Recht auf Kollektivverhandlungen
244
Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.a). van Drooghenbroeck (RTDH 2009 (79), 811, 837 f.) bezeichnet die vorangegangene Rechtsprechung des Gerichtshofs sogar als Versteckspiel („cache-cache juridique“), welches mit Enerji Yapi-Yol Sen nunmehr ein Ende gefunden habe. 246 Führt man sich gleichwohl die Urteile Karacay, Urcan u. a. und Dilek u. a. erneut vor Augen, so liegt die Annahme eines solchen Rechts jedoch nahe. 245
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
versteht247 oder auch weitere Streikziele, etwa solche politischer Art, als vom Schutzbereich der Konvention umfasst ansieht. a) Disziplinarmaßnahmen gegen die individuelle Beteiligung von Lehrern an Kollektivmaßnahmen – Kaya und Seyhan und Saime Özcan In den nachfolgenden Verfahren ging es erneut um die Teilnahme von Angehörigen des türkischen öffentlichen Diensts – in beiden Fällen Lehrer – an gewerkschaftlichen Streiktagen. In der Sache Kaya und Seyhan richtete sich die gewerkschaftlich organisierte Aktion gegen einen Gesetzesentwurf über die Organisation des öffentlichen Diensts.248 In einem weiteren Verfahren hatte sich die Beschwerdeführerin Saime Özcan an einer Streikaktion zur allgemeinen Verbesserung der Arbeitsbedingungen im türkischen öffentlichen Dienst beteiligt.249 Die infolge der Streikteilnahmen gegen die betroffenen Lehrer ergangenen Disziplinarmaßnahmen wertete der Gerichtshof ohne nähere Ausführungen als Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs.1 EMRK. Der Schwerpunkt der Urteilsgründe lag auf der Prüfung der Notwendigkeit der jeweiligen Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft. Dabei bezogen sich die Richter der 2. Sektion größtenteils auf ihr früheres Urteil in der Sache Karacay250 und erkannten entsprechend erneut darauf, dass die Eingriffe nicht durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt seien.251 Im Wesentlichen setzte der Gerichtshof seine strenge Rechtsprechung im Hinblick auf die Bewertung von Disziplinarmaßnahmen gegen öffentlich Bedienstete aufgrund von Streikteilnahmen fort. Während es die Richter in Saime Özcan hierzu bei einem umfassen-
247 Dies könnte angenommen werden, da sich der Gerichtshof zur Herleitung des Streikrechts vorrangig auf sein Urteil in der Sache Demir und Bayakara stützte, in welchem er seinerseits das Gewerkschaftsrecht auf Kollektivverhandlungen begründete. Zudem deutet auch der Rekurs auf Art. 6 Nr.4 ESC in diese Richtung, da die Streikrechtskonzeption der Sozialcharter ihrerseits verwurzelt ist im Recht auf Kollektivverhandlungen („Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, [anerkennen die Vertragsparteien das Recht auf] kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts [. . .]“). Andererseits jedoch stützten sich die Richter gleichermaßen auf die Streikrechtsgarantie des ILO-Übereinkommens Nr. 87, welcher wiederum eine deutlich weitere Auffassung zugrunde liegt, wonach etwa auch politische Streikziele mitumfasst sind. 248 EGMR 15.9.2009 – App. 30946/04, Rn. 7 (Kaya and Seyhan). 249 EGMR 15.9.2009 – App. 22943/04, Rn. 5 (Saime Özcan). 250 Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.a)aa). 251 EGMR 15.9.2009 – App. 30946/04, Rn. 30 f. (Kaya and Seyhan); EGMR 15.9. 2009 – App. 22943/04, Rn. 22 f. (Saime Özcan). Ebenso verfuhr der Gerichtshof auch in einem weiteren Verfahren eines türkischen Gemeindebediensteten, gegen welchen aufgrund seiner Teilnahme an einem nationalen Aktionstag zum Tag der Arbeit eine Disziplinarmaßnahme in Form einer Verwarnung ergangen war, EGMR 13.7.2010 – App. 33322/07, Rn. 12 ff. (Cerikci).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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den Verweis auf das Urteil Urcan252 beließen, bedienten sie sich in Kaya und Seyhan nunmehr auch des durch Demir und Baykara und Enerji Yapi-Yol Sen zwischenzeitlich erweiterten Schutzsystems der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK.253 b) Schlussfolgerung Die vorstehenden Urteile setzen die Rechtssprechungslinie des EGMR zu den Konventionsrechten der Angehörigen des öffentlichen Diensts nach den Sachen Demir und Baykara und Enerji Yapi-Yol Sen fort. Konkret blieb die zur Entscheidung berufene 2. Sektion bei ihren bereits in Karacay und Urcan entwickelten Grundsätzen, nahm gleichzeitig jedoch den zwischenzeitlich erfolgten Rechtsprechungsfortschritt in Bezug. Hieraus lassen sich mehrere für die vorliegende Bearbeitung relevante Rückschlüsse ziehen. In den Verfahren standen jeweils individuelle Rechtsverletzungen aufgrund von gegenüber Einzelpersonen ergangenen Disziplinarmaßnahmen in Rede. Wie bereits im Vorfeld von Enerji Yapi-Yol Sen ging der Gerichtshof auch nach der Anerkennung des konventionsrechtlichen Streikrechts weiterhin von einem Eingriff in die Rechtspositionen der Beschwerdeführer aus. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Schutzbereichsbestimmung erfolgte insoweit jedoch nicht. Allerdings muss die Anerkennung eines Gewerkschaftsrechts auf Streik denknotwendig auch das Streikrecht der einzelnen Arbeitnehmer, jedenfalls insoweit sie selber Gewerkschaftsmitglieder sind, umfassen.254 Die Gewerkschaft kann schließlich nur durch ihre einzelnen Mitglieder handeln. Vor diesem Hintergrund ist denn auch die nicht näher begründete Annahme der Schutzbereichseröffnung durch den Gerichtshof zu verstehen. Im Ergebnis unterfällt damit die Mitwirkung des einzelnen Gewerkschaftsmitglieds an Streikaktionen grundsätzlich dem Konventionsschutz. Ob die Betroffenen sich hierfür auf ihre individuelle Versammlungsfreiheit oder gar auf ein individuelles Streikrecht berufen können, konkretisierte der Gerichtshof dagegen nicht.255 Diese Frage bedarf an der vorliegenden Stelle jedoch auch keiner abschließenden Klärung, da die Teilnahme als solche jedenfalls dem Konventionsschutz unterfällt und Eingriffe damit an den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK zu messen sind.256 252
Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.a)aa). So verwiesen die Richter in Kaya und Seyhan (EGMR 15.9.2009 – App. 30946/ 04, Rn. 26, 29) an zwei Stellen auf das vorangegangene Urteil der 3. Sektion in der Sache Enerji Yapi-Yol Sen. 254 Vgl. hierzu auch Schubert, AöR 2012, 92, 99. 255 Die 5. Sektion etwa hat in einem späteren Urteil in der Sache Trofimchuk die Streikteilnahme eines Heizungsmechanikers als Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung angesehen, EGMR 28.10.2010 – App. 4241/03, Rn. 39 (Trofimchuk). 256 Hierdurch stellten die Richter zusätzlich erneut klar, dass „Einschränkungen“ i. S. d. Art. 11 Abs. 2 EMRK nicht nur (präventiv wirkende) Verbote der Freiheitausübung umfassen, sondern gleichermaßen auch nachfolgende Sanktionsmaßnahmen und 253
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Darüber hinaus scheint der EGMR als konventionsrechtlich zulässiges Streikziel nicht lediglich den Abschluss einer Kollektivvereinbarung anzunehmen. Wie schon in Enerji Yapi-Yol Sen fanden auch in den vorstehenden Verfahren die zugrundeliegenden Streikaktionen nicht im Zusammenhang mit konkreten Verhandlungen eines Kollektivvertrags statt. Erklärte Ziele waren vielmehr den öffentlichen Dienst betreffende Gesetzesentwürfe oder allgemein die Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen.257 Zwar hat sich der Gerichtshof zu den jeweiligen Streikzielen nicht näher geäußert, sich allerdings mit der Zulässigkeit der diesbezüglich ergangenen Disziplinarstrafen auseinandergesetzt. Dies setzt denknotwendig voraus, dass die Streikaktionen als solche auch dem Konventionsschutz unterfallen. Der Gerichtshof versteht das Streikrecht damit nicht lediglich als Hilfsmittel im Rahmen von Verhandlungen eines Kollektivvertrages.258 Vielmehr sind Streikmaßnahmen auch zur sonstigen kollektiven Interessenwahrnehmung zulässig, jedenfalls insofern sie in Zusammenhang mit der Gestaltung von Beschäftigungs- und Wirtschaftsbedingungen stehen.259 Abschließend lässt sich den Entscheidungen noch eine Tendenz des Gerichtshofs zur Qualifizierung des Lehrerberufs im Hinblick auf den Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 EMRK für „Angehörige der Staatsverwaltung“ entnehmen. So fällt auf, dass in keinem der beiden Urteile erwogen wurde, die Eingriffe in die Konventionsrechte der Lehrer aus Art. 11 Abs. 1 EMRK mithilfe des Einschränkungsvorbehalts für die „Staatsverwaltung“ gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu rechtfertigen.260 Der Verzicht auf diesbezügliche Ausführungen in den Urteilsgründen lässt eine – wenngleich auch unausgesprochene – Tendenz des Gerichtshofs erkennen, den Lehrerberuf nicht innerhalb der Gruppe der Angehörigen der Staatsverwaltung gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu verorten.261 insbesondere Disziplinarmaßnahmen gegenüber den Betroffenen, vgl. auch EGMR 28.10.2010 – App. 4241/03, Rn. 35 (Trofimchuk). 257 Vgl. auch EGMR 13.7.2010 – App. 33322/07, Rn. 4 ff. (Cerikci). Die Zulässigkeit derartiger Streikaktionen mit politischer Ausrichtung bzw. bloßem Demonstrationscharakter wäre in der BRD nicht zuletzt wegen des fehlenden Tarifbezugs problematisch. 258 So auch Fütterer, Die Reichweite des Solidaritätsstreikrechts, S. 237. 259 Ebenfalls von einer weiteren Streikrechtskonzeption ausgehend Fütterer, EuZA 2011, 505, 512; Hendy/Ewing ILJ 2010, 1, 15 f. 260 Auch in der vorangegangenen Rechtssache Urcan (EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a.), in welcher ebenfalls Lehrer von der rechtsverkürzenden Maßnahme betroffen waren, stellte der Gerichtshof keinerlei Überlegungen in Richtung einer Anwendbarkeit des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK an. Anders als in den Rechtssachen Metin Turan (EGMR 14.11.2006 – App. 20868/02, Rn. 17), Karacay (EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 20) und dem später folgenden Urteil Cerikci (EGMR 13.7.2010 – App. 33322/07, Rn. 13 f.) machte die türkische Regierung allerdings auch nicht den Einwand geltend, die Beschwerde sei von Angehörigen der Staatsverwaltung gestellt und damit ratione materiae unvereinbar mit der Konvention. 261 Bestätigung erhält diese These zudem durch das Sondervotum („opinion concordante“) der Richterin Mularoni im Urteil in der Sache Urcan u. a. (EGMR 17.7.2008 –
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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6. R.M.T. – Eine Kehrtwende? In der Rechtssache National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (R.M.T.) 262 hatte sich der Gerichtshof ein weiteres Mal mit der Reichweite der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit im Hinblick auf Streikmaßnahmen, konkret sogenannter sekundärer Streikaktionen („secondary strike actions“), zu befassen. a) Konventionsrechtliche Zulässigkeit eines Verbots sekundärer Streikmaßnahmen Beschwerdeführerin war die in London ansässige Gewerkschaft R.M.T. mit über 80.000 Mitgliedern aus verschiedenen Sektoren der britischen Transportindustrie.263 Im Zuge eines Betriebsübergangs wurden im Jahre 2007 20 in dieser Gewerkschaft organisierte Arbeitnehmer aus einer Unternehmensgruppe, in welcher insgesamt 569 R.M.T.-Mitglieder arbeiteten, in ein anderes Unternehmen ausgelagert, wobei die bestehenden Arbeitsbedingungen der betroffenen Arbeitnehmer zunächst fortgalten. Nachdem die Unternehmensleitung knapp zwei Jahre nach dem Betriebsübergang ankündigte, aufgrund erschwerter Marktbedingungen die Vertragskonditionen der R.M.T-Mitglieder an die der restlichen Belegschaft angleichen zu müssen, kam es zu einem hiergegen gerichteten Streik der Gewerkschaftsmitglieder. In der Folge unterbreitete der Arbeitgeber ein überarbeitetes Angebot, welches die betroffenen R.M.T.-Mitglieder annahmen und von weiteren Streikaktionen absahen. Hintergrund dessen war, dass die betroffenen Arbeitnehmer befürchteten, ein weiterer Streik von lediglich 20 Gewerkschaftsmitgliedern entfalte keine ausreichende Druckwirkung, um den Arbeitgeber zu einem tatsächlich verbesserten Angebot zu bewegen. Insbesondere beklagte die beschwerdeführende Gewerkschaft, dass unterstützende Arbeitskampfmaßnahmen der übrigen R.M.T.-Mitglieder beim Vorgängerbetrieb aufgrund der geltenden Rechtslage unzulässig gewesen seien. Durch einen Sympathiearbeitskampf hätte die Möglichkeit bestanden, die Verhandlungsposition gegenüber der neuen Unternehmensleitung deutlich zu verbessern, weshalb das bestehende gesetzliche Verbot sekundärer Streikmaßnahmen in Großbritannien App. 23018/04 u. a.). Hierin nimmt die Richterin, als dem Urteil scheinbar selbstverständlich zugrundeliegende Prämisse, an, dass Lehrer nicht zu der Gruppe von Staatsbediensteten gehören, die besonderen Restriktionen im Hinblick auf die Ausübung der Konventionsrechte unterworfen werden können: „Les requérantes, en leur qualité d’enseignantes, n’appartiennent pas aux catégories des fonctionnaires pouvant faire l’objet de pareilles restrictions“. In seinem Urteil vom 22.11.2001 (App. 39799/98, unter 2. der Gründe) in der Sache Volkmer hatte der Gerichtshof noch explizit offengelassen, ob Lehrer als Staatsangehörige i. S. d. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 anzusehen sind. 262 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10 (R.M.T.). 263 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 6 (R.M.T.).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
eine Verletzung der nach Art. 11 EMRK gewährleisteten Koalitionsfreiheit darstelle.264 In seiner Entscheidungsbegründung führte der Gerichtshof zunächst aus, dass sekundäre Streikmaßnahmen, einschließlich solcher, die zur Unterstützung eines Konflikts von Gewerkschaftsmitgliedern mit einem anderen Arbeitgeber geführt werden, als gewerkschaftliche Betätigung vom Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst seien. Folglich manifestiere das gesetzliche Verbot sekundärer Streikmaßnahmen einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff. Hierfür bezogen sich die Richter in Anlehnung an Demir und Baykara auf die sonstigen europäischen und internationalen Rechtsquellen sowie auf die Praxis vieler europäischer Staaten, welche sekundäre Streikmaßnahmen als rechtmäßige gewerkschaftliche Betätigungen anerkennen.265 In der nachfolgenden Rechtfertigungsprüfung setzte sich die Kammer ausführlich mit der Frage nach der Notwendigkeit des Verbots in einer demokratischen Gesellschaft auseinander. Zunächst erfolgte an dieser Stelle die Klarstellung einer Urteilspassage aus der Sache Enerji Yapi-Yol Sen, auf welche sich die Beschwerdeführerin maßgeblich berufen hatte. So führte die Kammer aus, dass die dortige Verwendung des Begriffs „indispensable corollary“ 266 lediglich zur Verdeutlichung der Spruchpraxis der Überwachungsorgane der ILO diente und nicht im Sinne einer Weiterentwicklung der Interpretation des Art. 11 EMRK durch den Gerichtshof hin zu einem privilegierten Status des Streikrechts zu verstehen sei. Gleichwohl bestätigten die Richter die unter Enerji Yapi-Yol Sen erstmalig explizit formulierte grundsätzliche Gewährleistung des Streikrechts unter Art. 11 EMRK. Dabei ließen sie ausdrücklich offen, ob es sich hierbei um ein wesentliches Element der Vereinigungsfreiheit handele oder nicht:267 „The applicant placed great emphasis on the last of these judgments, in which the term ,indispensable corollary‘ was used in relation to the right to strike, linking it to the right to organise (Enerji, at §24). It should however be noted that the judgment was here adverting to the position adopted by the supervisory bodies of the ILO 264 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 14 ff. (R.M.T.). In einem zweiten Teil der Beschwerde richtete sich die Gewerkschaft gegen das Erfordernis der Benachrichtigung des Arbeitgebers von der Urabstimmung über einen Streik (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 8 ff. (R.M.T.)). Über diesen Teil der Beschwerde entschied der Gerichtshof jedoch gar nicht in der Sache, sondern wies die Beschwerde insoweit als unzulässig zurück (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 45 ff. (R.M.T.)). 265 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 75 ff. (R.M.T.). 266 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24 (Enerji Yapi-Yol Sen). 267 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 84 (R.M.T.) (Hervorhebung durch Bearbeiter). Zu beachten ist jedoch, dass die Kammer das Streikrecht im weiteren Verlauf der Entscheidungsgründe wiederum in einer Reihe mit den übrigen essentiellen Garantien der Vereinigungsfreiheit nennt (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 104 (R.M.T.).
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rather than evolving the interpretation of Article 11 by conferring a privileged status on the right to strike. More generally, what the above-mentioned cases illustrate is that strike action is clearly protected by Article 11. The Court therefore does not discern any need in the present case to determine whether the taking of industrial action should now be accorded the status of an essential element of the Article 11 guarantee.“
Im Anschluss hieran betonte die Kammer, dass dem Vertragsstaat hinsichtlich eines Verbots sekundärer Streikmaßnahmen ein weiter Ermessenspielraum („margin of appreciation“) zuzubilligen sei. Anders als in den durch die Beschwerdeführerin in Bezug genommenen vorangegangenen Verfahren268, handele es sich nicht um eine Einschränkung „primärer“ bzw. direkter Arbeitskampfmaßnahmen, welche die Vereinigungsfreiheit erheblich beeinträchtige. Betroffen sei vielmehr lediglich ein „sekundärer Aspekt“ gewerkschaftlicher Betätigung.269 Im Rahmen der sich anschließenden Beleuchtung des sonstigen internationalen Rechts sowie der Praxis der europäischen Staaten gelangten die Richter ungeachtet der vorstehenden Wertung gleichwohl zu der Feststellung, dass die Verbotsregelung in Großbritannien eine restriktive Maßnahme darstelle, welche einem gegenläufigen internationalen Trend („discernible international trend“) hin zu weniger einschränkenden Ausgestaltungen gegenüberstehe. Ferner sah sich der Gerichtshof durch den Einwand der Regierung, innerhalb der ILO bestünden Uneinigkeiten über die Auslegung der Übereinkommen bzw. die Existenz einer Streikrechtsgewährleistung270, nicht dazu veranlasst, die Spruchpraxis des ILOSachverständigenausschusses als Referenzpunkt innerhalb der nach Demir und Baykara vorzunehmenden evolutiven Auslegung in Frage zu stellen.271 Im Ergebnis begründete die Feststellung der gegenläufigen internationalen Rechtsentwicklung jedoch nicht die Konventionsrechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Verbotsregelung im konkreten Fall. Maßgebend sei nach Ansicht der Richter allein eine strikt einzelfallbezogene Betrachtung unter Berücksichtigung der konkreten Faktenlage.272 Hiernach habe keine tiefgreifende Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit der Beschwerdeführerin vorgelegen, da diese ihre sonsti-
268 Gemeint waren insbesondere die Rechtssachen Karacay, Dilek, Urcan und Enerji Yapi-Yol Sen (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 88 bzw. 84 (R.M.T)); vgl. auch oben Kapitel 2 A.II.5. 269 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 88 (R.M.T). 270 Hierzu oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(a). 271 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 96 f. (R.M.T). 272 Hierin sieht das Gericht auch den entscheidenden Unterschied zu der Bewertung durch die sonstigen europäischen und internationalen Überwachungsgremien, welche ihre Spruchpraxis unter Zugrundelegung allgemeinerer Kriterien formulierten (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 98 (R.M.T)): „The specialised international monitoring bodies operating under those procedures have a different standpoint, shown in the more general terms used to analyse the ban on secondary action.“
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
gen essentiellen Gewerkschaftsrechte, insbesondere die Interessenvertretung ihrer Mitglieder im Rahmen der Verhandlungen mit dem Arbeitgeber sowie die Organisation von Streikmaßnahmen für ihre betroffenen Mitglieder, ungehindert habe ausüben können.273 In Anbetracht eines Eingriffs in den „Randbereich“ der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit bewege sich der Vertragsstaat mit der Verbotsregelung innerhalb des ihm zuzubilligenden weiten Ermessensspielraums.274 Insbesondere könne ein Mitgliedsstaat auch aus reinen Zweckmäßigkeits- und Praktikabilitätserwägungen ein generelles gesetzliches Verbot erlassen, ohne dass dieses notwendigerweise den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletze.275 b) Bewertung und Schlussfolgerungen Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Rechtsprechungsentwicklung – insbesondere nach Demir und Baykara – erscheint die Entscheidung in der Sache R.M.T. auf den ersten Blick als eine Abkehr vom bisherigen Kurs des Gerichtshofs. Insbesondere stellt sich die Frage, ob sie eine Relativierung der maßgeblich durch Demir und Baykara geprägten erweiterten Auslegungsmethodik bedeutet. Zu erörtern ist ferner, ob die 4. Sektion die durch Enerji Yapi-Yol Sen und die Folgeentscheidungen gefestigte konventionsrechtliche Streikrechtsgewährleistung durch die der Entscheidung zugrunde liegenden Wertungen in Frage stellt. Festzustellen ist zunächst, dass die Kammer die Notwendigkeit der Berücksichtigung des sonstigen europäischen und internationalen Regelungsgefüges sowie der korrespondierenden Spruchpraxis der Überwachungsorgane bei der Auslegung des Konventionsrechts mehrfach bestätigt und sich in ihren Entscheidungsgründen hiermit auch eingehend auseinandersetzt.276 Zu dem Befund der Konventionsrechtskonformität der Verbotsregelung trotz des zuvor festgestellten entgegenstehenden internationalen Konsenses gelangt die Kammer nicht etwa durch ein Außerachtlassen des internationalen Auslegungskontextes in Abkehr von Demir und Baykara. Die grundsätzliche Annahme möglicher schwerwiegenderer Einschränkungen der Koalitionsfreiheit durch das Verbot sekundärer Streikmaßnahmen, welche maßgeblich auch der Kritik der internationalen Spruchpraxis zugrunde liegt277, stellten die Richter nicht per se in Abrede. Gleichwohl seien rein hypothetische Erwägungen nicht geeignet, im konkreten Fall einen Konventionsverstoß zu begründen, da die Betätigungsfreiheit der Gewerkschaft, insbesondere auch durch die gegebene Möglichkeit von 273 274 275 276 277
EGMR 8.4.2014 – App. EGMR 8.4.2014 – App. EGMR 8.4.2014 – App. EGMR 8.4.2014 – App. EGMR 8.4.2014 – App.
31045/10, Rn. 98, 104 (R.M.T). 31045/10, Rn. 104 (R.M.T). 31045/10, Rn. 100 ff. (R.M.T). 31045/10, Rn. 33 ff., 37 ff., 91 ff. (R.M.T). 31045/10, Rn. 33 ff., 37 ff. (R.M.T).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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direkten Streikmaßnahmen, ausreichend gewährleistet worden sei.278 Die Aufgabe des Gerichtshofs sei alleine die Feststellung eines konkreten Verstoßes gegen das Konventionsrecht und nicht dagegen die abstrakte Entscheidung über die generelle Zulässigkeit einer nationalen Regelung.279 Es bleibt somit festzuhalten, dass der Gerichtshof auch weiterhin an der evolutiven Auslegungsmethodik festhält.280 Die sich aus dem sonstigen internationalen Recht sowie der mehrheitlichen Praxis der europäischen Staaten ergebende abstrakte Wertung muss bei der Auslegung der Konvention im konkreten Fall berücksichtigt werden. Durch einen dem internationalen Recht und der Spruchpraxis entnommenen Konsens bezüglich einer Rechtsfrage wird die Konventionsanwendung somit nicht von vorneherein präjudiziert. Vielmehr macht der Gerichtshof im Wege einer einzelfallbezogenen Betrachtung den Auslegungsansatz aus Demir und Baykara einer differenzierteren Anwendung zugänglich.281 Im Hinblick auf die Frage nach der Übertragbarkeit dieses differenzierten Anwendungsansatzes auf die Gewährleistung des (unmittelbaren) Streikrechts im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK zieht die Kammer bereits ihrerseits eine klare Trennlinie.282 In Abgrenzung zum Recht auf unmittelbare Streikmaßnahmen – sowie der hierzu ergangen bisherigen Diktion des Gerichtshofs – beträfe ein Verbot sogenannter sekundärer Streikmaßnahmen (etwa Sympathie – oder Unterstützungsstreiks) lediglich einen Randbereich der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit und nicht einen Kernaspekt („not the core but a secondary or accessory aspect of trade union activity“).283 Die der Entscheidung zugrunde liegenden Wertungen lassen sich daher nur sehr bedingt auf „primäre“ Streikmaßnahmen übertragen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf den dem Vertragsstaat zugebilligten weiten Ermessensspielraum sowie die verringerten Verhältnismäßigkeitsanforderungen, welche der Gerichtshof ausschließlich aus der geringen Eingriffsintensität der Verbotsregelung im konkreten Fall ableitete.284
278 Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasse keineswegs auch das Recht auf das erfolgreiche Führen eines Arbeitskampfs („right to prevail“) (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 85 (R.M.T)). 279 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 98 (R.M.T). 280 Vgl. auch EGMR 9.7.2013 – App. 2330/09, Rn. 142 (Sindicatul Pastorul Cel Bun). 281 Diese Anwendung sieht die 4. Sektion auch bereits in der Entscheidung der Großen Kammer in Demir und Bakara angelegt (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 98 (R.M.T)). 282 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 88 (R.M.T): „It cannot be said that the effect of the ban on secondary action struck at the very substance of the applicant’s freedom of association. On this ground the case is to be distinguished from those referred to in paragraph 84 above, which all concerned restrictions on ,primary‘ or direct industrial action by public-sector employees [. . .]“ (Hervorhebung durch Bearbeiter). 283 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 87 f. (R.M.T). 284 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 87 (R.M.T).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Gleichwohl nahm die Kammer eingangs der Rechtfertigungsprüfung die beschriebene Klarstellung der Urteilsbegründung aus Enerji Yapi-Yol Sen vor, verbunden mit der ausdrücklich offengelassenen Frage, ob das Streikrecht ein essentielles Element der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK darstelle. Die grundsätzliche Gewährleistung des Streikrechts durch Art. 11 Abs. 1 EMRK und dessen Bedeutung wurden allerdings nicht in Zweifel gezogen285. Im Gegenteil, der Gerichtshof begründete die Zulässigkeit des Verbots sekundärer Streikmaßnahmen in dem konkreten Fall gerade maßgeblich damit, dass der beschwerdeführenden Gewerkschaft die zentralen Elemente der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit, wie das Recht auf kollektives Verhandeln sowie das Streikrecht, offen gestanden hätten:286 „The foregoing considerations lead the Court to conclude that the facts of the specific situation challenged in the present case do not disclose an unjustified interference with the applicant’s right to freedom of association, the essential elements of which the applicant was able to exercise, in representing its members, in negotiating with the employer on behalf of its members who were in dispute with the employer and in organising a strike of those members at their place of work (see paragraphs 15–16 above).“
In Anbetracht der ausdrücklichen Abgrenzung der dem Urteil zugrunde liegenden Wertungen von der vorangegangenen Rechtsprechung zu der konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistung sowie der der Entscheidungsbegründung inhärenten Betonung der Bedeutung primärer Arbeitskampfmaßnahmen innerhalb der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit ist im Ergebnis nicht von einer Relativierung des Streikrechts im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 EMRK auszugehen. Vielmehr wird das Recht auf kollektive Arbeitskampfmaßnahmen als Gewährleistungsbestandteil der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit weiter gefestigt und der bisherige Rechtsprechungskurs damit fortgesetzt. 7. Die weitere Konsolidierung der Streikrechtsrechtsprechung In zwei weiteren Entscheidungen in den Rechtssachen Tymoshenko 287 und Hrvatski Lijecnicki Sindikat (HLS) 288 bestätigten die 5. und 1. Sektion des EGMR erneut die Gewährleistung des Streikrechts unter Art. 11 EMRK. Die jeweils streitgegenständlichen Streikrechtseinschränkungen qualifizierten die Richter eindeutig als Eingriffe in die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit. Bezeichnenderweise verwiesen beide Sektionen hierbei auf die vorangegangene Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere auch in der Sache R.M.T.:
285 286 287 288
EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 84 (R.M.T). EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 104 (R.M.T). EGMR 2.10.2014 – App. 48408/12 (Tymoshenko aO). EGMR 27.11.2014 – App. 36701/09 (HLS).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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„Having regard to its case-law illustrating that strike action is clearly protected by Article 11 (see National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. the United Kingdom, no. 31045/10, § 84, 8 April 2014, with further references), the Court sees no reasons for holding otherwise.“ 289
Ausgangspunkt war in der Sache Tymoshenko eine gerichtlich verfügte Streikuntersagung gegenüber einer ukrainischen Gewerkschaft für Flugkabinenpersonal. Die 5. Sektion befand, dass das von den nationalen Gerichten ausgesprochenen Streikverbot nicht auf einer hinreichend klaren und vorhersehbaren gesetzlichen Grundlage beruhte.290 Grund war nach Ansicht des EGMR die innere Widersprüchlichkeit der anwendbaren gesetzlichen Regelungen (Beförderungsgesetz und Arbeitskampfgesetz) und das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage zur Auflösung dieser Kollisionslage. Es fehlte somit an einer notwendigen Rechtfertigungsvoraussetzung des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK („prescribed by law“).291 In der darauffolgenden Rechtssache HLS war Streitgegenstand ebenfalls ein durch gerichtliche Verfügung ausgesprochenes mehrjährig andauerndes Streikverbot für eine kroatische Ärztegewerkschaft. Dieses hatten die nationalen Gerichte mit der Wahrung paritätischer Verhältnisse hinsichtlich aller an einer Tarifverhandlung beteiligter Gewerkschaften begründet. Zwar akzeptierte die 1. Sektion des EGMR diese Begründung dem Grunde nach als legitimes Ziel des Schutzes der Rechte anderer („the legitimate aim of protecting the rights of others“).292 Allerdings hielten es die Richter mangels irgendwelcher außergewöhnlicher Umstände für schwer zu akzeptieren, dass die Beachtung des Paritätsgrundsatzes in Tarifverhandlungen ein legitimes Ziel sei, dass ein Streikverbot für einen Zeitraum von 3 Jahren und 8 Monaten rechtfertigen könne. Entsprechend gingen sie von einem nicht gerechtfertigten – weil unverhältnismäßigen – Eingriff in die Vereinigungsfreiheit aus. Indes betonte die 1. Sektion nochmals den Stellenwert des Streikrechts als stärkstes Instrument der Gewerkschaften zum Schutze der beschäftigungsbezogenen Interessen: „In the absence of any exceptional circumstances, the Court finds it difficult to accept that upholding the principle of parity in collective bargaining is a legitimate aim (see paragraph 57 above) capable to justify depriving a trade union for three years and eight months of the most powerful instrument to protect occupational interests of its members.“ 293
289 EGMR 2.10.2014 – App. 48408/12, Rn. 78 (Tymoshenko aO); vgl. auch EGMR 27.11.2014 – App. 36701/09, Rn. 49 (HLS). 290 EGMR 2.10.2014 – App. 48408/12, Rn. 85 (Tymoshenko aO). 291 EGMR 2.10.2014 – App. 48408/12, Rn. 80 ff. (Tymoshenko aO); vgl. auch Lörcher, AuR 2014, 126, 127. 292 EGMR 27.11.2014 – App. 36701/09, Rn. 57 (HLS). 293 EGMR 27.11.2014 – App. 36701/09, Rn. 59 (HLS) (Hervorhebung durch Bearbeiter).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Die vorgenannten Entscheidungen stellen eine Konsolidierung der aufgezeigten Rechtssprechungslinie und der Anerkennung des Streikrechts im Rahmen des Art. 11 EMRK dar. Dessen Gewährleistung wird nunmehr nahezu selbstverständlich durch den Gerichtshof vorausgesetzt. Überdies verdeutlicht die Bezugnahme auf R.M.T. als Referenz für die gerichtliche Anerkennung des Streikrechts nochmals die zuvor beschriebene Einfügung der R.M.T.-Entscheidung in den bisherigen Rechtssprechungskontext. Mit Tymoshenko und HLS haben nunmehr alle fünf Sektionen des EGMR das Streikrecht und seine Verortung im Rahmen der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK anerkannt.294 8. Zusammenfassung Die Anfänge der Rechtsprechung zu den kollektiven Koalitionsrechten waren geprägt von einem zurückhaltenden Verständnis des Konventionsschutzes im Normenkanon der europäischen und internationalen Rechtsquellen. Für den Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Arbeitnehmerrechte wurden andere Regelungswerke, wie insbesondere die ESC, als speziellere Regelungen verstanden. Mithin fungierte Art. 11 Abs. 1 EMRK primär im Sinne eines Abwehrrechts der Koalitionen vor staatlichen Eingriffen. Die positive Gewährleistung konkreter sozialer Grundrechte dagegen leistete er nach diesem Verständnis nicht. Diesen Grundsatz aufweichend, öffnete der Gerichtshof im Folgenden schrittweise die Konventionsgarantien in Richtung der Einbeziehung auch sozialer Grundrechte, wobei er – bis auf wenige Ausnahmen – die Garantie konkreter Koalitionsrechte, wie etwa die des Streikrechts, dem Ausgestaltungsspielraum der Vertragsstaaten überließ. Eine erste Veränderung erhielt dieser Ansatz dadurch, dass der Gerichtshof immer mehr die Wichtigkeit des Streikrechts für eine effektive gewerkschaftliche Arbeit herausstellte und einschränkende Maßnahmen nunmehr als Eingriffe in Art. 11 Abs. 1 EMRK qualifizierte. Gleichwohl trug er dem Gestaltungsspielraum der Nationalstaaten dadurch Rechnung, dass nahezu jede entgegenstehende legitime Erwägung als ausreichende Rechtfertigung für derartige Eingriffe angesehen wurde. Im Zuge der Rechtsprechungsentwicklung änderte sich zunehmend das Verständnis des Zusammenspiels der EMRK und der sonstigen internationalen und europäischen Rechtsquellen. So sah der EGMR letztere nicht länger als den konventionsrechtlichen Geltungsbereich limitierende Spezialvorschriften an, sondern er erweiterte den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK schrittweise unter Zuhilfenahme dieser Regelungswerke als Rechtserkenntnisquellen in ihrer Auslegung durch die jeweiligen zur Interpretation berufenen Organe.295 Diese Ent294
Lörcher, AuR 2014, 126. Siehe auch Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 69 f. 295
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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wicklung fand ihren vorläufigen Höhepunkt in dem Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache Demir und Baykara, in welchem die Richter unter Heranziehung der sonstigen internationalen arbeitsrechtlichen Normen feststellten, dass das Recht auf Kollektivverhandlungen konventionsrechtlich garantiert sei. Wenig später anerkannte die 3. Sektion in der Sache Enerji Yapi-Yol Sen, ebenfalls unter Rezeption des sonstigen internationalen Arbeitsrechts, das Konventionsrecht auf Streik. Dem schloss sich zunächst die 2. Sektion in Kaya und Seyhan und Saime Özcan an. Im Jahre 2014 erfolgte die weitere Konsolidierung des bisherigen Rechtsprechungskurses durch die 4. Sektion in R.M.T. sowie schließlich durch die 5. und 1. Sektion in den Verfahren Tymoshenko und HLS. In Ansehung dieser Rechtsprechung ist das Streikrecht nunmehr als fester Bestandteil des Art. 11 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigen. Dies gilt indessen nicht nur für das Kollektivrecht der Gewerkschaften auf Streik; vielmehr unterfällt auch die Mitwirkung der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder dem konventionsrechtlichen Schutz. Die gerichtliche Bewertung der zulässigen Streikziele erfolgt dabei großzügig und beschränkt die Rechtsausübung zur Gestaltung und Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen nicht ausschließlich auf die Erzielung einer kollektivvertraglichen Regelung. In Bezug auf den persönlichen Schutzbereich stellte der EGMR ebenfalls unter Rekurs auf sonstige internationale und europäische Regelungswerke wiederholt klar, dass die Konventionsgarantien im Grundsatz auch für Angehörige des Staatsdienstes gelten, diese allerdings in Übereinstimmung mit den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK gesetzlichen Restriktionen unterworfen werden können. In welchem Umfang Streikverbote in den jeweiligen Bereichen des nationalen öffentlichen Diensts demnach zulässig sind, hat der EGMR bislang nicht explizit konkretisiert. Jedenfalls sind pauschale Streikverbote für den öffentlichen Dienst nicht mit Art. 11 der Konvention vereinbar.
III. Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige des Staatsdienstes und die Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK Mit der expliziten Anerkennung eines konventionsrechtlichen Streikrechts ist nunmehr jegliche in den Vertragsstaaten vorgenommene Einschränkung von gewerkschaftlichen Kollektivmaßnahmen, insbesondere auch im Bereich des öffentlichen Diensts, an den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK zu messen. Besondere Relevanz hat in diesem Zusammenhang der Einschränkungsvorbehalt für „Angehörige der Staatsverwaltung“ nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK. Die vorstehend dargestellten Einzelfallentscheidungen des Gerichtshofs ließen, für sich genommen, keine generellen Rückschlüsse auf die grundsätzliche Zulässigkeit und Reichweite von nationalen Streikrechtseinschränkungen für be-
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
stimmte Gruppen von Angehörigen des öffentlichen Diensts zu.296 Einzig ein undifferenziertes generelles Streikverbot für den öffentlichen Dienst erachteten die Richter als mit der Konvention unvereinbar.297 Es bedarf mithin einer genaueren abstrahierenden Untersuchung der Rechtsprechung des EGMR einschließlich der hierin enthaltenen konkretisierenden Verweise zu den Einschränkungsmöglichkeiten der Konventionsrechte für den Bereich des öffentlichen Diensts. Zunächst sollen hierzu die näheren Voraussetzungen des allgemeinen Schrankenvorbehalts nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK herausgearbeitet werden, an welche die besondere Rechtfertigungsregelung des Satz 2 ihrerseits anknüpft. Sodann ist deren Anwendungsbereich näher zu bestimmen. Hierzu gebietet es die vom EGMR bemühte evolutive Auslegungsmethode im Rahmen des Art. 11 EMRK, ein besonderes Augenmerk auf die insoweit herangezogenen internationalen und europäischen Rechtserkenntnisquellen298 und die hierin enthaltenen Einschränkungsmöglichkeiten zu legen. 1. Allgemeine Rechtfertigungsvoraussetzungen gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK Ein Eingriff in den konventionsrechtlichen Gewährleistungsbereich ist nicht gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen die Konvention. So hat der Gerichtshof gleichzeitig mit der expliziten Anerkennung des Streikrechts in Enerji YapiYol Sen darauf hingewiesen, dass dieses nicht absolut garantiert ist.299 Denn parallel zu den Konventionsrechten aus Art. 8–10 EMRK unterliegen auch die Koalitionsrechte des Art. 11 Abs. 1 EMRK dem im nachfolgenden Absatz 2 normierten Schrankenvorbehalt. Zulässig sind demnach solche Einschränkungen, „die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Konkret sieht Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK folglich eine 3-stufige Rechtfertigungsprüfung vor. Die Einschränkung bedarf einer gesetzlichen Rechtsgrundlage, muss weiterhin einem der enumerierten legitimen Zwecke dienen und schließlich auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Im Sinne eines effektiven Konventionsschutzes legt der Gerichtshof die Ausnahmevorschriften eng aus.300 296 Vgl. etwa oben Kapitel 2 A.II.4.b)cc)(3). Eine Ausnahme im Hinblick auf die eindeutige Zuordenbarkeit bilden freilich die in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK explizit erwähnten Gruppen der Angehörigen der Polizei und der Streitkräfte. 297 Kapitel 2 A.II.4.b)cc)(3). 298 Siehe bereits oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa). 299 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). 300 Vgl. etwa EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 119 (Demir and Baykara); EGMR 10.7.1998 – App. 26695/95, Rn. 38, 40 (Sidiropoulos aO); EGMR 25.3.1983 – App. 5947/72 u. a., Rn. 97 (Silver aO); Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 311.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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a) Rechtsgrundlage Als erste „Schranken-Schranke“ fordert Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK das Bestehen einer ausreichenden Rechtsgrundlage für die Beeinträchtigung im nationalen Recht des jeweiligen Vertragsstaats. Die deutsche Fassung der EMRK spricht von „gesetzlich vorgesehen“, während die gemäß § 59 Abs. 4 EMRK offiziell verbindlichen Sprachfassungen der Konvention in englischer und französischer Sprache verlangen, dass die Einschränkungen „prescribed by law“ bzw. „prévues par la loi“ sein müssen. Zugrunde zu legen ist hierbei ein materielles Verständnis des Gesetzesbegriffs, welches auch ungeschriebenes Recht, insbesondere Richterrecht, umfasst. Anders als die deutsche Sprachfassung nahelegen würde, bedarf es somit nicht notwendigerweise einer formal-gesetzlichen Grundlage. Dies hat der Gerichtshof in seiner Leitentscheidung in der Sache Sunday Times klargestellt, indem er zugunsten des Vereinigten Königreichs judizierte, dass auch die Normen des nicht kodifizierten common law eine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Beeinträchtigung darstellen können.301 Insgesamt ist die Anforderung der gesetzlichen Grundlage Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips.302 Aus diesem Grund fordert der Gerichtshof, dass jedem Bürger die in seine Rechtspositionen eingreifenden Regelungen adäquat zugänglich sein müssen, der Betroffene also über das in seiner Situation anwendbare Recht Kenntnis erlangen kann.303 Zudem muss die Rechtsgrundlage in qualitativer Hinsicht über eine ausreichende Bestimmtheit verfügen. Es bedarf einer hinreichend klaren und vorhersehbaren gesetzlichen Regelungen, nach welcher der Bürger sein Verhalten entsprechend ausrichten bzw. die Beeinträchtigung vorhersehen kann.304
301 EGMR 26.4.1979 – App. 6538/74, Rn. 47 ff. (Sunday Times). Es bedarf somit nicht zwangsläufig eines formellen Parlamentsgesetzes. Auch untergesetzliches Recht, wie etwa eine Rechtsverordnung, reicht aus, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 100; Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 508. 302 EGMR 20.5.2008 – App. 16330/02, Rn. 49 (Gülmez). 303 EGMR 26.4.1979 – App. 6538/74, Rn. 49 (Sunday Times): „[. . .] the law must be adequately accessible: the citizen must be able to have an indication that is adequate in the circumstances of the legal rules applicable to a given case.“ 304 EGMR 26.4.1979 – App. 6538/74, Rn. 49 (Sunday Times): „[. . .] a norm cannot be regarded as a ,law‘ unless it is formulated with sufficient precision to enable the citizen to regulate his conduct: he must be able – if need be with appropriate advice – to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail. Those consequences need not be foreseeable with absolute certainty: experience shows this to be unattainable.“ Speziell zum Streikrecht EGMR 2.10.2014 – App. 48408/12, Rn. 80 ff. (Tymoshenko aO). Vgl. auch Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 10; Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 172.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
b) Eingriff verfolgt ein legitimes Ziel Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK enthält eine abschließende305 und umfangreiche Aufzählung zulässiger Ziele, die mit einer Einschränkung verfolgt werden können.306 Die zahlreichen Zweckbestimmungen erscheinen auf den ersten Blick als Einfallstor mannigfaltiger Einschränkungsmöglichkeiten der Streikfreiheit des Absatz 1. Dies gilt insbesondere für die Vorbehalte zum Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung sowie zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Obschon gerade die Zweckregelungen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung es nahelegen würden, weist Tomuschat zu Recht darauf hin, dass es sich hierbei nicht um allgemeine ordre public-Vorbehalte handelt,307 wie sie vielen anderen internationalen Vertragswerken immanent sind.308 Vielmehr greifen die Einschränkungsmöglichkeiten erst dann, wenn eine konkrete Gefährdungslage besteht.309 Anderenfalls ließen sich alle generellen Beschränkungen für staatsvitale Funktionen bereits über Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK auffangen, wodurch ein eigener Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK entfiele. Die gesonderte Normierung des Satz 2 zeigt, dass dies keinesfalls dem Regelungszweck entspricht, sondern, dass gerade das Fehlen eines allgemeinen ordre public-Vorbehalts kompensiert werden sollte, um der insoweit bestehenden Schutzlücke für die allgemeinen staatlichen Interessen – abseits konkreter Gefährdungssituationen – Rechnung zu tragen. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ergänzt somit die Zweckbestimmungen des Satz 1. Bei der Beurteilung, ob die in Rede stehende Maßnahme der Verfolgung eines legitimen Zwecks dient, räumt der EGMR den Vertragsstaaten einen weiten Ermessensspielraum ein. Folglich gelingt es den betroffenen Regierungen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle ohne Schwierigkeiten, den entsprechenden Nachweis zu führen.310 Selbst wenn die Richter bezweifeln, dass die getroffene 305
Vgl. Art. 18 EMRK. Konkret handelt es sich hierbei um die nationale oder öffentliche Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung oder Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit oder der Moral und der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Ausführlich zu den einzelnen legitimen Zielen Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 317 ff. 307 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 508, 511 f.; wohl auch Marauhn, RabelsZ 1999, 537, 550. 308 Sofern ein solcher Vorbehalt existiert, lassen sich über diesen gerade auch im Bereich der Staatsverwaltung Rechtseinschränkungen rechtfertigen. Vgl. etwa im IPBPR (Art. 22 Abs. 2 IPBPR) oder in der ESC (Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC)), wo jeweils eine Einschränkung der genannten Rechte zum Schutz der „orde public“ ermöglicht wird. Entsprechend wurde innerhalb dieser Regelungswerke auf einen speziellen Einschränkungsvorbehalt hinsichtlich der Angehörigen der Staatsverwaltung etc. verzichtet. 309 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 508, 511 f.; wohl auch Marauhn, RabelsZ 1999, 537, 550. 310 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 108; Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 317. 306
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Maßnahme dem vorgetragenen legitimen Zweck dient, so lassen sie diese Frage zumeist offen311 oder erwägen gar die Heranziehung anderer in Frage kommender legitimer Zwecke zur Rechtfertigung.312 Wurde nunmehr ein legitimes Ziel im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK ausgemacht, so bildet dieses den Ausgangspunkt für die prüfungsintensivere Frage nach der Notwendigkeit bzw. der Verhältnismäßigkeit der Rechtsbeeinträchtigung zur Verfolgung eben dieses Ziels. c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft aa) Allgemeine Grundsätze Den Schwerpunkt der Rechtfertigungsprüfung bildet die Frage nach der Notwendigkeit der beeinträchtigenden Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft. Hierfür verlangt der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass der Eingriff in die Rechtsposition aus Art. 11 Abs. 1 EMRK einem „dringendem sozialen Bedürfnis“ („pressing social need“ 313) entsprechen muss und darüber hinaus die zur Erreichung des berechtigten Ziels angewandten Mittel verhältnismäßig sein müssen.314 Im Wesentlichen entsprechen die dabei vom Gerichtshof herangezogenen Prüfungsaspekte denen einer Verhältnismäßigkeitskontrolle315 nach deutschem Verständnis; der Schwerpunkt liegt auch hier zumeist auf der umfassenden Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Beurteilung der Angemessenheit des Eingriffs.316
311 Siehe etwa EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 28 (Enerji Yapi-Yol Sen); EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a., Rn. 29 (Urcan aO). 312 Vgl. etwa EGMR 10.7.1998 – App. 26695/95, Rn. 37 ff. (Sidiropoulos aO). 313 EGMR 29.4.1999 – App. 25088/94, Rn. 113 (Chassagnou aO); EGMR 12.11. 2008 – App. 34503/97, Rn. 119 (Demir and Baykara). 314 Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 14; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rn. 109; Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 325. Vgl. auch EGMR 25.3.1983 – App. 5947/72 u. a., Rn. 97 (Silver aO): [. . .] the adjective ,necessary‘ is not synonymous with ,indispensable‘, neither has it the flexibility of such expressions as ,admissible‘, ,ordinary‘, ,useful‘, ,reasonable‘ or ,desirable‘ [. . .].“ 315 Auch der EGMR spricht vermehrt von dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, vgl. etwa EGMR 2.8.2001 – App. 35972/97, Rn. 25 (Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani): „The proportionality principle demands that a balance be struck between the requirements of the purposes listed in Article 11 § 2 of the Convention and those of the free exercise of freedom of association.“ 316 EGMR 29.4.1999 – App. 25088/94, Rn. 112 (Chassagnou aO): „Although individual interests must on occasion be subordinated to those of a group, democracy does not simply mean that the views of a majority must always prevail: a balance must be achieved which ensures the fair and proper treatment of minorities and avoids any abuse of a dominant position. Lastly, any restriction imposed on a Convention right must be proportionate to the legitimate aim pursued“ (Hervorhebung durch Bearbeiter). Vgl. auch Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 14; Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 325.
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Bei der Bewertung der Notwendigkeit des Eingriffs zur Verfolgung des legitimen Ziels gewährt der Gerichtshof den Vertragsstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum.317 Dieser bietet eine Art „Stellschraube“, womit die Richter je nach Wichtigkeit des betroffenen Rechts und den mit seiner Ausübung verbundenen Folgen für die Allgemeinheit die Kontrolldichte für die Überprüfung des Eingriffs erhöhen oder verringern können.318 Dabei kann als Grundregel angenommen werden, dass der jeweilige Ermessensspielraum der Konventionsstaaten steigt, je gravierender die Auswirkungen der Ausübung des in Rede stehenden Rechts auf das öffentliche Interesse bzw. das Allgemeinwohl sind.319 Andererseits ist eine Reduzierung des Ermessensspielraums anzunehmen, wenn die Eingriffsmaßnahme den Kerngehalt einer konventionsrechtlichen Gewährleistung berührt.320 Als weiterer entscheidender Parameter ist zu berücksichtigen, ob es in den Konventionsstaaten einen Konsens über das „ob“ und „wie“ der Rechtsgewährleistung gibt.321 Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit im Allgemeinen sind demnach grundsätzlich nur schwer zu rechtfertigen. Denn regelmäßig wird das Interesse der Allgemeinheit einzig durch den Aspekt der gemeinschaftlichen Verfolgung eines gemeinsamen Ziels nur unwesentlich betroffen sein, weshalb der Gerichtshof entsprechend von einem sehr beschränkten Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten ausgeht.322 Zu differenzieren ist hiervon die Ausübung von Koalitionsrechten, für welche man diese Annahme freilich nicht unverändert übernehmen können wird. So geht es hierbei vornehmlich um die sensiblen Bereiche sozialer und wirtschaftlicher Rechte, welche in den jeweiligen konventionsstaatlichen Rechtssystemen zudem stark unterschiedlich ausgestaltet sind.323 Insbesondere die Ausübung der ge317 EGMR 25.3.1983 – App. 5947/72 u. a., Rn. 97 (Silver aO): „[. . .] the Contracting States enjoy a certain but not unlimited margin of appreciation in the matter of the imposition of restrictions, but it is for the Court to give the final ruling on whether they are compatible with the Convention [. . .].“ 318 Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 325 f. Die Letztentscheidungskompetenz über die Konventionskonformität der jeweiligen Praxis sieht der Gerichtshof weiterhin bei sich, vgl. EGMR 25.3.1983 – App. 5947/72 u. a., Rn. 97 (Silver aO). 319 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 510; Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 18. 320 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 87 (R.M.T.). 321 Vgl. etwa EGMR 3.2.2011 – App. 18136/02, Rn. 39 (Siebenhaar); Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf das deutsche Arbeitsrecht 2012, S. 12. Dieser Konsens („consensus“) beruht im Wesentlichen auf drei Säulen, nämlich den internationalen Verträgen und Abkommen, der korrespondierenden Spruchpraxis der zuständigen Auslegungs- und Interpretationsorgane (sog. „soft-law“) und schließlich der Rechtsvergleichung, vgl. instruktiv EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 98 ff., 147 ff. (Demir and Baykara). 322 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 119 (Demir and Baykara); EGMR 10.7.1998 – App. 26695/95, Rn. 40 (Sidiropoulos aO); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 92; Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 510. 323 Siehe oben Kapitel 2 A.
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werkschaftlichen Streikfreiheit kann dabei, je nach Berufsgruppe, ganz erhebliche Folgen für die Allgemeinheit bergen. Aus diesem Grund betont der EGMR in ständiger Rechtsprechung zu den Koalitionsrechten den weiten Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten in diesem Bereich.324 Stellten die Richter in ihrer früheren Rechtsprechung dabei bereits die bloße Gewährleistung des Streikrechts zur Disposition der Konventionsstaaten,325 so verschiebt sich der Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum nunmehr auf die Ebene der Einschränkbarkeit der Streikfreiheit. Den Vertragsstaaten steht somit im Hinblick auf die Einschränkung der konventionsrechtlichen Streikrechtsgarantie ein gewisser Ermessensspielraum zu.326 In der bisherigen Rechtsprechungspraxis zu den Streikteilnahmen einzelner Gewerkschaftsmitglieder unterzieht der EGMR diesen jedoch gerade auch wegen der Nähe der Teilnahme an Streikaktionen zur Versammlungsfreiheit327 einer sehr genauen Kontrolle.328 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die eingreifende Maßnahme dazu bestimmt329 oder auch nur dazu geeignet ist,330 den Betroffenen von der Ausübung seiner Konventionsrechte abzuhalten; mit anderen Worten also in den Fällen, in denen die grundsätzliche Frage des „Ob“ der Gewährleistung betroffen ist. Generelle Streikverbote oder wirkungsgleiche Maßnahmen unterliegen mithin einer engen Verhältnismäßigkeitskontrolle. 324 Siehe m.w. N. EGMR 27.4.2010 – App. 20161/06, Rn. 75 (Vördur Olafsson); EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 99 (R.M.T.). Auf diesem Wege respektiert der EGMR die Souveränität der Vertragsstaaten und berücksichtigt die auf diesem Gebiet bestehende größere Sachnähe der nationalen Entscheidungsträger. 325 Oben Kapitel 2 A.II.1. und Kapitel 2 A.II.2.a). 326 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 86 (R.M.T.). 327 Vgl. exemplarisch EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a., Rn. 32 f. (Urcan aO). 328 Siehe etwa EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 28 ff. (Karacay); EGMR 17.7. 2008 – App. 23018/04 u. a.; Rn. 25 ff. (Urcan aO); EGMR 15.9.2009 – App. 22943/04, Rn. 19 ff. (Saime Özcan); EGMR 15.9.2009 – App. 30946/04, Rn. 25 ff. (Kaya and Seyhan). Bei allen vorstehend genannten Urteilen hatte der Gerichtshof allerdings bereits daran gezweifelt, dass die jeweiligen Einschränkungen überhaupt einem legitimen Ziel i. S. d. Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK dienten. In der Sache R.M.T. (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 86 ff.) sprach der Gerichtshof dem Konventionsmitglied Großbritannien dagegen einen weiten Gestaltungsspielraum bezüglich streikrechtseinschränkender nationaler Regelungen zu. Allerdings ging es hierbei – anders als in den vorgenannten Fällen – nicht um unmittelbare Streikrechtseinschränkungen sondern um das Verbot sog. sekundärer Streikmaßnahmen (vgl. Kapitel 2 A.II.6.). Dass insoweit nicht die gleichen Maßstäbe gelten, stellten die Richter explizit heraus (EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 88 (R.M.T.). 329 So etwa im Falle von Streikverboten, vgl. nochmals EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). 330 So etwa bei jeglicher Art von Disziplinarstrafen oder sonstiger Sanktionen, seien sie auch noch so gering, vgl. EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 37 (Karacay): „Or, la sanction incriminée, si minime qu’elle ait été, est de nature à dissuader les membres de syndicats de participer légitimement à des journées de gréve ou à des actions pour défendre les intérêts de leurs affiliés [. . .].“
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
bb) Streikrechtsbezogene Konkretisierung anhand der sonstigen internationalen und europäischen Spruchpraxis Die strenge Kontrolle von generellen Streikverboten durch den EGMR wird durch die sonstigen internationalen und europäischen Regelungswerke sowie die dazu ergangene streikrechtsbezogene Spruchpraxis der Auslegungs- und Überwachungsgremien im Grundsatz bestätigt und lässt sich anhand letzterer zudem näher konkretisieren. Abgesehen von den besonderen Einschränkungsvorbehalten hinsichtlich des Streikrechts von Angehörigen der Staatsverwaltung331 besteht in der internationalen Spruchpraxis eine konsensuale Überzeugung bezüglich möglicher weiterer Streikrechtsschranken in Bereichen, in denen Arbeitskampfmaßnahmen mit erheblichen Auswirkungen auf die Allgemeinheit verbunden sind. Obschon die jeweiligen Konzeptionen innerhalb der verschiedenen Regelungswerke nicht gänzlich deckungsgleich verlaufen, besteht eine grundsätzliche Einigkeit, dass in lebenswichtigen Bereichen, in denen für die Allgemeinheit wesentliche Dienste (sogenannte „essential services“) wahrgenommen werden, auch weitreichende Einschränkungen bis hin zu generellen Streikverboten dem Grunde nach möglich sein müssen.332 Da gerade in diesen Bereichen häufig auch Angehörige des öffentlichen Diensts beschäftigt werden, kommt dem Konzept der essential services bei der Überprüfung nationaler Streikrechtsrestriktionen im Bereich des öffentlichen Diensts eine gesteigerte Bedeutung zu. Die in der Konvention in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 und 1 EMRK angelegte zweigliedrige Einschränkungsmöglichkeit, nämlich zum einen zur Wahrung essentieller staatlicher Belange durch die Angehörigen der Staatsverwaltung, einschließlich Polizei und Militär und zum anderen zum Schutz existentieller Interessen des Allgemeinwohls, findet sich also auch im sonstigen internationalen Arbeitsrecht wieder. Die entsprechenden Streikrechtsbeschränkungen bzw. die betroffenen Bereiche werden allerdings von der Überwachungs- und Spruchpraxis eng umgrenzt.333 Das Konzept der essential services ist maßgeblich geprägt durch die Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse. Sowohl der Sachverständigenausschuss als auch der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit beschränken indessen die genannten Bereiche auf wesentliche Dienste im engeren Sinne: „The right to strike may be restricted or prohibited [. . .] in essential services in the strict sense of the term (that is, services the interruption of which would endanger the life, personal safety or health of the whole or part of the population).“ 334 331
Dazu sogleich, siehe Kapitel 2 A.III.2. Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 310. 333 Vgl. etwa Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 310; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 72. 334 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 574, 576; ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 158 (Hervorhebungen durch Bearbeiter); Gernigon/Odero/Horacio, ILR 1998 (137), 441, 448 f. Nach der Überzeugung des Sachverständigenausschusses trägt die Aufspal332
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Streikverbote sind demnach nur in solchen Bereichen zulässig, in denen die Unterbrechung des Dienstes das Leben, die persönliche Sicherheit oder die Gesundheit der Bevölkerung oder eines Teiles der Bevölkerung gefährden würde.335 Dies soll nicht bereits dann anzunehmen sein, wenn der Streik zu erheblichen Exportverlusten oder langfristigen Nachteilen für die Wirtschaft führen könnte. Vielmehr ist die Sicherheit der Bevölkerung im Sinne von körperlicher Unversehrtheit zu verstehen.336 Die einschlägigen Aufgabenbereiche hat der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit näher bestimmt.337 Essentielle Versorgungsdienste sollen demnach sein: Der Krankenhausdienst, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Telekommunikationssektor, Polizei und Streitkräfte, Feuerwehrdienst, öffentliche oder private Gefängnisse, Essensversorgung von Schülern im schulpflichtigen Alter und Reinigung der Schulen sowie die Flugsicherung.338 Darüber hinaus hat der Ausschuss festgelegt, welche Tätigkeitsbereiche nicht der Daseinsvorsorge im engeren Sinne zuzuordnen seien. Besonders hervorzuheben sind hierbei das generelle Transportwesen, einschließlich des Eisenbahnbetriebs und des Nahund Stadtverkehrs, der Postbetrieb und der Bildungssektor.339 Ist ein wesentlicher Dienst im engeren Sinne betroffen, so sollen generelle Streikverbote möglich sein, sofern den Arbeitnehmern ausreichende kompensatotung der Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige der Staatsverwaltung auf der einen und den Bereichen der essential services auf der anderen Seite dem Umstand Rechnung, dass obgleich vielfach Angehörige der Staatsverwaltung die Aufgaben der essentiellen Daseinsvorsorge wahrnehmen werden, gleichzeitig auch Fälle denkbar sind, in denen letztere auch durch den privaten Sektor erfüllt werden oder aber, anders gewendet, jemand zwar als Angehöriger der Staatsverwaltung beschäftigt ist, dabei aber Aufgaben fernab der Daseinsvorsorge ausübt, vgl. ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 155. 335 Der Konzeption möglicher Streikrechtsbeschränkungen in wesentlichen Bereichen der Daseinsvorsorge schließt sich auch der für die Auslegung des IPWSKR zuständige Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte an, vgl. etwa CESCR, Concluding Observations Germany 2011 (E/C.12/2011/3), Rn. 94; ausdrücklich auch in Concluding Observations Azerbaijan 1997 (E/C.12/1/Add.20): „The Committee agrees with the views of the ILO Committee of Experts that the categories of workers prohibited from exercising their right to strike should be limited to only those fields where a strike would result in life-threatening situations.“ 336 Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 199. 337 Der Sachverständigenausschuss dagegen hält sich auch diesbezüglich mit konkreten Aussagen zurück, ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 159. Zu den Schwierigkeiten der Bestimmung derartiger Tätigkeitsbereiche vgl. Gernigon/Odero/Horacio, ILR 1998 (137), 441, 450. 338 Vgl. die zusammenfassende Auflistung in ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 585. Zudem weist der Ausschuss darauf hin, dass auch in den genannten Bereichen stets auch die tatsächliche Aufgabe des Betroffenen zu berücksichtigen ist. Handele es sich um „bloße Hilfstätigkeiten“, könne den Betroffenen das Streikrecht folglich gleichwohl nicht vorenthalten werden, siehe Rn. 593. Näher hierzu Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 200 f. 339 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 587. Hier findet sich auch eine vollständige Auflistung der einschlägigen Tätigkeitsbereiche.
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rische Garantien zur Wahrung ihrer Interessen eingeräumt werden.340 Bei allen übrigen Versorgungsdiensten, deren Ausfall sich dennoch, gerade im Hinblick auf Umfang und Dauer von Streikmaßnahmen, erheblich auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung auswirkt, sei dagegen die Gewährleistung einer Mindestversorgung ausreichend.341 Nach Ansicht der Ausschüsse gebietet es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zudem stets die Möglichkeit zusätzlicher prozeduraler Anforderungen – beispielsweise Abkühlungsphasen („cooling-of-periods“)342 – sowie die Vereinbarung von Notdiensten („introduction of a ,minimum service‘“) vor einem generellen Ausschluss des Streikrechts vorrangig zu erwägen.343 Schließlich geht auch der über die ESC wachende EASR grundsätzlich davon aus, dass Streikverbote in Bereichen, an denen ein erhebliches öffentliches Interesse besteht („sectors which are essential to the community“), als einem der legitimen Zwecke des Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) dienend angesehen werden können.344 Dies gelte allerdings nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, also nur insoweit, wie die Restriktionen für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des jeweiligen Sektors im Einzelfall tatsächlich erforderlich seien.345 Die allgemein gefasste Benennung von Bereichen, wie beispielsweise „Gesundheit“ oder „Energie“, sei vor diesem Hintergrund zu undifferenziert.346 Vorrangig vor pauschalen Streikverboten fordert der Ausschuss zudem, ebenso wie die Spruchgremien der ILO, die Erwägung weniger einschneidender Maßnahmen, wie etwa die Einführung von Notdienstvereinbarungen („introduction of a minimum service“).347 cc) Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt, dass Einschränkungen der Streikrechtsgarantie des Art. 11 Abs. 1 EMRK stets einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und die dabei gewählten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Verfolgung des legitimen Zwecks stehen müssen. Erfolgt der Eingriff in Form eines generellen 340
ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 595 ff. ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 606 ff.; Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 312. 342 Hierzu etwa Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 94 f. 343 ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 158 ff.; näher dazu Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 311, Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 205 f. 344 ECSR, Digest 2008, S. 56. 345 Generell hält sich der Ausschuss mit der abstrakten Benennung der in Frage kommenden wesentliche Dienste zurück, vgl. auch Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 310. 346 ECSR, Digest 2008, S. 56. 347 ECSR, Digest 2008, S. 56. 341
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Streikverbots, so unterliegt die jeweilige staatliche Maßnahme einer strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle. In Orientierung an dem systematischen Regelungsumfeld der EMRK kommen Streikverbote – abgesehen von situationsbezogenen Ausnahmekonstellationen – nur in eng umgrenzten Bereichen in Betracht, in denen ein für das Allgemeinwohl wesentlicher Dienst (sogenannte „essential service“) erbracht wird, folglich also die Partikularinteressen der Streikrechtsinhaber hinter dem überwiegenden Interesse der Gemeinschaft an existentiellen Rechtsgütern, wie Leben und Gesundheit, zurücktreten müssen. Grundsätzlich sind von den Vertragsstaaten vor dem Erlass genereller Streikverbote stets weniger einschneidende Maßnahmen, wie insbesondere die Einrichtung von Notdienstvereinbarungen, vorrangig zu erwägen. Besonderheiten gelten allerdings für die Beschäftigungsbereiche innerhalb der Staatsverwaltung, in welchen ein gesteigertes staatliches Interesse an einer kontinuierlichen Aufgabenwahrnehmung besteht. Diesem wurde bereits bei der Schaffung der Menschenrechtskonvention – wenn auch noch nicht mit Blick auf ein etwaiges Streikrecht – durch die Ausnahmenregelung des Art.11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Rechnung getragen. 2. Einschränkungsvorbehalt für Angehörige der Polizei, Streitkräfte und der Staatsverwaltung Gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK stehen die Vorschriften des Art. 11 EMRK „rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen“. Für die genannten Gruppen bestehen somit besondere Einschränkungsmöglichkeiten, welchen insbesondere auch im Hinblick auf die konventionsrechtliche Streikrechtsgarantie zentrale Bedeutung zukommt. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht dabei aufgrund ihrer Reichweite die Ausnahmeregelung für die Angehörigen der Staatsverwaltung, weshalb sich die nachstehenden Ausführungen hierauf konzentrieren werden.348 a) Prüfungssystematische Einordnung und Funktion Zunächst ist zu klären, bis zu welchem Grad Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Eingriffe in die Rechtspositionen des Absatz 1 erlaubt. Im Anschluss daran ist zu untersuchen, wie sich die Sonderregelung in die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK systematisch eingliedert und welche 348 Die Sonderregelungen für die Polizei und Streitkräfte sind dagegen eng auszulegen und strikt auf die genannten Aufgabenbereiche zu beschränken. Anderenfalls käme den allgemeinen Einschränkungsvorbehalten zum Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit sowie zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK keine eigenständige Bedeutung.
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konkreten Folgen mit der Eröffnung des Anwendungsbereichs für die Prüfung der Rechtmäßigkeit von Eingriffen in die Koalitionsfreiheit verbunden sind. aa) Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als Rechtsausübungsschranke Die Literatur zum Vorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK behandelt stellenweise außerdem die Streitfrage, ob die Regelung lediglich die Ausübung oder auch gänzlich die Existenz der Koalitionsrechte staatlichen Beschränkungen zugänglich macht.349 Auslöser dieser Problematik war unter anderem350 eine unveröffentlichte Entscheidung der Menschenrechtsrechtskommission, in welcher diese ein gegenüber einem belgischen Polizeibeamten verhängtes „Koalitionsverbot“ aufgrund von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK für zulässig erachtet hatte.351 Diese Entscheidung hätte freilich nach der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs so wohl keinen Bestand mehr. Vielmehr hat der EGMR nunmehr explizit festgestellt: „[. . .] that the restrictions imposed on the three groups mentioned in Article 11 are to be construed strictly and should therefore be confined to the ,exercise‘ of the rights in question. These restrictions must not impair the very essence of the right to organise352.“
Dies bedeutet, dass die genannten Gruppen nicht gänzlich aus dem Anwendungsbereich der Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK ausgenommen werden dürfen, sondern lediglich die Ausübung ihrer Rechte eingeschränkt werden kann.353 Speziell im Hinblick auf das Streikrecht, als wesentliche Teilgarantie des Rechts auf Koalitionsgründung und -beitritt, entschieden die Richter allerdings, dass es mit der Gewerkschaftsfreiheit vereinbar sei, wenn das Streikrecht für bestimmte, genau umschriebene Gruppen von Staatsbediensteten ausgeschlos-
349 Siehe etwa Marauhn, in Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 93; ders.,RabelsZ 1999, 537, 549; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 97. 350 In dieselbe Richtung ging der früher vielfach von betroffenen Regierungen geführte Einwand, die Garantien des Art. 11 Abs. 1 EMRK seien ratione materiae nicht auf Angehörige der Staatsverwaltung anwendbar, dazu bereits oben Kapitel 2 A.II. 3.b)aa). 351 Diese Entscheidung findet sich etwa bei van Dijk/van Hoof, 2. Auflage (1990), S. 439. Ähnlich gelagert war eine weitere Entscheidung der EKMR in der Rechtssache Council of Civil Service Union (EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85). In dieser hatte die Kommission unter anderem mit Verweis auf Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ein gegenüber den Mitarbeitern des britischen Government Communications Headquarters (GCHQ) ausgesprochenes Verbot der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als konventionskonform erachtet. 352 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 97 (Demir and Baykara) (Hervorhebungen durch Bearbeiter). 353 Dies ergibt sich auch bereits e contrario aus der systematischen Stellung der Ausnahmeregelung bei den Rechtfertigungsvoraussetzungen, so auch Peters/Altwicker, EMRK, § 15 Rn. 10.
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sen werde.354 Festzuhalten bleibt damit, dass Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Einschränkungen der Koalitionsfreiheit für gewisse Gruppen von Angehörigen der Staatsverwaltung bis hin zum Ausschluss von spezifischen Gewerkschaftsrechten, wie etwa dem Streikrecht, erlaubt.355 Keinesfalls jedoch können Staatsbediensteten über das Vehikel des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gänzlich ihre Koalitionsrechte vorenthalten werden.356 bb) Systematische Funktion und Auswirkungen auf die Rechtfertigungsprüfung (1) Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als Modifikation der allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen Steht nunmehr fest, bis zu welchem Grad Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK grundsätzlich Beschränkungen der Ausübung der Koalitionsfreiheit der genannten Gruppen ermöglicht, stellt sich im Anschluss die Frage nach der systematischen Funktion der Ausnahmeregelung im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung. Mit anderen Worten gilt es herauszuarbeiten, welche konkreten Konsequenzen mit der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK für die Rechtfertigungsprüfung verbunden sind. Die Menschenrechtskommission prüfte in ihrer Entscheidung vom 20. Januar 1987 in der Rechtssache Council of Civil Service Union357 Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als selbstständigen Rechtfertigungsgrund für ein Koalitionsverbot für eine bestimmte Gruppe von britischen Staatsbediensteten. Ohne ein näheres Eingehen auf Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK, sah die Kommission die Voraussetzungen des Satz 2 („members [. . .] of the administration of the State“ und „lawful restrictions“) als erfüllt an und befand den Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Betroffenen mithin als gerechtfertigt. Dem hatte die Annahme zugrunde gelegen, dass der Begriff „rechtmäßig“ nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als einzige Rechtfertigungsvoraussetzung verlange, dass die Beschränkung eine Rechtsgrundlage im nationalen Recht des Vertragsstaates habe und darüber hinaus nicht willkürlich erfolge.358 354
EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). Freilich nur sofern auch die weiteren Einschränkungsvoraussetzungen, wie insb. die Verhältnismäßigkeit, gewahrt sind. 356 Die Frage, ob ein vollständiger Ausschluss der Rechte der genannten Personenkreise möglich wäre, erscheint zudem rein theoretischer Natur, da eine derartige Einschränkung wohl niemals die Anforderungen des Gerichtshofs an eine verhältnismäßige Einschränkung erfüllen würde, so wohl auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 97. 357 EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85 (Council of Civil Service Union). 358 EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85, unter 1.b. der Gründe (Council of Civil Service Union); kritisch dazu EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 97 (Demir and Baykara); vgl. auch Jacobs/White/Ovey, ECHR, S. 474 f. 355
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Kritik erfuhr diese Auffassung dagegen von Teilen der Literatur. So geht etwa Tomuschat davon aus, dass Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK sich als einzelner Baustein in die Einschränkungsvoraussetzungen des Satz 1 einfüge.359 Insoweit ergänze er die Zielbestimmungen um einen weiteren legitimen Zweck, nämlich das Vertrauen der Bürger in die Integrität, Objektivität und Neutralität des öffentlichen Dienstes. Konsequenterweise müssten damit auch für Einschränkungen, die die Ausnahmegruppen des Satz 2 beträfen, die übrigen Voraussetzungen des Satz 1, vor allem also die Verhältnismäßigkeit, gewahrt sein. Dieser Auffassung schloss sich jedenfalls im Ergebnis ebenso der EGMR an. Bereits im Urteil vom 26. September 1995 in der Rechtssache Vogt deuteten die Richter an, dass auch ein im Bereich der Ausnahmevorschrift des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK vollzogener Eingriff verhältnismäßig sein müsse.360 Bestätigt wurde dies schließlich durch die Große Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Demir und Baykara: „On this point the Court does not share the view of the Commission [in Council of Civil Service Unions] that the term ,lawful‘ in the second sentence of Article 11 § 2 requires no more than that the restriction in question should have a basis in national law, and not be arbitrary and that it does not entail any requirement of proportionality [. . .].“ 361
Aus dieser deutlichen Abkehr des Gerichtshofs von der Auffassung der Menschenrechtskommission in Council of Civil Service Unions ergibt sich, dass die Richter nur solche Eingriffe in die Rechte der Angehörigen der Staatsverwaltung als konventionskonform erachten, die ihrerseits gewissen Verhältnismäßigkeitskriterien genügen. Dieser Annahme ist bereits deshalb zuzustimmen, da anderenfalls jegliche Einschränkung der Koalitionsrechte der Angehörigen der Streitkräfte, Polizei und der Staatsverwaltung ohne Weiteres gerechtfertigt wäre, sofern denn der personelle Anwendungsbereich eröffnet wäre und eine nationalstaatliche Rechtsgrundlage bestünde. Im Sinne eines effektiven Menschenrechtsschutzes ist aus diesem Grunde, wie bei jeder Grundrechtsbeeinträchtigung, die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung erforderlich.362 Hierfür spricht zu359 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 511 f.; zustimmend Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 94. 360 EGMR 26.9.1995 – App. 17851/91, Rn. 68 (Vogt). Offengelassen hatten die Richter die Frage dagegen in der Rechtssache Rekvenyi (EGMR 20.5.1999 – App. 25390/ 94, Rn. 61). 361 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 97 (Demir and Baykara). 362 So auch die wohl herrschende Ansicht in der Literatur, Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 EMRK Rn. 21; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 35; Peters/Altwicker, EMRK, § 15 Rn. 10; Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 512; van Dijk/van Hoof, 2. Auflage (1990), S. 439; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 93; ders., RabelsZ 1999, 537, 550; Kitz, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit II, S. 1073, 1079.
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dem der Regelungszweck. Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK enthält, anders als andere europäische und internationale Regelungswerke, keine allgemeine Einschränkungsmöglichkeit zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der staatstragenden Verwaltung.363 Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ergänzt insoweit die Zweckbestimmungen des Satz 1, weshalb auch im Falle der Eröffnung seines Anwendungsbereichs die sonstigen allgemeinen Rechtfertigungsanforderungen erfüllt sein müssen. (2) Auswirkungen auf die Prüfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen Sind also auch im Bereich von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK nur das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahrende Eingriffe möglich, stellt sich dennoch die Frage, ob bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen den staatlichen Belangen in diesem Bereich ein besonderes Gewicht eingeräumt werden muss bzw. den Vertragsstaaten ein erweiterter Beurteilungsspielraum zuzugestehen ist. Schließlich handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, durch welche der konventionsstaatlichen Autonomie in den essentiellen Bereichen staatlicher Administration Rechnung getragen werden soll. Diesbezüglich führte der Gerichtshof in den Sachen Tüm Haber Sen und Cinar und Demir und Baykara aus: „[. . .] the Court reiterates that lawful restrictions may be imposed on the exercise of trade-union rights by members of the armed forces, of the police or of the administration of the State. However, it must also be borne in mind that the exceptions set out in Article 11 are to be construed strictly; only convincing and compelling reasons can justify restrictions on such parties’ freedom of association. In determining whether a necessity within the meaning of Article 11 § 2 exists, the Contracting States have only a limited margin of appreciation, which goes hand in hand with rigorous European supervision embracing both the law and the decisions applying it, including those given by independent courts [. . .].“ 364
Dies legt zunächst die Annahme nahe, dass die Richter Einschränkungen nur dann als zulässig erachten, wenn zwingende Gründe dies erfordern und sie den Vertragsstaaten insoweit auch nur einen beschränkten Beurteilungsspielraum einräumen.365 Zu beachten ist allerdings, dass sowohl in Tüm Haber Sen und Cinar als auch in Demir und Baykara jeweils die Existenzberechtigung der betroffenen Koalitionen in Rede stand.366 Hierbei handelt es sich um den essentiellen Kerngehalt der Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK.367 Wie oben bereits fest363
Vgl. oben Kapitel 2 A.III.1.b). EGMR 21.2.2006 – App. 28602/95, Rn. 35 (Tüm Haber Sen and Cinar); EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 119 (Demir and Baykara). Beide Urteile nehmen dabei Bezug auf EGMR 10.7.1998 – App. 26695/95, Rn. 40 (Sidiropoulos aO). 365 Vgl. Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 547. 366 EGMR 21.2.2006 – App. 28602/95, Rn. 8 ff. (Tüm Haber Sen and Cinar); EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 15 ff. (Demir and Baykara). 367 Art. 11 Abs. 1 EMRK: „[. . .] dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“ 364
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gestellt,368 muss die Kontrolle derart schwerwiegender Eingriffe strengen Maßstäben folgen, zumal Allgemeininteressen durch das bloße Koalitionsvereinigungsrecht wenn überhaupt nur geringfügig beeinträchtigt werden. Dies erscheint grundsätzlich auch im Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK richtig.369 Beschränkte man jedoch grundsätzlich den Beurteilungsspielraum für Restriktionsmaßnahmen in dieser Weise, so egalisierte dies gänzlich den Regelungszweck des Satz 2, welchem zufolge gerade den besonderen und individuellen nationalstaatlichen Interessen in diesem Bereich Rechnung getragen werden soll.370 Dies gilt vor allem dann, wenn die Ausübung des in Rede stehenden Rechts, wie etwa im Falle des Streikrechts, erhebliche Auswirkungen auf das Allgemeinwohl bzw. die Rechte Dritter haben kann. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass die Streikrechtseinschränkungen in diesem Bereich in den Konventionsstaaten höchst unterschiedlich ausfallen,371 es also zumindest insoweit keinen den Gestaltungsspielraum notwendigerweise begrenzenden einheitlichen vertragsstaatlichen Konsens372 gibt. Auch wegen der gesonderten systematischen Stellung muss Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK folglich eine eigenständige Bedeutung zukommen. Diese realisiert sich in einer Modifikation der allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK zugunsten der Vertragsstaaten. Konkret ist demnach bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen den Belangen der Vertragsstaaten ein erhöhtes Gewicht einzuräumen, was sich schlussendlich auch in einem erweiterten Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten ausdrückt, sofern der Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK eröffnet ist.373 Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich insoweit auf eine
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Siehe oben Kapitel 2 A.III.1.c). Zu beachten ist allerdings, dass es weder in Tüm Haber Sen und Cinar noch in Demir und Baykara ausdrücklich um Restriktionen für die Ausnahmegruppen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ging. Im Gegenteil, der Gerichtshof stellte in Demir und Baykara (EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 97) ausdrücklich fest, dass die Beschwerdeführer als Gemeindebeamte nicht als „Angehörige der Staatsverwaltung“ zu qualifizieren seien. Auch in dem in Bezug genommenen Urteil in der Sache Sidiropolous (EGMR 10.7.1998 – App. 26695/95) ging es nicht um Einschränkungen im Bereich des Satz 2. 370 Llobera, RTDH 1992, 321, 324. 371 Oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(f). 372 Siehe hierzu nochmals oben Kapitel 2 A.III.1.c). 373 Bestärkt wird diese Annahme durch das Urteil des EGMR in der Sache Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani (EGMR 2.8.2001 – App. 35972/97, Rn. 24 ff., 27 ff.). In dieser sahen die Richter zunächst den Ausschluss von Mitgliedern sog. Freimaurerlogen vom Zugang zu bestimmten öffentlichen Ämtern als unverhältnismäßigen Eingriff in die Vereinigungsfreiheit der Betroffenen an und lehnten dementsprechend eine Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK ab. In einem darauffolgenden Schritt allerdings prüften sie, ob der Eingriff gleichwohl unter den Gesichtspunkten des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gerechtfertigt werden könne. Dies legt freilich nahe, dass der Gerichtshof im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK einen vom Satz 1 abweichenden Maßstab für die Rechtfertigung und indessen insbesondere die Interessenabwä369
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Rechtsmissbrauchskontrolle. Die Staaten bleiben allerdings auch diesem Bereich an allgemeine rechtsstaatliche Grundsätze, wie etwa das Willkürverbot, gebunden. Aufgrund dieser „Verkürzung“ des Rechtsschutzes der Bürger gegenüber staatlichen Eingriffen machen die Richter strenge Vorgaben im Hinblick auf die Bestimmtheit und Abgrenzbarkeit der von einer Beschränkung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK betroffenen Personengruppe.374 Im Nachfolgenden soll deshalb versucht werden, den Einschränkungsvorbehalt näher zu konkretisieren. b) Inhaltliche Konkretisierung aa) Wortlaut und systematische Auslegung innerhalb des Konventionsrechts Die zentrale Problematik der Sonderregelung ist die Reichweite des personellen Anwendungsbereichs und somit die Frage, wer zu den Mitgliedern der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu zählen ist. Die französische Sprachfassung spricht von „membres de l’administration de l’Etat“ und in der englischen Fassung heißt es „members of the administration of the State“. Diese sehr offene Formulierung birgt für die Vertragsstaaten einerseits aber auch die Bürger und Koalitionen andererseits eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Anwendbarkeit der Sonderregelung.375 Die Organisation der Verwaltungssysteme in den 47 Konventionsstaaten ist sehr unterschiedlich, sodass zunächst fraglich ist, welche Rolle dem innerstaatlichen Recht mit seinen verwaltungsorganisatorischen Besonderheiten, etwa einem Beamtenstatus nach deutschem Vorbild, für die Eröffnung des Anwendungsbereichs zukommt. Welche Auslegungskriterien liegen dem konventionsrechtlichen Begriff der „Staatsverwaltung“ zugrunde? Die weiteren Ausnahmegruppen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK knüpfen mit den Bezeichnungen „Polizei“ und „Streitkräfte“ an konkrete Aufgabenbereiche an, welche sich länderübergreifend weitgehend einheitlich festlegen lassen. Die Systematik könnte also dafür sprechen, dass sich auch der Begriff der Staatsverwaltung anhand allgemeingültiger, konventionsautonomer Kriterien bestimmt. gung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung anwendet. Vgl. auch Peters/Altwicker, EMRK, § 15 Rn. 10. 374 Vgl. EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen): „Ainsi, les restrictions légales au droit de grève devraient définir aussi clairement et étroitement que possible les catégories de fonctionnaires concernées.“ 375 Vgl. exemplarisch den Einwand der türkischen Regierung in Demir und Baykara (EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 91): „The Government were of the opinion that it was impossible to render ineffective, by means of interpretation or use of caselaw, the express terms of Article 11 in fine, which authorised States to impose, in respect of members of the armed forces, the police or the administration of the State, restrictions other than those that had to pass the test of necessity in a democratic society.“
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
(1) Erster funktionsorientierter Interpretationsansatz der Menschenrechtskommission Der ersten inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Tatbestandsmerkmal des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK widmete sich die Menschenrechtskommission in der bereits oben erwähnten Rechtssache Council of Civil Service Union.376 In Rede stand ein Koalitionsverbot für Angehörige eines britischen Telekommunikationszentrums für militärische und sonstige amtliche Nachrichtensendungen, welches die Kommission aufgrund der Sonderregelung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK als gerechtfertigt ansah, folglich die Betroffenen als „Mitglieder der Staatsverwaltung“ qualifizierte. Dabei hatten die Kommissare zunächst auf die Schwierigkeiten und Unsicherheiten hinsichtlich der Auslegung und Reichweite des Merkmals der Staatsverwaltung hingewiesen.377 Gleichwohl entwickelten sie einen Interpretationsansatz, welcher sich an den weiteren Ausnahmegruppen der Polizei und der Streitkräfte im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK orientierte. Als wesentlich wurde demnach nicht der jeweilige Status bzw. die Rechtsnatur der Beschäftigungsverhältnisse der Betroffenen nach nationalem Recht angesehen, sondern vielmehr die Wichtigkeit der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben zur Sicherstellung der in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK aufgelisteten Ziele.378 Entscheidendes Bewertungskriterium war somit die wahrgenommene Funktion („functional necessity“ 379). Hieran anknüpfend legte auch der Gerichtshof seiner Begriffsauslegung den systematischen Zusammenhang zu den weiteren Ausnahmegruppen der Polizei und der Streitkräfte zugrunde. Vor diesem Hintergrund nahm er an, dass Staatsverwaltung solche, mit der Polizei bzw. den Streitkräften vergleichbare, „sensible Bereiche“ der staatlichen Aufgabenerfüllung umschreibe,380 in denen der Betroffene an der Ausübung der öffentlichen Gewalt beteiligt sei und damit über ein Stück der staatlichen Souveränität verfüge.381 Dieses aufgabenbezogene Abgren376
EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85 (Council of Civil Service Union). Aus diesem Grund nahm die Kommission Abstand von der Entwicklung einer detaillierten Begriffsdefiniton, EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85, unter 1.b. der Gründe (Council of Civil Service Union). 378 Konkret ging es in diesem Fall um die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit, EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85, unter 1.b. der Gründe (Council of Civil Service Union). 379 Vgl. Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493, 511. 380 EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 22 (Karacay): „Toutefois, certaines restrictions peuvent être apportées aux activités syndicales des fonctionnaires dans des secteurs sensibles, tels que l’armée, la police et d’autres, mais seulement si de telles restrictions sont nécessaires pour l’accomplissement de leur fonctions officielles [. . .]“. 381 EGMR 14.11.2006 – App. 20868/02, Rn. 19 (Metin Turan): „[. . .] un poste qui relève d’une participation à l’exercice de la puissance publique, dont le titulaire détiendrait ainsi une parcelle de la souveraineté de l’État“ (Hervorhebung durch den Bearbeiter). 377
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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zungskriterium findet sich auch in der Rechtsprechung des EGMR zu der Verfahrensgarantie des Art. 6 EMRK wieder, auf welche die Richter in ihrer Urteilsbegründung zur Zulässigkeit des Streikverbots im öffentlichen Dienst in der Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen382 schließlich auch Bezug nahmen. Mithin sind die in diesem Zusammenhang entwickelten richterlichen Auslegungsgrundsätze einer näheren Betrachtung zu unterziehen. (2) Die Rechtsprechung zu der Verfahrensgarantie des Art. 6 EMRK Nachdem der EGMR in Enerji Yapi-Yol Sen erstmals ausdrücklich die konventionsrechtliche Streikrechtsgarantie anerkannt hatte, stellten die Richter zugleich fest, dass das Streikrecht, insbesondere im Bereich des öffentlichen Diensts, nicht absolut gewährleistet sei. Dabei knüpften sie an den bereits zuvor judizierten funktionellen Interpretationsansatz383 an und erwogen Einschränkungsmöglichkeiten für solche Angehörige des öffentlichen Dienstes, die im Namen des Staates Hoheitsgewalt ausübten. Zur Konkretisierung dieses abstrakten Grundsatzes verwies die Kammer auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 EMRK.384 Dieser gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren, unterliegt dabei jedoch gleichzeitig einer Geltungseinschränkung, auf deren Auslegung der Gerichtshof nunmehr im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Bezug nahm. (a) Funktionales Kriterium im Rahmen des Art. 6 EMRK – Pellegrin Im Bereich des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hatte sich der Gerichtshof mit einer dem Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ähnlichen Abgrenzungsproblematik bezüglich bestimmter Gruppen von Angehörigen des öffentlichen Diensts zu befassen.385 Denn der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK ist nur für die Geltendmachung „zivilrechtlicher Ansprüche“ eröffnet. Hierdurch sollen Streitigkeiten in Bezug auf Ansprüche und Verpflichtungen aus „Arbeitsverhältnissen“, die dem öffentlichen Dienst unterfallen, bis zu einem gewissen Grad vom Geltungsbereich des Art. 6 EMRK ausgeschlossen werden.386 Anfänglich sah sich der Gerichtshof bei der hierbei vorzunehmenden Abgrenzung größeren Schwierigkeiten und Ungereimtheiten ausgesetzt. Diese lagen primär darin, dass die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK davon abhängig war, ob die anwendbaren gesetzlichen Vorschriften innerstaatlich dem öffentlichen oder dem privaten Recht zuzurech382
EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(1). 384 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). 385 Dementsprechend lag es für die Richter der 3. Sektion nahe, auf die Rechtsprechung zu der Verfahrensgarantie zu verweisen, so auch der Vorschlag von Peters/Altwicker, EMRK, § 15 Rn. 10. 386 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EGMR, Art. 6 Rn. 17. 383
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
nen waren. Dies führte vornehmlich für Ansprüche aus Beschäftigungsverhältnissen des Staatsdienstes zu einer ungleichmäßigen Anwendung der Konvention je nach der jeweiligen Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung.387 War beispielsweise ein Beschäftigungsbereich in der Rechtsordnung eines Vertragsstaats privatrechtlich nach der eines anderen jedoch öffentlich-rechtlich ausgestaltet, so führte dies, trotz identischer Funktion, zu einer unterschiedlichen Anwendbarkeit des Konventionsrechts. Zuvorderst war dem Gerichtshof daran gelegen, ein im Rahmen der Konvention autonom zu bestimmendes Abgrenzungskriterium zu implementieren. 388 Hierzu änderte die Große Kammer in ihrem Urteil vom 8. Dezember 1999 in der Rechtssache Pellegrin389 ihre Rechtsprechung und nahm fortan solche Staatsbedienstete vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK aus, die im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben als Verwalter öffentlicher Autorität und Staatsgewalt für die Wahrung genereller Interessen des Staates verantwortlich waren: „[. . .] public servants whose duties typify the specific activities of the public service in so far as the latter is acting as the depositary of public authority responsible for protecting the general interests of the State or other public authorities.“ 390
Zur Begründung des Ausschlusses führten die Richter aus: „The Court notes that in each country’s public-service sector certain posts involve responsibilities in the general interest or participation in the exercise of powers conferred by public law. The holders of such posts thus wield a portion of the State’s sovereign power. The State therefore has a legitimate interest in requiring of these servants a special bond of trust and loyalty.“ 391
Der Gerichtshof trug somit dem legitimen Interesse der Vertragsstaaten Rechnung, von seinen Bediensteten, welchen er zur Wahrung seiner Interessen die Ausübung staatlicher Souveränität überträgt, ein besonderes Maß an Vertrauen und Loyalität zu verlangen.392 Zentrales Definitionsmerkmal war, dass der Betroffene eine Aufgabe wahrnimmt, im Zuge derer er mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und mit der Verantwortung für die Wahrung allgemeiner Belange des Staates betraut ist.393 Diese Voraussetzung war im Wesentlichen 387 EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 62 (Pellegrin/Frankreich); vgl. hierzu auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 7 ff.; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, EGMR, Art. 6, Rn. 19. 388 Vgl. zu den ähnlichen Beweggründen im Anwendungsbereich des Art. 28 GRC oben Fn. 198. 389 EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 64 ff. (Pellegrin/Frankreich). 390 EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 66 (Pellegrin/Frankreich). 391 EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 65 (Pellegrin/Frankreich) (Hervorhebungen durch Verfasser). 392 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 11; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 220 f. 393 Vgl. hierzu auch die von der Großen Kammer in Bezug genommene Aktion der EU-Kommission vom 18.3.1988 zur Aufhebung der Beschränkungen zum Zugang zur
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deckungsgleich mit dem bereits vorstehend erwähnten funktionsorientierten Definitionsansatz des Begriffs der „Staatsverwaltung“ im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK.394 (b) Weiterentwicklung des Abgrenzungskriteriums – Vilho Eskelinen Auch das in Pellegrin entwickelte Abgrenzungskriterium führte allerdings in seiner konkreten Anwendung gerade in Grenzfällen zu unbilligen Ergebnissen und Unsicherheiten.395 Dabei kristallisierten sich zwei Hauptprobleme bei der Anwendung des funktionalen Merkmals heraus. So kam es zum einen zu ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen etwa in solchen Fällen, in denen mehrere Betroffene zwar die gleiche Position innehatten, der eine jedoch als Staatsbediensteter mit einer besonderen Treue- und Pflichtenstellung, der andere dagegen im Rahmen eines gewöhnlichen privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses ohne ein spezielles „Vertrauensband.“ 396 Zum anderen verursachte auch die konkrete Handhabung der funktionellen Abgrenzung Schwierigkeiten, da für die Richter in vielen Fällen nicht klar war, inwieweit die Zugehörigkeit zu einem besonderen Tätigkeitsbereich des öffentlichen Dienstes für sich genommen und ohne Rücksicht auf die tatsächliche Art der durch den Betroffenen wahrgenommenen Aufgaben genügte, um die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auszuschließen.397 Aus diesen Gründen entwickelte der Gerichtshof seinen Ansatz im Urteil vom 19. April 2007 in der Rechtssache Vilho Eskelinen398 weiter. Demnach bestand fortan eine grundsätzliche Vermutung für die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK. öffentlichen Verwaltung aufgrund der Staatsangehörigkeit, „Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Zugang zur Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung der Mitgliedstaaten – Aktion der Kommission auf dem Gebiet der Anwendung von Artikel 48 Absatz 4 EWG-Vertrag“, ABl. EG 1988 – C. 72, S. 2. 394 Als Musterbeispiel für die insoweit besonders zu behandelnden Berufsgruppen des öffentlichen Sektors dienten den Richtern dabei erneut die Polizei und die Streitkräfte, EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 66 (Pellegrin/Frankreich). 395 Vgl. die Zusammenfassung in EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 50 ff. (Vilho Eskelinen aO). Dazu auch De Becker, CLLPJ 2011, 949, 961 f. 396 Siehe exemplarisch die Beispiele in EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 51, 53 (Vilho Eskelinen aO). Weiterhin kam es zu Ungleichbehandlungen von Betroffenen aufgrund der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben, bspw. Polizist im Außendienst und Bürobediensteter bei der Polizei, obschon die Art der Streitigkeit, bspw. um die Gewährung von Gehaltszulagen, die gleiche war. Da der Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK letztlich jedoch an die Art der Streitigkeit anknüpft, gab es insoweit keinen sachlichen Grund für eine unterschiedliche Behandlung, vgl. EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 62 (Vilho Eskelinen aO); Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 11. 397 Siehe auch hier exemplarisch die Ausführungen in EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 52 (Vilho Eskelinen aO). 398 EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00 (Vilho Eskelinen aO).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Berufe sich eine Regierung dennoch auf die Unanwendbarkeit der Regelung, so müsse sie zwei Ausschlussbedingungen kumulativ darlegen. Zum einen müsse nach innerstaatlichem Recht der Zugang zum Gericht für den Dienstposten oder die Gruppe von Bediensteten ausdrücklich ausgeschlossen sein.399 Zum anderen müsse dieser Ausschluss auch durch „objektive Gründe staatlichen Interesses“ („objective grounds in the State’s interest“) gerechtfertigt sein.400 Als derartige Gründe kämen grundsätzlich wieder die Ausübung staatlicher Gewalt bzw. das daraus resultierende „besondere Band des Vertrauens und der Loyalität“ zum Staat in Betracht. Insoweit findet das funktionale Kriterium aus Pellegrin hierin seine Fortsetzung. Allerdings genügte es nach Ansicht der Richter nicht länger, dass sich diese Gründe aus der jeweilig wahrgenommenen Aufgabe des Betroffenen ableiteten. Die Staaten müssten vielmehr darlegen, „dass sich der Gegenstand der Streitigkeit auf die Ausübung von staatlicher Gewalt bezieht oder das besondere Vertrauensverhältnis gefährdet“.401 Dieser neue Ansatz des Gerichtshofs bildet bis zum heutigen Tag die Grundlage seiner Rechtsprechung.402 (c) Übertragung der Grundsätze auf Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Fraglich ist nunmehr, inwiefern sich die aufgezeigten Grundsätze auf die Abgrenzungsproblematik des Begriffs der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK übertragen lassen. Auf den ersten Blick erscheint der Verweis der 3. Sektion in Enerji Yapi-Yol Sen auf das rein funktionale Pellegrin-Kriterium widersprüchlich, da der Gerichtshof dieses, wie aufgezeigt, zwischenzeitlich bereits weitgehend umgestaltet bzw. weiterentwickelt hatte. Diese Änderungen waren allerdings vornehmlich der Tatsache geschuldet, dass sich das in Pellegrin entwickelte Abgrenzungsmerkmal zur Eröffnung des Anwendungsbe-
399 Die Einführung dieser Anwendbarkeitsvoraussetzung ist dem Umstand geschuldet, dass viele Konventionsstaaten allen Angehörigen des öffentlichen Diensts Zugang zu einem Gericht – etwa zur Geltendmachung von Ansprüchen in Bezug auf Gehalt, Zulagen, Urlaub und sogar Entlassungen oder Einstellungen – ermöglichen, da sie hierin offenbar keinen Konflikt zwischen Staatsinteressen und dem Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen sehen, EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 57 (Vilho Eskelinen aO). 400 EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 62 (Vilho Eskelinen aO). 401 EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00 = NJOZ 2008, 1188, 1195 (Vilho Eskelinen aO). Hierdurch wird das Abgrenzungsmerkmal wieder an das eigentliche Tatbestandsmerkmal („zivilrechtliche Ansprüche“), also die Art der Streitigkeit, angenähert. Durch diese Weiterentwicklung der Rechtsprechung in Pellegrin sollte bewirkt werden, dass „gewöhnliche“ arbeitsrechtliche Streitigkeiten unabhängig vom jeweiligen Status des Betroffenen nach nationalem Recht vom Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK umfasst sind, Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 221. 402 Vgl. etwa EGMR 16.7.2009 – App. 8453/04, Rn. 37 (Bayer). Kritisch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 11; als nicht weitgehend genug Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 221; a. A. Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK Rn. 22.
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reichs allein an der durch den Betroffenen ausgeübten Funktion, nicht aber, wie das eigentliche Tatbestandsmerkmal des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK („zivilrechtliche Ansprüche“), an der Natur der Streitigkeit ausrichtete, was zu den aufgezeigten Anwendungsproblemen führte. Wendet man den nunmehr praktizierten „Eskelinen-Test“ 403 entsprechend modifiziert bei der Überprüfung einer Streikrechtsbeschränkung an, so müsste man zum einen fragen, ob der Betroffene einer nationalen Streikrechtsrestriktion unterliegt und zum anderen, ob diese durch objektive Gründe des staatlichen Interesses im Einzelfall gerechtfertigt ist. Hierbei wird deutlich, dass die vorgenommenen Änderungen nicht erforderlich sind und es schlussendlich wieder auf eine rein funktionale Betrachtung des jeweiligen Aufgabenbereichs ankommt. Denn für einen Beschwerdeführer wird im Rahmen des Art. 11 EMRK stets der Grund zur Anrufung des Gerichtshofs in einer gegen ihn gerichteten Streikrechtsrestriktion liegen. Somit bedarf es der Filterfunktion der ersten Voraussetzung des „Eskelinen-Tests“ nicht. Aber auch der neu eingeführten Forderung nach einer konkreten Verbindung zwischen der Streitigkeit und der durch den Betroffenen wahrgenommenen besonderen Aufgabe oder einer Gefährdung des besonderen Vertrauensverhältnisses bedarf es im Hinblick auf die Überprüfung einer möglichen Streikrechtseinschränkung nicht. Ist der Betroffene an der Ausübung von Hoheitsgewalt beteiligt und steht er in einem Verhältnis besonderer Treue und Loyalität zum Staat, so wird durch eine Streikteilnahme stets die Ausführung der ihm übertragenen besonderen Aufgaben beeinträchtigt, sodass dies immer auch Auswirkungen auf der Ebene der besonderen Treue- und Loyalitätspflicht des Streikenden zur Folge hat. Es zeigt sich folglich, dass die durch Vilho Eskelinen vorgenommenen Veränderungen des „Pellegrin-Kriteriums“ im Rahmen der Prüfung einer Streikrechtseinschränkung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK nicht erforderlich sind. Gleichwohl lassen sich Vilho Eskelinen zwei Wertungen entnehmen, welche auch für die Auslegung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK von Bedeutung sind. Zum einen kam der Gerichtshof zu der Überzeugung, dass im Vorfeld einer Rechtsverkürzung für einen Angehörigen des öffentlichen Diensts stets der Vergleich mit einem entsprechend Beschäftigten im gewöhnlichen Angestelltenverhältnis zu vollziehen ist. Werde nach rein funktionalen Merkmalen differenziert, so geböten die Art. 1 und 14 EMRK im Falle der identischen Stellung der Betroffenen auch eine gleiche und diskriminierungsfreie Rechtsgewährleistung für beide Gruppen.404 Zum anderen stellten die Richter klar, dass die jeweilige Zuordnung einer Stelle zum Ausnahmebereich der Staatsverwaltung nur anhand der konkret durch den Betroffenen ausgeübten Aufgabe erfolgen könne. Nicht ausrei403 404
Mayer, in: Karpenstein/Mayer, EGMR, Art. 6 Rn. 19. EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 53, 58 (Vilho Eskelinen aO).
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chend sei es dagegen, auf die bloße abstrakte Zugehörigkeit zu einer gewissen Berufsgruppe abzustellen.405 Neben diesen Wertungen verbleiben als „harte“ Prüfungspunkte die funktionsund aufgabenorientierten Kriterien des Gerichtshofs nach Pellegrin. Vor diesem Hintergrund ist letztlich auch der ausschließliche Verweis der 3. Sektion in Enerji Yapi-Yol Sen auf Pellegrin ohne die Bezugnahme auf die nachfolgende Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK zu erklären.406 Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass nach der Definition des Gerichtshofs immer dann von einem Angehörigen der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gesprochen werden kann, wenn der Betroffene im Rahmen der ihm übertragenen Aufgabe direkt oder indirekt mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Staatsgewalt und der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut ist. Aus der jeweiligen Aufgabe muss sich ein legitimes staatliches Interesse an einem besonderen Verhältnis der Treue und Loyalität zwischen Dienstherr und Bediensteten ergeben. Zur Bewertung dieser Kriterien ist stets auch der Vergleich mit den Rechten anderer in vergleichbarer Position beschäftigter Personen vorzunehmen. Welche Personengruppen des öffentlichen Diensts hiervon konkret erfasst sind, ist mit dieser abstrakten und recht weiten Definition noch nicht geklärt und bedarf der weiteren Untersuchung. (3) Punktueller Ausschluss von Berufsgruppen vom Begriff der Staatsverwaltung durch den EGMR Das vorstehend herausgearbeitete abstrakte Abgrenzungskriterium hat der EGMR bereits in einigen Einzelfallentscheidungen zu Eingriffen in die Koalitionsfreiheit von Angehörigen des öffentlichen Diensts angewendet. Dabei ging der Gerichtshof – soweit ersichtlich – bislang in keinem Fall einer Beschränkung von Koalitionsrechten von Staatsbediensteten von einer Einschränkung im (personellen) Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK aus. Verfahrensgegenstand war die Ausnahmeregelung beispielsweise in zwei Urteilen gegen die Bundesrepublik Deutschland. Sowohl in der Rechtssache Vogt407 im Jahre 1995 als auch im Verfahren Volkmer408 im Jahre 2001 ging es dabei um die Frage, ob Lehrer als Angehörige der Staatsverwaltung zu betrachten sind. In beiden Fällen ließ der Gerichtshof die Entscheidung über die Zuordnung des 405
EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 52 (Vilho Eskelinen aO). Mit anderer Einschätzung, Lörcher, AuR 2009, 229, 236. 407 EGMR 26.9.1995 – App. 17851/91 (Vogt). Die Beschwerdeführerin Vogt war Beamtin auf Lebenszeit. 408 EGMR 22.11.2001 – App. 39799/98 (Volkmer). Der Beschwerdeführer Volkmer arbeitete als Lehrer im Angestelltenverhältnis. 406
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Lehrerberufs zur Personengruppe des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK offen, da er sie für nicht entscheidungserheblich hielt.409 In der Sache Volkmer stellten die Richter darüber hinaus jedoch fest, dass Gymnasiallehrer nicht unter die vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auszunehmende Gruppe von Staatsbediensteten zu fassen seien.410 In seinen jüngeren Urteilen in den Sachen Urcan, Saime Özcan und Kaya Seyhan zog er eine Rechtfertigung der jeweiligen Eingriffe in die Koalitionsfreiheit der betroffenen Lehrer nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK erst gar nicht in Betracht.411 Wie bereits oben festgestellt,412 lässt dies insgesamt den Schluss zu, dass die Richter Lehrer bislang nicht zu der Gruppe der Angehörigen der Staatsverwaltung zählen. Gleiches gilt für solche Staatsbedienstete, die lediglich mit der technischen Unterstützung des Verwaltungsapparats betraut sind, deren konkrete Aufgaben somit nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Exemplarisch entschieden hat der EGMR dies etwa für Elektriker413 und Techniker414, welche bei Ministerien beschäftigt waren. Ebenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK verortete der EGMR grundsätzlich auch Gemeinde- bzw. Kommunalbedienstete, die nicht an der Verwaltung des Staates als solcher beteiligt seien.415 Schließlich entschied er in Enerji Yapi-Yol Sen, dass auch Streikverbote für Staatsbedienstete in Wirtschafts- und Industrieunternehmen des Staates nicht mit Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gerechtfertigt werden könnten.416 Abseits dieser für den Einzelfall entschiedenen punktuellen Ausschlüsse von Berufsgruppen vom Begriff der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK fehlt bislang ein detailliertes Rechtssprechungsbild zu dem besagten Merkmal. Insbesondere mangelt es gänzlich an Beispielen und Indikatoren für eine positive Zuordnung zu dieser Ausnahmegruppe.
409 EGMR 26.9.1995 – App. 17851/91, Rn. 68 (Vogt); EGMR 22.11.2001 – App. 39799/98, unter 2. der Gründe (Volkmer). 410 EGMR 22.11.2001 – App. 39799/98, unter 4. der Gründe (Volkmer). 411 Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.a)aa) und Kapitel 2 A.II.5.a). 412 Siehe oben Kapitel 2 A.II.5.b). 413 EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 22 (Karacay). 414 EGMR 14.11.2006 – App. 20868/02, Rn. 19 (Metin Turan). 415 Der bloße Einwand der Regierung, die Gemeindebediensteten seien, wie alle anderen (nicht-kommunalen) Staatsbediensteten auch, mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben betraut, reichte den Richtern offenbar nicht aus, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 89, 97 (Demir and Baykara); vgl. auch EGMR 13.7.2010 – App. 33322/07, Rn. 5 (Cerikci). Allerdings muss in diesem Zusammenhang beachtet werden, dass die Türkei durch ihre Verfassung als „Nationaler Einheitsstaat“ konzipiert ist und somit – anders als etwa die BRD – zentralistisch verwaltet wird, vgl. Präambel und die allgemeinen Grundsätze (Art. 1–11) der Türkischen Verfassung. 416 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen); vgl. hierzu auch bereits EGMR 9.2.2006 – App. 43371/02 (Rabus); EGMR 30.9.2004 – App. 42986/98, Rn. 29 (Pramov).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
bb) Systematische Konkretisierung anhand des internationalen und europäischen Regelungsumfeldes der EMRK Der Gerichtshof hat im Urteil Demir und Baykara nochmals eindringlich auf die Berücksichtigung des sonstigen internationalen und europäischen Rechts bei der Auslegung der Konventionsvorschriften hingewiesen.417 Völkerrechtliche Regelungswerke und Grundsätze im Regelungsumfeld der EMRK bilden somit einen wesentlichen Pfeiler bei der systematischen Interpretation von Konventionsvorschriften. Kommt der Gerichtshof zu der Überzeugung, dass bezüglich einer Regelungsfrage ein internationaler oder jedenfalls europäischer Konsens besteht, so sieht er nicht nur die Möglichkeit, sondern eine Art Selbstverpflichtung, diesen im Wege der evolutiven Auslegung418 auf die entsprechenden Schutzgarantien der Konvention – als „living instrument“ 419 – zu übertragen.420 Ein solcher Konsens fußt sich dabei im Wesentlichen auf dem Fundament zweier Säulen. Zum einen aus einer Zusammenschau internationaler Verträge und Regelungssysteme in Verbindung mit dem hierzu entwickelten „soft-law“ in Gestalt der jeweiligen Spruchpraxis der zur Auslegung und Interpretation berufenen Organe. Zum anderen aus einer vergleichenden Betrachtung der konventionsstaatlichen Rechtssysteme. (1) Streikrechtsschranken im Rahmen der ILO-Übereinkommen Bei der Rezeption sonstiger internationaler Rechtsnormen legte der Gerichtshof im Rahmen der Ausweitung der Koalitionsrechte des Art. 11 EMRK in Demir und Baykara und Enerji Yapi-Yol Sen ein besonderes Augenmerk auf die Übereinkommen der ILO.421 Nach der Spruchpraxis der Auslegungs- und Interpretationsorgane, namentlich dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit und dem Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen, ist im Rahmen dieser Übereinkommen das Recht auf Streik grundsätzlich und im Besonderen auch für Angehörige des öffentlichen Diensts gewährleistet.422 Dennoch betonen beide Spruchkörper gleichzeitig die Einschrän-
417 Speziell zur Berücksichtigung des sonstigen internationalen Rechts bei der Auslegung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2, EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 166 (Demir and Baykara); siehe auch oben Kapitel 2 A.II.3.a). 418 Kapitel 2 A.II.3.a). 419 Vgl. erstmals zu dieser Konzeption der Konvention, EGMR 25.4.1978 – App. 5856/72, Rn. 32 (Tyrer). 420 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 85 (Demir and Baykara); vgl. auch Peters/Altwicker, EMRK, § 2 Rn. 40. 421 Ebert/Oelz, DP 212, 2012, S. 12. 422 Vgl. hierzu ausführlich oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(a); vgl. auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 245 f.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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kungsmöglichkeiten bis hin zu partiellen Verboten unter anderem auch im Bereich des öffentlichen Diensts.423 (a) Grundkonzeption der Schranken des Streikrechts im öffentlichen Dienst Der Grundkonzeption des Streikrechts im Bereich des öffentlichen Diensts im Rahmen der Übereinkommen der ILO liegt die Einsicht zugrunde, dass die jeweiligen Ausgestaltungen in den Mitgliedsstaaten mitunter erheblich differieren, weshalb die Bestimmung der Reichweite dieses Rechts mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Dennoch fördert dieser Zustand gerade die Notwendigkeit eines einheitlichen Ansatzes zur Überprüfung der Konformität der einzelstaatlichen Ausgestaltungen mit den ILO-Konventionen, namentlich dem Übereinkommen Nr. 87.424 Vor diesem Hintergrund entwickelten der Sachverständigenausschuss und der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit ein autonom zu handhabendes Differenzierungskriterium für solche Staatsbedienstete, die möglicherweise von der Streikrechtsgewährleistung ausgenommen werden können, um hierdurch eine ausreichend enge Definition der Einschränkungsmöglichkeiten sicherzustellen:425 „The right to strike may be restricted or prohibited: (1) in the public service only for public servants exercising authority in the name of the State; or (2) in essential services in the strict sense of the term (that is, services the interruption of which would endanger the life, personal safety or health of the whole or part of the population).“ 426
Neben der vorstehend bereits thematisierten Möglichkeit von Streikrechtseinschränkungen in Bereichen der sogenannten essential services, sind Einschränkungen demnach auch für solche öffentlich Bedienstete möglich, die mit der Ausübung staatlicher Autorität bzw. Gewalt betraut sind. Im Ergebnis handelt es sich hierbei, wie auch schon im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK, um 423 424
Exemplarisch ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 151. ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 158; Llobera, RTDH 1992 (11), 321,
333. 425 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 575: „Too broad a definition of the concept of public servant is likely to result in a very wide restriction or even a prohibition of the right to strike for these workers.“ 426 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 574, 576; ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 158 (Hervorhebungen durch Bearbeiter); Gernigon/Odero/Horacio, ILR 1998 (137), 441, 448 f. Nach der Überzeugung des Sachverständigenausschusses trägt diese Aufspaltung der Einschränkungsmöglichkeiten dem Umstand Rechnung, dass, obgleich vielfach Angehörige der Staatsverwaltung die Aufgaben der essentiellen Daseinsvorsorge wahrnehmen werden, gleichzeitig auch Fälle denkbar sind, in denen letztere auch durch den privaten Sektor erfüllt werden bzw., anders gewendet, jemand zwar als Angehöriger der Staatsverwaltung beschäftigt ist, dabei aber Aufgaben fernab der Daseinsvorsorge ausübt, vgl. ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 155.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
ein rein funktionell differenzierendes Kriterium, welches losgelöst von der jeweiligen staatlichen Ausgestaltung zur Anwendung kommt.427 Bewusst ohne Berücksichtigung bleiben somit die in den Einzelstaaten existierenden Besonderheiten, wie beispielsweise erhöhte Schutz- oder Fürsorgepflichten, welche die Staaten den Betroffenen im „Austausch“ für das vorenthaltene Streikrecht gewähren.428 Weiterhin stimmen die ILO-Ausschüsse darin überein, dass der Ausschluss von Angehörigen der Staatsverwaltung von der Streikrechtsgarantie nur insoweit möglich ist, wie den Betroffenen ausreichende kompensatorische Garantien zum Schutz ihrer Interessen gewährleistet werden.429 (b) Konkretisierung durch die Spruchpraxis Aufgrund der stark unterschiedlichen einzelstaatlichen Ausgestaltungen des Streikrechts in den öffentlichen Beschäftigungssektoren der ILO-Mitgliedsstaaten ergeben sich für die Spruchkörper der Organisation, trotz des vorstehend aufgezeigten einheitlichen Differenzierungsansatzes, ersichtlich Schwierigkeiten, einheitliche Kategorisierungsmaßstäbe für die Zulässigkeit von Streikrechtsbeschränkungen zu entwickeln.430 Gleichwohl hat der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit in seiner Spruchpraxis in den einzelnen Beschwerdeverfahren bereits mehrfach diesbezüglich Stellung genommen und im Zuge dessen das Merkmal der Ausübung staatlicher Gewalt bzw. Autorität für bestimmte Kategorien von Staatsbediensteten ausdrücklich verneint. Konkret bezog er sich dabei auf Staatsbedienstete in „staatseigenen“ Wirtschafts- oder Industrieunternehmen („state-
427 Dieses ist folgerichtig parallel zu der Ausnahmevorschrift des Art. 6 ILO-Übereinkommen Nr. 98 hinsichtlich des Rechts auf Kollektivverhandlungen für Angehörige der Staatsverwaltung ausgestaltet, vgl. Llobera, RTDH 1992, 321, 338; Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 204. 428 Im Hinblick auf dieses Argument etwa bei Lehrern, ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 589; vgl. insb. ILO-FAC, Case No. 1950 (Denmark) – Report No. 311, Rn. 458: „The Committee has, however, already stressed in this respect that it was not swayed by the particular status or designation that any national system might bestow on teachers; the decisive factor is whether the functions of the employees covered by the strike ban show that they are engaged in an essential service or in a public service exercising the powers of the public authority.“ Insoweit scheinen selbst politische und gesellschaftliche Instabilitäten eines Staates – so etwa im Falle des Iraks im Jahre 2005 – zumindest grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, vgl. ILO-FAC, Case No. 2348 (Iraq) – Report No. 343, Rn. 973 ff. 429 Gernigon/Odero/Horacio, ILR 1998 (137), 441, 448. 430 Zu beachten ist hierbei allerdings, dass die ILO, im Gegensatz zur Organisation des Europarats, 185 Mitgliedsstaaten aus Kulturbereichen mit gänzlich unterschiedlichen Rechts- und Staatssystemen zählt, eine aktuelle Auflistung der Mitgliedsstaaten ist abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/country.htm (Stand 28.2.2014).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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owned commercial or industrial enterprises“)431 sowie im Bildungssektor („education sector“)432, insbesondere auch Lehrer433. Zudem sei bei der Bewertung einer Stelle im Bereich des öffentlichen Diensts stets darauf zu achten, ob der Aufgabenbereich neben dem öffentlichen auch im privaten Bereich ausgeführt wird. Sei dies der Fall, so könne ebenfalls regelmäßig nicht von der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt im Sinne o. g. Differenzierungsformel ausgegangen werden.434 Im Gegensatz zu diesen Negativbeispielen hat der Ausschuss in anderen Fällen eine Zuordnung zur zentralen Staatsverwaltung bejaht. Dies geschah etwa explizit für Bedienstete beim Zoll („customs officers“),435 in der Rechtspflege bzw. Justizverwaltung („administration of justice“) sowie der Richterschaft („judiciary“).436 Obgleich der Sachverständigenausschuss die Aufstellung einer abschließenden Liste der Bereiche der Staatsverwaltung aufgrund der Verschiedenheit der vertragsstaatlichen Regelungssysteme grundsätzlich als nicht zielführend erachtet,437 hat er dennoch in seiner Spruchpraxis bereits mehrfach die Einschätzungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit dem Grunde nach bestätigt.438 (2) Grenzen des Streikrechts nach der ESC Der Menschenrechtskonvention systematisch näher stehend als die ILO-Konventionen, finden auch die Bestimmungen und Grundsätze der ESC Berücksichtigung bei der Interpretation der Konventionsvorschriften des Art. 11 EMRK.439 Art. 6 Nr. 4 ESC garantiert grundsätzlich das Streikrecht auch für alle Angehörigen des öffentlichen Diensts, einschließlich den Beamten nach deutschem Recht.440 Gleichwohl sind Ausnahmen von diesem Grundsatz nach Maßgabe des Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) möglich, „wenn diese gesetzlich 431 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 577. Vgl. hierzu auch die Vorüberlegungen des Komitees zum öffentlichen Dienst der Internationalen Arbeitskonferenz zum Abkommen Nr. 151, ILC, CEACR Report III (Part 1B), 2013, Rn. 53 ff., 58. 432 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 588. Für die BRD vgl. etwa ILO-FAC, Case No. 1820 (Germany) – Report No. 302, Rn. 109. 433 Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 205. 434 Vgl. etwa ILO-FAC, Case No. 1820 (Germany) – Report No. 302, Rn. 109. 435 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 579. 436 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 578. 437 ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 158. 438 Für die BRD hat der Sachverständigenausschuss etwa regelmäßig festgestellt, dass Beamte im Dienste der Deutschen Bahn und der Deutschen Post nicht dem Ausnahmebereich der Staatsverwaltung zuzurechnen sind, zuletzt ILC, CEACR Report III (Part 1A), 2012, S. 157. 439 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 50, 149 (Demir and Baykara); EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 24 (Enerji Yapi-Yol Sen). 440 Vgl. hierzu oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(b).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer oder zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit und der Sittlichkeit notwendig sind.“ Auf dieser Grundlage sind nach überkommener Auslegung grundsätzlich auch Streikverbote für bestimmte Gruppen von Angehörigen des öffentlichen Diensts möglich.441 Anders als im Rahmen des Art. 11 EMRK findet sich keine Spezialvorschrift für Angehörige der Staatsverwaltung.442 Vielmehr sind jegliche Einschränkungen oder gar Verbote des Streikrechts an der vorstehenden Generalklausel zu messen. Der Verzicht auf die Aufnahme von speziellen gesetzlichen Einschränkungsmöglichkeiten in Art. 6 Nr. 4 ESC erfolgte, nach der ursprünglichen Konzeption der Sozialcharta, in der Überzeugung, dass sich die in den Vertragsstaaten üblichen Beschränkungen und Verbote insbesondere auch im Bereich der öffentlichen Beschäftigungssektoren über die Tatbestandsmerkmale der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ rechtfertigen lassen würden.443 Im Zuge der praktischen Anwendung ergaben sich jedoch Uneinigkeiten über die tatsächliche Reichweite der Ausnahmevorschrift. So waren der Regierungsausschuss und diesem folgend das Ministerkomitee der Auffassung, Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) rechtfertige auch weitgehende Streikverbote im Bereich des öffentlichen Diensts, welche, wie etwa im Falle Deutschlands, rein statusbezogen differenzierten.444 Im Gegensatz dazu erachtete der EASR von Anfang an derartige Pauschalverbote des Streikrechts als nicht von den Einschränkungsvoraussetzungen gedeckt und folglich mit der Sozialcharta unvereinbar.445 Ungeachtet der sich hieraus ergebenden Problematik der Kompetenz zur verbindlichen und „authentischen“ Auslegung der Charta,446 stützt sich der EGMR bei der Interpretation der Vor441
So vom Beginn seiner Spruchpraxis an ECSR, Conclusions ESC I (1969), S. 38 (Statement of Interpretation): „As regards the right of public servants to strike, the Committee recognises that, by virtue of Article 31, the right to strike of certain categories of public servants may be restricted, including members of the police and armed forces, judges and senior civil servants.“ 442 Siehe wohl aber den Ausnahmevorbehalt für Polizei und Streitkräfte in Art. 5 Satz 2 und 3 ESC. 443 Insbesondere für den Begriff der öffentlichen Ordnung wurde dabei ein weitgehendes Verständnis angenommen, vgl. Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht in den universellen und europäischen Kollektivabkommen, S. 85. Auch der EASR teilte zunächst im Grundsatz diese Überzeugung, Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 306. 444 Interessanterweise wurde dabei als Argument für eine weite Interpretation angeführt, dass es ohnehin schwierig sei, in einer Gruppe von Betroffenen mit demselben Status zu unterscheiden, wer tatsächlich hoheitliche Befugnisse ausübe und wer nicht, Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 308. 445 ECSR, Conclusions ESC I (1969), S. 39 (Statement of Interpretation); vgl. auch aus jüngerer Zeit ECSR, Digest 2008, S. 57. 446 Vgl. hierzu unten Kapitel 2 B.I.1.b); Schlachter, RdA 2011, 341, 345 f.; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 26.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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schriften der EMRK vor allem auf die Vorschriften der Sozialcharta in ihrer jeweiligen Auslegung durch den EASR.447 (a) Die Bewertung von Streikverboten in der Spruchpraxis des EASR Nach Ansicht des Ausschusses erfordern Streikrechtseinschränkungen und -verbote grundsätzlich, dass die von dem Betroffenen ausgeübte Art der Tätigkeit eine unmittelbare Verbindung zu den in Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) aufgeführten Rechtfertigungsgründen aufweist:448 „The right to strike of certain categories of public officials may be restricted. Under Article G, these restrictions should be limited to public officials whose duties and functions, given their nature or level of responsibility, are directly related to national security, general interest, etc.“
Es zeigt sich auch hier wieder ein nach Funktion und Tätigkeit differenzierender Ansatz, welcher im Wesentlichen mit der parallelen Grundkonzeption im Rahmen der ILO übereinstimmt.449 Zunächst legte der Ausschuss, in Übereinstimmung mit dem Regierungsausschuss und dem Ministerkomitee, ein weiteres Verständnis der Voraussetzungen des Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) zugrunde. So ging beispielsweise im vorstehend bereits angesprochenen Fall des Koalitionsverbots für Angehörige des britischen Telekommunikationszentrums für militärische und sonstige amtliche Nachrichtensendungen (GCHQ), welcher ebenfalls der Menschenrechtskommission vorgelegen hatte,450 auch der EASR davon aus, dass die Verbote von den Einschränkungsmöglichkeiten der Sozialcharta gedeckt gewesen seien.451 Im weiteren Verlauf seiner Kontrolltätigkeit verschärfte der Ausschuss die Anforderungen an die Zulässigkeit von Streikrechtseinschränkungen und Streikverbotenen durch die Signatarstaaten. So genügte fortan nicht mehr, dass die betroffene Berufsgruppe nach der Art ihrer Tätigkeit eine unmittelbare Verbindung zum Schutz der in Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) aufgeführten legitimen Zwecke hatte. Vielmehr konkretisierte der Ausschuss seine differenzierende Betrachtung dergestalt, dass er die durch den jeweiligen Betroffenen konkret ausgeübte Tätigkeit und deren unmittelbare Bedeutung für die genannten
447 Vgl. EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 50, 149 (Demir and Baykara). Kritisch hierzu Seifert, KritV 2009, 357, 365 f. 448 ECSR, Digest 2008, S. 57. 449 So bestand etwa stets Einigkeit zwischen dem EASR und den Spruchkörpern der ILO, dass pauschale und undifferenzierte Streikverbote im öffentlichen Dienst unzulässig seien, vgl. Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 306 f. 450 Siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(1). 451 ECSR, Conclusions ESC X-1 (1987), Art. 5 (United Kingdom).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Schutzzwecke bewertete.452 Der Beurteilungsmaßstab verschiebt sich hiermit von einer institutionell orientierten hin zu einer rein konkret-funktionellen Betrachtung. Über dieses Regulativ scheiden somit etwa Bedienstete, die zwar im „Kernbereich“ staatlicher Aufgabenerfüllung angestellt sind, indessen jedoch reine Hilfsaufgaben (Hausmeister etc.) erfüllen, für mögliche Streikverbote aus.453 In der Konsequenz hält sich der EASR, soweit ersichtlich, bei der Benennung abstrakter Gruppen von Staatsbediensteten, für welche möglicherweise das Streikrecht ausgeschlossen werden kann, zurück.454 Beispielhaft für unter der Sozialcharta zulässige Ausnahmen von der Streikrechtsgarantie erwähnt der Ausschuss, neben der Polizei und den Streitkräften,455 stets nur Richter und ranghohe Beamte („senior civil servants“).456 Als ausschlaggebendes Kriterium erweist sich dabei, wie auch im Rahmen der ILO, wiederum die Ausübung staatlicher Gewalt bzw. Autorität.457 (b) Schlussfolgerung Festzuhalten bleibt, dass unter Art. 6 Nr. 4 ESC Streikrechtsrestriktionen für bestimmte Tätigkeitsbereiche von Angehörigen des öffentlichen Diensts möglich sind, wenn diese nach der Art der ihnen übertragenen Aufgaben staatliche Gewalt zum Erhalt der in Art. G Abs. 1 ESC (rev.) (Art. 31 Abs. 1 ESC) aufgeführten Schutzgüter ausüben. Indessen ist es nicht ausreichend generell auf die Berufsgruppe des Betroffenen abzustellen. Vielmehr ist die tatsächlich durch den Be452 Vgl. exemplarisch, ECSR, Conclusions ESC (rev.) 2006, Vol. 2, S. 573 (Moldova): „The Committee considers that a strike ban in the aforementioned sectors such as internal affairs, state security sectors and national defence could serve a legitimate purpose since work stoppages in these sectors could pose threats to public order and national security. However, simply prohibiting all employees in the aforementioned sectors from striking, without any distinction as to function, cannot be considered proportionate, and therefore necessary in a democratic society.“ Siehe auch Kovacs, CLLPJ 2005, 445, 464 f. 453 Dies gilt auch für Streikverbote im Bereich der essentiellen Daseinsvorsorge. Hier ist nach Ansicht des Ausschusses insbesondere die Vereinbarung von Notdiensten vorrangig zu prüfen, vgl. etwa ECSR, Conclusions ESC XVII-1 (2004), Vol. 1, S. 102 (Czech Republic). 454 Aus der Nichtbeanstandung bestimmter einzelstaatlicher Streikrechtseinschränkungen im öffentlichen Dienst durch den EASR lässt sich zwar eine Tendenz, keinesfalls aber eine definitive und zu verallgemeinernde Aussage hinsichtlich der Konformität solcher Streikrechtsverbote mit der Sozialcharta entnehmen, vgl. auch Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD und die ESC, S. 114. 455 Dass diese beiden Gruppen besonderen Einschränkungsmöglichkeiten unterliegen, ergibt sich indes bereits aus den expliziten Ausnahmebestimmungen des Art. 5 ESC, die a majore ad minus auch im Bereich des Art. 6 Nr. 4 ESC Anwendung finden. 456 ECSR, Conclusions ESC I (1969), S. 38 (Statement of Interpretation). 457 Vgl. etwa ECSR, Conclusions ESC XIX-3 (2010), S. 104 (Germany): „The Committee recalls that in the case of civil servants who are not exercising public authority only a restriction can be justified, not an absolute ban.“
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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troffenen ausgeübte Aufgabe und Funktion in ihrer Relevanz für den Schutz der genannten Interessen zu überprüfen. Orientierungspunkte können hierbei als zulässig erachtete Streikverbote für die Polizei und Streitkräfte sowie Richter und ranghohe Beamte sein. Im Ergebnis dürfte damit die durch den EASR vorgenommene funktionelle Abgrenzung noch strengeren Maßstäben folgen als die Konzeption der ILO, da letztere wohl eine berufsfeldbezogene Betrachtung zulässt, über welche jedenfalls in Kernbereichen staatlicher Angelegenheiten auch breitere Streikverbote möglich erscheinen. Solche wären nach der vorstehend dargestellten Spruchpraxis des EASR als zu undifferenziert und somit unzulässig anzusehen. (3) Unionsrechtlicher Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ Die Problematik der konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistung im Bereich öffentlicher Beschäftigungssektoren illustriert erneut, dass die im Rahmen des Unionsrechts entwickelten Grundsätze auch bei der systematischen Interpretation der Konventionsvorschriften zu berücksichtigen sind. Der EGMR bezieht das Unionsrecht grundsätzlich in vielfältiger Weise im Rahmen seiner Entscheidungsfindung heran.458 Dies gilt speziell in Bezug auf mögliche Beschränkungen bzw. Verbote des Streikrechts im Bereich des öffentlichen Diensts. So verwies der Gerichtshof in Enerji Yapi-Yol Sen459 über die Bezugnahme auf sein Urteil in der Sache Pellegrin auf die Auslegung der unionsrechtlichen Ausnahmevorschriften zu den Garantien der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Beschäftigte „in der öffentlichen Verwaltung“ nach Art. 45 Abs. 4 AEUV durch die Organe der EU.460 (a) Die „systematische Aktion“ der EU-Kommission vom 18.3.1988 Explizite Leitbildfunktion für die Interpretation der Konventionsvorschriften hat die „systematische Aktion“ der EU-Kommission aus dem Jahre 1988, durch welche die EU-Mitgliedsstaaten dazu veranlasst werden sollten, weitgehende Teile von Berufsbereichen des öffentlichen Diensts auch für Angehörige anderer Mitgliedsstaaten zu öffnen. Im Zuge dessen richtete die Kommission unter anderem eine Mitteilung an die EU-Staaten, in welcher sie eine gemeinschaftsrechts458 Siehe beispielsweise EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 60 (Vilho Eskelinen aO); EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 51, 85 ff., 150 (Demir and Baykara). 459 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). 460 In der Rechtssache Pellegrin führte der EGMR zur Abgrenzungsproblematik hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK für Streitigkeiten von Angehörigen des öffentlichen Diensts aus: „[. . .] Court will have regard, for guidance, to the categories of activities and posts listed by the European Commission in its communication of 18 March 1988 and by the Court of Justice of the European Communities [. . .].“ Siehe auch oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(e).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
konforme Anwendung der Ausnahmevorschrift zur Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 48 Abs. 4 EG (jetzt Art. 45 Abs. 4 AEUV) einforderte. Zu diesem Zweck erarbeiteten die Kommissare – im Anschluss an die Zusammenfassung des damaligen Standes der Rechtsprechung – eine Negativliste, innerhalb derer eine Differenzierung nach verschiedenen Berufssektoren erfolgte. Hierdurch sollte die einheitliche und ausreichend restriktive Anwendung des bis dahin judizierten abstrakten Differenzierungsansatzes des EuGH461 gewährleistet werden. Die Rechtsprechung hatte nach Ansicht der Kommission das Merkmal der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ konkret bejaht für: „die Streitkräfte, die Polizei und sonstige Ordnungskräfte; die Rechtspflege; die Steuerverwaltung und die Diplomatie. Außerdem gilt die Ausnahme für Stellen, die in die Zuständigkeit der staatlichen Ministerien, der Regionalregierungen, der Gebietskörperschaften und sonstiger gleichgestellter Organe sowie der Zentralbanken fallen, sofern es sich um Personal handelt (Beamte und sonstige Bedienstete), das Tätigkeiten im Zusammenhang mit hoheitlichen Befugnissen des Staates oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts wie die Ausarbeitung von Rechtsakten, die Durchführung dieser Rechtsakte, die Überwachung ihrer Anwendung und die Beaufsichtigung der nachgeordneten Stellen ausübt.“ 462
Die Aktion erstreckte sich explizit nicht auf die genannten Bereiche.463 Vielmehr ergänzte die Kommission die überkommene Anwendungspraxis der Ausnahmevorschrift des Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag (heute Art. 45 Abs. 4 AEUV) um eine Negativ-Auflistung von Aufgaben- und Tätigkeitsbereichen, welche „so weit von den spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung, wie sie der Gerichtshof definiert ha[be], entfernt [seien], daß sie nur in außergewöhnlichen Fällen unter die Ausnahme nach Artikel 48 Absatz 4 EWG-Vertrag [fielen]“.
461 Mitteilung der EU-Kommission: „Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Zugang zur Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung der Mitgliedstaaten – Aktion der Kommission auf dem Gebiet der Anwendung von Artikel 48 Absatz 4 EWG-Vertrag“, ABl. 1988 Nr. C72, S. 2: „[Der Gerichtshof hat] präzisiert, daß es sich bei der unter dieser Ausnahmebestimmung fallenden Beschäftigung um Stellen handelt, die einen Zusammenhang mit den spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung aufweisen, soweit diese mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und mit der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut ist, und daß diesen Belangen diejenigen der öffentlichen Körperschaften wie etwa der Gemeinden gleichzustellen sind“ (Hervorhebungen durch den Bearbeiter). 462 Mitteilung der EU-Kommission, ABl. 1988 Nr. C72, S. 3. 463 Auch in diesen Bereichen könne allerdings, nach einer späteren Klarstellung durch die Kommission, nicht davon ausgegangen werden, dass alle Stellen die Ausübung hoheitlicher Befugnisse und die Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates mit sich brächten. Insbesondere im Hinblick auf die letztgenannten Stellen der staatlichen Ministerien, Regionalregierungen, Gebietskörperschaften und sonstiger gleichgestellter Organe sowie der Zentralbanken nahm die Kommission insoweit einen strikteren Standpunkt ein, Mitteilung der Kommission vom 11.12.2002: „Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Volle Nutzung der Vorteile und Möglichkeiten“, KOM (2002), 694 endgültig, S. 22.
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Demnach seien die nachfolgenden Bereiche grundsätzlich nicht als „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ zu verstehen: „– Einrichtungen, die mit der Verwaltung und Erbringung kommerzieller Dienstleistungen betraut sind (beispielsweise: öffentliches Verkehrswesen, Strom- und Gasversorgung, Luftverkehrsunternehmen und Reedereien, Post und Fernmeldewesen, Rundfunk- und Fernsehanstalten); – Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens; – der Unterricht an staatlichen Bildungseinrichtungen; – zivile Forschung in staatlichen Forschungsanstalten.“ 464
Diese Negativliste der Kommission ist nunmehr aufgrund der Bezugnahme des EGMR in Enerji Yapi-Yol Sen bzw. Pellegrin auch im Rahmen der Auslegung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu beachten. Allerdings bezog sich der Gerichtshof darüber hinaus auch auf die korrespondierende Rechtsprechung des EuGH zu Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag (heute Art. 45 Abs. 4 AEUV). (b) Das Leitbild der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 45 Abs. 4 AEUV Der EuGH interpretiert den Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ in ständiger Rechtsprechung unionseinheitlich und legt dabei ein stark restriktives Verständnis465 zugrunde, um eine möglichst weitreichende und einheitliche Geltung der unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erreichen. Nach dem vom Gerichtshof geprägten Leitbild ist eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung folglich nur bei denjenigen Stellen anzunehmen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen466. Die maßgeblichen Anforderungen sind indessen die Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und die Wahrung der staatlichen Belange,467 wohingegen das Merkmal 464
Mitteilung der EU-Kommission, ABl. 1988 Nr. C72, S. 3. Zum Hintergrund der zunehmend engen Auslegung durch den Gerichtshof vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Rn. 1337. 466 EuGH 12.2.1974 – 152/73, Slg. 1974, 153, Rn. 4 f. (Sotgiu); 3.7.1986 – 66/85, Slg. 1986, 2121, Rn. 26 (Lawrie-Blum); 16.6.1987 – 225/85, Slg. 1987, 2625, Rn. 7 (Kommission/Italien); 30.9.2003 – C-47/02, Slg. 2003, I-10447, Rn. 60 f. (Anker); 30.9.2003 – C-405/01, Slg. 2003, I-10391, Rn. 38 f. (Colegio de Oficiales). 467 Nach heute nahezu einhelliger Auffassung sind die beiden Merkmale nicht alternativ, sondern vielmehr kumulativ zu verstehen, vgl. etwa Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV Rn. 109. Überwiegend werden sie jedoch weniger als feste Anforderungen, denn mehr als wesentliche Charakteristika des „Typusbegriffs“ der öffentlichen Verwaltung angesehen. Dies bedeutet, dass sich beide Begriffe auch wechselseitig er465
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
der Erforderlichkeit des Staatsangehörigkeitsbandes, obgleich es erheblichen Spielraum für Einschränkungen böte, in der Rechtsprechungspraxis bislang kaum eine Rolle spielt.468 Die Prüfung erfolgt dabei stets in Bezug auf die durch den Betroffenen konkret angestrebte Stelle,469 weshalb in jedem Einzelfall zu untersuchen ist, ob die jeweiligen Aufgaben die für die Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung spezifischen Charakteristika aufweisen. Eine derartig strikt funktionelle Differenzierung scheint prima facie unvereinbar mit der durch die Kommission vorgenommenen sach- und berufsbereichsbezogenen Kategorisierung der öffentlichen Verwaltung. Gleichwohl hat der EuGH in den drei Vertragsverletzungsverfahren, welche aus der „systematischen Aktion“ der Kommission resultierten, den globalen Ansatz der Kommission bestätigt.470 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Kommission die Aufstellung der Negativ-Liste keinesfalls als letztverbindlich ansieht. Vielmehr soll explizit eine Überprüfung anhand funktioneller Kriterien im Einzelfall möglich bleiben.471 Die Implementierung der Wertungen der Kommission durch den EuGH erfolgt somit im Wege einer Art „Vorprüfung“, die faktisch – sofern einschlägig – eine positive Vermutungs- bzw. Indizwirkung für die Nichtanwendbarkeit des Art. 45 Abs. 4 AEUV in den genannten Bereichen zur Folge hat.472 Zudem ist dem Gerichtshof selbst eine institutionell orientierte „Vorab-Betrachtung“ keineswegs gänzlich fremd. So erachtete er beispielsweise in seiner Entscheidung vom 29. Oktober 1998 eine Beschäftigung im Dienste einer juristischen Person des Privatrechts, unabhängig von der konkret wahrgenommenen Aufgabe, als nicht von Art. 45 Abs. 4 AEUV umfasst.473 Folglich steht der Ansatz der Kommission nicht im Widerspruch zu der funktionellen Abgrenzungspraxis des Gerichtshofs, sondern ergänzt diese vielmehr.
gänzen können, also ein Weniger bei dem einen Kriterium durch ein Mehr beim jeweils anderen ausgeglichen werden kann und umgekehrt, Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Rn. 1347 ff.; Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV, Rn. 148; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 427; vgl. auch Hanau, in: HbEASR, § 15 Rn. 136 f. 468 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Rn. 1354; siehe auch Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 431. 469 Ohne Berücksichtigung bleibt somit auch, ob die Stelle zu einer Laufbahn gehört, deren spätere Tätigkeiten und Aufgaben dem Bereich des Art. 45 Abs. 4 AEUV zuzuordnen sind, Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 428. 470 EuGH 2.7.1996 – C-473/93, Slg. 1996, I-3207 (Kommission/Luxemburg); EuGH 2.7.1996 – C-173/94, Slg. 1996, I-3265 (Kommission/Belgien); EuGH 2.7.1996 – C290/94, Slg. 1996, I-3285 (Kommission/Griechenland). 471 Mitteilung der EU-Kommission, ABl. 1988 Nr. C72, S. 3. 472 Dies wurde etwa von der luxemburgischen Regierung explizit beklagt und in Frage gestellt, jedoch durch den EuGH ebenfalls bestätigt, EuGH 2.7.1996 – C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 28 ff. (Kommission/Luxemburg). 473 EuGH 29.10.1998 – C-114/97, Slg. 1998, I-06717, Rn. 33 (Kommission/Spanien).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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(c) Konkretisierung durch Einzelfallrechtsprechung Wie gesehen, billigte der Gerichtshof in den aus der systematischen Aktion der Kommission resultierenden Vertragsverletzungsverfahren die sachbereichsbezogene Vorgehensweise der Kommissare. In den großen Bereichen der zivilen Forschung sowie dem Bildungs- und Gesundheitswesen und anderen weiten Teilen der Daseinsvorsorge,474 können sich die Mitgliedsstaaten demnach nicht ohne weiteres auf die Ausnahmevorschrift des Art. 45 Abs. 4 AEUV berufen.475 Dieser Grundsatz wurde durch die weitere Rechtsprechung des EuGH in zahlreichen Einzelfällen476 bestätigt, welche nachfolgend nur kursorisch dargestellt werden sollen. Als nicht vom Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 4 AEUV umfasst erachtete der EuGH aus dem Bereich des öffentlichen Transportwesens Lokomotivführer in der Ausbildung, Lade-, Gleisbau-, Rangier- und Stellwerkarbeiter und sonstige ungelernte (Hilfs-)Arbeiter477, aus dem Gesundheits- bzw. Krankenhauswesen Krankenschwestern und Krankenpfleger sowie Säuglings- und Kinderschwestern478, den höheren Dienst in der Krankenhausverwaltung479 und ebenfalls angestellte Fachärzte im öffentlichen Dienst480. Aus dem Schul- und Bildungsbereich unterfielen Studienreferendare im pädagogischen Vorbereitungsdienst481, Fremdsprachenlektoren an Universitäten482 und Lehrkräfte für das höhere Lehramt483 aber auch an Grundschulen484 nicht dem Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 4 AEUV. Gleiches gelte auch für Forscher in einem nationalen Forschungsrat485. 474
Siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(a). Denkbar ist gleichwohl die Anwendung des Art. 45 Abs. 4 AEUV für bestimmte Leitungsfunktionen in diesen Bereichen, sofern diese mit weitreichenden hoheitlichen Befugnissen verbunden sind, etwa Schulleiter, Hochschulrektoren oder leitende Amtsärzte, vgl. m.w. Nw. Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 151. 476 Hierzu etwa Büchner/Gramlich, RiA 1992, 110, 113. 477 EuGH 26.5.1982 – 149/79, Slg. 1982, 1845, Rn. 9 ff. (Kommission/Belgien). 478 EuGH 26.5.1982 – 149/79, Slg. 1982, 1845, Rn. 9 ff. (Kommission/Belgien); bestätigt durch EuGH 3.6.1986 – 307/84, Slg. 1986, 1725, Rn. 13 (Kommission/Frankreich). 479 EuGH 9.9.2003 – C-285/01, Slg. 2003, I-8219, Rn. 40 (Burbaud). 480 EuGH 15.1.1998 – C-15/96, Slg. 1998, I- 47, Rn. 13 (Schöning-Kougebetopoulou). 481 EuGH 3.7.1986 – 66/85, Slg. 1986, 2121, Rn. 28 (Lawrie-Blum). Das Gleiche gilt auch für Rechtsreferendare, EuGH 10.12.2009 – C-345/08, Slg. 2009, I-11677, Rn. 31 (Pesla); EuGH 17.3.2005 – C-109/04, Slg. 2005, I-02421, Rn. 19 (Kraneman). 482 EuGH 30.5.1989 – 33/88, Slg. 1989, 1591, Rn. 9 (Allué und Coonan). 483 EuGH 27.11.1991 – C-4/91, Slg. 1991, I-5627, Rn. 7 (Bleis). 484 EuGH 2.7.1996 – C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 34 (Kommission/Luxemburg). Insgesamt lässt dies wohl der Schluss zu, dass Lehrtätigkeiten grundsätzlich nicht dem Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 4 AEUV unterfallen sollen, so auch Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Rn. 1363. 485 EuGH 16.6.1987 – 225/85, Slg. 1987, 2625, Rn. 9 (Kommission/Italien). 475
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
(d) Schlussfolgerung Maßgebend für die Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift des Art. 45 Abs. 4 AEUV ist erneut eine funktionelle Betrachtung der durch den Betroffenen angestrebten Stelle. Diese Prüfung wird ergänzt durch die sektorbezogenen Kategorisierungen der Kommission, welche der EuGH in seiner Rechtsprechung bestätigt hat. Insgesamt führt dies zu einer restriktiven Handhabung des Art. 45 Abs. 4 AEUV durch den Gerichtshof, wodurch die Bedeutung der Ausnahmevorschrift zunehmend schwindet. Unstreitig in den Anwendungsbereich der Norm fallen daher zunächst nur noch solche Aufgaben, die mit einer Befugnis zur Ausübung hoheitlicher Gewalt durch den Erlass einseitig-verbindlicher Anordnungen verbunden sind. Dies ist anzunehmen bei den Bereichen der klassischen hoheitlichen Eingriffsverwaltung, die auch bereits die Kommission im Rahmen ihrer systematischen Aktion benannt hatte.486 Ob darüber hinaus auch Bereiche der Leistungsverwaltung von Art. 45 Abs. 4 AEUV umfasst sind, etwa wenn die Begünstigungen qua Hoheitsakt gewährt werden, wird unterschiedlich bewertet.487 Nicht anwendbar ist die Ausnahmevorschrift regelmäßig dann, wenn die in Rede stehende Aufgabe auch durch den Privatsektor ausgeübt werden kann.488 Für die sonstigen Bereiche des öffentlichen Diensts und dabei insbesondere die von der Aktion der Kommission betroffenen ist freilich eine Anwendbarkeit des Art. 45 Abs. 4 AEUV nicht a priori ausgeschlossen. Dennoch ist sie im Einzelfall nur über eine sorgfältig begründete Ausnahme möglich.489 Wie von der Kommission intendiert, sind Staatsangehörigkeitserfordernisse in den durch die Aktion betroffenen Bereichen allenfalls nur noch punktuell, nicht jedoch in generellem Umfang möglich.490 Obgleich es sich bei Art. 45 Abs. 4 AEUV nicht um eine Ausnahmevorschrift zu einer Streikrechtsgewährleistung vergleichbar dem Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK handelt, können die durch den EuGH und die EU-Kommission entwickelten Grundsätze auf den konventionsrechtlichen Begriff der Angehörigen der Staatsverwaltung übertragen werden. So stützten die Unionsorgane ihre Erwägungen maßgeblich auf die Tatsache, ob die jeweilig angestrebte Aufgabe eine 486
Siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(a). Siehe m.w. Nw. Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 151; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 433; zustimmend wohl auch Mitteilung der EU-Kommission, ABl. 1988 Nr. C72, S. 3. 488 So bereits Mitteilung der EU-Kommission, ABl. 1988 Nr. C72, S. 3, Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 152; Schneider/Wunderlich, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 141. 489 Vgl. etwa Fn. 475. 490 Vgl. exemplarisch EuGH 2.7.1996 – C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 46 (Kommission/Luxemburg). 487
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse beinhaltet und ihre Wahrnehmung auf die Wahrung allgemeiner staatlicher Belange gerichtet ist. Diese Aspekte finden sich auch in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 Abs. 2 Satz 2 zur Abgrenzung des Begriffs der Staatsverwaltung vom privaten Sektor wieder.491 Vor diesem Hintergrund ist schließlich auch der jüngste Verweis des EGMR in Enerji Yapi-Yol Sen auf die unionsrechtlichen Grundsätze zu verstehen. (4) Auslegung unter den internationalen Pakten der Vereinten Nationen Auch die Streikrechtsgewährleistungen unter dem UN-Sozialpakt (IPWSKR) und dem UN-Zivilpakt (IPBPR) gelten im Bereich des öffentlichen Diensts nicht unbegrenzt. Art. 8 Abs. 2 IPWSKR sieht etwa – ähnlich Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK – explizite Einschränkungsmöglichkeiten für Angehörige der Streitkräfte, Polizei und der öffentlichen Verwaltung vor. Hinsichtlich der Auslegung des Begriffs der „öffentlichen Verwaltung“ orientiert sich der zur Interpretation berufene Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte an den unter den ILO-Übereinkommen entwickelten Grundsätzen.492 Streikverbote dürften nur Angehörige des öffentlichen Diensts betreffen, die essentielle Verwaltungsaufgaben wahrnähmen.493 Dies bejaht der Ausschuss für solche Bereiche, in denen die Bediensteten hoheitliche Gewalt bzw. Autorität in Namen des Staates ausüben.494 Auch insoweit ist folglich eine funktionelle Betrachtung der jeweiligen in Rede stehenden Tätigkeit maßgeblich. Die im Rahmen seiner Stellungnahmen zu den einzelnen Staatenberichten abgegebenen konkreten Feststellungen decken sich ebenfalls mit den durch die ILO-Ausschüsse getroffenen Wertungen.495 Nicht Teil der öffentlichen Verwaltung seien demnach etwa Bedienstete im Post- und Bahnwesen sowie Gemeindebedienstete496, Lehrer497 und Hochschulprofessoren498.
491
Vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(2)(c). Siehe bspw. CESCR, Concluding Observations Germany 2011 (E/C.12/2011/3), Rn. 94; CESCR, Concluding Observations Japan 2001 (E/C.12/1/Add.67), Rn. 21, 48; CESCR, Concluding Observations Korea 2009 (E/C.12/2009/3), Rn. 460. 493 CESCR, Concluding Observations Japan 2001 (E/C.12/1/Add.67), Rn. 21: „[. . .] public employees and civil servants, [. . .] working in essential governmental services [. . .].“ 494 CESCR, Concluding Observations Russian Federation 2011 (E/C.12/2011/3), Rn. 165: „The Committee urges the State party to amend its relevant legislative acts to ensure that all public servants who do not exercise authority in the name of the State party, can exercise freely their right to strike.“ (Hervorhebung durch Bearbeiter). 495 Vgl. hierzu oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(1)(b). 496 CESCR, Concluding Observations Russian Federation 2011 (E/C.12/2011/3), Rn. 165. 497 CESCR, Concluding Observations Japan 2001 (E/C.12/1/Add.67), Rn. 21. 498 CESCR, Concluding Observations Canada 2006 (E/C.12/2006/1), Rn. 157. 492
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Der für die Überwachung des IPBPR zuständige Ausschuss für Menschenrechte weist lediglich in Einzelfällen daraufhin, dass Streikverbote nur die kleinstmögliche Anzahl von Angehörigen des öffentlichen Diensts erfassen dürften und solchen Staatsbediensteten, die keine staatliche Gewalt bzw. Autorität ausübten, das Streikrecht nicht vorenthalten werden dürfe.499 Festzuhalten bleibt somit, dass auch im Rahmen der UN-Pakte – insbesondere des IPWSKR – ein funktioneller Definitionsansatz des Begriffs der öffentlichen Verwaltung angelehnt an die ILO-Konzeption praktiziert wird. (5) Rechtsvergleichung Neben den sonstigen internationalen Verträgen und Übereinkommen sowie der korrespondierenden Spruchpraxis der Auslegungs- und Überwachungsorgane bildet die Rechtsvergleichung die zweite Säule eines etwaigen internationalen bzw. europäischen Konsenses. Wie die bisherige Bearbeitung jedoch gezeigt hat, sind die innerstaatlichen Rechtssysteme im Hinblick auf Streikrechtsbeschränkungen im öffentlichen Dienst – bereits im Hinblick auf die grundsätzliche Gewährleistung einer Streikfreiheit in diesem Bereich – völlig unterschiedlich ausgestaltet.500 Mithin lässt sich hieraus keine bei der Auslegung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK verwertbare einheitliche Aussage oder Wertung entnehmen. (6) Zusammenfassung Die Analyse des sonstigen internationalen und europäischen Rechts zeigt, dass es auf allen Ebenen spezielle Ausnahmevorbehalte für Mitglieder der Staatsverwaltung gibt. Festzustellen ist ein grundsätzlicher Konsens bezüglich der Notwendigkeit eines von den einzelstaatlichen Regelungen unabhängigen Differenzierungsansatzes. Maßgebend ist demnach nicht ein etwaiger vom nationalen Recht zuerkannter Status oder die besondere Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses, sondern eine rein funktionale Betrachtung der in Rede stehenden Stelle und der damit verbundenen Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten. Das wesentliche Kriterium ist hierbei, ob der jeweilige Staatsbedienstete an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse bzw. staatlicher Gewalt beteiligt ist und hierdurch staatliche Interessen wahrnimmt. Bei der praktischen Anwendung der jeweiligen Ausnahmevorschriften ist darüber hinaus ein einheitliches Bestreben nach einer restriktiven Handhabung festzustellen. Der Überblick über die Spruchpraxis der Auslegungsorgane zeigt einen zumindest in der Tendenz bestehenden Konsens bezüglich der Zuordnung verschiede499 Vgl. etwa HRC, Concluding Observations Estonia 2010 (A/65/40 (Vol. I) para. 74) Rn. 15; HRC, Concluding Observations Germany 1996 (CCPR/C/79/Add.73) Rn. 18. 500 Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(f).
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ner Bereiche öffentlicher Aufgaben. Vom Begriff der Staatsverwaltung nicht umfasst ist zunächst die Erbringung kommerzieller Dienstleistungen durch Wirtschafts- und Industrieunternehmen des Staates bzw. mit staatlicher Beteiligung. Hierunter fallen im Speziellen die Energie- und Wasserversorgung, der Telekommunikationssektor, das Transportwesen, einschließlich Eisenbahn-, Stadt- und Nahverkehr, sowie der Postbetrieb. Auch Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens, insbesondere der Krankenhausdienst, einschließlich Ärzten, Krankenschwestern und der Verwaltung, werden nicht der Staatsverwaltung zugeordnet. Verallgemeinernd kann hierbei von Aufgaben der Daseinsvorsorge gesprochen werden, welche nicht als hoheitliche Tätigkeiten erachtet werden. Der dahinterstehende Gedanke ist, dass die genannten Bereiche vielfach ganz oder jedenfalls zum Teil durch den Privatsektor wahrgenommen werden oder werden könnten, weshalb ihnen das besondere Gepräge einer hoheitlichen Aufgabe der Staatsverwaltung fehle. Die Rechtsausübung unterliegt folglich (nur) den allgemeinen Einschränkungsvorbehalten, insbesondere im Hinblick auf das Gemeinwohl und den Schutz entgegenstehender Rechte Dritter. Selbiges gilt nach einhelliger Auffassung auch für Aufgaben innerhalb des Bildungssektors, insbesondere Lehrer, Hochschullehrer und andere Lehrberufe. Im Gegensatz zu den Negativkategorien fällt die Spruchpraxis zur positiven Zuordnung von Tätigkeitsbereichen zum Begriff der Staatsverwaltung weniger detailliert aus. Weitgehende Einigkeit besteht bezüglich der Streitkräfte, der Polizei- und Ordnungskräfte sowie der Richterschaft und Justizverwaltung. Darüber hinaus werden stellenweise auch die Steuerverwaltung, die Diplomatie, der Zoll oder sonstige ranghohe Beamte, etwa auf Ministerialebene, in Regionalregierungen oder Gebietskörperschaften, der Staatsverwaltung zugerechnet. Umfasst ist demzufolge jedenfalls die klassische Verwaltungstätigkeit, also die Bereiche, in denen die Verwaltung durch hoheitliche Maßnahmen, wie den Erlass und die Durchführung von Rechtsakten, dem Bürger gegenübertritt oder aber zur Wahrung eigener staatlicher Interessen handelt. Insgesamt lässt sich hieran eine enge Umgrenzung der jeweiligen Ausnahmevorschriften für die Staatsverwaltung erkennen. Unabhängig von den vorstehenden Kategorisierungen lassen sich bei der Anwendung des generellen Differenzierungsansatzes im Wesentlichen zwei Vorgehensweisen feststellen. Zum einen wird eine eher sektorbezogene Betrachtung vorgenommen, innerhalb derer auf die jeweilige Berufsgruppe abgestellt wird, welcher der Betroffene angehört („abstrakt-funktionelle Betrachtung“).501 Spezieller fällt dagegen die Untersuchung der konkreten Tätigkeit des jeweiligen Betroffenen auf das Vorliegen der oben genannten Charakteristika der Staatsverwal501 So tendenziell die Ausschüsse der ILO, vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(1)(b). Siehe auch die „systematische Aktion“ der EU-Kommission Kapitel 2 A.III.2.b)bb) (3)(a).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
tung aus („konkret-funktionelle Betrachtung“).502 Je nachdem, welche Vorgehensweise gewählt wird – wobei auch eine Kombination beider nicht ausgeschlossen ist503 – verändert sich die Prüfungsdichte, wovon wiederum der Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten abhängt. cc) Übertragung der Ergebnisse auf das Konventionsrecht (1) Bestätigung der konventionsautonomen funktionsorientierten Definition der Staatsverwaltung Überträgt man die gefundenen Ergebnisse nunmehr im Wege der durch den EGMR praktizierten evolutiven Auslegung auf die Konventionsvorschriften, so sieht sich der bereits durch den Gerichtshof und die Menschenrechtskommission entwickelte konventionsautonome und funktionsorientierte Begriff der Staatsverwaltung in seinen wesentlichen Zügen bestätigt. Nach einhelliger Auffassung aller Spruchkörper internationaler und europäischer Vertragswerke finden die Ausnahmevorschriften zu den Rechtsgewährleistungen für Angehörige der Staatsverwaltung unabhängig vom jeweiligen nationalen Status oder der Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses Anwendung. Maßgebend ist einzig, ob der Staatsbedienstete als Träger von Hoheitsrechten mit der Wahrung allgemeiner staatlicher Belange betraut ist. (2) Bewertungsmaßstab Wie gesehen lässt sich dies zum einen abstrakt-funktionell, also anhand der typischen Aufgaben und Tätigkeiten der übergeordneten Berufsgruppe des Betroffenen, oder andererseits konkret-funktionell, im Hinblick auf die durch den Betroffenen konkret ausgeübte Tätigkeit, bewerten. Fraglich ist, welche Vorgehensweise im Rahmen der Auslegung der Konventionsvorschrift des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK angezeigt ist. Die Einlassungen des Gerichtshofs in Enerji Yapi-Yol Sen legen zunächst nahe, dass der EGMR eher eine abstrakt-funktionelle Betrachtungsweise favorisiert. So sprachen die Richter von bestimmten Kategorien von Staatsbediensteten („certaines catégories de fonctionnaires“) und verwiesen auf das Urteil Pellegrin, das sich ihrerseits maßgeblich auf die „systematische Aktion“ der Kommission stützte, in welcher sich diese einer sektor- und berufsgruppenbezogenen „Negativliste“ bedient hatte.504 Andererseits hat auch der EGMR bereits die Zuordnung einer Stelle zum Bereich der Staatsverwaltung 502 So etwa der EASR und der EuGH, siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(2)(a), Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(b). 503 Vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(d). 504 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen), EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 66 (Pellegrin/Frankreich); siehe auch oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(a).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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unter Berücksichtigung der konkret ausgeübten Tätigkeit verneint, obgleich der Betroffene an sich bei einer der Ausnahmevorschrift zuordenbaren Verwaltungseinheit, wie etwa einem Ministerium, beschäftigt war.505 Zudem hat der Gerichtshof bereits in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK klargestellt, dass die jeweilige Zuordnung einer Stelle zum Ausnahmebereich der Staatsverwaltung nur anhand der konkret durch den Betroffenen ausgeübten Aufgabe erfolgen könne. Ein bloßes Abstellen auf die Zugehörigkeit zu einer gewissen Berufsgruppe sei dagegen unzureichend.506 Auf diese Rechtsprechung nehmen die Richter in Enerji Yapi-Yol Sen ebenfalls explizit Bezug. Mithin ist davon auszugehen, dass sich der EGMR einerseits an den vorstehend aufgezeigten und durch einen internationalen Konsens getragenen berufsfeldbezogenen Kategorisierungen orientieren wird.507 Andererseits wird hierdurch eine sich anschließende konkret-funktionelle Überprüfung des streitigen Falles nicht ausgeschlossen oder final präkludiert. Diese bleibt vielmehr möglich, wodurch den besonderen Gegebenheiten in den einzelnen Signatarstaaten im Einzelfall Rechnung getragen werden kann.508 letztere haben zudem die Möglichkeit, sich bei der Schaffung einer konventionskonformen Ausgestaltung der Streikrechtsgewährleistung für ihren nationalen öffentlichen Dienst an den abstrakten Vorgaben zu orientieren. (3) Determinierung des Anwendungsbereichs in Abgrenzung zu Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK Die systemübergreifende Betrachtung hat gezeigt, dass die internationale und europäische Auslegungs- und Spruchpraxis die Staatsverwaltung abgrenzt von sonstigen öffentlichen Aufgaben, etwa im Bereich der Versorgung oder Bildung. Gegenstand der besonderen Einschränkungsvorbehalte soll nur das klassisch-hoheitliche Verwaltungshandeln sein, welches den Staaten im Rahmen eines zugebilligten Autonomiebereichs zur Verfolgung ihrer Interessen und Belange ermöglicht werden soll. Diese Unterscheidung zwischen hoheitlicher, staatstragender 505 Allerdings waren dies auch eindeutige Fälle, in denen die Betroffenen bloße Hilfstätigkeiten (bspw. Elektriker) ausgeübt haben, welche offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse standen, vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(3). 506 EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 52 (Vilho Eskelinen aO). Eine solche auf den konkreten Einzelfall bezogene Korrektur nimmt auch der ILO-Sachverständigenausschuss bei der Zuordnung einer Tätigkeit zum Bereich der essential services vor, vgl. Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 199. 507 Dies gilt vor allem deshalb, weil der Gerichtshof auch in seiner bisherigen Rechtsprechung diese Einschätzungen bereits mehrfach punktuell geteilt hat, vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(3). 508 Eine ganz ähnliche Vorgehensweise praktiziert auch der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Ausnahmevorschrift des Art. 45 Abs. 4 AEUV, siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(b).
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Verwaltung auf der einen und sonstiger – etwa rein organisatorischer oder versorgender – Verwaltung auf der anderen Seite ist auch in der Regelung des Art. 11 Abs. 2 EMRK angelegt. Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK ermöglicht Einschränkungen zur Wahrung einer Vielzahl legitimer Zwecke. Gerade die Einschränkungsmöglichkeiten zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung sowie zum Schutz der Rechte und Freiheiten Dritter sind sehr weitgehend und erfassen eine Vielzahl öffentlicher Verwaltungsaufgaben. Von diesen grenzt Satz 2 explizit solches Verwaltungshandeln ab, bei dem die Exekutive als Trägerin hoheitlicher Gewalt zur Verfolgung staatlicher Belange und Interessen agiert. Mit anderen Worten gewährt auch die Konvention ihren Mitgliedsstaaten ein „autonomes“ Handlungsfeld, welches diese zur Wahrung nationaler Interessen weitgehend souverän, das bedeutet ohne strenge gerichtliche Kontrolle,509 ausgestalten können. Die Reichweite bestimmt sich dabei insbesondere auch in Abgrenzung zum allgemeinen Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK, sodass – parallel zu den sonstigen internationalen und europäischen Vorgaben – auch konventionsrechtlich Verwaltungsaufgaben im daseinsvorsorgenden Bereich oder im Bildungssektor regelmäßig nicht der Staatsverwaltung zuzuordnen sind. Eine Zwischenkategorie bildet die leistende Verwaltung in den Fällen, in denen staatliche Leistungen qua Hoheitsakt gewährt werden, beispielsweise bei der Sozialhilfe. Anders als in der Daseinsvorsorge, beispielsweise im Bereich der Elektrizitätsund Wasserversorgung, fungiert die Verwaltung insoweit nicht lediglich als „einfacher Dienstleister“ zur Deckung des Grundversorgungsbedarfs der Bevölkerung. Vielmehr gewährt sie durch einseitigen Hoheitsakt besondere Vergünstigungen, weshalb jedenfalls insoweit von Aufgaben der Staatsverwaltung gesprochen werden kann. (4) Korrektiv vergleichender Betrachtung Nach Art. 1 und 14 EMRK müssen die Vertragsstaaten „allen der Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ die in Abschnitt I der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten einräumen unter Verzicht auf ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Werden nunmehr Rechtsrestriktionen auf die Zugehörigkeit zur Staatsverwaltung und somit rein funktionale Kriterien gestützt, so dürfen folgerichtig Beschäftigte mit vergleichbaren Aufgaben- und Tätigkeitsbereichen insoweit nicht ungleich behandelt werden. Diese Erkenntnis unterstrich der EGMR bereits im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK insbesondere in den Rechtssachen Pellegrin510 und Vilho Eskelinen511. Bezogen auf 509
Vgl. erneut oben Kapitel 2 A.III.2.a)bb)(2). EGMR Urteil vom 8.12.1999 – 28541/95, Rn. 62 (Pellegrin/Frankreich). 511 EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 53, 58 (Vilho Eskelinen aO), vgl. auch bereits EKMR 20.1.1987 – App. 11603/85, unter 1.b. der Gründe (Council of Civil Service Union). 510
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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mögliche Streikrechtseinschränkungen nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK lässt sich daraus schließen, dass mit der Ausübung einer vergleichbaren Stelle mit gleichem Aufgabenprofil auch die unterschiedslose Streikrechtsgewährleistung einhergehen muss. Rechtfertigungsgrund für die unterschiedliche Behandlung der Angehörigen der Staatsverwaltung ist das aus der besonderen Aufgabe resultierende legitime Interesse des Staates an einem besonderen Verhältnis der Treue und Loyalität zwischen Dienstherr und Bediensteten.512 Gewährt der Staat einem Teil seiner Bediensteten in einem gewissen Aufgabengebiet ein Streikrecht, so dokumentiert dies, dass in diesem Tätigkeitsbereich kein unbedingtes staatliches Interesse an einer den Streikrechtsausschluss letztlich rechtfertigenden Treueund Loyalitätsstellung der Beschäftigten besteht513. Denn unbedingt wäre das Interesse lediglich dann, wenn es unterschiedslos in Bezug auf die konkrete Aufgabe bestünde. Dieser Gedanke spiegelt sich letztlich auch in den vergleichenden Erwägungen der Auslegungsorgane der ILO-Übereinkommen514 sowie der EU515 bezüglich der Aufgabenwahrnehmung durch den Privatsektor wider. So besteht Einigkeit, dass es sich jedenfalls dann nicht um einen der Staatsverwaltung zugehörigen Bereich handelt, wenn die (gleichen) Aufgaben auch durch den Privatsektor wahrgenommen werden oder werden könnten. Liegt die Ausübung einer Tätigkeit in den Händen Privater und ist damit letztlich dem Risiko eines streikbedingten Ausfalls ausgesetzt, so kann in dem entsprechenden Aufgabenbereich jedenfalls nicht von einem legitimen staatlichen Interesse an einer besonderen Treueund Loyalitätsbindung ausgegangen werden, womit auch die Rechtfertigung einer Rechtseinschränkung über den Vorbehalt für die Staatsverwaltung ausscheidet. c) Zusammenfassung Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK modifiziert die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Satz 1 und fungiert dabei als zusätzliche Zweckbestimmung neben den sonstigen genannten legitimen Zielen der Vorschrift. Hieraus resultiert ein größerer Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten, welchen der Gerichtshof gerade auch mit Blick auf generelle Streikverbote nur einer eingeschränkten Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Rechtsmissbrauchskontrolle unterzieht. Die Staaten bleiben allerdings auch im Ausnahmebereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu einer einheitlichen und willkürfreien Rechtsgewährleistung bzw. Ausgestaltung von Eingriffsmaßnahmen verpflichtet. 512
Vgl. erneut oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(2)(c). Dies gilt konsequenterweise selbst dann, wenn der Betroffenen im Rahmen der in Rede stehenden Stelle an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse beteiligt ist und damit ein Stück staatlicher Souveränität wahrnimmt. 514 Siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(1)(b). 515 Vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3)(d). 513
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Der Anwendungsbereich des Ausnahmevorbehalts ist eröffnet, wenn die eingreifende Maßnahme einen Angehörigen der Streitkräfte, Polizei oder Staatsverwaltung betrifft. Angehörige der Staatsverwaltung sind solche Staatsbedienstete, die im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben direkt oder indirekt mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Staatsgewalt und der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut sind. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs bestimmt sich konventionsautonom und einzig nach den vorstehenden funktionsbezogenen Kriterien. Die Überprüfung dieser Kriterien erfolgt zunächst anhand einer abstrakt berufsfeldbezogenen Betrachtung und wird gegebenenfalls in einem zweiten Schritt konkret aufgabenbezogen korrigiert.516 Grundsätzlich der Staatsverwaltung zuzuordnen ist das klassische hoheitlich geprägte Verwaltungshandeln durch den Erlass und die Durchführung von Rechtsakten. Regelmäßig nicht als Staatsverwaltung anzusehen sind Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge und Tätigkeiten im Bildungssektor. 3. Ergebnis Ein nationaler Eingriff in die konventionsrechtliche Streikfreiheit von Angehörigen des öffentlichen Diensts kann gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK auf zweifachem Wege gerechtfertigt werden. Vorrangig zu erwägen ist eine Rechtfertigung nach den Grundsätzen des speziellen Ausnahmevorbehalts des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK. Neben Restriktionsmaßnahmen, welche Angehörige der Polizei und der Streitkräfte betreffen, kommt diese nur für solche öffentlich Bedienstete in Betracht, die im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben direkt oder indirekt an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse bzw. staatlicher Gewalt beteiligt und mit der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut sind. Sind die engen funktionalen Kriterien erfüllt, beschränkt sich die gerichtliche Prüfung nationaler Streikrechtsbeschränkungen auf einen möglichen Rechtsmissbrauch, wodurch den Staaten ein weiter Gestaltungsspielraum erwächst. Daneben können Eingriffe nur nach den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK gerechtfertigt werden. Generelle Streikverbote sind hierbei – anders als im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK – nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglich. Regelmäßig wird dies nur in solchen Bereichen anzunehmen sein, in denen ein für das Allgemeinwohl existentiell wichtiger Dienst erbracht wird und somit die Partikularinteressen der Streikrechtsberechtigten hinter dem überwiegenden öffentlichen Interesse zurücktreten müssen. Insgesamt sind die Staaten zu einer willkürfreien Rechtsgewährleistung verpflichtet. Nachstehend sollen nunmehr die gefundenen Ergebnisse in einem konventionsrechtlichen Prüfungsschema zusammengefasst werden. 516
Zu den Einzelheiten Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(6) und Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(3).
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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IV. Prüfungsprogramm für Streikrechtsrestriktionen im öffentlichen Dienst Es ist primär Aufgabe der Signatarstaaten durch ihre nationale Ausgestaltung eine konventionskonforme Rechtsgewährleistung sicherzustellen. Der EGMR übt seine Kontrolle insoweit nur „nachrangig“ aus. Allerdings kann für den Ausgestaltungsauftrag ein konventionsrechtliches Prüfungsprogramm einen Orientierungsmaßstab vorgeben, an welchem sich die vertragsstaatlichen Streikrechtsregelungen für den öffentlichen Dienst ausrichten können. Letztlich müssen sich alle nationalen Eingriffe in die konventionsrechtliche Streikfreiheit in Form von Beschränkungen oder gar generellen Verboten an dem nachfolgenden Prüfungsprogramm messen lassen. 1. Eingriff Ein Eingriff ist jede Beeinträchtigung oder Einschränkung der Streikfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK. Hierunter fällt auch jede noch so geringe Maßnahme im Vorfeld oder im Nachgang einer Streikaktion,517 die geeignet ist, die Koalitionen und ihre Mitglieder von der Ausübung ihres konventionsrechtlichen Streikrechts abzuhalten oder diese zu erschweren. 2. Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ist ein besonderer Vorbehalt für Streikrechtseinschränkungen im Bereich des Staatsdienstes, der umfangreiche Eingriffe zulässt. Somit ist er vorrangig zum allgemeinen Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK zu erwägen.518 a) Rechtsgrundlage Jede wirksame Einschränkung von Konventionsrechten – auch im Bereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK – setzt das Bestehen einer ausreichenden Rechtsgrundlage voraus.519 Nach dem zugrunde zu legenden materiellen Gesetzesbegriff genügen hierzu auch ungeschriebene Rechtssätze, insbesondere auch Richterrecht, solange sie den Betroffenen in ausreichender Weise zugänglich gemacht werden und darüber hinaus hinreichend bestimmt sind.520 517 Vgl. nochmals EGMR 27.3.2007 – App. 6615/03, Rn. 37 (Karacay); oben Kapitel 2 A.II.4.a)aa). 518 Oben Kapitel 2 A.III.2.a). 519 Vgl. bereits den Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK „lawful restrictions“ bzw. „restrictions légitimes“. 520 Siehe oben Kapitel 2 A.III.1.a).
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
b) Anwendbarkeit des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ergänzt prüfungssystematisch die Zweckbestimmungen des Satz 1 im Falle von Streikrechtseinschränkungen für die drei genannten Ausnahmegruppen.521 aa) Polizei und Streitkräfte Ein besonderer Eingriffsvorbehalt besteht zunächst für die Mitglieder der Polizei und der Streitkräfte des jeweiligen Konventionsstaats. Der Anwendungsbereich ist eng auszulegen und auf die genannten Funktionsbereiche zu begrenzen.522 bb) Staatsverwaltung „Staatsverwaltung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK umfasst all diejenigen Bereiche, in denen Staatsbedienstete tätig sind, die im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben direkt oder indirekt mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Staatsgewalt und der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut sind. (1) Abstrakt-funktionelle Kategorisierung Vom Begriff der Staatsverwaltung umfasst ist die Verwaltungstätigkeit in den Bereichen, in denen die staatlichen Stellen durch hoheitliche Maßnahmen, wie den Erlass und die Durchführung von Rechtsakten, dem Bürger gegenübertreten oder aber zur Wahrung eigener staatlicher Belange handeln. Neben der klassischen Eingriffsverwaltung kann dies auch die durch Hoheitsakt vollziehende Leistungsverwaltung umfassen.523 Regelmäßig nicht dem Begriff der Staatsverwaltung unterfallen die Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Daseinsvorsorge durch Wirtschafts- und Industrieunternehmen des Staates bzw. mit staatlicher Beteiligung524 sowie die Aufgaben im Bildungssektor, insbesondere Lehrberufe.525 (2) Konkret-funktionelle Überprüfung Jedes abstrakt-funktionell gefundene Ergebnis bedarf einer konkreten Überprüfung im Einzelfall. Die betroffene Stelle und die mit ihr verbundenen Aufgaben 521
Oben Kapitel 2 A.III.2.a)bb). Oben Fn. 348. 523 Kapitel 2 A.III.2.b)bb) und cc). 524 Mitumfasst ist hiervon auch die Verwaltungstätigkeit im Bereich Gesundheit, vgl. Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(6). 525 Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(6). 522
A. Die Streikrechtsvorgaben der EMRK
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und Kompetenzen müssen im Hinblick auf die direkte oder indirekte Beteiligung an der Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse und staatlicher Gewalt untersucht werden.526 Ergibt sich hierbei, dass die in Rede stehende Stelle beim Vergleich mit der institutionellen Bewertung mit atypischen Aufgaben527 oder auch weitergehenden Befugnissen oder Verantwortlichkeiten528 verbunden ist, so ist die Zuordnung entsprechend anzupassen. c) Verhältnismäßigkeit, Rechtsmissbrauchskontrolle Jeder Eingriff muss schlussendlich verhältnismäßig sein.529 Im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ist ein erweiterter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten anzunehmen. Die gerichtliche Überprüfung des Eingriffs beschränkt sich auf eine Rechtmissbrauchskontrolle.530 Unzulässig ist eine willkürliche Ungleichbehandlung der von einer Maßnahme potentiell Betroffenen.531 3. Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK Scheidet eine Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK aus, so kann ein Eingriff in die konventionsrechtliche Streikfreiheit dennoch unter den allgemeinen Voraussetzungen des Satz 1 zulässig sein. a) Rechtsgrundlage Es bedarf erneut einer ausreichenden Rechtsgrundlage. Insoweit gelten die vorstehenden Ausführungen zu Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK. b) Legitimes Ziel Ein Eingriff muss ein legitimes Ziel im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK verfolgen. Die weitreichenden Zweckbestimmungen insbesondere zur Aufrecht-
526 Dies gilt freilich erst recht für solche Tätigkeiten, die sich bei institutioneller Betrachtung zunächst keinem Tendenzbereich zuordnen lassen. 527 Bspw. bloße Hilfsarbeiten innerhalb eines ansonsten der Staatsverwaltung zuordenbaren Bereichs. 528 Diskussionswürdig erscheinen etwa die Stellen der Schulleiter, Hochschulrektoren oder leitende Amtsärzte, vgl. m.w. Nw. Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 151. 529 Siehe oben Kapitel 2 A.III.1.c). 530 Vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.a)bb)(2). 531 Oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(2)(c); vgl. auch EGMR 19.4.2007 – App. 63235/00, Rn. 53, 58 (Vilho Eskelinen aO). Siehe in diesem Zusammenhang auch das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls der EMRK.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
erhaltung der Ordnung sowie zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gewähren den Konventionsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum.532 c) Verhältnismäßigkeit, Proportionalität Der Eingriff muss zur Verfolgung des legitimen Zwecks „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ – dies bedeutet insbesondere proportional – sein. Bei Eingriffen in die Koalitionsfreiheit besteht für die Konventionsstaaten grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum. Die generelle Versagung eines dem Grunde nach gewährleisteten Koalitionsrechts ist dagegen nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulässig. Generelle Streikverbote im Bereich öffentlicher Aufgabenwahrnehmung kommen nur insoweit in Betracht, wie ein Streik wesentliche Versorgungsleistungen und Dienste betrifft, durch deren Ausfall existentielle Rechtsgüter, wie Leben und Gesundheit gefährdet werden („essential services in the strict sence of the term“). In allen übrigen Aufgabengebieten ist die Einrichtung eines Notdienstes zur Gewährleistung einer Mindestversorgung ausreichend. Als weniger belastende Maßnahme ist dies stets vorrangig vor Verboten zu erwägen.533
V. Ergebnis Das Streikrecht ist als eigene konventionsrechtliche Garantie zu beachten. Durch seine Anerkennung griff der Straßburger Gerichtshof einen sowohl durch die internationalen arbeits- und sozialrechtlichen Regelungssysteme als auch durch die weit überwiegende Praxis der Vertragsstaaten getragenen Konsens auf und überführte diesen in den Geltungsbereich der Konvention. Auf diese Garantie können sich alle Angehörigen des öffentlichen Diensts berufen. Jegliche Verkürzung und jeglicher Ausschluss des Streikrechts bedürfen einer in jedem Einzelfall zu erbringenden Rechtfertigung und werden folglich im Hinblick auf die grundsätzliche Regelungsdogmatik zur Ausnahmekonstellation. Breitflächige nationale Restriktionsmaßnahmen, wie etwa statusbezogene Streikverbote im öffentlichen Dienst, bedürfen vor diesem Hintergrund einer genauen Prüfung. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gewährt den Nationalstaaten neben den Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei auch für die Beschäftigten in der Staatsverwaltung besondere Einschränkungsmöglichkeiten. Für den Sonderbereich der Staatsverwaltung ist, wie für die Polizei und die Streitkräfte auch, kennzeichnend, dass Träger hoheitlicher Befugnisse zur Wahrung allgemeiner staatlicher Belange handeln. Innerhalb dieser Aufgabenbereiche besteht ein größerer nationaler Gestaltungsspielraum, welcher auch umfangreichere Streikverbote umfas532 533
Kapitel 2 A.III.1.b). Kapitel 2 A.III.1.c)bb).
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung
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sen kann, solange diese nicht willkürlich ausgestaltet sind. Abseits dessen ist eine Rechtfertigung von Streikverboten nur unter den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMKR möglich. Insoweit gelten strenge und nachprüfbare Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Streikrecht und sonstige entgegenstehende Rechtsgüter sind sorgsam gegeneinander abzuwägen.
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung der Urteile des EGMR Die neuerliche extensive Ausrichtung der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit wirkt sich über die beteiligten Prozessparteien hinaus zweifelsohne auch auf die übrigen Vertragsstaaten, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, aus. Die Einbeziehung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, wie etwa des Streikrechts, in den Geltungsbereich der Konvention führt dabei zu einer völkerrechtlichen Intervention in teils sensible Bereiche nationalstaatlicher Souveränität. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle nochmals die ursprüngliche Konzeption der EMRK als „Basiskanon“ klassischer bürgerlich-liberaler und politischer Rechte,534 so ist die neuerliche Lesart des Art. 11 EMRK durch den Straßburger Gerichtshof weder selbstverständlich, noch findet die ambitionierte Vorgehensweise der Richter stets eine klare Stütze im Wortlaut des Konventionstexts. Diese Umstände veranlassen geradezu reflexartig eine kritische Betrachtung der der Rechtsprechung zugrunde liegenden Methodik.535
I. Methodische Kritik In ihrem Urteil in der Rechtssache Demir und Baykara hat die Große Kammer des EGMR die Methodik der evolutiven Konventionsinterpretation nochmals ausführlich begründet und neu ausgerichtet.536 Demnach ist die Konvention als „living instrument“ an den jeweils aktuellen menschenrechtlichen „Standard“ anzupassen, welcher sich aus einem autonom – also unabhängig von den Besonderheiten der Rechtsordnungen einzelner Mitgliedsstaaten537 – zu bestimmenden völkerrechtlichen Konsens ergibt.538 Als die zwei wesentlichen Säulen dieses 534
Siehe oben Kapitel 2 A. Einen weiteren Anlass zur Kritik bietet nicht zuletzt auch der sich bereits in den auf Demir und Baykara nachfolgenden Urteilen des EGMR andeutende erhebliche Raum für zusätzliche Erweiterungen des konventionsrechtlichen Schutzumfangs des Art. 11 EMRK, siehe dazu oben Kapitel 2 A.II.5.; vgl. auch Sagan, DB 2012, 11, 14. 536 Hierzu ausführlich oben Kapitel 2 A.II.3.a). 537 Vgl. zum Grundsatz der konventionsautonomen Interpretation Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 9 ff. 538 Die Kompetenz des Gerichtshofs zur Wahrnehmung dieser Fortentwicklungsaufgabe liegt in Art. 32 Abs. 1 EMRK begründet. 535
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Konsenses benennt der EGMR zum einen die neben der EMRK bestehenden sonstigen internationalen und europäischen Verträge und Übereinkommen,539 mitsamt der korrespondierenden Spruchpraxis der jeweiligen Auslegungsorgane und zum anderen die sich im Wege einer rechtsvergleichenden Betrachtung ergebende gemeinsame Praxis der Vertragsstaaten. Obschon diese Vorgehensweise des EGMR vom Grundsatz her keineswegs neuartig ist,540 weitete der Gerichtshof die Rezeption internationaler arbeitsrechtlicher Standards in dem genannten Urteil nochmals erheblich aus.541 Dies bedarf, nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden Folgen für das Konventionsrecht sowie mittelbar auch die Rechtsordnungen der Signatarstaaten, einer kritischen Reflexion. 1. Verstärkte Rezeption der Spruchpraxis von Sachverständigenausschüssen Wie bereits angedeutet, ist die Heranziehung sonstiger völkerrechtlicher Regeln und Grundsätze im Rahmen der systematischen Auslegung der Konvention durch den Gerichtshof durchaus üblich. Erstmalig erfolgte in Demir und Baykara und den nachfolgenden Urteilen jedoch die Erweiterung des Gewährleistungsbereichs542 der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit überwiegend unter Rekurs auf die Spruchpraxis der unabhängigen Kontroll- und Überwachungsorgane der ILO, der ESC und des IPWSKR bzw. IPBPR.543 Diese Vorgehensweise sieht sich mitunter starker Kritik ausgesetzt. So wird angeführt, die Überwachungs- und Kontrollgremien seien zur authentischen und verbindlichen Auslegung der jeweiligen Vertragstexte nicht befugt, weshalb sich auch der EGMR nicht ohne Weiteres auf deren Spruchpraxis stützen könne.544 Die evolutive Auslegungspraxis des Gerichtshofs sei folglich zu weitgehend und führe im Ergebnis zu einer Verwischung konzeptioneller Systemunterschiede545. Formell sei die Heranziehung der internationalen Spruchpraxis zudem nicht mehr von Art. 33 Abs. 3 lit. c. WVK umfasst.546 539 Als normative Grundlage für deren Heranziehung führt der Gerichtshof Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK an. 540 Vgl. m.w. Nw. van Drooghenbroeck, RTDH 2009 (79), 811, 817 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 11. 541 Vgl. nochmals Kapitel 2 A.II.3.c). 542 Diese vollzog sich einerseits auf der Ebene des Schutzbereichs durch die Anerkennung neuer elementarer Rechtsgarantien, darüber hinaus jedoch ebenfalls im Wege der Ableitung restriktiver Vorgaben im Hinblick auf zulässige Einschränkungen der soeben gefundenen Freiheiten, vgl. Hendy/Ewing ILJ 2010, 1, 7. 543 Punktuell hatte der EGMR bereits in früheren Urteilen Bezug auf die Spruchpraxis genommen, vgl. etwa EGMR 2.7.2002 – App. 30668/96, Rn. 30 ff., 48 (Wilson, National Union of Journalists aO); EGMR 27.2.2007 – App. 11002/05, Rn. 22, 25 (ASLEF). 544 Seifert, KritV 2009, 357, 362 ff. 545 Weiß, EuZA 2010, 457, 467.
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung
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Ausgangspunkt einer methodischen Kritik an der Vorgehensweise des EGMR muss die Frage sein, ob der Gerichtshof durch die verstärkte Rezeption der internationalen Spruchpraxis bei der Bestimmung der Reichweite des Konventionsschutzes die Grenzen der ihm gemäß Art. 32 Abs. 1 EMRK grundsätzlich obliegenden Auslegungsbefugnis überschritten hat. Normative Grundlage der Auslegungsmethodik sind die Art. 31–33 WVK.547 Indessen bestimmt sich die Heranziehung von Bestimmungen und Rechtsgrundsätzen externer völkerrechtlicher Vertragswerke nach Art. 33 Abs. 3 WVK, hinsichtlich dessen Anwendung zwischen den verschiedenen in Bezug genommenen Übereinkommen zu unterscheiden ist. a) ILO-Sachverständigenausschuss und Ausschuss für Vereinigungsfreiheit Wesentlichen Bezug stellte der Gerichtshof zu der Spruchpraxis des ILO-Sachverständigenausschusses und des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit her.548 Zu untersuchen ist also, ob die Richter im Rahmen des Art. 31 Abs. 3 WVK hierzu befugt waren. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK statuiert, dass bei der Auslegung eines internationalen völkerrechtlichen Vertrages auch „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ 549 zu berücksichtigen ist. Der Wortlaut legt nahe, dass sich die Vorschrift auf die klassischen formellen Quellen des Völkerrechts, also völkerrechtliche Verträge, Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts,550 bezieht.551 Teilweise wird hieraus gefolgert, dass insofern ein Rekurs auf das sonstige „soft-law“ 552, einschließlich der Spruchpraxis der Ausschüsse der internationalen Organisationen, nicht von der Auslegungsregel umfasst sei.553 Die Praxis der internationalen Gerichtshöfe bestätigt diese Annahme zunächst nicht, da jedenfalls insoweit eine Inbezugnahme der Ausschussarbeit innerhalb der ILO-Übereinkommen durchaus üblich ist.554 Methodisch wäre der Einwand dennoch berechtigt, wenn man den 546
Vgl. van Drooghenbroeck, RTDH 2009 (79), 811, 823 f. EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 65 (Demir and Baykara). 548 Siehe oben Kapitel 2 A.II.3.a), Kapitel 2 A.II.4.b)aa). 549 Die englische Sprachfassung spricht von „rules of international law“, die französische Fassung von „règles de droit international“. 550 Vgl. Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 24; Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 92. 551 McLachlan, ICLQ, 2005 (54), 279, 290. 552 Bzw. „non binding law“, vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 97. 553 Vgl. etwa van Drooghenbroeck, RTDH 2009 (79), 811, 823 f. 554 Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 93. Auch der EuGH berief sich beispielsweise in den Rechtssachen Viking Line (EuGH 11.12.2007 – C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Ls. 2, Rn. 43) und Laval (EuGH 18.12.2007 – C-341/05, Slg. 2007 I11767 Rn. 90) bei der Herleitung des Rechts auf Kollektivmaßnahmen als allgemeinen 547
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Ausschüssen die Kompetenz zur authentischen und verbindlichen Auslegung der ILO-Übereinkommen abspräche oder zumindest von einer Überschreitung der Auslegungskompetenz im Falle der Spruchpraxis zum Streikrecht ausginge.555 Denn nur schwerlich könnte die Spruchpraxis dann noch als „einschlägiger Völkerrechtssatz“ („relevant rule of international law“) bzw. die zu beachtende Konkretisierung eines solchen betrachtet werden. Bedenken bestehen diesbezüglich primär mit Blick auf Art. 37 ILO-Verfassung, dessen Absatz 1 für Fragen oder Streitigkeiten hinsichtlich der Auslegung der ILO-Verfassung und der auf ihrer Grundlage verabschiedeten Übereinkommen den IGH für zuständig erklärt. Unabhängig davon wird die Internationale Arbeitskonferenz durch Absatz 2 dazu ermächtigt, auf Vorschlag des Verwaltungsrats ein besonderes Gericht für Auslegungsstreitigkeiten zu errichten, was allerdings bislang noch nicht geschehen ist. Diesen Normenbefund vorausgesetzt, erscheint es zweifelhaft, den genannten Ausschüssen die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung der ILO-Übereinkommen zuzusprechen.556 Beide Fachgremien wurden als Hilfsorgane des Verwaltungsrats bei der Kontrolle der Durchführung der internationalen Arbeitsnormen durch die Vertragsstaaten eingesetzt.557 Wesentlicher und notwendiger Teil dieser Aufgabe war und ist es jedoch, die zugrunde liegenden abstrakten Normen zu interpretieren und konkretisieren, um sie überhaupt im Einzelfall justiziabel zu machen, zumal die an sich institutionell vorgesehenen Auslegungswege des Art. 37 ILO-Verfassung gerade nicht beschritten wurden.558 Die Spruchpraxis diente damit über einen Zeitraum von inzwischen mehr als 50 Jahren als Grundlage der Vertragsanwendung durch den Verwaltungsrat und letztlich auch die Internationale Arbeitskonferenz.559 Mit guten Gründen lässt sich auf dieser Grundlage ein zumindest stillschweigender Konsens der Vetragsstaaten sowohl hinsichtlich der Auslegungskompetenz der Ausschüsse als auch hinsichtlich der Anerkennung eines Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts auf die Streikrechtsgarantie des ILO-Übereinkommens Nr. 87, welche sich ihrerseits jedoch nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Vertragstextes, sondern vielmehr erst aus der Interpretation der zuständigen Fachausschüsse ergibt, vgl. dazu oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(a). 555 Vgl. etwa Seifert, KritV 2009, 357, 363 ff.; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 711 f., 717 f.; Henssler, ZfA 2010, 397, 402 f. 556 Dies entsprach zudem auch nicht den ihnen anfänglich zugedachten Kompetenzen, vgl. Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 711. 557 Der Verwaltungsrat errichtete den Sachverständigenausschuss bereits im Jahre 1926 und den Ausschuss für Vereinigungsfreiheit im Jahre 1951. Die Errichtung derartiger „Unterausschüsse“ findet allerdings keine normative Grundlage in der ILO-Verfassung. Hierzu ausführlich Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 134 ff.; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 54 ff. 558 Vgl. auch Zimmer, AuR 2012, 114, 118. 559 Vgl. Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 137 ff.; siehe auch Art. 7 Nr. 2 Geschäftsordnung der Konferenz.
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung
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Streikrechts annehmen.560 Den Ausdruck eines Konsenses der Vertragsparteien könnte man dabei insbesondere in der jahrzehntelangen widerspruchsfreien Tolerierung der Konventionsinterpretationen durch die Ausschüsse sehen, obschon die Mitgliedsstaaten im Rahmen der Internationalen Arbeitskonferenz einer ihnen zuwider laufenden Vertragsanwendung jederzeit hätten entgegenwirken können.561 Die Annahme einer späteren Übereinkunft (Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK) oder auch einer späteren Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht (Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK), liegt somit nahe. Problematisch erscheint an dieser Stelle allerdings der bereits angedeutete Konflikt innerhalb des Konferenzausschusses der Internationalen Arbeitskonferenz bzw. die Blockadehaltung der dort vertretenen Arbeitgeber hinsichtlich der Auslegung und Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses.562 Nachdem die Arbeitgeber erstmalig im Jahre 1994 Kritik an der Auslegungspraxis des Sachverständigenausschusses im Hinblick auf das Streikrecht geübt hatten, setzte sich die Kontroverse auch in der Folgezeit fort. Im Jahre 2012 schließlich weigerte sich die Arbeitgeberseite im Rahmen der Internationalen Arbeitskonferenz, den Bericht des Sachverständigenausschusses anzunehmen, welcher die Grundlage für die Veröffentlichung einer Liste der Vertragsstaaten mit den gravierendsten Verstößen gegen das internationale Arbeitsrecht darstellt.563 Im darauffolgenden Jahr konnte innerhalb der Arbeitskonferenz zwar wieder eine Einigung erzielt werden, allerdings wurde hierbei die Frage des Streikrechts ausgeklammert.564 Fraglich ist somit, ob aufgrund dieser Uneinigkeit innerhalb des Konferenzausschusses der Internationalen Arbeitskonferenz ein zuvor begründeter (stillschweigender) Konsens wieder in Frage zu stellen ist. Hierfür spräche zunächst, dass die Blockadehaltung der Arbeitgeber jedenfalls zeitweise sogar zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit der ILO und ihrer Überwachungsmechanismen geführt hat. Inwiefern insoweit noch von einer gemeinsamen Übereinkunft hinsichtlich der Gewährleistung des Streikrechts auf Grundlage der Auslegungs560
Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 137 ff.; Hofman/Schuster, AVR 2013, 483,
495 f. 561 Der IGH bzw. sein Vorgänger der „Ständige IGH“ wurde im Hinblick auf Auslegungsfragen zu ILO-Bestimmungen bislang lediglich erst einmal angerufen, vgl. Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 713; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 137. Die mögliche Berücksichtigung der Spruchpraxis der Ausschüsse im Wege des Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK ist dagegen nicht gleichbedeutend mit deren (Letzt-)Verbindlichkeit für die Mitgliedsstaaten, was sicherlich auch einen Grund für die Zurückhaltung bei der Anstrengung von Verfahren nach Art. 37 Abs. 1 ILO-Verfassung darstellt. 562 Siehe oben Fn. 161, Hofman/Schuster, AVR 2013, 483 ff. 563 Hofman/Schuster, AVR 2013, 483; als Folge dieser Kritik stellte der Sachverständigenausschuss im seinem Jahresbericht 2013 nochmals sein Selbstverständnis als Überwachungsorgan der ILO und die Verbindlichkeit seiner Spruchpraxis klar, ILC, CEACR Report III (Part 1B) 2013, Rn. 8. 564 ILC, CEACR Report III (Part 1A) 2014, Rn. 14 ff.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
praxis ausgegangen werden kann, ist fraglich. Andererseits wird zu Recht darauf hingewiesen, dass alleine eine gemeinsame Übereinkunft bzw. Übung der „Vertragsparteien“ maßgeblich sei und dies seien einzig die Mitgliedsstaaten. Folglich sei eine lediglich von der Arbeitgeberseite eingenommene abweichende Position insoweit unbeachtlich, da die Representanten der Vertragsstaaten diese nicht teilten.565 Bestärkt wird dieser Ansatz durch die Vorgehensweise des EGMR, welcher sich trotz der innerhalb der ILO bestehenden Uneinigkeiten nicht dazu veranlasst sah, die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zum Streikrecht als Referenzpunkt für die Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK in Frage zu stellen.566 Vielmehr betonte die 4. Sektion in R.M.T., dass sich aus den Protokollen und Aufzeichnungen der 101. Sitzung der Internationalen Arbeitskonferenz im Jahre 2012 eindeutig ergebe, dass die Differenzen ausschließlich auf der konträren Position der Arbeitgeber beruhten. Die Vertreter der Regierungen der Vertragsstaaten dagegen hätten die Gewährleistung des Streikrechts unter dem ILO-Übereinkommen Nr. 87 nicht in Frage gestellt.567 Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass ein Konsens der Vertragsparteien im Sinne des Art. 31 Abs. 3 lit. a bzw. b. WVK hinsichtlich der Anerkennung des Streikrechts durch die hergebrachte Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse vorliegt. Die Kontroversen innerhalb des Konferenzausschusses stellen dagegen keine hiervon konsensual abweichende Praxis der Vertragsparteien dar. Die Bezugnahme des EGMR auf die Spruchpraxis des ILO-Sachverständigenausschusses und des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit ist somit auf der normativen Grundlage des Art. 31 Abs. 3 WVK möglich.568 b) Europäischer Ausschuss für soziale Rechte und Ausschüsse des UN-Sozial- und Zivilpakts Anders als unter dem Dach der ILO ist die Auslegungs- und Interpretationsaufgabe durch die Änderungen der internen organisatorischen Bestimmungen im „Turiner Änderungsprotokoll“ von 1991 explizit und exklusiv dem Sachverstän565 Gitzel, Der Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 178; Hofman/Schuster, AVR 2013, 483, 496. 566 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 97 (R.M.T.). 567 EGMR 8.4.2014 – App. 31045/10, Rn. 97 (R.M.T.): „While the Government referred to disagreements voiced at the 101st International Labour Conference, 2012, it appears from the records of that meeting that the disagreement originated with and were confined to the employer group (Provisional Record of the 101st Session of the International Labour Conference, 19 (Rev.), §§ 82–90). The Governments who took the floor during that discussion are reported as saying that the right to strike was „well established and widely accepted as a fundamental right“. 568 Ebenso Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 137 ff.; Schlachter, RdA 2012, 341, 345; wohl auch Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 7 m.w. Nw.; Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 84, 98; vgl. auch Fütterer, EuZA 2011, 505, 513.
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digenausschuss (EASR) übertragen worden.569 Die im Zug der Normenüberwachung gewachsene und die Charta-Bestimmungen konkretisierende Spruchpraxis des EASR beruht somit auf einer dem Ausschuss ausdrücklich und nicht nur faktisch zuerkannten Kompetenz.570 Mithin sieht die organisatorische Struktur der ESC nunmehr den EASR als einziges Auslegungsorgan vor.571 Inwiefern dessen Spruchpraxis für die Mitgliedsstaaten eine wie auch immer geartete Verbindlichkeit begründet, ist hiermit noch nicht entschieden.572 Sehr wohl aber kann sich der EGMR im Rahmen der Regeln des Art. 31 Abs. 3 WVK auf die Spruchpraxis des EASR beziehen, ohne dabei die Grenzen zulässiger systematischer Auslegung zu überschreiten.573 Auch die unter dem UN-Sozial- und Zivilpakt gegründeten Ausschüsse sind im Zug des Staatenberichtsverfahrens mit der Überwachung und Auslegung der jeweiligen Bestimmungen betraut.574 Entsprechend kann ihre Spruchpraxis im Wege der evolutiven Konventionsinterpretation Berücksichtigung finden. 2. Heranziehung nicht einheitlich ratifizierter Normen Ausgangspunkt weiterer Kritik an der Auslegungsmethodik des EGMR ist dessen Verzicht auf die Ratifikation der zur Interpretation herangezogenen Regelungswerke durch die am Verfahren beteiligten Vertragsstaaten. Diese Vorgehensweise sprenge den von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK vorgegebenen Rahmen zulässiger systematischer Auslegung575 und führe zudem zu einer Verwischung der zwischen den verschiedenen Regelungssystemen bestehenden konzeptionel-
569 Ursprünglich bestand ein Nebeneinander der Interpretationskompetenzen des Regierungsausschusses und des EASR vgl. Schlachter, RdA 2012, 341, 345 f.; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 27. 570 Der Regierungsausschuss trifft seine die Entscheidung des Ministerkomitees vorbereitenden Maßnahmen dagegen auf der Grundlage sozialer, wirtschaftlicher oder politischer nicht aber rechtlicher Erwägungen gemäß Art. 27 Nr. 3 ESC (rev.). 571 Zusätzlich wurde 1995 ein kollektives Beschwerdeprotokoll verabschiedet, im Zuge dessen dem EASR wiederum ein Interpretationsauftrag im Rahmen eines gerichtsähnlichen Verfahrens im Falle von Kollektivbeschwerden erteilt wurde, abrufbar unter: http://www.conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/158.htm. (Stand: 27.5.2015). 572 Die Frage nach der Verbindlichkeit der ESC bzw. ihrer Auslegung durch den Sachverständigenausschuss prägt jedoch maßgeblich die innerdeutsche Debatte vgl. insoweit nur Bepler, in: FS Wissmann, S. 97, 106 f. 573 Schlachter (RdA 2012, 341, 346, Fn. 72) weist insofern zu Recht darauf hin, dass sich auch das BAG nicht gehindert sah, auf die Interpretation des EASR Bezug zu nehmen, vgl. BAG 10.12.2002 – 1 AZR 96/02 = AP Nr. 120 zu Art. 9 GG, NZA 2003, 734, 739. 574 Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(c); Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 54 ff.; Wimalasena, KJ 2008, 1, 11 f.; vgl. zur Auslegungskompetenz internationaler Verträge allgemein nochmals Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 18. 575 Seifert, KritV 2009, 357, 366 f.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
len Unterschiede.576 Ungeachtet dieser Einwände kann die Heranziehung nicht einheitlich ratifizierter Normen durch den EGMR mittlerweile durchaus als gängige Praxis bezeichnet werden,577 zu welcher sich der Gerichtshof auch offen bekennt.578 Die normative Basis dafür ist erneut Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK, nach welchem jeder „zwischen den Vertragsparteien anwendbare“ 579 Völkerrechtssatz bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Ausgeschlossen ist indes von vorneherein eine Auslegung, die je nach betroffenem Vertragsstaat und dessen bestehenden internationalen Verpflichtungen unterschiedlich ausfällt. Genau genommen muss die Problemstellung daher – losgelöst vom Einzelfall – lauten: Kann der Gerichtshof zur Auslegung der Konventionsnormen auch sachverwandte Bestimmungen solcher Vertragswerke heranziehen, die nicht von allen Mitgliedsstaaten der EMRK einheitlich ratifiziert wurden?580 Nach seiner klassischen Konzeption ist das Völkerrecht eine „staatenzentrierte Rechtsordnung mit gewillkürten Rechtsquellen“ 581. Dies bedeutet, dass jeder Staat nur insoweit an internationale Regelungen gebunden ist, wie er deren Geltung qua Ratifikation explizit zugestimmt hat. Dies legt freilich nahe, auch Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK so zu lesen, dass alle Vertragsparteien an die bei der Auslegung zu berücksichtigenden Normen gebunden sein müssen.582 Hierfür spricht zudem, dass ansonsten die in verschiedenen Regelungssystemen bestehenden konzeptionellen Besonderheiten Gefahr liefen, umgangen zu werden.583
576
Weiß, EuZA 2010, 457, 467. van Drooghenbroeck, RTDH 2009 (79), 811, 818 insb. Fn. 23; Hendy/Ewing ILJ 2010, 1, 9 insb. Fn. 30; Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 100. 578 Vgl. etwa EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 86 (Demir and Baykara). 579 Die englische Sprachfassung lautet: „any [. . .] rules [. . .] applicable in the relations between the parties“, die Französische: „toute règle [. . .] applicable dans les relations entre les parties.“ 580 Besonders virulent wird das Problem freilich dann, wenn ein beklagter Konventionsstaat über die Auslegungsmethode des Gerichtshofs mittelbar an Regelungen und Grundsätze gebunden wird, deren unmittelbare Ratifizierung er möglicherweise bewusst unterlassen hat. So hatte etwa die türkische Regierung in Demir und Baykara (EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 53 f. (Demir and Baykara) eingewendet, dass die Türkei Art. 5 und 6 ESC nicht ratifiziert habe, der Gerichtshof sich aber dennoch maßgeblich auf die ESC und die entsprechende Spruchpraxis des EASR gestützt habe. Auch im Falle der BRD als Verfahrenspartei wären im Hinblick auf die Streikrechtsgewährleistung im öffentlichen Dienst ähnliche Einwände denkbar, etwa mit Blick auf den von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt im Rahmen des Art. 6 Nr. 4 ESC hinsichtlich dessen Geltung für die deutschen Beamten, vgl. Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD und die ESC, S. 116 f. 581 Weiß, EuZA 2010, 457, 467. 582 Seifert, KritV 2009, 357, 366 f.; Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 100 f. 583 Art. 20 Abs. 1 ESC bzw. Teil III, Art. A Abs. 1 ESC (rev.) gewährt beispielsweise den ESC-Vertragsstaaten die Möglichkeit, nur selektiv vertragliche Verpflichtungen zu übernehmen, was im Rahmen der EMRK wiederum nicht möglich ist. 577
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Zu beachten ist allerdings ebenfalls, dass es sich bei Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK um eine Auslegungsregel handelt, durch welche jedenfalls keine direkte Geltung nicht ratifizierter Normen begründet wird. Vielmehr soll anhand anderer sach- und systemverwandter Bestimmungen der jeweilige vertragliche Geltungsbereich näher bestimmt werden, was letztlich auch der Schaffung einer Einheitlichkeit der Rechtsgewährleistungen in verschiedenen, jedoch miteinander verwobenen, Regelungssystemen dient.584 Verlangte man für die Anwendbarkeit des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK die Bindung aller Mitgliedsstaaten, bedeutete dies in letzter Konsequenz, dass die Heranziehung anderer völkerrechtlicher Normen bereits dann ausgeschlossen wäre, wenn auch nur ein Konventionsstaat das betreffende Regelungswerk nicht ratifiziert oder gar nur mit seiner Ratifikation einen punktuellen Geltungsvorbehalt erklärt hat. Faktisch würde bei einem derart mitgliederstarken überregionalen Regelungswerk wie der EMRK die systematische Auslegung nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK weitgehend leerlaufen.585 Dies stünde im Widerspruch zum selbst auferlegten Ziel der Konvention, eine einheitliche und wirksame „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ sicherzustellen.586 Sich letzterem verschreibend, verlangt der Gerichtshof daher lediglich, „dass die einschlägigen internationalen Instrumente eine kontinuierliche Entwicklung der anwendbaren Vorschriften und Grundsätze des Völkerrechts oder des staatlichen Rechts der Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats zeigen und beweisen, dass bei einer bestimmten Frage eine übereinstimmende Auffassung der modernen Gesellschaften besteht.“ 587 Der Besonderheit eines multilateralen Vertrages unter dem Dach einer internationalen Organisation kann dadurch Rechnung getragen werden, dass die über den sachlichen Bezug hinaus geforderte rechtliche Bindung der Vertragsstaaten durch deren Mitgliedschaft in der Rechtsgemeinschaft588, unter deren Dach die heranzuziehenden Bestimmungen normiert wurden, „kompensiert“ wird.589 Vor diesem Hintergrund erscheint die Inbezugnahme der Regelungen und Grundsätze der ESC möglich. Aber auch zu den Vorschriften der ILO besteht ein ausreichender systematischer
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Vgl. Schlachter, RdA 2012, 341, 346 f.; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 14. Dies räumen auch die Befürworter einer restriktiven Anwendung der Auslegungsvorschrift ein, nehmen es jedoch als notwendige Konsequenz in Kauf. Gleichwohl dokumentieren Versuche, dennoch über Umwege eine Einbeziehung dieser Normen zu erreichen, dass die restriktive Lesart in der Praxis zu unbefriedigende Ergebnissen führt, vgl. etwa bei Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 31 Rn. 100 ff. 586 Präambel der EMRK; Fütterer, EuZA 2011, 505, 513. 587 EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97; NZA 2010, 1425, Rn. 86 (Demir and Baykara). 588 Gemeint sind insbesondere internationale Organisationen. 589 Terminologisch ist anstelle einer strikten rechtlichen Bindung vielmehr eine systematische Verbundenheit zu fordern, welche sich bei Verträgen innerhalb von internationalen Organisationen etwa in der mehrheitlichen Übereinstimmung der Mitglieder manifestieren kann. 585
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Bezug, da nahezu alle Konventionsstaaten auch Mitglieder der ILO sind.590 Selbiges gilt ebenso für den innerhalb der UN geschlossenen Sozialpakt sowie den Zivilpakt. Nicht unproblematisch erscheint dagegen die Heranziehung des Unionsrechts sowie der Rechtsprechung des EuGH mit Blick auf den geplanten Beitritt der EU zur EMRK. Rein formal betrachtet ist die EU zukünftig lediglich ein einzelnes Mitglied der EMRK, dessen Rechtsgrundsätze über die Auslegung der Konvention zu einem gewissen Grad allgemeinverbindlich für alle Mitglieder werden. Abseits dieser förmlichen Betrachtungsweise bildet die EU eine Rechtsgemeinschaft 28 europäischer Staaten, welche ihrerseits vollzählig Mitglieder der Menschenrechtskonvention sind. Der zukünftige Status der EU als einzelnes Konventionsmitglied, welcher seinerseits zunächst durch umfangreiche Änderungen des Konventionsrechts ermöglicht werden musste591, kann indessen nicht darüber hinweg täuschen, dass das Unionsrecht eine eigene, mit der EMRK systematisch eng verwobene, Rechtsordnung ist, deren Mitglieder gleichzeitig auch die Mehrheit der EMRK-Vertragsstaaten ausmachen.592 Insoweit stellt das EU-Recht gleichzeitig auch immer eine „übereinstimmende Auffassung der Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats“ dar, wie sie der EGMR im Rahmen der Konventionsauslegung verlangt. Gerade auch mit Blick auf das Ziel einer möglichst kohärenten Rechtsgewährleistung, welche nach dem bevorstehenden Beitritt der Union zur EMRK sogar verbindlicher Natur sein wird, muss somit die Einbeziehung des Unionrechts bei der systematischen Auslegung von Konventionsvorschriften möglich sein. 3. Tragfähigkeit rechtsvergleichender Argumentation Schließlich sieht sich die Straßburger Rechtsprechung auch wegen ihrer Handhabung der rechtsvergleichenden Methode kritischer Stellungnahmen ausgesetzt. So wird, insbesondere mit Blick auf die Herleitung der konventionsrechtlichen Gewährleistung des Rechts auf Kollektivverhandlungen in Demir und Baykara, beanstandet, der Gerichtshof habe diese auf einen lediglich behaupteten Konsens der Vertragsstaaten gestützt, dessen Herleitung jeglichen Anspruch an eine ernsthafte Rechtsvergleichung jedoch unerfüllt lasse.593 Diesem Einwand ist zuzugeben, dass der EGMR tatsächlich eine genaue Analyse der vertragsstaatlichen Rechtsordnungen im Hinblick auf deren Gewährleistung des in Rede stehenden 590 Die einzigen Ausnahmen unter den 47 Konventionsstaaten bilden Andorra und Lichtenstein. 591 Vgl. hierzu Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 4 Rn. 14 ff. 592 Die geplanten Erweiterungen der EU unterstreichen diese These zusätzlich, vgl. zu den zukünftig beitretenden Ländern bzw. Beitrittskandidaten http://europa.eu/abouteu/countries/index_de.htm. 593 Seifert, KritV 2009, 357, 366 f.; Widmaier/Alber, ZEuS 2012, 388, 409 f.; vgl. zur Vorgehensweise des Gerichtshofs ausführlich oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(f).
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Rechts vermissen lässt.594 Ohne diese jedoch können rechtsvergleichende Erwägungen über den Wert einer bloßen Behauptung nicht hinausgehen, was ihre Heranziehung zur Bestimmung des Schutzbereichs von Konventionsrechten wiederum problematisch erscheinen lässt. Zu Recht wird somit die Tragfähigkeit der rechtsvergleichenden Argumentation in der durch den EGMR praktizierten Weise in Frage gestellt.595 Für die Frage der Streikrechtsgewährleistungen im Bereich des öffentlichen Diensts bzw. deren Einschränkungen wurde darüber hinaus bereits festgestellt, dass aufgrund der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ausgestaltungen in den Vertragsstaaten keineswegs von einem europäischen Konsens in dieser Frage ausgegangen werden kann.596 4. Resümee und abschließende Bewertung In der Gesamtschau prägt die methodische Vorgehensweise des EGMR im Rahmen seiner jüngeren Rechtsprechung zu Art. 11 EMRK ein ambivalentes Bild. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass nach der hier vertretenen Auffassung die Heranziehung der sonstigen internationalen arbeitsrechtlichen Normen sowie der korrespondierenden Spruchpraxis der jeweiligen Überwachungs- und Auslegungsorgane durch den Gerichtshof im Grundsatz durch die Auslegungsregeln der Art. 31–33 WVK gedeckt ist. Das gilt selbst dann, wenn nicht alle Konventionsstaaten gleichermaßen auch an die in Bezug genommenen Bestimmungen gebunden sind. Dennoch ist die Vorgehensweise nicht unproblematisch. Jedes internationale Vertragswerk hat seine eigene Konzeption und darauf basierende Anwendungspraxis. Sind Systeme, wie etwa die ESC, „souveränitätsschonend“ ausgestaltet597 oder in der Begründung verbindlicher Staatenverpflichtungen restriktiver angelegt598, so ist dies Ausdruck der zu beachtenden Regelungsautonomie der Vertragsstaaten. Wie vorstehend gezeigt, bedeutet dies nicht, dass sich der EGMR aufgrund dieser konzeptionellen Unterschiede im Rahmen seiner systematischen Auslegung nicht auf diese Bestimmungen beziehen kann. Geschieht die Bezugnahme gleichwohl in derart umfassender und weitgehender Art und Weise, wie 594 Auch Richter Zagrebelsky räumte in seiner „separate opinion“ (EGMR 12.11. 2008 – App. 34503/97, S. 45 f. (Demir and Baykara)) ein, dass die Betrachtung der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten eine schwierige Grundlage für eine einheitliche Aussage zur Frage einer Rechtsgewährleistung darstellt. 595 Seifert (KritV 2009, 357, 367) weist allerdings richtigerweise darauf hin, dass die Knappheit der Ausführungen in Demir und Baykara (EGMR 12.11.2008 – App. 34503/ 97, Rn. 106, 151) verdeutlicht, dass auch der EGMR selber der Rechtsvergleichung in seinen Urteilsgründen nur eine untergeordnete Bedeutung zumisst. 596 Siehe oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(f); Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(5). 597 So der Einwand von Weiß, EuZA 2010, 457, 467. 598 Etwa insofern, als dass auf verbindliche Durchsetzungsmechanismen verzichtet wird oder überhaupt nur ausnahmsweise individuelle Rechtspositionen gewährt werden.
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in Demir und Baykara und den Nachfolgeentscheidungen, so ist zu bedenken, dass diese internationalen Regelungen und Grundsätze eine erhebliche Aufwertung im Hinblick auf ihren Wirkungsgrad und ihre Verbindlichkeit erfahren.599 Einerseits befördert dies freilich das Ziel einheitlicher und umfassender Menschenrechtsstandards.600 Lässt die Rechtsprechung allerdings durch die „ungefilterte“ Rezeption außerkonventionsrechtlichen Rechts die von den Staaten bewusst vereinbarten Systemunterschiede unberücksichtigt,601 so ist dies der für die Effektivität des Konventionsrechts unbedingt notwendigen Akzeptanz der Straßburger Diktion durch die Mitgliedsstaaten sicherlich nicht zuträglich. Verstärkt wird dies durch die Angreifbarkeit unzureichend fundierter rechtsvergleichender Ausführungen. Insgesamt ist es folglich angezeigt, einerseits bei der Rezeption internationalen Rechts konzeptionelle Unterschiede ausreichend zu berücksichtigen, andererseits rechtsvergleichende Erwägungen stets auf das Fundament einer ausführlichen rechtsvergleichenden Analyse zu stellen, um auf diesem Wege die Akzeptanz der Rechtsprechung durch die Mitgliedsstaaten zu fördern. Ungeachtet dessen bewegt sich der EGMR mit seiner Auslegung jedenfalls im Rahmen der rechtlichen Grenzen.
II. Bindungswirkung der Rechtsprechung für die Bundesrepublik Deutschland Sieht sich die Vorgehensweise des EGMR auch teils berechtigter Kritik ausgesetzt, so ist die Rechtsprechung unabhängig davon dennoch von den Verfahrensparteien, darüber hinaus aber auch den sonstigen Konventionsstaaten, hinzunehmen und entsprechend der jeweiligen Bindungswirkung in das nationalstaatliche Recht zu übertragen. 1. Völkerrechtliche Bindungswirkung Die in der vorstehenden Bearbeitung nachvollzogene Entwicklung der neuen Rechtsprechungslinie des EGMR zu Art. 11 EMRK erfolgte gänzlich ohne eine 599 Wedl, DRdA 2009, 458, 461: „Man könnte gar sagen, die Quantität internationaler rechtlicher Instrumente werde in die Qualität des effektiven Rechtsschutzes nach Zuschnitt der EMRK umgewandelt.“ Mit anderen Worten könnte das Konventionsrecht zum „Transmissionsriemen“ (Sagan, DB 2012, 11, 14) für das sonstige internationale Arbeitsrecht werden und bloße Staatenverpflichtungen zu subjektiven Rechten mutieren. Dies positiv bewertend Hendy/Ewing (ILJ 2010, 1, 48): „[The Court transformed] the nature of international labour standards, which although still burdened by the humiliating ,soft-law‘ tag, can now walk with a real swagger as soft law with a hard edge.“ Vgl. auch Fütterer, EuZA 2011, 505, 514. 600 So verlautbarte die Wiener Erklärung zur Weltkonferenz der Menschenrechte im Jahre 1993: „All human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated.“ (Hervorhebung durch Bearbeiter). 601 Diesbezüglich kritisch auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 7.
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Verfahrensbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland. Eine völkerrechtliche Verbindlichkeit ergibt sich mit Blick auf Art. 46 Abs. 1 EMRK somit nicht ohne Weiteres. Denn danach erwachsen die Urteile des Gerichtshofs lediglich inter partes in Rechtskraft.602 Allerdings verpflichten sich die Staaten in Art. 1 EMRK, die Konventionsrechte zu gewährleisten, deren Schutzbereich und Reichweite gemäß Art. 32 EMRK durch den Gerichtshof verbindlich konkretisiert werden. Eine kohärente und effektive Rechtsgewährleistung im Sinne des Art. 1 EMRK setzt mithin voraus, dass die nationalen rechtsanwendenden Organe auch die aktuelle Rechtsprechung des Gerichtshofs berücksichtigen.603 In diesem Sinne wird den Entscheidungen des EGMR nach ganz überwiegender Ansicht eine „normative Leitfunktion“ 604 bzw. eine „Orientierungswirkung“ zuerkannt.605 Zwar kann die neuerliche Diktion im Rahmen des Art. 11 EMRK noch nicht als gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs qualifiziert werden, jedoch wurde das Urteil in der Sache Demir und Baykara durch die gemäß Art. 43 Abs. 2 EMRK für Auslegungsfragen mit grundsätzlicher Bedeutung zuständige Große Kammer des Gerichtshofs einstimmig gefasst. Hierin manifestiert sich eindrücklich die den künftigen Kurs vorgebende Überzeugung des Gerichts sowie die hohe Legitimationswirkung des Urteils.606 Die Nachfolgeentscheidungen und hierbei insbesondere Enerji Yapi-Yol Sen ergingen in methodisch enger An602 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 Rn. 13. An diesem Punkt bleibt etwa das OVG Münster (7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 896) stehen, anders dagegen das OVG Lüneburg (12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 71). 603 Es erschiene zudem übertrieben formalistisch und schlichtweg nicht praktikabel, als Voraussetzung für die Verbindlichkeit eines grundsätzlichen Rechtsprechungssatzes die Erklärung gegenüber jedem einzelnen Vertragsstaat zu verlangen. Im Gegenteil; den Vertragsstaaten obliegt unmittelbar aus der Konvention, nicht dagegen aufgrund der Rechtskraftwirkung der betreffenden Urteile, eine Pflicht zur Beachtung der Auslegung des EGMR, schon um künftigen eigenen Konventionsverletzungen vorzubeugen. Diese Verpflichtung haben die Vertragsstaaten jüngst in der Erklärung von Brighton vom 19. und 20. April 2012 erneut bestätigt: „The Conference therefore [. . .] [i]n particular, expresses the determination of the States Parties to ensure effective implementation of the Convention at national level by taking the following specific measures, so far as relevant [. . .] [e]nabling and encouraging national courts and tribunals to take into account the relevant principles of the Convention, having regard to the case law of the Court, in conducting proceedings and formulating judgments; and in particular enabling litigants, within the appropriate parameters of national judicial procedure but without unnecessary impediments, to draw to the attention of national courts and tribunals any relevant provisions of the Convention and Jurisprudence of the Court.“ (Hervorhebung durch Bearbeiter).Vgl. auch Ress, EuGRZ 1996, 350. 604 BVerwG 16.12.1999 – 4 CN 9/98, E 110, 203 = NVwZ 2000, 810, 811. 605 BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407, 3409; bestätigt durch BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1935; BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 740; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 16 Rn. 8; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 Rn. 17 f.; Ress, EuGRZ 1996, 350; Seifert, KritV 2009, 357, 371; Schlachter, RdA 2012, 347; Sangi, KritV 2012, 103, 105; Gooren, ZBR 2011, 400, 402. 606 So auch Lörcher, AuR 2009, 229, 231.
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lehnung an Demir und Baykara, ja beinahe als logische Konsequenz derselben.607 Folglich ist von einer über die materielle Rechtskraft hinausgehenden Orientierungswirkung der genannten Urteile des EGMR auszugehen. Für Deutschland bedeutet dies, dass nunmehr Anlass besteht, die nationale Rechtsordnung auf ihre Konventionskonformität hin zu überprüfen und dabei die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde zu legen.608 Diese Pflicht hebt auch das BVerwG in seiner Entscheidung vom 27. Februar 2014 explizit hervor.609 2. Die Geltung der EMRK im nationalen Recht der Bundesrepublik Wie gesehen, entwickelt die Rechtsprechung des EGMR zur Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK abseits der unmittelbaren Rechtskraftwirkung auch für Deutschland eine völkerrechtliche Verbindlichkeit in Gestalt eines Überprüfungsauftrages der nationalen Rechtslage unter Berücksichtigung des richterlich konkretisierten Konventionsrechts. Mit welchen möglichen konkreten Folgen dies für das deutsche Recht verbunden ist, hängt maßgeblich von der Wirkungsweise des Konventionsrechts im nationalen Recht der Bundesrepublik ab. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, welchen der Bundesgesetzgeber mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG610 in das deutsche Recht transformiert und damit gleichzeitig einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl611 erteilt hat. Hieraus ergibt sich nach mittlerweile nahezu einhelliger Ansicht612, dass die EMRK in der deutschen Rechtsordnung im Range eines einfachen Bundesgesetzes steht und somit keinen „unmittelbaren“ Verfassungsrang besitzt.613 Entsprechend haben deutsche Gerichte aufgrund der Bindung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG die konventionsrechtlichen Gewährleistungen „wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden“.614 607
Kapitel 2 A.II.4.b)aa). BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407, 3409. Dies gilt umso mehr aufgrund der im Falle einer konventionswidrigen Rechtspraxis der BRD drohenden Schadensersatzpflicht, vgl. Art. 27 WVK; Sangi, KritV 2012, 103, 110. Siehe auch Henneberger-Sudjana/Henneberger, KritV 2012, 174, 194; Löber, AuR 2011, 74, 76. 609 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 740 f. 610 BGBl. II, 1952, S. 685; BGBl. II 1954, S. 14; Neubekanntmachung in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls in BGBl. II 2002, S. 1054. 611 Dieser bezieht sich freilich gleichermaßen auch auf die Rechtsprechung des EGMR, vgl. etwa Niedobitek, ZBR 2010, 361, 363; Weiß, EuZA 2010, 457, 463. 612 Zu vereinzelnd vertretenen anderen Ansichten vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rn. 7. 613 Statt vieler vgl. BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407, 3408; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rn. 6. 614 So die ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. nur BVerfG 13.12.2006 – 1 BvR 2084/05, K 10, 66 = NVwZ 2007, 808, 811. 608
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Darüber hinaus allerdings sind das Konventionsrecht und die korrespondierende Rechtsprechung des EGMR nach Ansicht des BVerfG als „Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ zu beachten.615 Diese verfassungsrechtliche Bedeutung unterstrichen die Richter in ihrem Beschluss in der Sache Görgülü durch die Betonung der „völkerrechtsfreundlichen“ Konzeption des Grundgesetzes. Dieses fördere „die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit sowie die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ und sei „deshalb nach Möglichkeit so auszulegen [. . .], dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteh[e]“.616 Ebenso klar stellte das BVerfG allerdings die Grenzen dieser völkerrechtsfreundlichen Auslegung heraus. So wurde zunächst verdeutlicht, dass die Berücksichtigung der EMRK bei der Auslegung des Verfassungsrechts vornehmlich „ergebnisorientiert“ erfolge, folglich „nicht [. . .] eine schematische Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe“, sondern die grundsätzliche Vermeidung von Völkerrechtsverletzungen bezwecke.617 Als weiteres Rezeptionshemmnis, welches sich mit Art. 53 EMRK bereits aus der Konvention selbst ergibt, erwähnt das Gericht, dass die Adaption des Konventionsrechts nicht dazu führen dürfe, dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt werde.618 Zu beachten ist dies insbesondere bei sogenannten mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen, also Konstellationen, in denen die Stärkung einer Grundrechtsposition zwangsläufig zur Schwächung eines kollidierenden Grundrechts führt619. Darüber hinaus sieht das Verfassungsgericht die Grenzen der konventionsfreundlichen Auslegung dort, „wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar er-
615 BVerfG 26.3.1987 – 2 BvR 589/79 u. a., E 74, 358 = NJW 1987, 2427; BVerfG 20.12.2000 – 2 BvR 591/00, NJW 2001, 2245, 2246. Hiermit trägt das BVerfG der Besonderheit Rechnung, dass die EMRK über ihre Eigenschaft als völkerrechtliches Abkommen hinaus auch als „regionale Konkretisierung und Akzentuierung der universellen Menschenrechte“ zu verstehen ist, Di Fabio, RdA 2012, 262, 265. 616 BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407, 3408; siehe auch BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1934. Vgl. auch Lörcher, PersR 2011, 452, 454. 617 BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1936. 618 BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1936. 619 Ein solches läge jedoch im Falle der Übertragung der konventionsrechtlichen Grundsätze zur Koalitionsfreiheit des Art. 11 EMRK auf die deutsche Rechtsordnung nicht vor, da die möglicherweise erforderlichen Anpassungen des nationalen Rechts sich ausschließlich in einer größeren arbeitskampfrechtlichen Bewegungsfreiheit der Angehörigen des öffentlichen Dienst erschöpften, nicht aber gleichzeitig auch zu einer Freiheitsverkürzung anderer Grundrechtsträger führten, so auch Battis, ZBR 2011, 397, 399.
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Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
schein[e]“.620 Insbesondere dürfe die Auslegung nicht gegen „tragende Grundsätze der Verfassung“ verstoßen.621 Zur Realisierung einer möglichst systemschonenden Inkorporation des Konventionsrechts verweist das BVerfG insbesondere auf den verfassungsimmanenten Grundsatz des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in dessen Abwägungsvorgang die konventionsrechtlichen Wertungen berücksichtigt werden könnten.622
III. Ergebnis Die Erweiterungen der Koalitionsrechte des Art. 11 EMRK durch den EGMR vollzogen sich zwar im Bereich rechtlich zulässiger systematischer Auslegung, sehen sich jedoch vor allem im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung systembedingter Unterschiede sowie die nur unzureichende Fundierung rechtsvergleichender Feststellungen teils berechtigter Kritik ausgesetzt. Nichtsdestoweniger sind die Rechtssprechungssätze von den Konventionsstaaten zu beachten. Dies gilt, über die unmittelbar an den Verfahren beteiligten Staaten hinaus, auch für die sonstigen Konventionsmitglieder, da die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch für diese eine Orientierungswirkung entfaltet. Die jüngsten Urteile des EGMR sind darum, trotz fehlender Verfahrensbeteiligung, auch von Deutschland zu beachten. Zu untersuchen ist somit in einem weiteren Schritt, inwiefern sich die Erweiterung der koalitionsrechtlichen Freiheiten des Art. 11 EMRK im Hinblick auf das Streikrecht für die Angehörigen des öffentlichen Diensts in die deutsche Rechtsordnung übertragen lassen. Dogmatischer Ausgangspunkt hierfür ist zunächst die Rangzuweisung an die EMRK als einfaches Bundesrecht. Darüber hinaus gilt der vom BVerfG geprägte Grundsatz, dass die Verfassung im Rahmen der Möglichkeiten anerkannter Interpretationsmethoden, durch eine schonende Einpassung des Konventionsrechts in das dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem, völkerrechtsfreundlich auszulegen ist. In Ansehung des konzeptionell angelegten Souveränitätsanspruchs des Grundgesetzes in der Völkerrechtsgemeinschaft623 und der korrespondierenden normenhierarchischen Struktur, bilden dabei sowohl der Wortlaut, als auch die impliziten verfassungsrechtlichen Wertungen und Grundsätze, die Demarkationslinien für die rechtliche Integration der Bundesrepublik in die Menschenrechtsgemeinschaft der EMRK. Als flexiblem Regulativ kommt bei diesem Vorgang dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entscheidende Bedeutung zu.
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BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1936. BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, E 111, 307 = NJW 2004, 3407, 3408. BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1936. Vgl. auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 17.
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung
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IV. Exkurs: Bindungswirkung der EGMR-Rechtsprechung über das Unionsrecht Für Deutschland besteht eine Verbindlichkeit der EGMR-Rechtsprechung freilich zuvorderst aufgrund seiner Rolle als Mitgliedsstaat der EMRK. Gleichzeitig ist die Bundesrepublik als EU-Mitgliedsstaat jedoch auch an das Unionsrecht gebunden, welches seinerseits systematisch eng mit dem Konventionsrecht verwoben ist.624 In Betracht kommt folglich auch eine „mittelbare“ Bindungswirkung der EGMR-Rechtsprechung über das Unionsrecht.625 Nach derzeit geltendem Recht finden die konventionsrechtlichen Gewährleistungen auf zwei Wegen Eingang in die Rechtsordnung der EU. Zum einen erklärt Art. 6 Abs. 3 EUV die Konventionsgrundrechte zu allgemeinen Grundsätzen und damit zum Bestandteil des Unionsrechts. Normiert wird hierdurch die durch die Rechtsprechung des EuGH geprägte Nutzung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle.626 Zum anderen ist nach den Änderungen des Vertrages von Lissabon nunmehr auch die EU-Grundrechtecharta verbindliches EU-Primärrecht627 und ihrerseits im Falle der Identität der Regelungsbereiche über die Kongruenzsicherungsklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC an die Konventionsgrundsätze als „Mindestschutzstandard“ gebunden.628 Dieses ohnehin schon bestehende Bekenntnis zur Geltung der konventionsrechtlichen Grundsätze innerhalb des Unionsrechts wird schließlich durch den bevorstehenden Beitritt der EU zur EMRK nochmals entschieden aufgewertet werden. Als Mitglied der Konvention unterliegt die EU dann derselben völkerrechtlichen Bindung wie die Vertragsstaaten, wodurch die Konvention zur verbindlichen Rechtsquelle für das Unionsrecht erstarkt und gleichzeitig am unionsrechtlichen Anwendungsvorrang gegenüber dem Recht der EU-Mitgliedstaaten teilnimmt.629 Für die Frage der „mittelbaren“ Bindung der EU-Mitgliedsstaaten an die konventionsrechtlichen Grundsätze zu den Koalitionsrechten des Art. 11 EMRK kommt es dennoch – auch nach einem etwaigen Beitritt der Union zur EMRK – maßgeblich auf die grundsätzliche Anwendbarkeit des auf Ebene des Unionsrechts geltenden Grundrechtsregimes an. Denn nur wenn der Anwendungsbereich überhaupt eröffnet ist, kann es zu einer Bindungswirkung von Konventionsgarantien über den „Transmitter“ des Unionsrechts kommen. 624
Vgl. hierzu bereits oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(d). Vgl. etwa Peters/Altwicker, EMRK, § 4 Rn. 18. 626 Streinz, in: Streinz, EUV Rn. 25; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV Rn. 6 f. 627 Art. 6 Abs. 3 EUV. 628 Vgl. oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa)(2)(d). 629 Peters/Altwicker, EMRK, § 4 Rn. 23; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV Rn. 7. Hierdurch dürfte wohl auch der Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 GRC entfallen, vgl. Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258, 262. 625
162
Kap. 2: Gewährleistung und Grenzen des Streikrechts
Grundsätzlich fällt das Streikrecht als Regelungsmaterie gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht in den sozialpolitischen Kompetenzbereich der Union.630 Diese negative Kompetenzzuweisung wird zunächst auch durch die Gewährleistungen der Grundrechtecharta nicht angetastet, Art. 51 Abs. 2 GRC.631 Diese statuiert ihre Anwendbarkeit gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC primär für die Unionsorgane selbst, darüber hinaus allerdings auch für die Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Von einer solchen Durchführung ist auszugehen, wenn die Mitgliedsstaaten im Rahmen verbindlicher Vorgaben des Unionsrechts handeln.632 Hauptsächlicher Anwendungsfall ist hierbei die Umsetzung oder der Vollzug sekundärrechtlicher Rechtsakte der Union, welche allerdings, wie gesehen, nicht originär den Bereich des Arbeitskampfrechts regeln können. Teilweise wird hieraus geschlossen, dass das Unionsrecht aus diesem Grund für die vorliegende Fragestellung gänzlich ohne Bedeutung bleibe.633 Ausgehend von der maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH634, greift diese Schlussfolgerung allerdings für die grundsätzliche Bedeutung des Streikrechts als Garantie innerhalb des unionsrechtlichen Grundrechtsregimes zu kurz, da sehr wohl mannigfaltige Konstellationen denkbar sind, in denen das Unionsrecht auch im Bereich des Arbeitskampfrechts – wenn auch nur mittelbar – zur Anwendung kommt und somit auch das Streikrecht als Unionsgrundrecht zu beachten ist.635 Berührungspunkte speziell im Bereich der Streikrechtsordnung des nationalen öffentlichen Diensts sind dagegen bereits mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 EUV unwahrscheinlicher, theoretisch gleichwohl nicht gänzlich ausgeschlossen.636 So 630 Auch das sonstige Primärrecht enthält keine Bestimmungen, durch welche die Union zu sekundärrechtlichen Ausgestaltungsmaßnahmen ermächtigt würde, die „aktiv“ oder „schwerpunktmäßig“ den Regelungsbereich des Arbeitskampfrechts betreffen, Wagner, Der Arbeitskampf als Gegenstand des Rechts der Europäischen Union, S. 92; siehe auch Franzen, EuZA 2010, 453 f.; a. A. Niedobitek, ZBR 2010, 361, 368 m.w. Nw. 631 Vgl. auch Art. 6 Abs. 1 EUV. Vor allem lässt sich auch aus Art. 28 GRC keine entsprechende Kompetenz der EU begründen, vgl. Lindner, DöV 2011, 305, 309; Wagner, Der Arbeitskampf als Gegenstand des Rechts der Europäischen Union, S. 92. 632 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 51 GRC Rn. 8. 633 Vgl. Nachweise bei Niedobitek, ZBR 2010, 361, 364. 634 Hiernach gelangen die Unionsgrundrechte auch bereits dann zur Anwendung, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts als solcher eröffnet ist, vgl. etwa EuGH 18.6.1991 – Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-02925, Rn. 10, 42 ff. (ERT); EuGH 18.12.1997, Rs. C-309/96, Slg.1997, I-7493, Rn.13 (Annibaldi); EuGH 11.12.2007 – C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (Viking); EuGH 18.12.2007, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 (Laval); Niedobitek, ZBR 2010, 361, 364; hierzu kritisch Borowsky, in: Meyer, Art. 51 GRC, Rn. 29 ff. 635 Hierbei handelt es sich vorrangig um Fälle der Wechselwirkungen zwischen Arbeitskämpfen und Grundfreiheiten, vgl. hierzu die ausführliche Untersuchung bei Wagner, Der Arbeitskampf als Gegenstand des Rechts der Europäischen Union, S. 97 ff. 636 Niedobitek (ZBR 2010, 361, 364) schließt es etwa nicht aus, dass der EuGH seine Rechtssetzungskompetenz eines Tages so ausdehnt, dass es auch im Bereich der Gesetz-
B. Kritische Würdigung und Bindungswirkung
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könnte man etwa erwägen, das in Deutschland bestehende Beamtenstreikverbot als faktische Behinderung der Arbeitnehmerfreizügigkeit637 zu qualifizieren (Art. 45 Abs. 2 AEUV638), da Arbeitnehmer anderer Mitgliedsstaaten hierdurch vom Eintritt in diese Tätigkeitsbereiche abgehalten werden könnten.639 Ob es in diesem Fall zur Anwendung des unionsrechtlichen Grundrechtsregimes und den damit verbundenen Folgen für die mitgliedsstaatliche Bindung an die konventionsrechtlichen Grundsätze kommen kann und inwiefern darüber hinaus weitere Konstellationen denkbar wären, bedürfte an dieser Stelle einer eigenständigen Untersuchung, welche im Rahmen der vorliegenden Bearbeitung nicht geleistet werden kann. Gleichwohl aber vermögen auch bereits diese Ansätze den geneigten Betrachter für eine weitere mögliche Dimension der Bindungswirkung der konventionsrechtlichen Rechtsgrundsätze zu sensibilisieren. Insgesamt bestätigen die vorstehenden Erwägungen zum Unionsrecht das bereits gefundene Ergebnis, nach welchem sich die deutsche Rechtsordnung trotz normenhierarchisch basierter Erwägungen nicht der Einflussnahme des Konventionsrechts und seiner Interpretation durch den EGMR verschließen kann. Dies vorausgesetzt, soll im Folgenden versucht werden, im Rahmen der durch das Verfassungsgericht statuierten Vorgaben die konventionsrechtlichen Streikrechtsgarantien im Bereich des öffentlichen Diensts auf die deutsche Rechtsordnung zu übertragen.
gebung im Beamtenbesoldungsrecht zu Berührungspunkten und damit der Anwendbarkeit des Unionsrechts kommt. A. A. OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 106; OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 899; Lindner, DöV 2011, 305, 309. 637 Zur unionsrechtlichen Auslegung der Ausnahmebestimmung für die „öffentliche Verwaltung“ gemäß Art. 45 Abs. 4 AEUV, siehe oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(3). 638 Vgl. hierzu etwa Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV Rn. 49. 639 So auch, allerdings im Ergebnis ablehnend Wagner, Der Arbeitskampf als Gegenstand des Rechts der Europäischen Union, S. 132.
Kapitel 3
Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben auf die deutsche Rechtsordnung Die vorstehend herausgearbeitete Konzeption der konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistung im Bereich des öffentlichen Diensts ist auf den ersten Blick nicht ohne Friktionen auf die deutsche Rechtsordnung übertragbar. Offensichtlich wird dies an den unterschiedlichen Bewertungen der Rezeptionsmöglichkeiten durch die jüngste verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, welche nahezu alle erdenklichen Standpunkte enthält.1 Auslöser der Kontroversen ist, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung ein Recht auf Kollektivmaßnahmen etablierte, dessen funktionsbezogene Ausgestaltung sich bereits im Ansatz deutlich vom deutschen Arbeitskampfrecht im öffentlichen Dienst unterscheidet, welches maßgeblich durch das hergebrachte, statusbezogene Beamtenstreikverbot geprägt ist. Gleichwohl wurde bereits festgestellt, dass sich den einschlägigen Urteilen des Gerichtshofs keine für die deutsche Rechtsordnung unmittelbar verbindliche Aussage im Hinblick auf die Unzulässigkeit des Beamtenstreikverbots entnehmen lässt.2 Gegenteilig wird sogar vermehrt angenommen, dass das deutsche Beamtenstreikverbot eine den Vorgaben der Konvention entsprechende differenzierende Ausgestaltung des Streikrechts darstelle.3 Die Klärung dieser Frage markiert gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Untersuchung. Nur wenn sich bei der Übertragung des Konventionsrechts Widersprüche offenbaren, stellt sich überhaupt die Frage, ob diese im Wege der durch das BVerfG vorgezeichneten Verfassungsauslegung überwunden werden können. Zur Prüfung der Vereinbarkeit der Konventionsvorgaben mit der deutschen Rechtsordnung soll das vorstehend entwickelte Prüfungsprogramm4 herangezogen werden.5 1
Siehe dazu oben Kapitel 1 B.II.2. Kapitel 2 A.II.4.b)cc). 3 Lindner in DöV 2011, 305, 307; OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 897 ff.; in diese Richtung wohl auch OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/ 11, Juris Rn. 78 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 22; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 29. 4 Oben Kapitel 2 A.IV. 5 Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist einzig die Frage, ob die konventionsrechtlichen Streikrechtsvorgaben mit dem deutschen Rechtssystem vereinbar sind, nicht dagegen auch die Rezeptionsmöglichkeit der Demir und Baykara-Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Kollektivverhandlungen. Gleichwohl steht die Streikrechtsgarantie sowohl im konventionsrechtlichen als auch im deutschen Regelungskontext 2
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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A. Das deutsche Beamtenstreikverbot als konventionskonforme Streikrechtsregelung im öffentlichen Dienst? Zu prüfen ist im Folgenden, ob die mit der Zweiteilung des öffentlichen Diensts einhergehende Streikrechtsgewährleistung bzw. deren Versagung für die im Beamtenverhältnis stehenden Staatsbediensteten eine den Anforderungen des Art. 11 EMRK genügende Regelung darstellt.
I. Eingriff in die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK 1. Herleitung und normatives Fundament des deutschen Beamtenstreikverbots Das deutsche Beamtenstreikverbot ist weder in der Verfassung6 noch in den einschlägigen Beamtengesetzen des Bundes ausdrücklich normiert. Lediglich in einigen Beamtengesetzen auf Länderebene finden sich konkrete Regelungen.7 Aufgrund des Fehlens einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung bildet die verfassungsauslegende Rechtsprechung zu den zentralen Normen der Ausgestaltung des Berufsbeamtentums, Art. 33 Abs. 4 und 5 GG, und deren Verhältnis zur Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG den normativen Anknüpfungspunkt. a) Die kollektivrechtlichen Gewährleistungen der Beamten innerhalb der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG Die Koalitionsfreiheit ist als „Jedermanns-Grundrecht“ für alle Berufe in Art. 9 Abs. 3 GG geregelt.8 Grundrechtsträger sind zunächst alle Berufsangehörigen, das heißt Arbeitnehmer und Arbeitgeber, daneben aber auch Beamte, Richter und Soldaten.9 Als sogenanntes Doppelgrundrecht10 umfasst die Koalitionsstets in engem Zusammenhang mit dem Recht, Arbeitsbedingungen kollektiv aushandeln zu können, weshalb mögliche Auswirkungen in diesem Zusammenhang an den entsprechenden Stellen jedenfalls am Rande Berücksichtigung finden sollen. 6 Im verfassungsgebenden Hauptausschuss bestanden geteilte Meinungen hinsichtlich der Aufnahme eines Streikverbots in die Verfassung, wobei letztlich darauf verzichtet wurde, vgl. Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 18 f. 7 Vgl. etwa § 50 RP LBG oder auch § 67 SH LBG. 8 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 333; Löwisch/Rieble, in: MünchHbArbR § 155 Rn. 28. 9 Däubler/Hege, Koalitionsfreiheit, Rn. 93; Linsenmaier, in: ErfK Art. 9 GG Rn. 27; Otto, Arbeitskampfrecht, S. 174 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 45 Rn. 3 ff.; BVerfG 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, AP Nr. 7 zu Art. 9 GG = NJW 1966, 491; BVerfG 7.4.1981 – 2 BvR 446/80, E 57, 29, 35 = NJW 1981, 2112; vgl. auch § 118 BBG, § 46 DRiG.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
freiheit neben den individuellen Arbeitnehmerfreiheiten auch kollektivrechtliche Gewährleistungen, wie insbesondere den Bestandsschutz der Koalition selber, sowie deren koalitionsspezifische Betätigung.11 aa) Der Schutz der Bildung und des Bestandes von Beamtenkoalitionen Zunächst schützt die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsverbände als solche sowie die Gründungs- und Beitrittsfreiheit jedes Einzelnen.12 Das Ziel des Bestandsschutzes ist stets die Ermöglichung und Sicherung der spezifisch koalitionsmäßigen Betätigung und Aufgabenerfüllung.13 Dies gilt auch für die Berufsverbände der Beamten, welche nach einhelliger Ansicht grundrechtlich geschützte Gewerkschaften im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG sind.14 Auch das einfache Bundesrecht setzt das Recht der Beamtinnen und Beamten, sich in Gewerkschaften und Berufsverbänden zusammenzuschließen,15 sowie auch die Beteiligung der Spitzenverbände16, als selbstverständlich voraus. bb) Die Koalitionsbetätigungsfreiheit und die instrumentelle Verfassungsgarantie des Streikrechts Neben dem Bestandsschutz enthält Art. 9 Abs. 3 GG als weitere essentielle Gewährleistung die Garantie der freien Betätigung der Koalitionen, soweit sie der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dient.17 Das BVerfG stellte mit seiner Entscheidung vom 14. November 199518 klar, dass sich der 10 BAG 19.6.2007– 1 AZR 396/06, AP Nr. 173 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055, 1056; Pfohl, ZBR 1997, 78, 79; Linsenmaier, in: ErfK Art. 9 GG Rn. 7. 11 Das BVerfG spricht davon, dass sich die individualrechtliche Gewährleistung in einem Freiheitsrecht der Koalitionen fortsetzt BVerfG 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, E 94, 268 = NZA 1996, 1157, 1158; vgl. auch: BVerfG 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1991, 809 f.; Löwisch/Rieble, in: MünchHbArbR § 155 Rn. 4; mit der grundrechtsdogmatischen Begründung über Art. 19 Abs. 3 GG i.V. m. Art. 9 Abs. 3 GG Scholz, in: HStR VIII, § 175 Rn. 85; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rn. 139; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 170, 240. 12 BVerfG 1.3.1979 – 1 BvR 419/78, E 50, 290 = NJW 1979, 699, 708. 13 BVerfG 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, E 28, 295, 304 = NJW 1970, 1635; Däubler/ Hege, Koalitionsfreiheit, Rn. 178; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 242. 14 BVerfG 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, AP Nr. 7 zu Art. 9 GG = NJW 1966, 491, 492; Battis, BBG, § 116 Rn. 2; Isensee, Beamtenstreik, S. 32; Däubler, Koalitionsfreiheit, Rn. 93. 15 Siehe § 116 BBG; Battis, BBG, § 116 Rn. 1. 16 Vgl. etwa §§ 118 BBG und 53 BeamtStG. 17 BVerfG 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, AP Nr. 2 zu § 57a HRG = NZA, 1996, 1157, 1158; BVerfG 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, E 95, 352, 357 = NJW 1996, 1201; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rn. 95; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9 GG Rn. 87 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 241. 18 BVerfG 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, E 95, 352 = NJW 1996, 1201.
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Schutzbereich dabei auf alle Verhaltensweisen erstreckt, die koalitionsspezifisch sind. Anders als nach der früher vertretenen Kernbereichslehre19, impliziert dies eine grundsätzliche Vermutung für den Grundrechtsschutz jeglichen koalitionsmäßigen Handelns.20 Eine Standortbestimmung für die Garantie der Arbeitskampffreiheit in der Verfassung lässt sich dennoch nicht ohne Weiteres vornehmen. Mit Ausnahme der Regelung des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG, welcher zwar die Existenz rechtmäßiger, koalitionsmäßiger Arbeitskämpfe voraussetzt, jedoch deren Zulässigkeit nicht unmittelbar statuiert, schweigt sich das Grundgesetz zur Gewährleistung des Arbeitskampfs aus. Das BVerfG führte erstmalig in seiner Aussperrungsentscheidung vom 26. Juni 199121 explizit aus,22 dass die Koalitionsfreiheit als Mittel zur Verfolgung des Vereinigungszwecks auch den Einsatz von Arbeitskampfmaßnahmen schütze. Dies gelte jedenfalls insofern diese „allgemein erforderlich [seien], um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen.“ Der Arbeitskampf ist damit als Handlungsinstrument der Koalitionen innerhalb ihrer Betätigungsfreiheit zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen allgemein anerkannt.23 Bei der Wahl der jeweiligen Kampfmaßnahme sind die Parteien grundsätzlich frei. Das bedeutsamste und klassische Kampfmittel ist dabei nach wie vor der Streik,24 also die kollektive Vorenthaltung der vertraglich geschuldeten Leistung in Form der gemeinschaftlichen Arbeitsniederlegung.25 b) Die Einschränkung der Koalitionsfreiheit der Beamten durch das kollidierende Verfassungsrecht des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG Wie eingangs bereits erwähnt, erstreckt sich der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG auch auf Beamte. Folglich steht diesen im Grund19 Vgl. etwa BVerfG 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, E 38, 281 = NJW 1975, 1265, 1267; BVerfG 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, E 28, 295 = NJW 1970, 1635. 20 Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 41. 21 BVerfG 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1991, 809. 22 Zur vorherigen Rechtsprechung des BVerfG vgl. die Darstellungen bei Kissel, Arbeitskampfrecht, § 17 Rn. 6 f.; Däubler, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 9 Rn. 1 ff. 23 Vgl. als Folgeentscheidungen BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, E 88, 103 = NJW 1993, 1379, 1380; BVerfG 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u. a., AP Nr. 4 zu § 116 AFG = NZA 1995, 754, 755. So auch die heute wohl einhellige Ansicht in der Literatur, vgl. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 102; Ricken, in: MünchHbArbR § 196 Rn. 1 ff.; Däubler, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 9 Rn. 1 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 17 Rn. 12; auch bereits früher Isensee, Beamtenstreik, S. 23 ff.; Däubler, Koalitionsfreiheit, Rn. 221 ff. 24 Däubler, in: Däubler, Arbeitskampfrecht § 8 Rn. 11. 25 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 39 Rn. 1; Linsenmaier, in: ErfK Art. 9 GG Rn. 94.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
satz auch das Recht zu, sich innerhalb der unter dem Bildungs- und Bestandsschutz des Art. 9 Abs. 3 GG hervorgegangenen Koalitionen entsprechend zweckgerichtet, also koalitionsspezifisch zu betätigen.26 Andererseits definiert Art. 33 Abs. 4 GG das Beamtendienstverhältnis als öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis,27 welches gemäß Art. 33 Abs. 5 GG unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln ist.28 Der Beamte befindet sich demnach in einem Sonderstatusverhältnis29, in welchem er einer Vielzahl beamtenrechtlicher Pflichten unterliegt und welches seinerseits geprägt ist durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums des Art. 33 Abs. 5 GG. Diese verkörpern einen Kernbestand von Strukturprinzipien, die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind.30 Freilich gelten die Grundrechte, einschließlich Art. 9 Abs. 3 GG, auch in diesem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis.31 Kollidieren jedoch die grundrechtlichen Freiheitsgarantien mit den im Beamtenverhältnis geltenden materiell-rechtlichen Sonderregelungen, so können letztere insbesondere auch in ihrer Ausprägung als hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums verfassungsimmanente Schranken der jeweiligen Grundrechte darstellen.32 Obgleich das Grundgesetz keine ausdrückliche Regelung eines Beamtenstreikverbots enthält, sieht die einhellige und ständige höchstrichterliche Rechtsprechung33 für die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG und die darin enthaltene
26 Dieses zunächst jedem Arbeitnehmer individuell zustehende Recht setzt sich – schon seiner eigentlichen Natur nach – bei gemeinsamer Ausübung durch die Grundrechtsträger im kollektiven Freiheitsrecht der Koalitionen fort, vgl. BVerfG 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, E 94, 268 = NZA 1996, 1157, 1158; Däubler, Koalitionsfreiheit, Rn. 150; vgl. auch Scholz, in: HStR VIII, § 175 Rn. 10. 27 Vgl. auch § 4 BBG. 28 Als miteinander eng verknüpfte Regelungen bilden Art. 33 Abs. 4 und 5 GG die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums, vgl. m.w. N. Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 45; Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 33 Rn. 102. 29 Früher „besonderes Gewaltverhältnis“ Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG Rn. 47; vgl. zu den verschiedenen Begrifflichkeiten, Battis, BBG, § 4 Rn. 23 f.; hierzu insgesamt kritisch Ramm, Koalitions- und Streikrecht, S. 36. 30 BVerfG 12.2.2003 – 2 BvL 3/00, E 107, 218, 237 = NVwZ 2003, 1364. 31 In seinem Beschluss vom 14.3.1972 – 2 BvR 41/71, E 33, 1 = NJW 1972, 811, 812 stellte das BVerfG klar, dass die Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“ (heute Sonderstatusverhältnis) nicht die Geltung der Grundrechte außer Kraft setzt. 32 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 333; Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 74; Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 33 Rn. 105; a. A. mit Verweis auf die systematisch nachgeordnete Stellung des Art. 33 GG im Verhältnis zum Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG, Ramm, Koalitions- und Streikrecht, S. 35. 33 BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1039/75, E 44, 249, 264 = NJW 1977, 1869; BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228, 1230; BVerwG 22.11.1979
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Arbeitskampf- bzw. Streikfreiheit der Beamten die Grenze im kollidierenden Regelungsgehalt des Art. 33 Abs. 4 und insbesondere Abs. 5 GG begründet und zwar in Form eines pauschalen Ausschlusses des Streikrechts.34 Diese Rechtsprechung, welcher sich auch die ganz herrschende Rechtslehre35 anschließt, konstituiert einen Eingriff in die konventionsrechtliche Streikfreiheit der deutschen Beamten. Die Eingriffsqualität liegt indes bereits dann vor, wenn die jeweilige Person oder Personengruppe Gefahr läuft, von den Auswirkungen der praktizierten Regelung betroffen zu werden. Es bedarf nicht notwendigerweise eines individuellen Vollzugsakts, etwa in Form einer Disziplinarmaßnahme.36 2. Kein Eingriff aufgrund restriktiver Auslegung des Schutzbereichs? Diskussionswürdig erscheint allerdings der Eingriffscharakter des Beamtenstreikverbots, sofern man Arbeitskampfmaßnahmen im Bereich des deutschen Beamtenrechts von vorneherein nicht dem Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK zurechnete. So erwägt etwa Schubert für diesen Fall eine einschränkende Auslegung des sachlichen Schutzbereichs, sodass die Problematik des Streikrechts für Staatsbedienstete im Beamtenverhältnis letzterem von vorneherein entzogen wäre. Zur Begründung verweist sie auf die Besonderheiten der Ausgestaltung des Beamtenstatus nach deutschem Recht. Insbesondere die dem Dienstherren kraft Gesetzes obliegenden Fürsorge- und Alimentationspflichten sowie die Möglichkeit, diese klageweise geltend zu machen, führten dazu, dass es der Gewährleistung eines konventionsrechtlichen Streikrechts zur effektiven Förderung der Beschäftigteninteressen nicht bedürfe.37 Eine derartige restriktive Auslegung stünde jedoch, wie Schubert bereits selber andeutet,38 im offenen Widerspruch zu der Rechtsprechung des EGMR sowie der dadurch geformten dogmatischen Konzeption des Art. 11 EMRK. Die Auffassung, das Streikrecht sei dann nicht vom Schutzbereich der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit umfasst, wenn den Gewerkschaften andere, gleich geeignete Maßnahmen zur Wahrung ihrer beruflichen Interessen zur Verfügung stünden, entsprach der früheren Rechtsprechungslinie des EGMR bis zur Rechtssache Schmidt und Dahlström39. Wie die vorstehende Untersuchung der Rechtsprechungsentwicklung ge– 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809, 1810; BGH 31.1.1978 – VI ZR 32/77 (Celle), AP Nr. 61 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1978, 816, 817. 34 Zu der näheren Begründung der Rechtsprechung sogleich unter Kapitel 3 B.III. 35 Vgl. Nw. in Fn. 12. 36 Vgl. etwa EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 19 ff. (Enerji Yapi-Yol Sen) m.w. Nw. 37 Dies gelte freilich nur für den Fall des Bestehens eines die Beamteninteressen ausreichend berücksichtigenden Beteiligungs- und Verhandlungsprozesses Schubert, AöR 2012, 92, 106 ff. 38 Schubert, AöR 2012, 92, 106. 39 Vgl. oben Kapitel 2 A.II.2.a).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
zeigt hat, nahm der Gerichtshof von dieser Auslegung schrittweise Abstand40 und erkannte schließlich in Enerji Yapi-Yol Sen das Streikrecht explizit als geschützte Kollektivmaßnahme innerhalb der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit an.41 Mithin scheidet die Möglichkeit, Streikrechtsbeschränkungen durch eine restriktive Auslegung des Schutzbereichs der Bewertung am Maßstab des Art. 11 Abs. 1 und insbesondere des Abs. 2 EMRK zu entziehen, aus.42 Das „Ob“ der Streikrechtsgewährleistung soll damit grundsätzlich nicht mehr im Gestaltungsermessen der Konventionsstaaten liegen.43 Hieran ändert auch der Hinweis auf die Besonderheiten der Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung nichts. So hat der Gerichtshof das insbesondere von der türkischen Regierung bereits mehrfach vorgebrachte Argument, Art. 11 EMRK sei aufgrund der besonderen Beschäftigungsbedingungen der türkischen „Beamten“ von seinem sachlichen Anwendungsbereich her („ratione materiae“) nicht anwendbar, jedes Mal ausdrücklich zurückgewiesen44. Folglich können die nationalen Besonderheiten hinsichtlich der Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen, sofern hierzu überhaupt geeignet, lediglich auf der Ebene der Rechtfertigung von Einschränkungen des Schutzbereichs des Art. 11 EMRK Bedeutung erlangen. Das in Deutschland geltende Streikverbot für die Gruppe der Beamten stellt somit jedenfalls einen Eingriff in deren Rechte aus Art. 11 Abs. 1 EMRK dar.45 Zu klären ist mithin im Folgenden, ob dieser Eingriff unter den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden kann.
II. Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK In seinem Urteil in der Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen etablierte der EGMR nicht nur die konventionsrechtliche Streikrechtsgarantie, sondern stellte zugleich auch heraus, dass die Konvention diese keineswegs absolut gewährleiste, Ein40
Oben Kapitel 2 A.II.2.b). Oben Kapitel 2 A.II.4. 42 Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der Aufgabe der früher durch das BVerfG judizierten Kernbereichslehre. Nach deren „Klarstellung“ durch das BVerfG (14.11. 1995 – 1 BvR 601/92, E 93, 352 = NJW 1996, 120) wäre es nunmehr ebenfalls ausgeschlossen, eine koalitionsspezifische Maßnahme aus dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG auszunehmen, weil sie – etwa aufgrund anderer, gleich geeigneter und kompensatorisch wirkender Maßnahmen – nicht als essentielle und somit dem Kernbereich zugehörige Handlungsweise zu qualifizieren wäre. 43 Dies gilt, wie gesehen, auch für die dem Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK unterfallenden Gruppen, siehe oben Kapitel 2 A.III.2.a)aa). 44 Vgl. oben Kapitel 2 A.II.3.b)aa) und insbesondere Fn. 92. Darüber hinaus hält beispielsweise auch der ILO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit diesen Einwand für unbeachtlich, vgl. etwa ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 589. 45 Dies wird auch von der ganz überwiegenden Mehrheit der Befürworter der Konventionskonformität des Beamtenstreikverbots nicht in Abrede gestellt. 41
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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schränkungen also ausdrücklich möglich seien.46 Art. 11 Abs. 2 EMRK gibt dabei die näheren Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Restriktionen der Rechtsgewährleistungen des Abs. 1 vor, an welchen sich also auch das deutsche Beamtenstreikverbot messen lassen muss. 1. Bestehen einer Rechtsgrundlage Eine Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK setzt stets das Bestehen einer ausreichenden Rechtsgrundlage für den Eingriff voraus. Abgesehen von vereinzelten landesgesetzlichen Regelungen fehlt es an einer bundeseinheitlichen formal-gesetzlichen Normierung des Beamtenstreikverbots in Deutschland. Das BVerfG ermittelt dieses vielmehr in gefestigter Rechtsprechung im Wege der Auslegung des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG. Nach dem vom EGMR zugrunde gelegten materiellen Verständnis des Gesetzesbegriffs47 stellt diese Rechtsprechung eine ausreichende Rechtsgrundlage für das Streikverbot dar. Insbesondere sind die dem Rechtsstaatsprinzip geschuldeten Anforderungen an die Möglichkeit der Kenntniserlangung durch den Normunterworfenen sowie die Bestimmtheit der Regelung im Falle des Beamtenstreikverbots gewahrt.48 Mithin handelt es sich um einen Eingriff, der gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK „gesetzlich vorgesehen“ ist. 2. Der Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK normiert einen besonderen Einschränkungsvorbehalt für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung. Wie vorstehend festgestellt,49 modifiziert der Vorbehalt dabei die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK dergestalt, dass er den Katalog legitimer Zwecke ergänzt. Auch im Falle der Anwendbarkeit des Satz 2 müssen folglich die sonstigen Voraussetzungen zusätzlich erfüllt sein. Fraglich ist somit, ob das Streikverbot für Beamte einen gerechtfertigten Eingriff im Sinne dieser Regelung darstellt. Dazu müsste zunächst der Anwendungsbereich eröffnet sein. a) Polizei und Streitkräfte In den Bereichen der Polizei und Streitkräfte bestehen in der Bundesrepublik weitreichende statusbezogene Streikverbote. So stellen die Beamten bei der Polizei den weit überwiegenden Teil der Beschäftigten, insbesondere bei den Einsatz46 47 48 49
EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen). Oben Kapitel 2 A.III.1.a). Dazu oben Kapitel 2 A.III.1.a). Kapitel 2 A.III.2.a)bb)(1).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
kräften und generell im Vollzugsdienst.50 Die Bundeswehr beschäftigt rund 185.542 Soldatinnen und Soldaten51, denen ebenfalls das Streikrecht versagt ist. Diese Einschränkungen der Streikfreiheit der Betroffenen unterfallen dem Anwendungsbereich des Einschränkungsvorbehalts des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK, sodass sie, vorbehaltlich einer im Einzelfall abweichenden Bewertung sowie eine willkürfreie Ausgestaltung der Verbote vorausgesetzt, dem Grunde nach gerechtfertigt werden können. b) Staatsverwaltung Neben der Polizei und den Streitkräften gilt auch für die Mitglieder der Staatsverwaltung ein besonderer Einschränkungsvorbehalt. Dieser bestimmt sich konventionsautonom und umfasst all diejenigen Staatsbediensteten, die im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben direkt oder indirekt mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Staatsgewalt und der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut sind. Anders als das deutsche Beamtenstreikverbot, knüpft Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK mögliche Einschränkungen somit an die jeweilig ausgeübten Aufgaben und Funktionen und nicht an den Status. Allerdings basiert auch die das statusrechtliche Streikverbot prägende Zweiteilung der Angehörigen des deutschen öffentlichen Diensts grundsätzlich auf der nach Aufgabenbereichen differenzierenden Organisationsvorschrift des Art. 33 Abs. 4 GG. Diese weist die Erfüllung „hoheitsrechtlicher Befugnisse“ in der Regel den im Beamtenverhältnis beschäftigen Staatsbediensteten zu und wählt somit ein dem konventionsrechtlichen Staatsverwaltungsbegriff ähnliches Differenzierungskriterium.52 Zusätzlich zu der Frage, ob mit dieser terminologischen Überschneidung auch eine vergleichbare inhaltliche Auslegung durch die jeweiligen Gerichte einhergeht, gilt es jedoch zu beachten, dass in Deutschland auch jenseits des Anwendungsbereichs des Art. 33 Abs. 4 GG Beamtenverhältnisse begründet werden.53 Obschon sich also der Beamtenstatus und das damit verbundene Streikverbot nicht ausschließlich an der Aufgabenzuweisung des Art. 33 Abs. 4 GG ausrich-
50 Von rund 308.789 Beschäftigten bei Polizei und Bundespolizei sind 262.148 beamtet, Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 49, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/FinanzenSteuern/OeffentlicherDienst/PersonaloeffentlicherDienst.html (Stand: 27.5.2015); vgl. auch Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, S. 122; Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 259. 51 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 28, siehe Fn. 50. 52 Vgl. darüber hinaus auch § 3 Abs. 2 BeamtStG und § 5 BBG. 53 Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 86; vgl. auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 49.
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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ten,54 stellt die deutsche statusrechtliche Abgrenzung, anders als etwa die türkische Regelung in der Sache Enerji Yapi-Yol Sen55, keine gänzlich undifferenzierte und damit per se unvereinbare Ausgestaltung dar.56 Gleichwohl lässt diese Feststellung nicht die Notwendigkeit einer näheren Überprüfung entfallen. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass der Gerichtshof stetig darauf hinweist, dass die Einschränkungen des Streikrechts so eng wie möglich gefasst sein müssen. Auch die sonstige europäische und internationale Spruchpraxis ist ersichtlich um eine restriktive Anwendung der Ausnahmevorschriften für die Angehörigen der Staatsverwaltung bemüht.57 aa) Abstrakt-funktionelle Überprüfung Fraglich ist zunächst, inwiefern sich die deutschen Beamtenverhältnisse bei abstrakt-funktioneller Betrachtung dem Bereich der Staatsverwaltung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zuordnen lassen. Im deutschen öffentlichen Dienst sind Beamte mit jeglicher Art öffentlicher Aufgabenwahrnehmung betraut. Zunächst schreibt die verfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 33 Abs. 4 GG die Begründung des Statusverhältnisses in der Regel in solchen Bereichen vor, in denen hoheitsrechtliche Befugnisse ausgeübt werden.58 Entsprechend finden sich Beamte und somit auch statusrechtliche Streikverbote in allen Aufgabengebieten der klassischen Hoheitsverwaltung, wie etwa im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Justiz, Finanzverwaltung, Auswärtigen Angelegenheiten und sonstigen höheren Verwaltung aber auch in Teilen der politischen Führung.59 Diese Bereiche sind, von im Einzelfall vorzunehmenden Korrekturen abgesehen, auch unter den Begriff der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zu fassen. Statusbezogene Streikverbote für deutsche Richter, Ministerialbeamte oder sonstige vergleichbare Positionen lassen sich somit auf diesem Wege grundsätzlich rechtfertigen.60 Darüber hinaus sind auch Teile der Leistungsver54 Mitunter wird sogar angenommen, dass die Organisationsvorschrift des Art. 33 Abs. 4 GG in ihrer derzeitigen Auslegung in der Praxis gänzlich untauglich sei, die Aufgabenbereiche der Beamten und Arbeitnehmer sinnvoll abzugrenzen, vgl. etwa Költzow, Verteilung von Dienstposten, S. 84. 55 Oben Kapitel 2 A.II.4.b)bb). 56 Jedenfalls bis zu diesem Punkt kann den oben genannten Stimmen (vgl. Fn. 3), welche das Beamtenstreikverbot als konventionskonforme Streikrechtsausgestaltung betrachten, beigepflichtet werden. In diese Richtung auch Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 54; Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 37. 57 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen), vgl. auch Kapitel 2 A.III.2.b)bb). 58 Näher zu Begriffserläuterung unten Kapitel 3 B.III.2.b)bb). Vgl. auch § 5 BBG und § 3 Abs. 2 BeamtStG. 59 Vgl. die Einteilung bei Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 49, siehe Fn. 50. 60 Vgl. auch BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
waltung unter die Ausnahmeregelung zu subsumieren, jedenfalls dann, wenn staatliche Leistungen oder Vergünstigungen durch Hoheitsakt gewährt werden. Beispielhaft können also die Streikverbote für Beamte in Bereichen der Sozialversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit bzw. deren Untergliederungen als Tätigkeiten innerhalb der „Staatsverwaltung“ gerechtfertigt sein, sofern die betroffenen Beamten an der hoheitlichen Leistungsgewährung unmittelbar oder mittelbar beteiligt sind. In allen übrigen Tätigkeitsbereichen kann jedenfalls abstrakt-aufgabenbezogen nicht von Staatsverwaltung im Sinne des Konventionsrechts gesprochen werden, obgleich der deutsche Verwaltungsapparat auch hier Beamte beschäftigt und somit generelle Streikverbote bestehen. Neben sonstigen eindeutig nicht-hoheitlichen Verwaltungstätigkeiten61 betrachtet das Konventionsrecht dabei insbesondere die Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Daseinsvorsorge durch Wirtschafts- und Industrieunternehmen des Staates bzw. mit staatlicher Beteiligung, als auch die Aufgaben des Bildungssektors, nicht als Ausübung hoheitlicher Befugnisse.62 Auch in diesen Bereichen sind allerdings vielfach beamtete Staatsbedienstete tätig.63 Insgesamt zeigt sich somit, dass sich weite Teile der beamtenrechtlichen Aufgabenerfüllung nicht unter den konventionsrechtlichen Begriff der Staatsverwaltung fassen lassen und somit auch eine Rechtfertigung der entsprechenden Streikverbote über Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ausscheidet.64 Eine Überprüfung aller Einsatzbereiche von Beamten im deutschen öffentlichen Dienst sowie den privatisierten ehemaligen Staatsunternehmen kann durch die vorliegende Bearbeitung nicht geleistet werden. Allerdings wurde und wird die Bundesrepublik im Rahmen der internationalen Überwachungspraxis durch die Spruchkörper der ILO, der ESC sowie des IPWSKR wiederholt in zwei Bereichen auf Missstände in der Streikrechtsgewährleistung hingewiesen.65 Diese Kritik bezog sich vornehmlich auf die Streikverbote für die bei den privatisierten ehemaligen Staats61 Zu denken ist etwa an rein organisatorische Aufgaben der allgemeinen Kommunalverwaltung, beispielsweise in den Bereichen Kultur oder Sport. Auch diese Kategorisierung erfolgt stets unter dem Vorbehalt, dass dieser Befund im Einzelfall aufgrund konkret-funktioneller Aspekte abweichenden zu bewerten ist. 62 Oben Kapitel 2 A.IV.2.b)bb)(1). Insoweit erforderliche Streikrechtseinschränkungen fallen alleine in den Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK, vgl. oben Kapitel 2 A.III.2.b)cc)(3). 63 Siehe den Überblick bei Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 49, siehe Fn. 50. 64 Nicht überzeugend ist insoweit die Argumentation Laubingers (in: FS Klein, S. 1141, 1166), nach welcher er für jedes tatsächlich existierende Beamtenverhältnis alleine aufgrund der gesetzlichen „Statusbegründungsvoraussetzungen“ der § 5 BBG sowie § 3 Abs. 2 BeamtStG bereits das Bestehen einer ausreichenden „funktionellen Legitimation“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK annimmt. Vgl. auch Hebeler, ZBR 2012, 325, 329 ff. 65 Dazu sogleich unter Kapitel 3 A.II.2.b)bb)(2).
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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unternehmen der Deutschen Post AG, Deutschen Telekom AG und Deutschen Postbank AG sowie der Deutschen Bahn AG eingesetzten Beamten als auch die Restriktionen für beamtete Lehrkräfte. Die nachfolgende konkret-funktionelle Überprüfung soll sich somit exemplarisch auf diese Bereiche beschränken. bb) Konkret-funktionelle Überprüfung; Eine punktuelle Analyse (1) Punktuelle Analyse des Beamteneinsatzes in Daseinsvorsorge und Bildungssektor Das Konventionsrecht grenzt die Staatsverwaltung klar ab von sonstigen öffentlichen Aufgaben insbesondere im Bereich von Versorgungsdienstleistungen und Bildung.66 In der deutschen Verwaltungsorganisation sind Beamte allerdings vielfach mit der Wahrnehmung von öffentlichen Versorgungsaufgaben betraut und auch im Bildungswesen stellen sie einen erheblichen Teil der Beschäftigten. Die Einsatzbereiche in der Versorgung reichen dabei von der Wasser- und Energieversorgung über die Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur bis hin zur Flugsicherung und Abfallentsorgung.67 In der jüngeren Zeit wurden weite Teile der Daseinsvorsorge in private Organisationsformen überführt oder die Aufgabenwahrnehmung wurde gar gänzlich in private Hände überantwortet.68 Insoweit tritt der Staat nicht mehr primär als Träger hoheitlich organisierter Versorgungsleistungen, sondern, jeweils abhängig von der gewählten Privatisierungsform69, in eigener unternehmerischer Tätigkeit als kommerzieller, im privatwirtschaftlichen Wettbewerb stehender Dienstleister auf.70 Gerade dieser Aspekt veranlasst die internationale Spruchpraxis dazu, derartiges „Staatshandeln“ nicht mehr als hoheitliche Staatsverwaltung zu qualifizieren.71 Den zahlenmäßig weit
66 Freilich sind auch abseits dieser Aufgabenbereiche Zuordnungsdivergenzen und die daraus gegebenenfalls resultierende konventionsrechtliche Unzulässigkeit genereller Streikverbote keinesfalls ausgeschlossen, gleichwohl wird sich die weitere Bearbeitung besonders auf die gennannten Tätigkeitsfelder konzentrieren. 67 Vgl. zum Überblick Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 49, Fn. 50. 68 Vgl. etwa Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 39 ff. Nahezu alle genannten Bereiche hatte auch bereits die EU-Kommission in ihrer systematischen Aktion vom 18.3.1988 als nicht der öffentlichen Verwaltung unterfallend bezeichnet. 69 Zu den unterschiedlichen Privatisierungsformen vgl. Ibler, in: Maunz/Dürig, Art. 86 GG Rn. 110 ff. 70 Exemplarisch hierfür ist die Bahnreform. Mit dem Deutsche Bahn Gründungsgesetz (DBGrG) vom 27.12.1993 (BGBl. I S. 2386) erfolgte mit der Gründung der DB AG die Ausgliederung des unternehmerischen Bereichs aus dem Bundeseisenbahnvermögen unter gleichzeitiger Abtrennung des hoheitlichen Bereichs, welcher auf das neu gegründete Eisenbahn Bundesamt übertragen wurde, vgl. § 1 Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetz (BEVVG) vom 27.12.1993 (BGBl. I S. 2378, 2394). 71 Oben Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(6).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
überwiegenden Anteil der beamtet Beschäftigten in diesen Bereichen stellen die Beamten der Deutschen Bahn AG (rund 43.00072), die dieser nach ihrer Privatisierung zugewiesen wurden und die heute noch in den mittlerweile mehrheitlich privat kapitalisierten Postnachfolgeunternehmen73 tätigen Beamten (ca. 88.00074). Die Tätigkeiten, innerhalb dieser nunmehr als privatrechtliche Aktiengesellschaften organisierten Unternehmen, können bei konkret-funktioneller Betrachtung nicht als Ausübung hoheitlicher Befugnisse betrachtet werden. Dies gilt nicht nur für den Einsatz in den unteren Laufbahngruppen, beispielsweise Zugpersonal, Postzusteller oder Beschäftigte im Kundenservice der Filialbetriebe, sondern auch für den gehobenen und höheren Dienst, jedenfalls insofern sich der höhere Laufbahngrad lediglich in einer gesteigerten unternehmerischen Verantwortung widerspiegelt. Eine abweichende Bewertung könnte lediglich in solchen Fällen erwogen werden, in denen Beamte in höheren Positionen mit der Ausübung von hoheitlichen Dienstherrenbefugnissen betraut sind. Diese wurden den privatisierten Post- und Telekommunikationsunternehmen im Wege der Beleihung übertragen.75 Allerdings dient die Beleihung mit Hoheitsrechten alleine der innerbetrieblichen Organisation und letztlich der Ermöglichung der privatwirtschaftlichen Fortführung des Unternehmens.76 Die dienstherrliche Verantwortung für die Wahrung der staatlichen Belange verbleibt dabei in den Händen staatlicher Stellen.77 Somit ist auch insoweit nicht von einer unmittelbaren oder auch nur mittelbaren Beteiligung an der Ausübung von Staatsgewalt auszugehen, die mit den sonstigen Aufgaben der hoheitlichen Staatsverwaltung vergleichbar wäre. Die Beamten in den privatisierten Aktiengesellschaften handeln darüber hinaus nicht primär zur Wahrung staatlicher Belange, sondern orientiert an den Partikularinteressen des Unternehmens, vornehmlich der Gewinnmaximierung. Dies gilt zunächst eindeutig für die mehrheitlich privat kapitalisierten Unternehmen, da erwirtschaftete Gewinne ausschließlich den Kapitaleignern zukommen.78 72 BMI, Daten zur Personalstruktur des öffentlichen Diensts des Bundes, 2011, S. 7, abrufbar unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ 2011/personalstruktur.html (Stand: 27.5.2015). 73 Das Sondervermögen Deutsche Bundespost wurde im Jahre 1994 aufgegliedert und in Unternehmen privater Rechtsform, namentlich Deutsche Post AG, Deutsche Postbank AG und Deutsche Telekom AG, umgewandelt, vgl. Art. 143 b GG sowie das darauf beruhende PostUmwG vom 14. September 1994 (BGBl. I S. 2325). 74 BMI, Daten zur Personalstruktur des öffentlichen Diensts des Bundes, 2011, S. 7, siehe Fn. 72. 75 Vgl. für die Nachfolgeunternehmen der Bundespost Art. 143b Abs. 3 GG bzw. §§ 1 und 3 PostPersRG; für die Deutsche Bahn AG siehe § 12 DBGrG. 76 Vgl. Möstl, in: Maunz/Dürig, Art. 143a GG Rn. 20. 77 Vgl. Art. 143b Abs. 3 GG und Art. 143a Abs. 1 GG: „[. . .] unter Wahrung [. . .] der Verantwortung des Dienstherren [. . .].“ Vgl. auch Kutscha, NVwZ 2002, 942, 943. 78 So etwa für die Nachfolgeunternehmen der Bundespost. An der Postbank AG hält etwa die Deutsche Bank AG mittlerweile über 90 % der Anteile, https://www.deutsche-
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Darüber hinaus steht jedoch auch die Deutsche Bahn AG, an welcher der Bund noch 100 Prozent der Anteile hält, im freien Wettbewerb mit anderen Dienstleistern und unterliegt somit auch den Gesetzmäßigkeiten der Privatwirtschaft. Auch wenn also ein erzielter Gewinn dem Staatshaushalt zufließt, unterscheidet sich die Zielorientierung der Aufgabenwahrnehmung doch ersichtlich von einem ausschließlich den staatlichen Belangen und damit letztlich dem Allgemeinwohl verpflichteten Staatshandeln. Rationalisierung und Effizienzsteigerung sind die Triebfedern der Privatisierung, hinter denen die Maxime des Allgemeinwohls zwar nicht verschwindet, wohl aber zurücktritt. Folglich lassen sich die genannten Beamtengruppen nicht der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zuordnen. Neben dem Gebiet der Daseinsvorsorge ist nach konventionsrechtlichen Maßstäben auch der Bildungssektor regelmäßig nicht der Staatsverwaltung zuzurechnen. In der Bundesrepublik sind im Bildungswesen, einschließlich Wissenschaft, Forschung und kulturellen Angelegenheiten, rund 739.000 Beamte beschäftigt. Innerhalb dieser Gruppe stellen die Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen79 und den Berufsschulen mit rund 658.676 Beamten den größten Anteil.80 Bei einer Gesamtzahl von 957.943 (beamtete und angestellte Lehrer) unterliegen damit über zwei Drittel der in der Bundesrepublik tätigen Lehrer einem generellen Streikverbot. Auch diese Einschränkungen unterfallen dabei nicht dem Ausnahmevorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK. Denn obgleich Lehrer an der Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags mitwirken und im Zuge dessen durch die Vergabe von Noten, das Entscheiden über Versetzungen oder das Bestehen der Abschlussprüfungen auch hoheitlich geprägte Befugnisse im für Schüler, wie auch Eltern, grundrechtlich relevanten Bereich wahrnehmen, kann dennoch nicht von einer schwerpunktmäßig hoheitlichen Aufgabe im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ausgegangen werden.81 Für diese reicht nicht alleine eine Grundrechtsrelevanz der in Rede stehenden Tätigkeit aus. Vielmehr verlangt der Ausnahmevorbehalt eine gewisse „Staatsnähe“, welche sich darin
bank.de/medien/de/content/3862_4052.htm. (Stand: 27.5.2015). Vgl. hierzu schon Benz, DÖV 1995, 679, 683. 79 Hierunter fallen Grund-, Haupt-, Real-, Gesamt- und Sonderschulen sowie Gymnasien und Kollegs. 80 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 48–50, siehe Fn. 50. 81 Auch nach Ansicht des BVerfG (19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1399) nehmen „Lehrer in der Regel nicht schwerpunktmäßig hoheitlich geprägte Aufgaben“ wahr, weshalb sie auch nicht dem Anwendungsbereich des verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalts hinsichtlich der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse nach Art. 33 Abs. 4 GG unterfallen; siehe auch BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/ 13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 740; OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 79; VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 475; Schubert, AöR 2012, 93, 112.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
äußert, dass der Betroffene durch die Wahrnehmung seiner Aufgabe seiner besonderen Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates nachkommt. Dies sind solche Belange, die die Konventionsmitglieder im Rahmen des ihnen zugestandenen Autonomiebereichs zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Staatsapparats verfolgen. Insoweit geht es etwa um staatliche Selbstorganisation, den Schutz innerer und äußerer Sicherheit, die Staatsfinanzierung durch Steuererhebungen82 oder auch die Außenvertretung.83 Gerade dieser besonderen Staatsnähe entbehrt die Funktion des Lehrers etwa im Gegensatz zu den Aufgaben der Polizei, Justiz oder der Ministerialverwaltung.84 Aus diesem Grund kann der Lehrerberuf auch durch Bedienstete ohne besonderes „Treueband zum Staat“ 85 ausgeübt werden und fällt somit nicht unter den Begriff der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK. Festzuhalten bleibt damit, dass sich weder die umfangreichen Streikverbote für die Beamten der Postnachfolgeunternehmen sowie der Deutschen Bahn AG noch für die beamteten Lehrkräfte in der Bundesrepublik im Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK bewegen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das statusrechtliche Beamtenstreikverbot gerade auf diesen Gebieten regelmäßig zum Gegenstand der Kritik der internationalen Überwachungs- und Spruchpraxis wird. (2) Kritik durch die internationale Überwachungspraxis Bei einer überblicksartigen Betrachtung der speziell im Hinblick auf Deutschland ergangenen internationalen Überwachungs- und Spruchpraxis bestätigt sich das bisher gezeichnete Bild.86 Im Rahmen der ILO-Übereinkommen äußerte der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit bereits in zwei Beschwerdeverfahren in den Jahren 1990 und 1993 anlässlich eines Streiks beamteter Lehrer in Hessen87 sowie des Streikbrechereinsatzes von Beamten im Postbereich88 Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des deutschen Beamtenstreikverbots mit den Grundsätzen des Übereinkommens 82
Vgl. EGMR 12.7.2001 – App. 44759/98, NJW 2002, 3453, 3454 (Ferrazzini). Siehe Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 34. 84 Einzig für die Position des Schulleiters könnte aufgrund seiner weitergehenden Befugnisse etwa im Bereich des Disziplinarrechts aber auch des Personaleinsatzes und generell der Schulorganisation über eine abweichende Bewertung nachgedacht werden, vgl. etwa Schubert, AöR 2012, 93, 112; Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 151. 85 Dazu oben Kapitel 2 A.III.2.b)aa)(2)(c). 86 Vgl. insgesamt zur internationalen Spruchpraxis hinsichtlich des deutschen Beamtenstreikverbots, Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 307 ff. 87 ILO-FAC, Case No. 1528 (Germany) – Report No. 277, Rn. 247 ff. 88 ILO-FAC, Case No. 1692 (Germany) – Report No. 291, Rn. 219 ff. 83
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Nr. 87.89 Auch der mit der Kontrolle der turnusmäßigen Staatenberichte betraute Sachverständigenausschuss bestätigt diese Kritik am generellen Streikverbot für beamtete Lehrkräfte in der Bundesrepublik und hält seine Bedenken bis in seine jüngste Spruchpraxis aufrecht.90 Selbiges gilt auch für die statusrechtlichen Streikverbote in den Bereichen der ehemaligen Staatsunternehmen der Deutschen Bundespost und Deutschen Bundesbahn91. Dieser kritischen Bewertung der ILO-Ausschüsse schließt sich auch der über den IPWSKR wachende Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte weitgehend an. Entsprechend befand er zuletzt in seinen Stellungnahmen zum 4. und 5. deutschen Staatenbericht die in der Bundesrepublik bestehenden Streikrechtsrestriktionen für Beamte insbesondere auch im Hinblick auf die Berufsgruppe der Lehrer als zu weitgehend und somit nicht mehr mit den Vorgaben des Art. 8 Abs. 2 IPWSKR92 vereinbar.93 Schließlich richtet sich auch die zunächst allgemein formulierte Kritik an der Pauschalität des deutschen Beamtenstreikverbots durch den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte nunmehr speziell gegen die generellen Restriktionen für die in privatisierten Staatsunternehmen beschäftigten Beamten. So bewertet der Ausschuss das bestehende Streikverbot in Anlehnung an seine Spruchpraxis zum Recht auf Kollektivverhandlung (Art. 6 Nr. 2 ESC) als klaren Verstoß gegen Art. 6 Nr. 4 ESC, da die Betroffenen regelmäßig nicht mit der Wahrnehmung hoheitlicher Staatsbefugnisse betraut seien.94 89 In einem weiteren Verfahren zum Recht beamteter Lehrer auf Kollektivverhandlungen stellte der Ausschuss klar, dass Lehrer keine spezifischen Aufgaben der Staatsverwaltung wahrnähmen und ihnen somit die Gewährleistungen des ILO-Übereinkommens Nr. 98 nicht vorenthalten werden dürften, vgl. ILO-FAC, Case No. 1528 (Germany) – Report No. 1820, Rn. 109, 111. 90 Vgl. bereits ILC, CEACR Report III (Part 3), 1987, S. 179 ff.; zuletzt ILC, CEACR Report III (Part 1A), 2010, S. 147; ILC, CEACR Report III (Part 1A), 2012, S. 157 f. 91 Zuletzt ILC, CEACR Report III (Part 1A), 2012, S. 157 f.: „The Committee is of the view that teachers, postal workers and railway employees with the status of civil servant (Beamte) do not exercise authority in the name of the State and should there fore be allowed, without prejudice to the possibility of establishing a minimum service, to exercise the right to strike, which the Committee understands is available to private sector teachers, postal workers and railway employees as well as to teachers with the status of employee in the public sector (Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes).“ 92 Vgl. zu diesen nochmals Kapitel 2 A.III.2.b)bb)(4). 93 CESCR, Concluding Observations Germany 2011 (E/C.12/DEU/CO/3), Rn. 20; CESCR, Concluding Observations Germany 2001 (E/C.12/1/Add.68), Rn. 22: „The Committee reiterates its concern, in line with the Human Rights Committee and the ILO Committee of Experts, that the prohibition by the State party of strikes by public servants other than public officials who do not provide essential services, such as judges, so-called Beamte and teachers, constitutes a restriction of the activities of trade unions that is beyond the scope of article 8 (2) of the Covenant.“ 94 Vgl. etwa ECSR, Conclusions ESC XVI-1 (2002), Vol. 1, S. 250 (Germany); ECSR, Conclusions ESC XVII-1 (2004), Vol. 1, S. 206 (Germany). In den darauffolgen-
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Insgesamt zeigt sich also, dass sich die internationale Kritik bezüglich des deutschen Beamtenstreikverbots maßgeblich auf den Berufsbereich der Lehrer sowie die bei den privatisierten Postnachfolgeunternehmen und der Deutschen Bahn AG eingesetzten Beamten konzentriert. Freilich lässt sich hieraus keinesfalls der Umkehrschluss ziehen, dass die sonstigen Einsatzbereiche der deutschen Beamten und die damit verbundenen generellen Streikverbote durch die internationale Überwachungspraxis toleriert würden. Vielmehr betonen die Überwachungsorgane fortwährend, dass Streikrechtsrestriktionen für Angehörige der Staatsverwaltung nur insoweit zulässig seien, wie letztere auch tatsächlich an der Ausübung hoheitlicher Staatsbefugnisse beteiligt seien. Auffallend ist gleichwohl die Einheitlichkeit der Bewertung der Streikrechtsausgestaltung im deutschen öffentlichen Dienst durch die internationale Spruchpraxis, aus welcher sich jedenfalls eine faktische präjudizielle Wirkung hinsichtlich der Frage nach der Zulässigkeit von generellen Streikverboten in den genannten Bereichen ergibt. Aus konventionsrechtlicher Perspektive gilt dies umso mehr mit Blick auf die verstärkte Inbezugnahme der internationalen Spruchpraxis im Rahmen der evolutiven Konventionsauslegung durch den EGMR.95 Hierdurch wird also der vorstehende Befund nochmals verfestigt. (3) Bestätigung durch Rechtsprechung des EGMR Schließlich sieht sich das Ergebnis der vorstehenden konkret-funktionellen Prüfung auch unmittelbar durch die Rechtsprechung des EGMR sowie die sonstigen konventionsrechtlichen Grundsätze bestätigt. So wurde bereits gezeigt, dass der Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung – auch ohne expliziten Rekurs auf internationale Rechtsgrundsätze – davon ausgeht, dass Lehrer grundsätzlich keine Aufgaben der Staatsverwaltung erfüllen.96 Ebenso hat der Gerichtshof in Enerji Yapi-Yol Sen explizit festgestellt, dass sich ein Streikverbot für Angestellte in Wirtschafts- und Industrieunternehmen des Staates97 nicht auf den Einschränkungsvorbehalt für die Angehörigen des öffentlichen Diensts stützen lässt.98 Auch wenn diese Rechtsprechung nicht in Bezug auf Deutschland erganden Schlussfolgerungen in den Jahren 2006 (ECSR, Conclusions ESC XVII-1, Vol. 1, S. 306, vgl. auch 304) und 2010 (ECSR, Conclusions ESC XXI-3 (2010), S. 104 f.) vertagte der Ausschuss mit Blick auf die aus seiner Sicht unklaren Folgen der Entscheidung des BVerwG vom 7.6.2000 (1 D 4/99, E 111, 231 = NVwZ 2001, 810) für die gennannten Berufsgruppen auf eine abschließende Entscheidung. 95 Vgl. hierzu erneut oben Kapitel 2 A.II.3.a). 96 Siehe oben Kapitel 2 A.II.5.b). 97 Es ist davon auszugehen, dass dies erst recht für privatisierte Staatsunternehmen gilt. Dies gilt insbesondere wenn man die Formulierung im Zusammenhang mit dem vorstehenden Verweis auf die Entscheidung in der Sache Pellegrin und der darin wiederum enthaltenen Bezugnahme auf die Mitteilung der EU-Kommission vom 18.3.1988. 98 EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 32 (Enerji Yapi-Yol Sen).
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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gen ist, fügt sie sich von ihrer Tendenz her gleichwohl in das vorstehend gezeichnete Bild ein und bestätigt nochmals die getroffenen Zuordnungen. c) Verhältnismäßigkeit, Willkürkontrolle Ist der Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK eröffnet, so müssen etwaige Streikrechtsbeschränkungen lediglich willkürfrei ausgestaltet sein.99 Dies bedeutet, dass es für Betroffene, die in gleicher Funktion tätig sind, keine Ungleichbehandlung in Bezug auf die Verbotsmaßnahme geben darf, die nicht in der Aufgabe und den damit verbundenen Verantwortlichkeiten begründet liegt. Auch insoweit müssen vielerorts Streikverbote in Deutschland einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. So ist es häufige Praxis, dieselben Aufgaben aus sachfremden, mitunter zufälligen Erwägungen, zumeist Kosten- und Opportunitätsgründen, wahlweise mit Beamten oder Arbeitnehmern bzw. Angestellten zu besetzen.100 Dies führt zu einem Nebeneinander streikberechtigter Arbeitnehmer und nicht-streikberechtigter Beamter in identischen Funktionsbereichen und konstituiert somit einen Verstoß gegen das konventionsrechtliche Verbot willkürlicher Ungleichbehandlungen gemäß Art. 11 i.V. m. 14 EMRK. Besonders signifikant tritt die oben beschriebene Praxis erneut in den Bereichen der privatisierten Postnachfolgeunternehmen und der Deutschen Bahn AG sowie in Reihen der Lehrkräfte an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen zutage. In allen Bereichen arbeiten Beamte und Arbeitnehmer in identischer Funktion nebeneinander, ohne das ihnen dabei das Streikrecht gleichermaßen eingeräumt bzw. berechtigterweise unterschiedlich gewährt würde. Selbst wenn man also die Aufgabenbereiche unter den Anwendungsbereich der Staatsverwaltung fasste, so könnten jedenfalls im Fall des funktionsgleichen Nebeneinanders von Arbeitnehmern und Beamten die Streikverbote für letztere nicht gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gerechtfertigt werden. d) Zwischenergebnis Das statusbezogene deutsche Beamtenstreikverbot unterfällt teilweise dem Anwendungsbereich des Einschränkungsvorbehalts nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK. Allerdings bestehen in der Bundesrepublik auch außerhalb dieser Gebiete hoheitlicher Staatsverwaltung umfangreiche beamtenrechtliche Streikverbote, welche sich nicht über die Ausnahmeregelung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK 99 Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit besteht für die Konventionsstaaten ein besonderer Beurteilungsspielraum, vgl. oben Kapitel 2 A.IV.2.c). 100 Siehe etwa VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 475; Buschmann, in: FS Kempen, S. 255, 262; Greiner, DÖV 2013, 623, 630; Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 86; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 212.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
rechtfertigen lassen. Dies gilt neben anderen Verwaltungssektoren insbesondere für die Daseinsvorsorge und das Bildungswesen. Innerhalb dieser Bereiche stellt die internationale Überwachungs- und Spruchpraxis die Beamtenstreikverbote in den Berufsgruppen der Lehrer sowie der Beschäftigten bei der Deutschen Bahn AG und der Postnachfolgeunternehmen verstärkt heraus. Die konventionsrechtlich gebotene konkret-funktionelle Überprüfung bestätigt, dass die hier beschäftigten Beamten grundsätzlich nicht mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Staatsgewalt betraut sind. Sie verantworten in ihrer Funktion nicht die Wahrung allgemeiner Belange des Staates und sind somit nicht dem konventionsrechtlichen Begriff der Staatsverwaltung zuzuordnen. Dies zeigt exemplarisch, dass sich das statusbezogene Streikverbot in beträchtlichen Teilen beamtenrechtlicher Aufgabenerfüllung nicht über den Sondereingriffsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK rechtfertigen lässt. Auch wenn der Anwendungsbereich im Geltungsbereich eines beamtenrechtlichen Streikverbots eröffnet ist, lässt sich dieses gleichwohl nicht gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK rechtfertigen, sofern in gleicher Funktion ohne sachlichaufgabenbezogenen Differenzierungsgrund streikberechtigte Staatsbedienstete beschäftigt werden. Scheidet eine Anwendung der Ausnahmeregelung für die Mitglieder der Polizei, der Streitkräfte oder der Staatsverwaltung aus, so verbleibt lediglich noch die Rechtfertigungsmöglichkeit nach den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK. 3. Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK Zu prüfen ist schließlich, inwiefern eine Rechtfertigung des deutschen Beamtenstreikverbots, insbesondere in den nicht der „Staatsverwaltung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zuordenbaren Bereichen, mithilfe des allgemeinen Einschränkungsvorbehalts gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK möglich ist. Hierzu fordert Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK neben einer ausreichenden Rechtsgrundlage, deren Bestehen bereits positiv festgestellt wurde101, dass die Einschränkungen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. a) Verfolgung eines legitimen Zwecks Es erscheint durchaus zweifelhaft, ob sich die mit dem Beamtenstatus verbundenen Streikverbote in jeder Konstellation einem legitimen Zweck im Sinne des 101
Oben Kapitel 3 A.II.1.
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK zuordnen lassen. Gerade die Einschränkungen zum Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit sowie zur Aufrechterhaltung der Ordnung setzen das Bestehen einer konkreten Gefährdungslage102 und somit ein Umstandsmoment voraus, welches dem statusbezogenen Beamtenstreikverbot fremd ist. Andererseits ist der Wortlaut insbesondere auch bei der Einschränkungsmöglichkeit zum Schutz von Rechten und Freiheiten anderer sehr weit gefasst, woraus sich ein Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten ergibt. Betrachtet man etwa beispielhaft die statusrechtlichen Streikverbote in den Berufsgruppen der Lehrer und der Beschäftigten bei den Aktiengesellschaften der Postnachfolgeunternehmen sowie der Deutschen Bahn, so ließe sich innerhalb eines weiten Beurteilungsspielraums der Bundesrepublik jedenfalls mit dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, also einer möglichen Drittbetroffenheit im Streikfalle, argumentieren. Entscheidend ist letztlich also die Frage nach der Notwendigkeit der Verbotsmaßnahme innerhalb einer demokratischen Gesellschaft. Auch der Gerichtshof ließ selbst in Fällen, in welchen er eine Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK im Ergebnis eindeutig ablehnte, die Frage, ob der in Rede stehende Eingriff ein legitimes Ziel im Sinne der Norm verfolgt, soweit ersichtlich stets offen.103 Im Zweifel wird sich also die Beamtenstreikverbotsregelung als solche bzw. eine diese durchsetzende Maßnahme als auf die Förderung eines legitimen Ziels im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK gerichtet verstehen lassen.104 Ausschlaggebend ist demnach, ob das statusrechtliche Streikverbot einen verhältnismäßigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK darstellt. b) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft bedeutet, dass die eingreifende Maßnahme einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und die angewandten Mittel zur Erreichung des berechtigten Ziels dabei verhältnismäßig ausfallen. Konstituiert sich der Eingriff in einer generellen Versagung eines im Grundsatz durch Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgten Rechts, so ist ein strenger Prüfungsmaßstab an die jeweilige Regelung oder Durchführungsmaßnahme anzule102
Oben Kapitel 2 A.III.1.b). Vgl. etwa EGMR 21.4.2009 – App. 68959/01, Rn. 28 (Enerji Yapi-Yol Sen); EGMR 17.7.2008 – App. 23018/04 u. a., Rn. 29 (Urcan aO); siehe auch Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rn. 108. 104 Bei der Überprüfung von Maßnahmen der rechtsanwendenden Organe, etwa eines nationalen Gerichtsurteils, erkennt der EGMR als legitimen Zweck bereits die Verhinderung des Auseinanderfallens der geltenden Rechtslage und der praktischen Anwendung als Aufrechterhaltung der Ordnung („intended to prevent disorder“) im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK an, obschon die angewandte Regelung an sich einen Verstoß gegen das Konventionsrecht begründet, vgl. EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 118 (Demir and Baykara). 103
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
gen. Demzufolge ist der Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten hinsichtlich der Frage des „Ob“ der Streikrechtsgewährleistung nur sehr begrenzt.105 Das Beamtenstreikverbot muss sich folglich geradezu zwingend und darüber hinaus auch alternativlos aus der Wesentlichkeit der jeweilig wahrgenommenen Aufgabe zur Wahrung des verfolgten Zwecks ergeben. In Orientierung an der internationalen Spruchpraxis ist bei der Ausübung öffentlicher Aufgaben ein generelles Streikverbot konventionsrechtlich nur dann als zulässig zu erachten, wenn durch einen streikbedingten Ausfall der Aufgabenwahrnehmung elementarste Schutzgüter, wie das Leben, die Gesundheit oder die Sicherheit der Bevölkerung gefährdet würden; mit anderen Worten bei Drittbetroffenheit in existentiell lebenswichtigen Bereichen („essential services in the strict sense of the term“). Angenommen wird dies etwa für den Krankenhausdienst, die Elektrizitäts- und Wasserversorgung, den Telekommunikationssektor, den Feuerwehrdienst, öffentliche oder private Gefängnisse, die Essensversorgung von Schülern im schulpflichtigen Alter und Reinigung der Schulen sowie die Flugsicherung.106 Dies vorausgesetzt scheint etwa für beamtenrechtliche Streikverbote der Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern sowie der Beamten bei der Telekom AG, bei der Berufsfeuerwehr, im Strafvollzug oder in der mittlerweile privatisierten Flugsicherung auf den ersten Blick eine Möglichkeit der Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK zu bestehen. Zu beachten ist allerdings, dass die Konventionsstaaten auch in diesen Bereichen nicht befugt sind, willkürlich Streikverbote zu erlassen. Vielmehr bedarf es auch hier einer nach funktionalen und organisatorischen Kriterien ausdifferenzierten Regelung. Rechtseinschränkungen sind nur insoweit zulässig, wie die in Rede stehende Tätigkeit für die Funktionsfähigkeit des Versorgungsdienstes erforderlich ist.107 Dabei ist mit Blick auf Art. 14 und 1 EMRK auf eine einheitliche und diskriminierungsfreie Ausgestaltung innerhalb ähnlicher und vergleichbarer Funktionskreise zu achten, bei welcher statusrechtliche Besonderheiten keine Berücksichtigung finden. Vor diesem Hintergrund kann das deutsche Beamtenstreikverbot auch in den oben genannten lebenswichtigen Versorgungsbereichen nicht als zulässige Streikrechtsbeschränkung im Sinne des Konventionsrechts betrachtet werden. In nahezu allen Bereichen werden Beamte in gleicher Funktion beschäftigt wie streikberechtigte Arbeitnehmer, ohne dass die unterschiedliche Rechtsgewährleistung abseits des Berufsstatus eine Begründung fände. Bei der Abwägung des Streikrechts mit kollidierenden Rechtsgütern Dritter kann es jedoch keine Rolle spielen, ob oder in welchem Statusverhältnis der an sich Streikberechtigte steht. Einzige Abwägungskriterien sind die betroffenen Rechtsgüter und die Bedeutung der in Rede stehenden Tätigkeit für den Schutz derselben. Wollte man beispielsweise zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung die Aufrechterhaltung einer medizinischen 105 106 107
Vgl. hierzu bereits oben Kapitel 2 A.IV.3.c). Oben Kapitel 2 A.III.1.c)bb). Vgl. etwa ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 593.
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Versorgung durch Streikverbote für Ärzte oder jedenfalls Notfallärzte in Krankenhäusern sichern, so rechtfertigte dies, unabhängig von der Ausgestaltung des jeweiligen Beschäftigungsverhältnisses, Streikverbote in eben diesen Funktionsbereichen. Beamtenrechtliche Streikverbote lassen sich demnach nur dann gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK rechtfertigen, wenn sie im Bereich lebenswichtiger Versorgungsleistungen in einheitlicher Ausgestaltung die für die Funktionsfähigkeit wesentlichen Positionen betreffen. Diese Anforderungen erfüllt die deutsche Verbeamtungspraxis in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht, sodass eine umfassende Rechtfertigung auch in den Bereichen essentieller Daseinsvorsorge ausscheidet.108 In allen sonstigen Gebieten öffentlicher Aufgabenwahrnehmung kann eine Arbeitsniederlegung zwar auch die Rechtspositionen Dritter berühren, allerdings ist es insoweit ausreichend, eine Mindestversorgung durch organisatorische Umstrukturierungen oder die Vereinbarung von Notdiensten sicherzustellen; Streikverbote dagegen scheiden im Regelfall aus.109 Für Deutschland hat die europäische und internationale Überwachungspraxis dies erneut in besonderem Maße betont für die beamtet Beschäftigten bei den Postnachfolgeunternehmen und der Deutschen Bahn AG sowie die Lehrer im deutschen Schulsystem.110 Betrachtet man den nationalen Diskurs über mögliche Beschränkungen in diesen Bereichen – freilich abseits der beamtenrechtlichen Sonderproblematik –, so zeigt sich ebenfalls, dass generelle Streikverbote überwiegend nicht als erforderlich erachtet werden, um den Schutz der Grundrechtspositionen Dritter zu gewährleisten.111 Zwar beeinträchtigen Streikmaßnahmen regelmäßig Grundrechte der Bürger, weshalb Beschränkungen jedenfalls deren Schutz und damit einem legitimen Zweck im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK dienen. So betrifft etwa ein Lehrerstreik sowohl die Grundrechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 108 Zur Uneinheitlichkeit der Verbeamtungspraxis vgl. Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 86 m.w. Nw. Streikverbote zum Schutz wichtiger Rechtsgüter Dritter können darüber hinaus nur dann als konventionsrechtlich zulässig erachtet werden, wenn den Verbotsbetroffenen im Gegenzug ausreichende kompensatorische Garantien zur Wahrung und Verfolgung ihrer Interessen eingeräumt werden. Die Beteiligungsrechte der Gewerkschaftsverbände beim Beamtengesetzgebungsverfahren (vgl. etwa § 53 BeamtStG und § 118 BBG) sind insoweit nicht ausreichend, vgl. auch Greiner, DÖV 2013, 623, 629; Schubert, AöR 2012, 92, 109 ff. 109 Oben Kapitel 2 A.IV.3.c). 110 Insofern kann auf die oben (Kapitel 3 A.II.2.b)bb)(2)) zitierten Nachweise der Spruchpraxis verwiesen werden. Die Stellungnahmen der Überwachungsgremien unterscheiden nicht immer eindeutig zwischen einer möglichen Rechtfertigung von Streikrechtsrestriktionen aufgrund der Zugehörigkeit zur Staatsverwaltung oder der Ausübung sog. essential services. Jedenfalls aber wurden die in den genannten Bereichen bestehenden generellen Streikverbote unisono als nicht erforderlich angesehen, da das öffentliche Interesse auch auf alternativem Wege, etwa durch die Vereinbarung von Notdiensten, ausreichend gewahrt werden könne. 111 Hierzu Franzen/Thüsing/Waldhoff, GesetzE; ausführlich Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 194 ff., 204 ff., 229 ff., 264 ff.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
GG112 als auch gegebenenfalls das elterliche Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 und 3 GG. Auch der Streik im Post- und Telekommunikationsbereich sowie im Eisenbahnbetrieb kann zu einer Drittbetroffenheit im grundrechtsrelevanten Bereich führen. Allerdings begründet nicht jegliche Art der Drittbetroffenheit ein Verbot von Arbeitskämpfen. Bis zu einem gewissen Grad ist diese vielmehr als Wesensmerkmal des Streiks hinzunehmen. Dem Schutz der betroffenen Grundrechte der Bürger kann dabei durch die Vereinbarung von Notdiensten und die Gewährleistung einer Mindestversorgung ausreichend Sorge getragen werden.113 Wollte man schließlich die Aufrechterhaltung dieses Mindestbetriebs durch den Einsatz von Beamten gewährleisten114 und hierüber das für diese bestehende Streikverbot rechtfertigen, so kann auch dieser Ansatz nach konventionsrechtlichen Kriterien keinen Bestand haben. Auszugehen ist vielmehr von einem grundsätzlich für alle Beschäftigten bestehenden Streikrecht, welches in einem zweiten Schritt ausschließlich nach Funktionalitätskriterien im Hinblick auf Umfang und Reichweite der geplanten Maßnahme beschränkt wird. Abseits dessen bestünde für statusrechtliche Erwägungen mit Blick auf Art. 1 und 14 EMRK wiederum kein Raum. c) Zwischenergebnis Eine umfassende Rechtfertigung des Beamtenstreikverbots ist auch über den allgemeinen Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK nicht möglich. Zwar ermöglicht dieser grundsätzlich Streikverbote in Bereichen lebenswichtiger Versorgungsleistungen. Das statusbezogene deutsche Beamtenstreikverbot stellt allerdings regelmäßig keine ausreichend differenzierende Regelung im Sinne der konventionsrechtlichen Vorgaben dar. Darüber hinaus werden Beamte vielfach auch in Bereichen eingesetzt, in welchen zwar staatliche Versorgungsleistungen erbracht werden, deren Ausfall jedoch die Grundrechte Dritter nicht derartig beeinträchtigt, dass es genereller Streikverbote bedürfte. Herausgestellt hat die internationale Überwachungs- und Spruchpraxis insoweit erneut die Beamtenstreikverbote in den Berufsgruppen der Lehrer sowie der Beschäftigten bei der Deutschen Bahn AG und der Postnachfolgeunternehmen. 112 Greiner (DÖV 2013, 623, 630) weist zurecht daraufhin, dass auch bei der Bestimmung der mit dem Streikrecht möglicherweise kollidierenden Rechtsgüter der konventionsrechtliche bzw. sonstige internationale Rechtsstandard zu berücksichtigen ist, um einer „einseitigen Verdopplung des Schutzniveaus“ vorzubeugen. Insoweit wäre also an dieser Stelle ein völkerrechtlich vielfach anerkanntes Recht des Kindes auf Bildung zusätzlich in die Waagschale zu legen. 113 So für Arbeitskämpfe der Lehrer OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 80 ff.; Schubert, AöR 2012, 92, 112. 114 Dies ist nach der Entscheidung des BVerfG (2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1993, 1379, 1380) zur Unzulässigkeit des „Streikbrechereinsatzes“ von Beamten ohnehin nur sehr begrenzt möglich. Kritisch zu der Entscheidung von Münch, in: FS Mestmäcker, S. 1049, 1061.
A. Das deutsche Beamtenstreikverbot
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Insgesamt lassen sich beamtenrechtliche Streikverbote höchstens punktuell, nicht jedoch in umfassender Weise, mit Hilfe des Einschränkungsvorbehalts des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK rechtfertigen.
III. Ergebnis Das durch die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung fortwährend judizierte Beamtenstreikverbot stellt einen Eingriff in die konventionsrechtliche Streikfreiheit dar. Eine restriktive Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK dergestalt, dass Streikmaßnahmen deutscher Beamter nicht dem sachlichen Schutzbereich unterfallen, scheidet vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des EGMR aus. Das Streikverbot kann weder durch den besonderen Ausnahmevorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK noch durch den allgemeinen Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK bzw. das Zusammenwirken beider Bestimmungen vollumfänglich gerechtfertigt werden. Der maßgebliche Grund hierfür liegt in der Divergenz der konventionsrechtlichen Konzeption zulässiger funktionsbezogener Streikrechtsschranken auf der einen Seite und den losgelöst von funktionellen Erwägungen115 bestehenden nationalen statusrechtlichen Streikverboten auf der anderen Seite. Das Bestehen dieses Widerspruchs hat mit der letztinstanzlichen Entscheidung des BVerwG nunmehr auch verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung anerkannt.116 Der genannte Systemunterschied führt letztlich dazu, dass innerhalb der deutschen Rechtsordnung generelle Streikverbote in Bereichen bestehen, welche sich konventionsrechtlich weder dem besonders souveränitätsschonend ausgestalteten Gebiet der „Staatsverwaltung“, einschließlich Polizei und Streitkräften, zuordnen, noch als für die Allgemeinheit existentielle Versorgungsleistung qualifizieren lassen. Abseits dieser Ausnahmekonstellationen duldet das Konventionsrecht allerdings keine pauschalen Verbote der im Grundsatz durch Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgten Rechte. Die angedeuteten Friktionen manifestieren sich im Fall der Bundesrepublik insbesondere – jedoch nicht abschließend117 – innerhalb der Berufsbereiche der Lehrer und der Beschäftigten bei der Deutschen Bahn AG sowie den Postnachfolgeunternehmen. Letztere stellen zahlenmäßig erhebliche Einsatzbereiche von Beamten dar, welchen nach konventionsrechtlichen Grundsätzen – vorbehaltlich einer im Einzelfall abweichenden Bewertung – das Streikrecht nach Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht vorenthalten werden dürfte. 115 Der Einsatz von Beamten erfolgt zuweilen gar aus bloßen Opportunitätserwägungen, wie etwa Kostengründen, VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 475. 116 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 740 f. 117 Vgl. oben Kapitel 3 A.II.2.b)bb).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Abschließend kann somit festgehalten werden, dass das deutsche Beamtenstreikverbot keine den konventionsrechtlichen Grundsätzen genügende nationale Streikrechtsbeschränkung darstellt.118 Es gilt somit im Folgenden zu untersuchen, ob, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, eine Anpassung der nationalen Rechtslage an die konventionsrechtlichen Vorgaben möglich ist.
B. Verfassungsrechtliche Analyse zur Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben Wie die vorstehende Bearbeitung gezeigt hat, lässt sich die derzeitige Rechtslage in Deutschland nicht mit den konventionsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf eine zulässige Streikrechtsgewährleistung vereinbaren. Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist es demnach auszuloten, inwiefern ein Konventionsverstoß durch eine mögliche Anpassung der deutschen Rechtsordnung vermieden werden kann. Da das statusrechtliche Streikverbot mutmaßlich auf verfassungsrechtlichem Fundament ruht, sind für die Beantwortung der vorstehenden Frage die durch das BVerfG entwickelten Grundsätze zum Verhältnis des Konventionsrechts zum nationalen Verfassungsrecht von maßgeblicher Bedeutung. Es ist demnach zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, die Verfassung im Rahmen anerkannter Interpretationsmethoden, ohne die Überschreitung expliziter oder impliziter verfassungsrechtlicher Grenzen, konventionsfreundlich auszulegen.119
I. Vorfrage: Ist die Streikverbotsregelung für Beamte einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung überhaupt zugänglich? Notwendige Prämisse des Versuchs einer konventionsfreundlichen Verfassungsauslegung ist freilich, dass die in Rede stehende Streikverbotsregelung für Beamte nicht per se einer solchen Auslegung unzugänglich ist. Diesbezüglich wird vereinzelt eingewendet, das BVerfG sehe die Möglichkeit der völkerrechtsfreundlichen Auslegung nur in Bezug auf Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien vor.120 Das Streikverbot allerdings sei mit seiner Verankerung in Art. 33 Abs. 4 und 5 GG eine Bestimmung des Staatsorganisationsrechts, welche dem mediatisierenden Prozess der völkerrechtsfreundlichen Auslegung somit entzogen sei.121
118 Dies hat auch das BVerwG in seinem Urteil vom 27. Februar explizit herausgestellt (BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 739 f. 119 Vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 77 f. 120 Vgl. etwa BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931, 1935. 121 Schubert, AöR 2012, 93, 114 f.
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Diese Auffassung begegnet in vielfacher Hinsicht Bedenken. Zum einen erscheint bereits die Klassifizierung des Beamtenstreikverbots als staatsorganisationsrechtliche Bestimmung fragwürdig. Eine derartige Betrachtung ließe sich einzig auf Art. 33 Abs. 4 GG stützen, welcher eine den Gesetzgeber und die Exekutive unmittelbar bindende Organisationsnorm darstellt.122 Dessen Reichweite ist jedoch selbst in seiner weitesten Lesart nicht kongruent mit der des statusrechtlichen Streikverbots.123 Eine rein staatsorganisationsrechtliche Betrachtung erfasste somit nicht die gesamte Dimension der Regelungsfrage. Doch selbst wenn man dies anders bewertete, ist nicht nachvollziehbar, warum auslegungsfähige Bestimmungen des Staatsorganisationsrechts a priori einem Dialog mit den Konventionsgrundsätzen entzogen sein sollten. Dies gilt umso mehr in Fällen, in denen – wie beim Verbot des Streikrechts für Beamte, welches eine erhebliche Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Betroffenen aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellt – eng verbunden auch Fragen der Grundrechtsgewährleistung betroffen sind. Freilich verkörpert die Staatsorganisation einen sensiblen Bereich staatlicher Souveränität. Hieraus lässt sich jedoch weniger eine Begrenzung des „sachlichen Anwendungsbereichs“ der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, als vielmehr eine inhaltliche Grenze für deren Reichweite herleiten, nämlich bis zu dem Punkt, an dem Verfassungsgrundsätze und -entscheidungen nicht nur ausgelegt und modifiziert, sondern in ihrem Wesenskern angetastet werden. Di Fabio bemüht insoweit den Vergleich zu sogenannten akzessorischen Verfassungsprinzipien.124 Das Völkerrecht steht in ständigem Dialog mit den verfassungsrechtlichen Wertungen – auch den staatsorganisationsrechtlichen – ohne dabei allerdings deren tragende Grundsätze anzutasten. Nur auf Grundlage dieses Verständnisses kommt die grundsätzliche Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ausreichend zur Geltung. Demzufolge ist die Streikverbotsregelung für Beamte nicht von vorneherein einer konventionsfreundlichen Auslegung entzogen.
II. Positivierter verfassungsrechtlicher Rahmen Besteht demnach die grundsätzliche Möglichkeit einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung, bedeutet dies, dass die im vorstehenden Kapitel herausgearbeiteten konventionsrechtlichen Grundsätze als Auslegungshilfen bei der Frage der Streikrechtsgewährleistung für Beamte bzw. deren Beschränkung aufgrund der entgegenstehenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Art. 33 Abs. 4 und 122
Dazu näher unten Kapitel 3 B.III.2. Der Einsatz von Beamten erfolgt vielmehr auch außerhalb des Vorbehaltsbereichs des Art. 33 Abs. 4 GG. 124 Als praktisches Beispiel wird dabei der staatsorganisatorische Grundsatz der Bundestreue bzw. des bundesfreundlichen Verhaltens herangezogen, Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 21. 123
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
5 GG heranzuziehen sind, um die oben dargestellte konventionswidrige Lage nach Möglichkeit zu vermeiden. Dies ist freilich nur insoweit möglich, wie eine derartige Auslegung im Rahmen der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation vorgenommen werden kann, ohne dabei gegen tragende Verfassungsgrundsätze zu verstoßen.125 Ausgangspunkt der Prüfung ist der verfassungsrechtliche Wortlaut. Es wurde jedoch bereits festgestellt, dass das Streikverbot im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt ist.126 Die Rechtsprechung stützt sich für dessen Herleitung und Begründung vielmehr auf die Bestimmungen des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG. Art. 33 Abs. 4 GG statuiert, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse regelmäßig solchen Angehörigen des öffentlichen Diensts zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Hieran anknüpfend ordnet Art. 33 Abs. 5 GG an, dass das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln ist. Auch der Wortlaut dieser Regelungen enthält keine unmittelbar verbindliche Aussage im Hinblick auf die Unzulässigkeit eines Beamtenstreikrechts. Vielmehr sind die Fragen nach der konkreten Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses oder der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gerade im Wege der Verfassungsauslegung zu beantworten. Der Versuch der konventionsfreundlichen Auslegung scheitert folglich nicht bereits an einem entgegenstehenden verfassungsrechtlichen Wortlaut. Es ist somit im Folgenden zu prüfen, ob es dennoch verfassungsimmanente Grundsätze gibt, die einer Adaption der konventionsrechtlichen Gewährleistung im Wege stehen.
III. Implizite verfassungsrechtliche Grundsätze Obschon sich das Grundgesetz ausdrücklicher Aussagen bezüglich der Unzulässigkeit eines Streikrechts für Beamte enthält, setzt die Möglichkeit einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung zusätzlich voraus, dass der Anerkennung eines solchen Rechts weder im Grundsatz noch in den von der EMRK geforderten Bereichen Verfassungsgrundsätze entgegenstehen. Es erscheint somit sachgerecht, bei der Klärung dieser Frage einen zweistufigen Prüfungsgedanken zugrunde zu legen. So ist zunächst zu analysieren, ob der Verfassung Wertungen und Entscheidungen immanent sind, die eine grundsätzliche oder auch nur partielle Unzulässigkeit eines Beamtenstreikrechts begründen. In einem zweiten Gedanken-
125
Eingehend hierzu oben Kapitel 2 B.II.2. Siehe oben Kapitel 3 A.I.1. Zur Bedenklichkeit dieser Tatsache im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitsgrundsatz Buschmann, in: FS Kempen, S. 255, 260. 126
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schritt soll darauffolgend gefragt werden, ob die gefundenen Ergebnisse mit den konventionsrechtlichen Vorgaben des Art. 11 EMRK übereinzubringen sind. 1. Statusrechtliche Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses Die Unzulässigkeit des Streikrechts wird überwiegend aus den Besonderheiten der statusrechtlichen Ausgestaltung des Berufsbeamtentums abgeleitet, sodass diese zunächst näher betrachtet werden soll. a) Die gesetzliche Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses aa) Der Grundsatz des allgemeinen Gesetzesvorbehalts Anders als jedes privatrechtliche Arbeitsverhältnis ist das Beamtenverhältnis gemäß Art 33 Abs. 4 GG ein Dienst- und Treueverhältnis öffentlich-rechtlicher Natur. Für dessen Ausgestaltung wird das Bestehen eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts127 angenommen, welcher wiederum auf unterschiedliche Weise die generelle Unzulässigkeit arbeitskampfrechtlicher Maßnahmen begründen soll. Allerdings sind bereits die Annahme eines verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzesvorbehalts im Beamtenrecht sowie auch dessen etwaige Reichweite umstritten128 und somit vorrangig klärungsbedürftig. (1) Der Gesetzesvorbehalt als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums Ein klassisches Begründungsmuster erhebt den Gesetzesvorbehalt zu einem eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG. Dieser müsse mithin bei der Ausgestaltung des Beamtenrechts stets Berücksichtigung finden.129
127 Zur Verwendung des Begriffs des Gesetzesvorbehalts in diesem Zusammenhang Summer, DÖV 2006, 249, 249 f. 128 Im Grundsatz für das Bestehen eines verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts: BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1045/75, E 44, 249 = NJW 1977, 1869; BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228, 1230; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 66; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 49; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 44; Battis, § 4 BBG Rn. 5; Summer, DÖV 2006, 249; vgl. auch § 2 Abs. 1 BBesG; a. A. Däubler (Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 143–163), der aus Art. 9 Abs. 3 GG die Garantie eines Beamtentarifvertragssystems ableitete. Kritisch ebenfalls Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 57 ff.; Plander, Vereinbarungsautonomie, S. 135; vgl. auch den Vorschlag eines „Tarif-Gesetz-Modells“, Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 144 ff. 129 Statt vieler Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 66; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 49; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 44.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Der bloße Verweis auf die hergebrachten Grundsätze hat allerdings für sich genommen einen nur unzureichenden Begründungswert. Insbesondere wird hierdurch eine verfassungssystematische Herleitung im zeitgegenwärtigen Kontext nicht entbehrlich. Dies gilt gerade zumal Däubler ausführlich darlegt, dass das Beamtenverhältnis während des traditionsbildenden Zeitraums130 keineswegs einem einheitlichen allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterlegen hat.131 Insoweit ist der Rekurs auf die hergebrachten Grundsätze nicht mehr als eine unsichere „Hilfsbrücke“ 132, welche ohne weiteren Begründungsaufwand die Annahme eines beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht trägt. (2) Die subordinationsrechtliche Konzeption des Beamtenverhältnisses Weiterhin wird der Regelungsauftrag an den Gesetzgeber auch ganz allgemein mit der Öffentlich-Rechtlichkeit des Beamtenverhältnisses begründet. Betont wird die hoheitliche Rolle des Staates im subordinationsrechtlich ausgestalteten Beamtenverhältnis. Mit dieser Konzeption seien frei ausgehandelte Beschäftigungsbedingungen von vorneherein unvereinbar.133 In diesem Zusammenhang weist Hensche allerdings darauf hin, dass die jahrelange Übernahmeautomatik der Tarifergebnisse für die Arbeitnehmer und Angestellten im öffentlichen Dienst durch den Beamtengesetzgeber eher für die Praktikabilität und Übertragbarkeit frei ausgehandelter Regelungen auch für das Beamtenverhältnis spreche.134 Selbst wenn man folglich das Beamtenverhältnis vornehmlich vor dem Hintergrund seiner subordinationsrechtlichen Konzeption begreift, verdeutlicht die Praxis des beamtenrechtlichen Gesetzgebers – insbesondere in der Besoldungsgesetzgebung –, dass die frei ausgehandelten Tarifergebnisse auch im Über- und Unterordnungssystem des Beamtenverhältnisses anwendbare Regelungen zur Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen darstellen können. Allein die Konzeption der beamtenrechtlichen Dienstverhältnisse bedingt nicht notwendigerweise, dass die Ausgestaltung einzig durch den Gesetzgeber erfolgen kann. 130 So die Definition der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, vgl. unten Kapitel 3 B.III.4. 131 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 153 ff.; vgl. auch Summer, DÖV 2006, 249, 251. 132 Summer, DÖV 2006, 249, 251. 133 Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 82; Isensee, Beamtenstreik, S. 37; vgl. auch Hanau, JuS 1971, 120, 121 f., der die hoheitliche Rolle des Staates im Beamtenverhältnis insb. in den Kompetenznormen der Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG angelegt sieht. 134 Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 59 f. Zu der trotz unterschiedlichen länderspezifischen Anpassungsmodellen erheblichen Verquickung der Beamtenbesoldung mit den jeweiligen Tarifergebnissen vgl. die Übersicht zu den Besoldungsrunden 2013/2014, abrufbar unter: http://oeffentlicher-dienst.info (Stand: 27.5. 2015).
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(3) Der implizite Regelungsauftrag des Art. 33 Abs. 5 GG Ein letztes Begründungsmodell sieht den Gesetzesvorbehalt im Beamtenrecht in Art. 33 Abs. 5 GG verankert. So setze die Pflicht zur inhaltlichen Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze bei der Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse denklogisch auch den formalen Regelungsauftrag voraus.135 Ferner wird die gesetzliche Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses auch als notwendiger Bestandteil anderer hergebrachter Grundsätze des Beamtenrechts erachtet. Dies gilt insbesondere im Bereich der Besoldung und Versorgung, also im Regelungsbereich des sogenannten Alimentationsprinzips.136 So judizierte die Rechtsprechung fortwährend, „daß die angemessene Alimentierung [. . .] einseitig durch Gesetz festzulegen ist“.137 Die vorstehenden Argumentationsansätze vermögen jedenfalls das grundsätzliche Bestehen eines Regelungsauftrags an den Gesetzgeber zu begründen. Die Verpflichtung auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, welche ihrerseits die Kernstrukturprinzipien des Beamtentums sichern, zeigt, dass der Verfassungsgesetzgeber die Ausgestaltungskompetenz beim parlamentarischen Gesetzgeber sieht, da dieser Regelungsadressat des Art. 33 Abs. 5 GG ist. Die Berücksichtigung und Wahrung der elementaren Grundsätze des Beamtentums ist ihm nur dann möglich, wenn auch eine entsprechende Regelungskompetenz besteht. Leitet man allerdings den Gesetzesvorbehalt aus dem Wortlaut des Art. 33 Abs. 5 GG ab oder betrachtet ihn als notwendigen Bestandteil anderer beamtenrechtlicher Grundsätze, so scheint diese formale Regelungskompetenz des Gesetzgebers materiell zunächst auf die von den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums erfassten Regelungsbereiche beschränkt zu sein. Fraglich ist somit, ob insoweit überhaupt von einem allgemeinen, sprich inhaltlich uneingeschränkten, Gesetzesvorbehalt im Beamtenrecht ausgegangen werden kann. Zur Klärung dieser Frage trägt eine Entscheidung des BVerwG vom 17. Juni 2004 zum Beihilferecht bei. In dieser stellte das Gericht fest, dass die Qualifizierung eines Regelungsbereichs als wesentlich im Sinne des beamtenrechtlichen Parlamentsvorbehalts unabhängig davon sei, ob der Gegenstand von den hergebrach-
135 Summer, DÖV 2006, 249, 251; Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, BesVerwR, 6. Kap., Rn. 37; so wohl auch Isensee, in: HbVerfR, §32 Rn. 62; Lecheler, in: HbStR Band V, § 110 Rn. 58; a. A. Plander, Vereinbarungsautonomie, S. 135. 136 Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 44; Lindner, DöV 2011, 305, 306; vgl. auch §§ 2 BBesG, 3 BeamtVG; selbiges gilt auch für den Laufbahngrundsatz, vgl. BVerwG 1.6.1995 – 2 C 16/94, E 98, 324 = NVwZ 1997, 73, 74. 137 BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1039/75, E 44, 249 = NJW 1977, 1869; BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, E 8, 28 = NJW 1958, 1228, 1230; vgl. näher zum Alimentationsprinzip unten Kapitel 3 B.III.1.c).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
ten Grundsätzen des Berufsbeamtentums umfasst werde.138 Auch in einer Folgeentscheidung sprach das BVerwG lediglich noch von einem verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt im Beamtenrecht139, was den Schluss auf das Bestehen eines allgemein geltenden Parlamentsvorbehalts nahelegt.140 Diese Interpretation steht auch im Einklang mit der historischen Funktion der gesetzlichen Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse. So sollte der Beamte der Abhängigkeit und Willkür des Monarchen entzogen und einzig zum „Diener“ des Staates werden.141 Hieraus kann ebenfalls geschlossen werden, dass das Beamtenverhältnis – zumindest in seinen wesentlichen Aspekten – allgemein gesetzlich ausgestaltet werden sollte. Es bleibt folglich festzuhalten, dass dem Gesetzgeber aus Art. 33 GG ein allgemeiner formaler Regelungsauftrag bezüglich aller wesentlichen Inhalte des Beamtenverhältnisses erwächst. Innerhalb dessen erlegt ihm Art. 33 Abs. 5 GG für gewisse Regelungsbereiche inhaltliche Vorgaben auf, welche die legislative Gestaltungsfreiheit eingrenzen.142 bb) Das Streikverbot als Konsequenz der einseitigen gesetzlichen Festlegung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Wird das Beamtenverhältnis also einseitig hoheitlich und durch Gesetz ausgestaltet, so stellt sich im Nachgang die Frage, inwieweit sich dies auf die Zulässigkeit des Arbeitskampfes der Beamten auswirkt. (1) Unanwendbarkeit des Arbeitskampfes in der Konzeption des Beamtenrechts und inhaltliche Determiniertheit Wie bereits im Rahmen der Begründung des beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalts, wird vereinzelt auch für die Frage nach der Zulässigkeit des Beamtenstreiks primär auf die subordinationsrechtliche Ausgestaltung des Beamtenrechts abgestellt. Anders als im Falle einer Tarifauseinandersetzung, stünden sich beim Beamtenstreik nicht zwei gleichberechtigte Kampfparteien gegenüber, weshalb das Arbeitskampfrecht bereits rein konzeptionell keine Anwendung finden könne.143 Die gesetzliche Ausgestaltung – insbesondere auch auf dem Gebiet der
138
BVerwG 17.6.2004 – 2 C 50/02, E 121, 103 = NVwZ 2005, 713. BVerwG 29.9.2011 – 2 C 80/10, NVwZ-RR 2012, 146. 140 So auch Summer, DöV 2006, 249, 253. 141 BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1397; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 57; Ramm, Koalitions- und Streikrecht, S. 52; vgl. auch die Formulierung des Funktionsvorbehalts in Art. 33 Abs. 4 GG. 142 So auch Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, BesVerwR, 6. Kap. Rn. 37. 143 Isensee, Beamtenstreik, S. 37. 139
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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Besoldung und Versorgung – orientiere sich auch nicht an Parametern, welche wie im Bereich des privatwirtschaftlichen Arbeitsmarktes Grundlage autonomer Kontrahierungsverhandlungen zweier gleichberechtigter „sozialer Gegenspieler“ sein könnten.144 Vielmehr richte sich die beamtenrechtliche Gesetzgebung nach objektiven verfassungsrechtlichen Vorgaben und Anforderungen, welche der Gesetzgeber im Rahmen des subordinationsrechtlichen Verhältnisses hoheitlich umsetze und ausforme.145 Mithin sei der Arbeitskampf kein adäquates Gestaltungsinstrument. Zuzugeben ist der vorstehenden Ansicht zunächst, dass das deutsche Arbeitskampfrecht nicht primär im Hinblick auf den Arbeitskampf im öffentlichen Dienst konzipiert wurde.146 Gleichwohl lässt sich hieraus nicht auf die generelle Unzulässigkeit des Beamtenstreiks schließen. Vielmehr müssten im Einzelfall die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für einen zulässigen Arbeitskampf auf den Beamtenstreik angewendet bzw. angepasst werden, sofern die Verfassung diesen grundsätzlich gewährleistet. Wie oben bereits erwähnt,147 zeigt auch die Übernahmepraxis der in den öffentlich-rechtlichen Tarifauseinandersetzungen gewonnenen Ergebnisse auf die Dienstverhältnisse der Beamten, dass eine systemische Vergleichbarkeit durchaus gegeben ist und auch die inhaltlichen Vorgaben des Beamtenrechts insoweit nicht notwendigerweise entgegenstehen. Denn tatsächlich stehen sich auch bei der Frage der Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen der Beamten zwei Interessengruppen gegenüber, von denen jede versucht ist, ein für sich möglichst vorteilhaftes Ergebnis zu erzielen.148 Auch das BVerwG geht davon aus, dass die Beamtenbesoldung aufgrund ihrer Kopplung an die jeweiligen Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst konsequenterweise auch unmittelbar Gegenstand derartiger Tarifverahndlungen sein könnte.149 Insofern ist auch nicht ersichtlich, warum der Beamtenschaft das Druckmittel der Arbeitsniederlegung zur Durchsetzung ihrer Interessen per se verwehrt bleiben sollte. Ein pauschaler Ausschluss des Beamtenstreiks kann somit an dieser Stelle nicht begründet werden.
144 Etwa die wirtschaftliche Situation des Unternehmens oder die Arbeitsbedingungen anderer vergleichbarer Arbeitnehmergruppen. 145 Isensee, Beamtenstreik, S. 37; so auch BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 738; OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 893. 146 Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 45 Rn. 42. 147 Siehe oben Kapitel 3 B.III.1.a)aa)(2). 148 Exemplarisch zu den unterschiedlichen Interessenlagen der öffentlichen Arbeitgeber auf der einen und der Angestellten und Arbeitnehmer bzw. der Beamten auf der anderen Seite Creutzburg, Weniger als der öffentliche Dienst, Länder kappen Gehaltserhöhungen für Beamte, FAZ Ausgabe vom 27.3.2013. 149 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
(2) Beamtenstreik und Tarifbezogenheit des Arbeitskampfs Wie vorstehend bereits erwähnt,150 leitete das BVerfG die Arbeitskampffreiheit aus der Bestands- und Betätigungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG zur Sicherstellung einer funktionierenden Tarifautonomie her. Hieraus folgt zunächst, dass die Koalitionen im Arbeitskampf Vereinbarungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anstreben dürfen und dass Kampfmaßnahmen jedenfalls als Instrument zur Durchsetzung tariflicher Regelungen verfassungsrechtlich gewährleistet sind.151 Das BAG zieht in seiner überkommenen ständigen Rechtsprechung darüber hinaus bei der Tarifbezogenheit auch die Grenze der Rechtmäßigkeit der Arbeitskampffreiheit.152 Begreift man infolgedessen – zusammen mit der insbesondere in der Arbeitsrechtslehre überwiegenden Ansicht153 – den Abschluss eines Tarifvertrags als einziges legitimes Ziel eines Streiks, so wird vermehrt bereits hieraus die Unzulässigkeit des Beamtenstreiks abgeleitet, da es aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung bereits am notwendigen Tarifbezug als rechtlicher Voraussetzung eines zulässigen Streiks fehle.154 Diese Argumentation erweist sich jedoch in mehrfacher Hinsicht als nicht überzeugend. Zunächst wird bei näherer Betrachtung der jüngeren Rechtsprechung des BAG deutlich, dass der Tarifbezug als Grenze der Arbeitskampffreiheit nicht gänzlich unumstrittenen Bestand hat. So legte das Gericht in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 2002155 erstmals eine erneute Überprüfung der „generalisierenden Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC“ nahe. Im Jahre 2007 schließlich wiederholte es seine Bedenken zur Vereinbarkeit des Tarifbezugs mit der ESC.156 Diese in der Rechtsprechung bereits angedeuteten Zweifel am Erfordernis des Tarifbezugs werden sich vor dem Hintergrund der 150
Siehe oben Kapitel 3 A.I.1.a)bb). BVerfG 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1991, 809, 810. 152 BAG 5.3.1985 – 1 AZR 468/83,AP Nr. 85 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1985, 504, 507. 153 Statt vieler Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24 Rn. 2, § 45 Rn. 40; Otto, Arbeitskampfrecht, § 5 Rn. 5; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1071. 154 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 190; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 501; Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, S. 69 ff.; Isensee, Beamtenstreik, S. 35; Seifert, EuZA 2013, 205, 218; Pfohl, ZBR 1997, 78, 85. 155 BAG 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2003, 735, 740. 156 So erneut BAG 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan = NZA 2007, 987, 994. Auch in seiner Unterstützungsstreikentscheidung (19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 173 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1059) bezog das BAG die Kritik der Spruchkörper der ESC an dem Erfordernis des Tarifbezugs bei seiner Entscheidungsfindung mit ein. Vgl. auch Junker, ZfA 2013, 91, 115. 151
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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Rechtsprechung des EGMR in der Sache Demir und Baykara und den nachfolgenden Entscheidungen noch weiter verstärken. So erkannte die Große Kammer in der genannten Entscheidung ein konventionsrechtlich verbürgtes Recht auf Kollektivverhandlungen an, welches nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einem Recht auf Tarifverhandlungen oder gar den Abschluss von Tarifverträgen sein muss. Es muss den Gewerkschaften vielmehr möglich sein, in einen sozialen Dialog mit der Gegenseite zu treten und dabei ihre Position und Stimme deutlich werden zu lassen.157 Dieses Recht auf Kollektivverhandlungen besteht – rechtmäßigen Einschränkungen nach Art. 11 Abs. 2 EMRK vorbehalten – im gesamten öffentlichen Dienst und bringt als nunmehr ebenfalls eigenständig verbürgte Teilgarantie das Recht mit sich, diese Verhandlungen durch Streikmaßnahmen zu unterstützen.158 Können also Kollektivverhandlungen und die diese begleitenden Streikmaßnahmen nach der jeweiligen nationalen Ausgestaltung nur auf den Erlass entsprechender Gesetze, nicht aber auf den Abschluss von Tarifverträgen zielen, so wäre es konventionsrechtlich unvereinbar, zur Rechtmäßigkeit des Streiks dessen Tarifbezogenheit zu fordern. Unterfällt die Regelung der Arbeitsbedingungen der Beamten nicht dem Tarifrecht, so können auch etwaige Streikmaßnahmen nicht an ihrem Bezug zu einer systembedingt nicht vorgesehenen tariflichen Lösung gemessen werden. Aber auch aus nationaler verfassungsrechtlicher Perspektive ergeben sich Bedenken. So kann die dem Grunde nach bestehende grundrechtliche Arbeitskampffreiheit nicht derart ausgestaltet werden, dass die Rechtsausübung der Grundrechtsberechtigten an formale Kriterien geknüpft wird, welche bereits systembedingt nie erfüllt werden können. Vielmehr ist der Tarifbezug als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung von seinem Regelungszweck her für beamtenrechtliche Dienstverhältnisse gar nicht anwendbar. In privatrechtlichen Beschäftigungsbeziehungen sollen durch den Tarifbezug die legitimen Interessen des Arbeitgebers geschützt werden.159 Es soll den Arbeitnehmern nicht möglich sein, „auf Kosten des Arbeitgebers“ jegliche Forderung im Wege des Arbeitskampfs durchsetzen zu können. Die „scharfe Waffe“ der Arbeitsniederlegung dient vielmehr alleine der Durchsetzung solcher Forderungen, die mit dem Beschäftigungsverhältnis im Zusammenhang stehen und zudem der Regelungskompetenz der sozialen Gegenspieler unterfallen.160 Derartig regelbare Beschäftigungsbedingungen werden auf 157 Vgl. das klarstellende Sondervotum der Richter Spielmann, Bratza, Casadevall und Villinger in EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 9 (Demir and Baykara). Zur weiten Auslegung des „collective bargaining“ durch den EASR, Evju, AuR 2012, 276, 281 f. 158 Einiges deutet sogar darauf hin, dass der Gerichtshof auch Maßnahmen ohne konkreten Verhandlungsbezug, etwa bloße Demonstrationsstreiks, dem Schutzbereich des Art. 11 EMRK zuordnet, vgl. oben Kapitel 2 A.II.5.b). 159 Zum Hintergrund der frühen Rechtsprechung des BAG zur Tarifakzessorietät Buschmann, in: FS Kempen, S. 255, 256. 160 Willms, in: Hümmerich/Boecken/Düwell, Art. 9 GG Rn. 123 ff.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
kollektiv-privatrechtlicher Ebene tarifvertraglich geregelt, weshalb das Kriterium der Tarifbezogenheit als Rechtmäßigkeitsgrenze für etwaige Arbeitskämpfe etabliert wurde.161 Die Prämisse tarifvertraglicher Regelbarkeit entfällt jedoch im gesetzlich ausgestalteten Beamtendienstverhältnis von vorneherein, was allerdings nicht bedeutet, dass es deshalb auch an verhandelbaren unterschiedlichen Interessenpositionen fehle. Im Gegenteil, die jüngsten Auseinandersetzungen über die Beschäftigungsbedingungen der beamteten Lehrer zeigen vielmehr, dass es auch im Beamtenverhältnis, wie in jedem anderen Verhältnis fremdbestimmter Arbeit, gegensätzliche Interessenlagen gibt, welche eines Ausgleichs bedürfen.162 Auf die paritätische Ausgestaltung163 dieses Interessenausgleichs zielt die Streikrechtsgewährleistung nach ihrem grundsätzlichen Regelungszweck ab und dies unabhängig von dem formalen Kriterium des Tarifbezugs. Entsprechend kann ein etwaiger Arbeitskampf beamtet Bediensteter nicht an der tariflichen Regelbarkeit seiner Zielsetzung gemessen werden. Unabhängig von der insoweit gesondert zu behandelnden Frage der Fortgeltung des Tarifbezugs bei der Ausgestaltung privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse, ist das Rechtmäßigkeitskriterium jedenfalls für öffentlich-rechtlich ausgestaltete Beschäftigungsverhältnisse nicht anwendbar. Allerdings ist der Arbeitskampf auch kein Selbstzweck. So betonte auch der EGMR bereits in seiner früheren Rechtsprechung stets die Rolle des Streikrechts als Funktionskomponente im System freiwilliger Kollektivverhandlungen.164 Verfassungsrechtlich beschränkt Art. 9 Abs. 3 GG Kollektivmaßnahmen schon seinem Wortlaut nach auf die Gestaltung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Diese Grenze müsste entsprechend auch die koalitionsspezifische Betätigung der Beamten wahren.165 Jedoch selbst wenn man entgegen den vorstehenden Ausführungen die Grenze des zulässigen Arbeitskampfs mit der (wohl noch) herrschenden Ansicht im Ar161 Wie eng bzw. weit das Merkmal dabei auszulegen, lässt sich unterschiedlich bewerten, vgl. hierzu Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 367 f. 162 Gerade diesem Umstand trägt Gesetzgeber durch die Beteiligungsrechte der gewerkschaftlichen Spitzenverbände beim Beamtengesetzgebungsverfahren Rechnung, vgl. etwa § 53 BeamtStG und § 118 BBG. 163 Näher zur Problematik der Parität im Falle des Beamtenstreiks unter Kapitel 3 C.III.1.a). 164 Vgl. oben Kapitel 2 A.II.2.b)bb). 165 Das VG Kassel (27.7.2011 – 28 K 1208/10. u. a., PersR 2011, 472, 476) wendete den Tarifbezug bei der Bewertung eines Streiks beamteter Lehrer ebenfalls nur modifiziert an. Die Richter ließen es insofern genügen, dass das Streikziel der Beamten im unmittelbaren Zusammenhang mit den eigenen Arbeitsbedingungen stand. Diese Auffassung teilt ebenso auch der ILO-Sachverständigenausschuss (ILC, CEACR Report III (Part 4B), 1994, Rn. 137): „It is true that it [the right to strike] is a basic right, but it is not an end in itself. Strikes are expensive and disruptive for workers, employers and society and when they occur they are due to a failure in the process of fixing working conditions through collective bargaining which should remain the final objective.“ Vgl. auch Gooren, ZBR 2011, 400, 404; Brinktrine, ZG 2013, 227, 237.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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beitsrecht strikt anhand der Tarifbezogenheit zöge, ergäbe sich hieraus nicht zwangsläufig die generelle verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des Beamtenstreiks. Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet dem Grunde nach alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind,166 und somit auch solche, die über tarifvertragliche Regelungsgegenstände hinausgehen. Entsprechend beschränkt sich auch die verfassungsrechtliche Arbeitskampffreiheit nicht von vorneherein auf den tarifbezogenen Arbeitskampf, sondern reicht über diesen hinaus.167 Die Einschränkung etwa zur Wahrung der Grundrechte des Kampfgegners oder anderer Verfassungsgüter über das Merkmal des Tarifbezugs erfolgt schließlich erst im Zuge der näheren Ausgestaltung der grundrechtlichen Freiheit, nämlich auf der Ebene der Rechtmäßigkeitsprüfung des konkreten Arbeitskampfes.168 Für den Beamtenstreik könnte sich allerdings die Besonderheit ergeben, dass ein tarifbezogener Arbeitskampf aufgrund der hoheitlich-gesetzlichen Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse überhaupt nicht denkbar wäre und dadurch die Tarifbezogenheit bzw. deren Fehlen gleichwohl zum faktischen Ausscheiden dieser Streikform aus der Garantie der Arbeitskampffreiheit führte. Obgleich diese Schlussfolgerung bereits vor dem Hintergrund der oben genannten Rechtsprechung des BAG und den korrespondierenden völkerrechtlichen Bedenken problematisch erscheint, muss sie umso mehr auch im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des BAG zum Unterstützungsstreik169 einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Bei dieser – nach der Auffassung des BAG grundsätzlich zulässigen170 – Arbeitskampfform geht es den Arbeitnehmern „regelmäßig nicht um die Verbesserung eigener tariflicher Rechte. Gleichwohl dient die Arbeitskampfmaßnahme dem Ziel der Gestaltung von Arbeitsbedingungen“ und ist vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst.171 Vor diesem Hintergrund wäre denn auch ein zumindest „mittelbar tarifbezogener“ Arbeitskampf der Beamten, nämlich zur Unterstützung eines Arbeitskampfes der Arbeitnehmer und Angestellten im öffentlichen Dienst, denkbar.172 Betrachtet man etwa die nach konventionsrechtlichen 166
Siehe oben Kapitel 3 A.I.1.a)bb). So auch Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 316. 168 Däubler (in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 13 Rn. 4) bemerkt zurecht, dass die bisherige Rechtsprechung des BVerfG (insb. BVerfG 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1991, 809, 810) dieser Interpretation nicht entgegensteht. 169 Vgl. nur BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 173 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055. 170 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 121. 171 BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 173 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055, 1056. 172 Selbiges gilt auch für die Beteiligung an sog. arbeitskampfbegleitenden Flashmob-Aktionen, welche nach dem BAG ebenfalls grundsätzlich zulässig sind, vgl. BAG 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, AP Nr. 174 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2009, 1347; gerade auch die vermehrte Übernahme der tariflich erzielten Ergebnisse des öffentlichen Diensts durch den Beamtengesetzgeber verdeutlicht die praktische Bedeutsamkeit 167
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Kriterien besonders hervortretenden Bereiche der Lehrer sowie der Beschäftigten der Deutschen Bahn AG und der Postnachfolgeunternehmen, so könnten Beamte in den jeweiligen Bereichen den Tarifabschluss ihrer angestellten Kollegen durch eine unterstützende Streikteilnahme begleiten. Mithin vermag das Erfordernis des Tarifbezugs, sofern man dieses im Falle eines Beamtenstreiks überhaupt für erforderlich bzw. anwendbar hält, nicht dessen generelle verfassungsrechtliche Unzulässigkeit zu begründen. Im engen Zusammenhang mit dem Kriterium des Tarifbezugs steht die kontrovers diskutierte Frage, ob der Beamtenstreik seinem Wesen nach ein politischer Streik ist und wenn ja, ob hieraus seine generelle Unzulässigkeit folgt. (3) Beamtenstreik als politischer Streik Der Begriff des politischen Streiks umschreibt gemeinhin Arbeitsniederlegungen, welche sich nicht auf Ziele richten, die mit den Mitteln des kollektiven Arbeitsrechts regelbar sind, sondern durch die ein hoheitliches Verhalten des Staats oder seiner Untergliederungen erzwungen werden soll. Die Definition ist dabei rein formal und setzt somit lediglich eine Arbeitskampfmaßnahme voraus, die sich gegen einen bestimmten Adressaten – nämlich den Staat als Hoheitsträger – richtet und durch die ein hoheitliches Handeln erreicht bzw. erzwungen werden soll.173 Ausgeklammert werden somit Streiks der Arbeitnehmer und Angestellten des öffentlichen Diensts, da diese auf den Abschluss einer tariflichen Einigung zielen, bei welchen der öffentliche Arbeitgeber nicht hoheitlich, sondern privatrechtlich tätig wird. Nach ganz überwiegender Ansicht in Literatur und Rechtsprechung174 ist der politische Streik unzulässig, da er nicht auf das legitime Kampfziel der Tarifvertragsregelung ziele. Doch auch wenn man den Tarifbezug nicht notwendigerweise fordere, verfolge der politische Streik Ziele, die schlichtweg außerhalb des durch die Koalitionsparteien zu regelnden Bereichs lägen und sprenge somit „den Rahmen des Zivilrechts“.175 Diese Einschätzung fortführend wird auch der Beamten-
von derartigen Unterstützungsmaßnahmen der Beamten, vgl. auch Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 71. 173 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 119; Däubler, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 13 Rn. 47 ff. 174 LAG Rheinland-Pfalz 05.3.1986 – 1 Ta 50/86, NZA 1986, 264, 265; LAG Hamm 17.4.1985 – 3 Sa 1723/84, DB 1985, 2691 ff.; ArbG Osnabrück 4.6.1996 – 4 Ga 10/96, NZA-RR 1996, 341, 342; vgl. auch BAG 27.6.1989 – 1 AZR 404/88, E 62, 171 = NZA 1989, 969, 973; aus der Lit. Gamillscheg, KollArbR I, S. 1097 ff.; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 119; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24 Rn. 54 ff.; Otto, Arbeitskampfrecht, § 5 Rn. 38 ff.; Scholz, in: HbStR, Band VIII, § 175 Rn. 124; ders., Koalitionsfreiheit, S. 219; Rüthers, Streik und Verfassung, S. 79. 175 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 119.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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streik im System des geltenden hoheitlich-gesetzlich ausgestalteten Beamtenrechts als unzulässiger politischer Streik qualifiziert.176 Diese Auffassung verkennt jedoch, dass sich das Phänomen des Beamtenstreiks schon gar nicht mit dem auf arbeitsrechtlicher Grundlage entwickelten Begriff des politischen Streiks erfassen lässt. Anders als im Falle des politischen Streiks durch Arbeitnehmer brechen die Beamten mit der Durchführung von Streikmaßnahmen nicht aus dem normalerweise für sie geltenden privatrechtlichen Regelungsgefüge aus, um tarifferne Forderungen in Gestalt hoheitlichen Staatshandelns durchzusetzen. Vielmehr bewegen sie sich von vorneherein innerhalb des staatlichen, öffentlich-rechtlichen Systems, weshalb sich jegliche Interessenwahrnehmung notwendigerweise gegen den Staat als Hoheitsträger richtet. Aufgrund des allgemein geltenden Gesetzesvorbehalts im Beamtenrecht müssen Arbeitskampfmaßnahmen dabei auch immer auf die Änderung bzw. Verbesserung bestehender Missstände durch gesetzgeberisches Tätigwerden des Staates abzielen. Erachtete man derartige Kampfmaßnahmen nunmehr unter Zugrundelegung des rein formalen Begriffs eines politischen Streiks als unzulässig, so erwiese sich dieses Vorgehen, analog zur Problematik des Tarifbezugs, als zirkulär. Die Rechtmäßigkeit würde erneut an Voraussetzungen geknüpft, welche im Falle des Beamtenstreiks systembedingt niemals vorliegen könnten.177 Geboten ist somit eine Anpassung des Rechtmäßigkeitskriteriums. Wie bereits festgestellt, darf es auch den Beamten nicht möglich sein, jegliche Art insbesondere auch politsicher Forderungen im Wege des Arbeitskampfs zu verfolgen.178 Vielmehr sind sie insoweit auf die Gestaltung ihrer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beschränkt. Zur Bewertung von Beamtenstreikmaßnahmen ist es somit sachgerecht, ein materielles Verständnis des politischen Streiks zugrunde zu legen, welches je nach verfolgtem Streikziel inhaltlich differenziert. Demnach sind all jene Streikmaßnahmen unzulässig, durch welche politische oder sonstige Forderungen abseits der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gegenüber dem Staat als Hoheitsträger verfolgt werden.179 Ein Streik zur Verbesserung der Besoldungssituation beamteter Lehrer beispielsweise unterfiele diesem Verdikt dagegen nicht. Qualifizierte man, entgegen der hier vertretenen Auffassung, den Beamtenstreik dennoch als politischen Streik, so wäre insoweit erneut auf die Möglichkeit 176
Hanau, JuS 1971, 120, 121; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24 Rn. 54 ff. So auch Greiner, DÖV 2013, 623, 624. Letztlich ignorierte diese Betrachtungsweise, dass trotz der Eingliederung des Beamtendienstverhältnisses in den staatlichen Corpus Interessensgegensätze existieren, welche bei jeglicher Art von fremdbestimmter Arbeit vorkommen, vgl. bspw. Janisch/Osel, „Professor billig“? Bundesverfassungsgericht prüft Besoldungsreform, FAZ Ausgabe vom 13.2.2012: „Fast schon wie Tarifpartner ringen Hochschul-Chefs und Professoren um Zulagen.“ 178 Oben Kapitel 3 B.III.1.a)bb)(2). 179 So auch VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10.KS. D, PersR 2011, 472, 476. 177
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
eines Unterstützungsstreiks für einen Hauptarbeitskampf im öffentlichen Dienst hinzuweisen. Wie bereits erwähnt, richtet sich letzterer auf die Erzielung einer tariflichen Einigung, weshalb auch ein diesen Arbeitskampf unterstützender Streik durch Beamte kein unzulässiger politischer Streik nach formalem Verständnis wäre. Die Unzulässigkeit des politischen Streiks könnte somit, wenn überhaupt nur im Einzelfall, keinesfalls aber die generelle verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des Beamtenstreiks begründen. cc) Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt, dass die Verfassung in Art. 33 Abs. 4 und 5 GG einen allgemeinen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber zur Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse enthält. Dies impliziert einen im Beamtenrecht allgemein geltenden Gesetzesvorbehalt, wonach alle wesentlichen Inhalte der Beamtenverhältnisse durch Gesetz zu regeln sind. Gleichwohl begründet dieser Ausschluss der Tarifautonomie nicht die generelle Unvereinbarkeit des Beamtenstreiks mit der Verfassung. Vielmehr sind die Rechtmäßigkeitsanforderungen der Tarifbezogenheit und des Verbots politischer Streiks vor dem Hintergrund der neueren konventionsrechtlichen Rechtsprechung anzupassen. Anstelle der Tarifbezogenheit sind Streikmaßnahmen der Beamten auf die Gestaltung der eigenen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu beschränken. Darüber hinaus gehende Arbeitskampfziele sonstiger Art unterfallen dem Verbot politischer Streiks nach materiellem Verständnis und sind somit unzulässig. Abseits dieser vorzunehmenden Anpassungen verbleibt für die Beamten gerade in den Bereichen, in denen die Konvention die Gewährung des Streikrechts besonders fordert,180 die Möglichkeit, die tarifbezogenen Arbeitskämpfe ihrer privatrechtlich beschäftigten Kollegen zu unterstützen. Im Ergebnis folgt damit aus der gesetzlichen Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses nicht die generelle Unzulässigkeit von Streikmaßnahmen. b) Die Pflichtenstellung des Beamten im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses aa) Die allgemeine Treuepflicht Das Beamtenverhältnis ist geprägt durch ein Gefüge wechselseitiger Pflichten zwischen dem Beamten und seinem Dienstherrn. Der Beamte unterliegt einer besonderen (allgemeinen) Treuepflicht. Diese ist einerseits wesentliches Charakteristikum der Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses nach Art. 33 Abs. 4 GG181 180
Vgl. oben Kapitel 3 A.III. Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 51; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 43; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 114 f. 181
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und andererseits Teil der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG.182 Freilich ist der Inhalt dieser abstrakt formulierten Pflicht zunächst unbestimmt und somit konkretisierungsbedürftig. Nach dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt handelte es sich um die dem Fürsten oder Monarchen183 von seinen Beamten geschuldete umfassende und persönliche Pflicht zur Treue.184 Da jedoch im republikanischen Staatssystem dieser personale Bezugspunkt wegfällt, bezieht sich der Begriff des Treueverhältnisses nach zeitgemäßen Verständnis185 auf die Treue zum Staat und der Verfassung.186 Eine unbedingte personale Bindung an den Dienstherren ist darüber hinaus auch deshalb nicht mehr anzunehmen, weil sie der bestehenden Verrechtlichung und normativen Ausgestaltung des Berufsbeamtentums geradezu diametral entgegenliefe.187 Statt der ursprünglich personalen Bindung ist somit vielmehr von einer funktionalen bzw. institutionellen Treuebindung des Beamten auszugehen. Welche konkreten Aussagen sich dieser dem verfassungshistorischen Kontext nunmehr angepassten Treuepflicht insbesondere für die Frage des Beamtenstreiks entnehmen lassen, wird unterschiedlich gesehen. Maßgebend ist insofern das Verständnis vom Umfang und der Qualität der überkommenen Beamtenpflicht. (1) Herrschende Meinung Die überwiegende Auffassung einschließlich der Rechtsprechung sieht auch im modernen republikanischen Verfassungsstaat weiterhin die Notwendigkeit eines der verfassungsmäßigen Ordnung umfassend zur Treue verpflichteten „Beamtenkörpers“. Entsprechend wird angenommen, das Grundgesetz habe die umfangreiche vorkonstitutionelle Treuepflicht, insbesondere durch die Formulierung
182 Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 46; zudem ist die Treuepflicht auch das „Korrelat“ zum Grundsatz der Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber dem Beamten, vgl. BVerfG 15.12.1976 – 2 BvR 841/73, E 43 154 = NJW 1977, 1189; Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, BesVerwR, 6. Kap., Rn. 127. 183 Beziehungsweise in der Zeit des Dritten Reichs der Person des Reichskanzlers. 184 Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 516; Isensee, Beamtenstreik, S. 48 f.; vgl. auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 41. 185 Dieses ist maßgeblich auf die Zeit der französischen Revolution zurückzuführen, vgl. Demke, ZBR 2010, 109. 186 BVerfG 22.5.1975 – 2 BvL 13/73, E 39, 334 = NJW 1975, 1641, 1642; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 60; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 30; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 41; Merten, in: Merten/Pitschas/Niedobitek, Neue Tendenzen im öffentlichen Dienst, S. 17; Hoffmann, AöR 91 (1966), 141, 179; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 45; Banke/Sterzel, Beamtenstreikrecht, S. 56; insoweit sogar von einer „Pflicht zur politischen Treulosigkeit“ als Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie sprechend Isensee, Beamtenstreik, S. 49. 187 Isensee, Beamtenstreik, S. 50; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 119.
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in Art. 33 Abs. 4 GG und als hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG, aufnehmen und beibehalten wollen.188 Beteilige sich ein Beamter an einer Streikaktion, so verhalte er sich nach diesem Verständnis treuwidrig. Folglich sei die Anerkennung eines Streikrechts für Beamte bereits mit dieser allgemeinen Pflicht zur Treue schlichtweg unvereinbar.189 (2) Gegenansicht Grundlage der gegenläufigen Ansichten ist vor allem ein anderes Verständnis des Umfangs der beamtenrechtlichen Treuepflicht. Anders als die historische Vorstellung einer „irrationalen“ 190 persönlichen Treuebindung, basiere das heutige Verständnis der Treueverpflichtung auf einer säkularisierten und rein rationalen Einordnung des Berufsbeamtentums in die verfassungsmäßige Ordnung.191 Dem Grundgesetz jedoch sei eine die Grundrechtsgewährleistungen der Beamten derart verkürzende umfassende Treuepflicht fremd.192 Geschuldet sei folglich einzig eine Amtsführung, welche stets dem Primat des Gesetzes folge und die Verfassung mitsamt ihrer inkorporierten Grundsätze achte. Vor diesem Hintergrund resultiere aus dem beamtenrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis keine derartig grundlegende Verkürzung der Grundrechte – sprich der Koalitionsfreiheit – der Beamten.193 Darüber hinaus wird angeführt, dass sich die Pflicht des Beamten zur Treue nach dem oben beschriebenen zeitgemäßen Verständnis letztlich darin erschöpft, auf die Belange des Dienstherren Rücksicht zu nehmen.194 Insoweit entspreche sie prinzipiell der allgemein im Arbeitsrecht geltenden Treuepflicht in Form des Gebots zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Da jedoch das arbeitsrechtliche Treueverhältnis kein generelles Streikverbot für die Arbeitnehmer begründe, könne ein solches ebenso wenig beamtenrechtlich abgeleitet werden.195 188
BVerfG 22.5.1975 – 2 BvL 13/73, E 39, 334 = NJW 1975, 1641, 1642. BGH 16.6.1977 – III ZR 179/75, AP Nr. 53 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf = NJW 1977, 1875, 1878; Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, BesVerwR, 6. Kap., Rn. 173; Battis, BBG, § 4 Rn. 5; ders., in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 53; Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 33 GG Rn. 76; Jachmann, ZBR 2000, 181, 188; Pfohl, ZBR 1997, 78, 85; Budjarek, Das Recht des öffentlichen Dienstes, S. 113. 190 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 116. 191 Hoffmann, AöR 91 (1966), 141, 178. 192 Blanke/Sterzel, Beamtenstreik, S. 56; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 45. 193 Hoffmann, AöR 91 (1966), 141, 180; Blanke/Sterzel, Beamtenstreik, S. 57, vgl. auch Traulsen, JZ 2013, 65, 68. 194 Weitreichendere Verpflichtungen ergäben sich schließlich auch aus der Fürsorgepflicht – als Pendant zur Treuepflicht – für den Dienstherren nicht, Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 45. 195 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 115 ff.; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 44 ff. 189
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Schließlich werden auch in den Reihen der Befürworter eines Streikverbots vereinzelt Zweifel an einer Begründung desselben mit Hilfe der beamtenrechtlichen Treuepflicht geäußert. Diese Bedenken fußen auf der Unbestimmtheit des Rechtsbegriffs. Es handle sich um eine „leerformelhafte“ 196 Generalklausel, welche der Konkretisierung durch andere beamtenrechtliche Grundsätze bedürfe. Der bloße Verweis auf die Treuepflicht sage dagegen noch nichts über deren Inhalt und Grenzen aus und sei in der Folge zur Begründung eines Streikverbots nicht zweckmäßig.197 (3) Stellungnahme Im Vorfeld der Frage, ob ein Streikrecht für Beamte trotz der ihnen obliegenden Treuepflicht denkbar wäre, gilt es festzustellen, inwieweit Einigkeit hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs der Pflicht besteht. Sowohl Befürworter, als auch Gegner eines Streikverbots stimmen mehrheitlich darin überein, dass sich die ursprünglich personale Treuepflicht im Kontext der demokratischen Republik gewandelt hat in eine funktionale Verpflichtung des Beamten zur Treue zum Staat und seiner Verfassung.198 Aus diesem Konsens lassen sich jedoch einzig Rückschlüsse hinsichtlich des Bezugspunktes der geschuldeten Treue ziehen. Über Inhalt und Grenzen der Pflicht herrscht vielmehr, wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, Uneinigkeit. Zutreffend weist Hanau199 deshalb auch darauf hin, dass es bezüglich der Generalklausel der Treuepflicht gerade an einer gemeinsamen Rechtsauffassung fehle. Generelle Aussagen zur Treuwidrigkeit eines Beamtenstreiks erscheinen vor diesem Hintergrund zumindest angreifbar und keinesfalls zwingend. Der Beamte verhält sich vielmehr dann treuwidrig, wenn er der Verfassung, welcher er zur Treue verpflichtet ist, zuwiderhandelt. Inwiefern diese den Beamtenstreik billigt, ergibt sich dabei aus der Auflösung des Spannungsverhältnisses der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG auf der einen und den konkreten Besonderheiten der Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses auf der anderen Seite. Alleine vom Ergebnis dieser Kollisionslage hängt es ab, ob der Beamte durch die Teilnahme an einem Arbeitskampf gegen die ihm obliegende Pflicht zur Verfassungstreue verstößt. Der Treuepflicht selbst lassen sich folglich keine unmittelbaren Aussagen zur Zulässigkeit des Beamtenstreiks entnehmen.200 Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass auch die Arbeitneh196
Isensee, Beamtenstreik, S. 52. Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 516; Isensee, Beamtenstreik, S. 51 f. 198 Vgl. Fn. 186; dies spiegelt sich schließlich auch im beamtenrechtlichen Treueeid wieder, § 64 Abs. 1 BBG. 199 Hanau, JuS 1971, 120, 121. 200 Aus eben diesen Erwägungen schließt auch die beamtenrechtliche Pflicht zum Gehorsam das Beamtenstreikrecht nicht aus; vgl. hierzu auch Isensee, Beamtenstreik, S. 51. 197
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mer und Angestellten im öffentlichen Dienst einer Pflicht zur Treue unterliegen, welche – nach nahezu einhelliger Ansicht – ihrerseits kein pauschales Verbot vom Arbeitskampfmaßnahmen impliziert.201 Es bleibt somit festzuhalten, dass die beamtenrechtliche Treuepflicht der Anerkennung eines Streikrechts für Beamte nicht per se entgegensteht. bb) Pflicht zur uneigennützigen und gemeinwohlorientierten Amtsführung Der auf dem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis basierende beamtenrechtliche Pflichtenkatalog enthält als Bestandteile der allgemeinen Treuepflicht weitere konkretisierte persönliche Verhaltenspflichten. Diese haben sich im Laufe der Zeit aus der allgemeinen Treuepflicht herausgebildet202 und finden darüber hinaus Ausdruck im einfachgesetzlichen Beamtenrecht203 bzw. wurden durch dieses weitgehend fixiert.204 (1) Der Arbeitskampf als Pflichtverstoß Entsprechend erfolgt die Begründung des Beamtenstreikverbots stellenweise weniger unter dem pauschalen Verweis auf die allgemeine Treuepflicht, sondern vielmehr mit Bezugnahme auf die Pflicht des Beamten, sein Amt gänzlich uneigennützig zu führen (vgl. § 61 Abs. 1 Satz 2 BBG bzw. § 34 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG) und stets nach dem Wohl der Allgemeinheit auszurichten (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 2 BBG bzw. § 33 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG).205 Diese Pflichten seien Teilaspekte der Treuepflicht und ihrerseits als hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums verfassungsrechtlich verankert.206 In der Normierung der Pflichten finde der hergebrachte Grundsatz des Beamten-
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Statt vieler Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 191. BVerfG 22.5.1975 – 2 BvL 13/73, E 39, 334 = NJW 1975, 1641, 1642; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 46; Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 65. 203 Zu nennen sind insb. §§ 60–64 BBG und §§ 33–35 BeamtStG, welche das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis näher ausgestalten, vgl. Battis, BBG, § 60 Rn. 2. 204 Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, BesVerwR, 6. Kap., Rn. 127. 205 BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = Juris Rn. 55; BVerwG 10.5.1984 – 2 C 18/82, AP Nr. 87 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1984, 2713, 2714; BVerwG 22.11.1979 – 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809; BVerwG 19.9.1977 – I DB 12/ 77, E 53, 330 = NJW 1978, 178, 179; in jüngster Zeit VG Osnabrück 19.8.2011 – 9 A 1/11, BeckRS 2011, 53771; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 46. 206 BVerwG 3.12.1980 – 1 D 86/79, E 73, 97 = DÖD 1981, 83, 84 ff.; BVerwG 10.5.1984 – 2 C 18/82, AP Nr. 87 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1984, 2713, 2714; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 46. 202
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streikverbots Ausdruck, weshalb der Beamte durch die Teilnahme an Streik- oder auch streikähnlichen Maßnahmen stets seine verfassungsrechtlichen Verpflichtungen verletze.207 Sich aus uneigennützigen Motiven und gemeinwohlorientiert dem übertragenen Amt zu widmen, beinhalte eine ständige Handlungsbereitschaft zur ordnungsgemäßen Amtsausübung.208 Die Teilnahme an Arbeitskampfmaßnahmen jedoch geschehe zur Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beamten und somit aus rein eigennützigen, nicht gemeinwohlorientierten Motiven.209 Durch die Arbeitsniederlegung unterbreche der Beamte die ihm obliegende Amtstätigkeit und setze seinen Dienstherren hierdurch zur Durchsetzung seiner eigenen dienstpolitischen Ziele unter Druck. Dieses Verhalten stelle einen „Amtsmissbrauch durch Unterlassen“ dar.210 (2) Gegenansicht Nach der gegenläufigen Ansicht lassen sich mit der Verpflichtung zur uneigennützigen und gemeinwohlorientierten Amtsführung keine derartigen Einschränkungen der Koalitionsfreiheit der Beamten begründen. Der Beamte werde durch den Eintritt in sein Amt nicht zum bloßen Befehlsempfänger der übergeordneten staatlichen Gewalt, sondern dürfe weiterhin eigene Interessen und Belange in Bezug auf seine Arbeitsbedingungen verfolgen.211 Dies zeige sich nicht zuletzt auch daran, dass die Verfassung die (sonstige) gewerkschaftliche Interessenwahrnehmung der Beamten garantiere und die Rechtsordnung insbesondere das Personalvertretungsrecht anerkenne.212 Freilich dürfe der Beamte sein Amt nicht zur Ziehung eines persönlichen Vorteils ausnutzen. Hiervon sei jedoch im Falle der Arbeitsniederlegung auch nicht auszugehen, da diese nicht die Amtsführung, sondern die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen betreffe. Folglich verletze der Beamtenstreik nicht das Gebot der uneigennützigen Amtsführung.213
207 BVerwG 3.12.1980 – 1 D 86/79, E 73, 97 = Juris Rn. 117; BVerwG 22.11.1979 – 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809; BVerwG 10.5.1984 – 2 C 18/82, AP Nr. 87 zu Art.9 GG Arbeitskampf = NJW 1984, 2713, 2714; BVerwG 19.9.1977 – I DB 12/77, E 53, 330 = NJW 1978, 178, 179; BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1398. 208 Zur besonderen Bedeutung der Amtsausübung im Vergleich zum „gewöhnlichen“ Dienstverhältnis, Isensee, Beamtenstreik, S. 47. 209 Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 506. 210 Isensee, Beamtenstreik, S. 47; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 506. 211 Hoffmann, AöR 91 (1966), 141, 190 f.; vgl. auch Ramm, Koalitions- und Streikrecht, S. 36. 212 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 134. 213 Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 49.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
(3) Stellungnahme Die Verpflichtung der Amtsführung des Beamten auf das Gemeinwohl und die uneigennützige Aufgabenwahrnehmung ist im Sinne eines funktionierenden Rechtsstaats notwendige Voraussetzung. Entsprechend wird die grundsätzliche Existenz dieser Verhaltensgebote auch nicht in Frage gestellt. Einzig über den genauen Bedeutungsgehalt und die zu ziehenden Schlussfolgerungen herrscht Uneinigkeit. Jedenfalls im Kontext der einfachgesetzlichen Ausprägungen der Verhaltenspflichten 214 zeigt sich – auch an der systematischen Konzeption und dem Zusammenspiel mit den übrigen beamtenrechtlichen Rechten und Pflichten215 –, dass der Beamte durch die Gebote der Uneigennützigkeit und Gemeinwohlorientierung primär vor Interessenkollisionen bei der Amtsausübung bewahrt werden soll.216 Er darf sein Amt nicht zur Wahrnehmung eigener Interessen missbrauchen, sondern hat dieses unparteiisch und unbefangen zu erfüllen. Es fragt sich folglich, ob die Teilnahme an einem gewerkschaftlichen Arbeitskampf einen Missbrauch des dem Gemeinwohl verpflichteten Amts darstellt. In diesem Zusammenhang gilt es, sich vorab noch einmal zu vergegenwärtigen, dass die kollektive gewerkschaftliche Interessenverfolgung kein per se eigennütziges und damit missbilligtes Verhalten darstellt, da sich grundsätzlich die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG mitsamt der kollektiven Betätigungsfreiheit auch für Beamtengewerkschaften einhelliger Anerkennung erfreut.217 Durch eine Streikteilnahme verhält sich der Beamte allerdings nicht mehr oder weniger eigennützig als im Falle anderweitiger kollektiver Interessenverfolgung, wie etwa auf dem gesetzlich anerkannten Gebiet der Personalvertretung. Er lässt gerade die Amtstätigkeit ruhen, ohne dabei seine Dienststellung zur Verfolgung eigener Interessen zu instrumentalisieren. Allerdings wird mitunter genau hieran Anstoß genommen. So heißt es, der Beamtenstreik sei Amtsmissbrauch durch Unterlassen.218 Statuiert also die Verpflichtung zur Uneigennützigkeit und die Gemeinwohlbindung der Amtsausübung implizit auch eine „Ständigkeit staatlicher Handlungsbereitschaft“ 219, welche eine vorübergehende – grundsätzlich von Art. 9 Abs. 3 GG garantierte – Arbeitsniederlegung ausschließt bzw. diese als amtsmissbräuchlich erscheinen lässt? Eine derartige Betrachtungsweise würde die grundrechtseinschränkende Dimension der Verhaltenspflichten als hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums unverhältnismäßig überzeichnen. Art. 33 Abs. 5 GG rechtfertigt nur solche Ein214
Vgl. oben Kapitel 3 B.III.1.b)bb)(1). Vgl. insb. die Befreiungsmöglichkeit von Amtshandlungen, welche potentiell konfliktbelastet sein können, § 65 BBG. 216 Wenzel, DÖV 1976, 411; Battis, BBG § 61 Rn. 7. 217 Vgl. oben Kapitel 3 A.I.1.a)bb). 218 Vgl. Fn. 210. 219 Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 506. 215
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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schränkungen, „die durch Sinn und Zweck des konkreten Dienst- und Treueverhältnisses des Beamten (2 BBG [a. F.]) gefordert werden“.220 Verlangt man aufgrund der Gemeinwohlbindung etwa zum Zweck der Sicherung von Grund- und Teilhaberechten der Bürger eine „Ständigkeit“ der Amtsausübung, so können sich hieraus zwar im Einzelfall unter genauer Abwägung der gegenläufigen Interessen und Berücksichtigung der Besonderheiten der in Rede stehenden Aufgabe Grenzen des Streikrechts ergeben. Für eine derartige Einschränkbarkeit gelten jedoch die gleichen Grundsätze wie für die Streikfreiheit der Arbeitnehmer und Angestellten, da gerade nicht an den Status, sondern die Bedeutung der tatsächlich ausgeführten Aufgabe angeknüpft wird.221 Offensichtlich wird dies insbesondere dann, wenn letztere mit identischen Aufgaben betraut sind wie die an ihrer Seite eingesetzten Beamten. Auch für die privatrechtlich Beschäftigten folgt aus der Bedeutung der Aufgabe für das Allgemeinwohl kein pauschaler Ausschluss der Arbeitskampffreiheit, sondern vielmehr (nur) Ausübungsbeschränkungen, regelmäßig in Form der obligatorischen Einrichtung ausreichender Notdienste und Erhaltungsarbeiten.222 Selbiges muss im Sinne eines verhältnismäßigen Ausgleichs223 auch für eine Beschränkung der Arbeitskampffreiheit der Berufsbeamten gelten,224 wodurch der Sicherungszweck der Verhaltenspflichten ausreichend gewahrt bliebe. Jedenfalls sind die Pflichten zur uneigennützigen und allgemeinwohlorientierten Amtsführung nicht geeignet, ein statusbezogenes aufgabenunabhängiges Streikverbot zu begründen.225 Dieses Ergebnis ist überdies vereinbar mit den Vorgaben der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit. So ermöglicht Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK gerade in 220
BVerfG 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, E 19, 303, 323 = NJW 1966, 491, 493. Eine an den Status anknüpfende Streikrechtsschranke aufgrund der Allgemeinwohlbindung führte insbesondere für die bei den privatisierten Staatsunternehmen beschäftigten Beamten zu absurden Ergebnissen. Denn noch deutlicher als die übrigen Beamten, sind diese jedenfalls keinem staatseigenen, funktionsunabhängigen „Überpostulat“ der Gemeinwohlbindung, sondern schlichtweg den marktwirtschaftlich definierten Unternehmenszielen verpflichtet. Streikrechtseinschränkungen aufgrund von Gemeinwohlerwägungen können sich demnach einzig aus der konkret wahrgenommenen Aufgabe ergeben. So wohl auch Battis, BBG, Einl., Rn. 17; für beurlaubte Beamte vgl. BVerwG 7.6.2000 – 1 D 4/99, E 111, 231 = NVwZ 2001, 810, 811; siehe auch Kutscha, NVwZ 2002, 942, 944. 222 Vgl. BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379, 1380. 223 Vgl. Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 33 GG Rn. 105. 224 Siehe auch Köpp, in: Steiner, BesVerwR, 7. Aufl., III A, Rn. 47. 225 Auch der Einwand, ein Streikverbot für Beamte garantiere für den Fall des Arbeitskampfs der übrigen öffentlich Bediensteten eine Weiterführung der streikbedingt ausfallenden Aufgaben, kann nach der Entscheidung des BVerfG vom 2.3.1993 (1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379, 1380) nur noch bedingt vorgebracht werden. Hierin hat das BVerfG die Unzulässigkeit des Streikbrechereinsatzes von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen von Angestellten und Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst festgestellt. Vgl. auch Menkens, RdA 1982, 101, 104. 221
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Bereichen, in denen ein gesteigertes Interesse der Allgemeinheit besteht, Einschränkungen des Streikrechts, sogar bis hin zu generellen Streikverboten.226 Bei der konkreten Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit können schließlich die das Konventionsrecht konkretisierende internationale und europäische Spruchpraxis227 berücksichtigt werden. cc) Pflicht zur vollen Hingabe und zum vollen persönlichen Einsatz Ergänzend zur allgemeinen Treuepflicht und deren Ausflüssen228 besteht für den Berufsbeamten das Gebot, sich mit voller Hingabe bzw. vollem persönlichen Einsatz seinem Beruf zu widmen und dem Dienstherren seine ganze Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Diese Verhaltenspflicht konkretisiert die allgemeine Dienstpflicht des Beamten229 und ist als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums ebenfalls verfassungsrechtlich verankert.230 Überdies findet sie auch Niederschlag im einfachen Beamtenrecht.231 (1) Ganzheits- und Entschädigungsgedanke Die Pflicht zur vollen Hingabe an den Beruf bzw. zum vollen persönlichen Einsatz wird insbesondere von der Rechtsprechung zur Begründung der Unzulässigkeit des Beamtenstreiks angeführt.232 Hintergrund dieser Erwägung ist vor allem das zugrundeliegende Globalverständnis der besagten Pflicht, aufgrund ihrer Einordnung in die sonstige Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses. So wird sie stets im Zusammenhang mit dem Alimentationsprinzip gesehen und zu dessen Begründung herangezogen.233 Der Beamte verpflichte sich mit Eintritt in das Beamtenverhältnis, „sich voll für den Dienstherren einzusetzen und diesem seine
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Siehe oben Kapitel 2 A.IV.3. Vgl. oben Kapitel 2 A.III.1.c)bb). Konkret hierzu siehe unten Kapitel 3 C.III.1.d). 228 Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 48. 229 Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 71; Stamer, Beamtenpflichten, S. 94. Ob die Pflicht den Beamten über die Arbeitszeit hinausgehend bindet, ist streitig, vgl. statt vieler bejahend: Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 66; ablehnend: Battis, § 61 BBG Rn. 3, m.w. Nw. 230 BVerwG 3.12.1980 – 1 D 86/79, E 73, 97 = Juris Rn. 118; BVerwG 22.11.1979 – 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809; BVerwG 19.9.1977 – I DB 12/77, E 53, 330 = NJW 1978, 178, 179; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 48; Merten, in: Merten/Pitschas/Niedobitek, S. 13. 231 Vgl. etwa § 61 Abs. 1 S. 1 BBG, § 34 Abs. 1 S. 1 BeamtStG bzw. § 36 Abs. 1 S. 1 BRRG a. F. 232 BVerwG 3.12.1980 – 1 D 86/79, E 73, 97 = Juris Rn. 118; BVerwG 22.11.1979 – 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809; BVerwG 19.9.1977 – I DB 12/77, E 53, 330 = NJW 1978, 178, 179. 233 Summer, ZBR 1992, 1, 5; Leisner, DöV 2002, 763, 766 f. 227
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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gesamte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen“.234 Mit anderen Worten stelle die derart geschuldete „Globalbereitstellung“ der Dienste eine vom Beamten zu erbringende „Werkleistung“ dar und keine bloße Dienst(-leistungs)pflicht.235 Als Korrelat gewähre der Staat dem Beamten eine umfassende Versorgung und Alimentation in Form von ausreichenden Dienstbezügen, Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung. Auf Grundlage dieser „Entschädigungs-/Ganzheitsformel“ 236 wird entsprechend auf die Unvereinbarkeit der kollektiven kampfweisen Verfolgung wirtschaftlicher Interessen durch die Beamten geschlossen. Dies urteilte die Rechtsprechung vor allem auch im Kontext streikähnlicher Kampfmaßnahmen, wie dem Dienst nach Vorschrift bzw. dem Bummelstreik („go slow“) oder kollektivem Krankmelden („sick-out“).237 Darüber hinaus wird vereinzelt sogar angeführt, der Gesetzgeber habe dem hergebrachten Grundsatz des Beamtenstreikverbots „durch die Regelung des § 54 BBG [a. F., § 61 BBG n. F.] konkrete Gestalt gegeben“.238 (2) Konkretisierung der allgemeinen Dienstpflicht mit Appellfunktion Es ist augenscheinlich, dass sich mit dem oben beschriebenen ganzheitlichen Verständnis der beamtenrechtlichen Pflichtenstellung, interpretiert im Gegenseitigkeitsverhältnis mit einer angemessenen Alimentation, die Anerkennung von Kampfmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht verträgt. Es muss jedoch gefragt werden, ob die beschriebene Einordnung und Interpretation dieses traditionellen Pflichtbegriffs der „vollen Hingabe“ auch gegenwärtig noch die tatsächliche und vom Gesetzgeber gewollte Rolle des Beamten im verfassungsrechtlichen System widerspiegelt.239 Mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz (DNeuG) vom 5. Februar 2009 hat der Gesetzgeber unter anderem § 61 Abs. 1 Satz 1 BBG (§ 54 Satz 1 BBG a. F.) geändert. Anstelle der früheren Formulierung der vollen „Hingabe“ für den Beruf spricht § 61 BBG nunmehr von „vollem persönlichen Einsatz“. Zur Begründung heißt es: 234 BVerwG 19.9.1977 – I DB 12/77, E 53, 330 = NJW 1978, 178, 179; vgl. auch BVerfG 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, E 76, 256 = NVwZ 1988, 329, 336. 235 Leisner, DöV 2002, 763 ff. 236 Summer, ZBR 1992, 1, 5; siehe auch ders., PersV 2005, 84, 89 f.; Leisner (DöV, 2002, 763, 768 f.) spricht von der „Globalität“ der Hingabepflicht und der korrespondierenden Alimentation. 237 Exemplarisch hierfür sind die Urteile zu den Arbeitskämpfen der Fluglotsen in den Jahren 1971 und 1973, siehe oben Fn. 232; vgl. auch BGH, Urteil vom 16.6.1977 – III ZR 179/75, AP Nr. 53 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf = NJW 1977, 1875. 238 BVerwG 3.12.1980 – 1 D 86/79, E 73, 97 = Juris Rn. 118; BVerwG 22.11.1979 – 1 D 84/78, E 53, 330 = NJW 1980, 1809; dagegen: Köpp, in: Steiner, BesVerwR, 7. Aufl., III A, Rn. 44. 239 Summer (ZBR 1992, 1, 5) charakterisiert den Gedanken einer vollkommenen Aufopferung des Beamten mit seiner vollen Persönlichkeit für den Beruf im Interesse des Allgemeinwohls als überholte „Beamtensaga“.
212
Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
„In Satz 1 wird durch die neue Wortwahl ,mit vollem persönlichem Einsatz‘ dem Umstand besser Rechnung getragen, dass durch den Eintritt in das Beamtenverhältnis die durch die Verfassung geschützte persönliche Rechtsstellung in dem Umfang erhalten bleibt, in dem nicht durch das Dienst- und Treueverhältnis Einschränkungen geboten sind. Auch wird die Eigenverantwortlichkeit stärker hervorgehoben“.240
Insgesamt lässt sich an diesen Ausführungen ein Paradigmenwechsel erkennen. In den Vordergrund rückt nunmehr die mitsamt ihren Freiheitsrechten geschützte Person des Beamten, die durch den Eintritt in das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis lediglich den zur Amtsausübung erforderlichen Freiheitsbeschränkungen unterworfen wird.241 Eine unbedingte Pflicht zur Widmung der vollen Persönlichkeit einhergehend mit einem pauschalen Ausschluss wesentlicher Grundrechtspositionen ist mit diesem Verständnis schlechterdings nicht mehr vereinbar,242 da auch im Sinne einer funktionsfähigen öffentlichen Verwaltung nicht unbedingt erforderlich.243 Das nach ursprünglichem Verständnis geschuldete „Beamtenwerk der vollen Hingabe“ steht in der Gegenwart unvereinbar im Kontext der zeitgenauen Leistungsbestimmung in den Beamtenverhältnissen.244 Das Gebot ist folglich vielmehr dahingehend zu verstehen, dass der Beamte mit einer dem Gemeinwohl verpflichteten Aufgabe betraut ist, welche es erfordert, dass er während der Wahrnehmung dieser Aufgabe seine Dienstpflicht mit vollem Einsatz und aus uneigennützigen Motiven erfüllt.245 Vermehrt wird daher auch weniger von einer justiziablen Einzelpflicht, als vielmehr von einer Appellfunktion der Pflicht zur vollen Hingabe und zum ganzen Persönlichkeitseinsatz gesprochen.246 Einzig unter Zugrundelegung dieses Verständnisses bleibt
240
BT-Drs. 16/7076 S. 115. Bereits Ramm (Koalitions- und Streikrecht, S. 36) stellte diesen Gedanken – allerdings aus grundrechtssystematischen Erwägungen – als Prämisse seinen weiteren Untersuchungen voran. 242 Vgl. zu den Entwicklungen der Pflicht zur vollen Hingabe im Hinblick auf die zeitliche bzw. arbeitszeitliche Verpflichtung, Leisner, DöV 2002, 763, 766 ff. 243 Näher dazu sogleich Kapitel 3 B.III.2.a). 244 Exemplarisch seien nur die Stichwörter der Teilzeitarbeit (vgl. § 43 BeamtStG und § 91 BBG) und stundengenauen Mehrarbeitsvergütung (§ 88 BBG sowie BMVergV) genannt, vgl. die Ausführungen bei Leisner, DöV 2002, 763, 766 ff. Umso mehr gelten diese Erwägungen für die Beamten bei den privatisierten ehemaligen Staatsunternehmen. Ein „Beamtenwerk der vollen Hingabe“ bei einer überwiegend privat kapitalisierten Aktiengesellschaft, etwa der Deutschen Post AG, mutete freilich seltsam an. 245 So auch Battis, BBG, § 61 Rn. 3 ff.; Stamer, Beamtenpflichten, S. 98. 246 Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 48; Summer, ZBR 1992, 1, 5, der die an das Alimentationsprinzip gekoppelte Entschädigungs- und Ganzheitsformel als „Beamtensaga“ bezeichnet. Angesichts der grundsätzlichen Tendenz zur Annäherung der Beamtenverhältnisse an die Beschäftigungsverhältnisse der Angestellten und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, könnte man auch von einer beamtenrechtlichen „Nebenpflicht“ zur Amtsführung sprechen. 241
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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auch das Fortbestehen der Pflicht für die sogenannten Privatbeamten247 erklärbar. Eine darüber hinaus bestehende Verpflichtung zur Hingabe der ganzen Persönlichkeit wirkte dagegen vor dem Hintergrund der den nunmehr privatwirtschaftlichen Zielen verpflichteten Tätigkeit abwegig.248 Eine Streikteilnahme erfolgt in klarer Abgrenzung und somit außerhalb der amtlichen Aufgabenwahrnehmung. Insofern stellt die Arbeitsniederlegung keinen Pflichtverstoß dar. Anders zu bewerten ist freilich der Einsatz sogenannter atypischer Arbeitskampfmittel in Form der nur partiellen Arbeitsverweigerung. Der Dienst wird in diesen Fällen nicht vollständig eingestellt sondern lediglich eingeschränkt.249 Unabhängig von der Frage der generellen Zulässigkeit solcher Arbeitskampfmaßnahmen250, ist eine derartige „passive Resistenz“ 251 der Beamten nicht mit der Pflicht zur vollen Hingabe und vollem persönlichen Einsatz vereinbar. Im Falle von Streikmaßnahmen kann der Staat ausreichende kompensatorische Gegenmaßnahmen treffen und hierüber die Mindestfunktionsfähigkeit der Verwaltungstätigkeit sicherstellen. Auch für die betroffene Allgemeinheit ist klar auszumachen, in welchen Bereichen die Aufgabenwahrnehmung ruht und in welchen nicht. Dies ist jedoch im Falle einer „kollektiven Minderleistung“ nicht möglich, was mit dem der Hingabepflicht zugrundeliegenden Zweck der Gewährleistung von Verwaltungseffizienz und -verlässlichkeit252 letztlich unvereinbar ist. Folglich ist ein etwaiges beamtenrechtliches Arbeitskampfrecht auf Streikmaßnahmen zu beschränken. Letzteren steht die Pflicht zur vollen Hingabe und vollem persönlichen Einsatz nicht entgegen. dd) Zwischenergebnis Weder die allgemeine beamtenrechtliche Treuepflicht noch deren konkretere Ausflüsse begründen eine grundsätzliche Unzulässigkeit der Streikteilnahme durch Beamte. Einzig aus der Verpflichtung der Amtsführung auf das Gemeinwohl ergeben sich aufgabenbezogene Einschränkungen für die beamtenrechtliche Streikfreiheit. Diese lassen sich unter Berücksichtigung der konventionsrechtlichen Vorgaben näher konkretisieren. Zudem ist das beamtenrechtliche Arbeits247 Gemeint sind hiermit insbesondere solche Beamte, die in Bereichen tätig sind, in denen der Staat die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe vollständig einem Privaten überlässt, sich also im Wege der materiellen Aufgabenprivatisierung aus dem Verwaltungszweig zurückzieht, vgl. etwa Ibler, in: Maunz/Dürig, Art. 86 GG Rn. 110 f. 248 Vgl. Battis, BBG, Einl. Rn. 16; Kutscha, NVwZ 2002, 942, 944. 249 Im Rahmen der Arbeitskämpfe der Fluglotsen in den frühen 70er Jahren kam es etwa zu Störaktionen durch verabredetes langsameres Arbeiten („go slow“) oder das übergenaue Einhalten dienstlicher Vorgaben („Dienst nach Vorschrift“), siehe oben Fn. 232. 250 Hierzu nur Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 273. 251 So schon RG 9.6.1925 – III 322/24, Z 111, 105 = Juris; Isensee, JZ 1971, 73, 76. 252 Vgl. hierzu Isensee, JZ 1971, 73 ff.; Schinkel, ZBR 1974, 282, 286.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
kampfarsenal auf die Durchführung von Streikmaßnahmen zu beschränken. Atypische Arbeitskampfmaßnahmen in Form einer nur partiellen Arbeitsverweigerung scheiden aus. c) Das Alimentationsprinzip Ein weiterer hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG ist der Alimentationsgrundsatz. Hiernach ist der Dienstherr verpflichtet, den Beamten und seine Familie amtsangemessen zu alimentieren. Dies bedeutet, „Dienstbezüge, Alters- und Hinterbliebenenversorgung sind so zu bemessen, dass sich der Beamte ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen und in wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Erfüllung der dem Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, [. . .] eine [. . .] gesetzestreue Verwaltung zu sichern, beitragen kann“.253 Der Dienstherr hat dem Beamten somit einen amtsangemessenen Lebensunterhalt zu gewähren.254 Neben der verfassungsrechtlichen Verankerung als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums stellt der Alimentationsgrundsatz als Teilbereich der Fürsorgepflicht des Dienstherrn zusätzlich vor allem auch eine Hauptpflicht im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses des Art. 33 Abs. 4 GG dar.255 Dabei umfasst der Gedanke der Alimentation der Beamten verschiedene Grundprinzipien, welche im Kontext des Beamtenstreiks Bedeutung erlangen. aa) Ausgestaltung der Besoldungsstruktur durch den Gesetzgeber Die Pflicht des Dienstherren, eine angemessene Alimentation zu gewährleisten, folgt unmittelbar aus der Verfassung und wird nicht etwa vertraglich vereinbart.256 Das BVerfG sieht es indessen ebenfalls als verfassungsrechtlich verbürgt an, dass „die angemessene Alimentierung summenmäßig nicht erstritten und vereinbart wird, sondern einseitig durch Gesetz festzulegen ist“.257 Übereinstimmend mit dem hergebrachten Grundsatz der allgemeinen einseitig-hoheitlichen Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses ist folglich auch die Besoldung als wesentliche Hauptpflicht des Dienstherrn einseitig durch den Gesetzgeber zu regeln. Insoweit kommen auch die gleichen Erwägungen zum Beamtenstreik zum Tragen, wie sie bereits vorstehend im Rahmen der Erörterung der gesetzlichen Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses formuliert wurden.258 253
Eingehend BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1045/75, E 44, 249 = NJW 1977, 1869. Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 50. 255 Summer, PersV 1988, 76, 78; Battis, BBG § 78 Rn. 4. 256 BVerfG 24.11.1998 – 2 BvL 26-91, E 99, 300 = NJW, 1999, 1013, 1014. 257 Statt vieler BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1045/75, E 44, 249 = NJW 1977, 1869, BVerfG 24.11.1998 – 2 BvL 26-91, E 99, 300 = NJW, 1999, 1013, 1014. 258 Siehe oben Kapitel 3 B.III.1.a)bb). 254
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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bb) Feste Determinanten der inhaltlichen Ausgestaltung Nach der hergebrachten Konzeption ist die Alimentation kein Leistungsentgelt für erbrachte Dienste des Beamten, sondern vielmehr das Korrelat der vollen „Hingabe der Arbeitskraft in beamtenrechtlicher Treue“.259 Wie eingangs bereits erwähnt, bedeutet dies inhaltlich, dass der Dienstherr dem Beamten einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren hat. Diesbezüglich enthält der Alimentationsgrundsatz neben dem grundsätzlichen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber inhaltliche Vorgaben für die Ausgestaltung der Besoldungsstruktur. Letztere hat sich dabei im Wesentlichen am Standort und der Bedeutung des übertragenen statusrechtlichen Amts innerhalb der Ämterhierarchie zu orientieren.260 Darüber hinaus sind bei der Bemessung der Besoldung weitere Kriterien zu beachten, wie etwa die allgemeine finanzielle und wirtschaftliche Entwicklung.261 Festzuhalten bleibt also, dass die Ausgestaltung der Besoldungsstruktur durch das Alimentationsprinzip nicht nur im Hinblick auf den Regelungsauftrag, sondern auch inhaltlich verfassungsrechtlichen Vorgaben unterliegt. Für den Beamtenstreik wird hieraus der Schluss gezogen, dass es den Koalitionen aufgrund der inhaltlichen Besoldungsvorgaben an einem Gestaltungsspielraum, welcher durch „erkämpfte“ Vereinbarungen ausgefüllt werden könnte, fehle. Die für eine Tarifauseinandersetzung wesentlichen Faktoren, wie etwa die wirtschaftliche Situation des Arbeitgebers, das Verhandlungsgeschick und die Kampfstärke der Parteien, seien aufgrund der „normativen Eindeutigkeit“ der Alimentationsprinzipien für die Ausgestaltung der Beamtenbesoldung ohne Bedeutung.262 Entsprechend sei die Zulassung eines Streiks zur Festlegung der summenmäßigen Alimentierung unzulässig.263 Die vorstehenden Erläuterungen begegnen jedoch in mehrfacher Hinsicht Bedenken. Fraglich ist bereits, ob das Verständnis des Alimentationsprinzips als „materieller Verschlussriegel“ für ausgehandelte Besoldungsvereinbarungen den
259 Leisner, DöV 2002, 763, 766; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 53; Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofman/Hopfauf, Art. 33 GG Rn. 135; Badura, in: Maunz/ Dürig, Art. 33 GG Rn. 72; vgl. auch oben Kapitel 3 B.III.1.b)cc). 260 BVerfG 30.9.1987 – 2 BvR 933/82, E 76, 256 = NVwZ 1988, 329, 336; BVerfG 7.7.1982 – 2 BvL 14/78, E 61, 43 = NVwZ 1983, 217, 217 f.; Henneberger, PersR 2005, 64; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 50, Isensee, Beamtenstreik, S. 39. In der Praxis sind die Beamten im Rahmen des Laufbahnrechts Besoldungsgruppen zugeordnet, innerhalb welcher das Gehalt dann je nach Dienstaltersstufe steigt, vgl. Hebeler, NWVBL 2011, 289. 261 BVerfG 6.3.2007 – 2 BvR 556/04, E 117, 330 = NVwZ 2007, 568, 570; vgl. zur Bemessung der Höhe der Alimentation insgesamt Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofman/Hopfauf, Art. 33 GG Rn. 138 ff.; siehe auch § 14 Abs. 1 BBesG. 262 Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 509; Isensee, Beamtenstreik, S. 39 f. 263 BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1045/75, E 44, 249 = NJW 1977, 1869.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
bereits bestehenden Flexibilisierungstendenzen in der Besoldungsstruktur264 zum Trotz überhaupt noch absoluten Bestand haben kann. Bedarf es nicht gerade auch vor dem durch Demir und Baykara neu definierten konventionsrechtlichen Hintergrund einer neuen Bewertung? Der EGMR hat das Recht, Arbeitsbedingungen kollektiv aushandeln zu können, vorbehaltlich zulässiger Ausnahmen gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK, als durch die Konvention verbürgt angesehen.265 Dies setzt denknotwendig voraus, dass es einen wie auch immer gearteten Verhandlungsspielraum gibt. Diese Rechtsprechung steht dennoch nicht notwendigerweise im Widerspruch zum beamtenrechtlichen Alimentationsgedanken. Letzterer könnte vielmehr im Zuge einer konventionsfreundlichen Auslegung auf seinen Kerngehalt, nämlich die Sicherstellung einer Mindestgrenze der amtsangemessenen Alimentierung, beschränkt werden266. Sofern über eine derartig garantierte Grundbesoldung hinaus ein verhandlungsoffener, notfalls streikweise ausgestaltungsfähiger Spielraum verbliebe, wäre das Alimentationsprinzip mit den Konventionsgrundsätzen vereinbar. Jedoch auch aus rein national-rechtlicher Perspektive erscheint das Konzept der Alimentation, als eine gänzlich von der individuell erbrachten Leistung entkoppelte staatliche Unterhaltsgewährung, diskussionswürdig. Wie bereits ausgeführt,267 lassen sich die von den Beamten geschuldeten und erbrachten Dienste im zeitgegenwärtigen Kontext nicht mehr gänzlich zeit- und leistungsunabhängig unter dem Gebot der Hingabe der vollen Persönlichkeit zusammenfassen. In Annäherung an die tarifvertraglich geregelten privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse der übrigen öffentlich Bediensteten wurde auch der gegenseitige Leistungsaustausch in den Beamtenverhältnissen stärker leistungs- und zeitorientiert ausgerichtet.268 Die Konzeption einer ausschließlich an starren objektiven Kriterien ausgerichteten „Globalalimentation“ 269 entspricht folglich nicht länger den tatsächlichen Gegebenheiten.270 So schenkte der Gesetzgeber im Rahmen des Dienstrechtsreformgesetzes im Jahre 1997 erstmals der verstärkten Forderung271 264
Dazu sogleich. Oben Kapitel 2 A.II.3.b). 266 Hierauf beschränkt sich denn auch die Prüfung des BVerfG im Falle einer entsprechenden Verfassungsbeschwerde eines Beamten, Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 55. 267 Vgl. oben Kapitel 3 B.III.1.b)cc). 268 Vgl. oben Fn. 244. 269 So Leisner, DöV 2002, 763, 771. 270 So auch Schlenzka, PersR 2008, 48, 49. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit des Alimentationsprinzips mit Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen von Beamten, vgl. BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1400, Battis, § 91 BBG Rn. 7 ff. 271 So bereits die Reformbestrebungen der StudKomm, in: Bericht der Kommission, S. 290 ff., als auch Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 134: „Ziel der Veränderung muss sein, zu einem Vergütungssystem zu kommen, das 265
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nach der Implementierung flexibler Leistungszulagen in die Besoldungsordnung Beachtung.272 Freilich bleibt die Besoldungsstruktur weiterhin inhaltlich vorgezeichnet und steht somit einem freien Aushandlungsprozess nur bedingt offen. Gleichwohl wird die Beamtenbesoldung durch die genannten Kriterien gerade nicht bis ins Detail genau ausgeformt, sodass jedenfalls – wenn auch nicht unbegrenzte – Gestaltungsspielräume für ein freies Aushandeln verbleiben.273 Insbesondere die in das Beamtenrecht aufgenommenen Verordnungsermächtigungen der §§ 27 Abs. 7 Satz 3 und 42 a Abs. 1 Satz 1 BBesG zur Gewährung von leistungsbezogenen Zulagen für die Besoldungsgruppen A illustrieren, dass die Beamtenbesoldung inhaltlich sehr wohl flexibel gestaltbare Freiräume aufweisen kann,274 zu deren konkreter Ausfüllung nicht zwangsläufig (nur) der parlamentarische Gesetzgeber berufen ist. Schließlich existieren abseits der Besoldungsfragen auch noch weitere Arbeitsbedingungen, wie etwa Arbeitszeit- oder Urlaubsregelungen, welche inhaltlich nicht durch objektive Kriterien des Alimentationsprinzips determiniert sind. Festzuhalten bleibt somit, dass die materiellen Determinanten des Alimentationsgrundsatzes eine notfalls auch kampfweise erzielte Veränderung der Beamtenbesoldung nicht per se ausschließen.275 Vielmehr stehen der hergebrachte Grundsatz des Berufsbeamtentums und damit auch seine Bedeutung für die Frage nach der Anerkennung eines Beamtenstreikrechts einer konventionsfreundlichen Auslegung offen. cc) Alimentation als grundrechtsähnliches subjektives Beamtenrecht Spricht man zusammen mit der hergebrachten Auffassung den Beamtenkoalitionen ein – falls notwendig auch kampfweise durchgesetztes – direktes Verhandlungsrecht bei der Besoldungsfindung ab, so stellt sich in der Folge die Frage nach der möglichen Handhabe der Beamten gegen eine unzureichende gesetzliche Besoldungsausgestaltung. Vor diesem Hintergrund spricht das BVerfG den Beamten ein „grundrechtsähnliches Individualrecht auf angemessenen Lebensin seiner Grundorientierung mit der Wertordnung übereinstimmt, die in den Entgeltsystemen der Wirtschaft gilt und vor allem Leistung belohnt.“ 272 Vgl. das Leistungselement beim Grundgehalt in § 27 Abs. 1 S. 2 BBesG sowie § 27 Abs. 6 S. 1 und Abs. 7 S. 1 BBesG; siehe auch § 42 a Abs. 1 S. 1 BBesG mit der Ermächtigung zur Gewährung von Leistungsprämien durch Erlass einer Rechtsverordnung. 273 Siehe hierzu nur exemplarisch zur Reform der Professorenbesoldung Janisch/ Osel, „Professor billig“? Bundesverfassungsgericht prüft Besoldungsreform, FAZ Ausgabe vom 13.2.2012: „[. . .] fast schon wie Tarifpartner ringen Hochschul-Chefs und Professoren um [Leistungs-]Zulagen.“, vgl. auch Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 167 f. 274 Siehe auch Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 167 f. 275 So im Ergebnis auch Däubler, Streik im öffentlichen Dienst, S. 134 f.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
unterhalt“ aus Art. 33 Abs. 5 GG zu, dessen Verletzung sie nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG bzw. § 90 Abs. 1 BVerfGG im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen können.276 Wolle das Grundgesetz durch Art. 33 Abs. 5 GG garantieren, dass die beamtenrechtliche Gesetzgebung die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen wahre, so liege es nahe, den Betroffenen zu Wahrung ihrer durch rechts- und sozialstaatliche Grundprinzipien geprägten verfassungsrechtlichen Rechtsstellung ein entsprechendes Individualrecht einzuräumen.277 Aus der Gewährung dieses grundrechtsähnlichen Individualrechts wird schließlich auf die Unzulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen durch die Beamten geschlossen. Der Beamte habe die Möglichkeit eine unzureichende Besoldung verfassungsgerichtlich überprüfen zu lassen. Folglich sei die gleichzeitige Anerkennung eines Streikrechts entbehrlich.278 Dogmatisch lässt sich der geführte Einwand der Entbehrlichkeit des Streikrechts aufgrund der bestehenden Klagemöglichkeit im Kontext der Verhältnismäßigkeit, genauer noch im Rahmen des Ultima-Ratio-Prinzips279 verorten: Sofern die Interessenwahrnehmung auf dem Rechtsweg möglich ist, bedarf es nicht der Ultima Ratio des Arbeitskampfs. Fraglich ist folglich, ob die Klagemöglichkeit vor dem BVerfG eine ausreichende und insbesondere auch gleich geeignete Maßnahme der gewerkschaftlichen Interessenverfolgung darstellt, die das Streikrecht gleichsam entbehrlich macht. Das Individualrecht aus Art. 33 Abs. 5 GG ermöglicht dem Beamten die Erhebung einer Feststellungsklage, im Rahmen welcher er (lediglich) die allgemeine Verletzung des Alimentationsprinzips geltend machen kann.280 Kommt es somit, gegebenenfalls nach Beschreiten des gesamten Verwaltungsrechtsweges, zu einem für den Beamten günstigen Verfahrensausgang, so bedarf es dennoch zunächst eines Eingreifens des Gesetzgebers,281 bevor die Verbesserung der Besoldungssituation umgesetzt wird.282 Hierbei ist weiterhin der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu beachten, weshalb der Beamte auch keinen Anspruch auf eine „summenmäßig bestimmte oder regional differenzierte Alimentation“ hat.283 Folglich benötigt die klageweise Durchsetzung 276
Ausführlich BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228 ff. BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228, 1230. 278 Isensee, Beamtenstreik, S. 40 ff.; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 511. 279 Dieses hat seinen Ursprung im Grundsatz der Erforderlichkeit Löwisch/Rieble, in: MünchHbArbR, Band 2, § 200 Rn. 48. 280 Der Feststellungsantrag lautet dementsprechend, dass das Nettoeinkommen verfassungswidrig zu niedrig bemessen ist. 281 Zu den weiteren damit verbundenen möglichen Problemen Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 148 ff. 282 BVerwG 20.3.2008 – 2 C 49/07, E 131, 20 = NVwZ 2008, 1129, 1131. 283 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 55; BVerfG 28.2.1980 – 1 BvL 17/77 u. a., E 53, 257 = NJW 1980, 692, 696; BVerfG 6.3.2007 – 2 BvR 556/04, E 117, 330 = ZBR 2007, 128 ff. 277
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des angemessenen Besoldungsanspruchs – auch unter Berücksichtigung einer mitunter langen Verfahrensdauer – einen längeren Zeitraum. Zudem beinhaltet sie auch nicht die Möglichkeit auf eine nach den jeweiligen Missständen ausdifferenzierte Lösung hinzuwirken, da insoweit der zu wahrende gesetzgeberische Gestaltungsspielraum die „judikative Schlichtung“ limitiert.284 Bereits der oberflächliche Vergleich zeigt somit, dass die Klagemöglichkeit im Vergleich zum Arbeitskampf jedenfalls nicht gleich geeignet ist. Selbst wenn man dem Gesetzgeber auch im Falle der Interessendurchsetzung durch einen Streik einen Gestaltungsspielraum bewahrte, so erscheint die Einflussnahme im Wege des Arbeitskampfs dennoch wesentlich effektiver, unmittelbarer und insbesondere auch zeitnäher. Auch der Einwand, dass jedenfalls ein Nebeneinander von Streikrecht und Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde eine unangemessene Übervorteilung der Beamten darstelle,285 vermag nicht zu überzeugen. Die Konstruktion des grundrechtsähnlichen einklagbaren Rechts des Beamten auf angemessene Alimentation wurde ja gerade wegen der fehlenden Möglichkeit der kollektiven Einflussnahme bei der Besoldungsgestaltung geschaffen.286 Empfindet man die Alternativität der möglichen Interessendurchsetzung als Übervorteilung, müsste man folgerichtig die Verfassungsbeschwerde als nachrangig bzw. subsidiär qualifizieren, nicht aber umgekehrt den grundsätzlich durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Arbeitskampf. Nach alledem schließt mithin auch die Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung des Individualrechts auf angemessene Besoldung das Beamtenstreikrecht nicht aus. Insgesamt kann damit festgehalten werden, dass das verfassungsrechtliche Alimentationsprinzip der Übertragung der Konventionsvorgaben im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht entgegensteht. d) Der Grundsatz des Haupt- und Lebenszeitberufs und Paritätserwägungen Mit dem Alimentationsgrundsatz eng verbunden sind die Prinzipien der Haupt- und Lebenszeitberufung als weitere hergebrachte Grundsätze des Berufs284 Vgl. Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 149. Dieser Umstand erscheint darüber hinaus auch deshalb misslich, da die Praxis der vergangenen Jahre deutlich werden lässt, dass sich der Gesetzgeber bei der Besoldungsausgestaltung für die Beamten zunehmend an den erzielten Ergebnissen für die tarifgebundenen öffentlich Bediensteten orientiert, vgl. Esslinger, Tarifabschluss im öffentlichen Dienst, 2,3 Prozent mehr Geld, Süddeutsche Zeitung, Ausgabe vom 10.3.2011; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 45 Rn. 8. 285 So etwa Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 511. 286 Vgl. nochmals BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228, 1230.
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beamtentums.287 Durch diese auf Kontinuität zielenden Ausgestaltungsregeln sollen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der einzelnen Beamten gesichert werden, um hierdurch das Allgemeininteresse an einer leistungsfähigen rechtsstaatlichen Verwaltung zu fördern. Zu diesem Zweck wird dem Beamten sein Amt als hauptberufliche Beschäftigung auf Lebenszeit übertragen, um ihm durch die soziale Absicherung eine objektive und unabhängige Aufgabenwahrnehmung zu ermöglichen.288 Hiermit wird die Gewährung eines Streikrechts aus unterschiedlichen Gründen für unvereinbar gehalten. aa) Die Folgerung eines Streikverbots Verbreitet werden der Hauptberuflichkeitsgrundsatz und das Lebenszeitprinzip als komplementäre Elemente der unbedingten Dienstbereitschaft und stetigen Verfügbarkeit des Beamten angesehen. Hierzu stehe die Anerkennung eines Rechts auf Arbeitsniederlegung im Widerspruch.289 Hinsichtlich dieses Einwands greifen allerdings die bereits dargelegten Erwägungen zu den konkretisierten Treuepflichten der Beamten.290 Darüber hinaus werden die beiden hergebrachten Grundsätze jedoch auch zum Gegenstand arbeitskampfrechtlicher Paritätserwägungen, auf deren Grundlage wiederum die Unzulässigkeit des Beamtenstreiks begründet wird. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die aus dem Lebenszeitprinzip folgende unkündbare Stellung des Beamten ein. So wird angeführt, der Beamtenstreik stelle einen unter Disparität leidenden Arbeitskampf dar, da die Beamten – im Unterschied zu privatrechtlich beschäftigten Arbeitnehmern – zum einen aufgrund ihrer Unkündbarkeit nicht das Risiko des Arbeitsplatzverlusts tragen müssten und zum anderen aufgrund des Alimentationsgrundsatzes auch keinen streikbedingten Besoldungsausfall zu befürchten hätten. Auch stünde dem Dienstherren im Falle des Arbeitskampfes nicht das Verteidigungsmittel der Aussperrungzur Verfügung, weshalb insgesamt ungleiche Kampfbedingungen bestünden, die im Ergebnis die Unzulässigkeit des Beamtenstreiks zur Folge hätten.291
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Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 67. Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 39 f.; Battis, § 4 BBG Rn. 26. 289 Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 505; Isensee, Beamtenstreik, S. 46. 290 Siehe Kapitel 3 B.III.1.b)bb); Kapitel 3 B.III.1.b)cc). 291 OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 893; OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 56; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 502; Isensee, Beamtenstreik, S. 44 f.; Scholz, in: Leisner, Berufsbeamtentum, S. 179, 190; siehe auch Otto, Arbeitskampfrecht, § 9 Rn. 4. 288
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bb) Stellungnahme Die vorstehenden Bedenken gegenüber der Anerkennung eines Beamtenstreikrechts fußen maßgeblich auf systembedingten Friktionserscheinungen. Denn das die Tarifautonomie unterstützende deutsche Arbeitskampfsystem richtet sich mitsamt seinen Grundsätzen primär an den Verhältnissen der Privatwirtschaft aus, welche sich freilich von den Bedingungen in öffentlich-rechtlichen Beamtenverhältnissen unterscheiden.292 Gleichwohl bestehen Bedenken, aus diesen Friktionen auf die generelle Unzulässigkeit des Streikrechts für Beamte zu schließen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Arbeitskampfparität. Dieser bildet ein Korrektiv, welches je nach der jeweiligen Situation und Arbeitskampfführung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit293 Bedeutung erlangt. Schon aufgrund der systematischen Funktion des Paritätsgrundsatzes bestehen somit Bedenken, eine ganze „Spielart“ des Arbeitskampfes aufgrund mutmaßlicher Disparität grundsätzlich als unzulässig zu erklären. Angenommen werden könnte dies einzig für Konstellationen, in denen per se eine offensichtliche und unüberwindbare Gleichgewichtsstörung besteht, welche etwa dazu führte, dass eine Partei strukturell unterlegen und somit den Kampfmaßnahmen der anderen hilflos ausgeliefert wäre.294 Dies kann jedoch im Falle des Streiks der Beamtenschaft nicht pauschal angenommen werden. Wird das fehlende Arbeitsplatzrisiko aufgrund der Unkündbarkeit der Beamten ins Feld geführt, so ist zunächst klarzustellen, dass auch für privatrechtlich ausgestaltete Arbeitsverhältnisse die Streikteilnahme an sich keinen Kündigungsgrund darstellt. Im Gegenteil: Wird eine Kündigung im zeitlichen Zusammenhang mit einem Arbeitskampf ausgesprochen, so darf sie jedenfalls keinen inneren Bezug zu einer etwaigen Teilnahme des Arbeitnehmers am Kampfgeschehen aufweisen295 Die mittlerweile allgemein anerkannte Rechtsfolge des Streiks ist einzig die Suspendierung der Hauptleistungspflichten.296 Es verbleibt freilich das Risiko eines Verlusts des Arbeitsplatzes aus betrieblichen Gründen aufgrund der wirtschaftlichen Folgen einer Arbeitsniederlegung, welches in dieser Form für Beamte mit dem Staat als „Arbeitgeber“ nicht besteht. Nichts anderes gilt aller292
Kissel, Arbeitskampfrecht, § 45 Rn. 42. Ob Paritätserwägungen dabei den originären Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung bilden oder als Abwägungskriterien in der Proportionalitätsprüfung berücksichtigt werden, wird indessen unterschiedlich bewertet, vgl. Fischinger, RdA 2007, 99, 100 ff. 294 In diesem Fall würde der Arbeitskampf nicht eine grundsätzliche Unterlegenheit einer Partei zulässigerweise ausgleichen, sondern wirkte schlicht paritätsstörend und verfehlte damit seinen eigentlichen Zweck, vgl. Fischinger, RdA 2007, 99, 102; Belling, NZA 1990, 214, 217. So im Falle des Beamtenstreiks etwa Isensee, Beamtenstreik, S. 46. 295 Ricken, in: MünchHbArbR, Band 2, § 203 Rn. 25. 296 BAG 22.3.1994 – 1 AZR 622/93, AP Nr. 130 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 1994, 1097, 1098. 293
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dings auch für die sonstigen, nicht-beamteten Beschäftigten des öffentlichen Diensts, welche sich diesem Risiko ebenso wenig ausgesetzt sehen.297 Auch hier droht keine mögliche Insolvenz des Arbeitgebers aufgrund der wirtschaftlichen Folgen eines Arbeitskampfs. Dennoch werden Streikmaßnahmen nicht aufgrund etwaiger Disparität für grundsätzlich unzulässig gehalten.298 Mithin kann auch aus dem Fehlen des Arbeitsplatzrisikos im Falle des Beamtenstreiks jedenfalls nicht a priori auf das Bestehen von Disparität geschlossen werden.299 Selbiges gilt auch für das Argument, dem Dienstherrn sei im Falle des Beamtenstreiks jedenfalls das Verteidigungsmittel der lösenden Aussperrung abgeschnitten.300 Auch hierbei handelt es sich um eine Ausnahmeerscheinung,301 deren Fehlen – sofern man sie im Grundsatz überhaupt noch anerkennt302 – im Falle des Beamtenstreiks keine grundsätzliche rechtliche Disparität zur Folge hat.303 Dagegen wäre eine suspendierende Aussperrung dem Grunde nach auch im beamtenrechtlichen Arbeitskampf denkbar, da sie den grundsätzlichen Bestand des Dienstverhältnisses und somit mittelbar auch das Lebenszeitprinzip unangetastet ließe.304 Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die Vereinbarkeit einer Suspensivaussperrung mit dem Alimentationsgedanken.305 So verdeutlicht beispielsweise § 9 BBesG, dass aus den hergebrachten Grundsätzen nicht notwendigerweise eine in jedem Falle bestehende, uneingeschränkte Alimentierungsverpflichtung folgt.306 Unter besonderen Umständen ist vielmehr eine Sus297
Vgl. Rüthers, NZA 2010, 6, 11; hierzu kritisch auch Adomeit, ZRP 1987, 75, 78. Gleichwohl wird dieser Umstand mitunter kritisch bewertet, vgl. etwa Rüthers, NZA 2010, 6, 11. Um zu hohe Belastungen der letztlich durch Steuermittel getragenen öffentlichen Hand zu vermeiden, könnten somit ebenfalls Ausübungsbeschränkungen, nicht aber generelle Verbote, zu erwägen sein. 299 Hensche (in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 66) weist zurecht darauf hin, dass im sonstigen öffentlichen Dienst vielfach auch dem Beamtenverhältnis angenäherte Kündigungsschutzvorschriften existieren, welche ihrerseits auch nicht zu einer Disparität führen, vgl. etwa § 34 Abs. 2 TVöD; vgl. auch Rüthers, NZA 2010, 6, 11. 300 So etwa Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 503. Die Aussperrung allgemein ablehnend Isensee, Beamtenstreik, S. 44 f.; Otto, Arbeitskampfrecht, § 9 Rn. 4. 301 Gegebenenfalls denkbar als Antwort auf einen rechtwidrigen Streik, vgl. nur Ricken, in: MünchHbArbR, Band 2, § 201 Rn. 1 ff. 302 Kritisch dazu und m.w. Nw. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 236. 303 Faktisch scheidet die Aussperrung auch in anderen Bereichen, insbesondere im Falle eines Spezialistenstreiks – etwa von Ärzten, Piloten oder Fluglotsen – aus, vgl. Jacobs, in: NZA 2010, 325, 331. 304 So auch schon Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 166 ff., Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 66. Freilich müsste sich die Aussperrung nach der hier vertretenen Ansicht auf die streikberechtigten Beamten beschränken. Die Aussperrung von Beamten, die Aufgaben innerhalb des Vorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG wahrnehmen, wäre dagegen unzulässig. 305 A. A. Otto, Arbeitskampfrecht, § 9 Rn. 4. 306 Diese Wertung deckt sich indessen auch mit dem hier vertretenen Verständnis der beamtenrechtlichen Alimentation, als einer an Leistungs- und Zeitabhängigkeit ange298
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pendierung der beamtenrechtlichen Dienstbezüge möglich.307 Diese Wertung müsste im Zuge eines verhältnismäßigen Ausgleichs zwischen der Arbeitskampffreiheit des Dienstherren auf der einen und den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums auf der anderen Seite entsprechend auch auf die Situation des Beamtenstreiks übertragen werden.308 Hierdurch erübrigte sich schließlich auch der weitere Einwand des fehlenden Lohnausfallrisikos für Beamte. Denn diese verlören während einer Streikteilnahme ihre Dienstbezüge und trügen mithin sehr wohl ein der Arbeitnehmerschaft vergleichbares wirtschaftliches Risiko, womit auch insoweit keine Disparität zu befürchten stünde. Verfassungsrechtlich scheitert die Anerkennung eines Streikrechts der Beamten somit nicht bereits aufgrund allgemeiner Paritätserwägungen insbesondere in Bezug auf die rechtliche Ebenbürtigkeit der Kampfparteien.309 Betrachtet man neben den rein rechtlichen Kräfteverhältnissen zudem die tatsächlichen Gegebenheiten in den konventionsrechtlich relevanten Fällen, kann ebenfalls keine Gefahr eines strukturellen Ungleichgewichts ausgemacht werden. Die konventionsrechtlichen Vorgaben erfordern nicht die Einführung eines uneingeschränkten Streikrechts für das Berufsbeamtentum, sondern vielmehr die arbeitskampfrechtliche Öffnung der „nicht hoheitlichen Peripherie“ des Beamtensektors. Betrachtet man exemplarisch die Berufsgruppen der beamteten Lehrer sowie der Beamten bei der Deutschen Bahn AG und den Postnachfolgeunternehmen, so existieren in diesen Bereichen neben den Beamtenverhältnissen, überwiegend sogar mehrheitlich, privatrechtliche Arbeitsverhältnisse, für welche die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG uneingeschränkt gilt. Im Verhältnis zu einem Arbeitskampf der Arbeitnehmer wirkte sich eine Beteiligung der Beamten somit oftmals bereits rein zahlenmäßig nur unerheblich aus.310 Zudem kommt es näherten „Gegenleistung“ des Dienstherrn vgl. hierzu nochmals oben Kapitel 3 B.III. 1.c)bb). 307 Kissel (Arbeitskampfrecht, § 45 Rn. 30) fordert diese etwa für den Fall, dass Beamte, insbesondere im Nachgang zur Entscheidung des BVerfG zur Unzulässigkeit des „Streikbrechereinsatzes“, streikbedingt nicht weiter beschäftigt werden können. 308 Näher hierzu unten Kapitel 3 C.III.1.a). Ebenso Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 66. 309 Dies ist das übereinstimmend geforderte Mindestkriterium gleicher Verhandlungsstärke, vgl. Ricken, in: MünchHbArbR, Band 2, § 200 Rn. 39. 310 Bei der Deutschen Bahn AG waren am 31.12.2012 von insgesamt 287.508 Mitarbeitern lediglich rund 43.000 im Beamtenverhältnis beschäftigt, vgl. oben Kapitel 3 A.II.2.b)bb)(1) und Geschäftsbericht der DB AG 2012, abrufbar unter: http:// www1.deutschebahn.com/ecm2-db-de/gb_2012/(Stand: 27.5.2015). Die Postnachfolgeunternehmen zählten am 31.12.12 zusammen insgesamt 679.229 Mitarbeiter (DP AG = 428.287, vgl. Geschäftsbericht 2012, abrufbar unter: www.dp-dhl.com (Stand: 27.5. 2015); DP Bank AG = 18.600, vgl. Geschäftsbericht 2012, abrufbar unter www.post bank.de (Stand: 27.5.2015) und Deutsche Telekom AG = 232.342, vgl. Geschäftsbericht 2012, abrufbar unter: www.telekom.com (Stand: 27.5.2015)), von den lediglich rund 88.000 im Beamtenverhältnis beschäftigt waren. Einzig bei der Berufsgruppe der Lehrer stellen die Beamten mit rund 656.676 von insgesamt 957.943 Beschäftigten den
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bereits de lege lata zur gleichen Situation, wenn die Beamten aufgrund eines Streiks der angestellten Belegschaft auf ihrem üblichen Arbeitsplatz nicht weiterbeschäftigt werden können.311 Festzuhalten bleibt somit, dass die Anerkennung eines Beamtenstreikrechts, zumal nur in Teilbereichen erforderlich, jedenfalls kein verfassungsrechtlich relevantes strukturelles Ungleichgewicht der Verhandlungschancen begründet. Somit sind auch den Grundsätzen des Haupt- und Lebenszeitberufs keine verfassungsimmanenten Rezeptionshindernisse für die Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben zu entnehmen. e) Zwischenergebnis Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass die statusrechtlichen Besonderheiten des Beamtenverhältnisses keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Hindernisse für eine konventionsfreundliche Auslegung darstellen. Allerdings macht die Verfassung Vorgaben, welche bei der Auslegung zu berücksichtigen sind. So muss sich die Arbeitskampffreiheit der Beamten auf die Durchführung von Streikmaßnahmen unter Ausschluss atypischer Kampfmittel beschränken. Überdies dürfen Arbeitskämpfe ausschließlich zur Gestaltung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geführt werden. 2. Funktionsfähigkeit der Verwaltung und verfassungsrechtliche Funktionsgarantie a) Funktionsfähigkeit der Verwaltung „Ist auf die Beamtenschaft kein Verlass mehr, so sind die Gesellschaft und ihr Staat in kritischen Situationen verloren“.312 Dieses sehr drastische Szenario wird vielfach skizziert, um zu verdeutlichen, dass das generelle Streikverbot ein notwendiges Mittel zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung sei und als solches unverzichtbar den Fortbestand des sozialen Rechtsstaats sichere.313 überwiegenden Teil, vgl. oben Kapitel 3 A.II.2.b)bb)(1). Dennoch existieren auch hier regionale Unterschiede. So sind etwa im Nordosten der Republik die weit überwiegende Anzahl der Lehrer privatrechtlich angestellt, in Sachsen und Sachsen-Anhalt mehr als 80 Prozent, Osel, Streit um Beamtenstatus, Zweiklassengesellschaft im Lehrerzimmer, Süddeutsche Zeitung, Ausgabe vom 30.1.2013. 311 Der Einsatz auf einem anderen streikbedingt ausfallenden Arbeitsplatz ist nach Ansicht des BVerfG aufgrund einer fehlenden gesetzlichen Grundlage unzulässig, vgl. BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379. 312 OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 894. 313 Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 64; Badura, in: Badura/Stern, Die Rechtmäßigkeit des Beamteneinsatzes, S. 44 ff.; Schubert, AöR 2012, 92, 96; Lindner, DÖV 2011, 305, 306; von Münch, ZBR 1970, 372, 375.
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Diese Auffassung begegnet in ihrer Pauschalität jedoch bereits im Ansatz erheblichen Bedenken. Das Einsatzgebiet der Beamten erstreckt sich losgelöst von Art. 33 Abs. 4 GG314 auf unterschiedlichste Bereiche öffentlicher Aufgaben. Diese reichen von der klassisch-obrigkeitlichen Verwaltung bis hin zur allgemeinen Kommunalverwaltung. Vor dem Hintergrund eines derartig breiten Aufgabenspektrums erscheint eine aufgabenunabhängige einheitliche Aussage über die Unentbehrlichkeit des jeweiligen Beamtendienstes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Verwaltung nahezu unmöglich. Der Grundsatz der praktischen Konkordanz fordert überdies die Erforderlichkeit der Grundrechtseinschränkung in jedem konkreten Fall.315 Es darf jedoch bezweifelt werden, dass beispielsweise eine Arbeitsniederlegung der Beamten in der Forst- oder Kulturverwaltung die Funktionsfähigkeit der Verwaltung einschränkt und hierdurch den Bestand von Demokratie und Rechtsstaat gefährdet. Das statusbezogene Streikverbot lässt sich also nicht mit einer im Einzelfall nicht belegbaren Generalaussage rechtfertigen.316 Scheidet die undifferenzierte Begründung zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung demzufolge aus, so ließe sich aufgabenunabhängig allerhöchstens ein verfassungsrechtliches Gebot erwägen, nach welchem jegliche streikbedingte Beeinträchtigung staatlicher Aufgabenwahrnehmung missbilligt würde.317 Ein derartiges Gebot stünde allerdings in einem nicht zu vereinbarenden Widerspruch mit der organisatorischen Struktur des öffentlichen Diensts. In der ganz überwiegenden Zahl der Verwaltungszweige werden neben Beamten, teilweise sogar mehrheitlich, Arbeitnehmer und Angestellte beschäftigt,318 welchen zweifelsohne ein Streikrecht zusteht.319 Schließlich stünde auch die mit der fortschreitenden Privatisierung verbundene „Entbeamtung“ vieler öffentlicher Aufgabenbereiche einem solchen Gebot diametral entgegen. Denn durch die Überantwortung in die private Rechtsform toleriert der Staat gleichzeitig, dass weite Teile der staatlichen Dienstleistung bis hin in Bereiche der klassischen obrigkeitlichen Befugnisse – etwa des Strafvollzugs – unter einen Streikvorbehalt gestellt werden. Das BVerfG erachtet dies als verfassungsrechtlich unbedenklich 314
Näher hierzu sogleich Kapitel 3 B.III.2.b). Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72. 316 So auch Kissel, Arbeitskampfrecht, § 34 Rn. 25; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 54 ff.; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 135 ff., 137; Blanke/Sterzel, Beamtenstreik, S. 49 ff. 317 Schinkel (ZBR 1974, 282, 286 f.) etwa leitet aus Art. 20 Abs. 1 und 3 GG ein „Verfassungsgebot eines ununterbrochenen rechtssatzmäßigen Ausübung der Staatsgewalt“ her. 318 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 46 ff., siehe Fn. 50. 319 Vgl. nur BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379, 1380; Treber, in: Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 193 Rn. 45 ff. 315
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
und sieht überdies die üblichen arbeitskampfrechtlichen Regelungen zur Aufrechterhaltung einer Mindestdienstleistung und -versorgung als ausreichend an.320 Folglich kann auch nicht von einem streikrechtsausschließenden verfassungsrechtlichen Beeinträchtigungsverbot der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung ausgegangen werden. Zu beachten sind vielmehr ausschließlich die auch für die sonstigen öffentlich Bediensteten geltenden allgemeinen arbeitskampfrechtlichen Regelungen, welche funktionsbezogene Streikrechtseinschränkungen begründen können. Diese Einschränkungen betreffen allerdings lediglich das „Wie“ nicht aber das „Ob“ der Ausübung der Arbeitskampffreiheit.321 Im Ergebnis kann somit weder ein abstrakter Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Verwaltung, noch ein verfassungsrechtliches Beeinträchtigungsverbot für die öffentliche Aufgabenwahrnehmung angenommen werden, worüber sich ein aufgabenunabhängiges Streikverbot für Beamte rechtfertigen ließe. Der allgemeine Verweis auf die Wichtigkeit der Beamtendienste für die Funktionsfähigkeit der Verwaltung kann zunächst nur im Rahmen der auch für die Arbeitnehmer und Angestellten des öffentlichen Diensts geltenden allgemeinen arbeitskampfrechtlichen Regelungen Bedeutung erlangen. Die sich insbesondere aufgrund erhöhter Gemeinwohlbedeutung und Drittbetroffenheit ergebenden funktionsbezogenen Einschränkungen des Streikrechts sind ihrerseits, wie vorstehend bereits erwähnt, mit den Konventionsvorgaben vereinbar und stehen somit einer konventionsfreundlichen Auslegung nicht im Wege.322 b) Die Funktionsgarantie des Art. 33 Abs. 4 GG Ein wesentlicher beamtenrechtlicher Grundsatz findet sich in Art. 33 Abs. 4 GG. Hiernach ist die Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse als ständige Auf-
320
BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, 1567. Gamillscheg, KollArbR I, S. 1177; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 34 Rn. 45; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 9; instruktiv hierzu auch der Überblick bei Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 305 ff. Lediglich vereinzelt werden auch weitergehende oder gar generelle Streikverbote im Bereich der Daseinsvorsorge und insbesondere in lebenswichtigen Versorgungsbetrieben bejaht, vgl. etwa Scholz, in: HbStR, Band VIII, § 151 Rn. 11. Selbst wenn man dies annähme, wäre der Geltungsbereich allerdings keineswegs deckungsgleich mit allen durch Beamte wahrgenommenen Staatsaufgaben. 322 Siehe bereits oben Kapitel 3 B.III.1.b)bb)(3). Prima facie scheinen die konventionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu erneut oben Kapitel 2 A.IV.3.) sogar weitergehende Einschränkungen in diesen Bereichen zuzulassen als die derzeitige h. M. in der Bundesrepublik. Vgl. als „repräsentatives Kondensat“ des gegenwärtigen Meinungsstandes Franzen/Thüsing/Waldhoff, GesetzE, welcher in seinen §§ 3–6 lediglich Einschränkungen in Form einer Ankündigungspflicht, einer Verpflichtung zur Aufrechterhaltung einer Grundversorgung und des Erfordernisses von Urabstimmungen und Schlichtungsversuchen, nicht jedoch generelle Streikverbote vorsieht. Ausführlich dazu unten Kapitel 3 C.III.1.d). 321
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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gabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Dieser verfassungsrechtliche „Funktionsvorbehalt“ regelt als verwaltungsorganisatorisches Strukturprinzip die Aufgabenzuweisung an die Berufsbeamten, bindet hierdurch den Regelungsauftrag des Gesetzgebers sowie die Organisationsbefugnisse der Exekutive und ist somit gemeinsam mit Art. 33 Abs. 5 GG sichernder und komplementärer Bestandteil der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums.323 aa) Aufgabenzuweisung und Streikverbot Fraglich ist, ob und wenn ja, inwiefern sich aus dem verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalt Schranken für die Anerkennung eines beamtenrechtlichen Streikrechts ergeben. Angenommen wird dies vereinzelt bereits unter Verweis auf den notwendigen Zusammenhang zwischen den Besonderheiten der statusrechtlichen Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses und dem Streikverbot. Sehe Art. 33 Abs. 4 GG – in welchem Umfang auch immer – den Einsatz von Beamten vor, so folge hieraus notwendigerweise auch die Geltung des mit dem Beamtensonderrecht strikt verbundenen Streikverbots.324 Diese Ausgangshypothese kann freilich nach den Ergebnissen der bisherigen Bearbeitung nicht in der Form übernommen werden, da hiernach aus den statusrechtlichen Besonderheiten des Beamtenverhältnisses kein generelles Streikverbot abgeleitet werden konnte. Dennoch ist anzuerkennen, dass die Verfassung mit der Regelung des Art. 33 Abs. 4 GG ein „Hoheitsreservat“ 325 für Beamte und damit gleichzeitig ein staatliches Aufgabenmonopol schafft.326 Werden alle sonstigen Akteure von Verfassungs wegen regelmäßig aus einem gewissen Aufgabenbereich verbannt, so geht mit der sich daraus ergebenden Monopolstellung des Staates gleichzeitig auch dessen Verpflichtung einher, in diesem Bereich für eine kontinuierliche und störungsfreie Aufgabenwahrnehmung zu sorgen. Es ist somit im Geltungsbereich des Art. 33 Abs. 4 GG von einer „verfassungsrechtlichen Funktionsgarantie“ im öffentlichen Interesse auszugehen, welche im Grundsatz unvereinbar etwaigen
323 BVerfG 18.2.1988 – 2 BvR 1324/87, NVwZ 1988, 523; Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 45, Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 55. 324 So etwa Isensee (Beamtenstreik, S. 83 ff.), der – im Falle der Bejahung dieser Hypothese folgerichtig – seine weitere Prüfung an der Frage ausrichtet, inwiefern die Begründung des Beamtenverhältnisses an sich durch Art. 33 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich vorgegeben ist. 325 Isensee, Beamtenstreik, S. 83; siehe auch Schuppert, in: AK-GG, Art. 33 Rn. 29. 326 Bedingt relativierend wirkt sich freilich der Ausnahmen einräumende Wortlaut („in der Regel“) der Norm aus. Gleichwohl wird hierdurch die verfassungsrechtliche Grundaussage nicht in Frage gestellt. Deutlich wird dies vor allem auch an der Diskussion zu Art. 33 Abs. 4 GG und dessen „Funktion“ als Schranke für die zulässige Privatisierung von Staatsaufgaben, vgl. exemplarisch zu dieser Thematik Haug, NVwZ 1999, 816 ff.; Isensee, ZBR 1998, 295, 304.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Maßnahmen der Arbeitsniederlegung gegenübersteht.327 Dies entspricht auch dem Regelungszweck der Vorschrift, welchem zufolge die Verfassung im Bereich der hoheitlichen Befugnisse eine „rechtsstaatliche und verwaltungsstaatliche Garantie für die gesetzmäßige, effektive und unparteiische [Aufgaben]Wahrnehmung“ durch die vollziehende Gewalt gewährleisten will.328 Diese institutionelle Absicherung gilt vor allem auch mit Blick auf die erhöhte Grundrechtsrelevanz der Verwaltungstätigkeit in diesem Bereich und dient somit dem Schutz des Verwaltungsunterworfenen bzw. -abhängigen.329 Mit Blick auf die Frage nach der Zulässigkeit des Beamtenstreikrechts lassen sich nach den vorstehenden Ausführungen folgende Schlussfolgerungen festhalten. Aus Art. 33 Abs. 4 GG folgt eine Funktionsgarantie für die Aufgabenbereiche der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“, aus welcher sich eine grundsätzliche, verfassungsrechtlich vorgegebene Streikfestigkeit dieser Bereiche ergibt. Für die Reichweite des Art. 33 Abs. 4 GG ist somit – vorbehaltlich der durch den Wortlaut eingeräumten Ausnahmekonstellationen – von einem verfassungsrechtlich bestimmten Streikverbot auszugehen. Zur Klärung der Frage nach der Vereinbarkeit mit den konventionsrechtlichen Vorgaben ist somit zunächst herauszuarbeiten, wie weit der sachliche Anwendungsbereich des Funktionsvorbehalts reicht und, falls letzterer eröffnet ist, inwiefern der Gesetzgeber bzw. Dienstherr tatsächlich verpflichtet ist, die betroffenen Aufgabengebiete der institutionellen Absicherung zu unterziehen und hierdurch die Funktionsgarantie zu gewährleisten. Des Weiteren lässt sich jedoch bereits feststellen, dass aus Art. 33 Abs. 4 GG kein umfassendes Streikverbot für alle bestehenden Beamtenverhältnisse abgeleitet werden kann, da letztere auch außerhalb des Hoheitsreservats des Art. 33 Abs. 4 GG begründet werden.330 Zu
327 So auch Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 518 m.w. Nw.; Leisner, Legitimation des Berufsbeamtentums, S. 169 f.; Badura, ZBR 1996, 321, 326; Pfohl, PersV 1993, 193, 197, Isensee, Beamtenstreik, S. 84 ff., 93 f., 100; ders., in: HbVerfR; § 32 Rn. 64; vgl. auch Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 333 f. 328 Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 55 m.w. Nw.; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 28; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 55; vgl. auch BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379, 1380. 329 Vgl. BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 149; siehe auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 49 f. 330 Obgleich diese Praxis insbesondere aufgrund des grundrechtseinschränkenden Gehalts des Beamtenverhältnisses zurecht kritisch wahrgenommen wird (vgl. etwa Isensee, Beamtenstreik, S. 79; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 518), begründet Art. 33 Abs. 4 GG nach wohl richtiger Ansicht dennoch keine „Funktionssperre“ dergestalt, dass die Wahrnehmung der Aufgaben außerhalb des Vorbehaltsbereichs zwingend Arbeitnehmern und Angestellten zu übertragen ist, vgl. Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, BesVerwR, 6. Kap., Rn. 36; Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 83.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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prüfen ist im Folgenden gleichwohl, inwiefern Art. 33 Abs. 4 GG als Grenzpfeiler einer konventionsfreundlichen Auslegung postiert. bb) Reichweite des Art. 33 Abs. 4 GG – Ein Rezeptionshindernis? (1) Sachlicher Anwendungsbereich Fraglich ist, inwieweit die Verfassung durch Art. 33 Abs. 4 GG die institutionelle Absicherung der hoheitlichen Aufgabengebiete und die sich daraus ergebenden Streikrechtsschranken zwingend vorschreibt. Betrachtet man hierzu die zum Begriff der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“ vertretenen Auslegungsvarianten, so präsentiert sich ein bunter Strauß von Auffassungen hinsichtlich der Reichweite des sachlichen Anwendungsbereichs. Die ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit dem gesamten vertretenen Meinungsspektrum331 kann und soll durch die vorliegende Bearbeitung nicht geleistet werden, da sie auch in der Sache nicht zielführend wäre. Vielmehr sind die Kontroversen bei der Determinierung des Geltungsbereichs gerade ein Sinnbild dafür, dass die Verfassung keine abschließende und eindeutige Aussage, geschweige denn einen fixen Katalog von hoheitlichen Staatsaufgaben, enthält. War die Regelung ursprünglich, geprägt durch das traditionell obrigkeitsstaatliche Verwaltungsverständnis, noch restriktiv und vorrangig mit Blick auf die Eingriffsverwaltung konzipiert,332 so unterliegt dieses Verständnis insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Sozialstaats einem zeitlichen Wandel. Unschwer vorstellbar ist es etwa, dass die bloße Vorenthaltung einer staatlichen Leistung eine weit tiefgreifendere Grundrechtsbeeinträchtigung begründet, als der klassische staatliche Eingriff qua Hoheitszwang. Dies verdeutlicht, dass sich das staatliche Aufgabenprofil und die korrespondierenden Anforderungen und Bedürfnisse der Bürger an einen regelnden und gleichzeitig versorgenden Staat weitaus vielfältiger gestalten als der Verfassungsgesetzgeber dies in der Geburtsstunde des Grundgesetzes absehen konnte.333 Dieser verwaltungspolitischen Entwicklung können und möchten sich auch die Aufgabenzuweisung des Art. 33 Abs. 4 GG und die korrespondierende Funktionsgarantie nicht verschließen.334 331 Vgl. hierzu etwa mit entsprechenden Verweisen Kirchhof, in: HbStR, Band V, § 110 Rn. 24 ff.; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 31 ff.; Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 80. 332 Stern, in: FS Ule, S. 193, 201, 205; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 32. 333 Teilweise wird auch angenommen, die Verwendung des untechnischen Ausdrucks „hoheitsrechtlich“ weise bereits darauf hin, dass sich Vorschrift nicht ausschließlich auf die Eingriffsverwaltung beziehe, so etwa Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 56. Siehe auch Blanke, AuR 1989, 1, 8. 334 Vgl. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 55.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Eine strikte Abgrenzung nach den Kriterien Eingriffsverwaltung oder Leistungsverwaltung ist damit abzulehnen.335 Vielmehr gilt es anhand einer teleologischen Betrachtung zu evaluieren, ob die jeweilig wahrgenommene Aufgabe der besonderen institutionellen Absicherung durch Art. 33 Abs. 4 und 5 GG, einschließlich der Streikfestigkeit, bedarf.336 Als Bewertungskriterien sind dabei zum einen die Grundrechtsrelevanz337 der jeweilig wahrgenommen Aufgabe, auf der anderen Seite jedoch auch Gründe auf Ebene der Staatlichkeit bzw. Staatsnähe338 zu berücksichtigen. Erweist sich bereits hiernach ein Aufgabenbereich nicht als hoheitsrechtliche Befugnis, so gebietet die Verfassung für diesen auch nicht die institutionelle Absicherung und somit auch nicht die Streikfestigkeit. Durch die alleinige Festlegung der Determinanten zur Begriffsbestimmung der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“ kann allerdings der tatsächliche Bedeutungsgehalt des Art. 33 Abs. 4 GG nicht abschließend bestimmt werden. Denn auch für den Fall der Eröffnung des Anwendungsbereichs gebietet der Wortlaut die institutionelle beamtenrechtliche Absicherung nur „in der Regel“, wodurch ein Gestaltungsspielraum mit durchaus beträchtlichem Umfang eröffnet wird. Denn parallel zu dem veränderten Verwaltungsverständnis und der korrespondierenden erweiterten Lesart des verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalts brechen sich fortwährend Reformbestrebungen des öffentlichen Diensts ihre Bahn. Diese verlangen – teils gesellschaftspolitisch, teils supranationalrechtlich motiviert339 – ihrerseits eine Flexibilisierung der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung und mithin auch vielfach eine Öffnung des Beamtensektors. Im Spannungsfeld dieser kontradiktorisch angelegten Entwicklungen gewinnt die im Wortlaut des Art. 33 Abs. 4 GG angelegte Frage nach dem Regel-Ausnahme-Verhältnis erheblich an Bedeutung. 335 Unstreitig ist allerdings die klassische Eingriffsverwaltung, also die unmittelbare Einwirkung der öffentlichen Gewalt auf grundrechtlich geschützte Freiheiten durch Befehl oder Zwang, vom Begriff der hoheitsrechtlichen Befugnisse umfasst, BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 140; Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 11. 336 Ebenso Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 33 GG Rn. 48 f.; Badura, in: Maunz/ Dürig, Art. 33 GG Rn. 56; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 31 ff.; Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 11 f. 337 Dies gilt zum einen in Bezug auf den Schutz- und Rechtsgewährleistungsanspruch der Grundrechtsberechtigten als auch für deren Leistungs- und Versorgungsansprüche gegen den Staat. Schuppert (in: AK-GG, Art. 33 Rn. 30 ff.) betont indes zu Recht die „Steuerungs- und Regulierungsfunktion“ des Staats gerade auch, wenn er sich zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben „privater Dritter“ bedient. 338 In Anlehnung an die ursprüngliche Konzeption des Verfassungsgesetzgebers fallen hierunter solche „Kernaufgaben“, die typischerweise Staatlichkeit, staatliche Funktionsfähigkeit und die allgemeine hoheitliche Struktur des Gemeinwesens ausmachen und somit bereits kraft Natur der Sache einer der institutionellen Absicherung unterliegenden Verwaltung bedürfen, vgl. dazu m.w. Nw. Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 13; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 34. 339 Vgl. etwa Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 59 ff.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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(2) Das Regel-Ausnahme-Verhältnis und Rückschlüsse aus Privatisierungsmaßnahmen Art. 33 Abs. 4 GG überantwortet die Ausübung der hoheitsrechtlichen Befugnisse „in der Regel“ an das Berufsbeamtentum. Der Wortlaut impliziert somit, dass, selbst im Falle der Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs der Vorschrift, die Wahrnehmung der in Rede stehenden Aufgabe ausnahmsweise auch durch Arbeitnehmer und Angestellte erfolgen kann, die nicht dem beamtenrechtlichen Regelungsinstitut unterworfen sind.340 Es besteht ein gewisser Gestaltungsspielraum.341 Diesen allerdings sieht das BVerfG zuvorderst in quantitativer Hinsicht begrenzt. So dürfe der „vorgesehene Regelfall faktisch [nicht] zum zahlenmäßigen Ausnahmefall [werden]“.342 Die Aussagekraft dieser Vorgabe ist allerdings aufgrund der fehlenden Möglichkeit der willkürfreien Bestimmung eines Bezugsrahmens eher abstrakt genereller Natur und im Einzelfall nur bedingt geeignet, eine konkrete Bewertung vorzunehmen.343 Dennoch könnte man es jedenfalls als verfassungswidrig erachten, ganze Aufgabenbereiche im Rahmen der hoheitsrechtlichen Befugnisse vollständig der institutionellen Absicherung des Art. 33 Abs. 4 GG zu entziehen. Qualifizierte man beispielsweise die Lehrertätigkeit als hoheitsrechtliche Befugnis, könnte es insoweit mit dem verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalt unvereinbar sein, den Lehrerberuf gänzlich aus dem Beamtensektor herauszunehmen.344 Hierdurch würde im Ergebnis auch der zumindest partielle Bestand von statusrechtlichen Streikverboten in diesem Bereich festgeschrieben, was wiederum einer Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben im Wege stehen könnte. Hiergegen lassen sich allerdings die umfangreichen Privatisierungsvorhaben ins Feld führen,345 welche verstärkt mit Beginn der neunziger Jahre einsetzten 340 Allerdings ist die Abweichung von der Regel nach ganz herrschender Meinung nur bei Vorliegen eines sachlichen Grundes zulässig, vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 42; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 55; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 33 GG Rn. 50. Nach Ansicht des BVerfG reichen rein fiskalische Erwägungen allein dabei nicht aus, können allerdings ebenfalls nicht gänzlich außer Betracht gelassen werden, vgl. BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 144, 148. 341 Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 55. 342 BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 144; BVerfG 27.4.1959 – 2 BvF 2/58, E 9, 268 = NJW 1959, 1171, 1172. 343 Dieses Problem ebenfalls erkennend BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 144; vgl. auch Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 33 GG Rn. 50. 344 So etwa Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 57. 345 Obgleich Art. 33 Abs. 4 GG primär den regelmäßigen Beamtenvorrang im genannten Aufgabenbereich innerhalb des öffentlichen Diensts regelt, muss das vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis erst recht auch bei einer Aufgabenübertragung auf Private beachtet werden, gerade da für letztere die Möglichkeit der Beschäftigung von Beamten – von Übergangsregelungen abgesehen – grundsätzlich ausscheidet. Der Funk-
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
und bis in die heutige Zeit andauern.346 Denn diese betreffen neben zahlreichen Bereichen der Daseinsvorsorge, bei denen sich trefflich streiten lässt, ob sie überhaupt dem Anwendungsbereich des Art. 33 Abs. 4 GG unterfallen, auch hoheitliche Kernaufgaben. Genannt seien in diesem Zusammenhang etwa die Flugsicherung347 als Sonderordnungsrecht oder der Maßregelvollzug.348 Obschon in beiden Bereichen Befugnisse zum „Grundrechtseingriff im engeren Sinne“ bestehen und somit unstreitig hoheitsrechtliche Aufgaben im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG betroffen sind, wurde die Überführung der Aufgabenwahrnehmung in die private Organisationsform vom BVerfG als zulässige Ausnahme vom Funktionsvorbehalt angesehen.349 Allerdings stellte das Gericht klar: „Je intensiver eine bestimmte Tätigkeit Grundrechte berührt, desto weniger sind Einbußen an institutioneller Absicherung qualifizierter und gesetzestreuer Aufgabenwahrnehmung hinnehmbar“. Zu beachten ist jedoch auch, dass es sich sowohl im Falle der Flugsicherung als auch des Maßregelvollzugs lediglich um formelle Privatisierungen handelte, somit lediglich die Organisationsstruktur in die privatrechtliche Form überführt wurde, die öffentliche Hand jedoch selber Träger bleibt. Es kann darüber hinaus offenbleiben, ob auch ein völliger Rückzug des Staates aus der jeweiligen Aufgabenwahrnehmung, etwa in Gestalt der mehrheitlichen Kapitalprivatisierung, ebenfalls mit Art. 33 Abs. 4 GG vereinbar wäre. Zur Aufweichung der Streikfestigkeit genügt auch die nur formale Organisationsprivatisierung, denn die besondere institutionelle Absicherung durch das öffentlich-rechtliche Dienst-
tionsvorbehalt und die Funktionsgarantie des Art. 33 Abs. 4 GG bilden somit neben weiteren verfassungsrechtlichen Bestimmungen (etwa die Art. 87 ff. GG) einen zu berücksichtigenden Baustein in der Gesamtordnung der organisatorischen Aufgabenverteilung des Grundgesetzes. Als solcher sind sie insbesondere bei der Ausgliederungen von Aufgabenbereichen aus der staatlichen Organisationsstruktur zu beachten. Entsprechend hat auch das BVerfG (18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 142 ff.) die jüngsten Privatisierungsmaßnahmen im hessischen Maßregelvollzug ebenfalls auf die Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG hin überprüft. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Ablehnung der Ausfertigung des Gesetzes zur Organisationsprivatisierung der Flugsicherung unter Hinweis auf den Funktionsvorbehalt durch den damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker, vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1991, S. 46. Am 24. Oktober 2006 verweigerte der spätere Bundespräsident Köhler erneut die Ausfertigung einer Gesetzesänderung zur Ermöglichung der Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung GmbH, allerdings mit Bedenken im Hinblick auf Art. 87 d Abs. 1 GG, welcher die Luftverkehrsverwaltung der bundeseigenen Verwaltung unterstellt. Vgl. auch Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 33 GG Rn. 42; Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 18; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 38. 346 Hierzu insgesamt Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 38. Ronellenfitsch, in: HbStR Band IV, § 98 Rn. 43 ff. 347 Art. 87d Abs. 1 GG. 348 Zu der Problematik Willenbruch/Bischoff, NJW 2006, 1776. 349 Vgl. BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563, Rn. 134 ff.
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und Treueverhältnis kann auf Dauer – abgesehen von Übergangsregelungen, welche es den bereits beschäftigten Beamten ermöglichen, ihren Status auch unter einem Träger privater Rechtsform beizubehalten – nur unter einem öffentlichrechtlich organisierten Träger gewährleistet werden. Folglich ist die Aufweichung der Streikfestigkeit in diesen Bereichen mit der Verfassung vereinbar, obgleich es sich um zentrale Aufgabenfelder der staatlichen Eingriffsverwaltung handelt. Der verfassungsrechtlichen Funktionsgarantie zum Schutz des Gemeinwohlinteresses wird durch die Einrichtung des auch für alle sonstigen privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnisse geltenden arbeitskampfrechtlichen Instrumentariums der Notdienstvereinbarungen ausreichend Rechnung getragen.350 Es zeigt sich also, dass der verfassungsrechtlich vorgegebene Funktionsvorbehalt auf verschiedene Art und Weise Gestaltungsspielraum einräumt. Sieht man diesen aus den genannten Gründen nicht bereits aufgrund einer restriktiven Auslegung des sachlichen Anwendungsbereichs als gegeben an,351 so zeigt sich doch jedenfalls bei der Anwendung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses, dass selbst im „Kernbereich“ staatlicher Aufgabenwahrnehmung der Funktionsvorbehalt und die korrespondierende Funktionsgarantie einer aufgabenfeldbezogenen Zulassung der Streikfreiheit nicht notwendigerweise entgegenstehen. Als Rückschluss aus den bisherigen Privatisierungsmaßnahmen kann damit zum einen festgehalten werden, dass Art. 33 Abs. 4 GG einer streikrechtlichen Öffnung in weiten Teilen der Daseinsvorsorge352 nicht entgegensteht, sofern man insoweit überhaupt von der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ausgeht. Ferner statuiert Art. 33 Abs. 4 GG selbst im Kernbereich hoheitlicher Aufgabenwahrnehmung die institutionelle Absicherung durch das Berufsbeamtentum und damit die Streikfestigkeit nicht ausnahmslos. (3) Vereinbarkeit mit konventionsrechtlichen Vorgaben Einleitend wurde gefragt, ob Art. 33 Abs. 4 GG einen Grenzpfeiler für eine konventionsfreundliche Auslegung markiert. Jedenfalls auf den ersten Blick läge die grundsätzliche Verneinung dieser Frage durchaus nahe. So gewährt Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gerade im Bereich der Ausübung hoheitlicher Befugnisse einen von den Vertragsstaaten ausgestaltbaren Freiraum von der konventionsrechtlichen Streikfreiheit. Genau für dieses hoheitliche Reservat reklamiert die Verfassung eine besondere institutionelle Absicherung, um die unbedingte Funktionsfähigkeit der insoweit wahrgenommenen Aufgaben zu gewährleisten. Die
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
grundsätzliche Anlage beider Regelungssysteme scheint somit prima facie durchaus kompatibel,353 denn in beiden Fällen wird funktionsbezogen unterschieden. Auch das BVerwG geht in seinen Erwägungen ohne vertiefte Prüfung von einem übereinstimmenden Geltungsbereich der Art. 33 Abs. 4 GG und Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK aus.354 Bei genauerer Betrachtung allerdings zeigt sich, dass die zweckgerichtete erweiterte Auslegung des Art. 33 Abs. 4 GG über die klassische Eingriffsverwaltung hinaus auch größere Bereiche der Leistungsverwaltung erfasst. Diese kann zwar, sofern besondere staatliche Leistungen durch Hoheitsakt gewährt werden, ausnahmsweise auch dem Ausnahmebereich des Art. 11 Abs. 2 EMRK zugerechnet werden.355 Allerdings dürfte das im Rahmen des Art. 33 Abs. 4 GG zugrunde gelegte Begriffsverständnis der hoheitsrechtlichen Befugnisse gerade auch im Hinblick auf die verstärkt grundrechtsbezogene Deutung des Funktionsvorbehalts insgesamt weitergehender sein als der grundsätzlich restriktiv angelegte Interpretationsansatz des EGMR im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK. Dennoch gewährt Art. 33 Abs. 4 GG, wie gesehen, auch bei der organisatorischen und inhaltlichen Ausgestaltung der hoheitsrechtlichen Befugnisse einen Gestaltungsspielraum, welcher im Sinne einer konventionsfreundlichen Auslegung nutzbar zu machen ist. Genau hierin verwirklicht sich die Wirkungsweise der völkerrechtsfreundlichen Auslegung als „mediatisierendem Prinzip“ bzw. „akzessorischem Verfassungsprinzip“.356 Art. 33 Abs. 4 GG ermöglicht seine konkrete Anwendung dergestalt, dass Konventionsverstöße vermieden werden, ohne dass hierdurch die Vorrangentscheidungen der Verfassung, nämlich zum einen die prinzipielle Kategorisierung hoheitsrechtlicher Befugnisse und zum anderen deren grundsätzliche Ausübung durch Beschäftigte, welche in einem besonderen Dienst- und Treueverhältnis stehen, konterkariert werden. Bei abstrakter Betrachtung ist eine Adaption des Verfassungsrechts an die EMRK somit möglich. Konkret unterfällt nach den konventionsrechtlichen Vorgaben die rein wirtschaftliche Betätigung des Staates als kommerzieller Dienstleister durch den Betrieb oder die Beteiligung an Wirtschafts- und Industrieunternehmen grundsätzlich nicht der „Staatsverwaltung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK und ist somit – vorbehaltlich zulässiger Einschränkungen nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK – der Streikfreiheit zu öffnen. Dies entspricht der ganz überwiegenden Lesart des Art. 33 Abs. 4 GG, nach welcher eine derartige staatliche Tätigkeit grundsätzlich ebenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs des Funktionsvorbe353 An diesem Punkt ansetzend Traulsen, JZ 2013, 65, 69 ff.; vgl. auch Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, S. 38. 354 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741. 355 Hierzu oben Kapitel 2 A.IV.2.b)bb)(1). 356 Vgl. Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 20 f.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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halts verortet wird.357 Die nach konventionsrechtlichen Kriterien „staatsverwaltungsfernen“ Bereiche wurden denn auch in der Bundesrepublik vielfach Gegenstand von Privatisierungsmaßnahmen. Das Gebot der institutionellen Absicherung nach Art. 33 Abs. 4 GG steht der Zulassung der Streikfreiheit auf diesen Gebieten im Ergebnis somit nicht entgegen. Dies gilt entweder, weil es sich bei den betroffenen Aufgabenfeldern schon gar nicht um hoheitsrechtliche Befugnisse im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG handelt358 oder jedenfalls die Überantwortung in die privatrechtliche Organisationsstruktur eine zulässige Ausnahme vom Grundsatz des Funktionsvorbehalts darstellt. Unproblematisch zulässig ist demnach das Streikrecht für die beamtet Beschäftigten bei der Deutschen Bahn AG sowie den Postnachfolgeunternehmen.359 Selbiges gilt auch für die sonstigen Gebiete der erwerbswirtschaftlichen Betätigung des Bundes, der Länder und der Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge.360 Auch für den weiteren konventionsrechtlich besonders relevanten Bereich des Lehrerberufs hat das BVerfG festgestellt, dass die ausgeübte Tätigkeit nicht schwerpunktmäßig hoheitlich geprägt sei und somit der besonderen Absicherung durch den Beamtenstatus nicht bedürfe.361 Gleich ob man gemischt hoheitliche und nicht-hoheitliche Funktionen wie den Lehrerberuf außerhalb des Vorbehaltsbereichs verordnet362 oder dem Bereich zulässiger Ausnahmen des Regelgebots des Art. 33 Abs. 4 GG zuweist,363 steht jedenfalls der Funktionsvorbehalt der
357 Lecheler, in: HbStR Band V, § 110 Rn. 19; Ronellenfitsch, in: HbStR Band IV, § 98 Rn. 45, 46 ff.; Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 14; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 56; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 33 GG Rn. 49; Isensee, Beamtenstreik, S. 103. 358 Bspw. die mittlerweile mehrheitlich kapitalprivatisierten Postnachfolgeunternehmen. 359 So auch Werres, DÖV 2011, 873, 880. 360 Insbesondere in typischen Feldern der Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser-, Energie- und Gesundheitsversorgung, erfolgt die Aufgabenwahrnehmung immer öfter in privatrechtlicher Organisationsstruktur. 361 BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, S. 1396, 1399; vgl. auch VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 475; a. A.: Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 15; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 34; i. E. wohl auch Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 57; Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 57. 362 Als Begründung ließe sich etwa anführen, dass, selbst wenn der Lehrerberuf Elemente hoheitlichen Handelns aufweist (Versetzung eines Schüler, Zuerkennung von Abschlussqualifikationen etc.), diese Elemente jedenfalls die Lehrertätigkeit nicht als „ständige Aufgaben“ im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG prägen, vgl. Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 84 f. 363 So wohl BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, S. 1396, 1399 unter Verweis auf Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 67. Dann wäre eben aber auch eine allgemeine Herausnahme der Lehrer aus der streikrechtsausschließenden institutionellen Absicherung des Art. 33 Abs. 4 GG möglich. Vorbilder sind insoweit die – wenn auch nur formal – privatisierten Bereiche der Flugsicherung oder des Maß-
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Gewährung des Streikrechts für Lehrer nicht entgegen. Die entgegengesetzte Auffassung364 setzte die seit Jahrzehnten übliche Praxis der mitunter mehrheitlichen Beschäftigung angestellter Lehrer365 in einen unvereinbaren Widerspruch zum geltenden Verfassungsrecht. Denn ginge man davon aus, dass der Lehrerberuf als hoheitliche Tätigkeit dem Grunde nach der institutionellen Absicherung durch das Berufsbeamtentum bedürfe, so wäre die tatsächliche Beschäftigungspraxis letztlich nur dann mit Art. 33 Abs. 4 GG vereinbar, wenn man diesen als bloße Ermessensrichtlinie bei der Ausgestaltung des öffentlichen Diensts verstünde. Richtigerweise statuiert der Funktionsvorbehalt jedoch eine verfassungsrechtlich bindende verwaltungsorganisatorische Vorschrift. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis gewährt dabei einen gewissen Gestaltungsspielraum, dessen Ausgestaltung jedoch klaren Regeln folgt. Wird demnach ein öffentlicher Aufgabenbereich durch den Einsatz von Arbeitnehmern teilweise der Streikfreiheit zugänglich gemacht, so erfasst diese Ausnahme von der institutionellen Absicherung auch alle funktionsgleichen Tätigkeiten. Abseits der funktionellen Betrachtung kann eine klare Grenzziehung nicht gewährleistet werden. Diese ist jedoch vor dem Hintergrund der grundrechtseinschränkenden Wirkung des Art. 33 Abs. 4 GG mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG zwingend erforderlich. Sollte die funktionsbezogene Bewertung im Einzelfall anders ausfallen, beispielsweise im Fall des Schulleiters, so kann dies im Rahmen der konventionsrechtlichen Prüfung durch eine konkret-funktionale Betrachtung stets Berücksichtigung finden.366 Mithin steht Art. 33 Abs. 4 GG auch in diesem Bereich der Anerkennung der Streikfreiheit nicht entgegen. Festzuhalten bleibt, dass in den Fällen der evident konventionswidrigen Streikverbote367 letztere nicht durch Art. 33 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich vorgegeben sind. Sollten darüber hinaus andere Verwaltungsgebiete, für welche die EMRK die Geltung der Streikrechtsgarantie vorsähe, – etwa aufgrund erhöhter Grundrechtsrelevanz – dem Anwendungsbereich des Funktionsvorbehalts unterfallen, so verbliebe dem Gesetzgeber respektive dem Dienstherren gleichwohl ein erheblicher Gestaltungsspielraum, im Rahmen dessen die konventionsrechtlichen Vorgaben Berücksichtigung finden könnten, solange der Sicherungszweck
regelvollzugs, a. A. Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 57. Vgl. auch Böhm, DÖV 2006, 665, 667. 364 Etwa Pieper, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 33 GG Rn. 85; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 33 GG Rn. 34; Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 58; Battis/Schlenga, ZBR 1995, 253, 257; Lindner, ZBR 2006, 1, 12; Badura, ZBR 1996, 321, 326; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot S. 48, 55. 365 Vgl. oben Fn. 310. Im Bundesland Berlin etwa werden seit dem Jahr 2004 keine Lehrer mehr verbeamtet, vgl. Vieth-Entus, Keine Verbeamtung, Berliner Lehrer auf dem Sprung, Tagesspiegel, Ausgabe vom 21.11.2011. 366 Vgl. oben Kapitel 2 A.IV.2.b)bb)(2). 367 Vgl. nochmal oben Kapitel 3 A.III.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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des Art. 33 Abs. 4 GG in Bezug auf die sich jeweilig stellenden Verwaltungsaufgaben nicht entgegensteht. Hinzu kommt, dass Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK gerade auch in Bereichen, in welchen Streikmaßnahmen zu einer existentiellen Betroffenheit von Grundrechtspositionen Dritter führen, die Anordnung genereller Streikverbote368 ermöglicht und somit der teleologisch-grundrechtsorientierten Auslegung des Art. 33 Abs. 4 GG entgegenkommt. c) Zwischenergebnis Der Rezeption der konventionsrechtlichen Streikrechtsvorgaben steht kein abstraktes verfassungsrechtliches Gebot zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung entgegen. Zu beachten sind insoweit vielmehr die allgemeinen arbeitskampfrechtlichen Regelungen, welche ihrerseits mit den Konventionsvorgaben kompatibel sind. Art. 33 Abs. 4 GG statuiert überdies eine Funktionsgarantie für die Aufgabenbereiche der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“, aus welcher sich eine grundsätzliche, verfassungsrechtlich vorgegebene Streikfestigkeit dieser Bereiche ergibt. Dieser Verfassungsgrundsatz steht der Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben ebenfalls nicht entgegen. Denn die konventionsrechtlich relevanten Bereiche unterfallen überwiegend schon gar nicht dem sachlichen Anwendungsbereich des Funktionsvorbehalts bzw. wurden bereits zum Gegenstand von Privatisierungsmaßnahmen, weshalb jedenfalls die streikrechtsausschließende Wirkung des Art. 33 Abs. 4 GG entfällt.369 Darüber hinaus schreibt die Verfassung auch in den anders gelagerten Fällen die Funktionsgarantie innerhalb des Hoheitsreservats nicht kategorisch vor. Vielmehr verbleibt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen die konventionsrechtlichen Vorgaben Berücksichtigung finden können. 3. Beamtenstreik im Lichte staatsverfassungsrechtlicher Strukturentscheidungen Vielfach gilt der Beamtenstreik als unvereinbar mit fundamentalen staatsverfassungsrechtlichen Strukturprinzipien. Vorwiegend in der älteren Literatur wird insbesondere die Vereinbarkeit des Beamtenstreiks mit dem Demokratieprinzip sowie dem Sozialstaats- und dem Rechtsstaatsprinzip in Frage gestellt.
368 369
Oben Kapitel 2 A.IV.3.c) und Kapitel 3 A.II.3.b). Vgl. oben Fn. 349.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
aa) Demokratieprinzip (1) Beeinträchtigung der parlamentarischen Entschließungsfreiheit und Unterbrechung der demokratischen Legitimation Die Unvereinbarkeit des Beamtenstreiks mit dem Demokratieprinzip wird zum einen begründet mit dem Nötigungsdruck, welchen eine Arbeitsniederlegung der Beamtenschaft auf den parlamentarischen Gesetzgeber ausübe. Das System der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 und 38 Abs. 1 GG) gewährleiste das freie parlamentarische Mandat der Abgeordneten und verbiete die Ausübung unmittelbaren Zwangs auf die Entscheidungsträger im Rahmen der Gesetzgebungstätigkeit.370 Genau dies geschehe aber im Falle des Beamtenstreiks. Die Beamtenschaft übe durch das Aussetzen der ihr nach Maßgabe des Art. 33 Abs. 4 GG besonders verliehenen Aufgaben eine „unwiderstehliche Gewalt“ gegen den Gesetzgeber aus, wodurch die Entschließungsfreiheit des Parlaments unterdrückt würde.371 In der Folge scheitere der demokratische Wille des Volkssouveräns an den Partikularinteressen einer bestimmten Gruppe372. Zum anderen unterbreche der Beamtenstreik den demokratischen „Legitimationsstrom“ ausgehend vom Volk über das Parlament und die Regierung und von dort aus abwärts entlang der hierarchischen Stufen der Verwaltung im Hinblick auf die Ausübung bzw. Nichtausübung der Verwaltungstätigkeit. Anstelle des Staatsvolkes entscheide nunmehr die insoweit nicht legitimierte Beamtenschaft selber über die Ausübung ihrer Aufgaben.373 Dies trage insgesamt zur Erosion des demokratischen Legitimationsgefüges bei.374 (2) Stellungnahme Es ist den genannten Stimmen zuzugeben, dass die Beamten durch die Nichterfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben den parlamentarischen Gesetzgeber bei der Gesetzgebungstätigkeit unmittelbar unter Druck setzen, was auf den ersten Blick der Entscheidungsfreiheit des Parlaments im Rahmen eines repräsentativen demokratischen Systems widerspricht. Es muss allerdings an dieser Stelle genauer differenziert werden. Es ist nicht etwa so als könnten die Beamten jegliche politische Forderung mit Hilfe einer Arbeitsniederlegung in Gesetzesform pressen lassen und hierdurch den Volkswillen gänzlich zur Seite drängen.375 In 370 Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 521; Isensee, Beamtenstreik, S. 118 f.; Schinkel, ZBR 1974, 282, 287. 371 Isensee, Beamtenstreik, S. 119. 372 Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 56. Isensee (Beamtenstreik, S. 120) formuliert noch plakativer: „Der gesellschaftliche Pluralismus geht über in die Klassenherrschaft der Staatsdiener, die sich zu Staatsherren aufwerfen.“ 373 Isensee, Beamtenstreik, S. 120 f.; Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 521. 374 Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 50 ff. 375 Vgl. auch Wohlgemuth, PersR 1992, 94, 96.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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der Sache wären Streiks vielmehr nach Art. 9 Abs. 3 GG beschränkt auf Forderungen zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der betroffenen Gruppe.376 Praktisch relevante Verhandlungsgegenstände der Arbeitskämpfe wären demnach – wie auch im Bereich der Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst – überwiegend Besoldungsregelungen bzw. die Verbesserung oder Änderung anderer Arbeitsbedingungen, deren Umsetzung regelmäßig mit einem finanziellen Mehraufwand für den Staatshaushalt verbunden sein würde. Einfluss genommen würde somit primär auf die Etathoheit des Gesetzgebers. Allerdings gilt in diesem Zusammenhang für einen Streik der Tarifbediensteten im öffentlichen Dienst nichts anderes. Auch hier wird der Adressat im Ergebnis zu einer nicht gänzlich frei entschiedenen Verfügung über staatliche Haushaltsmittel gedrängt, ohne dass hierin ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip gesehen würde. Wird darüber hinaus vorgetragen, die Beamten seien demokratisch nicht dazu legitimiert über die Ausführung bzw. Nichtausführung ihrer Aufgaben zu entscheiden, so ist dies freilich im Grundsatz zu bejahen. Die Durchsetzung des Willens des demokratischen Souveräns, der Bürger, darf in Bereichen von essentiellem öffentlichem Interesse nicht in das Ermessen einzelner gestellt werden. Die Wahrnehmung von Aufgaben mit hoher Wichtigkeit für das Wohl von Staat und Bürgern bedarf einer gesteigerten demokratischen Legitimation. Dies umfasst unter anderem auch, dass die Entscheidung über die Ausführung bzw. Nichtausführung dieser Aufgaben nicht oder zumindest nicht ausschließlich in die Hände der Dienstverpflichteten gelegt wird. Dieses Legitimationsbedürfnis konkretisiert sich jedoch gerade in Art. 33 Abs. 4 GG. Für die Kernaufgaben staatlicher Verwaltung sowie solche Bereiche mit besonderer Relevanz für die grundrechtlichen Interessen der Bürger wird hiernach die ununterbrochene Funktionsfähigkeit in Form einer institutionellen Absicherung durch das Berufsbeamtentum gewährleistet.377 Steht also der verfassungsrechtliche Funktionsvorbehalt der Anerkennung eines Streikrechts nicht entgegen, kann dies auch für das sehr viel abstraktere Demokratieprinzip nicht angenommen werden. Anderenfalls stellte auch die teils überwiegende Betrauung streikrechtsberechtigter Arbeitnehmer und Angestellter mit beamtentypischen Aufgaben eine Beeinträchtigung des Demokratieprinzips dar; denn auch insofern unterbräche ein Streik den „Legitimationsstrom“ in unzulässiger Weise. Werden darüber hinaus verallgemeinernd Erosionen demokratischer Strukturen in Aussicht gestellt, so würdigt dies weder in ausreichendem Maße die bereits bestehenden Gegebenheiten noch den tatsächlichen Umfang der konventions376 Auch der EGMR betonte auch in seinen Urteilsgründen zu Enerji Yapi-Yol Sen Begründung der den Zusammenhang der konventionsrechtlichen Streikrechtsgarantie mit dem Recht auf Kollektivverhandlungen, vgl. oben Kapitel 2 A.II.4.b). 377 Oben Kapitel 3 B.III.2.b).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
rechtlichen Vorgaben. Zu beachten ist vielmehr, dass die Begründung des Beamtenverhältnisses vielfach nicht aus übergeordneten Motiven zur Stärkung (rechts-) staatlicher und demokratischer Strukturen, sondern schlicht aus Opportunitäts- und Kostenerwägungen erfolgt. Die aufgezeigte symbiotische Beziehung zwischen Beamtentum und funktionierender Demokratie lässt sich somit keinesfalls für alle Bereiche beamtenrechtlicher Dienstverhältnisse annehmen, sondern erscheint stellenweise vielmehr willkürlich. Augenscheinlich wird dies vor allem in den Fällen der Beamten bei den nunmehr privatisierten ehemaligen Staatsunternehmen. Insbesondere in Unternehmen mit mehrheitlich privaten Kapitaleignern sind auch die beschäftigten Beamten primär den privatwirtschaftlichen Partikularinteressen, wie der Gewinnmaximierung, verpflichtet und nicht dagegen dem Interesse der Allgemeinheit.378 Inwiefern sie dennoch zum Erhalt demokratischer Strukturen beitragen, darf somit berechtigterweise in Frage gestellt werden. Aber auch für die übrigen Fälle fordert das Konventionsrecht weder die grundsätzliche Abschaffung des Berufsbeamtentums mitsamt seinen besonderen Verpflichtungen zur Verfassungstreue und damit letztlich auch zur Wahrung der Demokratie, noch die Einführung eines unbeschränkten Streikrechts für alle Beamten. Vielmehr respektieren die Regelung des Art. 11 EMRK und insbesondere auch seine Ausnahmetatbestände gerade das erhöhte Bedürfnis demokratischer Legitimation zum einen in der staatsorganisatorischen und verwaltungsrechtlichen379 zum anderen aber auch in der grundrechtsrelevanten Dimension.380 Festzuhalten bleibt somit, dass sich aus dem Demokratieprinzip sehr wohl verfassungsimmanente Schranken für Arbeitskämpfe von Beamten ergeben können. Diese gehen jedoch, gerade vor dem Hintergrund des weiteren, zweckorientierten Verständnisses der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“, vollständig in der Normierung des Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG sowie den sich daraus ergebenden Streikrechtsschranken auf.381 Folglich ergibt sich aus dem Demokratieprinzip kein Rezeptionshindernis für die konventionsrechtlichen Vorgaben. bb) Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip Neben dem Demokratieprinzip werden auch Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit eines Streikrechts für Beamte mit dem Sozialstaats- und dem Rechtsstaatsprinzip geäußert.
378 So auch Battis, BBG, Einl. Rn. 17; Kutscha, NVwZ 2002, 942, 944; Weiß, ZBR 1996, 225, 241 f. 379 Kapitel 2 A.IV.2. 380 Kapitel 2 A.IV.3. 381 Hierzu oben Kapitel 3 B.III.2.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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(1) Einwendungen der herrschenden Meinung So fordere das Sozialstaatsprinzip die ununterbrochene Kontinuität öffentlicher Leistungserbringung jedenfalls zur Sicherung der staatlichen Daseinsvorsorge.382 Falle dagegen die staatliche Versorgung streikbedingt aus, so treffe dies vor allem die sozial schwächeren Bevölkerungsschichten, was nicht im Sinne einer sozial gerechten staatlichen Leistungserbringung sein könne.383 Darüber hinaus sei die staatliche Tätigkeit – im Unterschied zu privatwirtschaftlicher Tätigkeit – nicht austauschbar, weshalb sich im Falle des Ausbleibens der Leistungserbringung ein „unlösbarer Konflikt“ mit den subjektiven öffentlichen Rechten der Bürger auf Teilhabe an den staatlichen Leistungen ergebe.384 Zudem unterbreche der Arbeitskampf der Beamten den stetigen Gesetzesvollzug durch die Verwaltung und führe somit zu einer Beeinträchtigung des Rechtsstaatsprinzips.385 (2) Stellungnahme Die Vereinbarkeit des Beamtenstreiks mit dem sozialstaatlichen Erfordernis einer kontinuierlichen Leistungserbringung wurde bereits im Rahmen der Diskussion der Pflicht zur uneigennützigen und gemeinwohlorientierten Amtsführung behandelt, weshalb auf die dortigen Ausführungen verwiesen wird.386 Wird darüber hinaus dargelegt, die staatliche Tätigkeit sei insbesondere im Rahmen der Daseinsvorsorge nicht ersetzbar und das Beamtenstreikverbot mithin zur Aufrechterhaltung essentieller öffentlicher Aufgabenwahrnehmung zwingend erforderlich, so sieht sich diese vermehrt in der älteren Literatur vertretene Auffassung jedenfalls durch die jüngeren Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte relativiert.387 So wird der weit überwiegende Anteil der Aufgaben in der Daseinsvorsorge bereits gar nicht mehr durch Beamte, sondern durch Arbeiter und Angestellte wahrgenommen, die ihrerseits streikrechtsberechtigt sind.388 S ofern gleichwohl eingewendet wird, dass die verbleibenden Beamten zumindest die Folgen eines Streiks der Tarifbeschäftigten abfangen und mildern könnten, bestehen auch hieran Zweifel. So hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 2. März 1993 klargestellt, dass der Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeits382
Schinkel, ZBR 1974, 282, 287; Isensee, Beamtenstreik, S. 118 f.; vgl. auch von Münch (ZBR 1970, 371, 375), der dieses Funktionsgebot darüber hinaus auch für die eingreifende staatliche Tätigkeit annimmt. 383 von Münch, Rechtsgutachten, S. 48. 384 von Münch, ZBR 1970, 371, 375; Isensee, Beamtenstreik, S. 133. 385 Tettinger, ZBR 1981, 357, 362; Leisner, Grundlagen des Berufsbeamtentums, S. 44 f. 386 Vgl. oben Kapitel 3 B.III.1.b)bb)(3). 387 In der neueren Diskussion spielt dieser Aspekt denn, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle. Vgl. bereits vorher schon Hanau, JuS 1970, 120, 122. 388 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 14 Reihe 6 (Personal des öffentlichen Dienstes), S. 48–50, siehe Fn. 50.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
plätzen aufgrund des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage verfassungswidrig sei.389 Somit kann den Streikfolgen durch die Streikarbeit von Beamten de lege lata nur sehr bedingt entgegengewirkt werden. Die möglichst effektive Aufrechterhaltung der jeweiligen Dienstleistung kann vielmehr durch die allgemeinverbindliche Regelung von Notdienstvereinbarungen gewährleitestet werden. In den zahlreichen privatisierten Bereichen der Daseinsvorsorge ist dies bereits gängige Praxis.390 Selbst wenn hier aufgrund von Übergangsregelungen noch Beamte tätig sind, kann die Gewährleistung einer Mindestversorgung auf lange Sicht gleichwohl nur mit Hilfe der üblichen arbeitskampfrechtlichen Instrumentarien erfolgen, da keine neuen Beamten mehr nachfolgen. Auch hierin wird keine unzulässige Beeinträchtigung des Sozialstaatsprinzips gesehen. Festzuhalten bleibt somit, dass auch das Sozialstaatsprinzip der Übertragung der konventionsrechtlichen Grundsätze nicht entgegensteht. Selbiges gilt auch für das Rechtsstaatsprinzip. Keinesfalls fordert das Konventionsrecht ein uneingeschränktes Streikrecht im gesamten gesetzesvollziehenden Bereich. Vielmehr bleibt gerade der Bereich des hoheitlichen Gesetzesvollzugs Einschränkungen weiterhin zugänglich.391 Von möglichen streikbedingten Ausfällen betroffen sind, wie vorstehend gezeigt,392 vielmehr Bereiche, in denen es schon heute durch den Einsatz von Arbeitnehmern des öffentlichen Diensts zu arbeitskampfbedingtem Dienst- und somit auch „Verwaltungsausfall“ kommt, ohne dass hierin eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips gesehen würde. Auch die insoweit angeführten Bedenken stehen somit einer konventionsfreundlichen Auslegung nicht entgegen. 4. Das Streikverbot als eigener hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums Ein weiterer vielfach bemühter Begründungsansatz für das Streikverbot der Beamten liegt darin, dieses schlicht als hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums zu qualifizieren.393 Dieser gehe zurück auf eine lange Traditionslinie 389 BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379. 390 Vgl. auch Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 166 f. 391 Oben Kapitel 2 A.IV.2.b). 392 Oben Kapitel 3 A.II.2. 393 Vgl. aus der Rechtsprechung BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1039/75 u. a., E 44, 249, 264 = Juris Rn. 38; BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52 u. a., E 8, 1, 17 = NJW 1958, 1228, 1230; BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 738; BVerwG 03.12.1980 – 1 D 86/79, E 73, 92, 102; BVerwG 19.9.1977 – I DB 12.77, E 53, 330, 331 = NJW 1978, 178, 179; BGH 31.1.1978 – VI ZR 32/77, AP Nr. 61 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 2) = BGHZ 70, 277, 279; aus der Literatur Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 GG Rn. 56 und Art. 33 GG Rn. 51; von Münch, in: BK, Art. 9
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und werde durch die „grundgesetzliche Gesamtsystematik bestätigt und gerechtfertigt“.394 Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG sind die hergebrachten Grundsätze ein „Kernbestand von Strukturprinzipien, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind“.395 a) Die Traditionslinie Bereits der Wortlaut des Art. 33 Abs. 5 GG setzt für die aus ihm erwachsende Verfassungsgarantie zwei tatbestandliche Merkmale voraus, welche sich auch in der Rechtsprechungsformel des BVerfG rezipiert finden. So verlangt die Verfassung einerseits einen die Beamtenrechtsstruktur prägenden Grundsatz („Fundamentalität“ 396), dessen Geltung zum anderen aber auch im verfassungshistorischen bzw. vorkonstitutionellen Rechtsgefüge seine Berechtigung findet („Traditionalität“ 397). Es bedarf folglich zunächst eines Traditionsnachweises der entsprechenden Regelung. Dieser Nachweis gilt als geführt, wenn der Grundsatz allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden ist.398 Kritische Stimmen stellen dies jedoch bereits in Frage und führen an, dass jedenfalls im Anfangsstadium des für den Traditionsnachweis relevanten Zeitraums, der Weimarer Republik, – genauer in den Jahren 1918 bis 1922 – die Geltung des Streikrechts für Beamte heftig umstritten, ja sogar mehrheitlich anerkannt war.399 Es erscheint jedoch zweifelhaft, dem Streikverbot den Traditionsnachweis aufgrund dieser kurzen zeitlichen Periode in der „Geburtsstunde“ der Republik zu versagen. Bereits am 1. Februar 1922 erließ der GG Rn. 193; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rn. 520; Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 63; ders., Beamtenstreik, S. 53 ff.; Kemper, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 9 GG Rn. 190; Lecheler, in: Friauf/Höfling, Art. 33 GG Rn. 79; Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 84; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1109; Weber, in: Leisner, Berufsbeamtentum, S. 199, 201 f.; Rieble, in: Löwisch, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 13; Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, S. 8; wohl auch Rosenau, Die Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 224. 394 Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 64. 395 Vgl. nur BVerfG 7.11.2002 – 2 BvR 1053/98, E 106, 225 = NVwZ 2003, 720, 721; Lecheler, AöR 103 (1978), 349. 396 Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 73. 397 Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 73. 398 Oben Fn. 395. 399 Vgl. Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 30; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 107.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
damalige Reichspräsident Ebert eine Notverordnung mit einem ausdrücklichen Streikverbot für die Beamten der Reichsbahn aber auch alle übrigen Beamtengruppen und somit statusbezogen.400 Hintergrund dieser Verordnung war die Streikandrohung der Reichsgewerkschaft deutscher Eisenbahner.401 Isensee weist insoweit zurecht darauf hin, dass nach dem erfolglosen Abbruch des Eisenbahnerstreiks sowie der einhelligen Ablehnung desselben durch die Rechtsprechung die Diskussion weitgehend zum Erliegen kam und das Beamtenstreikverbot in der Weimarer Republik als konsolidiert betrachtet werden muss.402 Im Grundgesetz wurde schließlich das Modell des Berufsbeamtentums fortgeführt und auch das an den Status anknüpfende Streikverbot hatte – trotz fehlender expliziter Regelung und einheitlichem Standpunkt des parlamentarischen Rats403 – weiterhin Bestand.404 Bis in die jüngste Zeit bestätigte die Rechtsprechung einhellig die Geltung des Beamtenstreikverbots.405 Was letztlich die Ursache oder die Motive für die Anerkennung und Wahrung des Streikverbots durch die überwiegende Ansicht und die Rechtsprechung waren, ist dabei für den Traditionsnachweis nicht von Bedeutung.406 Insgesamt also wird man das Beamtenstreikverbot durchaus als tradiert und damit auch „hergebracht“ im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG anzusehen haben.407 b) Bestehen eines Grundsatzes im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG Erkennt man folglich das Bestehen einer Traditionslinie für das Streikverbot an, so reicht dies für sich genommen noch nicht aus, um es als Bestandteil der institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG annehmen zu können. Vielmehr
400 § 1VO des Reichspräsidenten zum Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn vom 1. Februar 1922, RGBl. 1922, S. 187. 401 Isensee, Beamtenstreik, S. 56. 402 Isensee, Beamtenstreik, S. 56. Dies stellt auch Däubler (Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 107) nicht wirklich in Abrede; vgl. auch Kutzki, DöD 2011, 169, 170; Schick, in: StudKomm ö. D., S. 171, 252. Zur Geschichte des Beamtenstreikrechts in der Weimarer Republik vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, S. 524, 1132 ff. 403 Vgl. die Schilderung des Verlaufs der Sitzung des Hauptausschusses vom 3.12. 1948 bei Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 17 ff.; a. A. Isensee, in: HbVerfR, § 32 Rn. 63. 404 Erst ca. zwei Jahrzehnte später wurden wieder erste kritische Stimmen für die Wiederanerkennung eines Streikrechts für Beamte laut, Isensee, Beamtenstreik, S. 57. 405 Die erste insoweit abweichende Entscheidung war die Entscheidung des VG Kassel vom 27.7.2011 (-K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472). 406 Anders Hensche (in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 37, 39), der das Streikverbot schon deshalb nicht als tradiert erachtet, weil es ein reines Produkt der Exekutive sei. 407 So auch Altheim, Das Streikrecht der Beamten, S. 152; Gooren, ZBR 2011, 400, 403; vgl. auch Benz, Beamtenverhältnis und Arbeitsverhältnis, S. 150.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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müsste das Verbot des Arbeitskampfes darüber hinaus auch die Qualität eines „Grundsatzes“ im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG haben.408 aa) Das Streikverbot als fundamentales Strukturprinzip Wie bereits eingangs erwähnt, werden diese Grundsätze vom BVerfG umschrieben als ein „Kernbestand von Strukturprinzipien“. Durch diesen sollen die für das Berufsbeamtentum wesentlichen und prägenden Grundsätze festgeschrieben werden. Erfasst wird demnach nicht bereits jede Regelung des früheren Beamtenrechts, die sich als hergebracht erweist.409 Es bedarf vielmehr eines für die Institution und Funktion des Berufsbeamtentums fundamentalen Strukturprinzips.410 Es fragt sich mithin, ob dem Beamtenstreikverbot die Qualität eines strukturprägenden Grundsatzes zukommt. Dies wird zuweilen ohne nähere Begründung bzw. ein Hinterfragen der oben beschriebenen tradierten Praxis angenommen.411 Diese Vorgehensweise erscheint jedoch problematisch. Zunächst ist das Arbeitskampfrecht der Beamten grundsätzlich durch Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich verbürgt.412 Somit bedarf ein genereller Ausschluss der besonderen Rechtfertigung. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Art. 123 Abs. 1 GG, nach welchem vorkonstitutionelles Recht nur insoweit fortgilt, wie es dem Grundgesetz nicht widerspricht. Das Streikverbot ist dabei kein Selbstzweck, sondern kann seine Legitimation einzig aus seiner Notwendigkeit zur Wahrung anderer Strukturprinzipien und Zweckbestimmungen des Berufsbeamtentums ableiten. Wie die bisherigen Untersuchungen gezeigt haben, ist das überkommene generelle Streikverbot jedoch gerade nicht systemnotwendig, um andere hergebrachte Grundsätze zu wahren bzw. zu erhalten. Bedeutung kommt ihm einzig zur Absicherung der hoheitsrechtlichen Befugnisse im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG zu.413 Insofern kann das statusbezogene Streikverbot auch nicht als fundamentales Strukturprinzip im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG bezeichnet werden.414 Diese Annahme wird auch durch die weitere Konzeption des Art. 33 Abs. 5 GG bestätigt. Das BVerfG führt hierzu aus: 408
Insoweit ungenau Benz, Arbeitsverhältnis und Beamtenverhältnis, S. 150. BVerfG 6.3.2007 – 2 BvR 556/04, E 117, 330 = NVwZ 2007, 568, 569; BVerfG 14.12.1982 – 2 BvR 1261/79, E 62, 374 = NJW 1984, 915, 915 f. 410 Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 73; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 28. 411 Vgl. oben Fn. 393. Schlachter spricht insoweit von der „Verfestigung einer bestimmten Auslegungspraxis zu einem kaum noch hinterfragten Grundsatz“. 412 Oben Kapitel 3 A.I.1.a). 413 Kapitel 3 B.III.2. 414 So auch Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 28, Altheim, Das Streikrecht der Beamten, S. 152; Gooren, ZBR 2011, 400, 403. 409
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
„In der Pflicht zur Berücksichtigung ist [. . .] eine Entwicklungsoffenheit angelegt, die den Gesetzgeber in die Lage versetzt, die Ausgestaltung des Dienstrechts den jeweiligen Entwicklungen der Staatlichkeit anzupassen und das Beamtenrecht damit ,in die Zeit‘ zu stellen. Die Strukturentscheidung des Art. 33 Abs. 5 GG belässt ausreichend Raum, die geschichtlich gewachsene Institution in den Rahmen unseres heutigen Staatslebens einzufügen [. . .] und den Funktionen anzupassen, die das Grundgesetz dem öffentlichen Dienst in der freiheitlichen, rechts- und sozialstaatlichen Demokratie zuschreibt“.415
Nimmt man diese grundsätzlich veränderungsoffene Konzeption des Art. 33 Abs. 5 GG416 ernst, so stünde sie mit dem hergebrachten Grundsatz eines generellen statusbezogenen Beamtenstreikverbots im Widerspruch. Der Gesetzgeber könnte das Beamtenstreikverbot gerade nicht zeitangemessen ausgestalten, da schlicht nur eine Variante der Geltung denkbar und damit zulässig wäre. Strukturprinzipien im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG sollen dem Gesetzgeber jedoch typischerweise einen Gestaltungsspielraum zur Konkretisierung und Anpassung belassen, freilich nur solange sie in ihrem Kernbereich unangetastet bleiben. Dies bestätigt auch die Aufnahme der – aufgrund des bereits vorherrschenden prospektiven Verständnisses des Art. 33 Abs. 5 GG vermehrt als rein deklaratorisch bezeichneten417 – „Fortentwicklungsklausel“ im Zuge der Föderalismusreform im Jahr 2006.418 Im Ergebnis lässt sich Art. 33 Abs. 5 GG folglich bereits gar kein Grundsatz eines statusbezogenen Streikverbots entnehmen. Ein für das Beamtentum fundamentales Strukturprinzip stellt das Streikverbot ausschließlich im Rahmen des Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG dar,419 weshalb auch die komplementäre Garantie und Absicherung des Art. 33 Abs. 5 GG nur in diesem Umfang besteht. Art. 33 Abs. 4 und 5 GG bilden eine Regelungseinheit zur Festschreibung und zum Erhalt der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums. Innerhalb dieser Regelungseinheit ist das Streikverbot wesentlicher Bestandteil und somit auch als unveränderlicher Grundsatz im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich garantiert. Der Anerkennung eines Streikrechts für Beamte außerhalb des Vorbehaltsbereichs des Art. 33 Abs. 4 GG steht Art. 33 Abs. 5 GG somit nicht entgegen. bb) Berücksichtigungsgebot Sähe man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – das statuseinheitliche Streikverbot gleichwohl als hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums an, 415 416 417 418 419
BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1398. Vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, Art. 33 GG Rn. 65. Bochmann, ZBR 2007, 1, 10; Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 72 a. Vgl. hierzu auch Summer, PersV 2007, 223, 229. Oben Kapitel 3 B.III.2.b).
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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so wäre dieser Grundsatz zunächst nach dem Wortlaut des Art. 33 Abs. 5 GG vom Gesetzgeber lediglich zu berücksichtigen. Nach einigen Stimmen in der Literatur erlaubte diese systematische Konzeption des Art. 33 Abs. 5 GG, den zunächst entgegenstehenden Grundsatz einschränkend weiterzuentwickeln,420 wodurch letztlich auch eine Anpassung desselben an die konventionsrechtlichen Streikrechtsvorgaben möglich wäre.421 Nach der hergebrachten Diktion des BVerfG sind allerdings einige Grundsätze nicht nur zu berücksichtigen, sondern der Gesetzgeber hat sie aufgrund ihres elementaren, strukturprägenden Charakters zu beachten. Dies bedeutet, dass er in besonderer Weise an die Wahrung dieser Prinzipien gebunden ist und ihm insoweit ausnahmsweise kein Gestaltungsspielraum zusteht.422 Unter Berufung auf diese Lehre der Grundsätze mit erhöhter normativer Bindungswirkung wird zum Teil angenommen, die Geltung des Beamtenstreikverbots sei als eigener Grundsatz oder zumindest notwendiger Ausfluss anderer hergebrachter Grundsätze strikt zu beachten und verstelle somit den Weg zu einer Veränderung in Form einer auch nur partiellen Aufweichung des Beamtenstreikverbots.423 Abgesehen von der inhaltlichen und strukturellen Bedeutung des Streikverbots im Regelungsgefüge des Berufsbeamtentums424 vermag dieser Ansatz bereits aus systematischen Erwägungen nicht zu überzeugen.425 Eine strikte „Beachtenspflicht“ für einzelne Grundsätze lässt sich weder mit dem eindeutigen Wortlaut des Art. 33 Abs. 5 GG vereinbaren, noch aus der sonstigen Regelungssystematik 420 Altheim, Das Streikrecht der Beamten, S. 153; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 45 Rn. 39; Hanau, JuS 1971, 120, 121; so wohl auch Köpp, in: Steiner, BesVerwR, 7. Aufl., III A, Rn. 43. 421 So etwa Werres, Beamtenverfassungsrecht, S. 139; Gooren, ZBR 2011, 400, 403. Das VG Kassel (27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 474) geht sogar davon aus, dass der mit der Grundgesetzänderung vom 28.8.2006 eingefügte Fortentwicklungsauftrag an den Gesetzgeber bereits durch das verfassungsrechtliche Bekenntnis zur Geltung der EMRK dergestalt vollzogen ist, „dass das ursprünglich für alle Beamtinnen und Beamten geltende Streikverbot nunmehr – unter Berücksichtigung des Art. 11 EMRK – allenfalls noch für eine bestimmte, abgrenzbare Gruppe von Beamtinnen und Beamte Geltung“ beansprucht. Hiergegen bestehen allerdings systematische Bedenken, da der Fortentwicklungsauftrag ausweislich seines Wortlauts lediglich für das einfache Beamtenrecht, nicht aber auch die hergebrachten Grundsätze als solche gilt, vgl. BVerfG 28.5.2008 – 2 BvL 11/07, E 121, 205 = NVwZ 2008, 873, 877 m.w. Nw.; vgl. auch OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 894. 422 Vgl. etwa BVerfG 6.3.2007 – 2 BvR 556/04, E 117, 330 = NVwZ 2007, 568, 569; BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1398; vgl. auch m.w. Nw. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 48. 423 VG Osnabrück 19.8.2011 – 9 A 1/11, BeckRS 2011, 53771 unter II.1.d. der Gründe; VG Düsseldorf 15.12.2010 – 31 K 3904/10.O, PersR 2011, 167 f.; kritisch auch Seifert, KritV 2009, 357, 375. 424 Dazu sogleich unten Kapitel 3 B.III.4.b)cc). 425 Insgesamt kritisch zur verfassungsgerichtlichen Abstufung der normativen Bindungswirkung Grigoleit, in: Stern/Becker, Art. 33 GG Rn. 72 f.; Battis, in: Sachs, Art. 33 GG Rn. 67; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 33 GG Rn. 48.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
herleiten. Art. 33 Abs. 5 GG verlangt die „Berücksichtigung“ abstrakter „Grundsätze“ und gibt insoweit nur einen veränderungsoffenen, konkretisierungsbedürftigen Rahmen für die Beamtengesetzgebung vor. Dies bestätigt auch das systematische Zusammenspiel mit der neu eingefügten Fortentwicklungsklausel sowie der Harmonisierungsnorm des Art. 123 Abs. 1 GG. Beide setzen die grundsätzliche Veränderbarkeit eines jeden hergebrachten Grundsatzes zur zeitgemäßen Anpassung des Beamtenrechts implizit voraus. Diese muss somit prinzipiell möglich sein.426 Auch wenn man also das statusrechtliche Beamtenstreikverbot als hergebrachten Grundsatz betrachtete, könnte der Gesetzgeber diesen dem Grunde nach gleichwohl im Sinne der konventionsrechtlichen Vorgaben weiterentwickeln. Zu beachten wäre einzig, dass das Beamtenstreikverbot nicht in seiner institutionsund strukturprägenden Funktion angetastet würde. Wie die vorstehenden Untersuchungen gezeigt haben, stellte eine nur noch partielle Geltung, entsprechend der konventionsrechtlichen Vorgaben, keine Beeinträchtigung des durch Art. 33 Abs. 4 GG vorgegebenen Kernbestands des Beamtenstreikverbots dar. Der Grundsatz – sofern man dessen Bestehen denn annähme – würde immer noch ausreichend „berücksichtigt“. cc) Notwendigkeit der statuseinheitlichen Geltung? Zahlreiche Stimmen in Literatur427 und Rechtsprechung428 lehnen allerdings eine Differenzierung zwischen Streikrechtsberechtigten und Nichtstreikrechtsberechtigten innerhalb des Beamtensektors mit dem Verweis auf die notwendig einheitliche Ausgestaltung des Status ab. Angeführt wird dabei zum einen, dass 426 Letztlich zeigt sich der „synthetische Charakter“ der Aufteilung der Grundsätze auch daran, dass das BVerfG zur Unterscheidung zwischen den nur zu berücksichtigenden und den zu beachtenden Grundsätzen im Wesentlichen wieder auf dieselben Kriterien rekurriert, welche es bereits zur Findung der hergebrachten Grundsätze als solcher bemüht. Maßgebend soll wiederum sein, inwieweit der jeweilige Grundsatz die Struktur der Institution des Berufsbeamtentums prägt, also die „Fundamentalität“ des Grundsatzes, vgl. etwa BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1398. 427 Isensee, Beamtenstreik, S. 37; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 58 f.; Bitsch, Streikrecht für Beamte, 78, 84; Nokiel, DÖD 2012, 152, 156; Sonntag/ Hoffmann, RiA 2012, 137, 139 f.; Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 518; aus Gründen der Abgrenzungsschwierigkeiten Hanau, JuS 1971, 120, 122 f.; vgl. auch Masing, in: Dreier, Art. 33 GG Rn. 79; Jachmann, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 33 GG Rn. 41. 428 Trotz der missverständlichen Formulierung in seiner Entscheidung vom 30.3.1977 (2 BvR 1039/75, E 44, 249 = Juris Rn. 34), geht wohl auch das BVerfG von einer einheitlichen Geltung des Art. 33 Abs. 5 GG auch außerhalb der Grenzen des Funktionsvorbehalts aus, vgl. etwa jüngst BVerfG 19.9.2007 – 2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1399. So auch BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 739; OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 895; OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 57 ff.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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Art. 33 Abs. 5 GG auch über den Schutzzweck des Art. 33 Abs. 4 GG hinaus der Wahrung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit diene429 und das Streikverbot auch ohne konkreten Aufgabenbezug für die Funktionsfähigkeit der Verwaltung unverzichtbar sei.430 Es habe „berufsbildprägende Kraft“ und vergegenwärtige den Handelnden nochmals die Wichtigkeit der ihnen anvertrauten Aufgaben.431 Zum anderen verkörpere der Beamtenstatus eine seit jeher statusbezogen ausgestaltete Komposition von typisierend und funktionsunabhängig bestimmten Rechten und Pflichten.432 Folglich könne das Streikverbot nicht isoliert aus diesem beamtenrechtlichen Gesamtkonstrukt herausgelöst werden.433 Die vorgetragenen Punkte vermögen aus verschiedenen Gründen gleichwohl keine von dem vorstehenden Ergebnis abweichende Bewertung zu begründen. Die grundsätzliche Bedeutung und die möglichen Folgen einer Rezeption der konventionsrechtlichen Vorgaben für demokratische und rechtsstaatliche Strukturen sowie die Funktionsfähigkeit der Verwaltung wurden in der vorstehenden Bearbeitung bereits erörtert, weshalb auf die dortigen Ausführungen verwiesen wird.434 Wird dennoch ein weitergehender Schutzzweck des Art. 33 Abs. 5 GG reklamiert und hieraus die Notwendigkeit der einheitlichen Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse abgeleitet, so setzt sich diese Betrachtungsweise entscheidend über den systematischen Zusammenhang zwischen den Absätzen 4 und 5 hinweg.435 Im Ergebnis führte dies zu einer Bewertung der Verbeamtungspraxis und ihrer Folgen losgelöst von der eigentlichen verfassungsrechtlichen Konzeption, was insbesondere vor dem Hintergrund der grundrechtseinschränkenden Dimension des Beamtenverhältnisses bedenklich erscheint. Die Berufung auf eine statuseinheitliche Geltung des Streikverbots unter Verweis auf dessen Erfordernis
429
Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 49. Lindner, DöV 2011, 305, 306. 431 Leisner, Legitimation des Berufsbeamtentums, S. 169 f.; vgl. auch OVG Lüneburg 12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 59 f. 432 OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 894; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 35, 55 f.; Isensee, Beamtenstreik, S. 37; Landau/ Trésoret, DVBl. 2012, 1329, 1333. 433 Baßlsperger, ZBR 2013, 64, 65; Schubert, AöR 2012, 92, 96 f.; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 56; Lindner, JZ 2013, 942; vgl. auch Traulsen, JZ 2013, 942, 943. 434 Siehe oben Kapitel 3 B.III.2.b); Kapitel 3 B.III.3.aa); Kapitel 3 B.III.3.bb). 435 Art. 33 Abs. 4 und 5 GG bilden als komplementäre Regelungsbestandteile die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums. Art. 33 Abs. 4 GG enthält zwar keine Funktionssperre, die die Unzulässigkeit des Beamteneinsatzes jenseits des Funktionsvorbehalts begründet. Gleichwohl orientiert sich die verfassungsrechtliche Konzeption des Beamtentums, mitsamt seinem grundrechtseinschränkenden Gehalt, doch offensichtlich am Aufgabentypus des Art. 33 Abs. 4 GG, vgl. auch Schinkel, ZBR 1974, 282, 283; Heinze, in: FS 50 Jahre BAG, S. 493, 499. Letzterer wiederum wird gerade wegen seines erheblichen Bedeutungsgehalts immer wieder unter kontroverser Diskussion an die aktuellen Gegebenheiten angepasst, siehe oben Kapitel 3 B.III.2.b)bb)(1). 430
250
Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
zur Wahrung abstrakter staatsorganisationsrechtlicher Prinzipien ist gerade auch vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen im Bereich des öffentlichen Diensts436 nicht ausreichend, um im Rahmen der Abwägung der praktischen Konkordanz die Streikrechtseinschränkungen aller Berufsbeamten zu rechtfertigen. Das Gebot der „Grundrechtsoptimierung“ 437 verpflichtet vielmehr dazu, in jedem konkreten Fall die Erforderlichkeit des Streikverbots nachzuweisen438. Die hieraus jedenfalls stellenweise folgende verfassungsrechtliche Problematik wird vielfach auch von den Befürwortern eines statusbezogenen Streikverbots erkannt.439 Dennoch sei die Entscheidung über die Begründung des Beamtenverhältnisses ein zu respektierendes Votum des demokratischen Souveräns440 und der Statuts als solcher nun mal ein zusammenhängendes Bündel typisierter Rechte und Pflichten, welches durch ein isoliertes Herauslösen des Streikverbots in ein Ungleichgewicht gerate.441 Freilich kann man die insbesondere aus dem Alimentationsgedanken abgeleiteten beamtenrechtlichen Privilegien als Ausgleich für die fehlende Arbeitskampffreiheit begreifen.442 Der arbeitskampfrechtliche Sonderstatus der Beamten lässt sich jedoch nicht lediglich damit rechtfertigen, dass sich Sonderlasten und Vorzüge gegenseitig kompensieren und auf diesem Wege eine anderenfalls etwaig drohende Übervorteilung der Beamten gegenüber den sonstigen öffentlich Bediensteten vermieden wird.443 Die „Entrechtung der Beamten“ 444 fungiert nicht als rechtfertigender Sachgrund einer grundrechtsrelevanten Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG. Das Streikverbot dient, ebenso wie die gesamte Institution des Beamtentums, der Ge-
436 Gemeint ist zum einen der mit Blick auf Art. 33 Abs. 4 GG extensive Einsatz von Beamten in nicht hoheitsrechtlichen und staatstragenden Bereichen aus bloßen Opportunitätserwägungen. Zum anderen wurden weite Bereiche der staatlichen Sicherungsaufgaben im Zuge von Privatisierungsmaßnahmen der staatlichen Organisation entzogen, weshalb die dort beschäftigten Beamten auch nicht mehr primär der Verwirklichung staatsorganisatorischer, sondern vielmehr privatwirtschaftlicher Ziele verpflichtet sind. 437 Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 31. 438 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72. 439 Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, § 14 Rn. 518; Isensee (Beamtenstreik, S. 101 ff.) etwa spricht im Falle der Begründung von Beamtenverhältnissen auf sog. statuswidrigen Funktionen von einem „dienstrechtlichen Formenmissbrauch“ und plädiert ferner dafür, in derartigen Fällen dem Streikrecht durch eine fingierte Verdrängung des Beamtenstatus Durchbruch zu verschaffen. Vgl. auch BVerfG 30.3.1977 – 2 BvR 1045/75, E 44, 249 = NJW 1977, 1869. 440 Etwa Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 50. 441 Oben Fn. 433. 442 Zur weiteren Kompensation hat der Gesetzgeber den Spitzenorganisationen der Beamten außerdem Beteiligungsrechte innerhalb der Gesetzgebungsverfahren eingeräumt, vgl. § 53 BeamtStG und § 118 BBG. 443 So aber Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, S. 71 ff. 444 Greiner, DÖV 2013, 623 630.
B. Verfassungsrechtliche Analyse
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währleistung einer stabilen und funktionsfähigen Verwaltung.445 Ist es jedenfalls in Teilen hierfür nicht (mehr) erforderlich, so gebietet es der Grundsatz der praktischen Konkordanz, dass der Arbeitskampffreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG insoweit Vorrang eingeräumt wird. Hierdurch entstehende strukturelle und statusrechtliche Ungereimtheiten sind durch die Anpassung des sonstigen Beamtenrechts oder öffentlichen Dienstrechts gegebenenfalls zu beheben und auszugleichen. Dies sind allerdings Erwägungen rechtspolitischer Natur,446 welchen im hiesigen Kontext keine entscheidende Bedeutung zukommt.447 Anders wäre dies nur dann, wenn derartige Anpassungen, sonstige für das Berufsbeamtentum konstitutive Grundsätze in ihrem Wesensgehalt antasteten und damit die Institution als solche in Frage stellten.448 Die bisherige Bearbeitung hat jedoch gezeigt, dass auch die sonstigen beamtenrechtlichen Prinzipien einer Einführung des Streikverbots im Sinne der konventionsrechtlichen Vorgaben dem Grunde nach nicht entgegenstehen.449 Die besondere Pflichtenstellung450 des Beamten wird ebenso wenig verletzt wie das Alimentationsprinzip451 und das Haupt- und Lebenszeitprinzip.452 Auch der Grundsatz der gesetzlichen Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses wird nicht angetastet.453 Festzuhalten bleibt somit, dass der Schutzzweck des Art. 33 Abs. 5 GG kein notwendigerweise statuseinheitliches Streikverbot zu rechtfertigen vermag. Letzteres ist weder zur Wahrung staatsverfassungsrechtlicher Strukturentscheidungen, wie insbesondere dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, noch zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung erforderlich. Freilich ist der Beamtenstatus eine im Hinblick auf Rechte und Pflichten ausgewogene rechtliche Institution. Gleichwohl kann allein die Einheitlichkeit der Regelungsstruktur nicht die funktional nicht erforderliche Einschränkung der grundrechtlichen Streikfreiheit begründen. Die Einführung eines Streikrechts in den von der EMRK geforderten Bereichen berührt auch die sonstigen hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nicht in ihrem Wesensgehalt, weshalb Art. 33 Abs. 5 GG auch insoweit nicht entgegensteht.
445
BVerfG 11.6.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52, E 8, 1 = NJW 1958, 1228, 1229. Vgl. auch Traulsen, JZ 2013, 65, 71. 447 Näher hierzu unten Kapitel 3 D. und Kapitel 3 C. 448 Diesen Aspekt betont besonders Lindner, ZBR 2013, 145, 147 oder JZ 2013, 942. 449 Angemerkt sei an dieser Stelle nochmals, dass das Konventionsrecht keinesfalls die Einführung eines unbeschränkten Streikrechts für die gesamte Beamtenschaft fordert, siehe oben Kapitel 3 A.III. 450 Oben Kapitel 3 B.III.1.b). 451 Oben Kapitel 3 B.III.1.c). 452 Oben Kapitel 3 B.III.1.d). 453 Oben Kapitel 3 B.III.1.a). 446
252
Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
dd) Zwischenergebnis Das statusbezogene Beamtenstreikverbot ist eine tradierte Regelung des Beamtenrechts, gleichzeitig allerdings als solche nicht in vollem Umfang auch ein strukturprägender Grundsatz des Berufsbeamtentums. Die Eigenschaft eines fundamentalen Strukturprinzips kommt dem Arbeitskampfverbot ausschließlich im Rahmen des Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG zu. Außerhalb dieses Bereichs statuiert auch Art. 33 Abs. 5 GG kein verfassungsrechtliches Streikverbot für die Beamtenschaft. Dieses ergibt sich letztlich auch weder aus einem weitergehenden Schutzzweck des Art. 33 Abs. 5 GG noch aus den sonstigen statusrechtlichen Besonderheiten. Somit enthält auch Art. 33 Abs. 5 GG kein den Konventionsvorgaben entgegenstehendes Verfassungsprinzip.
IV. Ergebnis Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass einer Übertragung der konventionsrechtlichen Grundsätze auf die deutsche Rechtsordnung weder ausdrückliche noch implizite Verfassungsprinzipien entgegenstehen. Die tradierte Praxis des notwendig statuseinheitlichen Streikverbots durch die Judikative sowie weite Teile der Literatur entbehrt einer zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgabe. Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG bedingen weder für sich genommen noch in ihrer statusrechtlichen Verbindung ein generelles Streikverbot für Beamte. Auch ist das einheitliche statusbezogene Streikverbot kein eigenes verfassungsimmanentes Strukturprinzip, welches eine Rezeption der konventionsrechtlichen Streikrechtsvorgaben im Bereich des öffentlichen Diensts ausschlösse. Die bei der Auslegung zu beachtende verfassungsrechtliche Grenze markiert der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG, welcher seinerseits für die Wahrnehmung „hoheitsrechtlicher Befugnisse“ eine streikrechtsausschließende Funktionsgarantie statuiert. Aber auch innerhalb des hoheitlichen Reservats verbleibt ein ausreichender Gestaltungsspielraum, welcher im Falle von Divergenzen des Verfassungsrechts und des konventionsrechtlichen Ausnahmevorbehalts nach Art. 11 Abs. 2 EMRK zur konventionsfreundlichen Auslegung nutzbar gemacht werden kann. Somit steht auch Art. 33 Abs. 4 GG der Übertragung der Konventionsgrundsätze nicht entgegen. Insbesondere in den konventionsrechtlich besonders relevanten Bereichen der beamteten Lehrer sowie der Beamten bei der Deutschen Bahn AG und den Postnachfolgeunternehmen ist somit die Gewährung der Streikfreiheit verfassungsrechtlich möglich. Die Arbeitskampffreiheit der nach den vorstehenden Grundsätzen streikberechtigten Beamten ist allerdings beschränkt auf die Durchführung von Streikmaßnahmen unter gleichzeitigem Ausschluss sonstiger atypischer Kampfmittel.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
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Zudem müssen die genannten Maßnahmen auf die Gestaltung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtet sein.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen für die Implikation der konventionsrechtlichen Vorgaben Steht nunmehr fest, dass einer Anpassung der deutschen Rechtslage an das Konventionsrecht verfassungsrechtlich keine Einwände entgegenstehen, so verbleibt dennoch die Frage, innerhalb welcher Bahnen die tatsächliche Umsetzung dieses rechtlichen Befundes erfolgen kann. Wie die eingangs dargestellten Entscheidungen der verschiedenen Instanzgerichte verdeutlicht haben,454 ist indes, gerade mit Blick auf die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG, fraglich, inwiefern die Verwaltungsgerichtsbarkeit an die bisherige Rechtsprechung und Verfassungsexegese des BVerfG gebunden ist. Schließlich beruht das statusbezogene Streikverbot auf einer über viele Jahrzehnte gefestigten höchstrichterlichen Verfassungsrechtsprechung. Unabhängig von dieser Problematik sind zudem die weiteren sonstigen rechtlichen Rahmenbedingungen einer Übernahme der Konventionsvorgaben insbesondere auch in arbeitskampfrechtlicher Hinsicht näher zu beleuchten.
I. Handlungsspielraum und Umsetzungsmöglichkeiten der Judikative Die Adaption einer nationalen Rechtsordnung an das Konventionsrecht kann im Fall des Fehlens einer ausdrücklich normierten Regelung auf unterschiedliche Art und Weise bzw. durch verschiedene „Akteure“ innerhalb des Rechtsstaats erfolgen. In Deutschland hatten sich zunächst die Verwaltungsgerichte im Rahmen von beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren mit den Auswirkungen des veränderten konventionsrechtlichen Hintergrundes auf das deutsche Recht zu befassen. Unabhängig von der unterschiedlichen Bewertung des konventionsrechtlichen Kontextes und dessen materieller Vereinbarkeit mit dem deutschen Verfassungsrecht, hatten die Richter ihre Entscheidung in Ansehung der gefestigten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur generellen Unzulässigkeit des Beamtenstreiks zu treffen.455 Gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des BVerfG alle sonstigen Gerichte des Bundes. Fraglich war somit, ob eine Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits aus diesem Grund a priori ausscheiden musste. So hatte sich etwa das VG Osnabrück in seinem Urteil vom 19. August 2011 trotz bestehender Zweifel
454 455
Kapitel 1 B.II.2. Vgl. hierzu Battis, Streikverbot für Beamte, S. 37 f.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
an der Konventionskonformität des deutschen Beamtenstreikverbots als nicht befugt erachtet, von der Judikatur des BVerfG zu Art. 33 Abs. 5 GG im Sinne einer konventionsfreundlichen Lösung abzuweichen. Eine derartige Anpassung sei nur durch das BVerfG als maßgeblichen Interpreten des Grundgesetzes möglich.456 Das BVerfG stellte in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 allerdings fest, dass „Entscheidungen des EGMR, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, [. . .] rechtserheblichen Änderungen gleich [stehen], die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des BVerfG führen können“.457 Diese Feststellung könnte die Folgerung zulassen, dass wenn eine spätere entgegenstehende Konventionsrechtsprechung sogar geeignet ist, die Rechtkraft in einer bereits konkret entschiedenen Sache zu überwinden, selbiges ebenfalls im Hinblick auf eine „konventionswidrige“ ständige Rechtsprechungslinie des BVerfG möglich sein müsse. Hieran anknüpfend wird angeführt, dass die Implementierung der geänderten konventionsrechtlichen Vorgaben auch durch die Fachgerichte erfolgen könne. Die Berücksichtigungspflicht des § 31 Abs. 1 BVerfGG sei als einfachgesetzlich normierte Regelung ebenfalls im Lichte der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zu interpretieren bzw. in ihrem Anwendungsbereich zu reduzieren.458 Die Bindungswirkung entfalle somit, wenn Urteile des EGMR zu befolgen seien.459 Eine gegenteilige Auffassung widerspreche dem Sinn und Zweck der Regelung. Durch diese solle eine möglichst einheitliche und umfassende Geltung des Grundgesetzes sichergestellt werden.460 Stehe jedoch die maßgebliche Auslegung des Grundgesetzes durch das BVerfG im Widerspruch zu einer nachträglich ergangenen Änderung völkerrechtlicher Vorgaben, so sollten die mit konkreten Rechtsfragen betrauten Gerichte, gerade auch im Hinblick auf die völkerrechtsfreundliche Konzeption der deutschen Verfassung, über die Bindungswirkung nicht dazu verpflichtet werden, den mutmaßlichen Völkerrechtsverstoß zu perpetuieren.461 Einige Fachgerichte sahen sich jedoch auch in Kenntnis der vorstehenden Argumentation gleichwohl der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG unterworfen, da sie eindeutige Indizien dafür feststellten, dass das BVerfG auch in Ansehung der veränderten völker-
456 VG Osnabrück 19.8.2011 – 9 A 1/11, BeckRS 2011, 53771 unter II.2.b. und d. der Gründe; in diese Richtung auch VG Bremen 03.7.2012 – D K 20/11, Juris Rn. 20 ff. 457 BVerfG 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., E 128, 326 = NJW 2011, 1931. 458 Hoffmann, NdsVBl. 2012, 151, 154; Gooren, ZBR 2011, 400, 405; vgl. auch KG Berlin 29.10.2004 – 9 W 128/04, NJW 2005, 605 607. Selbiges gelte auch für den Fall, dass die Bindungswirkung aus der verfassungsrechtlich garantierten Aufgabe des BVerfG zur authentischen Interpretation des Grundgesetzes abgeleitet wird (Art. 93, 94 GG), vgl. Hoffmann, NdsVBl. 2012, 151, 152. 459 Polakiewicz, Kessler, NVwZ 2012, 841, 844 f. 460 Vgl. insoweit auch Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 BVerfGG Rn. 3; Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, § 31 BVerfGG Rn. 14. 461 Hoffmann, NdsVBl. 2012, 151, 154.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
255
rechtlichen Umstände seine bisherige Rechtsprechung – insbesondere zu Art. 33 Abs. 5 GG – fortsetzen werde und jedenfalls in derartigen Konstellationen ein Abweichen der Fachgerichte ausscheide.462 Für die Lösung der vorstehenden Problematik ist zunächst entscheidend, auf welche Art und Weise eine Übertragung der konventionsrechtlichen Grundsätze auf das deutsche Recht für möglich gehalten wird. Nach den Ergebnissen der vorstehenden Untersuchung ist eine völkerrechtfreundliche Ausgestaltung des beamtenrechtlichen Streikverbots auch in Ansehung der Grenzen des Art. 33 Abs. 4 GG möglich.463 Dieser Schlussfolgerung liegt die zuvor getroffene Annahme zugrunde, dass Art. 33 Abs. 5 GG über den Anwendungsbereich des Funktionsvorbehalts hinaus kein statuseinheitliches Streikverbot statuiert und somit eine unterschiedliche Streikrechtsgewährleistung innerhalb verschiedener Beamtengruppen verfassungsrechtlich möglich ist. Diese Annahme weicht allerdings ab von der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur zum Streikverbot als hergebrachtem Grundsatz des Berufsbeamtentums sowie zur „Unteilbarkeit“ und Einheitlichkeit des Beamtenstatus, wonach eine wie auch immer geartete Aufspaltung des statusbezogenen Rechte- und Pflichtenverhältnisses kategorisch ausscheidet464. Diese Auffassung des BVerfG beruht, gerade auch hinsichtlich der Einheitlichkeit des Statusrechts, auf grundsätzlichen Systemerwägungen, welche über die Streikrechtsproblematik hinausgehen465. Insoweit enthalten die durch den EGMR neu ausgerichteten Konventionsgrundsätze keine „neuen Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes“, genauer des Art. 33 Abs. 5 GG. Mithin vermögen die oben angeführten Argumente nach dem hier vertretenen Lösungsansatz nicht die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG in Bezug auf die Rechtsprechung zu Art. 33 Abs. 5 GG zu lockern oder gar auszusetzen. Vielmehr bedarf es als Vorstufe einer möglichen völkerrechtsfreundlichen Streikrechtsgewährleistung für deutsche Beamte zunächst der Anpassung der verfassungsgerichtlichen Interpretation des Art. 33 Abs. 5 GG. Solange diese nicht erfolgt ist, ist eine Adaption der deutschen Rechtsordnung an die konventions462 In diese Richtung äußert sich das VG Osnabrück (19.8.2011 – 9 A 1/11, BeckRS 2011, 53771 unter II.2.c. der Gründe) mit Blick auf die bereits ältere Pellegrin-Rechtsprechung des EGMR, welche das BVerfG bei der Auslegung des Art. 33 Abs. 5 GG etwa in seinem Urteil vom 19.9.2007 (2 BvF 3/02, E 119, 247 = Juris Rn. 65 ff.) unberücksichtigt gelassen habe. So auch OVG Lüneburg (12.6.2012 – 20 BD 8/11, Juris Rn. 95 ff.), welches zudem auf das Urteil des BVerfG vom 18. Januar 2012 (2 BvR 133/10, E 130, 76 = NJW 2012, 1563) abstellte. Nach Ansicht des OVG ließe sich diesem inzidenter entnehmen, dass das BVerfG nach wie vor von einem Streikverbot für Beamte ausgehe. 463 Vgl. oben Kapitel 3 B.IV. 464 Vgl. dazu oben Kapitel 3 B.III.4.b). 465 In dem durch das VG Osnabrück (19.8.2011 – 9 A 1/11, BeckRS 2011, 53771 unter II.2.c. der Gründe) angeführten Urteil des BVerfG vom 19. September 2007 (2 BvF 3/02, E 119, 247 = NVwZ 2007, 1396, 1399) befassten sich die Karlsruher Richter etwa mit der Vereinbarkeit der antragslosen Einstellungsteilzeit mit Art. 33 Abs. 5 GG.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
rechtlichen Vorgaben durch die Fachgerichte jedenfalls nach dem hier vertretenen Lösungsansatz nicht möglich.466 Das BVerfG allerdings kann die konventionsrechtlichen Vorgaben vollumfänglich auf die deutsche Rechtsordnung übertragen. Es bedarf für die unmittelbare Durchsetzung des durch Art. 11 Abs. 1 EMRK verbürgten Streikrechts keines direkten Eingriffs des Gesetzgebers oder gar einer Verfassungsänderung.467 Kritikwürdig erscheint an dieser Stelle die Ansicht des BVerwG.468 Nachdem dieses eine konventionsfreundliche Auslegung aufgrund des nach Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsunmittelbar geltenden Beamtenstreikverbots ablehnte, verneinte es zwar zunächst auch nachvollziehbar die Möglichkeit der Auflösung der konventionswidrigen Rechtslage im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung. Anstelle dessen sahen die Richter jedoch den Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG berufen, die Konfliktlage aufzulösen. Es ist allerdings nicht ersichtlich, inwiefern der „einfache“ Gesetzgeber befugt sein soll, ein verfassungsrechtlich geltendes Streikverbot abzuändern oder anzupassen.469 Hierzu wäre vielmehr alleine der verfassungsändernde Gesetzgeber berufen, wobei insbesondere die Hürde des Art. 79 Abs. 2 GG zu nehmen wäre. Geht man mit der hier vertretenen Auffassung von der grundsätzlichen Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Verfassungsauslegung durch das BVerfG aus, entbehrt diese Feststellung jedoch, gerade mit Blick auf das teils entgegenstehende einfache Gesetzesrecht und im Sinne der Rechtsklarheit, nicht der Notwendigkeit eines Tätigwerdens des Gesetzgebers im Rahmen der ihm gemäß Art. 33 Abs. 5, Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG obliegenden Ausgestaltungskompetenz. 466 Diesem mitunter als unbefriedigend empfundenen Zustand trug auch das Urteil des VG Düsseldorf vom 15. Dezember 2010 (31 K 3904/10, PersR 2011, 167) Rechnung. Obgleich es darin die Streikteilnahme eines Lehrers unter Anwendung der geltenden beamtenrechtlichen Grundsätze als Dienstvergehen einstufte, befand es gleichwohl, dass das Disziplinarverfahren nach § 33 Abs. 1 Nr. 4 LDG NRW „aus sonstigen Gründen“, nämlich wegen Verstoßes gegen das Konventionsrecht, einzustellen waren. Auch wenn diese Vorgehensweise aus der Perspektive eines im Einzelfall entscheidenden Fachgerichts nachvollziehbar ist, stellt sie gleichwohl keine in sich konsistente „Adaptionsmethode“ dar. 467 Auch gegebenenfalls zu modifizierendes Arbeitskampfrecht (dazu sogleich unten Kapitel 3 C.III.) ist nahezu vollständig gesetzesvertretendes Richterecht und steht als solches etwaigen Anpassungen durch die Rechtsprechung offen. 468 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741. 469 Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund des restriktiven Verständnisses des Fortentwicklungsklausel, welche nach Auffassung des Gerichts gerade keinen erweiterten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begründet (BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 738). Ebenfalls kritisch zur Ansicht des BVerwG, Buchholtz, DVBl. 2014, 780, 788; Kutscha, AuR 2014, 408, 411; Schaks, NVwZ 2014, 743, 744. Etwas anderes gölte nur dann, wenn der Gesetzgebungsauftrag des BVerwG sich darin erschöpfte, dass der „einfache“ Gesetzgeber auf eine Verbeamtung außerhalb des Bereichs des Art. 33 Abs. 4 GG verzichtete, so wohl von der Weiden, jurisPRBVerwG 10/2014 Anm. 2, S. 8.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
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Neben der Anpassung des völkerrechtswidrigen einfachen Beamtenrechts sind auf diesem Wege insbesondere solche Bereiche festzulegen, in denen weiterhin vom Bestehen eines generellen Streikverbots auszugehen ist. Die partielle Öffnung der beamtenrechtlichen Dienstverhältnisse für die Streikfreiheit vollzieht sich dabei nicht im „luftleeren Raum“. Vielmehr werden hierdurch im Grundsatz zwei Beamtengruppen etabliert, was über die bloße Streikrechtsgewährleistung hinaus auch weitreichende Auswirkung auf die sonstige Rechtsordnung insbesondere innerhalb des arbeitskampfrechtlichen Regelungssystems begründet. Diese „Fernwirkungen“ und Rahmenbedingungen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
II. Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen Bevor sich die Untersuchung den möglichen arbeitskampfrechtlichen Grenzen der Streikrechtsausübung widmet, soll zunächst ein Blick auf die Folgen für die generelle Ausgestaltung der beamtenrechtlichen Beschäftigungsbedingungen geworfen werden. Die Anerkennung eines Streikrechts für eine Vielzahl deutscher Beamter führt zu einer weiteren Annäherung der Beamten und der Arbeitnehmer und Angestellten in weiten Teilen des öffentlichen Diensts. Im Zusammenhang damit ergeben sich Fragen zu den sonstigen Auswirkungen auf die Ausgestaltung des öffentlichen Dienstrechts. Kann der Beamtenstatus als hoheitlich ausgestaltetes Dienstund Treueverhältnis unverändert Bestand haben und können die Beschäftigungsbedingungen weiterhin einseitig-gesetzlich festgelegt werden? Inwiefern bedarf es einer Stärkung der Beteiligungs- und Verhandlungsrechte der Beamtenkoalitionen? Eben diese Fragen hatte sich auch das BVerwG in seinem Urteil vom 27. Februar 2014 gestellt, wenngleich auch vor einem anderen Hintergrund.470 Nach einer Beleuchtung der genannten Aspekte unter Zugrundelegung des hier vertretenen Lösungsweges, soll daher auch der Ansatz des BVerwG einer kritischen Würdigung unterzogen werden. 1. Bestandsaufnahme Das Streikrecht steht in der deutschen Rechtsordnung stets im Kontext des kollektiven Aushandelns und Verhandelns von Beschäftigungskonditionen. Nach der Vorgabe des Art. 9 Abs. 3 GG ist auch ein Beamtenstreik nur dann zulässig, 470 So hatten die Richter zunächst die Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Auslegung abgelehnt und einen Gesetzgebungsauftrag an den Bundesgesetzgeber formuliert, für welchen sie nunmehr in einer Art obiter dictum die Rahmenbedingungen erläuterten (BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742).
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
wenn er als koalitionsspezifische Betätigung Ziele verfolgt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beteiligten stehen.471 Auch auf konventionsrechtlicher Ebene bezeichnet der EGMR das Streikrecht als wesentliche Funktionskomponente für das System freiwilliger Kollektivverhandlungen.472 Schließlich erfolgte auch die explizite Anerkennung des Streikrechts durch die 3. Sektion in Enerji Yapi-Yol Sen im Kontext und unter weitgehendem Bezug auf die grundsätzliche Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen durch die Große Kammer in Demir und Baykara.473 All diese Vorgaben setzen voraus, dass die Gestaltung der Beschäftigungsbedingungen einem wie auch immer gearteten Aushandlungsprozess zugänglich sind.474 Fraglich ist also, welche Auswirkungen die neue Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Koalitionsrechten sowie die partielle Einführung des Streikrechts für Beamte in Deutschland für die hoheitlich-gesetzliche Ausgestaltung der deutschen Beamtenverhältnisse haben. Müssen Beamte oder Teile der Beamtenschaft nunmehr in das Tarifsystem aufgenommen werden? Stellen die derzeitigen Beteiligungsrechte der Berufsverbände der Beamten ausreichende Bestimmungen zur Wahrung und Verfolgung gewerkschaftlicher Interessen im Beamtenrecht dar? Obgleich eine detaillierte Auseinandersetzung mit den genannten Fragestellungen durch die vorliegende Arbeit nicht geleistet werden kann, soll dennoch versucht werden, jedenfalls im Ansatz Lösungsansätze aufzuzeigen, um hierdurch gerade auch mit Blick auf die partielle Einführung des Streikrechts für Beamte ein vollständigeres Bild der konventionsrechtlich bedingten Änderungen des deutschen Beamtenrechts zeichnen zu können. Es wurde bereits festgestellt, dass der Tarifbezug – unabhängig von der Frage seiner grundsätzlichen Zulässigkeit – im Bereich des deutschen Beamtenrechts keine Geltung beanspruchen kann.475 Hieraus folgt nicht nur der Schluss, dass das grundsätzliche Erfordernis der Tarifbezogenheit der Anerkennung eines Beamtenstreikrechts nicht entgegensteht. Ebenso wenig bedingt die Einführung des Streikrechts zwingend die Aufnahme der entsprechenden Beamten in das Tarifsystem zur Wahrung der Tarifakzessorietät etwaiger Arbeitskämpfe. Dies wäre in Anbetracht des vom Grundgesetz vorgegebenen beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalts476 abseits einer Verfassungsänderung auch nicht möglich. Eine derart weitgehende Änderung der Ausgestaltung der deutschen Beamtenverhältnisse wird darüber hinaus auch konventionsrechtlich nicht gefordert.477 Der EGMR
471 472 473 474 475 476 477
Oben Kapitel 3 C.III.1.b). Vgl. etwa Kapitel 2 A.II.2.b)bb). Oben Kapitel 2 A.II.4.b)aa). So i. E. auch BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742. Oben Kapitel 3 B.III.1.a)bb)(2) und Kapitel 3 C.III.1.b). Hierzu oben Kapitel 3 B.III.1.a)aa)(3). Anders wohl Lindner, ZBR 2013, 145, 147.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
259
stellte in Demir und Baykara fest, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK ein Recht auf Kollektivverhandlungen garantiere.478 Dieses Recht besteht abseits besonderer nationaler Verhandlungssysteme und Gestaltungsformen. Es muss den Gewerkschaften vielmehr „abstrakt“ möglich sein, in einen sozialen Dialog mit der Gegenseite zu treten, um auf diesem Wege effektiv ihre Interessen vertreten zu können.479 Festzuhalten ist somit zunächst, dass es nicht zwingend einer Übernahme der Beamten oder auch nur von Teilen der Beamtenschaft in die Tarifautonomie bedarf. Fraglich ist gleichwohl, inwiefern die bisherigen Beteiligungsrechte der Verbände480 bei der Beamtengesetzgebung ein ausreichendes Verhandlungsrecht im Sinne der Konventionsvorgaben gewährleisten. An dieser Stelle bestehen bereits bei einer nur oberflächlichen Betrachtung erhebliche Zweifel. Gemäß § 118 BBG und § 53 BeamtStG sind die Spitzenorganisationen der zuständigen Gewerkschaften bei der Vorbereitung beamtenrechtlicher Regelungen zu beteiligen.481 Hierdurch soll den Beamtenverbänden die Möglichkeit gegeben werden, durch das Einbringen von Interessen, Erfahrungen und allgemeinen Erwägungen über die Spitzenorganisationen, die Förderung eines diese Momente berücksichtigenden Inhalts beamtenrechtlicher Regelungen zu erreichen.482 Tatsächlich allerdings findet eine effektive Interessenwahrnehmung im Wege des Einwirkens auf die Willensbildung des Normgebers nicht statt. Es mangelt vielmehr an klaren, verbindlichen Vorgaben hinsichtlich des Verfahrens und des Zeitpunkts der Mitwirkung483 sowie insbesondere der Rechtsfolgen im Falle einer unterbliebenen Beteiligung.484 In der Folge erschöpft sich die Partizipation faktisch zumeist in einer bloßen Anhörung ohne Einwirkungsmöglichkeit der Gewerkschaften oder sie entfällt mitunter sogar ganz.485 Neben dieser ungenügenden Beteiligungspra478
Oben Kapitel 2 A.II.3.b)bb). Vgl. das klarstellende Sondervotum der Richter Spielmann, Bratza, Casadevall und Villinger in EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 9 (Demir and Baykara). Siehe auch Schubert, AöR 2012, 92, 110. Greiner (DÖV 2013, 623, 625) sieht den Kern der konventionsrechtlichen Garantie unter Verweis auf die Rechtsprechung des BAG zum kirchlichen Arbeitsrecht zum einen in der Vermeidung von Fremdbestimmung und zum anderen in der natürlichen Betätigungsfreiheit der Koalitionen zur Durchsetzung der Interessen, welche letztlich essentiell für den Erhalt bzw. die Gewinnung neuer Mitglieder und damit den Bestand der Verbände sei. 480 Hierzu zusammenfassend Henneberger/Sudjana, in: DP Nr. 106 2005, S. 17. 481 Vgl. auch die konkretisierenden Verwaltungsvorschriften in GMBl. 1996, 677. Entsprechende Vorschriften existieren ebenfalls auf Ebene der Landesbeamtengesetze, vgl. hierzu Reich, BeamtStG, § 53 Rn. 1; Plander, Vereinbarungsautonomie, S. 15. 482 VGH Baden-Württemberg 28.1.1980 – IV 5/78, PersV 1980, 521; Battis/ Schlenga, PersR 1995, 50, 54. 483 Vgl. allerdings auch die konkretisierenden Verwaltungsvorschriften in GMBl. 1996, 677. 484 Plander, Vereinbarungsautonomie, S. 17 ff. 485 Battis/Schlenga, PersR 1995, 50, 55. Greiner (DÖV 2013, 623 628) spricht insoweit von einem „faktisch wertlosen Anhörungsrecht im Besoldungsgesetzgebungsverfahren“. 479
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
xis sind die Mitwirkungsrechte auch bereits von ihrem Anwendungsbereich nur unzureichend ausgestaltet. So stellt die ausschließliche Beteiligung der Spitzenorganisationen eine Beschränkung der Koalitionsrechte der sonstigen Beamtengewerkschaften dar, für welche konventionsrechtlich kein Rechtfertigungsgrund ersichtlich ist. Zudem beschränkt § 53 BeamtStG, anders als § 118 BBG486, die Beteiligung auf (formelle) gesetzliche Regelungen. Eine Partizipation bei der Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen durch sonstige materielle Regelungen, etwa Rechts- oder Verwaltungsverordnungen, Satzungen oder Erlasse, ist somit jedenfalls auf Landes- und Kommunalebene nicht ausreichend sichergestellt.487 All dies lässt letztlich den Schluss zu, dass die derzeitigen Beteiligungsrechte der Beamtengewerkschaften kein den konventionsrechtlichen Vorgaben des Art. 11 Abs. 1 EMRK genügendes Recht auf Kollektivverhandlung darstellen.488 Dies gilt in Besonderheit für solche Beamte, denen das Streikrecht weiterhin vorenthalten werden soll. Gerade für diese ist eine angemessene Kompensation in Form gesteigerter Verhandlungsrechte zu gewährleisten, um eine effektive Interessenwahrnehmung garantieren zu können.489 2. Mögliche Lösungsansätze Die Vorgabe lautet, den Beamtengewerkschaften ein echtes Verhandlungsrecht im Hinblick auf die Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen zu gewährleisten, gleichzeitig jedoch auch den beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalt des Grundgesetzes und das damit verbundene Letztentscheidungsrecht der staatlichen Rechtsetzungsorgane ausreichend zu berücksichtigen. In Betracht käme etwa eine Orientierung an der Regelung der Arbeitsbedingungen im sogenannten „Dritten Weg“ des kirchlichen Arbeitsrechts.490 Dienstgeber- und Dienstnehmerseite verhandeln hierbei gemeinsam in einer paritätisch besetzten Kommission über die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und lösen Konflikte vornehmlich mit Hilfe eines neutralen Vorsitzenden in einer Schlichtungskommission. Weiterhin sind die Gewerkschaften in dieses Verfahren ausreichend organisatorisch einzubinden und die Verhandlungsergebnisse von der 486 § 118 BBG spricht von allgemeinen Regelungen der beamtenrechtlichen Verhältnisse, womit nach h. M. auch eine Partizipation abseits der Regelungen in förmlichen Gesetzen umfasst ist, vgl. Battis, BBG, § 118 Rn. 6. 487 Schubert, AöR 2012, 92, 110. 488 So auch Schubert, AöR 2012, 92, 110; Greiner, DÖV 2013, 623, 626 ff.; vgl. auch Lörcher, AuR 2009, 229, 231 f.; Seifert, KritV 2009, 357, 372 ff. Grundsätzlich kritisch zum bestehenden Beteiligungsverfahren Plander, Vereinbarungsautonomie, S. 15 ff.; Battis/Schlenga, PersR 1995, 50, 54 ff. 489 Siehe vor allem ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 595 ff.; Gernigon/Odero/Horacio, ILR 1998 (137), 441, 448. 490 So etwa Greiner, DÖV 2013, 623 628; vgl. auch BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
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Dienstgeberseite verbindlich zu beachten.491 Aufgrund der konventionsrechtlichen Vorgaben wäre es allerdings, nach der hier vertretenen Ansicht, nicht gangbar, den Beamten, wie im kirchlichen Arbeitsrecht, das Streikrecht infolgedessen gänzlich zu versagen.492 In der Vergangenheit hat es ferner zahlreiche Reformund Änderungsvorschläge gegeben, welche bei der Findung einer konventionskonformen Ausgestaltung genutzt werden können.493 Auch der ILO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit hält es indes für möglich, eine Stärkung der gewerkschaftlichen Verhandlungsrechte der deutschen Beamten bei gleichzeitiger Beachtung der Letztentscheidungsbefugnis und insbesondere der Budgethoheit des Gesetzgebers zu erreichen.494 An dieser Maxime werden sich zukünftige Reformbestrebungen zur Erfüllung der konventionsrechtlichen Vorgaben zu orientieren haben. 3. Folgeprobleme Die Etablierung eines wie auch immer gearteten Verhandlungssystems unter gleichzeitiger Fortgeltung des beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalts führt zu weiteren Problemstellungen. Diese sind insbesondere der Tatsache geschuldet, dass sich ein System gesetzlich geregelter Beschäftigungsbedingungen im Gegensatz zu einer Tarifordnung wesentlich starrer und unflexibler darstellt. So gilt eine gesetzliche Regelung für alle ihrem Anwendungsbereich Unterworfenen in gleicher Art und Weise. Die normative Wirkung ist, anders als bei der Tarifbindung, nicht an die Koalitionsmitgliedschaft oder etwaige vertragliche Bezugnahmeklauseln gekoppelt sondern besteht unabhängig davon bzw. lässt sich auch durch Austritt aus der Koalition nicht beenden. Insoweit besteht ein grundlegender Konflikt mit der negativen Koalitionsfreiheit der nichtorganisierten Beamten gemäß Art. 9 Abs. 3 GG495. Auch diesen muss es möglich sein, sich frei für oder gegen eine gewerkschaftliche Interessenvertretung zu entscheiden und entsprechend auch die Geltung ausgehandelter Beschäftigungsbedingungen durch eine Koalitionsmitgliedschaft zu legitimieren oder sich dieser zu entziehen. Ein weiteres Folgeproblem ist die Behandlung von Fällen der Koalitionspluralität. So stellt sich die Frage, inwiefern konkurrierende Gewerkschaften einer Be491 Vgl. hierzu BAG 20.11.2012 – 1 AZR 179/11, AP Nr. 179 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2013, 448; dazu auch BAG 20.11.2012 – 1 AZR 611/11, AP Nr. 180 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2013, 437. 492 A. A. wohl Greiner, NZA 2013, 623, 626 ff. 493 Siehe etwa Plander, Vereinbarungsautonomie, S. 87 ff.; Battis/Schlenga, PersR 1995, 50, 61 ff.; Büchner, ZTR 1993, 142, 148 ff., 185 ff.; siehe auch Böhm, ZBR 2013, 181, 187; Roetteken, PersR 1997, 521 ff. Vgl. – allerdings unter der Prämisse einer Verfassungsänderung – auch den Vorschlag eines „Tarif-Gesetz-Modells“ der Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 144 ff.; insgesamt eher kritisch Jachmann, ZBR 1994, 165, 166 ff. 494 Vgl. ILO-FAC, Case No. 1528 (Germany) – Report No. 1820, Rn. 110. 495 Hierzu Gamillscheg, KollArbR I, S. 374 ff.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
amtengruppe ihrem jeweiligen Interessenvertretungsanspruch in einem Regelungsbereich beamtenrechtlicher Beschäftigungsbedingungen Geltung verschaffen können. Verschiedene, parallel anwendbare Besoldungsgesetze für die jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder sind schlicht nicht umsetzbar. Folglich müsste wohl ein der Tarifeinheit496 nachgebildeter Regelungsgrundsatz gefunden werden, durch welchen bereits auf der Verhandlungsebene die Findung für die jeweilige Beamtengruppe einheitlicher Beschäftigungsbedingungen gewährleistet würde, welche schließlich ihren Niederschlag in der gesetzlichen Regelung finden könnten. Dieser kurze Anriss möglicher Problemstellungen verdeutlicht bereits, dass sich die Einführung eines wie auch immer gearteten Verhandlungssystems innerhalb des öffentlich-rechtlich ausgestalteten Beamtenrechts nicht ohne Friktionen vollziehen lässt. Parallel zu den originär arbeitskampfrechtlichen Fragestellungen müssen diese Aspekte bei der Entwicklung eines umfassenden Lösungskonzepts Berücksichtigung finden. 4. Kritische Würdigung der Entscheidung des BVerwG vom 27. Februar 2014 Ausgangspunkt der Überlegungen des BVerwG war – anders als nach der hier vertretenen Auffassung – ein auch im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht zu behebender Widerspruch zwischen den konventionsrechtlichen Streikrechtsgewährleistungen des Art. 11 EMRK und dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Beamtenstreikverbot gem. Art. 33 Abs. 5 GG. Zur Auflösung dieser Konfliktlage sah das Gericht ausschließlich den Bundesgesetzgeber berufen und überdies auch verpflichtet.497 Zum Ende seiner Urteilsbegründung setzte sich der Senat daher mit den durch den Gesetzgeber insoweit zu beachten Rahmenbedingungen und möglichen Folgen einer Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben auseinander.498 Dabei konzentrierte er sich auf den Bereich der „vorhandenen Beamten“ außerhalb der „genuin hoheitlichen Verwaltung“. Für Beamte in genuin hoheitlicher Funktion im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG sahen die Richter dagegen aufgrund der angenommenen Kongruenz der Anwendungsbereiche des verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalts und des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zunächst keinen Handlungsbedarf, da es insoweit einer Relativie496 Diesen für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse geltenden Grundsatz, nach welchem Fälle der Tarifmehrheit stets nach dem Spezialitätsgrundsatz zugunsten einer Tarifregelung aufzulösen waren, hat das BAG in seiner Grundsatzentscheidung vom 7.7.2010 (4 AZR 549/08, AP Nr. 140 zu Art. 9 GG = NZA 2010, 1068) aufgegeben, vgl. Hennsler, RdA 2011, 65 ff. 497 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741 f.; zur Kritik dieser Annahme, vgl. oben Kapitel 3 C.I. 498 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741 f.
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rung des Streikverbots nicht bedürfe.499 Außerhalb dieses hoheitlichen Bereichs stünden sich allerdings die Garantien des Art. 33 Abs. 5 GG und des Art. 11 EMRK weiterhin konkurrierend gegenüber, weshalb an dieser Stelle ein Ausgleich der Rechtspositionen im Wege der praktischen Konkordanz vorzunehmen sei. Bestandteil dieses Ausgleichs müsse jedenfalls auch eine erhebliche Erweiterung der Beteiligungsrechte der Gewerkschaften in Richtung eines Verhandlungsmodells sein.500 Aber auch wenn die Beteiligungsrechte gestärkt würden, setzten kollektive Kampfmaßnahmen als Druckmittel stets das Bestehen einer tatsächlich verhandelbaren Position voraus. „Echte Tarifverhandlungen“ über die Gestaltung von Arbeitsbedingungen allerdings stünden im unüberwindbaren Widerspruch zur hoheitlichen Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse. Die Tarifautonomie sei mit dem Rechte- und Pflichten-Gefüge der Art. 33 Abs. 4 und 5 GG unvereinbar.501 Eine Ausnahme gelte allerdings für die Beamtenbesoldung aufgrund der Kopplung an die jeweiligen Tarifabschlüsse der Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst. Wegen dieser Besonderheit könne die Beamtenbesoldung in die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst einbezogen werden, ohne die Balance des beamtenrechtlichen Regelungsgefüges zu erschüttern.502 Die Ausführungen des BVerwG zur Behebung der zuvor festgestellten Kollisionslage zwischen dem Konventionsrecht und dem nationalen Verfassungsrecht sind in verschiedener Hinsicht kritikwürdig. Zunächst wurde bereits darauf hingewiesen, dass der 2. Senat ohne nähere Begründung von einer Kongruenz der sachlichen Geltungsbereiche des Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG und dem Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ausgeht. Diese Feststellung erscheint jedenfalls als Ausgangspunkt für eine gesetzgeberische Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben zu wenig differenziert und somit nur begrenzt sachdienlich.503 Hiervon abgesehen ist der an den Gesetzgeber gerichtete Regelungsauftrag bereits im Ansatz zu unklar gestellt, was zur Folge hat, dass auch die nachfolgend durch das Gericht formulierten Erwägungen nur bedingt geeignet sind, einen konkreten Lösungsvorschlag der unstreitig bestehenden Konfliktlage zu befördern. So lässt das Gericht von vorneherein offen, ob es seinen Regelungsauftrag dahingehend versteht, dass der „verfassungsändernde Gesetzgeber“ die Geltung des Streikverbots nach Art. 33 Abs. 5 GG einschränkt504 oder aber der „einfache 499 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741; vgl. auch oben Kapitel 3 B.III.2.b)bb)(3). 500 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742. 501 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742. 502 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742. 503 Vgl. zum Verhältnis von Art. 33 Abs. 4 GG und Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK oben Kapitel 3 B.III.2.b)bb)(3). 504 So liest sich etwa die Formulierung in Rn. 59: „[Es ist] Sache der Bundesgesetzgebers, darüber zu entscheiden, ob und inwieweit die verfassungsunmittelbare Geltung
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Gesetzgeber“ im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG dafür Sorge trägt, dass – bei unveränderter Fortgeltung des bestehenden Beamtenstreikverbots – lediglich eine Verbeamtung abseits des genuin hoheitlichen Bereichs nach Art. 33 Abs. 4 GG nicht mehr erfolgt505. Je nachdem, nach welcher Vorgehensweise verfahren wird, bestimmen sich allerdings auch die damit verbundenen Folgeszenarien. So stellt sich für den Fall der „Lockerung“ des Beamtenstreikverbots die – auch nach der hier vertretenen Lösung – zentrale Frage nach den Auswirkungen auf die sonstige Ausgestaltung der Beschäftigungsbedingungen. Im Falle der qua Gesetz vorgeschriebenen Verkleinerung des Beamtenapparats dagegen ist zunächst nach einer möglichen „Kompensation“ für die Bestandsbeamten aufgrund des weiterhin vorenthaltenen Streikrechts zu fragen. Zwischen diesen beiden Szenarien wird in der Entscheidung nicht klar unterschieden, wodurch der Aussagegehalt stellenweise schwer zuordenbar ist. Im Einklang mit der hier vertretenen Ansicht geht auch das BVerwG zunächst davon aus, dass es einer Stärkung der Beteiligungsrechte der Beamtengewerkschaften bedürfe.506 Aus dem Kontext versteht sich diese Forderung so, als bestehe sie als Resultat eines Ausgleichs, welcher im Wege der praktischen Konkordanz zwischen den Rechtspositionen des Art. 33 Abs.5 GG und Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK vorzunehmen sei. Mit anderen Worten geht das Gericht auch weiterhin von der Geltung eines Streikverbots aus und sieht die Stärkung der Beteiligungsrechte als Kompensation für die fehlende Möglichkeit von Arbeitskampfmaßnahmen als geboten an. Im unmittelbaren Anschluss hieran führen die Richter aus, dass kollektive Kampfmaßnahmen auch ein Recht auf Tarifverhandlungen voraussetzten, welches mit dem Charakter des Beamtenverhältnisses als öffentliche-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis unvereinbar sei.507 Diese Feststellung basiert allerdings auf der Prämisse, dass den betroffenen Beamten überhaupt ein Streikrecht zusteht und betrifft somit eine im Gegensatz zu der vorangegangen Forderung nach erweiterten Beteiligungsrechten unterschiedliche Konstellation. Bemerkenswert ist, dass der 2. Senat der Beamtenbesoldung eine Sonderstellung dahingehend einräumt, dass sie Gegenstand von Tarifverhandlungen des öffentlichen Diensts sein könne. Mithin könnten Beamte bzw. ihre Gewerkschaften des statusbezogenen Verbots kollektiver Kampfmaßnahmen für Beamte im Hinblick auf die Gewährleistungen des Art. 11 EMRK eingeschränkt werden soll “ (BVerwG 27.2. 2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741) (Hervorhebung durch Bearbeiter). 505 Auf diese Interpretation deutet der isolierte Verweis auf die Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG ohne die Zitierung des im Falle einer Verfassungsänderung zu beachtenden Art. 79 Abs. 2 GG; so auch der an der Entscheidung des 2. Senats des BVerwG beteiligte von der Weiden, jurisPR-BVerwG 10/2014 Anm. 2, S. 8; vgl. auch bereits oben Kapitel 3 C.I. 506 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742. 507 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742.
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insoweit an Tarifverhandlungen teilnehmen und sich außerhalb der von Art. 33 Abs. 4 GG erfassten Bereiche an kollektiven Kampfmaßnahmen beteiligen.508 Auch an dieser Stelle geht das Gericht augenscheinlich von der Existenz von Beamten mit Streikrecht aus, ohne dies jedoch klar zu benennen. Auch setzt sich das Gericht nicht mit etwaigen Auswirkungen dieser Auffassung für das Alimentationsprinzip und die sonstigen beamtenrechtlichen Grundsätze auseinander. Im Ergebnis verbleibt es somit auch an dieser Stelle bei einer punktuellen Feststellung, welche nur bedingt geeignet ist, einen tatsächlichen Lösungsvorschlag zu befördern. Nach alledem bleibt festzuhalten, dass das BVerwG, so verdient es sich um die klare Benennung der Konventionswidrigkeit des deutschen Beamtenstreikverbots auch gemacht hat, beim Aufzeigen eines konkreten Lösungsweges viele Fragen offen ließ.
III. Arbeitskampfrechtliche Fragestellungen und Mindestanforderungen Die Einräumung des Streikrechts für bestimmte Beamtengruppen führt zu einer Überschneidung zweier ursprünglich separater Regelungssysteme, des Beamtenrechts und des Arbeitskampfrechts. Wie die vorstehende verfassungsrechtliche Prüfung bereits gezeigt hat, bedingt eine wenn auch nur partielle Öffnung des Beamtensektors für das Arbeitskampfrecht Anpassungen beider Regelungssysteme, wobei festgestellt wurde, dass einer derartigen Anpassung keine verfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätze entgegenstehen. Die Ausgestaltung der in Art. 9 Abs. 3 GG angelegten Arbeitskampffreiheit wird aufgrund des Fehlens gesetzlicher Regelungen im deutschen Rechtsordnungssystem ganz überwiegend durch die Gerichte geleistet. Arbeitskampfrecht ist also in weiten Teilen gesetzesvertretendes Richterrecht.509 Auf diesem Weg hat die Rechtsprechung ein Regelungssystem entwickelt, welches die Zulässigkeitsvoraussetzungen und die Grenzen arbeitskampfrechtlicher Maßnahmen konkretisiert. Ausgangspunkt dieser richterlichen Ausgestaltung war jedoch stets der Arbeitskampf privatrechtlich beschäftigter Arbeitnehmer bzw. Angestellter innerhalb einer autonomen Tarifordnung, gleich ob im Privatsektor oder im öffentlichen Dienst.510 Eine Anwendung der Arbeitskampfrechtsordnung im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses, in welchem die nunmehr streikberechtigten Beamten nach wie vor stehen, ist somit bereits rein kon508
BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 742. Gamillscheg, KollArbR I, S. 953. 510 Im Grundsatz gelten für den Arbeitskampf im öffentlichen Dienst die gleichen Regelungen wie im Privatsektor, Müller/Landshuter, Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Rn. 191. 509
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zeptionell nicht ohne Weiteres möglich. Ohne den Anspruch auf Erstellung eines detaillierten und abschließenden Lösungskonzepts sollen im Folgenden mögliche Mindestanforderungen an eine Streikrechtsausübung durch Beamte untersucht und indessen auch grundsätzliche Problemstellungen arbeits- und arbeitskampfrechtlicher Natur aufgezeigt werden.511 1. Grenzen der Streikrechtsausübung a) Arbeitskampfparität und Gebot der Staatsneutralität Einen essentiellen Grundsatz des Arbeitskampfrechts bildet das Gebot der Arbeitskampfparität, also der Chancengleichheit und des Gleichgewichts der potentiellen Vertragspartner bei Tarifverhandlungen.512 Das Kräftegleichgewicht der sozialen Gegenspieler ist für das Funktionieren der Tarifautonomie unverzichtbar, weshalb das Paritätsprinzip nahezu einhellig unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitet wird und als Grundsatz das gesamte Arbeitskampfrecht durchzieht.513 Nun steht den Sozialpartnern im Beamtenrecht aufgrund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts gemäß Art. 33 Abs. 5 GG514 kein der Tarifautonomie vergleichbares Kollektivvertragssystem zur Verfügung; der Staat ist in der Rolle des Arbeitgebers und gestaltet als solcher die Arbeitsbedingungen gesetzlich aus. Obschon sich die formalen Parameter bei der kollektiven Gestaltung der Beamtendienstverhältnisse somit von denen privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse unterscheiden, bestehen dennoch auch hier vergleichbare Interessengegensätze, welche jeglichem Verhältnis fremdbestimmter Beschäftigung zu eigen sind und welche zwischen den Beteiligten „auf Augenhöhe“ verhandelt werden wollen.515 Steht dieser Verhandlungsprozess nunmehr einer Beeinflussung durch Arbeitskampfmaßnahmen der Beamten offen, so stellt sich auch hier die Frage, inwiefern sich derartige Maßnahmen auf das Verhandlungsgleichgewicht auswirken. In der vorstehenden verfassungsrechtlichen Untersuchung wurde bereits gezeigt, dass die Gewährung eines Beamtenstreikrechts, gerade auch unter verglei511 Insbesondere Fragestellungen, welche sich im Wechselwirkungsverhältnis zwischen beamtenrechtlichen Grundsätzen einerseits und tarifrechtlichen Grundsätzen andererseits ergeben, sollen im Folgenden nur angerissen werden. 512 BAG 12.9.1984 – 1 AZR 342/38, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1985, 257. 513 Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 345 ff.; Gamillscheg, KollArbR I, S. 968 ff. 514 Dazu oben Kapitel 3 B.III.1.a)aa)(3). 515 Näher hierzu auch unten Kapitel 3 C.III.1.b). De lege lata sind den Spitzenorganisationen zu diesem Zweck auch Beteiligungsrechte eingeräumt (§ 53 BeamtStG und § 118 BBG, siehe auch die konkretisierenden Verwaltungsvorschriften in GMBl. 1996, 677), welche ihrerseits Ausfluss der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG sind, vgl. Battis, § 118 BBG Rn. 2.
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chender Betrachtung der Arbeitskampfsituation sonstiger öffentlicher Bediensteter, jedenfalls nicht a priori mit dem Makel der Disparität behaftet ist; anderenfalls wäre der Beamtenstreik schon gar nicht von der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst.516 Ebenfalls wurde festgestellt, dass der Paritätsgrundsatz Anpassungen der beamtenrechtlichen Beschäftigungs- und insbesondere Besoldungsbedingungen im Falle einer Streikteilnahme erfordert. Ein unverändertes Fortbestehen der Alimentationspflicht ermöglichte es der streikenden Beamtenschaft, ohne jegliche wirtschaftliche Einbußen, sondern letztlich auf Kosten der Steuerzahler, Druck auf den Dienstherren auszuüben, ohne dass diesem eine adäquate Reaktionsmöglichkeit an die Hand gegeben wäre. Entsprechend muss der Streik, wie auch im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis, zur Suspendierung der „Hauptleistungspflichten“ bzw. der beamtenrechtlichen Alimentierung führen. Mit anderen Worten verliert der streikende Beamte für die Zeit der Teilnahme an der Arbeitskampfmaßnahme seine Dienstbezüge517 und trägt somit – gegebenenfalls abgemildert durch gewerkschaftliche Streikkassen – das wirtschaftliche Risiko der Arbeitsniederlegung. Die Umsetzung dieser Änderung kann nicht über die Regelung des § 9 BBesG erfolgen, da die Wahrnehmung der grundrechtlichen Arbeitskampffreiheit tatbestandlich kein schuldhaftes Fernbleiben vom Dienst im Sinne des Satz 1 darstellt.518 Es bedarf somit einer klarstellenden gesetzlichen Regelung.519 Trotz der vorgenannten Anpassungen, unterscheiden sich die Paritätsverhältnisse im Falle des Arbeitskampfs der Beamten noch immer evident von denen innerhalb privatrechtlicher Beschäftigungsbeziehungen. Insbesondere die fehlende Existenz- und Arbeitsplatzgefahr aufgrund des faktisch nicht existenten Insolvenzrisikos des Staates520 sowie der Unkündbarkeit der Beamten sind geeignet, eine Paritätsverschiebung zu Lasten des öffentlichen Arbeitgebers zu bewirken. Bei einer rein formalen Paritätsbetrachtung muss dem Dienstherrn, gerade im Falle einer möglichen Störung des Verhandlungs- und Kampfgleichgewichts, als Gegenmaßnahme zum Streik jedenfalls das Kampfmittel der Aussperrung bzw. 516 Oben Kapitel 3 B.III.1.d)bb); vgl. auch Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, § 2 Abs. 1 Halbsatz 2, Abs. 2 ArbeitskampfG. 517 Die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit dieser Rechtsfolge insbesondere mit dem Alimentationsprinzip wurde vorstehend bereits gezeigt, siehe Kapitel 3 B.III.1.d)bb). 518 Selbiges gilt für §§ 5 Abs. 1 Nr. 3, 8 BDG i.V. m. § 77 Abs. 3 BBG, vgl. Dumke, Streikrecht i. S. des Art. 6 Nr. 4 ESC, S. 242. 519 Hensche (in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18a Rn. 66) hält eine arbeitskampfkonforme Auslegung des Alimentationsprinzips für ausreichend. 520 Hinzu kommt, dass der sich der Staat aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben der Wahrnehmung seiner Aufgaben nur bedingt im Wege von Rationalisierungsmaßnahmen entziehen kann, vgl. Rüthers, NZA 2010, 6, 11. Überdies haben die bisherigen Privatisierungen gezeigt, dass jedenfalls der Bestand von Beamtenverhältnissen hierdurch nicht gefährdert wird, vgl. oben Kapitel 3 B.III.2.b)bb)(2).
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der Suspendierung521 zur Verfügung stehen. Es wurde bereits gezeigt, dass hierbei mit Blick auf die sonstigen streikberechtigten Beamten522 grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Grundsätze des Beamtentums entgegenstünden.523 Gleichwohl ist zu beachten, dass die suspendierende Aussperrung von Beamten Grenzen unterliegt. Im Regelfall jedenfalls wird der Dienstherr schon aufgrund des zu erwartenden (politischen) Drucks der Öffentlichkeit selbst das größte Interesse an der Fortsetzung der betroffenen öffentlichen Aufgabenwahrnehmung haben und die Auswirkungen nicht noch durch eine Aussperrung oder Suspendierung weiter verschärfen oder gar originär auslösen. Darüber hinaus steht auch das Kampfmittel der Aussperrung unter der verfassungsimmanenten Schranke der entgegenstehenden Rechte Dritter.524 Der Staat darf in den Bereichen, in denen er zur Aufgabenerfüllung verpflichtet ist, letztere nicht selbst durch eine Aussperrung unverhältnismäßig beeinträchtigen. Diese faktisch bestehenden Grenzen schränken die Bedeutung Aussperrung als möglichem Kampfmittel des öffentlichen Arbeitgebers erheblich ein. Insgesamt zeigt sich somit, dass der Beamtenstreik weder durch mit der Privatwirtschaft vergleichbare „reale Grenzrisiken“ 525, noch durch potentielle Gegenmaßnahmen des betroffenen Dienstherrn in seinem Ausmaß sowie seinen Folgen hinsichtlich potentieller volkswirtschaftlicher Schäden526 sowie der Betroffenheit Dritter ausreichend beschränkt wird. Ähnliche Konstellationen finden sich allerdings auch in anderen Sonderbereichen des Arbeitskampfrechts, ohne dass Streikmaßnahmen aufgrund gestörter Arbeitskampfparität als unzulässig erachtet würden. So wurde bereits herausgestellt, dass auch die Arbeitnehmer und Angestellten des öffentlichen Diensts den beschriebenen realen Grenzrisiken nur bedingt unterliegen.527 Die auch insoweit bestehende Pflicht zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben schließt überdies die Aussperrung als Gegenmittel zum Streik faktisch aus.528 Auch im Falle von Spezialistenstreiks, insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge529, können Arbeitsniederlegungen zu erheblicher Drittbetroffenheit führen, weshalb letztlich auch hier Aussperrungen, obgleich rechtlich 521 Hierzu BAG 22.3.1994 – 1 AZR 622/93, AP Nr. 130 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf = NJW 1995, 477. 522 Vgl. oben Fn. 304. 523 Siehe Kapitel 3 B.III.1.d)bb). 524 Zur analogen Problematik der Aussperrung im Bereich der Daseinsvorsorge Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 91. 525 Rüthers, NZA 2010, 6, 11. 526 Letztlich werden sowohl die durch die Arbeitsniederlegung unmittelbar verursachten wirtschaftlichen Schäden als auch die Finanzierung der erzielten Verhandlungsergebnisse durch die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommunnen, also durch Steuermittel, abgedeckt 527 Vgl. oben Kapitel 3 B.III.1.d)bb). 528 Konzen, in: FS 50 Jahre BAG, S. 515, 547. 529 Zu denken ist etwa an Ärzte, Piloten oder Lokführer.
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zulässig, praktisch nicht möglich sind.530 Vielfach werden in den vorgenannten Sonderbereichen strengere Prüfungsmaßstäbe bei der Verhältnismäßigkeitskontrolle von Streikmaßnahmen gefordert.531 Diese Erwägungen sind nach den vorstehenden Ausführungen auch für den Beamtenstreik in Betracht zu ziehen. Auch insoweit besteht Anlass, etwaigen Paritätsdefiziten sowie der erhöhten Drittbetroffenheit durch strengere Verhältnismäßigkeitsanforderungen an Arbeitskampfmaßnahmen Rechnung zu tragen und gleichzeitig entgegenzuwirken.532 Zudem verbliebe für den Gesetzgeber immer noch die Möglichkeit, durch gesetzliche Regelung den Einsatz weiterhin nicht-streikberechtigter Beamter auf streikbedingt ausfallenden Stellen zu ermöglichen und auf diesem Wege die Arbeitskampffolgen abzumildern.533 Auch hierdurch könnte einem etwaigen Paritätsdefizit entgegengewirkt werden.534 Ganz allgemein verstößt der Staat durch die Nutzung seiner kampftaktischen Möglichkeiten nicht gegen seine Neutralitätsverpflichtung. Ist er von Streikmaßnahmen betroffen, so wird er selbst zur Arbeitskampfpartei, womit die Neutralitätsverpflichtung entfällt.535 Insoweit gilt nichts anderes als im Falle des Streiks der privatrechtlich beschäftigten öffentlich Bediensteten.536 b) Zulässiges Streikziel und Tarifbezogenheit Als hergebrachte Regelung des Arbeitskampfrechts fungiert der Grundsatz, dass Arbeitskämpfe auf tarifvertraglich regelbare Ziele gerichtet sein müssen.537 Bereits im Zuge der vorstehenden verfassungsrechtlichen Prüfung wurde aller530
Jacobs, NZA 2008, 325, 331. Vgl. jeweils m.w. Nw. Konzen, in: FS 50 Jahre BAG, S. 515, 547; Jacobs, NZA 2008, 325, 33. Wohl weitergehendere Konsequenzen fordernd, Rüthers, NZA 2010, 6, 11. Zum Ganzen auch Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 264 ff.; Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, S. 57 ff. 532 Dazu sogleich unter Kapitel 3 C.III.1.d). 533 Der Beschluss des 1. Senats (BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379) zum „Streikbrechereinsatz“ von Beamten ist dahingehend zu verstehen, dass die Unzulässigkeit desselben nicht in der Maßnahme als solcher, sondern in einem (formalen) Verstoß gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz aufgrund der fehlenden gesetzlichen Regelung begründet liegt. Im Umkehrschluss stünde dem Gesetzgeber bei entsprechender Ausgestaltung wohl die Möglichkeit offen, den Beamteneinsatz im Streikfalle gesetzlich zu erlauben, vgl. etwa den Vorschlag Riebles (ZAF 2005, 218, 228) zur Ergänzung des BRRG um einen § 122a. Der Einsatz dienstbereiter Beamter ist dagegen nach überzeugender Auffassung bereits unter der bestehenden Rechtlage zulässig, Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 155; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 385. 534 Vgl. auch Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 132 f., die allerdings auch auf mögliche Folgeprobleme hinweisen. 535 So auch Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 168 f. 536 Vgl. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 148 ff. 537 Siehe oben Fn. 152, 153. 531
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
dings gezeigt, dass das Erfordernis der Tarifbezogenheit im Bereich des hoheitlich ausgestalteten Beamtenrechts kein taugliches Rechtmäßigkeitskriterium zur Bewertung von Arbeitskämpfen darstellt.538 Die Forderung nach Tarifakzessorietät wirkte aufgrund des im Beamtenrecht bestehenden allgemeinen Gesetzesvorbehalts539 faktisch wie ein statusbezogenes Streikverbot540 und höhlte damit das bei konventionsfreundlicher Verfassungsauslegung grundsätzlich garantierte Streikrecht zahlreicher Beamtengruppen gänzlich aus. Das genannte Einschränkungsmerkmal ist zudem verfassungsrechtlich nicht zwingend. Der im Grundgesetz anerkannte Koalitionszweck umfasst gemäß Art. 9 Abs. 3 GG die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ und damit die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird.541 Die Zweckbestimmung geht damit über tariflich regelbare Materien hinaus. Das Grundgesetz erkennt somit grundsätzlich an, dass auch bei gesetzlich ausgestalteten Arbeitsbedingungen Interessengegensätze und ein strukturelles Ungleichgewicht bestehen, die eine koalitionsmäßige Betätigung notwendig werden lassen können.542 Ergibt eine konventionsfreundliche Verfassungsauslegung nunmehr, dass jedenfalls für bestimmte Beamtengruppen diese koalitionsmäßige Betätigung auch die Durchführung von Streikmaßnahmen umfassen kann, wäre es mit der völkerrechtsfreundlichen Konzeption des Grundgesetzes nicht vereinbar, den insofern Streikberechtigten über die richterrechtlich konstruierte „Falltür“ der Tarifakzessorietät die Ausübung der Arbeitskampffreiheit zu versagen.543 Vielmehr ist das Erfordernis der Tarifbezogenheit jedenfalls in der Konstellation des Beamtenstreiks anzupassen. Ein Streikziel ist demnach dann als zulässig zu erachten, wenn es unmittelbar im Zusammenhang mit den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der streikenden Beamten steht.544 Die Form, in welcher sich das Verhandlungsergebnis letztlich manifestiert, ist dagegen für die Rechtmäßigkeit der unterstützenden koalitionsspezifischen Betätigung unerheblich, womit 538
Oben Kapitel 3 B.III.1.a)bb)(2). Siehe oben Kapitel 3 B.III.1.a)aa). 540 Mit Ausnahme der bereits angesprochenen Möglichkeit der unterstützenden Teilnahme an Arbeitskampfmaßnahmen angestellter Mitarbeiter. 541 M.w. Nw. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 23; Hensche, in: Däubler/Hjort/ Schubert/Wolmerath, Art. 9 GG Rn. 113 ff. 542 Allgemein anerkannt und gesetzlich geregelt ist etwa das Personalvertretungsrecht. Vgl. auch Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 169. 543 Richtigerweise weist Dieterich (in: FS Jaeger, S. 95, 104) darauf hin, dass die Abstinenz des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts und das damit verbundene gesetzesvertretende Tätigwerden der Gerichte von Anfang an zu einer „Verengung des Blickfeldes“ geführt habe. Der Gesetzgeber hätte „von dem Erfahrungsschatz der europäischen Sozialgeschichte ausgehen müssen [. . . und] hätte nicht wie ein Zivilgericht vernachlässigen können, dass die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, also das Ziel der Koalitionsfreiheit, keineswegs allein durch Tarifverträge erreichbar ist“. 544 So auch VG Kassel 27.7.2011 – 28 K 1208/10 u. a., PersR 2011, 472, 476; Gooren, ZBR 2011, 400, 404; vgl. auch Dieterich, in: FS Jaeger, S. 95, 104. 539
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auch eine Regelung qua Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsvorschrift möglich ist.545 Darüber hinaus bleiben die sonstigen Rechtmäßigkeitsanforderungen546 an das Arbeitskampfziel entsprechend anwendbar. An dieser Stelle bestätigt sich denn auch die vorstehend bereits getroffene Feststellung547, dass der Beamtenstreik einzig aufgrund seiner auf hoheitliches Handeln abzielenden Ausrichtung nicht bereits dem Verdikt des verbotenen politischen Streiks unterfällt. Diese Verfassungsauslegung im Hinblick auf die Streikzielsetzung sieht sich auch durch die jüngere EGMR-Rechtsprechung bestätigt. So hatte der EGMR in den Verfahren Kaya und Seyhan, Saime Özcan und Cerikci Streikaktionen, welche auf konkrete Gesetzesentwürfe bzw. allgemein die Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen im türkischen öffentlichen Dienst abzielten, dem Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK zugeordnet. Implizit bestätigte der Gerichtshof damit, dass auch die Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch einseitige hoheitliche Akte mögliche Ziele einer Arbeitskampfmaßnahme sein können.548 Festzuhalten bleibt damit, dass das Kriterium der Tarifbezogenheit im Falle des Arbeitskampfs von Beamten der Anpassung bedarf. Arbeitsniederlegungen sind demnach zulässig, sofern sie als koalitionsspezifische Betätigungen Ziele verfolgen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beteiligten stehen. c) Einhaltung von Friedenspflichten Der zentrale Gegenstand des Abschlusses eines Tarifvertrags in der privatrechtlichen Arbeitsrechtsordnung ist die Beendigung einer Auseinandersetzung über eine umstrittene Tarifposition. Diese „befriedende Wirkung“ kommt der kollektivvertraglichen Regelung nicht nur im Zeitpunkt des Vertragsschlusses, sondern vielmehr für die gesamte Laufzeit des Vertrages zu. Auch ohne ausdrückliche Vereinbarung ist somit jedem Tarifvertrag eine Friedenspflicht immanent, welche gleichbedeutend ist mit einem Verbot jeglicher weiterer Kampfmaßnah545 Diese Lesart sieht sich zudem im Einklang mit den konventionsrechtlichen Anforderungen nach Demir und Baykara, vgl. das klarstellende Sondervotum der Richter Spielmann, Bratza, Casadevall und Villinger EGMR 12.11.2008 – App. 34503/97, Rn. 154 (Demir and Baykara). Zu der grundsätzlichen Notwendigkeit der Einführung einer echten Verhandlungslösung im Beamtenrecht, vgl. unten Kapitel 3 C.II. 546 Hierzu etwa Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 366 ff. 547 Siehe oben Kapitel 3 B.III.1.a)bb)(3). 548 Vgl. dazu oben Kapitel I A.I.4.c). Ob die konventionsrechtliche Streikrechtsgarantie nach Ansicht des EGMR darüber hinaus auch noch weiter gesteckte Streikziele umfasst, etwa solche ohne konkreten Bezug zu den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, lässt sich aus der bisherigen Rechtsprechung noch nicht sicher ersehen, vgl. Hendy/Ewing, ILJ 2010, 1, 16.
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men.549 Eine Regelung der beamtenrechtlichen Beschäftigungsbedingungen durch Tarifvertrag ist aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung des Beamtenrechts nicht möglich. Ist der Verabschiedung der hoheitlichen Regelung allerdings ein wie auch immer geartetes Verhandlungssystem550 vorgeschaltet, so muss für dessen Funktionsfähigkeit ein erzieltes Verhandlungsergebnis für die Parteien ebenfalls eine verpflichtend-befriedende Wirkung entfalten. Sähe man diese Wirkung als den entsprechenden gesetzlichen Regelungen immanent an, so stellte sich in der Folge das Problem der zeitlichen Grenzen der so konstruierten Friedenspflicht, da Gesetze zunächst keiner zeitlichen Begrenzung unterliegen.551 In Kategorien des Tarifvertragsrechts gedacht, könnte ebenso erwogen werden, die Friedenspflicht in einem „schuldrechtlichen Teil“ zusätzlich zum „obligatorisch-gesetzlichen Teil“ der Beschäftigungsbedingungen gesondert zu vereinbaren. Einzelheiten hängen indes maßgeblich von der Ausgestaltung eines etwaigen Verhandlungssystems ab und können an dieser Stelle nicht abschließend ausgeführt werden. Festgehalten werden kann dennoch, dass es auch im Bereich des Arbeitskampfrechts der Beamten der grundsätzlichen Geltung einer Friedenspflicht bedarf. d) Verhältnismäßigkeit Wie jede andere Arbeitskampfmaßnahme, muss auch der Streik durch Beamte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Diesen hatte der Große Senat des BAG mit seinem Beschluss vom 21. April 1971552 als allüberragendes Rechtmäßigkeitsprinzip des öffentlichen Rechts553 auch auf das Arbeitskampfrecht erstreckt und hierdurch die vor allem durch Nipperdey geprägte Lehre der sozialen Adäquanz als Zentralbegriff des Arbeitskampfrechts554 abgelöst. Jeder Arbeitskampf muss demnach zur Erreichung des rechtmäßigen Ziels geeignet, erforderlich und insbesondere in seiner Durchführung angemessen bzw. proportional sein.555 An diesen Anforderungen müssen sich auch Streikmaßnahmen durch Be549 Genauer zur relativen und absoluten Friedenspflicht Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 389 f.; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1074. 550 Siehe oben Kapitel 3 C.II.2. 551 An dieser Stelle zeigen sich erneut die bereits zuvor festgestellten Friktionen zwischen der etablierten Tarif- und Arbeitskampfrechtsordnung und den beamtenrechtlichen Grundsätzen, vgl. schon Kapitel 3 C.II.3. 552 BAG GS 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf = NJW 1971, 1668. 553 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip entspringt nach seinem traditionellen Anwendungsbereich dem Verhältnis Staat – Bürger, vgl. Czerweny von Arland, Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 44. 554 BAG GS 28.1.1955 – GS 1/54, AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1955, 882. Näher zu letzterer Gamillscheg, KollArbR I, S. 1129. 555 Näher zur Konkretisierung und weiteren Ausrichtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 393 ff.
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amte messen lassen. In seiner jüngeren Judikatur hat das BAG die Prüfungsdichte dieser Verhältnismäßigkeitskontrolle erheblich zurückgefahren und räumt den Gewerkschaften gerade bei den Fragen der Geeignetheit und der Erforderlichkeit der jeweiligen Kampfmaßnahme eine Einschätzungsprärogative ein. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich insoweit auf eine Rechtsmissbrauchskontrolle.556 Diese Rechtsprechung sieht sich allerdings verbreiteter Kritik ausgesetzt. Neben einem befürchteten allgemeinen Verlust externer Kontrolle557 des Kampfgeschehens558 werden vor allem Bedenken im Hinblick auf solche Bereiche laut, in denen Arbeitsniederlegungen zu einer verstärkten Betroffenheit Dritter führen, etwa durch den Ausfall elementarer und nicht zu ersetzender Versorgungsleistungen der Allgemeinheit. Entsprechend werden gerade auch in jüngerer Zeit verstärkt Streikrechtseinschränkungen und strengere Verfahrensregelungen diskutiert.559 Ebenso wie zum Ausgleich der bereits vorstehend erwähnten Paritätsdefizite in einigen Sonderbereichen des Arbeitskampfrechts560, soll eine Beschränkung von gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen und ihrer Folgen dabei durch Modifikationen bzw. eine Verschärfung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen561 erreicht werden. Die Untersuchung der Ausgangssituation hinsichtlich der Paritätsverhältnisse im Falle des Beamtenstreiks hat gezeigt, dass es auch insoweit angezeigt sein kann, entgegen der grundsätzlich zurückhaltenden Rechtssprechungslinie des BAG, strengere Verhältnismäßigkeitsanforderungen in Erwägung zu ziehen.562 Die konventionsrechtlichen Vorgaben fordern überdies die streikrechtliche Öffnung des Beamtensektors gerade auch in Bereichen, in denen Aufgaben wahrgenommen werden, an welchen ein besonderes öffentliches Interesse besteht; ein wesentlicher Teil der insoweit begünstigten Beamten ist gar in Bereichen der Daseinsvorsorge tätig.563 Einem streikbedingten Ausfall können daher auch hier 556 BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 117 zu Art. 9 Abs. 3 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055; bestätigt durch BAG 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, AP Nr. 174 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf) = NZA 2009, 1347, 1353. 557 Hierzu Seiter, Streikrecht, S. 538 ff. 558 Vgl. etwa Konzen, SAE 2008, S. 1, 6; Rieble, BB 2008, S. 1506, 1509; Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, S. 72 ff. 559 Vgl. etwa Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 87 ff. und den entsprechenden Gesetzentwurf; Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 264 ff.; Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, S. 57 ff., vgl. auch bereits Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, §§ 10, 11 ArbeitskampfG. 560 Oben Kapitel 3 C.III.1.a). 561 Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 96. 562 Oben Kapitel 3 C.III.1.a). 563 Man denke etwa an die konventionsrechtlich besonders relevanten Bereiche der Post, Bahn und Telekomunikation. Auch der Bildungssektor wird mitunter dem Bereich der Daseinsvorsorge zugerechnet, vgl. den differenzierenden Ansatz bei Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 264 ff.
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Grundrechtspositionen Dritter und Gemeinwohlbelange entgegenstehen, weshalb die oben angedeuteten Streikrechtseinschränkungen auch vor diesem Hintergrund für den Beamtenstreik erwägenswerte Restriktionsansätze liefern.564 Berücksichtigt werden kann an dieser Stelle ferner auch die bereits aufgezeigte internationale Spruchpraxis zu möglichen Streikrechtsbeschränkungen in versorgungswichtigen Bereichen.565 aa) Geeignetheit Geeignet sind grundsätzlich all diejenigen Kampfmittel, durch deren Einsatz die Durchsetzung des zulässigen Kampfziels gefördert werden kann.566 Bei der Bewertung dieser Anforderung gewährt das BAG den Arbeitskampfparteien die oben beschriebene Einschätzungsprärogative. Bei der Wahl des Kampfmittels sind damit die Gewerkschaften zunächst frei; die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf Rechtsmissbrauch.567 Im Falle des Beamtenstreiks ergeben sich an dieser Stelle Besonderheiten. So wurde bereits gezeigt, dass die Kampfmittelfreiheit durch die besondere beamtenrechtliche Pflichtenstellung insoweit beschränkt wird, als dass sogenannte atypische Arbeitskampfmaßnahmen ausgeschlossen sind.568 Das Kampfmittelrepertoire der Beamten ist damit a priori auf die Ausübung von Streikmaßnahmen beschränkt; eine Einschätzungsprärogative verbleibt lediglich hinsichtlich des Umfangs der Streikaktionen. bb) Erforderlichkeit Die Durchführung von Streikaktionen und die damit verbundene Ausübung von Zwang auf die Gegenseite sind nur dann zulässig, wenn sie das letztmögliche Mittel darstellen, um zu einem Verhandlungsergebnis zu gelangen. Es darf für die Koalitionen kein milderes Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels zur Verfügung stehen.569 Vor dem Kampf soll stets die Verhandlung stehen; der Streik kann folglich immer nur die Ultima Ratio sein.570 Auch an dieser Stelle
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In diese Richtung auch Greiner, DÖV 2013, 623, 624 ff. Oben Kapitel 2 A.III.1.c)bb). Zur Gebotenheit der Berücksichtigung der internationalen Vorgaben vgl. auch Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 70; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 95, 104. 566 BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 117 zu Art. 9 Abs. 3 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055, 1058. 567 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 130a. 568 Oben Kapitel 3 B.III.1.b)cc)(2). 569 BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 117 zu Art. 9 Abs. 3 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055, 1058. 570 Gamillscheg, KollArbR I, S. 1147. 565
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spricht die Rechtsprechung den Koalitionen erneut eine Einschätzungsprärogative zu. Die Bewertung der zentralen Frage, nämlich an welchem Punkt die Verhandlungsbereitschaft – jedenfalls einer Seite – zum Erliegen gekommen ist und mithin die Tür zur Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen offen steht, soll demnach ebenso in das Ermessen der kampferöffnenden Koalition fallen, wie die Einschätzung, ob das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.571 Die gerichtliche Prüfung soll sich erneut auf eine Rechtsmissbrauchskontrolle beschränken. (1) Qualitative und quantitative Streikbegrenzungen Diese Zurücknahme der Prüfungsintensität könnte im Falle des Beamtenstreiks abweichend zu bewerten sein. Zu erwägen wäre aufgrund des strukturell angelegten Paritätsdefizits der öffentlichen Arbeitgeber sowie der potentiell erhöhten Gefahr der Drittschädigung zu einer strengeren Verhältnismäßigkeitskontrolle zurückzukehren und indessen insbesondere die konkrete Erforderlichkeit von Kampfmaßnahmen zu fordern.572 Soll demzufolge sichergestellt werden, dass der jeweilige Streik das mildeste und schonendste Mittel darstellt, könnte es angezeigt sein, den Arbeitskampf von vorneherein zahlenmäßig und qualitativ zu beschränken. Angelehnt an das durch das BAG entwickelte Quotensystem zur Aussperrung573 könnte zum einen eine quantitative Begrenzung574 der Zahl von streikenden Beamten erwogen werden. Überdies kämen auch zeitliche und räumliche Streikbegrenzungen in Betracht. Insoweit werden etwa Stufenschemata für die Abfolge von Warn-, Kurz- und Vollstreiks diskutiert, durch welche Streikmaßnahmen insbesondere in zeitlicher Hinsicht in einer ersten Phase zunächst nur begrenzt und erst in einer zweiten und dritten Phase ausgeweitet zulässig sind.575 Zu beachten gilt jedoch, dass derartige Streikgrenzen weitgehende Eingriffe in die Koalitionsfreiheit bedeuteten, da sie die Kampftaktik der Gewerkschaften erheblich einschränkten.576 Eine solche Beschränkung ließe sich nur in-
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Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 398. So für den Streik im öffentlichen Dienst etwa Konzen, in: FS 50 Jahre BAG, S. 515, 548 oder für den Spezialistenstreik Jacobs, NZA 2008, 325, 331. 573 BAG 10.6.1980 – 1 AZR 822/79, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1980, 1642; BAG 10.6.1980 – 1 AZR 168/79, AP Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1980, 1653. 574 Näher dazu Czerweny von Arland, Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 115 ff. 575 Czerweny von Arland, Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 140 ff.; Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 131 ff. 576 Czerweny von Arland (Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 139) sieht schon gar keine rechtliche Grundlage für eine derartige Einschränkung der Streikfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG gegeben. 572
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
soweit rechtfertigen, als dass sie zum Ausgleich der „überschießenden“ Folgen des Beamtenstreiks geeignet und erforderlich wäre. Diesbezüglich bestehen bereits im Hinblick auf die praktische Geeignetheit Zweifel. Quantitativ oder qualitativ feste Grenzen weisen keine ausreichende Flexibilität auf, um einen Arbeitsausfall in dem mannigfaltigen Aufgabenspektrum der potentiell streikberechtigten Beamtenbereiche 577 sachgerecht abzufedern. So ist etwa durch eine zahlenmäßige Beschränkung nicht ohne weiteres eine entsprechende Begrenzung der Streikfolgen sichergestellt, etwa wenn einige wenige Beamte an entscheidenden Schaltstellen der jeweiligen Aufgabenerfüllung gleichwohl streiken. Selbiges gilt auch für mögliche qualitative Begrenzungen etwa in Form eines Stufensystems.578 Auch ein zeitlich begrenzter Warnstreik von nur einigen Stunden kann je nach betroffenem Bereich bereits erhebliche Auswirkungen haben, wohingegen er in anderen Bereichen kaum wahrgenommen werden wird Überdies sind vor partiellen Streikverboten oder -einschränkungen zunächst prozedurale Änderungen zu erwägen, welche gegebenenfalls als weniger eingreifende Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen sind.579 (2) Obligatorischer Schlichtungsversuch Die Einleitung von Streikmaßnahmen durch Beamte könnte nur dann erforderlich sein, wenn zuvor ein Schlichtungsversuch zwischen den beiden verhandelnden Parteien erfolglos stattgefunden hat. Gemeint ist hiermit der Versuch, durch die Einschaltung eines externen und neutralen Dritten, in einer verfahrenen Verhandlungssituation zwischen den beteiligten Parteien unter Fortgeltung der Friedenspflicht einen Konsens herbeizuführen und hierdurch den Konflikt zu schlichten.580 Die Vorschaltung derartiger Vermittlungsverfahren ist ein in der Praxis durchaus verbreitetes Phänomen. So finden sich zwischen Tarifparteien häufig Schlichtungsabkommen, welche, in unterschiedlichen Ausgestaltungen, im Vorfeld von Arbeitskampfmaßnahmen einen Vermittlungsversuch zur Beilegung einer Regelungsstreitigkeit vorsehen.581 Gleichwohl erachtet die Rechtsprechung582 577
Vgl. oben Kapitel 3 A.III. Vgl. hierzu Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 130, 132; Franzen/ Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 93. 579 So auch für den Bereich der Daseinsvorsorge Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 93. 580 Exemplarisch zum Ablauf eines Schlichtungsverfahrens Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 466 ff. 581 Vgl. die Übersicht bei Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, § 20 Rn. 25. 582 Zwar hat der Große Senat des BAG (21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1971, 1668) das Schlichtungsverfahren in den Kanon der Verhältnismäßigkeit aufgenommen. In der darauffolgenden Rechtsprechung wurden diese Ausführungen allerdings als Obiter Dictum abgetan, BAG 12.9.1984 – 1 AZR 342/83, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1985, 85. 578
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und mit ihr der überwiegende Teil der Literatur583 das erfolglose Durchlaufen eines Schlichtungsverfahrens grundsätzlich nicht als notwendige Vorstufe für die Zulässigkeit eines Arbeitskampfs im Sinne des Ultima-Ratio-Prinzips.584 Gerade aufgrund der erhöhten Belastung der Allgemeinheit durch einen Arbeitskampf der Beamten ist allerdings die Option, durch die Etablierung eines obligatorischen Schlichtungsversuchs, die Findung einer Verhandlungslösung zu fördern und damit eine Arbeitsniederlegung gegebenenfalls noch abzuwenden, durchaus erwägenswert. Dass eine derartige Vermittlung regelmäßig Erfolge verzeichnet und damit zweckmäßig sein kann, zeigt sich nicht nur darin, dass sich die Praxis dieser Vorgehensweise bereits verbreitet bedient.585 Auch in der Gesetzgebung zeigen sich neuere Entwicklungen, in denen Vermittlungsversuche streitigen Auseinandersetzungen vor Gericht vorgeschaltet werden.586 Verfassungsrechtlich ist die Implementierung eines Schlichtungsverfahrens nach ganz überwiegender Auffassung im Rahmen der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG zulässig587. Dies gilt jedenfalls in der Form des Schlichtungszwangs,588 welcher seinerseits klar abzugrenzen ist von der Zwangsschlichtung.589 Die Betätigungsfreiheit der Koalitionen wird lediglich in der Weise beschränkt, als dass während der Dauer des Schlichtungsverfahrens die relative Friedenspflicht fortbesteht und somit etwaige Streikmaßnahmen zeitlich aufgeschoben werden. Anders als im Fall der Zwangsschlichtung, wird allerdings kein verbindlicher Einfluss auf das Verhandlungsergebnis genommen; die Parteien sind frei, einen etwaigen Schlichtungsvorschlag abzulehnen und zur Durchführung von Kampfmaßnahmen überzugehen. Überdies steht es den Parteien offen, das Schlichtungsverfahren autonom zu regeln und auszugestalten, um auf diesem Wege einer ihnen nachteilig erscheinenden staatlichen Schlich583 Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, § 20 Rn. 26; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 69 Rn. 29; vgl. auch m.w. Nw. für die Gegenauffassung Gamillscheg, KollArbR I, S. 1150. 584 Anders dagegen die Gesetzesentwürfe zur Regelung von Arbeitskämpfen, vgl. Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, § 4 ArbeitskampfG; Franzen/Thüsing/Waldhoff, § 6 GesetzE. 585 Im Vordergrund stehen dabei nicht primär staatliche Schlichtungen, sondern die erwähnten Schlichtungsabkommen zwischen den Verhandlungsparteien, vgl. Löwisch/ Rumler, in: Löwisch, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 170.11 Rn. 5 ff. 586 Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 399 mit exemplarischen Verweis auf § 54 ArbGG. 587 M.w. Nw. Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 100. 588 Sofern eine Partei die Einleitung des Verfahrens begehrt, besteht für die andere ein Einlassungszwang. Das Verfahren kann somit auch einseitig forciert werden, vgl. Löwisch/Rumler, in: Löwisch, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 170.11 Rn. 8. 589 Als zu weitgehender Eingriff in die Koalitionsfreiheit wird dagegen die Zwangsschlichtung, also die verbindliche Entscheidung des Regelungsstreits durch den Schlichter, herrschend abgelehnt, vgl. m.w. Nw. Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 101.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
tungsordnung590 „zu entgehen“.591 Unter Berücksichtigung des erheblichen Interesses der Allgemeinheit an der Vermeidung eines streikbedingten Dienst- und Verwaltungsausfalls ist diese zusätzliche Verfahrensanforderung als verhältnismäßige Rechtmäßigkeitsvoraussetzung zu erachten. Auch innerhalb der europäischen und internationalen Arbeitskampfnormen sowie der korrespondierenden Spruchpraxis sind derartige Verfahrensregeln als zulässige Ausgestaltungsmaßnahmen der Koalitionsfreiheit anerkannt.592 Art. 6 Nr. 3 ESC verpflichtet die Vertragsstaaten sogar zur wirksamen Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen „die Einrichtung und die Benutzung geeigneter Vermittlungs- und freiwilliger Schlichtungsverfahren zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten zu fördern“ 593. Festzuhalten bleibt somit, dass der Beamtenstreik erst nach erfolglosem Durchlaufen eines obligatorischen Schlichtungsversuches als Ultima Ratio zulässig ist, sofern dieses Verfahren von einer der Verhandlungsparteien begehrt wird. (3) Ankündigungspflicht Als zusätzliche Verfahrensanforderung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt eine Ankündigungspflicht der kampfwilligen Koalition in Betracht. Diese wird nicht nur von zahlreichen Stimmen der nationalen Arbeitskampflehre erwogen, sondern ist auch im internationalen Arbeitskampfrecht als grundsätzlich zulässige Verfahrensreglung im Vorfeld eines Streiks anerkannt. Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO hält dabei je nach betroffenem Sektor eine bis zu 20-tägige Ankündigungspflicht für möglich.594 Die nationalen Gesetzesentwürfe zur Regelung von Arbeitskämpfen speziell in der Daseinsvorsorge gingen dagegen von drei bzw. vier Tagen aus.595 Grundsätzlich ist eine Ankündigungspflicht auch im Fall des Beamtenstreiks angebracht und das im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen ermöglichte sie den potentiell betroffenen Dritten, sich auf den Ausfall wichtiger Versorgungs- und Verwaltungsleistungen einzustellen und gegebenenfalls umzudisponieren. Insoweit trüge sie dazu bei, die potentielle Drittschädigung zu verringern. 590 Die staatliche Schlichtung ist normiert im Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 35 sowie in den einzelnen Verfahrens- und Durchführungsregelungen verschiedener Bundesländer. 591 Vgl. zum Vorrang der privatautonomen Schlichtung bereits Art. I KRG Nr. 35; siehe auch Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, § 13 Abs. 1 ArbeitskampfG; Franzen/ Thüsing/Waldhoff, § 6 Abs. 1 und 2 GesetzE. 592 Bspw. ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 549 ff. 593 Siehe auch ECSR, Digest 2008, S. 57. 594 ILO-FAC, Digest 2006, Rn. 553. Der ECSR (Digest 2008, S. 57) spricht von einer „reasonable duration“. 595 Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, § 11 Abs. 3 ArbeitskampfG; Franzen/Thüsing/Waldhoff, § 3 Abs. 1 GesetzE.
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Im Fall streikbedingter Ausfälle im Fern- oder Regionalverkehr der Deutschen Bahn AG beispielsweise könnten die Bürger rechtzeitig auf alternative Transportmittel umsteigen.596 Aus diesem Grund muss die Ankündigungspflicht nicht nur die Information über den Kampfentschluss an die Gegenseite umfassen, sondern letzterer muss darüber hinaus auch der Öffentlichkeit in geeigneter Weise zugänglich gemacht werden. Zum anderen hätte der betroffene Dienstherr nach entsprechender Ankündigung die Möglichkeit, sich auf den Arbeitsausfall einzustellen und entsprechende organisatorische Dispositionen zu treffen. Bedeutung hat dies zunächst aus Paritätsgesichtspunkten. Durch eine Ankündigungspflicht wird den Konfliktparteien ein wesentliches kampftaktisches Mittel, nämlich der Überraschungseffekt597, genommen. Obgleich eine derartige Beschränkung der Kampfführungsstrategie im Falle „normaler“ Verhandlungs- und Kampfgleichgewichte gerade nicht erforderlich ist, gestaltet sich die Situation im Bereich des Arbeitskampfs durch Beamte anders, da von einem grundsätzlichen Paritätsdefizit des öffentlichen Arbeitgebers auszugehen ist.598 Wie bereits festgestellt wurde, wird dem betroffenen Dienstherrn regelmäßig die Möglichkeit der (Abwehr-)Aussperrung faktisch verwehrt sein, was sich nachteilig auf seine Verhandlungsstärke auswirkt. Die Möglichkeit, Streikfolgen durch entsprechende Vorkehrungen abzumildern, wirkte diesem möglichen Paritätsdefizit entgegen. Zusätzlich obliegt dem Staat in zahlreichen Bereichen öffentlicher Aufgaben ein verfassungsrechtlicher Versorgungsauftrag, teilweise mitunter kombiniert mit einem „Benutzungszwang“ der Leistungsempfänger; exemplarisch genannt sei etwa der Betrieb öffentlicher Schulen und die entsprechende Schulpflicht. Um neben der etwaigen Einrichtung von Notdiensten und Erhaltungsarbeiten599 eine ausreichende Versorgung gewährleisten zu können, muss der bestreikten Verwaltungseinheit – dem bestreikten Unternehmen – das Treffen von Maßnahmen zur Streikvorsorge durch eine rechtzeitige Ankündigung erleichtert werden.600 Zwar wird hierdurch die koalitionsspezifische Betätigungsfreiheit eingeschränkt, da gerade eine überraschende Kampfmaßnahme erhebliches Schadenspotential birgt, was kampftaktisch durchaus bedeutsam sein kann. Dem gegenüber steht allerdings der Schutz wichtiger Rechtsgüter kampfunbeteiligter Dritter. Solange sich die Pflicht zur Ankündigung daher im Rahmen weniger Tage be596 Nach hier vertretener Auffassung gelten die gleichen Erwägungen auch für Streikaktionen der Arbeitnehmer und angestellten in den betroffenen Bereichen. Das entscheidende Kriterium ist insoweit nicht der Status sondern einzig die Bedeutung der ausgeübten Funktion. 597 Vgl. hierzu BAG 12.11.1996 – 1 AZR 364/96, E 84, 302 = NZA 1997, 393. 598 Oben Kapitel 3 C.III.1.a). 599 Dazu sogleich unter Kapitel 3 C.III.1.d)cc)(1). 600 Für den Bereich der Daseinsvorsorge differenzierend Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 103.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
wegt, stellt sie als Verfahrensanforderung aus den oben genannten Gründen eine ausgewogene Ausgestaltungsmaßnahme der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG dar. Etwaige Streikmaßnahmen durch streikberechtigte Beamte sind folglich sowohl der Gegenseite als auch der Öffentlichkeit mit angemessener Frist im Vorfeld anzukündigen. (4) „Cooling-of-period“ und Urabstimmung Im Vorfeld der Ultima Ratio des Arbeitskampfs kämen schließlich noch weiter prozedurale Anforderungen in Betracht, durch welche sich eine anstehende Arbeitsniederlegung gegebenenfalls doch noch abwenden ließe. Diskutiert wird etwa die Einführung, vornehmlich im US-amerikanischen Recht verbreiteter, „cooling-of-periods“ (Abkühlungsphasen).601 Gemeint ist hiermit ein vorgeschriebener Zeitraum, welcher den Parteien im Anschluss an gescheiterte Verhandlungen die Möglichkeit zur erneuten Eruierung der Sachlage geben, vor allem aber auch zur Beruhigung und Abkühlung der erhitzten Verhandlungssituation beitragen soll. Kampfmaßnahmen sind dementsprechend während dieser Phase untersagt.602 Es ist allerdings nicht ersichtlich, inwiefern eine zusätzliche, aufoktroyierte Phase des Waffenstillstands einen Mehrwert für die Erzielung eines Verhandlungsergebnisses darstellt. Gerade wenn die Parteien, wie nach hier vertretener Auffassung, einem Schlichtungszwang unterliegen, wird sich eine Verhandlungslösung, sofern ohne die Ausübung von Zwang möglich, auf diesem Wege einstellen. Vor diesem Hintergrund stellte eine hierüber noch hinausgehende Verlängerung der relativen Friedenspflicht603 in Form einer Abkühlungsphase einen zu weitgehenden Eingriff in die Betätigungsfreiheit der Koalitionen dar; die gewerkschaftliche Arbeitskampfreiheit würde durch den zusätzlichen Aufschub von Streikmaßnahmen unverhältnismäßig beeinträchtigt.604 Aus ähnlichen Gründen ist auch das Erfordernis einer vorgeschriebenen Urabstimmung im Ergebnis abzulehnen. Die Urabstimmung ist eine Abstimmung der Koalitionsmitglieder über die Durchführung eines Streiks. Gestützt auf den Mehrheitswillen bei dieser Mitgliederbefragung fasst der Hauptverband darauf folgend den Streikbeschluss. Einige Stimmen in der Literatur605 fordern eine ver601
Vgl. Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 94. Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 104. 603 Erwogen werden Abkühlungsphasen vor allem auch in Kombination mit bzw. im Nachgang zu einem Schlichtungsversuch, vgl. bei Löwisch/Rumler, in: Löwisch, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 170.1 Rn. 36. 604 So auch Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 104; Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 94 f.; a. A. Löwisch/Rumler, in: Löwisch, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 170.1 Rn. 36 m.w. Nw. 605 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II, S. 1025; Löwisch, in: Rieble, Zukunft des Arbeitskampfes, § 2 Rn. 7; Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvor602
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bindliche Durchführung von Urabstimmungen im Vorfeld von Arbeitskampfmaßnahmen, sozusagen als „letzte Hürde vor dem Waffengang“.606 Allerdings stellte auch die obligatorische Durchführung einer Urabstimmung einen zu weitgehenden Eingriff in die Verbands- und Satzungsautonomie der Koalitionen und letztlich auch deren Arbeitskampffreiheit dar. Die Gewerkschaften haben ein ureigenes Interesse daran, Streikmaßnahmen nur mit breiter Unterstützung ihrer Mitglieder durchzuführen, da diese auch nur dann den gewünschten Erfolg versprechen. Entsprechend sehen auch die Satzungen zahlreicher Gewerkschaften Abstimmungen im Vorfeld von Arbeitskampfmaßnahmen vor.607 Über diese Selbstverpflichtung hinaus, deren Nichtbeachtung lediglich interne Konsequenzen hat, müssen die Gewerkschaften in ihrer Entscheidung für oder gegen die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen frei bleiben.608 Auch eine obligatorische Urabstimmung ist somit im Ergebnis abzulehnen.609 cc) Angemessenheit – Die Sicherstellung einer ausreichenden Mindestversorgung Eine Streikmaßnahme ist schließlich nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne bzw. proportional, wenn sie sich „unter hinreichender Würdigung der grundrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit zur Erreichung des angestrebten Kampfziels unter Berücksichtigung der Rechtspositionen der von der Kampfmaßnahme unmittelbar oder mittelbar Betroffenen als angemessen darstellt“.610
sorge, S. 116 ff. Das BAG hat die Frage bislang ausdrücklich offengelassen, BAG 17.12.1976 – 1 AZR 605/75, E 28, 295 = NJW 1977, 1079, 1080. 606 Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 109. 607 Vgl. hierzu etwa Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 390 f. 608 Das von Franzen/Thüsing/Waldhoff, (Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 116 f.) in Aussicht gestellte Auseinanderfallen von Streikbeteiligung der betroffenen Arbeitnehmer einerseits und Legitimation des Streiks andererseits mit Blick auf neue Arbeitskampfmittel wie den Flashmob führt nach hier vertretener Auffassung zu keiner anderen Bewertung. Zum einen ist das Arbeitskampfrepertoire der Beamten beschränkt auf Streikmaßnahmen, also die Niederlegung der eigenen Arbeit. Zum anderen ist zulässiges Streikziel nur die Gestaltung der eigenen Arbeitsbedingungen, womit eine Teilnahme gänzlich unbeteiligter Dritter ausscheidet. 609 Hinzuweisen ist an dieser Stelle allerdings nochmals auf die vorstehend erwähnte grundsätzliche Problematik der negativen Koalitionsfreiheit nichtorganisierter Beamter bei einer gesetzlichen Geltung ausgehandelter und gegebenenfalls erstreikter Beschäftigungsbedingungen (oben Kapitel 3 C.II.3.). Insoweit bestünde in einer möglicherweise erweiterten Urabstimmung die Möglichkeit, etwaige Streikmaßnahmen und insbesondere auch die hiermit verfolgten Ziele einer demokratischen Legitimation zuzuführen. Dies bestimmte sich jedoch maßgeblich auf Grundlage der Ausgestaltung eines etwaigen Verhandlungssystems, worauf in der vorliegenden Untersuchung nicht näher eingegangen werden kann. 610 BAG 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, AP Nr. 173 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NZA 2007, 1055, 1058.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Fraglich ist an dieser Stelle zunächst, ob es im Falle des Beamtenstreiks aufgrund der bereits angesprochenen fehlenden „realen Grenzrisiken“ eines besonderen Schutzes vor unverhältnismäßigen Streikforderungen bedarf. Zu denken wäre an eine verschärfte richterliche Überprüfung der Zweck-Mittel-Relation. So könnte etwa die Frage, ob die jeweilige Kampfmaßnahme ein notwendiges Mittel zu einem angemessenen Streikziel darstellt, anhand von Wucher- (§ 138 BGB) und Sittenwidrigkeitsaspekten (§ 826 BGB) gerichtlich überprüfbar sein.611 Grundsätzlich ist allerdings eine gerichtliche Kontrolle von Streikzielen, ebenso wie im Bereich der Tarifautonomie, auch im Falle des Beamtenstreiks abzulehnen. Auch hier fehlt es den Gerichten an einem hinreichend objektivierbaren Kontrollmaßstab zur jeweiligen Bewertung der Streikforderungen. Einzig denkbar wäre in Bereichen, in denen ein Nebeneinander von tariflich und beamtenrechtlich Beschäftigten besteht, eine Orientierung an den jeweiligen Tarifergebnissen des öffentlichen Diensts. Darüber hinaus sind jedoch auch Konstellationen denkbar, in welchen ein derartiger Orientierungsmaßstab gerade fehlt. Einzelheiten hingen ferner von der genauen Ausgestaltung des zu etablierenden Verhandlungssystems612 ab. Insgesamt scheint es vorzugswürdiger, unangemessenen Streikforderungen, welche stets Ausdruck fehlender paritätischer Verhältnisse sind, durch die Nachjustierung der beschriebenen prozeduralen Anforderungen vorzubeugen. Die Verlagerung der Korrektur systembedingter Fehlstellungen auf die Rechtsprechung kann indes kein grundsätzliches Gestaltungsinstrument sein, sondern, wenn überhaupt nur, Schadensbegrenzung im Einzelfall. Im Rahmen der Angemessenheit, als eigentlichem Schwerpunkt der Rechtmäßigkeitsprüfung, sind insbesondere auch entgegenstehende Grundrechtspositionen Dritter zu beachten. Berührt ein Arbeitskampf, wie auch der Beamtenstreik, die Sphäre wichtiger Gemeinwohlbelange, so können sich an diesem Punkt Schranken für die Rechtsausübung ergeben. Es bedarf einer Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter im Einzelfall.613 (1) Vereinbarung von Notdiensten Überwiegende Einigkeit besteht hinsichtlich der Notwendigkeit der Gewährleistung einer Grundversorgung zur Befriedigung essentieller Bedürfnisse der 611 Vgl. hierzu etwa für den Streik in der Luftfahrt mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts Hanau/Thüsing, in: Tarifautonomie im Wandel, S. 35, 67 f.; siehe auch Seiter, Streik- und Aussperrungsrecht, S. 151. 612 Oben Kapitel 3 C.II. 613 Abzulehnen ist dagegen ein abstrakter Gemeinwohlvorbehalt des Arbeitskampfs, in diese Richtung noch BAG GS 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf = NJW 1971, 1668, 1669. Die gebotenen Einschränkungen erschöpfen sich vielmehr in den kollidierenden Rechtspositionen Dritter, vgl. Ricken, in: MünchHbArbR, Band 2, § 200 Rn. 58; Hensche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 5 ff.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
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Menschen während eines Arbeitskampfs.614 Auch wenn die Betroffenheit unbeteiligter Dritter beim Ausfall von Dienstleistungen grundsätzlich zu den normalen Streikfolgen gehört, so gilt dies nur soweit, wie hierdurch grundrechtlich geschützte Rechtsgüter nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Es bedarf eines angemessen Ausgleichs in Form der praktischen Konkordanz.615 Zu deren Herstellung sind nicht etwa pauschale Streikverbote in bestimmten Aufgabenbereichen erforderlich.616 Vielmehr hat sich die Einrichtung von Erhaltungs- und Notdiensten617 als geeignete Maßnahme im Sinne eines schonenden Interessenausgleichs erwiesen.618 Sowohl das Arbeitskampfrecht der Gewerkschaften auf der einen Seite als auch die durch den Arbeitskampf betroffenen Rechtsgüter Dritter auf der anderen Seite werden durch diese Lösung zwar beeinträchtigt, treten dabei jedoch nicht gänzlich zurück. In diesem Sinne bezeichnete das BAG Vereinbarungen zwischen den kampfbeteiligten Parteien über die Errichtung und den Umfang von Notdienstarbeiten als nicht nur zulässig, sondern, aufgrund des Fehlens gesetzlicher Regelungen, ausdrücklich erwünscht.619 Ein Streik, der die Grundversorgung mit lebenswichtigen Gütern aufgrund des Fehlens von Notdienstarbeiten nicht sicherstellt, ist dagegen unverhältnismäßig und damit unzulässig.620 Diese Rechtmäßigkeitsanforderung gilt auch für den Beamtenstreik. Somit muss im Vorfeld einer Arbeitsniederlegung die Aufrechterhaltung einer Mindestversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sowie elementaren Verwaltungsleistungen sichergestellt werden. Der Umfang der zu erhaltenden Notdienste bestimmt sich nach Art, Ausmaß und Dauer des jeweiligen Streiks im Einzelfall sowie auch ganz wesentlich nach der Qualität der betroffenen Rechtgüter. Stehen etwa Leben oder Gesundheit betroffener Dritter zur Disposition, ist das Notdiensterfordernis entsprechend weitgehender als wenn Post- und Telekommunikationsdienstleistungen oder allgemeine kommunale Verwaltungstätigkeiten betroffen sind. Grundsätzlich kommt
614 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 186; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1173, 1181; Oetker, Not- und Erhaltungsarbeiten, 1984, S. 91 ff. 615 Vgl. Hennsler, ZfA 2010, 397, 417 ff. 616 Anders etwa Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, § 40 VI 7 b. 617 Erhaltungsarbeiten sind solche Maßnahmen, die die Betriebsfortsetzung bzw. Wiederaufnahme der Arbeit nach Beendigung des Arbeitskampfs sicherstellen sollen. Notdienstarbeiten dienen der Mindestversorgung der Bevölkerung mit elementaren Dienstleistungen und Gütern, vgl. Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 409; Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 116. 618 Oetker, Not- und Erhaltungsarbeiten, 1984, S. 41. 619 BAG 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, E 79, 152, 156 = NJW 1995, 2869 ff. 620 BAG GS 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf = NJW 1971, 1668, 1669.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
den Parteien bei der Frage des Umfangs der Mindestversorgung sowie der Organisation derselben ein weiter Beurteilungsspielraum zu.621 Noch nicht geklärt ist hiermit allerdings, wer als Träger der Mindestversorgung Art und Inhalt der zu leistenden Dienste letztverbindlich festlegt. Ohne diese Frage bislang abschließend entschieden zu haben, scheint das BAG die Gewährleistung der Mindestversorgung als gemeinsame Aufgabe der Parteien zu verstehen, bei welcher beide Seiten auf ein Ergebnis hinwirken müssen.622 Problematisch ist allerdings der Fall, in dem eine Einigung nicht zu Stande kommt. Für diese Konstellation werden alle in Betracht kommenden Alternativen diskutiert; eine Verantwortlichkeit des Arbeitgebers, der Arbeitnehmerseite oder auch eine auf der Einigung der Parteien beruhende Lösung.623 Die wohl überwiegende Ansicht sieht die Zuständigkeit für die Einrichtung eines Notdienstes im Falle der Uneinigkeit der Parteien beim Arbeitgeber. Dieser habe den Überblick über die Organisationstruktur und Funktionsabläufe und verfüge zudem über das Direktionsrecht, um etwaig erforderliche personalorganisatorische Maßnahmen zu realisieren.624 Allerdings birgt eine derartige Kompetenz des Arbeitgebers stets die Gefahr, dass er den Notdienst über das notwendige Maß hinaus veranlasst oder ihn in sonstiger Weise für seine Zwecke instrumentalisiert, um hierdurch den Streik abzuschwächen. Dem wird entgegnet, dass die Entscheidung des Arbeitgebers, wie jede andere Ausübung des Direktionsrechts, rechtlich gebunden sei, nämlich insbesondere an den Gleichbehandlungsgrundsatz sowie an „billiges Ermessen“ gemäß § 315 BGB. Diese Voraussetzungen könnten als Rechtsfragen im Eilverfahren überprüft werden.625 Franzen, Thüsing und Waldhoff 626 stellen allerdings zu Recht in Frage, ob die Bindung an diese abstrakten Kontrollkriterien – seien sie auch im einstweiligen Rechtsschutz überprüfbar – tatsächlich geeignet sind, um in einer Phase des vorangeschrittenen Konflikts einen sachgerechten und angemessenen Ausgleich sicherzustellen. Stattdessen schlagen sie die Einführung eines verbindlichen Konfliktlösungsverfahrens nach dem Vorbild der betriebsverfassungsrechtlichen Einigungsstelle nach § 76 BetrVG vor. Diese Kom621 BAG 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, AP Nr. 135 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1995, 2869, 2870. 622 BAG 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, AP Nr. 135 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1995, 2869, 2870. 623 Vgl. zu den verschiedenen Standpunkten Kissel, Arbeitskampfrecht, § 43 Rn. 82; siehe auch m.w. Nw. Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, S. 118. Der jüngste Vorschlag von Franzen/Thüsing/Waldhoff (Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 130 bzw. § 4 Abs. 2 GesetzE) sieht für den Fall einer fehlenden Einigung der Parteien eine verbindliche Entscheidung der Einigungsstelle nach dem Vorbild des § 76 BetrVG vor. 624 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 188; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 32 Rn. 101, § 45 Rn. 40; Otto, Arbeitskampfrecht, § 8 Rn. 37; Gamillscheg, KollArbR I, S. 1169; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 409. 625 Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 188. 626 Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 121 ff., 130 f.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
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promissfindung scheint einer einseitigen Notkompetenz des Arbeitsgebers vorzugswürdig. Zum einen garantiert sie eine höhere Akzeptanz und damit Effektivität der letztlich zu verrichtenden Notdienste und zum anderen verringert sie die potentielle Missbrauchsgefahr.627 Diese Überlegungen lassen sich entsprechend auch auf die Notdienstvereinbarungen während eines Beamtenstreiks übertragen. Auch hier ist folglich der Umfang der Mindestversorgung im Fall einer fehlenden Einigung im Wege eines verbindlichen Konfliktlösungsverfahrens festzulegen. Anzulehnen ist letzteres an das Einigungsstellenverfahren nach § 71 BPersVG. Diese Lösung sieht sich überdies im Einklang mit den völkerrechtlichen Vorgaben. Diese fordern zum einen die Beteiligung der Arbeitnehmerschaft bei der Festlegung eines angemessenen Umfangs eines Notdienstes, zum anderen aber auch, dass im Falle von Uneinigkeit ein unabhängiger Spruchkörper mit der Entscheidungsfindung betraut werden solle.628 Beide Anforderungen würden durch das vorstehende Konfliktlösungsverfahren gewahrt. (2) Zulässigkeit des Beamteneinsatzes Wie gesehen, können also Beamte, wie Arbeitnehmer und Angestellte auch, zur Aufrechterhaltung der Wahrnehmung streikbetroffener öffentlicher Aufgaben abgestellt werden. Fraglich ist, ob diese Lösung mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Streikeinsatz von Beamten629 vereinbar ist. An dieser Stelle gilt es zu unterscheiden: Geht es um den Einsatz solcher Beamter, denen das Streikrecht grundsätzlich zusteht, so ist in dieser Konstellation die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung von vorneherein nur bedingt einschlägig. Diesen Beamten steht es, ebenso wie den sonstigen öffentlichen Bediensteten, frei, sich an Streikaktionen zu beteiligen oder aber ihren Dienst fortzuführen. Entscheiden sie sich für eine Streikteilnahme, scheidet ein möglicher Streikeinsatz per se aus. Die einzige Ausnahme ist die Einteilung für einen etwaigen Notdienst, welche jedoch als verhältnismäßige Einschränkung der Arbeitskampffreiheit auch ohne gesetzliche Grundlage gerechtfertigt ist. Folgen die Beamten dem Streikaufruf dagegen nicht, so hat der Dienstherr, wie auch jeder private Arbeitgeber, die Möglichkeit, sie unter Ausübung seines Weisungsrechts bei der Aufrechterhaltung der Arbeitsabläufe einzubinden.630 Nicht anweisen kann er die Beamten allerdings gegen ihren Willen auf 627 Einem Missbrauch in Form von Verzögerungsversuchen kann durch Regelungen vorgebeugt werden, die einen zügigen Verfahrensfortgang sicherstellen, vgl. Franzen/ Thüsing/Waldhoff, § 4 Abs. 2–4 GesetzE. 628 Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 312; ILOFAC, FAC Digest 2006, Rn. 613. 629 Oben Fn. 533. 630 Der Einsatz dienstbereiter Beamter ist nach richtiger Auffassung von der Entscheidung des BVerfG nicht betroffen, oben Fn. 533.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
bestreikten Dienstposten zu arbeiten;631 Ausnahme ist wiederum die Einteilung für Notdienstarbeiten. Insgesamt also besteht kein Unterschied zu der Situation im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis. Folglich ist auch der Beamteneinsatz jedenfalls insoweit kein zusätzliches Arbeitskampfmittel des Staats als Arbeigeber.632 Problematischer gestaltet sich dagegen der Einsatz weiterhin nicht streikberechtigter Beamter. Der Gesetzgeber hat zwar die Möglichkeit, diesen für die Zukunft zu erlauben.633 Allerdings sind hiermit nicht unproblematische Folgewirkungen verbunden. Die Erlaubnis des Beamteneinsatzes erhöhte potentiell die Kampfstärke des öffentlichen Arbeitgebers, was zunächst mit Blick auf das grundsätzlich bestehende Paritätsdefizit im Falle des Beamtenstreiks634 eine zu begrüßende Konsequenz wäre. Gleichzeitig würden den privatisierten ehemaligen Staatsunternehmen, welche nunmehr in einem privatwirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen, allerdings hierdurch Vorteile erwachsen, da ihnen ein zusätzliches Arbeitskampfinstrument an die Hand gegeben wäre, welches im Rahmen der übrigen kollektiven Arbeitsbeziehungen nicht besteht.635 Freilich gölte dies nur im Hinblick auf solche Beamte, die hoheitliche Befugnisse im Sinne des Konventionsrechts bzw. Art. 33 Abs. 4 GG ausüben. Dies wird allerdings für Beamte in den privatisierten Unternehmen nur noch in den seltensten Fällen angenommen werden können.636 Jedenfalls gerechtfertigt wäre der Einsatz nicht streikberechtigter Beamter dann, wenn er zur Aufrechterhaltung einer Mindestversorgung erlaubt würde, gleichzeitig jedoch auch hierauf beschränkt bliebe. Da die Mindestversorgung jedoch primär durch Notdienste sichergestellt wird, wäre der Beamteneinsatz insoweit subsidiär auszugestalten.637 Er käme demnach nur dann in Betracht, wenn die Einrichtung eines Notdiensts durch die Koalitionen aus tatsächlichen Gründen nicht oder nicht in ausreichendem Maße sichergestellt
631 Sein Weisungsrecht ist insoweit ebenso wie das Direktionsrecht des Arbeitgebers eingeschränkt, vgl. BAG 25.7.1957 – 1 AZR 194/56, AP Nr. 3 zu § 615 BGB Betriebsrisiko = JR 1958, 287 ff.; BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379, 1380; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG Rn. 175. 632 Genau dies nahm das BVerfG (2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, AP Nr. 126 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1993, 1379, 1380) allerdings für den Einsatz nicht streikberechtigter Beamter an und monierte daran anknüpfend die fehlende gesetzliche Regelung. 633 Vgl. die Vorschläge von Rieble (ZAF 2005, 218, 228); Fuhrmann (Beamteneinsatz bei Streiks, S. 250) und Franzen/Thüsing/Waldhoff (Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 132). 634 Oben Kapitel 3 C.III.1.a). 635 Vgl. Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 132 f. 636 Vgl. oben Kapitel 3 A.II.2.b)aa) und Kapitel 3 B.III.2.b)bb). 637 So auch der Gesetzesvorschlag von Fuhrmann, Beamteneinsatz bei Streiks, S. 218, 250.
C. Konkretisierung der Rahmenbedingungen
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wäre und begründete somit eine Art subsidiäre Notfallkompetenz des bestreikten Dienstherrn. 2. Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung Wie gesehen, sind die vorstehenden Verfahrensvorgaben konkretisierte Ausprägungen des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgebots. Die Rechtsprechung könnte sie somit, wie für den Arbeitskampf innerhalb privatrechtlicher Arbeitsbeziehungen, grundsätzlich auch ohne eine Regelung durch den Gesetzgeber implementieren. Anders als im Bereich privatrechtlich ausgestalteter Beschäftigungssektoren herrscht jedoch im Beamtenrecht nicht die Tarifautonomie. Die Verfassung gewährt also keinen vom Staat unberührten Verantwortungsbereich für die sich streitenden Parteien. Im Gegenteil, Art. 33 Abs. 5 GG statuiert einen besonderen allgemeinen Gesetzesvorbehalt für das Beamtenrecht.638 Die unmittelbaren Auswirkungen der arbeitskampfkonformen Anpassung des Beamtenrechts, wie etwa die Kürzung der Dienstbezüge im Falle der Streikteilnahme, sind demnach gesetzlich zu regeln.639 Gleiches gilt auch für die spezifischen arbeitskampfrechtlichen Vorgaben. Im Sinne der Rechtsklarheit müssen die genauen Verfahrensregeln für Schlichtungsversuche, Ankündigungspflichten und Notdienstvereinbarungen für alle Beteiligten klar ersichtlich sein, um somit letztlich auch eine einheitliche Geltung und Befolgung derselben zu erreichen. Zudem verlangt die Wesentlichkeitstheorie, dass der Gesetzgeber alle Entscheidungen im grundrechtrechtsrelevanten Bereich selber trifft. Führt der Beamtenstreik aufgrund der Besonderheit der betroffenen Aufgaben zu einer Beeinträchtigung von Grundrechtspositionen Dritter, so muss der Gesetzgeber an diesem Punkt regelnd eingreifen und kann die Lösung dieser Konfliktlage nicht den Gerichten überlassen.640 Folglich sind sowohl die Anpassungen des Beamtenrechts als auch die arbeitskampfrechtlichen Vorgaben gesetzlich festzuschreiben.
IV. Ergebnis Die Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben auf die deutsche Rechtsordnung und die damit verbundene Gewährleistung eines Streikrechts für bestimmte Beamtengruppen kann nur durch das BVerfG vollzogen werden. Die hergebrachte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sowie die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG stehen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung durch die Fachgerichte entgegen.
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Oben Kapitel 3 B.III.1.a)aa). Dies wurde bereits festgestellt, oben Kapitel 3 C.III.1.a). 640 So auch für entsprechende Streikrechtsregelungen im Bereich der Daseinsvorsorge Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 44 ff. 639
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Den Beamtengewerkschaften ist ein echtes Verhandlungsrecht zur Ausgestaltung ihrer Beschäftigungsbedingungen unter gleichzeitiger Wahrung des beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalts einzuräumen. Die partielle Anerkennung des Streikrechts für Beamte macht eine gegenseitige Anpassung der Rechtssysteme des Beamten- und des Arbeitskampfrechts erforderlich. Die Ausgangssituation im Falle des Beamtenstreiks weist ein strukturelles Paritätsdefizit des öffentlichen Arbeitgebers sowie eine tendenziell erhöhte Streikbetroffenheit unbeteiligter Dritter auf. Hierdurch werden zum einen Anpassungen des Beamtenrechts zum anderen aber auch die Beachtung besonderer Rechtmäßigkeitsanforderungen und -grenzen sowohl bezüglich der Kampfausübung als auch der zu erwartenden Streikfolgen notwendig. Zunächst bedarf es einer gesetzlichen Regelung zum Wegfall der Dienstbezüge während der Teilnahme an Streikmaßnahmen. Zudem sind Streikmaßnahmen nur außerhalb zu gewährleistender Friedenszeiten und ferner nur insoweit zulässig, wie sie als koalitionsspezifische Betätigungen Ziele verfolgen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beteiligten stehen. Des Weiteren bestehen Verfahrensanforderungen: Ein Streik ist erst im Anschluss an einen obligatorischen Schlichtungsversuch zulässig, welcher auf Antrag einer Partei durchzuführen ist. Jede Streikmaßnahme ist der Gegenseite sowie auch der Öffentlichkeit in angemessener Weise im Vorfeld anzukündigen. Schließlich müssen sich die Parteien über die Einrichtung von Notdiensten zur Gewährleistung einer Mindestversorgung einigen; im Streitfalle entscheidet der verbindliche Spruch der Einigungsstelle. Die genannten Rahmenbedingungen für einen zulässigen Beamtenstreik sind gesetzlich festzuschrieben.
D. Rechts- und verwaltungspolitische Gestaltungsaspekte Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass die derzeitige konventionswidrige Rechtslage im deutschen Beamtenrecht auch unterhalb einer Verfassungsänderung durch eine Erweiterung der Kollektivrechte der Beamten behoben werden kann. Hierzu bedarf es zum einen der Einführung des Streikrechts für solche Beamte, die nicht in Bereichen der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK, einschließlich Polizei und Streitkräfte, beschäftigt sind oder aber funktionsbedingten Streikverboten im Bereich essentieller Daseinsvorsorgeleistungen gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK unterliegen. Darüber hinaus sind für alle Beamten die kollektiven Verhandlungsrechte zu stärken. Auf diesem Weg werden die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG im Sinne der Vorgaben des Art. 11 EMRK ausgestaltet und zukünftige Konventionsverstöße Deutschlands vermieden. Allerdings sind im Zuge dessen sowohl beamtenrechtliche als auch arbeitskampfrechtliche Systemanpassungen erforderlich. In Ansehung dieses rechtlichen Befundes stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage nach (langfristigen) rechtspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten. So
D. Rechts- und verwaltungspolitische Gestaltungsaspekte
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führt die an den Konventionsvorgaben orientierte Aufwertung der Koalitionsrechte der Beamten zu Veränderungen innerhalb der Beschäftigungsstruktur des öffentlichen Diensts sowohl im Verhältnis Beamte zu Arbeitnehmern als auch aufgrund der neu entstehenden Aufteilung der Beamtenschaft in Statusträger mit und ohne Streikrecht.
I. Bestandsaufnahme nach Umsetzung der Konventionsvorgaben Vollzieht man zunächst einen Perspektivwechsel, so könnte sich aus Sicht der Arbeitnehmer des öffentlichen Diensts die Stärkung der Rechtspositionen der Beamten bei gleichzeitigem Fortbestehen der sonstigen statusrechtlichen „Privilegien“ als gleichheitswidrige Unterscheidung bzw. „willkürliche Bevorzugung“ 641 im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG darstellen.642 Vor diesem Hintergrund wird – nicht zuletzt auch durch das BVerwG643 – als langfristige rechtspolitische Gestaltungsalternative erwogen, den Beamtenstatus auf solche Aufgabengebiete zu beschränken, für die gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK zulässigerweise Streikverbote bestehen können.644 Außerhalb dieser Bereiche sollen demnach künftig ausschließlich Arbeitnehmer und Angestellte beschäftigt werden. Die Rechtspositionen sogenannter Bestandsbeamter, also solcher Beamter, die nach neuerem Verständnis nicht mehr dem Sonderbereich unterfallen, gleichzeitig jedoch den Status bereits innehaben, sollen dabei in der Übergangsphase gesichert werden.645 Traulsen plädiert zu diesem Zweck etwa für die Schaffung eines eigenen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses dritter Art, in welchem neben dem Streikrecht auch die Tarifautonomie gelten, der Beamtenstatus ansonsten jedoch weitgehend unverändert fortbestehen soll.646 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass durch die Einführung des Streikrechts für Beamte rechtpolitischer Handlungsbedarf nicht bereits aufgrund gleichheitsrechtlicher Überlegungen im Hinblick auf Arbeitnehmer und Angestellte im öffentlichen Dienst ausgelöst wird. Rein arbeitskampfrechtlich wird die Rechtsstellung der Beamten durch die vorzunehmende arbeitskampfkonforme 641
Isensee, Beamtenstreik, S. 72. So etwa Schubert, AöR 2012, 92, 106, 116; Traulsen, JZ 2013, 65, 71; vgl. auch Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, S. 72 f. 643 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741. 644 Schubert, AöR 2012, 92, 115 f.; Traulsen, JZ 2013, 65, 70 ff.; Seifert, EuZA 2013, 205, 218 f.; kritisch hierzu Lindner, JZ 2013, 942, 943. 645 Schubert (AöR 2012, 92, 106, 116) verweist insoweit auf Vorgehensweise bei der Privatisierung der Deutschen Post und Deutschen Bahn, wo den beschäftigten Beamten ein freiwilliger Wechsel in das Angestelltenverhältnis bzw. die Beurlaubung vom Beamtenstatus eröffnet wurde. 646 Traulsen, JZ 2013, 65, 70 ff. 642
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
Anpassung des Beamtenrechts der Position der Arbeitnehmer bereits weitgehend angenähert.647 Darüber hinaus bestehen aufgrund des mitunter beliebigen Einsatzes von Beamten oder Arbeitnehmern freilich auch weiterhin unterschiedliche Beschäftigungsbedingungen – etwa im Hinblick auf Ruhestands-648 oder Krankheitsversorgung649 –, für welche keine funktionsbezogene Rechtfertigung gegeben ist. Greiner weist allerdings zu Recht darauf hin, dass dieser bereits gegenwärtig existierenden Problematik auch bislang keine gleichheitsrechtliche Relevanz zugesprochen wurde. Vielmehr wurden die Beschäftigungssysteme aufgrund der statusrechtlichen Besonderheiten schlicht als nicht vergleichbar erachtet.650 An diesem Befund ändert sich auch durch die Stärkung der Koalitionsfreiheit der Beamten insofern nichts, als dass der Beamtenstatus, vorbehaltlich der besoldungsrechtlichen Anpassungen im Arbeitskampffalle, erhalten bleibt. Hält man dennoch einen Vergleich mit den privatrechtlich beschäftigten Arbeitnehmern für geboten, so kann dieser stets nur innerhalb derselben ausgeübten Funktion stattfinden. Insoweit ist zuallererst festzustellen, dass fortan allen funktionsgleich Beschäftigten im öffentlichen Dienst auch die gleichen Arbeitskampfrechte zu Teil werden, worin eine von Art. 3 Abs. 1 GG gerade geforderte Gleichbehandlung zu sehen ist. Die darüber hinaus bestehenden Unterschiede in den Beschäftigungsbedingungen werden durch die Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben weder originär begründet noch vertieft. Mit anderen Worten stellen die derzeit bestehenden kollektivrechtlichen Beschränkungen im Beamtenrecht keinen sachlichen (Rechtfertigungs-)Grund für die nachteilige Ausgestaltung der privatrechtlichen Dienstverhältnisse dar; das Streikverbot des beamteten Lehrers macht dessen bessere Ruhestandsversorgung im Verhältnis zu der seines angestellten Kollegen nicht „gleicher“.651 Obgleich somit Ungerechtigkeiten tatsächlich bereits bestehen, werden diese durch die konventionskonforme Anpassung der deutschen Rechtsordnung nicht begründet. Selbiges gilt auch bei einer vergleichenden Betrachtung der beiden neu entstehenden Beamtengruppen mit und ohne Streikrecht. Vergleicht man diese rein funktionsbezogen, so ist die Unterschiedlichkeit der wahrgenommenen Aufgaben insoweit ausreichender Sachgrund für die Ungleichbehandlung hinsichtlich des Streikrechts. Allerdings weisen Verfechter des institutionellen Verständnisses des Berufsbeamtentums immer wieder auf die Notwendigkeit einer statuseinheitli647 Oben unter Kapitel 3 C.III. Ein bedeutsamer Unterschied bleibt freilich die Unkündbarkeit der Beamten im Vergleich zu Arbeitnehmern des öffentlichen Diensts, obschon auch Letztere aufgrund tarifvertraglicher Regelungen häufig einen vergleichbaren Kündigungsschutz genießen, vgl. Fn. 299. 648 Verstärkt auf diese abstellend Traulsen, JZ 2013, 65, 71 f. 649 Diese hervorhebend OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 893. 650 Greiner, DÖV 2013, 623, 630 m.w. Nw.; vgl. auch OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 893. 651 So auch Greiner, DÖV 2013, 623, 630. Siehe auch oben Kapitel 3 B.III.4.b)cc).
D. Rechts- und verwaltungspolitische Gestaltungsaspekte
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chen Betrachtung hin. Unabhängig von wahrgenommenen Aufgaben, führe die Gewährung des Streikrechts für Teile der Beamten zu sozialen Spannungen innerhalb der Beamtenschaft aufgrund „gleichheitswidrige[r] Unterscheidungen zwischen dienstrechtlich Gleichgestellten“.652 Ferner falle sozusagen im „Außenverhältnis“ mit der Einführung des Streikrechts der „letzte faktische Akzeptanz-Anker des Berufsbeamtentums [. . .] in der Bevölkerung“ weg und das Ansehen werde in der öffentlichen Wahrnehmung nachhaltig beschädigt.653 Führen diese Erwägungen nunmehr dazu, dass die Anerkennung eines Streikrechts für Teile der Beamtenschaft ausscheiden muss? An dieser Stelle ist ein Blick auf die Ursachen der beschriebenen Szenarien angezeigt. Etwaige interne soziale Spannungen sowie ein Ansehensverlust nach außen haben ihre Ursachen jedenfalls nicht originär in einer möglichen Streikrechtsgewährung nach den konventionsrechtlichen Vorgaben. Begünstigt werden hierdurch Beamte in Positionen, in denen sie – vielfach sogar mehrheitlich – Seite an Seite mit streikberechtigten Arbeitnehmern arbeiten. Gerade in diesen Bereichen ist die Öffentlichkeit Streiks gewöhnt, weshalb auch eine Beteiligung der Beamten in der öffentlichen Wahrnehmung nicht besonders ins Gewicht fiele. Dies gilt gerade, zumal eine Grundversorgung und eine Mindestdienstleistung aufrechterhalten werden.654 Ein Akzeptanzverlust für die Besonderheiten des Beamtentums tritt sowohl innerdienstlich als auch in der Öffentlichkeit vielmehr dann ein, wenn mit dem Status verbundene Bevor- oder Benachteiligungen nicht auf einer sachlichen Grundlage beruhen, sondern vielmehr willkürlich bestehen. Als umfassender sachlicher Rechtfertigungsgrund wurde und wird überwiegend der Status als solcher gesehen. Dies ist vom Grundgedanken her auch richtig, weil durch Art. 33 Abs. 4 GG i.V. m. Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich indiziert. Tatsächlich aber kam es durch die Verwaltungsorganisation und die entsprechende Verbeamtungspraxis durch Gesetzgeber und öffentliche Arbeitgeber zu einem verbreiteten Auseinanderfallen von Status und Funktion im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG.655 Die damit verbundene Aufweichung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Konturen hat letztlich zur Folge, dass der Status alleine die mit ihm einhergehenden dienstrechtlichen Besonderheiten nicht (mehr) zu rechtfertigen vermag.656 Die Begrün-
652 OVG Münster 7.3.2012 – 3d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 895; Isensee, Beamtenstreik, S. 105. 653 Lindner, ZBR 2013, 145, 147; ders., JZ 2013, 942; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 56; vgl. auch Traulsen, JZ 2013, 942, 943. 654 Oben Kapitel 3 C.III.1.d)cc). 655 Hebeler, Verwaltungspersonal, S. 86; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, S. 212; vgl. auch Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, S. 37; Buschmann, in: FS Kempen, S. 255, 262; Greiner, DÖV 2013, 623, 630; siehe auch Sander, ZBR 2001, 391, 392. 656 Dies gilt sowohl für Rechtseinschränkungen, wie etwa das beamtenrechtliche Streikverbot, als auch für Begünstigungen, wie beispielsweise die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
dung von Beamtenverhältnissen auf statuswidrigen Funktionen hatte Isensee schon im Jahr 1971 als „dienstrechtlichen Formenmissbrauch“ kritisiert.657 Genau dies führt dazu, dass sowohl innerhalb der Beamtenschaft als auch in der Wahrnehmung nach außen keine klare sachlich-funktionale Zuordnung und damit auch Rechtfertigung der statusrechtlichen Besonderheiten mehr gegeben ist.658 Aus diesem beschäftigungspolitischen Missstand resultieren letztlich auch die oben beschriebenen Phänomene möglicher sozialer Spannungen innerhalb der Beamtenschaft sowie eines Akzeptanzverlusts der gesamten beamtenrechtlichen Institution. Die Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben und die damit verbundenen Systemanpassungen korrigieren die Folgen der statuspolitischen Fehlstellungen lediglich punktuell, nämlich bei der kollektivrechtlichen Stellung der Beamten. Bestehen bleiben die sonstigen Folgen, insbesondere sachlich-funktional nicht gerechtfertigte Schlechterstellungen bei den Beschäftigungsbedingungen von Arbeitnehmern auf gleichen Positionen, die nunmehr durch eine Stärkung der Rechtsposition der Beamten noch evidenter zu Tage treten.
II. Mögliche Gestaltungsoption Wird zwar ein rechtspolitischer Handlungsbedarf durch die Streikrechtseinführung für Beamte im nicht-hoheitlichen Bereich nach den vorstehenden Ausführungen nicht originär begründet, so hat sich dennoch gezeigt, dass ein solcher dem Grunde nach bereits gegenwärtig besteht. Auch die vorstehend herausgearbeiteten Kompatibilitätsschwierigkeiten zwischen den Systemen des Beamtenrechts und des Arbeitskampfrechts geben Anlass, längerfristig verwaltungsorganisatorische Gestaltungsalternativen zu erwägen. Ziel dieser muss es zum einen sein, sachlich nicht gerechtfertigte Unterscheidungen und Ungleichbehandlungen unter den Beschäftigten des öffentlichen Diensts zu vermeiden. Zum anderen ist eine möglichst systemschonende Umsetzung anzustreben. Systembedingte Kompatibilitätsschwierigkeiten wären indes nur insoweit gänzlich zu vermeiden, wie ein Fortbestehen der Trennung von Beamtenrecht und Arbeitskampfrecht erreicht 657 Isensee, Beamtenstreik, S. 101 ff.; Schinkel, ZBR 1974, 282, 283; Kersten (Neues Arbeitskampfrecht, S. 38) spricht von einem durch die Verwaltungswirklichkeit weichgespülten Art. 33 Abs. 4 GG. Vgl. auch das Beispiel bei Buschmann, in: FS Kempen, S. 255, 262. 658 Vgl. Regierungskommission NRW, Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 44 ff. Nicht umsonst zielen gewerkschaftliche Bestrebungen sowohl auf Seiten der Beamten als insbesondere auch auf Seiten der Arbeitnehmer und Angestellten häufig auf die Angleichung der Beschäftigungsbedingungen an die jeweils andere Bedienstetengruppe innerhalb eines Aufgabenbereichs. Beispielhaft können aus jüngster Zeit die im Jahr 2013 zahlreichen Streikmaßnahmen der angestellten Lehrer in Berlin zur Angleichung der Löhne an das beamtenrechtliche Besoldungsniveau angeführt werden. Auf der anderen Seite kritisieren Beamtengewerkschaften die unzureichende Übertragung der Tarifergebnisse 2013 auf die Beamtenbesoldung, Creutzburg, Weniger als der öffentliche Dienst, Länder kappen Gehaltserhöhungen für Beamte, FAZ Ausgabe vom 27.3.2013.
D. Rechts- und verwaltungspolitische Gestaltungsaspekte
293
würde. Unter Berücksichtigung dieser Prämissen liegt es nahe, die zukünftige Statuspolitik dahingehend umzugestalten, dass Beamtenverhältnisse wieder eine klare Rückkopplung an die von der Verfassung ursprünglich für sie vorgesehene Funktion der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse bekommen. Es bedarf somit einer Verkleinerung des Beamtenapparats ähnlich der bereits genannten Vorschläge einiger Stimmen in der Literatur.659 Gedanklicher Ausgangspunkt kann dabei allerdings nicht sein, den Beamtensektor entsprechend der Ausnahmevorschriften der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit auszugestalten, also konkret die Auslegung des Art. 33 Abs. 4 GG den Vorgaben des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK unterzuordnen. Die Reichweite des Funktionsvorbehalts als verwaltungsorganisatorischem Strukturprinzip ist ausschließlich im nationalen verfassungsrechtlichen Kontext zu bestimmen.660 Die vorstehende Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass es einer „Unterordnung“ des Verfassungsrechts unter das Konventionsrecht zur Übertragung der Vorgaben des Art. 11 EMRK überhaupt nicht bedarf. Vielmehr ist eine Berücksichtigung innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen möglich. Insbesondere Art. 33 Abs. 4 GG steht dem insoweit nicht entgegen. Im Gegenteil, schafften Gesetzgeber und öffentliche Arbeitgeber in Orientierung an Art. 33 Abs. 4 GG einen Gleichlauf zwischen Status und ausgeübten Funktionen, nämlich hoheitsrechtlichen Befugnissen, so könnte hierdurch gleichzeitig eine Übereinstimmung des statusrechtlichen Streikverbots mit den Vorgaben des Art. 11 Abs. 2 EMRK gewährleistet werden.661 Auch das BVerwG sieht die Beschränkung des Beamtenstatus auf den Bereich der „genuin hoheitlichen Verwaltung“ durch einen restriktiven Beamteneinsatz seitens der jeweiligen Dienstherren als mögliche Gestaltungsoption an.662 Das Gestaltungsmodell des Beamten mit Streikrecht käme danach lediglich noch in solchen Bereichen in Betracht, in denen Art. 11 Abs. 2 EMRK keinen zulässigen Ausschluss des Streikrechts vorsieht, Art. 33 Abs. 4 GG jedoch von einer hoheitsrechtlichen Befugnis ausgeht, welche grundsätzlich die Begründung eines Beamtenverhältnisses verlangt. Aber auch in einem solchen Fall belässt Art. 33 Abs. 4 GG dem öffentlichen Arbeitgeber einen ausreichenden Spielraum, um durch das Absehen von einer Verbeamtung einer Überschneidung von Status und Streikrecht vorzubeugen, sofern er dies für vorzugwürdig hält. Es zeigt sich somit, dass durch eine Rückanbindung der Statuspolitik an die verfassungsrechtliche Zielvorgabe des Art. 33 Abs. 4 GG zum einen eine Besei659 Oben Fn. 644; siehe auch Brinktrine, ZG 2013, 227, 238 f.; Landau, Steinkühler, DVBl. 2007, 133, 143. 660 Siehe oben Kapitel 3 B.III.2.b). Vgl. hierzu die kritische Würdigung des Vorschlags von Traulsen (JZ 2013, 65, 69) bei Lindner, JZ 2013,942, 943. 661 Vgl. oben Kapitel 3 B.III.2.b)bb)(3). Eine Reduzierung der Beamtenschaft auf Kernbereiche hoheitlichen Handelns lässt sich zudem als verwaltungspolitischer Trend in der überwiegenden Zahl der europäischen Nachbarstaaten verzeichnen, vgl. Demke, ZBR 2010, 109, 122. 662 BVerwG 27.2.2014 – 2 C 1/13, E 149, 177 = NVwZ 2014, 736, 741 f.
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Kap. 3: Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben
tigung beschäftigungspolitischer Fehlentwicklungen und Missstände in Form von sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlungen von Beschäftigten im öffentlichen Dienst erreicht würde.663 Zum anderen wäre aus konventionsrechtlicher Perspektive das statusrechtliche Streikverbot auf ein mit Art. 11 Abs. 2 EMRK zu vereinbarendes Maß beschränkt, sodass es letztlich in seiner bisherigen Form einheitlich fortbestehen könnte. Folglich bedürfte es auch nicht der vorstehend herausgearbeiteten Systemänderungen und -anpassungen im Beamtenrecht sowie im Arbeitskampfrecht,664 weshalb sich diese Vorgehensweise insgesamt als schonende rechtspolitische Gestaltungsoption darstellt.665 Faktisch wäre eine derartige Umstrukturierung und Neuausrichtung des öffentlichen Diensts jedoch erst nach Ablauf einer Übergangsphase vollständig abgeschlossen, da der Bestandsschutz der bereits beamtet Bediensteten zu beachten wäre. Auch wenn diese Aufgaben außerhalb des Funktionsvorbehalts wahrnehmen, könnte ihnen ihr Status nicht einfach rückwirkend entzogen werden.666 Vor diesem Hintergrund ist die Eingrenzung des Beamtentums zunächst keine eigenständige Alternative zur Erreichung einer konventionskonformen Streikrechtsgewährleistung im öffentlichen Dienst. Vielmehr steht sie als langfristige, „große“ rechtspolitische Gestaltungsmöglichkeit in einem zunächst komplementären und später ablösenden Verhältnis zu der streikrechtlichen Zweiteilung des Berufsbeamtentums.
663 Unter anderem aus diesen Gründen unterbreitete auch die Regierungskommission NRW (Zukunft des öffentlichen Dienstes, S. 147 ff.) einen vom Ansatz ähnlichen Reformvorschlag. 664 Dazu oben Kapitel 3 C.III. 665 So auch Seifert, EuZA 2013, 205, 218 f. 666 Traulsen, JZ 2013, 65, 70 ff.; Schubert, AöR 2012, 92, 106, 116.
Kapitel 4
Schlussbetrachtung Bevor im Folgenden ein abschließendes Fazit gezogen wird, seien zunächst noch einmal die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.
A. Zusammenfassung der Ergebnisse Zu Kapitel 2 1.
Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst sowohl die Koalitionen als Vereinigungen besonderer Art als auch die einzelnen Mitglieder, einschließlich den Beschäftigen im Staatsdienst der Mitgliedsstaaten.
2.
Eine ausdrückliche Gewährleistung des Streikrechts innerhalb Art. 11 Abs. 1 EMRK besteht nicht. Auch der EGMR ging zunächst nicht von einer gesonderten Garantie des Streikrechts als notwendigem Bestandteil gewerkschaftlicher Interessenverfolgung aus. Diese sah er „spezielleren“ Regelungswerken wie insbesondere Art. 6 Nr. 4 ESC vorbehalten.
3.
In dem Urteil in der Sache Demir und Baykara führte die Große Kammer des EGMR Art. 11 EMRK einer evolutiven Auslegung zu. Diese erfolgte unter Heranziehung der neben der Konvention bestehenden sonstigen internationalen und europäischen Rechtsquellen sowie der korrespondierenden Spruchpraxis der zur Interpretation berufenen Kontrollorgane. Der erweiterte Auslegungskontext ist sowohl bei der Bestimmung der Reichweite des Konventionsschutzes (Art. 11 Abs. 1 EMRK) als auch für die Bewertung der Zulässigkeit von Einschränkungen (Art. 11 Abs. 2 EMRK) zu berücksichtigen. Der Gerichtshof erkannte erstmals ein Arbeitnehmerrecht auf kollektives Verhandeln an.
4.
In der Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen erweiterte die 3. Sektion des EGMR den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK um die konkrete Gewährleistung des Streikrechts, welches er als weiteren wesentlichen Bestandteil der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit anerkannte. Hierdurch hob er das Schutzniveau der Konvention auf die Ebene der sonstigen internationalen und europäischen Regelungswerke zum Schutz sozialer Rechte. Gleichzeitig stellte er fest, dass das Streikrecht Einschränkungen unterworfen werden kann.
5.
In den nachfolgenden Entscheidungen bestätigten auch die übrigen Sektionen des EGMR die Anerkennung des Streikrechts im Rahmen der konven-
296
Kap. 4: Schlussbetrachtung
tionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit, weshalb nunmehr von einer gefestigten und konsolidierten Rechtsprechung ausgegangen werden kann. 6.
Nach den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK müssen Einschränkungen stets einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und die dabei gewählten Mittel müssen in einem angemessenen Verhältnis zur Verfolgung des legitimen Zwecks stehen. Generelle Streikverbote unterliegen einer strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle. Möglich sind sie in eng umgrenzten Bereichen, in denen ein für das Allgemeinwohl wesentlicher Dienst (sogenannter „essential service“) erbracht wird.
7.
Der besondere Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK modifiziert die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen für die der Angehörigen der Streitkräfte, Polizei und Staatsverwaltung. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich auf eine Rechtsmissbrauchskontrolle. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs bestimmt sich rein konventionsautonom. Angehörige der Staatsverwaltung sind solche Staatsbedienstete, die im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben direkt oder indirekt mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse der Staatsgewalt und der Verantwortung für die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates betraut sind. Neben der klassischen Eingriffsverwaltung kann dies auch die durch Hoheitsakt vollzogene leistende Verwaltung umfassen. Regelmäßig nicht dem Begriff der Staatsverwaltung unterfallen die Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Daseinsvorsorge durch Wirtschafts- und Industrieunternehmen des Staates sowie Aufgaben im Bildungssektor, insbesondere Lehrberufe.
8.
Trotz fehlender Verfahrensbeteiligung, entfaltet die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Orientierungswirkung für die deutsche Rechtsordnung. Das Konventionsrecht gilt dabei zunächst im Rang des einfachen Bundesrechts. Darüber hinaus gilt der durch das BVerfG geprägte Grundsatz, dass die Verfassung im Rahmen der Möglichkeiten anerkannter Interpretationsmethoden, völkerrechtsfreundlich auszulegen ist. Grenzen bilden sowohl der ausdrückliche Wortlaut, als auch implizite verfassungsrechtliche Wertungen und Grundsätze.
Zu Kapitel 3 1.
Die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, welche die Grenze der Koalitionsfreiheit der Beamten aus Art. 9 Abs. 3 GG im kollidierenden Regelungsgehalt des Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG in Form eines pauschalen Ausschlusses des Streikrechts begründet sieht, konstituiert einen Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK.
2.
Eine vollumfängliche Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK ist nicht möglich. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK erfasst lediglich einen Teil der deut-
A. Zusammenfassung der Ergebnisse
297
schen Beamten. Darüber hinaus bestehen auch abseits der hoheitlichen Staatsverwaltung beamtenrechtliche Streikverbote. Das statusbezogene Streikverbot stellt keine ausreichend differenzierende Regelung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK dar. Insbesondere eine Rechtfertigung der Streikverbote für beamtete Lehrer sowie die Beamten bei der Deutschen Bahn AG und der Postnachfolgeunternehmen scheidet sowohl nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 als auch Satz 2 EMRK aus. 3.
Einer Übertragung der konventionsrechtlichen Grundsätze auf die deutsche Rechtsordnung stehen weder ausdrückliche, noch implizite Verfassungsprinzipien entgegen; eine konventionsfreundliche Verfassungsauslegung ist möglich.
4.
Der in Art. 33 Abs. 4 und 5 GG enthaltene allgemeine Regelungsauftrag an den Gesetzgeber zur Ausgestaltung der Beamtenverhältnisse begründet nicht die generelle Unvereinbarkeit des Beamtenstreiks mit der Verfassung. Anstelle der Tarifbezogenheit sind Streikmaßnahmen der Beamten auf die Gestaltung der eigenen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu beschränken.
5.
Weder die allgemeine Treuepflicht noch die sonstige beamtenrechtliche Pflichtenstellung begründen die grundsätzliche Unzulässigkeit der Streikteilnahme. Das beamtenrechtliche Arbeitskampfarsenal ist auf die Durchführung von Streikmaßnahmen unter Ausschluss atypischer Arbeitskampfmittel zu beschränken.
6.
Das Alimentationsprinzip steht als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums einer konventionsfreundlichen Verfassungsauslegung nicht entgegen.
7.
Dem hergebrachten Grundsatz der Haupt- und Lebenszeitberufung ist kein verfassungsimmanentes Rezeptionshindernis für die Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben zu entnehmen. Insbesondere besteht kein strukturelles Ungleichgewicht der potentiellen Verhandlungspartner. Beamtenrechtliche Dienstbezüge sind im Falle der Streikteilnahme zu suspendieren.
8.
Es besteht kein abstraktes verfassungsrechtliches Gebot zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung.
9.
Art. 33 Abs. 4 GG statuiert eine Funktionsgarantie und gleichzeitig die Streikfestigkeit für die Aufgabenbereiche der „hoheitsrechtlichen Befugnisse“. Diese Verfassungsvorgabe ist einer konventionsfreundlichen Auslegung zugänglich.
10. Demokratieprinzip sowie Sozial- und Rechtsstaatsprinzip begründen keine verfassungsimmanenten Rezeptionshindernisse.
298
Kap. 4: Schlussbetrachtung
11. Das statusbezogene Beamtenstreikverbot ist eine tradierte Regelung des Beamtenrechts, als solche allerdings nicht in vollem Umfang ein strukturprägender Grundsatz des Berufsbeamtentums. Außerhalb des Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG statuiert auch Art. 33 Abs. 5 GG kein verfassungsrechtliches Streikverbot für die Beamtenschaft. 12. Die Übertragung der konventionsrechtlichen Vorgaben auf die deutsche Rechtsordnung und die damit verbundene Gewährleistung eines Streikrechts für bestimmte Beamtengruppen kann ausschließlich durch das BVerfG vollzogen werden. § 31 Abs. 1 BVerfGG steht einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung durch die Verwaltungsgerichte entgegen. 13. Den Beamtengewerkschaften ist ein echtes Verhandlungsrecht zur Ausgestaltung von Beschäftigungsbedingungen unter gleichzeitiger Wahrung des beamtenrechtlichen Gesetzesvorbehalts einzuräumen. 14. Die arbeitskampfrechtliche Ausgangssituation im Falle des Beamtenstreiks ist gekennzeichnet durch das Bestehen eines Paritätsdefizits zulasten des öffentlichen Arbeitgebers sowie eine erhöhte Drittbetroffenheit. Es bedarf gesetzlich zu regelnder Anpassungen des Beamtenrechts und der Beachtung erhöhter arbeitskampfrechtlicher Rechtmäßigkeitsanforderungen und -grenzen: • Dienstbezüge sind im Falle Streikteilnahme zu suspendieren, • Die Geltung von Friedenspflichten ist zu gewährleisten, • Beamtenstreiks sind als koalitionsspezifische Betätigungen auf die Verfolgung von Zielen zu beschränken, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beteiligten stehen. Weiter sind gesetzlich Verfahrensanforderungen festzuschreiben: • Es bedarf eines obligatorischen Schlichtungsversuchs auf Antrag einer Partei, • Streikmaßnahmen sind der Gegenseite und der Öffentlichkeit in angemessener Weise im Vorfeld anzukündigen, • die Einrichtung von Notdiensten ist sicherzustellen. 15. Die Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben begründet keine rechtlich relevante Ungleichbehandlung verschiedener Beschäftigungsgruppen im öffentlichen Dienst. 16. Als langfristige rechtspolitische Gestaltungsoption ist eine Verkleinerung des Beamtenapparats unter einer Rückanbindung der Statuspolitik an die verfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 33 Abs. 4 GG anzuvisieren.
B. Fazit und Ausblick
299
B. Fazit und Ausblick Zurückkommend auf die eingangs aufgeworfene Vorfrage Schinkels1 hat die vorstehende Untersuchung gezeigt, dass die konventionsrechtliche Anerkennung der Streikrechtsgarantie innerhalb des Art. 11 EMRK einen neuen, bei der Frage der Zulässigkeit des deutschen Beamtenstreikverbots zu beachtenden Aspekt darstellt. Erstmalig begründet der statusrechtliche Ausschluss des Arbeitskampfs als nationale Regelung einen Eingriff in das Konventionsrecht, welcher jedenfalls in seinem bisher durch die deutschen Rechtsanwendungsorgane praktizierten Umfang nicht gänzlich einer Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK zugeführt werden kann. Man könnte somit sagen, dass die „soziale Rechtswirklichkeit“ in Deutschland den europäischen Rechtsgewährleistungsstandards hinterherhinkt. Diese Feststellung ist im Grundsatz ebenso wenig neu wie notwendig. Nicht neu, weil die kontinuierliche Kritik der sonstigen internationalen und europäischen Überwachungspraxis bereits weit in die Vergangenheit zurück reicht.2 Nicht notwendig, da sich bei genauerer Betrachtung zeigt, dass sich auch in Deutschland Modernisierungen in der verwaltungsorganisatorischen Beschäftigungsstruktur längst ihre Bahnen gebrochen haben.3 Einzig eine dienst- bzw. arbeitskampfrechtliche Weiterentwicklung war hiermit bislang nicht verbunden.4 Die zugrundeliegenden Erwägungen sind dabei durchaus nachvollziehbar, möchte man doch keinesfalls das Berufsbeamtentum als demokratie- und rechtsstaatssichernde Errungenschaft unserer freiheitlichen Gesellschaft5 zugunsten eines wie auch immer gearteten dienstrechtlichen Reformbestrebens preisgeben.6 So vernünftig dieser Gedanke dem Ansatz nach auch sein mag, so unheilvoll gestaltet sich die aus ihm abgeleitete Reformrenitenz, wie es sich am Beispiel des Streikverbots für Beamte pars pro toto zeigt. Verknüpft man, wenn auch nur stillschweigend, mit dem Diskussionseinstieg um eine potentielle Veränderung des Beamtenrechts stets auch die Frage, ob das Berufsbeamtentum als solches noch seine Daseinsberechtigung hat, ist hiermit das Ergebnis eines jeglichen Reformansatzes von vornherein präjudiziert.
1
Oben Kapitel 1 B.III. Vgl. oben Kapitel 3 A.II.2.b)bb)(2). Das Konventionsrecht fungiert insoweit nunmehr als „Transmissionsriemen“ (Sagan, DB 2012, 11, 14) für das sonstige internationale Arbeitsrecht. 3 Siehe etwa zu den Privatisierungsprozessen oben Kapitel 3 B.III.2.b)bb)(2). 4 So kommt es insbesondere zu den besonders hervorgehobenen Friktionen zwischen der deutschen Rechtslage und dem Konventionsrecht bzgl. der Streikverbote für beamtete Lehrer sowie die Beamten bei der DB AG und den Postnachfolgeunternehmen, oben Kapitel 3 A.II.2.b). 5 Vgl. Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, Vorwort, S. 57. 6 Exemplarisch hierfür ist auch das herrschende – und vom Gesetzgeber wohl auch intendierte – Verständnis der Fortentwicklungsklausel in Art. 33 Abs. 5 GG, siehe Fn. 421. 2
300
Kap. 4: Schlussbetrachtung
Freilich ist das Streikverbot ein wesentlicher und tradierter Bestandteil des beamtenrechtlichen Status. Gleichwohl stellt nicht jede diesbezügliche Neuerung, hier etwa die partielle Öffnung des Statusrechts für die Arbeitskampffreiheit, die Existenzgrundlage des Beamtentums in Frage. Insoweit hat die vorliegende Untersuchung ein gegenteiliges Ergebnis ergeben. Denn weder verlangt das Konventionsrecht die Einführung eines undifferenzierten Streikrechts für alle deutschen Beamten oder gar die grundsätzliche Preisgabe des deutschen Berufsbeamtentums, noch führt die Übertragung der konventionsrechtlichen Grundsätze auf die deutsche Rechtsordnung und insbesondere die Verfassungsrechtsordnung zu einem solchen Ergebnis. Vielmehr wurde gezeigt, dass ein verfassungsrechtlicher Spielraum zur Einführung eines Streikrechts für einen Teil der Beamtenschaft besteht und dass das Gebrauchmachen von diesem Gestaltungsspielraum unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Vorgaben und gleichzeitiger Wahrung der beamtenrechtlichen Grundstrukturen nach Art. 33 Abs. 4 und 5 GG möglich ist. Literaturbeiträge aus der jüngeren Zeit beklagen vermehrt, der derzeitige Diskurs um die konventionsrechtliche Zulässigkeit des Beamtenstreikverbots liefe Gefahr, im Zuge eines institutionsvergessenen Denkens das deutsche Berufsbeamtentum „in vorauseilendem Gehorsam“ gegenüber dem EGMR zugunsten einer „individualistisch überhöhten Streikfreiheit“ aufzubrechen.7 Die vorliegende Bearbeitung versteht sich als Gegenbeweis zu dieser Annahme. Sie verortet den Kern der Problematik in der Zentralnorm des Beamtenrechts, Art. 33 Abs. 4 GG. Erfahren das Streikverbot oder gar langfristig die beamtenrechtliche Statuspolitik eine „konventionsfreundliche Rückanbindung“ an den verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalt für das Berufsbeamtentum, so kommt die Bundesrepublik Deutschland hiermit nicht nur ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach, welche ihr in ihrer Eigenschaft als Rechtsstaat obliegen.8 Sie besinnt sich darüber hinaus auch auf den Kernbestand der verfassungsrechtlichen Institution, was letztlich nicht zu deren Aufweichung sondern vielmehr zur Stärkung und Zukunftsfähigkeit des Berufsbeamtentums beitragen wird. Ob das BVerfG bzw. letztlich der Gesetzgeber diese Auffassung teilen werden, wird die weitere Entwicklung zeigen. Dass der EGMR sich jedoch aus Respekt vor der deutschen Verfassungsidentität im Wege einer „richterlichen Selbstbeschränkung“ („judicial self-restraint“ 9) der konventionsrechtlichen Bewertung 7 Lindner, JZ 2013, 942; Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, S. 38 f.; vgl. auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 33 ff. 8 Die Inkaufnahme eines dauerhaften Völkerrechtsverstoßes unter Verweis auf entgegenstehende, rechtsstaatsichernde nationale Verfassungsinstitutionen erscheint dagegen nach hier vertretener Auffassung kein zufriedenstellender Lösungsvorschlag, a. A. wohl Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, S. 59 f. 9 Brinktrine, ZG 2013, 227, 241 mit Verweis auf Landau/Trésoret, DVBl. 2012, 1329, 1338.
B. Fazit und Ausblick
301
des deutschen Beamtenstreikverbots enthält, ist dagegen weder mit Blick auf seine bisherige Rechtsprechungspraxis noch vor dem Hintergrund seines Selbstverständnisses als Hüter und Garant einheitlicher europäischer Menschenrechtsstandards zu erwarten. Gerade aufgrund der Verschiedenheiten der europäischen Beamtenrechtssysteme sowie deren unterschiedlicher Entwicklungsperspektiven10 versteht der EGMR die Unbeachtlichkeit der dem Konventionsrecht gegebenenfalls entgegenstehenden Verfassungstraditionen gewissermaßen als conditio sine qua non für die Wirksamkeit des Konventionsrechts.11 Auf kurze oder lange Sicht wird somit auch die Bundesrepublik Deutschland nicht davor bewahrt bleiben, sich ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zu stellen.
10 Das Spektrum reicht dabei von klassisch bürokratisch ausgerichteten Systemen bis hin zu überwiegend an Leistung und Effizienz ausgerichteten sog. postbürokratischen Systemen, Demke, ZBR 2010, 109, 110. 11 Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf das deutsche Arbeitsrecht 2012, S. 7.
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Stichwortverzeichnis Ankündigungspflicht 276 Arbeitskampffreiheit 165 Arbeitskampfparität 217, 264, 271, 273, 280 Auslegung Konventionsrecht – Evolutive Auslegung 49, 87, 134, 178 – Methodische Kritik 143 Aussperrung 220, 265, 273 Beamte – Deutsche Bahn AG 175, 179, 183, 221, 233 – Lehrer 28, 82, 116, 121, 175, 179, 183, 221, 233 – Polizei 169 – Postnachfolgeunternehmen 174, 179, 183, 221, 233 Beamtenpflichten – Allgemeine Treuepflicht 200 – Pflicht zur uneigennützigen Amtsführung 204 – Pflicht zur vollen Hingabe 208 Bestandsbeamte 262, 287, 292 Beteiligungsrechte 257, 261 Bindungswirkung 154, 159, 252 cooling-of-period 102, 278 Daseinsvorsorge 129, 140, 173, 183, 227, 230, 280 Demir und Baykara 47, 143 Demokratieprinzip 236 Einsatz von Beamten bei Streik 283 Enerji Yapi-Yol Sen 61, 83, 88 essential services 100, 138, 142, 182
Friedenspflicht 269 Funktionsvorbehalt 225, 244, 260, 291 Gebot der Staatsneutralität 264 Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums 29, 166, 188, 250 – Alimentationsprinzip 191, 208, 212 – Beamtenrechtlicher Gesetzesvorbehalt 189, 285 – Haupt- und Lebenszeitberufung 217 – Hoheitliche Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses 192 – Streikverbot 240 Hoheitsrechtliche Befugnisse 171, 227, 235, 261, 291 Konventionsfreundliche Auslegung siehe Völkerrechtsfreundliche Auslegung Notdienste 102, 183, 207, 280, 283 Prüfungsprogramm 139 Rechtsvergleichung 74, 132, 152 Schlichtungszwang 274 Schutzbereich – Art. 11 Abs. 1 EMRK 35, 37, 49, 62, 94 – Art. 9 Abs. 3 GG 164, 165 Soldaten 169 Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip 238 Streikrechtsgewährleistung – im nationalen Recht der Konventionsstaaten 74
Stichwortverzeichnis – unter dem IPWSKR und dem IPBPR 68 – unter dem Unionsrecht 72 – unter den ILO-Übereinkommen 64 – unter der EMRK 41, 61 – unter der ESC 66 – unter der GRC 69 Streikrechtsschranken – im nationalen Recht der Konventionsstaaten 132 – unter dem IPWSKR und dem IPBPR 131 – unter dem Unionsrecht 125 – unter den ILO-Übereinkommen 118 – unter der EMRK 93, 109, 134, 139, 169, 231 – unter der ESC 121
Tarifbezug 194, 259, 267 Tarifeinheit 260
Tarifautonomie 165, 257, 261, 264
Warnstreik 273
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Überwachungs- und Spruchpraxis – EASR 123, 176 – ILO-Ausschüsse 120, 176 – UN-Ausschüsse 131, 176 Urabstimmung 278 Verwaltung – Öffentliche Verwaltung i. S. v. Art. 45 Abs. 4 AEUV 125 – Staatsverwaltung i. S. v. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK 109, 137, 140, 170, 231 Völkerrechtsfreundliche Auslegung 157, 186, 231, 252, 260