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German Pages 815 [816] Year 2009
de Gruyter Lehrbuch
Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten Herausgegeben von
Dirk Ehlers Bearbeitet von Ulrich Becker Christian Calliess Dirk Ehlers Astrid Epiney Christoph Grabenwarter Jörg Gundel Stefan Kadelbach Thorsten Kingreen Thilo Marauhn
Eckhard Pache Hermann Pünder Matthias Ruffert Frank Schorkopf Christian Tietje Robert Uerpmann-Wittzack Christian Walter Bernhard W. Wegener Peter von Wilmowsky
3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
De Gruyter Recht · Berlin
Zitiervorschlag: z. B. Becker in: Ehlers, EuGR, 3. Aufl. 2009, § 9 Rn 54
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
ISBN 978-3-89949-624-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2009 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, 06773 Gräfenhainichen Druck und Bindearbeiten: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Umschlaggestaltung: deblik, Berlin
Vorwort zur dritten Auflage Wie die überaus rege Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zeigt, schreitet die Entfaltung der Europäischen Grundrechte und der Grundfreiheiten rasch voran. Die Neuauflage des Lehrbuches berücksichtigt die bis Anfang des Jahres 2009 publizierten Rechtsnormen, Materialien, Gerichtsentscheidungen und literarischen Abhandlungen. Teilweise konnten noch spätere Veröffentlichungen verarbeitet werden. Zum Zeitpunkt der Abgabe der Manuskripte stand noch nicht fest, ob der Vertrag von Lissabon in Kraft treten wird. Die Darstellung des Lehrbuchs orientiert sich am geltenden Recht, bezieht aber den Vertrag von Lissabon einschließlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durchgehend ein. Das Konzept des Lehrbuchs wurde beibehalten. Insbesondere wird auch in der dritten Auflage die systematische Betrachtungsweise, der sich das Buch verpflichtet weiß, durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts Erster Instanz sind nach der Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung zitiert worden. Soweit die Entscheidungen noch nicht in die Amtliche Sammlung aufgenommen wurden, wird auf die Veröffentlichung in einer gängigen Zeitschrift, ansonsten auf das Aktenzeichen verwiesen (Internetzugang: http://curia.europa.eu). Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind in erster Linie (ungeachtet des Umstandes, dass es sich nicht um amtliche Übersetzungen handelt) mit einer Fundstelle in der deutschsprachigen Literatur zitiert worden. Nachrangig wird auf die Amtliche Rechtsprechungssammlung zurückgegriffen. Diese wurde mehrfach umbenannt. Vor 1996 wurde die Bezeichnung Publications de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, Série A: Arrêts et décisions/Publications of the European Court of Human Rights, Series A: Judgments and Decisions, gewählt. Diese Reihe wird hier in der englischen Version „Series A“ zitiert. Ab 1996 wird von Recueil des Arrêts et Décisions/Reports of Judgments and Decisions gesprochen, wobei von 1996 bis 1998 die Abkürzung RJD 1998-VI, ab dem 1.11.1998 die Abkürzung ECHR 1999-VI gewählt wurde. Die Entscheidungen der früheren Kommission sind von 1960 (Band 1) bis 1974 (Band 46) veröffentlicht in: Collection of Decisions of the European Commission of Human Rights (CD); fortgeführt seit 1975 (Band 1) bis 1998 (Band 94) als Decisions and Reports, seit Band 76 aufgeteilt in Series A und B. In Series A finden sich die Entscheidungen in der Originalfassung, in der Serie B in der jeweiligen französischen oder englischen Übersetzung (hier zitiert als: DR). Nicht in den Amtlichen Sammlungen veröffentlichte Entscheidungen werden nach Beschwerdenummer und Entscheidungsdatum zitiert. Die Entscheidungen sind zumeist auch im Internet in der Datenbank (HUDOC) unter www.echr.coe.int auffindbar. Am Schluss des Buches sind alle berücksichtigten Entscheidungen in alphabetischer Reihenfolge zusammengestellt worden. Das gleiche trifft auf die besprochenen Fälle zu. Viele der zitierten Gerichtsentscheidungen sind in der Jura-Kartei (JK) der Ausbildungszeitschrift „JURA“ wiedergegeben und kommentiert worden. Die gesamte Kartei kann als CD-ROM beim Verlag bezogen werden. Die umfangreichen redaktionellen Arbeiten sind von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls durchgeführt worden. Ihnen sei auch an dieser Stelle vielmals gedankt. Besonders zu nennen sind Frau Anke Eggert und Frau Hanna Schmidt, welche die Arbeiten koordiniert haben.
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Vorwort
Für Stellungnahmen und kritische Hinweise sind Herausgeber und Autoren dankbar. Sie können auch auf elektronischem Wege übermittelt werden ([email protected]). Münster, im Mai 2009
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Dirk Ehlers
Aus dem Vorwort zur ersten Auflage Die ständig zunehmende Bedeutung des europäischen Rechts und die damit einhergehende Verdrängung, Überlagerung oder Ergänzung des nationalen Rechts betrifft nicht nur die Staaten in Europa, sondern auch und gerade die Bürger. In der reichlich vorhandenen Lehrbuchliteratur zum Europarecht spiegelt sich dies bisher nicht hinreichend wider. Es handelt sich fast durchweg um Gesamtdarstellungen des europäischen Gemeinschaftsrechts, welche sich schwerpunktmäßig mit den Institutionen befassen und die grundsätzlichen Rechtspositionen der Bürger eher am Rande streifen. Demgegenüber ist das vorliegende Buch nur den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten gewidmet. Es geht nicht nur um Ausdifferenzierung, sondern auch darum, der Perspektive von oben diejenige von unten an die Seite zu stellen und den Bürgern und ihren Rechten in Europa mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eingegangen wird nicht nur auf das europäische Gemeinschaftsrecht, sondern auch auf die – immer wichtiger werdende – Europäische Menschenrechtkonvention. Ferner befasst sich ein Kapitel mit der Europäischen Charta der Grundrechte. Auch wenn dieser Charta bisher keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, wird sie doch nachhaltig die europäische Grundrechtsentwicklung beeinflussen. Das Buch wendet sich in erster Linie an Studierende und Referendare. Gemäß ihrer großen Bedeutung sind die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten heute in allen Bundesländern Bestandteile der Pflichtfächer im ersten und zweiten juristischen Examen. Die Konzeption des Lehrbuches ist eine dreifache. Zum einen ist es das Bemühen der Autoren gewesen, die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten auf der Grundlage einer systematischen Durchdringung darzustellen. So sind den Einzeldarstellungen die allgemeinen Lehren vorangestellt worden. Auch wird einheitlich zwischen Schutzbereich, Beeinträchtigung und Rechtfertigung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten unterschieden, wobei die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Gemeinschaftsgrundrechte nach Sachbereichen zusammengefasst wurden. Des Weiteren wurde ungeachtet der Notwendigkeit, den komplexen Stoff zu reduzieren, die Absicht verfolgt, die wesentlichen Problemstellungen der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten zu behandeln. Hierbei haben sich gewisse Überschneidungen nicht vermeiden lassen. So versteht es sich von selbst, dass die im Rahmen der allgemeinen Lehren behandelten Fragestellungen bei der Darstellung der Einzelgrundrechte und Grundfreiheiten wieder auftauchen. Auch bestehen wegen der Bezugnahme des Gemeinschaftsrechts auf die Europäische Menschenrechtskonvention enge Verbindungen zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention. Herausgeber und Autoren haben versucht, dem Überlappen der Problemstellungen durch Vernetzung der Beiträge Rechnung zu tragen. Schließlich liegt dem Buch ein einheitliches didaktisches Konzept zu Grunde, weil abgesehen von der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten die systematische Betrachtungsweise in allen Beiträgen durch eingearbeitete Fälle und Lösungen ergänzt wird. Die zumeist der Rechtsprechung entnommenen Fälle und Lösungen sollen nicht nur zur Veranschaulichung beitragen, sondern auch den Leser in die Lage versetzen, sich den Stoff selbstständig zu erarbeiten und auf einen Lebenssachverhalt anzuwenden. Sie dienen damit zugleich der Selbstkontrolle. Das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit von 17 Autoren. Der Herausgeber dankt den Verfassern, dass sie zur Verwirklichung des Unterfangens bereit waren, sich in eine von
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Vorwort
ihm entworfene Gesamtkonzeption einzufügen und auch terminlich einzubringen. Dass eine so große Zahl von Autoren ein Wagnis ist, war den Beteiligten von vornherein klar. Alle Mitwirkenden hoffen aber, dass trotz aller Unterschiede im Einzelnen ein Ganzes entstanden ist, das nicht nur für die Auszubildenden eine Hilfestellung darstellt, sondern auch allen sonstigen mit dem Europarecht befassten Institutionen und Personen und damit zugleich der Praxis Anregungen zu geben vermag. Münster, im Mai 2002
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Dirk Ehlers
Autoren- und Inhaltsübersicht 1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee Dr. Christian Walter Professor an der Universität Münster § 1 Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Teil: Die Europäische Menschenrechtskonvention Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 2 Allgemeine Lehren der EMRK
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Dr. Robert Uerpmann-Wittzack Professor an der Universität Regensburg § 3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot
25
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Dr. Thilo Marauhn Professor an der Universität Gießen § 4 Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
Dr. Bernhard W. Wegener Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg § 5 Wirtschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
Dr. Dr. Christoph Grabenwarter Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien § 6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaften Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 7 Allgemeine Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. Astrid Epiney Professorin an der Universität Freiburg, Schweiz § 8 Freiheit des Warenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270
Dr. Ulrich Becker Professor an der Universität München Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht § 9 Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Dr. Christian Tietje Professor an der Universität Halle § 10 Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
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Autoren- und Inhaltsübersicht
Dr. Eckhard Pache Professor an der Universität Würzburg § 11 Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Dr. Peter v. Wilmowsky Professor an der Universität Frankfurt § 12 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . .
402
Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 13 Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit
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434
Dr. Dirk Ehlers Professor an der Universität Münster § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
443
Dr. Frank Schorkopf Professor an der Universität Göttingen § 15 Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
485
Dr. Frank Schorkopf Professor an der Universität Göttingen § 16.1 Höchstpersönliche Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
506
Dr. Hermann Pünder Professor an der Bucerius Law School, Hamburg § 16.2 Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
Dr. Matthias Ruffert Professor an der Universität Jena § 16.3 Grundrecht der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
574
Dr. Christian Calliess Professor an der Freien Universität Berlin § 16.4 Eigentumsgrundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
593
Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 17 Gleichheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
619
Dr. Thorsten Kingreen Professor an der Universität Regensburg § 18 Soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
640
4. Teil: Die Grundrechte der Europäischen Union
5. Teil: Die europäischen Bürgerrechte Dr. Stefan Kadelbach Professor an der Universität Frankfurt § 19 Unionsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autoren- und Inhaltsübersicht
Dr. Jörg Gundel Professor an der Universität Bayreuth § 20 Justiz- und Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
685
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Inhaltsverzeichnis Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten Autoren- und Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXV
ERSTER TEIL Die europäische Grundrechtsidee §1
Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz
1
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1
II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK . . . 1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK . 2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen . . . .
2 3 8
III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Frühe Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte 3. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK . . . . . . . . . . . 4. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht und die Europäische Grundrechts-Charta . . . . . . 5. Der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . IV. Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte . . . . . . . . . . . 2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzung der Personenverkehrsfreiheit um Rechte aus der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten . . . . . . . . V. Auswirkungen des Vertrages von Lissabon
10 10 10 13 14 16 17 18 19 20 21
. . . . . . . . . . . . . .
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VI. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
ZWEITER TEIL Die Europäische Menschenrechtskonvention §2
Allgemeine Lehren der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz . . . . . . . . 2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK . . . . . . . . . . . . 3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bedeutung der EMRK für das Europäische Unions- und Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 35 36 37 38 39 41 41 43
III. Auslegung der Konventionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . .
44
IV. Berechtigte der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . .
47 47 48 53
VI. Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
VII. Zeitliche Geltung der EMRK
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VIII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte . 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anwendbarkeit der Konvention . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) der Konventionsrechte 4. Eingriff, Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtfertigung des Eingriffs bzw der Beschränkung . . . . . . 6. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
XIV
25 26 28
II. Funktionen der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährleistungen des status negativus (Abwehrrechte) . . . . . . 2. Gewährleistungen der Rechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewährleistungen des status positivus (Leistungsrechte) . . . . . 4. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche Rechte) . . . 5. Gewährleistung des status activus processualis (Verfahrensrechte) 6. Konventionsrechte als Elemente objektiver Ordnung . . . . . . .
V. Verpflichtete der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . 1. Konventionsstaaten des Europarates . . . . . . . . . . . 2. Internationale und supranationale Organisationen . . . 3. Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§3
25
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56
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56 56 57 58 58 59 63
IX. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsschutz durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . .
64 64 79
Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . .
81
I. Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz (Art 8 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) . .
81 82 93
Inhaltsverzeichnis
§4
II. Schutz der persönlichen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK) . . . . . . . . . . . . 2. Recht auf Leben (Art 2 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 101
III. Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK . . 2. Spezielle Gleichheitsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107 108 111
Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit . . 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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114 115 122 125
III. Versammlungsfreiheit . . 1. Schutzbereich . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . .
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139 140 141 142
IV. Vereinigungsfreiheit . . 1. Schutzbereich . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . .
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144 144 145 145
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147 148 150 151
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152
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
V. Koalitionsfreiheit 1. Schutzbereich 2. Eingriff . . . . 3. Rechtfertigung VI. Zusammenfassung §5
Wirtschaftsgrundrechte
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II. Schutz des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie . . . . . . . 2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts . . . . . . 3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen . 4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK
. . . . .
155 156 161 165 175
. . . . . . . . . . . . . . .
176
IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . .
177
III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien
§6
96
Justiz- und Verfahrensgrundrechte
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179
I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) . . . . . . . . . 1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Eingriffstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179 180 181
XV
Inhaltsverzeichnis
3. Rechte der festgenommenen Person . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewährleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187 190
II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren von Gerichten . 1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . 2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung . . . . . . . . 4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung . . . . . 5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK)
190 190 201 203 204 205
III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen . . . .
205
IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
DRITTER TEIL Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaften §7
Allgemeine Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die einzelnen Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten . . . . . . 5. Vorrang der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Dogmatik der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
209 209 210 212 214 215
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215 218
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218 219 223 226 228 229
III. Berechtigte der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger) . . . . . . 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drittstaatler sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
230 230
.
231
.
233
IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . 1. Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften 2. Europäische Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . 3. Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
234 234 235 236
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239
VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . .
240
II. Funktionen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . 1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte . . . . . . 2. Grundfreiheiten als Freiheitsrechte . . . . . . . . 3. Grundfreiheiten als Leistungsrechte . . . . . . . 4. Grundfreiheiten als Verfahrensrechte . . . . . . . 5. Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung
V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten
XVI
209
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Inhaltsverzeichnis
VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten . . . 3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten . . 4. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
§8
. . . . .
241 241 247 254 266
VIII. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . 2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EG-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267 267 269
Freiheit des Warenverkehrs
270
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Schutzbereich . . . . . . . . . 1. Räumlicher Schutzbereich 2. Sachlicher Schutzbereich . 3. Persönlicher Schutzbereich
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271 271 271 274
II. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 28 EGV/34 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278
III. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . 1. Bereichsübergreifende Aspekte . . . 2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe 3. Ungeschriebene Schranken . . . . . 4. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . §9
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278 287
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288 289 297 298 299
Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
I. Schutzbereich . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . 2. Sachlicher Schutzbereich . 3. Persönlicher Schutzbereich 4. Konkurrenzen . . . . . . .
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306 306 307 318 321
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322 322 324 326
III. Rechtfertigung . . . . . . . . 1. Geschriebene Schranken . 2. Ungeschriebene Schranken 3. Schranken-Schranken . . .
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327 327 328 330
II. Beeinträchtigung . . . . . . 1. Diskriminierungen . . . 2. Beschränkungen . . . . . 3. Adressaten . . . . . . . .
XVII
Inhaltsverzeichnis
§ 10
Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Zusammenspiel von gemeinschafts- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
II. Schutzbereich . . . . . . . . 1. Räumlicher Schutzbereich 2. Personeller Schutzbereich 3. Sachlicher Schutzbereich 4. Bereichsausnahmen . . .
§ 11
335
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337 337 338 338 349
III. Beeinträchtigung . . . . . . . . . 1. Diskriminierungen . . . . . . 2. Beschränkungen . . . . . . . . 3. Beeinträchtigung durch Private
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351 352 354 356
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
V. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gem Art 48 EGV (Art 54 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht . . . 3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des EG-Vertrages . . . . . . . . 4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht 5. Neue Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 . .
366
IV. Rechtfertigung
. . . . . . . . .
332
II. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . 1. Räumlicher Schutzbereich . . . 2. Personeller Schutzbereich . . . . 3. Sachlicher Schutzbereich . . . .
XVIII
. . . .
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366 367 368 369 370
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371 371 371 374
III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs . . 1. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierung . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkungen . . . . . . . . . . . .
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380 381 382 384
IV. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke . . . 2. Ungeschriebene Schranken . . . . . . . . . . 3. Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . .
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387 387 389 390
V. Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit 1. Sport im Lichte der Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . 2. Weitere bedeutende Entscheidungen des EuGH . . . . . . . 3. Die Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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. . . .
393 393 398 399
Inhaltsverzeichnis
§ 12
Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs
. . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapitalverkehr . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten 3. Grenzübertritt . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zahlungsverkehr . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
402 402 404 405 406
II. Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407
III. Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Gemeinschaft: Die Schutzgüter des Art 58 EGV (Art 65 AEUV) und die zwingenden Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
410
IV. Einzelne Regelungsfelder . . . . . . . . . . . . . 1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen 2. Unternehmensrecht . . . . . . . . . . . . . . 3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten . . . 4. Währungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Recht des Grundstücksverkehrs . . . . . . . 6. Kreditsicherungsrecht . . . . . . . . . . . . .
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412 412 418 420 421 422 427
. .
429
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429 430 431
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432
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433
Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . .
434
I. Rechtsquellen und systematische Einordnung . . . . . . . . . . . . .
434
II. Prüfungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435 435 439
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V. Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten . . . . . . . 1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 57 EGV (Art 64 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Befristete Beschränkungen nach Art 59 EGV (Art 66 AEUV) 3. Wirtschaftssanktionen nach Art 60 EGV (Art 75 AEUV) . . 4. Weiter reichende Auslegung des Art 58 EGV (Art 65 AEUV) und der zwingenden Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . VI. Schluss § 13
. . . . .
402
. . . . . . .
VIERTER TEIL Die Grundrechte der Europäischen Union § 14
Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eigenart und Stellung der Unionsgrundrechte im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendigkeit der Gewährleistung von Grundrechten auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geltungsgrund der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . .
443 443 443 444 445
XIX
Inhaltsverzeichnis
4. Verhältnis der Unionsgrundrechte zu anderen grundrechtlichen Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verhältnis der Unionsgrundrechte zu den internationalen Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . 7. Begleitender Grundrechtsschutz durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
447
. .
453 455
.
459
II. Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen . . . . . . . . .
459
III. Funktionen der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . 1. Gewährung von Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . 2. Gewährung von Gleichheitsrechten . . . . . . . . . 3. Gewährung von Leistungsrechten . . . . . . . . . . 4. Gewährung von Unionsbürgerrechten . . . . . . . . 5. Gewährung von Verfahrensrechten . . . . . . . . . . 6. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung 7. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen . . . . . . .
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. . . . . . . .
459 459 460 461 462 462 463 463
IV. Berechtigte der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Personen und Personenmehrheiten . . . . . . . . . . .
463 464 464
V. Verpflichtete der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Union und Europäische Gemeinschaften . . . 2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . 3. Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . .
. . . .
466 466 467 469
VI. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte .
470
VII. Gewährleistungen und Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte 1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte 5. Schematische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
471 471 472 474 475 481
VIII. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
482 482
IX. Weitere Formen des Schutzes von Grundrechten in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15
Würde des Menschen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Menschenwürde . . . . . 1. Schutzbereiche . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . 3. Rechtfertigung . . . . .
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II. Recht auf Leben und Unversehrtheit
XX
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484 484 485
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486 486 489 490
. . . . . . . . . . . . . . . . .
491
Inhaltsverzeichnis
1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491 495 495
III. Verbot der Folter, Sklaverei und der Zwangsarbeit 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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497 498 500 500
IV. Recht auf Asyl und Schutz des Aufenthalts 1. Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . .
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500 501 504 504
§ 16.1 Höchstpersönliche Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
506
I. Freiheit und Sicherheit 1. Schutzbereich . . . 2. Beeinträchtigung . 3. Rechtfertigung . . .
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506 507 509 509
II. Schutz der Privatsphäre . . 1. Schutzbereich . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . .
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510 512 515 515
III. Schutz personenbezogener Daten 1. Schutzbereich . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . .
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518 518 521 521
IV. Recht auf Ehe und Familie 1. Schutzbereich . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . 3. Rechtfertigung . . . . .
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523 524 526 526
V. Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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527 527 529 530
§ 16.2 Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
I. Bedeutung, Rechtsgrundlagen und Funktion der europäischen Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
II. Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit . . . 1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereiches . . . . . 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . . . .
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533 534 536 544 545
XXI
Inhaltsverzeichnis
III. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit . . . . . . 1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen des Schutzbereiches . . . . . 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . . . .
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552 553 554 561 563
IV. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . 1. Die Normierung des Art 13 GRCh im Überblick 2. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs . . . . . . . 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen . . . . .
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566 567 568 572 573
§ 16.3 Grundrecht der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
574
I. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
574
. . . . . .
574 579 585
II. Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
586
III. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schranken der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anforderungen an eine gemeinschaftsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
587 588
IV. Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16.4 Eigentumsgrundrecht
593
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
593
III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts . . . . 3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs . . . . . . . 4. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
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594 599 603 603 603 606 611
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617
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619
I. Überblick und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Transnationale Integrationsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Supranationale Legitimationsnormen . . . . . . . . . . . . . . .
619 619 620
Gleichheitsgrundrechte
. . . . .
593
. . . . .
IV. Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes
XXII
591
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 17
588
Inhaltsverzeichnis
II. Normstruktur und Prüfungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der allgemeine Gleichheitssatz . 1. Ungleichbehandlung . . . . 2. Rechtfertigung . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen eines Verstoßes
. . . .
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622 622 623 624
. . . . . .
624 625
. . .
626
. . .
639
Soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
640
I. Solidarität und soziale Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
640
II. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechte und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
641 641 643
III. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
646
IV. Besondere Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtdiskriminierung, Art 21 GRCh . . . . . . . . . . . . . 2. Gleichheit von Männern und Frauen, Art 141 I EGV (Art 157 I AEUV), Art 23 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechte des Kindes (Art 24 GRCh); Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh); Integration von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18
. . . .
. . . .
621
FÜNFTER TEIL Die europäischen Bürgerrechte § 19
Unionsbürgerrechte
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
648
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
648
II. Die Unionsbürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Regelungen des EG-Vertrages zur Unionsbürgerschaft . . . .
649 649 651
III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft . . 1. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . 2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft . 3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft . . . .
653 654 656 659
IV. Die Unionsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Recht diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 20 EGV/23 AEUV) . . . . . . . . . . . . . 4. Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV/18 AEUV) . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
660 660 664
. . . . . . . . .
673
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676
V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
682
XXIII
Inhaltsverzeichnis
§ 20
Justiz- und Verfahrensgrundrechte
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts . 3. Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
685
. . . . . .
685 686 689
II. Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den Gemeinschaftsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensgrundrechte vor den Gemeinschaftsgerichten . . . . . III. Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts an die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit der Justiz- und Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 10 EGV) . . . . . . . IV. Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EG-Kommission 1. Gestufte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten“ Entscheidungen . . . . . V. Zusammenfassung
685
689 689 696 705 705 708 709 715 715 717
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
719
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte . . . . . . .
721
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften . . . . . . .
736
Zusammenstellung der besprochenen Fälle
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
762
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
765
XXIV
Abkürzungsverzeichnis Hinweis: Die Abkürzungen werden immer nur in der Grundform verwendet (auch wenn im Text der Genitiv oder Plural gebraucht wird).
A a aA aaO abgedr abl ABl Abs Abschn abw aE AEMR aF AfP AJCL AJIL AktG allgem allgM Alt aM amtl Begr and Änd ÄndG Anh Anl Anm Ans ao AöR ARB ArbR ArbuR arg Art AS AT AuA Aufl ausf AuslG AVR
auch anderer Ansicht am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Amtsblatt Absatz Abschnitt abweichend am Ende Allgemeine Erklärung für Menschenrechte alte Fassung Archiv für Presserecht American Journal of Comparative Law American Journal of International Law Aktiengesetz allgemein allgemeine Meinung Alternative andere(r) Meinung amtliche Begründung anders Änderung Gesetz zur Änderung (von) Anhang Anlage Anmerkung Ansicht außerordentlich Archiv des öffentlichen Rechts Assoziationsratsbeschluss Arbeitsrecht Arbeit und Recht Argument Artikel Amtliche Sammlung Allgemeiner Teil Arbeit und Arbeitsrecht Auflage ausführlich Ausländergesetz Archiv des Völkerrechts
XXV
Abkürzungsverzeichnis
AWG AWV Az
Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftsverordnung Aktenzeichen
B b B bad-württ BAG BAnz BAT BauGB BayVBl BayVGH BBankG Bd Bde Begr begr Beil Bek Bekl Bem ber bes betr BetrVG Bf BGB BGBl BGH BImSchG BIP bish BKR BR-Drs BS BSHG Bsp bspw BT-Drs Buchst Bull EG Bull EU BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE
bei Bund(es) baden-württembergisch Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Bundesangestelltentarifvertrag Baugesetzbuch Bayerische Verwaltungsblätter Bayrischer Verfassungsgerichtshof Gesetz über die Deutsche Bundesbank Band Bände Begründung begründet Beilage Bekanntmachung Beklagter Bemerkung berichtigt besonders, besondere betreffend Betriebsverfassungsgesetz Beschwerdeführer Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundes-Immissionsschutzgesetz Bruttoinlandsprodukt bisher(ige) Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesrats-Drucksache Beamtenstatut Bundessozialhilfegesetz Beispiel beispielsweise Bundestags-Drucksache Buchstabe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassungsgericht amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverwaltungsgericht amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerwG
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
bzgl bzw C ca CD CDE CLMR CMLRev D DB DDR dens ders dgl dh dies Dok DÖV DR Drs dt DuD DVBl E E EAG EAGV ebd EC ECHR ed(s) EG EGBGB EGKS EGKSV EGMR EGV EG-VO EHRLR Einf Einl EJIL
bezüglich beziehungsweise
circa Collections of Decisions, Sammlung der Entscheidungen der EKMR Cahiers de droit européen Common Market Law Reports Common Market Law Review
Der Betrieb Deutsche Demokratische Republik denselben derselbe dergleichen das heißt dieselben Dokument Die Öffentliche Verwaltung Décisions et Rapports der Europäischen Kommission für Menschenrechte Drucksache deutsch Datenschutz und Datensicherheit Deutsches Verwaltungsblatt
Entscheidung Europäische Atomgemeinschaft EAG-Vertrag ebenda European Community European Court Of Human Rights editor(s)/edition Europäische Gemeinschaft(en) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuches Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EG-Verordnung European Human Rights Law Review Einführung Einleitung European Journal of International Law
XXVII
Abkürzungsverzeichnis
EKMR ELJ ELR ELRev EMRK EMRK-E
EWR EWS EZB
Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Journal European Law Reporter European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Entwurf der Europäischen Menschenrechtskonvention (14. Zusatzprotokoll) endgültig englisch entsprechend Entwurf Europäisches Parlament European Public Law Europarecht Ergänzungsband Erläuterung(en) Entscheidungssammlung Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken et cetera European Treaty Series Europäische Union Gericht 1. Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäisches Gemeinschaftsrecht Europäische Grundrechte-Zeitschrift Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.10.1968 (BGBl. 1972 II 774) Europarecht (Zeitschrift) Europäische Atomgemeinschaft europäisch Europawahlgesetz Europawahlrichtlinie Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank
F f ff FAZ FG
folgende fortfolgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Finanzgericht
endg engl entspr Entw EP EPL ER ErgBd Erl ES EStG ESZB etc ETS EU EuG EuGH EuGR EuGRZ EuGVÜ
EuR EURATOM europ EuropawahlG EuropawahlRL EUV EuZW EWG EWGV
XXVIII
Abkürzungsverzeichnis
Fn franz FS
Fußnote französisch Festschrift
G GA GAP GASP GATS GATT GBl GBO geänd gem Ges GG ggf glA GmbH GmbHR GO GRCh grds grundl GS GV GVBl GVG GWB GYIL
Generalanwalt Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Grundbuchordnung geändert gemäß Gesetz Grundgesetz gegebenenfalls gleicher Ansicht Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH Rundschau Geschäftsordnung Grundrechts-Charta grundsätzlich grundlegend Gedächtnisschrift Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen German Yearbook of International Law
H hA Halbs HandwO Hdb HdBEUWirtschR Hervorh hess Hinw hL hM HRLJ Hrsg
herrschende Ansicht Halbsatz Handwerksordnung Handbuch Handbuch für Europäisches Wirtschaftsrecht Hervorhebung hessisch Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber
I ICLQ idF
International and Comparative Law Quarterly in der Fassung
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
idR idS iE ieS ILM im allg InfAuslR insb insg IntGesR IPbürgR IPR IPrax IPwirtR iS(v) iSd iSe iVm iVz IWF iwS iZw
in der Regel in diesem Sinne im Ergebnis im engeren Sinne International Legal Materials im allgemeinen Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere insgesamt Internationales Gesellschaftsrecht Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privatrechts Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Sinne (von) im Sinne des/der im Sinne einer/eines in Verbindung mit im Verhältnis zu Internationaler Währungsfonds in weiterem Sinne im Zweifel
J JBl jew JK JöR JTDE JURA JuS JZ
Juristische Blätter jeweils JURA – Karteikarte Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal des Tribunaux – Droit européen Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung
K Kap KJ Kl KOM Komm KommunalwahlRL KonsG krit KritV KSZE KWahlG
XXX
Kapitel Kritische Justiz Kläger Europäische Kommission Kommentar Kommunalwahlrichtlinie Konsulargesetz (BGBl I 2317) kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kommunalwahlgesetz
Abkürzungsverzeichnis
L lfd LGBl. lit Lit LS lt LV
laufend Landesgesetzblatt Buchstabe Literatur Leitsatz laut Literaturverzeichnis
M m Hinw m krit Anm m zust Anm Maastr JECL maW mE MLR mwN
mit Hinweis(en) mit kritischer Anmerkung (von) mit zustimmender Anmerkung Maastricht Journal of European and Comparative Law mit anderen Worten meines Erachtens Modern Law Review mit weiteren Nachweisen
N Nachw NATO NdsVBl nF NJW Nov Nr NV
NW NZA NZZ
Nachweis(e) North Atlantic Treaty Organization Niedersächsische Verwaltungsblätter neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Novelle Nummer Naamloze Vennootschap (niederländisch für Aktiengesellschaft) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Arbeits -und Sozialrecht Neue Züricher Zeitung
O o O oa oä OECD og oJ ÖstGewO OSZE oV
oben Ordnung oben angegeben oder ähnlich Organization for Economic Cooperation and Development oben genannt ohne Jahr österreichische GewO Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ohne Verfasser
NVwZ NVwZ-RR
XXXI
Abkürzungsverzeichnis
P phG PJZS Prot
persönlich haftender Gesellschafter polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Protokoll
R RA RabelsZ RAussch RdA RdErl Rdschr Reg Rep Rev rh-pf RIW RJD RL RMC Rn Rs Rspr Rspr-Nachw RUDH
Rechtsanwalt Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rechtsausschuß Recht der Arbeit Runderlaß Rundschreiben Regierung Reports of Judgments and Decisions Review rheinland-pfälzisch Recht der internationalen Wirtschaft Reports of Judgement and Decision Richtlinie Revue du Marché Commun Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Rechtsprechungsnachweise Revue Universelle des Droits de l’Homme
S s S sa so su sächs sachs-anh Sart SGb SGB Slg sog Sp st StGB StR str stRspr StuB StuW SZ
siehe Seite, Satz siehe auch siehe oben siehe unten sächsisch sachsen-anhaltisch Sartorius Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH sogenannt(e) Spalte ständige Strafgesetzbuch Steuerrecht strittig, streitig ständige Rechtsprechung Steuern und Bilanzen Steuer und Wirtschaft Süddeutsche Zeitung
XXXII
Abkürzungsverzeichnis
T Tz
Textziffer
U u uä ua UAbs. uam Überbl Übk üM umstr UN unstr UNTS unv Urt US usw UTR uU uVm UWG
unten und ähnliche unter anderem, und andere Unterabsatz und anderes mehr Überblick Übereinkommen überwiegende Meinung umstritten United Nations unstreitig/unstrittig United Nations Treaty Series unveröffentlicht Urteil United States Reports (Cases Adjuged in the Supreme Court) und so weiter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen und Verschiedenes mehr Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
V v VB verb Rs Verf VerfGH VerfO EMRK Vers VG VGH BW VGH vgl vH VK VO Vol Voraufl Vorbem VR VSSR VVDStRL
vom/von Verfassungsbeschwerde verbundene Rechtssache Verfassung Verfassungsgerichtshof Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Versicherung Verwaltungsgericht Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg Verfassungsgerichtshof vergleiche vom Hundert Vereinigtes Königreich Verordnung Volume Vorauflage Vorbemerkung Völkerrecht Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis
VVE VwGO W w Nachw b WM
Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsgerichtsordnung
WVK WWU
weitere Nachweise bei Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift für Wirtschaftsund Bankrecht Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz World Trade Organisation Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24.4.1963 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Wirtschafts- und Währungsunion
Y YB YEL
Yearbook of the European Convention on Human Rights Yearbook of European Law
WpÜG WTO WuB WÜK
Z z ZaöRV ZAP ZAR zB ZeuP ZEuS ZfA ZfBR ZfV ZG ZGR ZHR ZIAS Ziff ZIP zit ZP ZPO ZRP zT ZUM ZUR zust zutr ZVglRWiss zZ
XXXIV
zum Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Verwaltungsrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zusatzprotokoll Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil Zeitschrift für Urheber und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft zur Zeit
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Arndt, Hans-Wolfgang/ Fischer, Kristian
Europarecht, 9. Aufl, Heidelberg 2008 (zit: Arndt/Fischer ER)
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Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre. Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, Köln ua 1995 (zit: Bleckmann VRL)
Bleckmann, Albert
Europarecht, 6. Aufl, Köln/Berlin/Bonn/München 1997 (zit: Bleckmann ER)
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Fälle und Lösungen zum Völkerrecht. Übungsklausuren mit gutachterlichen Lösungen und Erläuterungen, 2. Aufl, Stuttgart 2005 (zit: Blumenwitz/Breuer VR)
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Borchardt, Klaus-Dieter
Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3. Aufl, Heidelberg 2006 (zit: Borchardt EU)
Buergenthal, Thomas/Doehring, Karl/Kokott, Julianne/ Maier, Harold G
Grundzüge des Völkerrechts, 3. Aufl, Heidelberg 2003 (zit: BDKM, VR)
Calliess, Christian/ Ruffert, Matthias (Hrsg)
Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 3. Aufl, Neuwied 2007 (zit: Bearbeiter in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV)
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Das Recht der Europäischen Gemeinschaften. Bd I. Das Institutionelle Recht, Baden-Baden 1977 (zit: Constantinesco EG I)
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Europarecht, München 1996 (zit: Emmert ER)
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Europarecht, 2. Aufl, Köln ua 2008 (im Erscheinen, ca April 2008) (zit: HG Fischer ER I)
Fischer, Hans Georg
Europarecht. Grundlagen des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit deutschem Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl, München 2001 (zit: HG Fischer ER II)
Fischer, Klemens H
Der Vertrag von Lissabon. Text und Kommentar zum Europäischen Reformvertrag, Baden-Baden 2008 (zit: KH Fischer Vertrag von Lissabon)
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Europarecht. Das Recht der EU/EG, des Europarats und der wichtigsten anderen europäischen Organisationen, 4. Aufl, Wien 1997 (zit: Fischer/Köck/Karollus ER)
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EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 4. Aufl, München 2004 (zit: Geiger EUV/EGV)
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Europarecht, 4. Aufl, München 2007 (zit: Hakenberg ER)
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Europarecht. Dogmatik im Kontext, 2. Aufl, Tübingen 2007 (zit: Haltern ER)
Hellmann, Vanessa
Der Vertrag von Lissabon, Heidelberg 2008 (im Erscheinen, ca Juni 2008) (zit: Hellmann Vertrag Lissabon)
XXXVII
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Hobe, Stefan
Europarecht, 4. Aufl, Köln ua 2008 (zit: Hobe, ER)
Huber, Peter M
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Ipsen, Hans Peter
Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972 (zit: HP Ipsen EuGR)
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Völkerrecht, 5. Aufl, München 2004 (zit: Bearbeiter in: Ipsen, VR)
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Karpenstein, Ulrich
Praxis des EG-Rechts, München 2006 (zit: Karpenstein Praxis EG)
Kempen, Bernhard/ Hillgruber, Christian
Völkerrecht, München 2007 (zit: Kempen/Hillgruber VR)
Kimminich, Otto/ Hobe, Stephan
Einführung in das Völkerrecht, 8. Aufl, Stuttgart 2004 (zit: Kimminich/Hobe VR)
Koenig, Christian/ Haratsch, Andreas/ Pechstein, Matthias
Europarecht, 5. Aufl, Tübingen 2006 (zit: Koenig/Haratsch/Pechstein ER)
Kunig, Philip/ Uerpmann-Wittzack, Robert
Übungen im Völkerrecht, 2. Aufl, Berlin/New York 2006 (zit: Kunig/Uerpmann-Wittzack Übungen)
Lecheler, Helmut
Einführung in das Europarecht, 2. Aufl, München 2003 (zit: Lecheler ER)
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Übungen im Europarecht, 2. Aufl, Berlin/New York 2006 (zit: Lecheler/Gundel Übungen)
Lenz, Carl Otto/ EU- und EG-Vertrag. Kommentar, 4. Aufl, Köln 2006 Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg) (zit: Bearbeiter in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV)
XXXVIII
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Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Handkommentar, 2. Aufl, Baden-Baden 2006 (zit: Meyer-Ladewig EMRK)
Mowbray, Alastair
Cases and Materials on the European Convention on Human Rights, 2. Aufl, Oxford 2007 (zit: Mowbray EMRK)
Nagel, Bernhard
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Nicolaysen, Gert
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1. Teil: Die europäische Grundrechtsidee §1 Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten Christian Walter I. Internationaler und Europäischer Grundrechtsschutz Versteht man sie im Kontext internationaler und supranationaler Organisationen, insbesondere des Europarats und der EG/EU, so sind „europäische“ Grundrechte und Grundfreiheiten eine Entwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und Teil eines in dieser Zeit entstehenden internationalen Menschenrechtsschutzes. Wichtige Meilensteine des internationalen Menschenrechtsschutzes waren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10.10.1948, die Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.09.1950 sowie die beiden ebenfalls im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Diese internationale Rechtsentwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg knüpft an die Tradition der großen Menschenrechtserklärungen der Aufklärung, insbesondere die Französische Menschenrechtserklärung von 1789, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „bills of rights“ der Neuenglandstaaten an. Der internationale Menschenrechtsschutz ist so die völkerrechtliche Fortschreibung einer in den nationalen Verfassungen entstandenen Rechtskultur.1 Auf der regionalen Ebene Europas hat der Einigungsprozess der Nachkriegszeit eine Vielzahl internationaler Organisationen mit unterschiedlicher Zielsetzung hervorgebracht.2 Für die Entwicklung der Grundrechte und Grundfreiheiten sind vor allem der Europarat, die OSZE und die EG/EU von Bedeutung. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der drei Organisationen unterscheidet sich in wichtigen Punkten. Der Europarat ist die älteste der drei Organisationen. Gegründet im Jahr 1949 hat er nach Art 1 seiner Satzung die Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze ihrer gemeinsamen Ideale und Grundsätze herzustellen. Er widmete sich vor allem der Ausarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte und zur Behandlung sozialer Fragen.3 Dabei ist ihm eine besondere Rolle als „Hüter von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“ 4 zugewachsen. Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der OSZE zeichnete sich während der Entspannungspolitik der Sieb-
1 Dazu H Hofmann NJW 1989, 3177 ff; allgem zur Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978. 2 S den Überblick bei Oppermann ER § 3 und Herdegen ER, Rn 6–11. 3 S im Einzelnen die Nachweise bei Oppermann ER, § 2 Rn 9 ff. 4 So die Formulierung in der Erklärung des Deutschen Bundestags „50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschenrechtsschutz“, BT-Drs 14/1568 v 09.09.1999, 2.
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ziger Jahre vor allem durch seinen prozesshaften und völkerrechtlich unverbindlichen Charakter aus.5 Dieser kommt in der damaligen Bezeichnung der heutigen OSZE als „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“ zum Ausdruck.6 Sowohl die im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträge als auch der Menschenrechtsschutz durch KSZE und OSZE sind darauf gerichtet, Menschenrechte gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten zu schützen. Auf einer anderen Ebene liegt die Diskussion um den Schutz von Grund- und Menschenrechten in der EG/EU. In der EU sind seit dem 01.11.1993 die drei Europäischen Gemeinschaften (EG, EGKS 7 und EAG) zusammengefasst. Vor allem die im Rahmen der EG ausgeübte Hoheitsgewalt wirkt in vielfältiger Weise in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinein und ersetzt in nicht unerheblichem Umfang die staatliche Hoheitsgewalt. Dies rief eine Diskussion um den Grundrechtsschutz gegenüber Akten des Gemeinschaftsrechts hervor. Hier geht es also zunächst nicht um den internationalen Schutz von Menschenrechten gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt, sondern um die Beachtung und Durchsetzung von Grundrechtsstandards gegenüber einer neu geschaffenen, supranationalen Hoheitsgewalt. Der folgende Überblick über die Geschichte und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten behandelt zunächst den Grundrechtsschutz im Rahmen des Europarats und insbesondere unter dem System der EMRK und anschließend die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im Europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht. Er schließt mit einer Darstellung der Entwicklung der Grundfreiheiten im Europäischen Gemeinschaftsrecht, die ursprünglich vor allem als Mittel zur Abwehr von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verstanden wurden, sich heute aber zunehmend als wirtschaftliche Freiheitsrechte erweisen.
II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats und insbesondere durch die EMRK 5
Der Europarat sieht seine Aufgabe in erster Linie in der Erarbeitung von völkerrechtlich verbindlichen Verträgen zum Schutz von Menschenrechten. Von den über 170 im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträgen 8 ist ein wichtiger Teil dem Schutz der Menschenrechte gewidmet, darunter an erster Stelle die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
5 In der Schlussakte von Helsinki (Bulletin der Bundesregierung Nr 102 vom 15.08.1975, 965 f) wurde 1975 die Achtung der Menschenrechte als selbstständiger Grundsatz verankert (Ziff VII der Leitlinien) und Korb III enthielt ua Vereinbarungen über menschliche Kontakte, s dazu Hailbronner in: Graf Vitzthum, VR, 3. Abschn Rn 258. 6 Die Umbenennung in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ erfolgte nach den politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa (vgl die Gipfelerklärung von Helsinki „Herausforderungen des Wandels“, Ziff 46, Bulletin der Bundesregierung Nr 82 v 23.07.1992, 777, 781). 7 Der EGKS-Vertrag ist zum 23. Juli 2002 außer Kraft getreten (Art 97 EGKS-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Amsterdam); dazu Obwexer EuZW 2002, 517 ff. 8 E Klein ArchVR 39 (2001), 121, 123.
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1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes durch die EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention, der zunächst nur 10 Mitgliedstaaten angehörten, hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einem internationalen Rechtsschutzsystem entwickelt, dem inzwischen 47 Mitgliedstaaten angehören und das durchaus mit dem der Verfassungsgerichtsbarkeit in nationalen Rechtsordnungen verglichen werden kann.9 Manche sprechen sogar von einer „Europäischen Grundrechtsverfassung“ 10. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst verwendet den Begriff „constitutional instrument of European Public Order“ 11.
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a) Entstehungsgeschichte Die Idee zur Schaffung einer europäischen Menschenrechtskonvention einschließlich eines Gerichtshofs zu ihrer Durchsetzung wurde auf dem 1. Kongress der Europäischen Bewegung in Den Haag formuliert.12 Während der Beratungen über den Konventionstext entfielen das im ursprünglichen Entwurf enthaltene Grundrecht auf Eigentum, das elterliche Erziehungsrecht und das Recht auf freie Wahlen.13 Außerdem wurde es zugelassen, Vorbehalte zu einzelnen Konventionsrechten zu formulieren.14 Dadurch konnten die Mitgliedstaaten den Umfang ihrer Verpflichtungen aus der EMRK selbst mitbestimmen. Die EMRK trat nach der Ratifikation durch zehn Staaten am 03.09.1953 in Kraft. Von den großen westeuropäischen Staaten hielt sich vor allem Frankreich sehr lange zurück, das die Konvention erst am 03.05.1974 ratifizierte. Als besonders schwierig erwies sich die Vereinbarung eines Individualbeschwerdeverfahrens, mit dem der einzelne Bürger Konventionsverletzungen unmittelbar vor von der Konvention geschaffenen europäischen Rechtsschutzorganen geltend machen konnte. Die Staaten waren nicht bereit, dem Einzelnen einen direkten Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verschaffen. Die schließlich gefundene Lösung bestand darin, die Individualbeschwerde vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte zuzulassen, und es dieser zu überlassen, ob sie den Gerichtshof anruft oder nicht.15 Demgegenüber hielt man eine Beschwerde durch einen anderen Mitgliedstaat für unproblematisch, verblieb diese doch im Rahmen der traditionellen Struktur der internationalen Gerichtsbarkeit und des internationalen Rechts als eines Rechts zwischen Staaten. Im Ergebnis sah die Konvention damit zwei verschiedene Verfahrensarten vor: die Staatenbeschwerde und die Individualbeschwerde. Während die Staatenbeschwerde automatisch mit dem Beitritt zur EMRK akzeptiert werden musste, bedurfte es für die Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission und die Unterwerfung unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs jeweils einer gesonderten Erklärung.16
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Frowein Collected Courses of the Academy of European Law, 1990, Vol I Book 2, 267, 278. Hoffmeister Der Staat 40 (2001), 349 ff; s a Walter ZaöRV 59 (1999), 961 ff. EGMR, ZaöRV 56 (1996), 439, Rn 75 – Loizidou, mit Besprechung von H-K Ress ebd 427 ff. Partsch ZaöRV 15 (1953/54), 631, 633 ff. Ausf zur Entstehungsgeschichte Brinkmeier MenschenRechtsMagazin, Themenheft „50 Jahre EMRK“, 21, 26 ff; Partsch ZaöRV 15 (1953/54), 631, 633 ff. 14 Giegerich ZaöRV 55 (1995), 713 ff. 15 Vgl die Liste der Antragsberechtigten in Art 48 EMRK aF. 16 Art 25 I u Art 46 I EMRK aF.
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Kommission und Gerichtshof nahmen ihre Arbeit noch in den fünfziger Jahren auf. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde 1954 gebildet, nachdem die nach dem damaligen Art 25 IV EMRK erforderlichen sechs Erklärungen eingegangen waren. Die Errichtung des Gerichtshofs verzögerte sich, da die Staaten bei der Anerkennung der Gerichtsbarkeit noch zurückhaltender waren als bei Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission. Erst 1958 lagen die nach dem früheren Art 56 erforderlichen acht Erklärungen vor. b) Entwicklung der Konvention und der Rechtsprechung
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Die Konvention wurde im Laufe der Jahre um bisher 14 Zusatzprotokolle ergänzt, die sowohl die materiellen Garantien als auch das Rechtsschutzverfahren vor Kommission und Gerichtshof betrafen. Die schon während der Entstehungsgeschichte umstrittenen Grundrechte auf Eigentum, Erziehung der Kinder und freie Wahlen wurden in das 1. ZP (Art 1 bis 3) aufgenommen. Als weitere wichtige Ergänzungen sind strafrechtliche Garantien wie das Verbot der Doppelbestrafung (Art 4 des 7. ZP), das Recht auf ein Rechtsmittel gegen strafrechtliche Verurteilungen (Art 2 des 7. ZP), die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten (Art 1 u 2 des 6. ZP) und neuerdings unter allen Umständen (also auch in Kriegszeiten, Art 1 des 13. ZP) zu nennen. Hinzugekommen sind auch das Verbot der Schuldnerhaft (Art 1 des 4. ZP), das Freizügigkeitsrecht (Art 2 des 4. ZP), das Verbot der kollektiven Ausweisung von Ausländern (Art 4 des 4. ZP) sowie das Recht auf Gleichberechtigung der Ehegatten während der Ehe und bei ihrer Auflösung (Art 5 des 7. ZP). Anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Art 7) und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art 14 I) fehlte es in der EMRK lange Zeit an einem allgemeinen Gleichheitssatz. Die Regelung in Art 14 EMRK bezieht sich nur auf Gleichheit beim Genuss der durch die Konvention garantierten Rechte.17 Mit dem Inkrafttreten des 12. ZP am 1. April 2005 hat sich dieser Umstand geändert. Die ZPe 9 und 11 haben das Rechtsschutzverfahren erheblich modifiziert und bringen damit eine veränderte Stellung des Individuums im Völkerrecht zum Ausdruck. Mit dem 9. ZP erhielt der Beschwerdeführer, der das Verfahren vor der Kommission eingeleitet hatte, selbst das Recht, den Gerichtshof anzurufen.18 Das 11. ZP 19 modifizierte schließlich das gesamte Verfahren, indem es die Kommission abschaffte und damit die Zweistufigkeit beseitigte. Seit dem 1. November 1998 gibt es nur noch den Gerichtshof, der allerdings anders als die beiden Vorgängerinstitutionen nun zu einer ständig tagenden Einrichtung wurde. Eine weitere Änderung durch das 11. ZP liegt in der Einführung einer obligatorischen Gerichtsbarkeit, sodass die Mitgliedschaft in der Konvention nun automatisch die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über Individualbeschwerden nach sich zieht.20 Die zuvor erforderliche gesonderte Anerkennung durch die Mitgliedstaaten ist entfallen. Beibehalten wurde die Funktion des Ministerkomitees 21 als
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Dazu näher Weiß MenschenRechtsMagazin 2000, Themenheft „50 Jahre EMRK“, 36, 43 ff. BGBl II 1994, 491. BGBl II 1995, 579. Art 34 EMRK nF; allgem zu den Änderungen durch das 11. ZP Schlette ZaöRV 56 (1996), 905 ff. Art 13 ff Satzung des Europarats.
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Überwachungsorgan für die Ausführung der Urteile.22 Ähnlich wie das Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht droht das Individualbeschwerdeverfahren in Straßburg an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Im Jahr 2001 wurden 13.858 Beschwerden registriert, denen 889 Urteile und 8.989 Unzulässigkeitsentscheidungen und Streichungen aus der Verfahrensliste gegenüberstanden.23 Dies rief eine lebhafte Reformdiskussion hervor, die im Mai 2004 zur Annahme des 14. ZP führte. Wichtige Änderungen betreffen die Möglichkeit von Einzelrichterentscheidungen über die Zulässigkeit von Individualbeschwerden, eine neue Zulässigkeitshürde in Form eines „significant disadvantage“ und eine Stärkung des Durchsetzungsmechanismus durch das Ministerkomitee, das nach dem 14. ZP die Möglichkeit erhält, den Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob eine unterlegene Vertragspartei gegen ihre Verpflichtung zur Beachtung des gegen sie ergangenen Urteils verstoßen hat. Entscheidend für die Entwicklung des gesamten Konventionssystems in den vergangenen 50 Jahren war die sich erst langsam herausbildende Akzeptanz des Individualrechtsschutzes. Von den großen europäischen Staaten hatte allein Deutschland – aus historisch offensichtlichen Gründen – frühzeitig die Zuständigkeit der Kommission für Individualbeschwerden akzeptiert. Mit dem Vereinigten Königreich folgte erst 1966 ein zweiter großer europäischer Staat. Frankreich akzeptierte Individualbeschwerden erst 1981. Unter diesen Umständen offensichtlicher Zurückhaltung der Mitgliedstaaten gegenüber einem internationalen Individualrechtsschutz kann es nicht verwundern, dass Kommission und Gerichtshof vielfach „judicial self-restraint“ übten.24 Die Gründe für eine solche Zurückhaltung sind inzwischen weitgehend entfallen, und der Gerichtshof versteht die Konvention zu Recht als „living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions“ 25. Dies bewirkt, dass die Straßburger Rechtsprechung zunehmend das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten beeinflusst.26 Besonders eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel Frankreichs, das traditionell keine nachträgliche Verfassungskontrolle von bereits in Kraft getretenen Gesetzen kennt. Hier nehmen die Fachgerichte inzwischen eine sog „contrôle de conventionnalité“, also eine Überprüfung von Gesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK, vor, und es gibt bereits Fälle, in denen (gültige) nationale Gesetze nicht angewendet wurden, weil die Gerichte bei ihrer Anwendung einen Verstoß gegen die EMRK für unvermeidlich hielten.27 Der quasi-verfassungsgerichtliche Charakter des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt sich auch daran, dass politisch so brisante Fragen wie die Strafbarkeit des politischen Führungspersonals der ehemaligen DDR wegen der Schüsse an der innerdeutschen Grenze oder Parteiverbotsverfahren in der Türkei Gegenstand seiner Entscheidungen sind.28
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Art 46 II EMRK nF. Pressemitteilung des Gerichtshofs v 21.01.2002. → zur Grundrechtsdogmatik in der EMRK § 2. EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 31 – Tyrer; krit gegenüber der von ihm als dynamisch angesehenen Auslegung der Konvention durch den Gerichtshof Buß DÖV 1998, 323, 328 ff. 26 Nachw und bes Problemfälle mit Bezug zu Deutschland bei Frowein NVwZ 2002, 29 ff. 27 S etwa die Entscheidung des französischen Conseil d’Etat v 30.10.1998, RDP 1999, 649 – Lorenzi. 28 EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Krenz; dazu Werle NJW 2001, 3001 ff; Rau NJW 2001, 3008 ff; EGMR, Urt v 31.07.2001 – Refah-Partisi; RJD 1999-VIII – ÖZDEP.
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Einen besonderen Schritt für die Bedeutung der EMRK in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bedeutete die Inkorporierung in die britische Rechtsordnung durch den Human Rights Act des Jahres 1998.29 Da ohne eine solche Inkorporierung nach britischem Verfassungsrecht ein völkerrechtlicher Vertrag nicht unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen begründen kann, gab es vor dem Human Rights Act statistisch gesehen relativ viele Konventionsverfahren gegen das Vereinigte Königreich.30 Seit dem Inkrafttreten des Human Rights Act zum 02.10.2000 hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung englischer Gerichte entwickelt, die den in der EMRK gewährleisteten Rechten zusätzliche Bedeutung verleiht.31 In der deutschen Rechtsordnung genießt die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist sie allerdings bei der Auslegung der deutschen Grundrechte zu berücksichtigen.32 Versuche in der Literatur, eine über diese bloße Auslegungshilfe hinaus gehende Bindungswirkung zu begründen,33 wurden von der Rechtsprechung nicht aufgenommen.34 Im Jahre 2004 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch eine neue Formel für die Bindung deutscher Gerichte an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt. Aus der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht aus Art 20 III GG schließt das Bundesverfassungsgericht auf die Notwendigkeit, die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ könnten gegen Grundrechte des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.35 Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Nicht-Beachtung einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Verletzung von deutschen Grundrechten im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden kann. Trotz dieser EMRK-freundlichen Grundtendenz ist die Entscheidung in der Literatur auf berechtigte Kritik gestoßen, weil in ihr an anderen Stellen die deutsche Souveränität gegenüber der EMRK betont wurde.36 In den letzten Jahren war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Mitgliedstaaten den Bindungen der EMRK unterliegen, wenn sie bislang im nationalen Bereich erledigte Aufgaben auf internationale
29 Dazu Grote ZaöRV 58 (1998), 309 ff; vgl auch die irische European Convention on Human Rights Bill (No 26 of 2001) v 10.04.2001. 30 Nachw bei Grote ZaöRV 58 (1998), 309, 322 ff. 31 S die Übersicht von Raine/Walker in: Halliday/Schmidt (Hrsg), Human Rights brought home, 2004, 123 ff. 32 BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 115. 33 Mit unterschiedlichen Ansätzen Bleckmann EuGRZ 1994, 149 ff; Frowein Der Europäische Grundrechtsschutz und die nationale Gerichtsbarkeit, 1983, 26; Ress FS Zeidler, 1987, S 1775, 1790 ff; sowie die Nachw bei Hoffmeister Der Staat 40 (2001), 349 ff; Walter ZaöRV 59 (1999), 961 ff. 34 S ausf zum Ganzen Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290, 299 ff. 35 BVerfGE 111, 307, 323 f – Görgülü. 36 BVerfGE 111, 307, 324 f und 327 f; zur Kritik etwa Cremer EuGRZ 2004, 683; Ruffert EuGRZ 2007, 245, 252 f; Breuer NVwZ 2005, 412; Frowein in: FS Delbrück, 2005, S 279, 285.
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Organisationen übertragen.37 In seiner neueren Rechtsprechung38 geht der Gerichtshof davon aus, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, für ein der EMRK im Wesentlichen vergleichbares Niveau des Grundrechtsschutzes zu sorgen. Entschieden wurde dies in mehreren Verfahren über den Kündigungsschutz im Rahmen der European Space Agency (ESA).39 Eine Entscheidung, mit der eine mittelbare Bindung der Gemeinschaftsorgane an die EMRK angenommen worden wäre, gibt es bislang nicht.40 Immerhin aber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Europäische Parlament als „gesetzgebende Körperschaft“ im Sinne von Art 3 1. ZP EMRK qualifiziert und das Vereinigte Königreich wegen eines Verstoßes gegen diese Vorschrift verurteilt, weil es die Bewohner von Gibraltar nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen ließ.41 In dieser Rechtsprechung zeigt sich der Versuch, die Grundrechtsverbürgungen der EMRK nicht nur im innerstaatlichen Bereich der Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern auch vor einem Unterlaufen durch eine „Flucht in organisatorisch verselbständigte Einheiten auf zwischenstaatlicher Ebene“ 42 zu bewahren. Der Gerichtshof nimmt insoweit eine Schutzpflicht der Mitgliedstaaten aus Art 1 EMRK an.43 In einer weiteren Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine recht umfassende Kontrolle des Menschenrechtsstandards innerhalb der Europäischen Union vorgenommen. Im Bosphorus-Urteil hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte indirekt über die Vereinbarkeit einer Europäischen Verordnung, die Sanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien umsetzte, mit der EMRK zu entscheiden. Zwar stellte der Gerichtshof im Ergebnis keine Verletzung von Art 1 1. ZP EMRK fest. Er hob jedoch deutlich hervor, dass die Mitgliedstaaten sich ihren Verpflichtungen aus der EMRK nicht entziehen können, indem sie Hoheitsrechte auf eine internationale Organisation übertragen. Für die Behandlung solcher Fälle entwickelte der Gerichtshof einen speziellen zweistufigen Test. In einem ersten Schritt begründet der Gerichtshof eine Vermutung für die Vereinbarkeit des Handelns einer internationalen Organisation mit der EMRK, wenn die fragliche Organisation einen in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht der EMRK äquivalenten Menschenrechtsschutz bietet. Allerdings kann diese Vermutung im zweiten Schritt im konkreten Einzelfall widerlegt werden. Während der erste Schritt mit Solange II-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis in die Formulierung hinein vergleichbar ist, geht der zweite Schritt weiter, denn das Bundesverfassungsgericht schließt die Einzelfallprüfung weitgehend aus.
37 Ausf zu den damit verbundenen Rechtsproblemen Winkler Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2000, 153 ff; → § 2 Rn 42 f; § 14 Rn 14. 38 Eine frühe Kommissionsentscheidung zu diesem Problemkreis ist der Fall M, s dazu Giegerich ZaöRV 50 (1990), 836 ff. 39 EGMR, NJW 1999, 1173 ff – Waite = JK 12/99, EMRK Art 6/2. 40 Das Verfahren Senator-Lines gegen die 15 Mitgliedstaaten der EU (vgl den Antrag in RUDH 12 (2000), 191 ff) wurde wegen Wegfalls der Beschwer als unzulässig abgewiesen; die Frage spielt derzeit aber wieder eine Rolle in dem beim EGMR anhängigen Verfahren Emesa Sugar (Appl No 62023/00). 41 EGMR, EuGRZ 1999, 200 ff – Matthews = JK 11/99, EMRK Art 3 1. ZP/2. 42 So die Formulierung des BVerfG in einem ähnlich gelagerten Fall, DVBl 2001, 1130 ff. 43 EGMR, EuGRZ 1999, 200, Rn 29 ff – Matthews = JK 11/99, EMRK Art 3 1. ZP/2.
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Während die bislang zitierte Rechtsprechung den Grundrechtsschutz nach der EMRK auch gegenüber dem Handeln internationaler Organisationen, die formal keine Mitglieder des Konventionssystems sind, eher ausgebaut hat, gibt es beim Rechtsschutz gegen den Vereinten Nationen zurechenbares Handeln eine gegenläufige Tendenz. Hier hat der Gerichtshof eine sehr pauschale Freizeichnung für sämtliches Handeln des Sicherheitsrats im Rahmen von Kapitel VII der UN-Charta vorgenommen 44, die sich nur schwer in die bisherigen Grundsätze der Rechtsprechung einfügen lässt 45. Es bleibt zu hoffen, dass diese Tendenz nicht auf andere Bereiche des Handelns internationaler Organisationen übertragen wird.
2. Der Menschenrechtsschutz im Europarat im Allgemeinen a) Vertragliche Menschenrechtsverbürgungen 20
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Aus dem Bereich der vertraglichen Verbürgungen einzelner Menschenrechte verdienen drei Einzelentwicklungen nähere Erwähnung. Bereits 1961 wurde die Europäische Sozialcharta angenommen, mit der die Unterzeichnerstaaten das Ziel verfolgen, „den Lebensstandard ihrer Bevölkerung in Stadt und Land zu verbessern“ 46. Die Charta gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, aus einem Katalog von sieben Rechten fünf als für sich verbindlich zu akzeptieren (Art 20) und sieht zur Überwachung vor, dass die Mitgliedstaaten zu den von ihnen angenommenen Artikeln im Abstand von zwei Jahren und zu den übrigen Artikeln in regelmäßigen Abständen Staatenberichte vorlegen (Art 21, 22), die von einem Sachverständigenausschuss geprüft werden (Art 24). Die Sozialcharta wurde durch mehrere Protokolle ergänzt, die 1999 in einer revidierten Sozialcharta zusammengefasst wurden. Diese trat am 01.07.1999 in Kraft, wurde aber von wichtigen europäischen Staaten bislang nicht ratifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland gehört sogar zu den wenigen Staaten, die den revidierten Text überhaupt nicht unterzeichnet haben 47. Wegen seiner Präventivverfahren verdient das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 besondere Erwähnung. Es errichtet einen Ausschuss, das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, der Besuche in den Haftanstalten 48 der Mitgliedstaaten durchführen kann und über diese Besuche Berichte erstattet, die im Einverständnis mit der betreffenden Vertragspartei öffentlich gemacht werden können. Das Besondere an der Konvention liegt in der Möglichkeit des Komitees, Empfehlungen für die zukünftige Vorgehensweise des betreffenden Mitgliedstaates auszusprechen (Art 10 I der Konvention). Das Komitee nutzt diese Befugnis nicht nur, um Vorschläge für die Beseitigung tatsächlich festgestellter Missstände zu machen, sondern es hat allgemeine Vorschläge zur Verhinderung von Misshandlungen unterbreitet und damit den Weg zu einem präventiven Schutz vor Folter geebnet.
44 EGMR, EuGRZ 2007, 522 ff – Behrami und Saramati. 45 S auch Frowein FS Schmidt-Aßmann, 2008, S 333, 337 ff. 46 So die Motivation nach der vierten Erwägung in der Präambel der Europäischen Sozialcharta; BGBl II 1964, 1262. 47 ETS Nr 163. 48 Einschließlich psychiatrischer und anderer geschlossener Anstalten, vgl Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 247 mit Giegerich ZaöRV 50 (1990), 836 ff.
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In den vergangenen Jahren widmete sich die Kodifikationsarbeit des Europarats den besonderen Problemen des Minderheitenschutzes. Am 05.11.1992 wurde die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen angenommen, deren Einhaltung ebenfalls durch einen Sachverständigenausschuss überwacht wird. Die Charta trat für Deutschland zum 01.01.1999 in Kraft. Daneben besteht das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 01.02.1995, das für die Bundesrepublik Deutschland zum 01.02.1998 in Kraft trat, und das gleichfalls mit einem eigenen Überwachungsmechanismus ausgestattet ist 49 sowie einen umfassenden Katalog von Minderheitenrechten statuiert 50. Der Minderheitenschutz im Rahmen des Europarates bereitet Frankreich spezielle Probleme. Der französische Verfassungsrat entschied 1997, dass das verfassungsrechtliche Prinzip der „Einheit der Republik“ einer Beteiligung an der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen entgegen stehe.51 Das Rahmenübereinkommen wurde von Frankreich nicht einmal gezeichnet. Ein weiterer kürzlich entstandener Schwerpunkt der Kodifikationsarbeit betrifft medizinische und bioethische Fragen. Hierzu verdienen die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin vom 04.04.1997 und ein ZP über das Verbot des Klonens von Menschen vom 12.01.1998 Erwähnung. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Arbeiten des Europarats in diesem Bereich eher kritisch betrachtet, da man das Schutzniveau für nicht ausreichend erachtet. Weder die Konvention noch das ZP wurden von der Bundesrepublik gezeichnet.
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b) Die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung nach 1989/1990 Die Parlamentarische Versammlung ist neben dem Ministerkomitee das zweite zentrale Organ des Europarats.52 Sie übernahm in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges eine wichtige Rolle bei der Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsförderung. Bereits im Jahr 1949 verpflichtete sich das Ministerkomitee, das in Art 4 der Satzung des Europarats enthaltene Recht, neue Mitglieder zum Beitritt einzuladen, nur unter Beteiligung der Parlamentarischen Versammlung auszuüben. Die Parlamentarische Versammlung nutzte dieses Beteiligungsrecht, um nach dem Ende des Kalten Krieges bei den Beitrittsanwärtern aus Mittel- und Osteuropa die Einhaltung der Menschenrechte zu prüfen. Hierzu entsandte sie Berichterstatter in die betreffenden Staaten, deren Aufgabe es war, die nationalen Rechtsordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Menschenrechtsstandards des Europarats zu untersuchen und darüber einen Bericht vorzulegen. Die Parlamentarische Versammlung ging auch dazu über, in ihren Stellungnahmen zu Beitrittsvorhaben die Absicht des Kandidaten festzuhalten, die EMRK einschließlich des damals noch gesondert zu akzeptierenden Individualbeschwerdeverfahrens zu ratifizieren. Die Parlamentarische Versammlung hat diese Aufnahmebedingungen später um ein Überwachungsverfahren ergänzt, mit dem die Einhaltung der Verpflichtungen nach einem erfolgten Beitritt sichergestellt werden soll. Diese Praxis führte während des Tschetschenien-Krieges dazu,
49 Zu diesem R Hofmann ZEuS 1999, 379 ff. 50 S im Einzelnen R Hofmann MenschenRechtsMagazin 2000, 63 ff. 51 Décision Nr 99-412 DC v 15.6.1999; verfügbar unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/ 1999/99412/index.htm. 52 Die Parlamentarische Versammlung setzt sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammen (vgl Art 25 der Satzung des Europarats); vgl das Diagramm bei Blackburn/Polakiewicz (Hrsg), Fundamental rights in Europe, 2001, 23.
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dass die Parlamentarische Versammlung die Mitgliedschaft Russlands im Europarat wegen der Form der Kriegsführung in Frage stellte.53 Die Parlamentarische Versammlung hat sich durch diese Vorgehensweise einen besonderen Ruf bei der Durchsetzung der Menschenrechtsstandards in Mittel- und Osteuropa in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs erworben.
III. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG/EU 25
Anders als die EMRK, die darauf gerichtet ist, einen grundrechtlichen Mindeststandard in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, betrifft die Frage nach dem Grundrechtsschutz im Rahmen des Gemeinschaftsrechts vor allem die Frage danach, wie Grundrechte gegenüber einer nicht-staatlichen Hoheitsgewalt gesichert werden können (→ § 14 Rn 3 ff).
1. Frühe Rechtsprechung 26
Der Europäische Gerichtshof erweckte in seiner frühen Rechtsprechung den Eindruck mangelnder Grundrechtssensibilität 54. Der Eindruck entstand dadurch, dass der Gerichtshof Rügen, die sich auf eine Verletzung nationaler Grundrechte stützten, als unzulässig zurückwies, ohne auf das Grundrechtsproblem einzugehen.55 Dieses Vorgehen war zwar dogmatisch zwingend, denn der Gerichtshof kann nationale Vorschriften weder auslegen noch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anwenden. Die Kombination der (richtigen) Entscheidung, Art 14 GG finde gegenüber dem Gemeinschaftsrecht keine Anwendung, mit der Aussage, das Gemeinschaftsrecht enthalte „weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass ein erworbener Besitzstand nicht angetastet werden darf“ 56, musste allerdings Zweifel am Eigentumsschutz im Gemeinschaftsrecht wecken (→ ausf hierzu § 16.4).
2. Entwicklung und dogmatische Begründung der Unionsgrundrechte 27
Der Gerichtshof hat diese zurückhaltende Rechtsprechung ab dem Ende der 1960er Jahre korrigiert und die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht verankert angesehen. Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes beginnt mit der Entscheidung Stauder 57. Dieser Fall betraf die Abgabe von Butter an Sozialhilfeempfänger zu herabgesetzten Preisen. Um Missbrauch zu vermeiden, verpflichtete das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten in der deutschen Fassung der Regelung, Sorge dafür zu treffen, dass die Begünstigten „Butter nur gegen einen auf ihren Namen ausgestellten Gutschein“ erhalten können. Die anderen sprachlichen Fassungen sprachen dagegen nur von einem „individualisierten Gutschein“. Der Kläger des Ausgangsverfahrens war der Auffassung,
53 S Recommendation 1444 (2000) v 27.01.2000 und Resolution 1221 (2000) v 29.06.2000; allgem Bowring Helsinki Monitor 11 (2000), 53 ff. 54 S zum Folgenden auch Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 586 ff. 55 Vgl etwa EuGH, Slg 1960, 887, 920 f – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft; Slg 1965, 296, 312 – Sgarlata (Wortlaut des Vertragstextes geht einer grundrechtlichen Argumentation unbedingt vor). 56 EuGH, Slg 1960, 885, 921 – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft. 57 EuGH, Slg 1969, 419 ff – Stauder.
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dass es mit seinen Grundrechten unvereinbar sei, beim Erwerb seinen Namen und damit seine Identität gegenüber dem Verkäufer offen legen zu müssen. Der Gerichtshof legte die Regelung angesichts der verschiedenen sprachlichen Fassungen dahin aus, dass sie nur eine Individualisierung verlange, nicht aber eine Nennung des Namens. Im Anschluss an diese Auslegung erfolgt – gewissermaßen zusätzlich, aber für die Begründung eigentlich gar nicht mehr erforderlich – die äußerst knappe Grundlegung eines Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht: „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“
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Für die dogmatische Begründung dieser Rechtsprechung sind die Ausführungen des Generalanwalts Römer von Bedeutung, der sich in seinen Schlussanträgen einer damals im Schrifttum vertretenen Auffassung anschließt, „durch wertende Rechtsvergleichung seien gemeinsame Wertvorstellungen des nationalen Verfassungsrechts, insbesondere der nationalen Grundrechte zu ermitteln, die als ungeschriebener Bestandteil des Gemeinschaftsrechts beachtet werden müssten“ 58. Der Unterschied dieser dogmatischen Begründung gegenüber der vom Gerichtshof abgelehnten unmittelbaren Anwendung nationaler Grundrechte liegt darin, dass sie sich nicht allein auf die Grundrechte eines Mitgliedstaats stützt und auch die nationalen Grundrechte nicht selbst anwendet, sondern in ihnen nur eine Rechtserkenntnisquelle für die Ermittlung der ungeschriebenen Unionsgrundrechte sieht (→ § 14 Rn 8). Der Gerichtshof hat diese dogmatische Herleitung 1970 in der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft bestätigt. Dort wurde zunächst betont, dass der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch das nationale Verfassungsrecht und dessen Grundrechtsgarantien betreffe. Im Anschluss stellt der Gerichtshof aber fest, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof erfolge, der von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ getragen sei.59 Neben die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ trat 1974 in der Entscheidung Nold eine weitere Rechtserkenntnisquelle: Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren anerkannt, dass die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte „Hinweise geben [können], die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“ 60. Diese noch sehr vorsichtig klingende Formulierung wurde in den Folgejahren hinsichtlich der EMRK verstärkt und dient inzwischen als Grundlage einer weitgehenden Berücksichtigung der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs durch den EuGH. Der EuGH hat die „besondere Bedeutung“ der EMRK gegenüber anderen völkerrechtlichen Verträgen mehrfach hervorgehoben.61 Auch stützt er sich inzwischen ganz selbstverständlich auf Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn es um die Auslegung der EMRK geht. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für dieses Vorgehen betrifft die Garantie
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EuGH, Slg 1969, 419, 427 f – Stauder. EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. Etwa EuGH, Slg 1997, I-7493, Rn 12 – Annibaldi; der Gerichtshof selbst sieht für die besondere Betonung der EMRK die Entscheidung EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston als grundlegend an, s EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 41 – ERT.
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eines zügigen Verfahrens. In diesem Bereich gibt es eine umfassende Rechtsprechung der Straßburger Organe zu Art 6 I EMRK62. Der EuGH hat in einer Entscheidung über die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz ohne weiteres die Maßstäbe des Art 6 I EMRK angewandt und dabei zur Bestimmung des angemessenen Zeitrahmens die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs herangezogen. Die entsprechende Passage der Entscheidung erweckt geradezu den Eindruck, als fühle sich der EuGH an diese Rechtsprechung gebunden 63. Allerdings darf die Selbstverständlichkeit, mit der sich der EuGH auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützt, nicht über die dogmatische Ableitung der Unionsgrundrechte hinwegtäuschen. Der EuGH hat es bislang trotz verschiedener Ansätze in der Literatur64 abgelehnt, eine förmliche Bindung der Gemeinschaftsrechtsordnung an die EMRK anzunehmen. Beim gegenwärtigen Stand der Dogmatik bleibt es deshalb dabei, dass die EMRK nur als eine Rechtserkenntnisquelle dient. Sie ist keine eigene Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts.65 Das Gericht erster Instanz hat dies sogar mehrfach ausdrücklich klargestellt.66 Bei dieser Form der vergleichenden Berücksichtigung lassen sich freilich Divergenzen in der Auslegung nicht ganz vermeiden. Dies gilt erst recht, wenn der Gerichtshof in Luxemburg mit einer Grundrechtsfrage befasst ist, bevor diese Gegenstand einer Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs war.67 Der Europäische Gerichtshof und das Gericht erster Instanz haben auf der Grundlage der beiden genannten Rechtserkenntnisquellen (Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und völkerrechtliche Verträge, insbesondere EMRK) einen umfangreichen Katalog ungeschriebener Grundrechte entwickelt (→ ausf hierzu §§ 14–20). Das Bundesverfassungsgericht, das dem Grundrechtsschutz durch den EuGH zunächst skeptisch gegenüber stand und eine Überprüfungsbefugnis für sich in Anspruch nahm (Solange I-Entscheidung)68, entschied 1986, dass der vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes generell im Wesentlichen vergleichbar ist (Solange II-Entscheidung).69 Seither sind Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge, die sich gegen europäisches Gemeinschaftsrecht richten, unzulässig. Zweifel an der Fortgeltung dieser Rechtsprechung, die in der Folge des Maastricht-Urteils70 entstanden waren, beseitigte das
62 S im Einzelnen Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 6 Rn 136 ff. 63 S allerdings EuGH, Slg 2000, I-665, Rn 4 ff – Emesa Sugar; dazu die krit Bemerkungen bei Krüger/Polakiewicz EuGRZ 2001, 92, 98. 64 S etwa Hilf FS Bernhardt, 1995, S 1193, 1197 f; weitere Nachw bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 38. 65 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 35; → § 14 Rn 8. 66 EuG, Slg 2001, II-729, Rn 59 – Mannesmann-Röhrenwerke AG; Slg 1998, II-1751, Rn 311 f – Mayr-Melnhof/Kommission. 67 So dürfte sich wohl die bisher deutlichste Divergenz erklären, die sich in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe feststellen lässt: Der EuGH entschied 1989 unter ausdrücklicher Heranziehung von Art 8 EMRK, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung den Schutz von Geschäftsräumen nicht erfasse (EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 18 – Hoechst). Der EGMR, der mit der gleichen Rechtsfrage erst 1992 befasst war, entschied genau umgekehrt (NJW 1993, 718, Rn29 – Niemitz = JK 08/93, EGMR Art 8/1). 68 BVerfGE 37, 271 ff – Solange I. 69 BVerfGE 73, 339 ff – Solange II. 70 BVerfGE 89, 155 ff – Maastricht.
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Bundesverfassungsgericht im April 2000 in seiner Entscheidung zur Bananenmarkt-Ordnung.71 1993 fand die dogmatische Ableitung des Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des EuGH eine teilweise Absicherung72 im primären Unionsrecht: Nach Art 6 II EUV achtet die Union „die Grundrechte, wie sie in der am 04.11.1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“
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3. Die Diskussion um einen Beitritt zur EMRK Trotz der aufgrund dieser Rechtsprechung entstandenen Grundrechtsgarantien wurde der Zustand ohne schriftlich fixierten Katalog von Grundrechten vielfach als unbefriedigend empfunden.73 Es gab daher immer wieder sowohl Bestrebungen, einen eigenen Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht zu formulieren,74 als auch die Absicht, einen förmlichen Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK herbeizuführen. Für den Beitritt zur EMRK wurde und wird geltend gemacht, dass hierdurch eine Verdopplung europäischer Grundrechtsstandards vermieden und eine einheitliche institutionelle Sicherung dieser Standards durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ermöglicht werde.75 Die Kommission hatte bereits 1979 in einem Memorandum den Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK erwogen.76 Das Parlament unterstützte ebenfalls die Beitrittsbestrebungen.77 Einem Beitritt stehen allerdings mehrere Hindernisse entgegen. Auf der Seite der EMRK besteht das Problem, dass diese bislang noch nur „für Mitglieder des Europarats“ zur Unterzeichnung aufliegt,78 die Satzung des Europarats aber nur den Beitritt von Staaten vorsieht.79 Das 14. ZP sieht hier aber eine Änderung vor, die ausdrücklich auch den Beitritt der Europäischen Union erlauben würde. Für das Gemeinschaftsrecht war fraglich, ob dieses einen Beitritt zu einem Menschenrechtsvertrag zulassen würde. In seinem auf Antrag des Rates erstatteten Gutachten 2/94 entschied der Europäische Gerichtshof, dass der Gemeinschaft die Zuständigkeit fehle, der EMRK förmlich beizutreten. Der Gerichtshof stützte diese Entscheidung maßgeblich auf seine ständige Rechtsprechung, nach der
71 BVerfGE 102, 147 ff – Bananenmarktordnung; dazu die Bewertung bei Nicolaysen/Nowak NJW 2001, 1233, 1235 f. 72 Art 6 II EUV bezieht sich neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nur auf die EMRK, während die Rechtsprechung des EuGH allgem Verträge zum Schutz der Menschenrechte als Rechtserkenntnisquelle nennt und die EMRK nur als einen besonders wichtigen solchen Vertrag hervorhebt. 73 S statt anderer Kokott AöR 121 (1996), 599, 602. 74 → dazu sogleich unter Rn 36. 75 S etwa Wildhaber Zeitschrift für schweizerisches Recht 2000, 123, 134. 76 EuGRZ 1979, 330 ff; dazu die Bemerkungen von Bieber EuGRZ 1979, 338 ff. 77 Entschließung v 27.04.1979, EuGRZ 1979, 257; s a die Entschließung v 18.01.1994 zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, ABl 1994 Nr C 44/32. 78 Art 59 I 1 EMRK. 79 Art 4 S 1 Satzung des Europarats; Lösungsvorschläge für dieses Problem finden sich im Memorandum der Kommission EuGRZ 1979, 330, 337 (Ziff VII); s a Bernhardt FS Everling, 1995, S 103 ff; Krüger/Polakiewicz EuGRZ 2001, 92, 102.
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die Gemeinschaft im Außenverhältnis nur dort ungeschriebene Kompetenzen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge besitzt, wo sie auch im Innenverhältnis nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zuständig wäre.80 Zwar sei die Achtung der Menschenrechte eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftshandelns, aber mit dem Beitritt zur EMRK sei eine so grundlegende Änderung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzsystems verbunden, dass der Beitritt nicht auf die Vertragsabrundungsklausel des Art 235 EGV (Art 308 EGV nF/352 AEUV) gestützt werden könne.81 Die nach dieser Rechtsprechung für einen Beitritt erforderliche Änderung des primären Gemeinschaftsrechts ist weder in Amsterdam noch in Nizza erfolgt. Die Mitgliedstaaten entschieden sich statt dessen dafür, mit der Europäischen Grundrechts-Charta einen eigenen Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht zu formulieren82. Diese Zurückhaltung gegenüber einem Beitritt der EU zur EMRK hat sich im Rahmen der Beratungen über einen Vertrag für eine Verfassung für Europa geändert. Nachdem in verschiedenen früheren Fassungen zunächst nur von der Möglichkeit eines Beitritts und später von einer politischen Absicht die Rede war („die Union strebt an“) 83, spricht sich der am 29. Oktober 2004 in Rom unterschriebene Text jedenfalls in der deutschen und französischen Fassung für den Beitritt zur EMRK im Indikativ aus („die Union tritt bei“), während die englische Fassung einen Auftrag formuliert (the Union shall accede) 84. Der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 übernimmt diese Formulierungen. Während die deutsche Fassung wiederum im Indikativ den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK formuliert, bleibt die englische Fassung bei ihrem zurückhaltenden „shall accede“ (Art 6 II EUV-E). Unabhänigig von den sprachlichen Divergenzen wird man festhalten müssen, dass trotz der indikativischen Formulierung der Beitritt nicht automatisch mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wirksam werden kann, weil das von der EMRK vorgesehene Beitrittsverfahren einzuhalten ist. Die deutliche politische Aussage zugunsten eines Beitritts ist aber in jedem Fall zu begrüßen.
4. Forderungen nach einem Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht und die Europäische Grundrechts-Charta 36
Die rechtspolitischen Forderungen nach einem eigenen Katalog geschriebener Unionsgrundrechte, die zur Proklamation der Europäischen Grundrechts-Charta auf dem Europäischen Rat von Nizza am 07.12.2000 führten,85 waren nicht neu. Schon im Jahr 1989 verabschiedete das Europäische Parlament mit der „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten“ erstmals einen umfassenden Katalog.86 Die Erklärung enthält nicht nur die klassischen Freiheitsrechte, wie sie auch in der EMRK ihren Niederschlag gefunden haben, sondern außerdem einige soziale Grundrechte, wie ein Recht auf Bildung (Art 16) oder ein Recht auf sozialen Schutz (Art 15). Ein vergleichbarer Grundrechtskatalog, ein-
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EuGH, Slg 1971, 263, Rn 15 ff – AETR. EuGH, Slg 1996, I-1759, Rn 34 – Gutachten 2/94. Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129, 1148 ff. Dazu im einzelnen Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 569. Art I-9 VVE. ABl 2000 Nr C 364/1. ABl 1989 Nr C 120/51.
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schließlich der sozialen Grundrechte findet sich auch in Titel VIII der vom Parlament am 10.02.1994 angenommenen Entschließung zur Verfassung der Europäischen Union.87 Der Text der in Nizza angenommenen Europäischen Grundrechts-Charta wurde nicht in der bislang üblichen Form einer Regierungskonferenz erarbeitet, sondern in der Form eines sog „Konvents“. Hierdurch wurden neue Wege der Beteiligung nationaler Parlamente und der Öffentlichkeit beschritten. Der durch den Europäischen Rat von Tampere (Finnland) geschaffene Konvent bestand aus 15 Vertretern der nationalen Regierungen, 16 Europaabgeordneten, 30 nationalen Parlamentariern und einem Vertreter der Kommission. Die hierin liegende Abkehr von einer rein intergouvernementalen Form der Erarbeitung ist Ausdruck eines Schritts von „konstitutioneller Bedeutung“ 88 und vermittelt der Charta eine bislang in dieser Form auf europäischer Ebene nicht erreichte (parlamentarische) Legitimation.89 Allerdings hat sich der Europäische Rat von Nizza auf eine feierliche Proklamation der Charta beschränkt und es abgelehnt, ihr rechtliche Verbindlichkeit zukommen zu lassen oder sie gar im Primärrecht zu verankern. Mit der Proklamation der Charta verbindet sich demnach zur Zeit nur eine politische Aussage zu gemeinsamen europäischen Grundrechtsstandards, aber keine rechtliche Bindung der Gemeinschaftsorgane. Man würde die Bedeutung der Charta aber unterschätzen, wenn man sie wegen ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit als jedenfalls gegenwärtig für die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes irrelevant ansehen würde 90. Die Charta enthält die modernste Systematisierung der Grundrechte und kann gerade wegen der Zusammensetzung des Konvents und des dort weitgehend verfolgten Konsensprinzips als repräsentativer Ausdruck des gegenwärtigen Grundrechtsstandards in der Gemeinschaft angesehen werden. Schon aus diesem Grund dürfte die Charta für die Zukunft wegweisend sein. Ihre systematisierende Wirkung zeigt sich schon heute daran, dass die Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof in ihren Stellungnahmen zu Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof die Charta vielfach heranziehen, um ein mit den bisherigen Rechtserkenntnisquellen des europäischen Grundrechtsschutzes gewonnenes Ergebnis zu bestätigen. Im Januar 2002 hat erstmals auch das Europäische Gericht erster Instanz die Charta in dieser Weise zur Bestätigung der von ihm aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ermittelten Unionsgrundrechte herangezogen.91 Der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa sah in seinem Teil II die verbindliche Geltung der Grundrechts-Charta vor. Der Vertrag von Lissabon erhebt in Art 6 I 1 EUV-E die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung92 in den gleichen rechtlichen Rang wie die „Verträge“, d.h. den Vertrag über die Europäische Union zukünftiger Fassung und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich Polen und das Vereinigte Königreich durch ein Protokoll gegenüber einer Ausweitung der Befugnisse des EuGH oder ihrer eigenen nationalen Gerichte verwahren. Auch sollen durch die Charta keine für diese bei-
87 88 89 90 91 92
ABl 1994 Nr C 61/155. Vgl Leinen/Schönlau integration 24 (2001), 26. Bernsdorff NdsVBl 2001, 177, 178. Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 593 ff. EuG, EuZW 2002, 186, Rn 48 – max.mobil Telekommunikation Service GmbH. ABl 2007 Nr C 303/1.
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den Staaten geltenden subjektiven Rechte geschaffen werden, die nicht schon im nationalen Recht bestehen.93 Dieses Protokoll vermag allerdings nur die Wirkung der Charta im innerstaatlichen Recht dieser beiden Staaten zu begrenzen. Demgegenüber bleibt die Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte im Übrigen unangetastet. Diesen Befund unterstreicht Art 6 III EUV-E, der bestimmt, dass die Gemeinschaftsgrundrechte weiterhin als „allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ bleiben.
5. Der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte 39
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Ihrem historischen Kontext entsprechend konnte man die Unionsgrundrechte zunächst als ein Mittel verstehen, mit dem die Bindung der Gemeinschaftsorgane an grundrechtliche Schutzstandards gewährleistet werden sollte. Art 6 II EUV bringt heute mit der Formulierung „die Union achtet die Grundrechte …“ 94 die Bindung der Union (und damit auch der EG) deutlich zum Ausdruck. Allerdings konnte angesichts der durch den supranationalen Charakter des Gemeinschaftsrechts bewirkten engen Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht die Frage nach dem genauen Umfang der Bindungswirkung von Unionsgrundrechten, insbesondere die nach einer Erstreckung ihrer Bindungswirkung auf die Mitgliedstaaten, nicht ausbleiben.95 Der Gerichtshof hat in zwei Fallgruppen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte anerkannt: 1) beim Vollzug von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht durch Behörden der Mitgliedstaaten und 2) bei zulässigen Einschränkungen der durch das Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten.96 Im Übrigen hat er in einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 ausdrücklich festgehalten, dass die Unionsgrundrechte nicht dazu führen können, „dass der Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrages über die Zuständigkeiten der Gemeinschaft hinaus erweitert wird“ 97. Daneben gibt es im Bereich der auswärtigen Beziehungen der Gemeinschaft Elemente einer Grundrechtspolitik. Die Gemeinschaft hat in den Assoziierungsabkommen, die sie mit verschiedenen Staaten geschlossen hat, in zunehmendem Maße Grundrechtsklauseln aufgenommen, mit denen die Fortdauer der Zusammenarbeit von der Einhaltung bestimmter grundrechtlicher Mindeststandards abhängig gemacht wird.98 Über diesen sehr begrenzten Bereich hinaus gibt es bislang aber keine eigene Grundrechtspolitik der Gemeinschaft.99 Ein besonderes Problem für den Geltungsbereich der Unionsgrundrechte stellt sich im Bereich der Umsetzung von Sanktionen des Sicherheitsrats gegen Individuen. Im Zuge
93 Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl 2007 Nr C 306/156; s a die Erklärungen Nr 60 und 61 Polens, ABl 2007 Nr C 306/270. 94 Hervorhebung des Verf. 95 Dazu Ruffert EuGRZ 1995, 518 ff; → § 14 Rn 48 ff. 96 EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; Slg 1991, I-2925, Rn 42 f – ERT; ausf dazu Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 56 ff. 97 EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 45 – Grant = JK 04/99, EGV Art 119/1; auch Art 6 I 2 EUV-E enthält eine solche Beschränkung. 98 Ausf zu diesen Klauseln: Hoffmeister Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Simma/Aschenbrenner/Schulte in: Alston (Hrsg), The EU and Human Rights, 1999, 571 ff. 99 S dazu einerseits Alston/Weiler in: Alston (Fn 98) S 3 ff und andererseits v Bogdandy JZ 2001, 157 ff.
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der Terrorismusbekämpfung und im Rahmen von Maßnahmen gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hat der Sicherheitsrat seine Befugnisse aus Kapitel VII der UN-Charta in den letzten Jahren auch dazu genutzt, Maßnahmen gegen konkret benannte Privatpersonen und Organisationen zu ergreifen100. Da sich die Gemeinschaft bei der Umsetzung auch solcher Maßnahmen für zuständig hält, stellt sich die Frage nach Rechtsschutzmöglichkeiten vor den europäischen Gerichten, wenn die Betroffenen sich gegen die Sanktionen wehren wollen. Hier hatte das EuG zunächst unter Hinweis auf den für die Mitgliedstaaten bindenden Charakter von Sicherheitsratsbeschlüssen die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte verneint und sich auf einen völkerrechtlichen Mindeststandard des ius cogens beschränkt 101. Der EuGH ist dieser Auffassung nun im Rechtsmittelverfahren zu Recht entgegen getreten und versteht den gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsakt als uneingeschränkt der Bindung an die Unionsgrundrechte unterworfen102.
IV. Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital kennzeichnet nach Art 14 II EGV (26 II AEUV) den von der Gemeinschaft errichteten Binnenmarkt. Die hierdurch gewährleisteten sog Markt- oder Grundfreiheiten gehören zu den wichtigsten Eckpfeilern des Gemeinschaftsrechts. Der Begriff der „Grundfreiheit“ wird zwar in den Verträgen nicht ausdrücklich verwendet, hat sich aber in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur eingebürgert 103. Er wird seit Beginn der achtziger Jahre auch vom EuGH verwendet104 und fand Eingang in die nicht-deutschsprachige Literatur.105 Hiermit ist eine gewisse Begriffsverengung und -verschiebung gegenüber dem früheren Sprachgebrauch verbunden. Noch im Jahr 1950 bezeichnete die EMRK die durch sie gewährleisteten Menschenrechte auch als „Grundfreiheiten“. Ungeachtet grundrechtlicher Gehalte, insbesondere der durch den EG-Vertrag garantierten Personenverkehrsfreiheiten106, liegt es auf der Hand, dass ein jeweils unterschiedliches Begriffsverständnis vorliegt. Die EMRK verwendet den Begriff der Grundfreiheit für die in einem Katalog garantierten Menschenrechte, das Gemeinschaftsrecht bezeichnet damit die für die Herstellung des Binnenmarktes notwendigen wirtschaftlichen Freiheiten im grenzüberschreitenden Verkehr. Die Grundfreiheiten waren von Anfang an Bestandteil der Gemeinschaftsverträge. Sie haben allerdings im Laufe der Zeit eine erhebliche Verdeutlichung und Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren. Sie entwickelten sich in dieser Rechtsprechung von zunächst auf Abbau von Benachteiligungen aufgrund der Staatsangehörigkeit gerichteten Diskriminierungsverboten zu weit reichenden Beschränkungsverboten, in
100 S zB SC Res 1267 v 15.10.1999; SC Res 1521 v 22.12.2003; SC Res 1540 v 28.04.2004. 101 EuG, Slg 2005, II-3533 Rn. 272 u 277 – Yusuf; Slg 2005, II-3649, Rn 283 – Kadi. 102 EuGH, EuGRZ 2008, 480, Rn 299 – Kadi. Vgl zur Problematik Kämmerer EuR, Beiheft 1, 2008, 65 ff; Ohler EuZW 2008, 630 ff; Sauer NJW 2008, 3685 ff; Schmalenbach, JZ 2009, 35 ff. 103 Zum Begriff s Kingreen in: v Bogdandy, Europ VfR, 631 ff. 104 EuGH, Slg 1981, 2595, Rn 8 – Casati; s näher Pfeil Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1998, 4 ff. 105 Nachweise bei Pfeil (Fn 104) 6 ff. 106 Oppermann ER, § 6 Rn 31.
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denen schließlich auch dogmatisch die Konturen wirtschaftlicher Freiheitsrechte erkennbar werden. Hinzu kommen in den vergangenen Jahren auch ein Ausbau der Personenverkehrsfreiheiten und der Unionsbürgerschaft zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht. Wichtige Meilensteine dieser Entwicklung sind: 1) die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte mit der Folge ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten; 2) der Ausbau des Schutzbereiches der Grundfreiheiten zu umfassenden Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten; 3) die Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Gewährleistungen aus dem mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeitsrecht (Art 18 EGV/21 AEUV) und schließlich 4) die Verwendung von grundrechtsdogmatischen Argumentationsmustern in Form von „Drittwirkung“ und „Schutzpflichten“.
1. Anerkennung als subjektiv-öffentliche Rechte 44
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Für die gesamte weitere Entwicklung des Gemeinschaftsrechts von zentraler Bedeutung ist die Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte in der Entscheidung van Gend&Loos aus dem Jahr 1963. Heute ist der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des primären Gemeinschaftsrechts (→ vgl § 7 Rn 7) so selbstverständlich geworden, dass die damalige Position der niederländischen und der belgischen Regierung, über die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts entscheide das jeweilige nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, kaum noch nachvollziehbar erscheint. Vergleicht man die Haltung der beiden Regierungen mit der Entscheidung des EuGH, so zeigt sich, welchen erheblichen qualitativen Sprung die Gemeinschaftsrechtsordnung mit der Anerkennung der Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber sonstigen völkerrechtlichen Verträgen machte.107 Nach der Entscheidung des EuGH in dem Verfahren van Gend&Loos schafft die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger sind. Der Vertrag solle auch dem einzelnen Rechte verleihen: „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“ 108 Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten (und anderer Bestimmungen, die solche „eindeutigen Verpflichtungen“ begründen) führte in den Folgejahren dazu, dass das Gemeinschaftsrecht die internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang beeinflusste. Die praktische Bedeutung dieser Rechtsprechung und ihre Wirkung auf die nationalen Rechtsordnungen zeigen sich daran, dass gerade die besonders umstrittenen Entscheidungen des EuGH nicht zu Fragen der Kompetenz der Gemeinschaft ergingen, sondern zur Bedeutung der Grundfreiheiten und zur unmittelbaren Anwendung des Gemeinschaftsrechts.109
107 Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 24. 108 EuGH, Slg 1963, 3, 12 – van Gend & Loos. 109 S etwa EuGH, Slg 1998, I-1931 ff – Kohll; Slg 1998, I-1831 ff – Decker; Slg 2000, I-69 ff – Kreil.
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2. Auslegung der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote 110 Zu dieser Entwicklung trug maßgeblich bei, dass der Gerichtshof die Grundfreiheiten nach und nach zu umfassenden Wirtschaftsfreiheiten ausbaute, die nicht nur offene und versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbieten, sondern alle Maßnahmen untersagen, die zu einer Beschränkung des Waren- und Personenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten führen können. Nach dem Wortlaut im Vertragstext bestehen nicht unerhebliche Unterschiede im Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten. Während die Warenverkehrsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ausdrücklich Beschränkungen als unzulässig bezeichnen (vgl Art 28 u Art 49 I 1 EGV/34 u 56 I 1 AEUV), statuieren die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit zunächst einmal nur ein Verbot der Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 39 II u Art 43 EGV/45 II u 49 AEUV). Der EuGH hat allerdings im Laufe der Jahre alle Grundfreiheiten so ausgelegt, dass sie sowohl ein Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot aufstellen. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit als Schrittmacher für die Entwicklung bei den anderen Grundfreiheiten erwiesen hat. Das umfassende Beschränkungsverbot für die Warenverkehrsfreiheit formulierte der EuGH in dem Verfahren Dassonville. Nach der seither so genannten Dassonville-Formel sind unter Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne von Art 28 EGV alle Handelsregelungen der Mitgliedstaaten zu verstehen, die geeignet sind, „den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.“111 Diese Formulierung macht deutlich, dass auch diskriminierungsfreie Beschränkungen des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich von Art 28 EGV fallen. In letzter Konsequenz hätte diese weite Auslegung des Beschränkungsverbots dazu geführt, dass im Prinzip jedes Produkt, das in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht wurde, uneingeschränkt in die anderen Mitgliedstaaten hätte eingeführt und dort vertrieben werden können.112 Aus dem Bestreben, eine so weitreichende Konsequenz zu vermeiden, erklärt sich die Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung, die zwingende Erfordernisse des Gesundheits- und Verbraucherschutzes sowie des Schutzes des Handelsverkehrs und der steuerlichen Kontrolle schon aus dem Tatbestand des Art 28 EGV ausnimmt.113 Auch die Entscheidung in dem Verfahren Keck und Mithouard, mit der Beschränkungen von Verkaufsmodalitäten114, also etwa Ladenöffnungszeiten115 oder eine Apothekenpflichtigkeit bestimmter Produkte116, gleichfalls schon aus dem Tatbestand des Art 28 EGV ausgenommen wurden, verfolgt das Ziel, die Wirkungen der weiten Dassonville-Formel einzuschränken. Bei der Warenverkehrsfreiheit zeigt sich also eine zunächst den Tatbestand ausweitende, dann aber für bestimmte Fallgruppen wieder einschränkende Rechtsprechung. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich für die anderen Grundfreiheiten nachweisen. Für die Dienstleistungsfreiheit, die schon nach dem Vertragstext kein bloßes Diskriminie-
110 111 112 113 114 115 116
→ dazu ausf § 7 Rn 20 ff. EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 16. EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG. EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck und Mithouard. EuGH, Slg 1994, I-2355, Rn 12 f – Punta casa. EuGH, Slg 2003, I-14887, Rn 72 – Deutscher Apothekerverband e.V.
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rungsverbot aufstellt, hat der EuGH dies bereits in seiner ersten Entscheidung zu erkennen gegeben.117 Die Entscheidung Alpine Investments deutet an, dass die einschränkende Auslegung durch die Keck-Entscheidung grundsätzlich auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen werden kann.118 Auch die Niederlassungsfreiheit wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom bloßen Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot ausgebaut.119 In der viel beachteten Bosman-Entscheidung hat der EuGH schließlich die genannten Grundsätze auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit angewandt. Dort hat er auch angedeutet, dass nicht nur der Grundgedanke des Beschränkungsverbots übertragen werden kann, sondern auch die einschränkende Auslegung nach der Keck-Formel.120 Insgesamt kann man in der Rechtsprechung der vergangenen Jahre somit eine Konvergenz zu einer gemeinsamen Dogmatik der Grundfreiheiten feststellen.121
3. Ergänzung der Personenverkehrsfreiheiten um Rechte aus der Unionsbürgerschaft 49
Das Freizügigkeitsrecht aus Art 18 EGV (21 AEUV) bildet die Rechtsgrundlage für ein allgemeines, von den ökonomischen Freiheiten unabhängiges Freizügigkeitsrecht122. Die Bestimmung ist nach der neueren Rechtsprechung des EuGH jedenfalls in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot 123 und nach nahezu einhelliger Auffassung in der Literatur unmittelbar anwendbar124. In Kombination mit dem Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) wirkt sie zunehmend als Katalysator für eine umfassende sozialrechtliche Gleichstellung der Unionsbürger. Deutlichstes Beispiel für diese Entwicklung ist die Entscheidung in der Rechtssache D’Hoop: Einer Belgierin wurde in Belgien ein bestimmter sozialrechtlicher Anspruch (ein Überbrückungsgeld beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf) mit der Begründung verweigert, dass sie ihre höhere Schulausbildung nicht in Belgien, sondern in Frankreich abgeschlossen habe. Der EuGH sah darin eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung aufgrund eines Gebrauchs des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aus Art 18 EGV. Unabhängig davon, ob man diese Entwicklung eher negativ als „Einfallstor für einen fast grenzenlosen Anwendungsbereich des Art 12 EGV“ versteht125, oder in ihr eine zu begrüßende Stärkung der Rechte des einzel-
117 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10 – van Binsbergen. 118 EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 33 ff – Alpine Investment. 119 Vgl die zusammenfassende Darstellung der Grundsätze in EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 ff – Gebhard, sowie die Beschreibung der Entwicklung der Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit bei Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 22 ff; vgl aber auch dort Rn 30 f zur Kritik am Sprachgebrauch des Diskriminierungsbegriffs. 120 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 103 – Bosman; s deutlicher insoweit noch die Schlussanträge GA Lenz, ebd, Rn 206; s a die Erörterung des Problems und der verschiedenen vertretenen Positionen bei Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, 124 –129; Schulte-Westenberg Zur Bedeutung der ‚Keck‘-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Arbeitnehmerfreizügigkeit gem Art 39 EG, 2009. 121 Hilf/Pache NJW 1996, 1169, 1172; Kingreen (Fn 107) S 61 f; s a Classen EWS 1995, 97 ff. 122 Kadelbach in: v Bogdandy, Europ VfR, 539, 552 f. 123 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 30 ff – Grzelczyk; Slg 2002, I-6191, Rn 25 ff – D’Hoop; Slg 2002, I-7091, Rn 84 ff – Baumbast; Slg 2004, I-7573, Rn 31 ff – Trojani; vgl a die abweichende Meinung GA Geelhoed, EuGH Trojani, Rn 66 ff. 124 Nachw bei Kadelbach in: v Bogdandy, Europ VfR, 539, 553; Streinz ER, Rn 955 ff; s a Scheuing EuR 2003, 744, 759 ff; krit zur Methodik des EuGH Hailbronner NJW 2004, 2185, 2186 ff. 125 Bode EuZW 2002, 637, 639.
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nen sieht126, macht sie das Freizügigkeitsrecht aus der Unionsbürgerschaft zu einem Auffanggrundrecht in allen Fällen, die mangels eines wirtschaftlichen Bezugs nicht unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die Niederlassungsfreiheit fallen.
4. Drittwirkung und Schutzpflichten: Grundrechtsdogmatik in der Argumentation des EuGH zu den Grundfreiheiten 127 Mit der Bosman-Entscheidung hat der EuGH zugleich auch seine schon früher entwickelte Rechtsprechung bestätigt, nach der die Grundfreiheiten nicht nur staatliche Stellen in den Mitgliedstaaten binden, sondern auch Privatpersonen. Unklar blieb allerdings noch der Umfang dieser Drittwirkung. In den Entscheidungen Walrave 128 und Bosman wurde sie für die Dienstleistungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gegenüber Sportverbänden und anderen Vereinigungen angenommen, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit befugt sind. Aus diesem Grund wurde in der Literatur vielfach eine unmittelbare Drittwirkung nur dann angenommen, wenn die betreffenden Privatpersonen mit einer gewissen Regelungsbefugnis ausgestattet waren.129 Für die Warenverkehrsfreiheit lehnt der EuGH nach anfänglichen Unsicherheiten inzwischen generell in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Drittwirkung ab.130 Im Sommer 2000 sprach der EuGH schließlich in dem Verfahren Angonese jedenfalls der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine unmittelbare Drittwirkung auch in Fällen zu, in denen es gerade an einer sozialen Machtausübung durch eine Vereinigung zur Wahrnehmung kollektiver Interessen fehlte.131 Es ist kaum anzunehmen, dass damit das letzte Wort in Sachen unmittelbarer Drittwirkung gesprochen ist132. Die Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen.133 Außerdem betraf sie – anders als der Fall Bosman – eine Diskriminierungssituation und erlaubt deshalb nicht zwangsläufig Rückschlüsse darauf, wie in einem vergleichbaren Fall mit einer nicht diskriminierenden, sondern nur beschränkenden Maßnahme entschieden worden wäre. Schließlich bleibt das grundsätzliche Problem, eine Dogmatik zu entwickeln, mit der die Drittwirkungsproblematik für alle Grundfreiheiten gelöst werden kann. Hinzu kommt, dass mit der für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten dogmatischen Figur der Schutzpflicht134 ein Instrument zur Verfügung steht, das ähnliche Ziele verfolgt.135 Als französische Bauern immer wieder gewaltsam den Import von Agrarprodukten aus Spanien und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verhinderten und die Kommission deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einleitete, stand
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So die Tendenz bei Borchardt NJW 2000, 2057, 2058. → dazu ausf § 7 Rn 50 ff. EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 17 ff – Walrave. Streinz/Leible EuZW 2000, 459 ff mwN. Dazu im Einzelnen die ausf Analyse der Rechtsprechung bei Ganten (Fn 120) 34–45; Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 45–64; s a Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 460. EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 31, 36 – Angonese = JK 1/01, EGV Art 39/1. Kingreen in: v Bogdandy, Europ VfR, 631, 677 ff. Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464 ff. Vgl Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH C-231/03, Rn 48 – Coname. S vergleichend zur dogmatischen Begründung von Schutzpflichten Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, 222 ff.
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der EuGH vor einem der Drittwirkungsproblematik vergleichbaren Problem. Auch hier ging es darum, die Geltung der Grundfreiheiten gegenüber einer Beschränkung durch privates Handeln durchzusetzen. Anders als bei der Dienstleistungsfreiheit wählte der Gerichtshof aber nicht den Weg über eine unmittelbare Drittwirkung, sondern leitete aus der Warenverkehrsfreiheit eine staatliche Schutzpflicht ab, Behinderungen der Warenverkehrsfreiheit durch Private zu verhindern. Er entschied deshalb, dass Frankreich gegen seine Pflichten aus dem EG-Vertrag verstoßen habe, weil es gegenüber regelmäßig wiederkehrenden gewalttätigen Protesten untätig geblieben sei.136 Auf diesem Weg wird faktisch das gleiche Ergebnis erreicht: Die Geltung der Grundfreiheiten muss auch gegenüber Störungen durch Private durchgesetzt werden. Allerdings erfolgt dies nicht durch eine unmittelbare Anwendung der entsprechenden Vertragsbestimmungen gegen die störenden Privatpersonen, sondern nur mittelbar über die Ableitung einer Schutzpflicht des Staates, der dann gehalten ist, die Störung zu unterbinden. Schon an der Begrifflichkeit und den nunmehr in Rechtsprechung und Literatur verwendeten dogmatischen Figuren zeigt sich, in welchem Umfang die Grundfreiheiten inzwischen Anleihe bei den allgemeinen Grundrechtslehren nehmen: Schutzpflicht und mittelbare oder unmittelbare Drittwirkung sind Begriffe, die der Grundrechtsdogmatik entlehnt sind und deutlich machen, dass die Grundfreiheiten sich von der ursprünglich vor allem auf der Beseitigung von Diskriminierungen liegenden Akzentsetzung 137 weit entfernt und sich durch die Rechtsprechung des EuGH inzwischen in echte wirtschaftliche Freiheitsrechte verwandelt haben.138
V. Auswirkungen des Vertrages von Lissabon 53
Der am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon bewirkt an den hier beschriebenen Entwicklungen keine grundsätzlichen Veränderungen, sondern schreibt sie kontinuierlich fort. Der Inhalt der Grundrechts-Charta wird mit Inkraftreten des Vertrags verbindlich (vgl bereits oben Rn 38) und man kann nach der Formulierung in Art 6 II EUV-E von einem alsbaldigen Beitritt der EU zur EMRK ausgehen, sofern das 14. ZP zur EMRK ebenfalls eines Tages in Kraft tritt. Bei der Dogmatik der Grundfreiheiten sind ebenfalls an den hier beschriebenen Entwicklungen unmittelbar mit dem Reformvertrag keine Änderungen verbunden.
VI. Zusammenfassung: Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in einem Europa mehrerer Ebenen 54
Die beschriebenen Einzelentwicklungen im Recht der Europäischen Union und der EMRK entfalten Wechselwirkungen untereinander, finden aber nicht in einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung, sondern auf unterschiedlichen Ebenen statt. Dies macht Verallgemeinerungen schwierig. Folgende Entwicklungslinien lassen sich aber zusammenfassend festhalten: 136 EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 30 ff – Kommission/Frankreich; dazu Szczekalla DVBl 1998, 219 ff. 137 Vgl etwa die Beschreibung des Zwecks eines Verbots von Maßnahmen mit gleicher Wirkung in Art 28 EGV bei H P Ipsen EuGR, 588 f. 138 Gegen ein freiheitsrechtliches Verständnis und für einen materiellen Diskriminierungsbegriff argumentiert Kingreen (Fn 107) S 72 u 118 ff.
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1) Der nationale Grundrechtsschutz wurde seit 1945 um einen zunehmend sich intensivierenden internationalen Menschenrechtsschutz ergänzt. Spätestens mit der Ausgestaltung, die das Rechtsschutzsystem der EMRK durch das 11. ZP seit dem 01.11.1998 erlangt hat, nimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte quasi-verfassungsgerichtliche Funktionen des Grundrechtsschutzes in Europa wahr. 2) Für eine so intensiv in die nationalen Rechtsordnungen hineinreichende supranationale Rechtsordnung wie die des Gemeinschaftsrechts hat sich ein eigener Grundrechtsschutz innerhalb der Organisation als unumgänglich erwiesen. Dieser wird durch die Rechtsprechung des EuGH gewährleistet. Bislang ist die Gemeinschaft zwar der EMRK nicht förmlich beigetreten, aber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg sorgen für eine weitgehende Parallelität der Prüfungsmaßstäbe. Eine Identität des Schutzniveaus können sie freilich nicht bewirken. Die europäische Grundrechts-Charta entfaltet zwar bis zum Inkraftreten des Vertrags von Lissabon keine förmliche Bindungswirkung, in ihr liegt aber schon jetzt eine Systematisierungsleistung, die bewirkt, dass sie von den Generalanwälten und dem Gericht erster Instanz zur Bestätigung ihres Auslegungsergebnisses herangezogen wird. Mit dem Inkraftreten des 14. ZP zur EMRK und dem Vertrag von Lissabon würde ein Beitritt der Europäischen Union zur EMRK möglich. 3) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bemüht sich in den vergangenen Jahren zunehmend darum, das Schutzniveau der EMRK nicht nur in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, sondern er hält die Mitgliedstaaten dazu an, die Grundrechtsverbürgungen der EMRK auch dann sicherzustellen, wenn sie Aufgaben aus dem nationalen Bereich auf internationale Organisationen verlagern. 4) Die ursprünglich vor allem für den Abbau von Diskriminierungen im innergemeinschaftlichen Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr entwickelten Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts haben durch die Ausformung als Beschränkungsverbote in der Rechtsprechung des EuGH zunehmend den Charakter wirtschaftlicher Grundrechte gewonnen. Sie werden im Bereich der Personenfreiheit durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art 18 EGV ergänzt, das im Zusammenwirken mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art 12 EGV ein Auffanggrundrecht für diejenigen Fälle ist, in denen eine Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit am mangelnden wirtschaftlichen Bezug scheitert.
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Eine wachsende Herausforderung liegt in der Organisation eines mehrebenenübergreifenden Grundrechtsschutzes, in den das Handeln internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen einbezogen wird und der zugleich das Verhältnis der beiden europäischen Gerichtshöfe EuGH und EGMR zueinander klärt.139
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139 Vgl zu dieser Problematik Schmahl EuR, Beiheft 1, 2008, 7 ff; Dederer ZaöRV 66 (2006), 575 ff; Giegerich EuGRZ 2004, 758 ff.
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2. Teil: Die Europäische Menschenrechtskonvention §2 Allgemeine Lehren der EMRK Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EGMR, NJW 1993, 718 ff – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1; NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 8/99, EMRK Art 8/3; NJW 1999, 1173 ff – Waite u Kennedy = JK 12/99, EMRK Art 6/2; NJW 1999, 3107 ff – Matthews = JK 11/99, EMRK Art 3 1. ZP/2; NJW 2001, 3035 ff – Krenz; Urt v 31.07.2001 – Verbot der islamischen Partei Refah; NJW 2004, 2647 ff – Caroline von Hannover = JK 4/05 EMRK Art 8/4; NJW 2005, 2530 ff – von Maltzan = JK 6/06, EMRK Art 1 1. ZP/2; NJW 2006, 197 ff – Bosphorus = JK 7/06, EMRK Art 1/3; NJW 2006, 2389 ff – Sürmeli =JK 3/07, EMRK Art 13/1; EuGRZ 2008, 466 ff – Magnus Gäfgen = JK 1/09 EMRK Art 3/3; BVerfGE 111, 307 ff – Geltung EMRK und Bindungswirkung = JK 3/05, GG Art 20 III/39. Schrifttum: Frowein/Peukert (Hrsg), Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl 1996; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2008; Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006; Janis/Kay/ Bradley European Human Rights Law, 3. Aufl 2008; Karl (Hrsg), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtsvention, 2004, Loseblatt; Kadelbach in: Ehlers/Schoch (Hrsg), Rechtsschutz im öffentlichen Recht, 2009, §§ 2, 5; Meyer-Ladewig Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 2. Aufl 2006; Mowbray European Convention on Human Rights, 2. Aufl 2007; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003; Reid A Practitioner’s Guide to the European Convention on Human Rights, 2. Aufl 2004; Schilling Internationaler Menschenrechtsschutz, 2004.
I. Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts Fall 1: (EGMR, NJW 2004, 2647 ff – Caroline von Hannover = JK 4/05, EMRK Art 8/4) Die Bf (Caroline von Hannover) ist die Schwester des heutigen und die älteste Tochter des früheren Regierenden Fürsten von Monaco. Sie ist Vorsitzende verschiedener humanitärer und kultureller Stiftungen, übt jedoch keinerlei Amt im Fürstentum aus. Sie fühlt sich fortwährend von sog Paparazzi in ihrem Privatleben beobachtet und verfolgt und wendet sich gegen die Veröffentlichung von Fotos in der „Yellow-Presse“ deutscher Zeitschriften. Ihre Klage vor deutschen Gerichten sowie eine VB hatten nur teilweise Erfolg.1 Die Bf wendet sich mit einer Individualbeschwerde an den EGMR und rügt eine Verletzung des von Art 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Fall 2: (BVerfGE 111, 307 – Görgülü = JK 3/05, GG Art 20 III/39) Der Bf hat sich als Vater eines nichtehelich geborenen, mittlerweile von einer anderen Familie adoptierten Sohnes vergeblich vor dem letztinstanzlich zuständigen deutschen OLG um eine Übertragung des Sorgerechts und die Einräumung eines Umgangsrechtes mit seinem Sohn bemüht. Auf seine Individualbeschwerde hin hat der EGMR festgestellt, dass die Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts den Bf in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art 8 EMRK verletzen. Einen erneuten
1 BGHZ 131, 332 ff; BVerfGE 101, 361 ff.
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Antrag, ihm die elterliche Sorge zu übertragen und ein Umgangsrecht einzuräumen, hat das OLG letztinstanzlich mit der Begründung abgewiesen, dass der Urteilsspruch des EGMR nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht aber deren Gerichte bindet. Mit seiner dagegen vor dem BVerfG erhobenen VB rügt der Bf die Verletzung des Art 6 GG.
1. Universeller und regionaler Menschenrechtsschutz 3
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Grund- oder Menschenrechte des Einzelnen gegenüber den Trägern hoheitlicher Gewalt werden heute auf universeller, regionaler und nationaler Ebene anerkannt. Letzteres wird jedenfalls in der westlichen Welt mittlerweile als selbstverständlich erachtet. Universell gesehen ist neben zahlreichen speziellen Konventionen (zB gegen Völkermord, Folter, Sklaverei, Rassendiskriminierung, Diskriminierung von Frauen und zur Wahrung der Rechte von Kindern) 2 vor allem die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 3 zu nennen. Die AEMR enthält einen Katalog der wichtigsten bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte wie das Recht auf Leben und Freiheit, das Verbot der Sklaverei und Folter, die Gleichheit vor dem Gesetz und den Anspruch auf Rechtsschutz. Zugleich anerkennt sie die Schranken, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, um die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten der anderen zu gewährleisten und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen (Art 29). Ob die nicht mittels einer völkerrechtlichen Rechtsquelle, sondern einer Resolution zur Geltung gebrachte Erklärung völkerrechtliche Bindungswirkungen erzeugt, ist umstritten.4 Jedenfalls trägt sie zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht bei. Außerdem nehmen zahlreiche Menschenrechtsgewährleistungen auf die AEMR Bezug. So wird sie auch in der Präambel der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) erwähnt, ohne damit in die EMRK inkorporiert zu werden. Die AEMR statuiert einen Mindeststandard der Menschenrechte, an dem der Menschenrechtsschutz in den Staaten und Regionen gemessen werden kann. Politisch wird die Einhaltung des Standards durch einen der Generalversammlung der Vereinten Nationen zugeordneten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen überwacht.5 Auf universeller Ebene völkerrechtlich abgesichert wurde der Menschenrechtsschutz durch den in Deutschland 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) vom 19.12.1966.6 Die Pakte gelten heute in rund 75 % der existierenden Staaten, darunter in allen Mitgliedstaaten des Europarates. Der IPbürgR wiederholt sinngemäß die liberalen Verbürgungen der AEMR, wobei die Gewährleistungen zumeist detaillierter geraten sind und nur teilweise einen Gesetzesvorbehalt kennen (vgl Art 9, 12). Es besteht aber keine Deckungsgleichheit. ZB enthält der IPbürgR im Gegensatz zur AEMR Bestim-
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Vgl die Übersicht bei Ipsen in: ders, VR, § 48 Rn 1 ff; Stein/v Buttlar VR, Rn 1017 ff. Sart II Nr 15. Vgl Hailbronner in: Graf Vitzthum, VR, III Rn 223; Epping in: Ipsen, VR, § 7 Rn 10. Vgl Schilling IMR, Rn 6; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 2 Rn 6. Vgl BGBl II 1973, 1534, 1570 = Sart II Nr 20 und Nr 21.
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mungen über die Todesstrafe 7, anders als Art 17 AEMR aber keine Garantie des Rechts auf Eigentum. Im Falle eines öffentlichen Notstandes dürfen die Rechte teilweise suspendiert werden (Art 4). Im Gegensatz zum IPbürgR enthält der auf die Initiative der damaligen sozialistischen Staaten zurückgehende IPwirtR keine unmittelbar anwendbaren Rechtspflichten, wohl aber allgemeine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Versprechungen objektiv-rechtlicher Art. Zur Durchsetzung der in den Pakten garantierten Rechte dient zunächst ein periodisches und obligatorisches Berichtssystem der Vertragsstaaten (Art 40 IPbürgR; Art 16 IPwirtR). Die auf der Grundlage des IPbürgR erstatteten Berichte werden durch den aus gewählten unabhängigen Mitgliedern bestehenden Menschenrechtsausschuss (Art 28 IPbürgR), die Berichte iSd IPwirtR durch den aus unabhängigen Experten bestehenden Ausschuss für Wirtschaft und kulturelle Rechte, der als Hilfsorgan des Wirtschafts- und Sozialrates nach Art 68 der UN-Charta durch den Sicherheitsrat errichtet wurde, geprüft und ausgewertet.8 Sodann sieht der IPbürgR (nicht der IPwirtR) sowohl eine fakultative Staatenbeschwerde (Art 41) als auch eine fakultative Individualbeschwerde9 vor. In beiden Fällen findet eine Überprüfung in einem gerichtsähnlichen Verfahren durch den Menschenrechtsausschuss statt, der einen Bericht über den Sachverhalt abgibt (und nicht etwa Feststellungen über eine Vertragsverletzung trifft)10 oder auf eine Individualbeschwerde hin seine (die Vertragsstaaten nicht bindende) Auffassung mitteilt.11 Die Bundesrepublik Deutschland hat beide Beschwerdemöglichkeiten mit gewissen Vorbehalten anerkannt.12 Das Staatenbeschwerdeverfahren wird in der Praxis nicht in Anspruch genommen. Die Möglichkeit, Individualbeschwerde zu erheben, dürfte für Europäer ebenfalls nicht von großem Interesse sein, weil der Menschenrechtsausschuss zum einen nur tätig wird, wenn dieselbe Sache nicht bereits in einem anderen internationalen Streitbeilegungsverfahren geprüft wird und der innerstaatliche Rechtsschutz erschöpft wurde 13, die EMRK zum anderen einen ungleich effektiveren Rechtsschutz zur Verfügung stellt (Rn 67 ff).14 Das heißt aber nicht, dass die Menschenrechtspakte in Europa vernachlässigt werden können. Sie wirken in mancherlei Hinsicht auf die EMRK ein. So garantiert der IPbürgR Rechte, die in der EMRK nicht enthalten sind und erst im 7. Zusatzprotokoll (ZP) zur EMRK garantiert wurden, um den Menschenrechtsschutz der EMRK auf den Stand des IPbürgR zu bringen.15 Zwar kein genuin menschenrechtliches Instrument, aber eine gewisse Absicherung menschenrechtlicher Standards in den Vertragsstaaten gewährleistet zudem die individuelle strafrecht-
7 Vgl Art 6 sowie das Zweite Fakultativprotokoll zu dem IPbürgR zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15.12.1989, BGBl II 1992, 391 = Sart II 20b. 8 Vgl Hailbronner in: Graf Vitzthum, VR, III Rn 227. Näher zur Berichterstattung und deren Mängel Schilling IMR, Rn 478 ff. 9 Art 2 Fakultativprotokoll zum IPbürgR v 19.12.1966, BGBl II 1992, 1247 = Sart II Nr 20a. 10 Art 41 I IPbürgR. 11 Art 5 IV Fakultativprotokoll zum IPbürgR v. 19.12.1966, BGBl II 1992, 1247 = Sart II Nr. 20a. 12 Der Vorbehalt in Bezug auf die Individualbeschwerde ist im Sart II Nr 20a, S 1 abgedruckt. 13 Art 5 II Fakultativprotokoll zum IPbürgR. 14 Von den 17 Beschwerden, die bisher gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet wurden, war keine erfolgreich. Näher zur Zulässigkeit und Begründetheit einer Beschwerde zum Menschenrechtsausschuss sowie zu dem Individualbeschwerdeverfahren vor dem Menschenrechtsausschuss Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 2 Rn 19 ff. 15 Vgl zB einerseits Art 14 V, VI, VII, 23 IV IPbürgR, andererseits Art 2 I, 3, 4, 5 7. ZP EMRK.
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liche Sanktionsmöglichkeit bei Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH).16 Regionale Menschenrechtsverbürgungen gibt es zB in Gestalt der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker und der Arabischen Charta der Menschenrechte.17 Vor allem aber ist auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.1950 18 zu verweisen, welche die älteste regionale Menschenrechtskonvention neuzeitiger Art darstellt und zusammen mit der OSZE (→ § 1 Rn 2) und dem Recht der Euopäischen Union (Rn 18) einen Mindestgrundrechtsstandard in Europa gewährleisten will. Bei der EMRK handelt es sich um einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag, der erstmalig nicht nur die Beziehung zwischen Staaten oder internationalen Organisationen und Staaten, sondern zwischen Staaten und Individuen zum Gegenstand hat. Die Individuen sind nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Regelungen und können mittels Erhebung einer Individualbeschwerde ihre Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) durchsetzen. Dies läuft auf die Anerkennung einer partiellen Völkerrechtssubjektivität von Individuen hinaus.
2. Grundlagen und Wirkungsweise der EMRK 7
Die EMRK ist vom Europarat 19 verabschiedet worden. Dieser stellt eine von den europäischen Staaten im Jahre 1949 gebildete völkerrechtliche Organisation zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, sowie zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts dar.20 Im Jahre 1950 ist die Bundesrepublik Deutschland assoziiertes Mitglied, 1951 Vollmitglied des Europarates geworden. Bis Anfang des Jahres 2009 sind 47 Staaten Europas (einschließlich aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie so großer, aber am Rande von Europa liegender Staaten wie der Russischen Föderation und der Türkei) dieser Organisation beigetreten. In Wahrnehmung seines Förderauftrags hat der Europarat annähernd 200 Konventionen oder Übereinkommen verabschiedet. So wurde zB im Jahre 1961 als sozialrechtliches Pendant zur EMRK die bisher nicht von allen Mitgliedstaaten des Europarates in Kraft gesetzte Europäische Sozialcharta erlassen.21 Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, zehn der neunzehn rechtsgewährenden Artikel oder 45 Absätze der Sozialchartabestimmungen als bindend anzunehmen (Art 20) und Berichte über die angenommenen Bestimmungen zu verfassen (Art 21), die von einem Sachverständigenausschuss überprüft werden (Art 24 f). Weitaus die größte Bedeutung von allen Abkommen des Europarates kommt jedoch der EMRK zu. Schon nach Art 3 der Satzung des Europarates muss jedes Mitglied den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie den Grundsatz anerkennen, dass jeder, welcher der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Um diese Grundsätze zu bekräftigen und mit Leben zu
16 Vgl auch das Internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und das Internationale Tribunal für Ruanda (ICTR). 17 Vgl den Überblick bei Ipsen in: ders, VR § 49 Rn 16 ff; ferner Wittinger Jura 1999, 405 ff. 18 BGBl II 1952, 685 = Sart II Nr 130. 19 Vgl BGBl II 1964, 1262 = Sart II Nr 115. 20 Art 1 lit a der Satzung des Europarates, BGBl I 1950, 263 = Sart II Nr 110. 21 Sart II Nr 115.
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erfüllen, ist die stark von der AEMR beeinflusste EMRK am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet worden. Nach Ratifizierung durch zehn Staaten (darunter die Bundesrepublik Deutschland) ist die Konvention am 3.9.1953 in Kraft getreten.22 Maßgebend ist allein die englische und französische Sprachfassung.23 Die Bedeutung der Bindung an die Europäische Menschenrechtskonvention kann besonders in Staaten, die keine rechtstaatliche Vergangenheit haben, nicht hoch genug veranschlagt werden.24 Die Konvention enthält 14 Gewährleistungen (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte, Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Recht auf Eheschließung, Recht auf wirksame Beschwerde, Diskriminierungsverbot) sowie Rechtsschutzbestimmungen. Die Konvention ist bis heute durch vierzehn Zusatzprotokolle ergänzt oder revidiert worden.25 Das 1. ZP EMRK schützt das Eigentum, das Recht auf Bildung und das Recht auf freie und geheime Wahlen. Das 4. ZP EMRK betrifft vor allem die Freizügigkeit von In- und Ausländern sowie Ausweisungsverbote. Das 6. ZP EMRK regelt die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Das 13. ZP EMRK dehnt dieses Verbot auch auf Kriegszeiten aus. Ergänzungen der Justiz- und Verfahrensgarantien trifft das 7. ZP EMRK. Im 12. ZP EMRK wird ein allgemeineres Diskriminierungsverbot garantiert, welches das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK erheblich erweitert. Besondere Bedeutung kommt dem am 1.11.1998 in Kraft getretenen, die Protokolle 2, 3, 5, 8, 9 und 10 ersetzenden 11. ZP EMRK zu26 zu, weil es den Rechtsschutz vereinfacht und effektiviert hat (Rn 67). Seit diesem Zeitpunkt nehmen sich die Richter des Gerichtshofs hauptamtlich der eingehenden Beschwerden an (Rn 67). Da der Gerichtshof mittlerweile für rund 800 Millionen potentielle Beschwerdeführer von Island bis Wladiwostok zuständig ist, nimmt die Arbeitsbelastung allerdings kontinuierlich zu. Ende September 2008 waren über 94 000 pending applications und über 21000 pre-judicial applications beim Gerichtshof anhängig – insgesamt also mehr als 110 000.27 Jeden Tag sollen rund 1200 Schreiben beim Gericht ankommen. Die meisten dieser Schreiben erfüllen zwar nicht die Voraussetzung einer Beschwerde. Alle müssen aber abgearbeitet und beantwortet werden. Um dieser Arbeitslast besser gerecht werden zu können, soll das Kontrollsystem durch das 14. ZP EMRK28 vereinfacht und effektiver gemacht werden (Rn 69). Insbesondere soll in einfachen Fällen ein Einzelrichter endgültige Entscheidungen treffen dürfen (Art 27 EMRK-E). Doch hat es die Russische Föderation bisher abgelehnt, das Protokoll zu ratifizieren, so dass es noch nicht in Kraft treten konnte. Ein Inkrafttreten ist auch derzeit nicht absehbar. Bei der Unterzeichnung der Konvention sind zT gem Art 57 EMRK Vorbehalte angemeldet worden (Rn 56). Auch wurden nicht alle Zusatzprotokolle von allen Mitgliedstaa-
22 Vgl BGBl II 1954, 14. 23 Vgl die Schlusserklärung nach Art 59 IV EMRK. 24 Von den im Oktober 2008 beim EGMR anhängigen Verfahren stammten über 26 % aus der Russischen Föderation und über 11 % aus der Türkei – im Gegensatz zu 2,9 % aus Deutschland. 25 Vgl die Übersicht bei Grabenwarter EMRK, § 2 Rn 4. 26 BGBl II 1995, 579. 27 Vgl European Court of Human Rights Statistical information by year (30.9.2008). 28 Abgedruckt in EuGRZ 2005, 278.
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ten des Europarates ratifiziert. So ist das 7. und 12. Zusatzprotokoll bisher nicht von Deutschland ratifiziert worden. Daher variiert der Umfang der aus der EMRK resultierenden völkerrechtlichen Bindungen der Konventionsstaaten. Art 53 EMRK normiert, dass keine Bestimmung der EMRK als Minderung eines der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden darf, die in nationalen Gesetzen oder in anderen internationalen Übereinkommen festgelegt sind (Günstigkeitsprinzip).29 Diese Vorschrift belässt den Konventionsstaaten somit einen Spielraum, ein höheres Schutzniveau als nach der EMRK zu garantieren. Allerdings ist dieser Spielraum stets beschränkt, wenn in das Staat-Bürger-Verhältnis ein Dritter mit kollidierenden, durch die EMRK geschützten Grundrechtsansprüchen eindringt. Dann lässt sich der weitreichendere Schutz eines nationalen Grundrechts nur durchhalten, wenn der Schutz eines kollidierenden Grundrechts dadurch nicht das durch die EMRK verbürgte Niveau unterschreitet. Dies führt in der Regel dazu, dass der Grundrechtsschutz bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen an das Niveau der EMRK heranzuführen ist.30
3. Rang und Wirkungsweise der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen 10
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Die Konvention überlässt es den Konventionsstaaten, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen.31 Die Stellung der EMRK im Recht der Konventionsstaaten ist sehr unterschiedlich.32 In Betracht kommt ein Überverfassungsrang 33, Verfassungrang (Österreich34), Übergesetzesrang und Gesetzesrang. Von Übergesetzesrang lässt sich sprechen, wenn die EMRK über den einfachen Gesetzen, aber unter dem Verfassungsrecht steht. Dies ist in vielen Konventionsstaaten der Fall.35 Oftmals ist die Rangfrage aber nicht eindeutig geklärt.36 Im Vereinigten Königreich kam der EMRK früher nur völkerrechtliche Verbindlichkeit zu. Doch ist das EMRK-Recht durch den Human Rights Act 1998 in das Recht des Ver-
29 Spiegelbildliche Günstigkeitsprinzipien enthalten Art 53 GRCh (für das Verhältnis von Unionsgrundrechten zu den internationalen Gewährleistungen und den Verfassungen der Mitgliedstaaten) sowie Art 142 GG (für das Verhältnis von Bundes- und Landesgrundrechten). Verschiedene Normierungen des GG (zB betreffend das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften) gehen über die EMRK hinaus. 30 Dies trat im Open Door-Fall zu Tage: Nach der irischen Verfassung genießt das ungeborene Leben einen weitreichenderen Schutz als nach der EMRK. Dieser weitreichendere Schutz hätte im konkreten Fall ein Absinken des Schutzes der Meinungsfreiheit einer Schwangerenberatungseinrichtung unter das Niveau der EMRK bedeutet, so dass der weitreichendere Schutz des ungeborenen Lebens iE zur Wahrung eines EMRK-konformen Schutzniveaus der Meinungsfreiheit zurücktreten musste; EGMR, Series A 246-A, Rn 61 ff – Open Door. Vgl hierzu Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 298 f. 31 EGMR, EuGRZ 1976, 62 – Schwedischer Lokomotivführerverband; Series A 98 (1986) – James ua; Geiger GG/VR § 73 VI 1. 32 Vgl Ress in: Maier (Hrsg) Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, 260 ff; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Einführung Rn 6; vgl hierzu Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 299 ff. 33 Vgl dazu Peters EMRK, § 1 II. 34 Vgl Art II Nr 7 des BVerfG. Näher dazu Giegerich in: Grote/Marauhn, KK, II Rn 39. 35 Vgl die Einschätzung von Grabenwarter EMRK, § 3 Rn 3. 36 Zu der nicht eindeutigen Rechtslage in der Schweiz vgl zB Giegerich in: Grote/Marauhn, KK, II Rn 40.
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einigten Königreichs inkorporiert worden.37 Dadurch hat es Gesetzesrang erlangt. Behörden und Gerichte sind zu konventionskonformer Auslegung und Anwendung der erlassenen Gesetze verpflichtet.38 Im Falle einer Kollision sind die Gerichte wegen des im Vereinigten Königreich überaus bedeutsamen Verfassungsgrundsatzes der „Sovereignty of Parliament“ zwar nicht befugt, die entgegenstehenden Parlamentsgesetze (provisions of primary legislation im Gegensatz zu der subordinate legislation) für nichtig oder unanwendbar zu erklären. Dies gilt auch für frühere Parlamentsgesetze. Doch dürfen sie eine Unvereinbarkeit förmlich feststellen (declaration of incompatibility39), so dass Druck auf das Parlament ausgeübt wird, den Verstoß abzustellen. Die Konventionskonformität zu erlassender Parlamentsgesetze wird im Vereinigten Königreich im Gesetzgebungsverfahren in vorbildlicher Weise überprüft.40 In Deutschland gelten die EMRK und ihre Zusatzprotokolle als einfaches Bundesgesetz,41 soweit der Bundesgesetzgeber jeweils durch förmliches Gesetz gem Art 59 II GG zugestimmt hat.42 Versuche, über Art 1 II, 24 I, 25 GG oder das Rechtsstaatsprinzip einen allgemeinen Verfassungs- oder Übergesetzesrang der EMRK zu begründen43, haben sich zu Recht nicht durchsetzen können. Allerdings können bestimmte Gewährleistungen der EMRK (wie zB das Verbot der Folter und der Sklaverei, Art 3, 4 I EMRK) zugleich allgemeine Regeln des Völkerrechts verkörpern.44 Gemäß Art 25 S 2 GG gehen solche Regeln den Gesetzen vor. Dies hat zur Folge, dass sich der Gesetzgeber nicht darüber hinwegsetzen darf. Entgegenstehendes Bundesrecht ist zwar nicht nichtig, muss aber außer Anwendung bleiben.45 Hat die EMRK grundsätzlich nur einfachen Gesetzesrang, darf der Bundesgesetzgeber an sich durch eine lex posterior von der EMRK abweichen. Jedoch gebietet die in den Art 23 ff, 59 II GG zum Ausdruck kommende Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes46, dass die Gesetze im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ausgelegt und angewendet werden, selbst wenn sie später als ein völkerrechtlicher Vertrag erlassen worden sind. Es ist nämlich nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wollte.47 Der Sache nach läuft dies auf eine objektiv-recht-
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Abdruck zB in Janis/Kay/Bradley EMRK 934 ff. Vgl Section 2, 3. Section 4. Vgl Ress in: Karl (Hrsg) Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, 39, 65 ff; Grabenwarter EMRK, § 3 Rn 9; Janis/Kay/Bradley EMRK, 864 ff. Vgl BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 317 = JK 3/05, GG Art 20 III/39; Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, 72 ff; Hoffmann-Riem EuGRZ 2002, 473, 475; Kadelbach JURA 2005, 480, 484; Oppermann ER, § 2 Rn 25. Eine Kompetenz des Bundes für die Zustimmung zur EMRK (Art 59 II GG) dürfte deshalb zu bejahen sein, weil sich die EMRK an die (Gesamt-) Staaten wendet und die Gewährleistungen in Deutschland die Grundrechte des Grundgesetzes ergänzen sollen. Vgl Giegerich in: Grote/Marauhn, KK, II Rn 4 ff. Ebenso Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 306. Zum bloßen Anwendungsvorrang vgl Streinz in: Sachs (Hrsg) Grundgesetz, 5. Aufl 2009, Art 25 Rn 93. BVerfGE 111, 307, 317 ff = JK 3/05, GG Art 20 III/39. Grundlegend BVerfGE 74, 358, 370. Näher zur konventionskonformen Auslegung (mit weiteren Differenzierungen) Uerpmann (Fn 41) S 48 ff.
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liche Geltung der Konventionsrechte als Maßstab für die Auslegung und Gestaltung des einfachen Rechts hinaus, in ähnlicher Weise, wie sie aus der Lüth-Rspr des BVerfG 48 zur Drittwirkung der Grundrechte bekannt ist.49 Noch nicht endgültig geklärt ist, wonach sich die Auslegung des EMRK-Rechts in Deutschland bestimmt. Dies richtet sich danach, in welcher Weise das Völkerrecht in die innerstaatliche Rechtsordnung übernommen wird. Im Wesentlichen werden dazu in Deutschland (und in allen anderen Ländern, die von einer dualistischen Struktur von Völkerrecht und nationalem Recht ausgehen) zwei Auffassungen vertreten. Während nach der Transformationslehre das Völkerrecht in innerstaatliches Recht umgewandelt wird (mit der Folge, dass sich die Interpretation nach innerstaatlichem Recht beurteilt), kommt es nach der Vollzugslehre durch den innerstaatlichen Vollzugsbefehl als solches im Inland zum Tragen (ohne in nationales Recht umgewandelt zu werden). Letzterer Ansicht ist zu folgen, da andernfalls das Völkerrecht je nach innerstaatlicher Rechtsordnung einen anderen Sinngehalt erhalten würde.50 Abgesehen von der unmittelbaren Einwirkung auf das Gesetzesrecht sind Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nach der zutreffenden Ansicht des BVerfG auch bei der Auslegung des Grundgesetzes in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt. Deshalb diene die Rspr des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.51 So hat das BVerfG zB seine Ansicht über die Rechtmäßigkeit einer nur von Männern erhobenen Feuerwehrabgabe nach einer entgegenstehenden Entscheidung des EGMR52 revidiert.53 Mittelbar bekommt die EMRK auf diese Weise im innerstaatlichen Recht doch einen quasi verfassungsrechtlichen Rang. Eine Verfassungsbeschwerde (VB) vor dem BVerfG kann zwar nicht unmittelbar auf die Verletzung eines in der EMRK enthaltenen Menschenrechts, wohl aber auf das einschlägige Grundrecht des Grundgesetzes mit der Begründung gestützt werden, die staatlichen Organe hätten wegen der Missachtung der EMRK und der dazu ergangenen Entscheidungen des EGMR die Bedeutung dieses Grundrechts verkannt.54 Die Anknüpfung an
48 BVerfGE 7, 198 ff. 49 Vgl auch EuGH, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1, wonach ein innerstaatliches Verbot von Preisausschreiben in Zeitschriften nicht gegen die Freiheit des Warenverkehrs verstößt, weil das Verbot im Lichte des Art 10 EMRK ausgelegt werden müsse und diese Bestimmung zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung zulässt. 50 Vgl auch BVerfGE 46, 342, 363, 403 f; 75, 223, 244 f; ferner aber auch BVerfGE 111, 307, 316 („transformiert“) = JK 3/05, GG Art 20 III/39. Näher zum Ganzen Schweitzer StR, III Rn 423, 441 ff; Geiger GG/VR, § 33 II 1, 3. Zu den Regeln der Konventionsinterpretation vgl Cremer in: Grote/Marauhn, KK, IV. 51 BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 317 = JK 3/05, GG Art 20 III/39. Zur Frage, ob das BVerwG (E 104, 265 ff) dieser Maßgabe bei der Auslegung des Art 3 EMRK gerecht geworden ist, vgl Frowein DÖV 1998, 806, 810 f. 52 Vgl EGMR, NVwZ 1995, 365 f – Schmidt = JK 4/95, EMRK Art 14/1; → § 3 Rn 66, 72. 53 Vgl einerseits BVerfGE 13, 167 ff, andererseits BVerfGE 92, 91 ff. Das BVerfG hat sich zwar nicht ausdrücklich der Rspr des EGMR angeschlossen, kommt in Abweichung von einer früheren Entscheidung aber zu demselben Ergebnis. 54 Vgl BVerfGE 111, 307, 317 = JK 3/05, GG Art 20 III/39.
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das parallele nationale Grundrecht ist der früher favorisierten Möglichkeit vorzuziehen, die Beachtung der EGMR-Urteile über Art 2 I iVm Art 25 GG oder Art 3 I GG durchzusetzen.55 Sind im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet, trifft deutsche Gerichte nach der Rspr des BVerfG die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben.56 Dies dürfte dann auch für das BVerfG selbst gelten. Verfassungsgerichtlich nicht abgesichert sind die materiell-rechtliche Beachtlichkeit der EMRK und die Entscheidung des EGMR allerdings, wenn entweder die EMRK über das Grundgesetz hinausgeht oder das Grundgesetz anderes gebietet. Die Einwirkung der EMRK auf das nationale Verfassungsrecht ändert nichts daran, dass über die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes letztverbindlich das BVerfG entscheidet. Mittlerweile gibt es nicht nur zahlreiche Entscheidungen deutscher (und ausländischer) Fachgerichte, die der EGMR als Verstöße gegen die EMRK eingestuft hat.57 Auch von der Rspr des BVerfG ist der EGMR schon abgewichen, wie der Fall 1 anschaulich zeigt (Rn 1). Doch sind solche Abweichungen bisher noch selten. So ist zB die sog Mauerschützen-Rspr des BVerfG 58 vom EGMR als konventionsgemäß erachtet worden.59 Auch hat die Große Kammer des EGMR die im Gegensatz zum BVerfG60 von einer Kammer vertretene Ansicht, die entschädigungslose Enteignung vererbten Bodenreformlandes aus der DDR-Zeit sei mit der Eigentumsgarantie des Art 1 1. ZP EMRK unvereinbar 61, nicht aufrechterhalten.62 Dagegen dürfte die Dauer der verfassungsgerichtlichen Verfahren keineswegs selten Art 6 I 1 EMRK (angemessene Frist) verletzen (vgl auch Rn 27). Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde (Art 34, 35 EMRK) bestehen keine Bedenken. Begründet ist die Beschwerde, wenn die Entscheidungen der deutschen Gerichte die Bf in ihrem von Art 8 I EMRK garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen. Zum Begriff des Privatlebens gehören Elemente der Identität einer Person wie das Recht am eigenen Bild. Die von der Bf gerügte Veröffentlichung von Fotos in unterschiedlichen Alltagssituationen unterfällt dem Bereich des Privatlebens. In Auslegung der §§ 22, 33 KUG und zur Herstellung eines Ausgleichs zwischen dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit (Art 5 I 2 GG) und dem berechtigten Interesse der Bf am Schutz ihres Privatlebens (Art 2 I iVm 1 I GG) haben die deutschen Gerichte entschieden, dass die Bf als absolute Person der Zeitgeschichte auch außerhalb ihrer Wohnung Schutz ihres Privatlebens genießt, vorausgesetzt, sie befinde sich in örtlicher Abgeschiedenheit. Ansonsten komme der Pressefreiheit und damit dem Recht auf Veröffentlichung der Fotos selbst dann stärkeres
55 Klein JZ 2004, 1176, 1178. Näher dazu Frowein FS Zeidler, Bd II, 1987, S 1763, 1770 f; Dreier in: ders (Hrsg), Grundgesetz, Bd I, 2. Aufl 2004, Vorb Rn 29; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 306 f. 56 BVerfGE 111, 307, 323 ff = JK 3/05, GG Art 20 III/39. 57 Vgl etwa Dreier (Fn 55) Vorb Rn 28. 58 BVerfGE 96, 130 ff. 59 Vgl EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Streletz,Keßler und Krenz. Näher dazu Kadelbach JURA 2002, 329 ff. 60 BVerfG-K, WM 2001, 775 ff. 61 EGMR, NJW 2004, 923 ff – Jahn ua. 62 EGMR, NJW 2005, 2907 ff – Jahn ua. Vgl auch EGMR, NJW 2005, 2530 ff – von Maltzan ua. Zu beiden JK 6/06, EMRK Art 1 1. ZP/2.
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Gewicht zu, wenn es sich um Unterhaltungspresse handle. Diesem Ergebnis ist der EGMR nicht gefolgt. Für die Abwägung zwischen dem Schutz des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung komme es entscheidend darauf an, ob die Fotoaufnahmen zur öffentlichen Diskussion über eine Frage allgemeinen Interesses beitragen. Da die umstrittenen Fotos die Bf bei Tätigkeiten rein privater Art zeigten, dienten sie nur dazu, die Neugier eines bestimmten Publikums zu befriedigen. Unter besonderen Umständen könne das Recht der Öffentlichkeit auf Information zwar auch Aspekte des Privatlebens von Personen des öffentlichen Lebens einbeziehen, doch handle es sich bei der Bf nicht um eine solche Person. Somit hat der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens festgestellt und der Individualbeschwerde stattgegeben.63
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Lösung Fall 2: Die zulässige VB ist begründet, wenn der Beschluss des OLG den Bf in seinem Grundrecht aus Art 6 GG verletzt. Die elterliche Sorge und der Umgang mit dem eigenen Kind werden vom Schutzbereich des Art 6 I, III umfasst. Der die Übertragung der elterlichen Sorge sowie die Einräumung eines Umgangsrechts ablehnende Beschluss des OLG stellt einen Grundrechtseingriff dar. Der Rechtfertigung des Eingriffs könnte ein Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht aus Art 20 III GG entgegenstehen, weil das OLG das Urteil des EGMR nicht hinreichend berücksichtigt hat. Dies ist der Fall, wenn die Gewährleistungen der EMRK bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen sind (1), die Entscheidung des EGMR Beachtung finden muss (2) und die Nichtbeachtung Auswirkungen auf die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs hat (3). 1. Die EMRK-Rechte gelten im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Auch wenn die EMRK somit selbst kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist, beeinflusst sie wegen der – in Art 23–25 und 59 II GG zum Ausdruck kommenden – Völkerrechtsfreundlichkeit des GG als Auslegungshilfe auch die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze. 2. Die Entscheidungen des EGMR erwachsen gem Art 42, 44 EMRK in Rechtskraft. Aus dem Feststellungsurteil des EGMR folgt nicht nur, dass die Vertragspartei nicht mehr die Ansicht vertreten kann, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen, sondern auch die Verpflichtung derselben, den ohne die Konventionsverletzung bestehenden Zustand wieder herzustellen bzw noch andauernde Verletzungen zu beenden.64 Innerstaatlich erstreckt sich diese Bindungswirkung gem Art 20 III, 59 II und 19 IV GG auf alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt. Auch die deutschen Gerichte sind damit über die Bindung an Gesetz und Recht und die verbindliche Auslegung der EMRK durch den EGMR zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR verpflichtet. Hierbei ist nach Ansicht des BVerfG allerdings zu berücksichtigen, dass die Wirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs nur auf die jeweilige res judicata bezogen ist, eine Berücksichtigung nur im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung erfolgen darf und sich bis zu einem erneuten nationalen Verfahren die Sach- und Rechtslage ändern kann. 3. Urteile nationaler Gerichte sind nach stRspr des BVerfG verfassungsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob sie willkürlich sind oder auf einer unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts oder anderer Verfassungsnormen beruhen. Das BVerfG ist jedoch dazu berufen, die fehlerhafte Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen durch deutsche Gerichte nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen. Aus Art 1 II GG (der dem Kernbestand an internationalen
63 Vgl krit zu der Entscheidung des EGMR Heldrich NJW 2004, 2634 ff, zust Tettinger JZ 2004, 1144 ff. Zur späteren VB betreffend Caroline von Hannover vgl BVerfGE 120, 180 ff; HoffmannRiem NJW 2009, 20 ff. 64 Vgl EGMR, EuGRZ 2004, 268, 275 – Assanidzé.
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Menschenrechten besonderen Schutz zuweist) und Art 59 II GG ergibt sich die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die EMRK in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Die Auffassung des OLG, durch das Urteil des EGMR nicht gebunden zu sein, hat damit Auswirkungen auf die Rechtfertigung des Eingriffs in Art 6 GG. Indem das Gericht sich aufgrund der Verkennung der Bindungswirkung nicht mit der Einwirkung des Art 8 EMRK in der Auslegung durch den EGMR auf Art 6 GG auseinandergesetzt hat, hat es den Gewährleistungsinhalt dieses Grundrechts übersehen bzw unrichtig beurteilt. Daher hat das BVerfG den Beschluss des OLG aufgehoben und die Rechtssache zur erneuten Entscheidung an dieses zurückverwiesen.65
4. Bedeutung der EMRK für das Europäische Unions- und Gemeinschaftsrecht Schließlich wirkt sich die EMRK nachhaltig auf die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften aus. Gemäß Art 6 II EUV achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind 66 und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Die Gewährleistung der EMRK und die Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr muss der Mindeststandard der EMRK in jedem Falle beachtet werden (→ § 14 Rn 14). Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz richtet sich nicht nur gegen die EU, sondern auch gegen die Europäischen Gemeinschaften als Bestandteile der EU (Art 1 III EUV) sowie gegen deren Organe (Art 46 lit d EUV). Allerdings erzeugt die EMRK bisher keine unmittelbaren Bindungswirkungen im EU- bzw EG-Recht. Zum einen bindet die EMRK nur die Mitglieder des Europarates (Art 59 I EMRK) und damit nur Staaten (Art 2, 4, 26 der Satzung des Europarates), nicht aber die EU oder die Europäischen Gemeinschaften. Zum anderen lässt sich aus Art 6 II EUV eine einseitige strikte Bindung an die EMRK (und die dazu ergangene Rspr des EGMR) nicht entnehmen (weil sich eine solche nicht mit der Verpflichtung zur bloßen „Achtung“ der Menschenrechte sowie der gleichzeitigen Bindung an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verträgt). Vielmehr stellen die EMRK und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der EU bisher 67 bloße Rechtserkenntnisquellen für die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts dar (→ § 14 Rn 8, 10). Andere Rechtsgrundlagen gelten, wenn der Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007 68 in Kraft tritt. Gem Art 6 I EUV-E erkennt die Union die Charta der Grundrechte der Europäischen Union an und bestimmt zugleich, dass die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist nicht nur in weiten Teilen der EMRK nachgebildet worden. Nach Art 52 III 1 GRCh haben die in der Charta gewährten Rechte, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der Kon-
65 Vgl im Rahmen der umfangreichen Literatur nur Papier EuGRZ 2006, 1 ff; Ruffert EuGRZ 2007, 245 ff; Esser StV 2005, 348 ff. 66 Dies dürfte auch für die Zusatzprotokolle gelten (jedenfalls wenn sie von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden sind). Näher dazu → § 14 Rn 7. 67 EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 3 f – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. 68 ABl EG Nr C 306/1.
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vention.69 Zudem darf gem Art 53 GRCh keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung des durch die EMRK gewährten Schutzniveaus ausgelegt werden (→ § 14 Rn 15). Art 6 III EUV-E bestimmt nunmehr, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. Dies dürfte dahingehend zu verstehen sein, dass die EMRK Bestandteil des Unionsrechts wird, so dass nicht mehr von einer Rechtserkenntnisquelle gesprochen werden kann (dazu ausführlich → § 14 Rn 15). Gleichzeitig wird gem Art 6 II EUV-E ein Beitritt der Europäischen Union zur EMRK angestrebt. Derzeit scheitert ein solcher Beitritt nicht nur an der allein Staaten in Pflicht nehmenden EMRK, sondern auch an Europäischem Gemeinschaftsrecht, weil der EMRK nur Mitglieder des Europarates (Art 59 I EMRK) und damit nur Staaten (Art 2, 4, 26 der Satzung des Europarates) beitreten können und der Europäischen Gemeinschaft die Zuständigkeit für den Beitritt zu einer dem Menschenrechtsschutz verpflichtenden internationalen Organisation fehlt 70. Doch sieht Art 17 Nr 1 des 14. ZP EMRK vor, dass die EU der EMRK beitreten kann. Kommt es zu einem Beitritt, wäre damit eine unmittelbare Bindung an die EMRK erreicht (Rn 40 ff → § 14 Rn 15).
II. Funktionen der Konventionsrechte 19
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Fall 3: (EGMR, NJW 2006, 2389 – Sürmeli = JK 3/07, EMRK Art 13/1) Der Bf hat auf dem Weg zur Schule in Deutschland einen Unfall erlitten. In der im Jahr 1989 vor dem LG erhobenen Klage verlangt er höheren Schadensersatz als von der Haftpflichtversicherung gezahlt. 1991 erging ein Grund- und Teilurteil, wonach dem Bf Ersatz in Höhe von 80 % des Schadens zusteht. Berufung und Revision wurden vom OLG und BGH zurückgewiesen. Seit dem Jahre 1994 wird der Rechtstreit über die Höhe des Schadens vor dem LG weitergeführt. Eine VB des Bf hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Ebenso wurde ein Antrag auf Prozesskostenhilfe abgewiesen. Im Jahre 1999 hat sich der Bf an den EGMR gewandt. Er rügt, dass das Verfahren vor dem LG zu lange dauere und es im deutschen Recht keinen Rechtsbehelf gäbe. Eine Kammer hat die Beschwerde für zulässig erklärt (vgl Art 29 EMRK) und die Sache nach Art 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben. Fall 4: (EGMR, NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 8/99, EMRK Art 8, 10, 50/3) Die Beschwerdeführer (Bf) wohnen in der Nähe einer Chemiefabrik, in der es mehrfach zu Unfällen – bis hin zu schwerwiegenden Arsenvergiftungen – gekommen ist. Die örtlichen Behörden sind verpflichtet, die Bevölkerung über die Gefahren der Fabrik sowie die Sicherheitsvorkehrungen und das Vorgehen bei Unfällen zu informieren. Nachdem sich die Behörden mit Billigung der angerufenen nationalen Gerichte unter Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen geweigert haben, Informationen herauszugeben, möchten die Bf wissen, ob sich die Einlegung einer Individualbeschwerde beim EGMR empfiehlt.
69 Zur Frage, ob die EMRK auch insoweit nur Rechtserkenntnisquelle oder Rechtsquelle ist, vgl → § 14 Rn 8, 10. 70 EuGH, Slg 1996, I-1759 Rn 30 u 35 – Gutachten 2/94.
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Bei Konventionsrechten handelt es sich um subjektive Rechte, dh um normative Verhaltensbindungen, die (auch) der Befriedigung von Individualinteressen dienen und den Geschützten die Rechtsmacht zur Durchsetzung ihrer Interessen auf dem Gerichtsweg einräumen. Inhaltlich werden grundrechtliche Gewährleistungen in Anlehnung an G Jellinek 71 vielfach danach unterschieden, welchen Status (Zustand) des Einzelnen sie schützen. Der status negativus wird durch Abwehr- oder Freiheitsrechte (1), der status positivus durch Leistungsrechte (3), der status activus durch staatsbürgerliche Rechte (4) und der status activus processualis72 durch sonstige Verfahrensrechte (5) ausgeformt und gesichert. Diesen verschiedenen Schutzrichtungen lassen sich auch die Garantien der EMRK zuordnen. Darüber hinaus bedürfen die Gleichheitsrechte (2) einer gesonderten Betrachtung. Ferner ist es notwendig, das Augenmerk auf die objektiv-rechtliche Bedeutung der Konventionsrechte zu richten (6). Wegen der Gewährleistungsgehalte im Einzelnen wird auf die folgenden Paragraphen des Lehrbuchs verwiesen.73
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1. Gewährleistung des status negativus (Abwehrrechte) Auch die EMRK schützt schwerpunktmäßig die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat, indem sie dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre garantiert und ihm einen Anspruch auf Unterlassung rechtswidriger Eingriffe des Staates sowie auf Beseitigung bereits vollzogener, aber noch rückgängig zu machender Eingriffe vermittelt. Inhaltlich geht es zunächst um den Schutz des Lebens 74 (Art 2 EMRK; → § 3 Rn 48 ff) einschließlich des Verbots der Todesstrafe (Art 1u 2 6. ZP EMRK, Art 1 13. ZP EMRK; → § 3 Rn 56 f), der körperlichen Integrität (Art 3 EMRK; → § 3 Rn 38 ff) und Freiheit (Art 4 EMRK, Art 1 4. ZP EMRK) sowie der Freizügigkeit (Art 2 4. ZP EMRK75). Garantiert werden ferner das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens76 (Art 8 EMRK; → § 3 Rn 3 ff), auf Erziehung durch die Eltern (Art 2 1. ZP EMRK77), Eheschließung (Art 12 EMRK; → § 3 Rn 11), auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit 78 (Art 9 EMRK; → § 3 Rn 31 ff), auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art 10 f EMRK;
71 Jellinek System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl 1919, 87, 94 ff. Auf die Voraussetzungen und Schwächen der Statuslehre (vgl krit Cremer Freiheitsgrundrechte, 2003) kann hier nicht eingegangen werden. Trennt man nur zwischen staatlichen Eingriffen und Leistungen, müssen zB auch die Verfahrensrechte zu den Leistungsrechten gezählt werden. 72 Vgl zu dieser Begriffsbildung Häberle VVDStRL 30 (1971), 43, 80 f. 73 Überblicksdarstellungen aus neuerer Zeit finden sich auch bei Grabenwarter EMRK, §§ 20 ff, Peters EMRK, §§ 5 ff; Meyer-Ladewig EMRK, 42 ff. 74 Aus dem Umstand, dass es in der Frage, wann das Leben beginnt und welche Rechtsstellung dem Embryo zukommt, keinen Konsens in den Konventionsstaaten gibt, hat der EGMR gefolgert, dass diesen diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zusteht (NJW 2005, 727 ff – Vo → JK 9/05, EMRK Art 2 I 1/1). Zum fehlenden Recht auf Sterbehilfe vgl EGMR, NJW 2002, 2851, Rn 39 ff – Pretty. Näher dazu Alleweldt in: Grote/Marauhn, KK, X Rn 11 ff, 91 f. 75 Anders als Art 11 GG (BVerfGE 6, 32, 35 f; 72, 200, 245) schützt Art 2 II 4. ZP EMRK auch das Recht auf Ausreise und Auswanderung. 76 Die Vorschrift wird vom EGMR sehr weit verstanden. Sie hat daher zT Auffangcharakter. 77 Die Vorschrift schließt die Freiheit der Gründung von Privatschulen ein. Vgl EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 50 – Kjeldsen. 78 Zur Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots für muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen vgl EGMR, NJW 2001, 2871 ff – Dahlab → JK 2/02, EMRK Art 9/1.
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→ § 4 Rn 4 ff) sowie auf Eigentum (Art 1 1. ZP EMRK; → § 5 Rn 3 ff). Damit werden die meisten Grundrechtspositionen, die das Grundgesetz garantiert, auch von der EMRK anerkannt, wobei der Sinngehalt im Einzelnen differiert. Allerdings fehlt zB, von den Teilelementen des Verbotes der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art 4 EMRK) abgesehen, ein Schutz der Berufsfreiheit sowie des Asylrechts.79 Indem der EGMR aber zB das Ergreifen eines Berufs und dessen Ausübung auch als Bestandteil des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens ansieht80 und kommerzielle Informationen als Schutzgut von Art 10 EMRK anerkennt,81 wird das Fehlen des Grundrechts der Berufsfreiheit teilweise kompensiert. Erst recht garantiert die EMRK dem Einzelnen keine allgemeine Handlungsfreiheit.
2. Gewährleistung der Rechtsgleichheit 23
Gleichheitsrechte gewährleisten keinen bestimmten Status, sondern garantieren allgemein die Rechtsgleichheit zwecks Abwehr von Eingriffen, Teilhabe an gewährten Begünstigungen oder Einräumung von Verfahrensrechten und staatsbürgerlichen Rechten. Die EMRK enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz, sondern verbietet – als lediglich akzessorisches Recht – nur Diskriminierungen (dh eine ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte) im Hinblick auf den Genuss der von der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten (Art 14 EMRK; → § 3 Rn 66 ff).82 Zu den in der Konvention anerkannten Rechten und Freiheiten gehören auch die Zusatzprotokolle. Einen besonderen Gleichheitssatz garantiert Art 5 7. ZP EMRK, wonach Ehegatten untereinander und in ihren Beziehungen zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben. Ein Bezug zur Konvention besteht, wenn der Schutzbereich eines Konventionsrechts berührt wird. Art 14 EMRK zählt die Merkmale auf, nach denen eine Diskriminierung verboten ist. Doch ist die Aufzählung nicht abschließend.83 Diskriminierungen sind nach der Rspr des EGMR nicht schlechthin verboten, sondern nur dann, wenn sie sachlich nicht gerechtfertigt werden können.84 Ungleichbehandlungen müssen ein legitimes Ziel verfolgen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Kontrolldichte ist eher gering, weil der EGMR den Konventionsstaaten im Allgemeinen85 einen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zugesteht (Rn 99).86 Wegen der Akzessorität des Diskriminierungsverbotes gem Art 14 EMRK kommt es auf die Diskriminierung nicht an, wenn das Konventionsrecht schon aus anderen Gründen verletzt worden ist. Eine volle Wirkung entfaltet Art 14 EMRK erst, wenn die Verletzung gerade in der Diskriminierung besteht. So ist die Untersagung des Läutens von Kirchenglocken zu Ruhezeiten zwar durch Art 9 II EMRK gedeckt, darf sich aber gleichwohl nicht nur gegen bestimmte Religionsgemein79 Das Erbrecht wird jedoch nach Auffassung des EGMR von Art 1 1. ZP EMRK geschützt, EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx; → § 5 Rn 19. 80 Grabenwarter EMRK, § 22 Rn 34. 81 Vgl EGMR, EuGRZ 1990, 261, 262 – Autronic AG; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 12. 82 Damit bleibt die EMRK zB gegenüber Art 7 AEMR oder Art 26 IPbürgR zurück. 83 Vgl zur Diskriminierung von Behinderten zB EGMR, NJW 2002, 2851, Rn 87 ff – Pretty. 84 Grdl EGMR, EuGRZ 1975, 298 – Belgischer Sprachenfall. 85 Zu Ausnahmen vgl Grabenwarter EMRK, § 26 Rn 9, 12 ff. 86 Vgl Peters EMRK, § 33 II.
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schaften richten.87 Wegen des weiten Katalogs von Konventionsrechten wird im Ergebnis doch eine Wirkung erzielt, welche der eines allgemeinen Gleichheitssatzes in vielen Fällen nahe kommt. Für ein nichtakzessorisches (generelles) Diskriminierungsverbot spricht sich Art 1 des 12. ZP EMRK (bei Aufzählung gleicher Verbotstatbestände) aus. Nach Abs 1 der Vorschrift ist der Genuss eines jeden „auf Gesetz beruhenden Rechtes“ (right set forth by law) ohne Diskriminierung iSd Merkmale des Art 14 EMRK zu gewährleisten. Absatz 2 ergänzt, dass niemand durch die öffentliche Gewalt wegen eines der in Abs 1 genannten Gründe diskriminiert werden darf. Erfasst werden damit alle Ungleichbehandlungen in den genannten Fällen schlechthin, dh auch bezüglich solcher Rechte, die nicht in der Konvention enthalten sind. Das 12. ZP EMRK ist zwar in Kraft getreten, wurde bis Mitte 2008 aber nur von 17 Staaten ratifiziert (nicht zB von den großen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Russische Föderation, Türkei und Vereinigtes Königreich).
3. Gewährleistung des status positivus (Leistungsrechte) a) Originäre und derivative Teilhaberechte Leistungsrechte zielen auf staatliches Handeln ab (insbesondere um reale Freiheiten verwirklichen zu können). Sie lassen sich danach einteilen, ob sie auf originäre oder derivative Teilhabe gerichtet sind.88 Im zuerst genannten Fall geht es um das Ergreifen noch nicht vorhandener staatlicher Maßnahmen, im letzteren um den Zugang zu schon bestehenden staatlichen Einrichtungen oder Leistungen. Ein Leistungsrecht garantiert Art 3 7. ZP EMRK, wonach der Einzelne eine Entschädigung bei bestimmten Fehlurteilen beanspruchen kann. Im Übrigen finden sich in der EMRK keine Bestimmungen, die dem Einzelnen ausdrücklich ein originäres Teilhaberecht (zB auf sozialen Schutz89) einräumen. So werden weder das wirtschaftliche Existenzminimum noch ein Recht auf Arbeit garantiert. Auch ergibt sich aus der Verpflichtung zur Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) kein Recht auf Wohnung.90 Ferner wird das in Art 2 des 1. ZP EMRK verankerte Recht auf Bildung dahingehend interpretiert, dass nur von den staatlicherseits bereits eingerichteten Ausbildungsgängen bei Vorliegen der Voraussetzungen Gebrauch gemacht werden kann. Dagegen soll auf seiner Grundlage nicht die Einrichtung neuer Ausbildungsgänge gefordert werden können.91 Jedoch wird man der Vorschrift entnehmen müssen, dass der Staat überhaupt ein allgemein zugängliches Schulsystem zu organisieren oder zur Verfügung zu stellen hat und der Einzelne dies beanspruchen kann. Ähnliches gilt für eine Reihe weiterer Gewährleistungen, weil diese auf normative, organisatorische oder verfahrensmäßige Ausgestaltung angelegt sind. ZB ist aus dem Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens (Art 8 EMRK) ein Recht auf Akteneinsicht, auf Anhörung, auf
87 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 14 Rn 4. 88 Vgl zu dieser Unterscheidung Martens VVDStRL 30 (1971), 7, 21 ff. 89 Vgl zu den sozialen Grundrechten Manessis in: Iliopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz im europäischen Raum, 1993, 18. 90 Vgl EGMR, ECHR 2001-I, 41 Rn 98 f – Chapman. 91 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 2 1. ZP Rn 2; Meyer-Ladewig EMRK, Art 2 1. ZP Rn 4. Hat der Staat in der Elementarstufe eine Schulausbildung in einer bestimmten Sprache zur Verfügung gestellt, muss er dies auch für die Sekundarstufe tun, vgl EGMR, Urt v 10.5.2001, Rn 277 – Zypern.
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Information über das Beweismaterial und auf Stellungnahme abgeleitet worden.92 Vielfach stehen die organisatorischen und verfahrensmäßigen Sicherungen in Zusammenhang mit den abwehrrechtlichen Garantien der Konventionsrechte (Rn 22), den Schutzpflichten (Rn 25), der staatsbürgerlichen Gewährleistung des Art 3 1. ZP EMRK (Rn 26) und den Verfahrensrechten (Rn 27). So wohnt allen staatsbürgerlichen Rechten und selbständigen Verfahrensrechten ein Leistungselement inne. ZB setzen die Rechte auf freie Wahlen, ein faires gerichtliches Verfahren oder eine wirksame Beschwerde die Einrichtung von Wahlen, Gerichten und Beschwerdeinstanzen voraus. Ebenso lässt sich ein Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher (Art 6 III lit e EMRK) nur verwirklichen, wenn der Staat einen Dolmetscherdienst organisiert. Derivative Teilhaberechte können sich in erster Linie aus dem Diskriminierungsverbot ergeben (Rn 23), dem auch und gerade das Gebot gleicher Begünstigung innewohnt (wenn nach dem Konzept des Staates überhaupt eine Begünstigung gewährt werden soll). b) Anspruch auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater 25
Wie das BVerfG93 und der EuGH (→ § 7 Rn 52 ff; → § 14 Rn 54) leitet auch der EGMR in ständiger Rspr aus den Freiheitsrechten (und anderen Konventionsrechten) unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche des Einzelnen auf staatlichen Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die geschützte Rechtssphäre ab.94 ZB ist der Konventionsstaat nicht nur verpflichtet, Eingriffe in das Recht auf Leben (Art 2 EMRK) zu unterlassen, sondern wirksame strafrechtliche Vorschriften mit abschreckender Wirkung zu erlassen, für amtliche und wirksame Untersuchungen zu sorgen, wenn ein Mensch durch Gewaltanwendung zu Tode gekommen ist, und eine Strafverfolgung mit dem Ziel der Prävention, Unterdrückung und Bestrafung bei Verstößen gegen die strafrechtlichen Normen zu organisieren.95 Das Verbot der Folter gebietet staatliche Maßnahmen, die auch sicherstellen müssen, dass die ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen nicht durch Privatpersonen gefoltert, unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden.96 Ferner verpflichtet Art 8 I EMRK den Staat nicht nur zu einer Achtung des Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz durch das Unterlassen rechtswidriger Eingriffe. Vielmehr muss der Staat diese Rechtsgüter positiv schützen.97 In vielen Entscheidungen entnimmt der EGMR auch der allgemeinen Pflicht der Konventionsstaaten zur Achtung der Menschenrechte positive Verpflichtungen (Art 1 EMRK).98 Die Schutzpflichten binden den Staat nicht nur objektiv-rechtlich, sondern korrespondieren mit einem subjektiven Recht der Betroffenen. Der Umfang der Schutzpflicht hängt von den
92 Vgl Grabenwarter EMRK, § 19 Rn 5 mit Rspr-Nachw. 93 Vgl Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 24. Aufl 2008, Rn 94 ff. 94 Ausführlich dazu Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, 712 ff; Streuer Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2003, 191 ff. 95 Vgl EGMR, Rep 1998-VIII, 3159 Rn 115 – Osman; Urt v 18.07.2000 Rn 77 ff – Ekinci; NJW 2001, 3035 Rn 86 – Streletz, Keßler und Krenz. 96 EGMR, ECHR 2001-V, Rn 73 – Z ua. 97 EGMR, NVwZ 2004, 1465 ff – Hatton; → § 3 Rn 26 f. Vgl ferner Wildhaber/Breitenmoser in: Karl Int EMRK, Art 8 Rn 74 ff. 98 Vgl die Nachw bei Szczekalla (Fn 94) S 727.
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Umständen des Einzelfalles ab. Insbesondere dürfen den Behörden keine unmöglichen oder unverhältnismäßigen Lasten auferlegt werden.99
4. Gewährleistung des status activus (staatsbürgerliche Rechte) Auf die Ausformung staatsbürgerlicher Grundrechte hat die EMRK weitgehend verzichtet. Als einziges staatsbürgerliches Recht ist Art 3 1. ZP EMRK zu nennen, der die Vertragsparteien verpflichtet, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. Durch die zu dieser Vorschrift ergangene Rspr des EGMR ist das aktive und passive Wahlrecht weiter ausgestaltet worden. So hat der Gerichtshof zB das Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger aus Art 3 1. ZP EMRK abgeleitet, obwohl die Wahlrechtsgleichheit in dieser Bestimmung nicht genannt wird.100 Ein gleicher Erfolgswert der abgegebenen Stimmen wird nicht verlangt. Auch schreibt die EMRK kein bestimmtes Wahlsystem vor.
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5. Gewährleistung des status activus processualis (Verfahrensrechte) Besonderes Gewicht wird auf die Gewährung von Verfahrensgarantien gelegt (→ § 6 Rn 33 ff). Die Anforderungen gehen zT erheblich über diejenigen des Grundgesetzes hinaus.101 Es zeigt sich erneut, dass andere Rechtsordnungen und Kodifikationen dem Verfahrensgedanken größere Bedeutung beimessen als das deutsche Recht.102 Im Einzelnen schützt Art 5 EMRK vor ungerechtfertigten Verhaftungen,103 Art 6 EMRK enthält Garantien für die Gerichtsverfahren, Art 7 EMRK statuiert den Grundsatz „nulla poena sine lege“104, und Art 13 EMRK garantiert ein Recht auf wirksame Beschwerde. Ausgeweitet wurden diese Bestimmungen durch das 7. ZP zur EMRK, das ua verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung ausländischer Personen, die Garantie von Rechtsmitteln in Strafsachen oder die Beachtung des Grundsatzes „ne bis in idem“ vorschreibt.105 Daneben können ähnlich wie im deutschen Recht106 auch aus dem materiellen Konventionsrecht Verfahrensgarantien und Folgerungen für die Handhabung des nationalen Verfahrensrechts abgeleitet werden (Rn 14). ZB hat der EGMR aus Art 8 EMRK einen Anspruch auf ein angemessenes Verfahren zur Regulierung von Parkberechtigungen für Zigeunerwohnwagen hergeleitet.107 Insgesamt ist es dem Gerichtshof gelungen, einen gemeineuropäischen Standard des „fair trial“ zu etablieren, der fortlaufend weiterentwickelt wird.108 Der genaue Sinngehalt der Verfahrensgarantien erschließt
99 EGMR, Rep 1998-VIII, 3159 Rn 116 – Osman. Vgl aber auch EGMR, NVwZ 2004, 1465 ff – Hatton. 100 Vgl zB EGMR, Series A 113, Rn 54 – Mathieu-Mohin. 101 Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 312. 102 Vgl zB Ehlers DVBl 2004, 1441, 1446, 1449 f. 103 Vgl dazu EGMR, NJW 1999, 775 ff – K-F = JK 9/99, EMRK Art 5 I/1; → § 6 Rn 3 ff. 104 Vgl dazu EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler und Krenz; → § 6 Rn 60 ff. 105 Das 7. ZP zur EMRK ist von der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht ratifiziert worden. 106 Vgl Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1995, Rn 358 ff. 107 EGMR, Rep 1996-IV, 1271 Rn 76 – Buckley. 108 Oppermann ER, Rn 113; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 312.
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sich oftmals erst nach Heranziehung der maßgeblichen englischen und französischen Sprachfassung. So garantiert Art 6 I 1 EMRK jeder Person bestimmte Verfahrensrechte „in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“. Bei Berücksichtigung der englischen und französischen Ausdrücke („civil rights and obligations“ bzw „droits et obligations de caractère civil“) ergibt sich, dass die Vorschrift auch einen großen Teil der Streitigkeiten erfasst, die nach der deutschen Rechtsordnung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit fallen. Hierzu zählen etwa die beamtenrechtlichen Streitigkeiten mit Ausnahme solcher, welche die – eng zu verstehenden – allgemeinen Interessen des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften betreffen.109 Das in Art 6 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren hat sich als die Vorschrift erwiesen, deren Verletzung am häufigsten geltend gemacht und bisher auch am häufigsten festgestellt wurde.110 Dies gilt besonders für das Gebot, in angemessener Frist zu verhandeln.111 So hat der EGMR unter Berufung auf diese Klausel in mehreren Fällen sogar eine überlange Verfahrensdauer des BVerfG „beanstandet“.112 Entscheiden die Fachgerichte nicht in angemessener Zeit, entnimmt der Gerichtshof Art 13 EMRK die Notwendigkeit, eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit vorzusehen.113 Ob sich die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG 114 hierzu eignet, ist zweifelhaft.115 Die Große Kammer des EGMR hat strukturelle Defizite des geltenden deutschen Prozessrechts im Hinblick auf den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer bemängelt und den deutschen Gesetzgeber „ermutigt“, eine Untätigkeitsbeschwerde in die Prozessordnungen aufzunehmen.116 Der deutsche Gesetzgeber ist dem bisher aber nicht nachgekommen.117
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Lösung Fall 3: Begründet ist die Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht verletzt ist. In Betracht kommt eine Verletzung der Art 13 und 6 I EGMR. 1. Verletzung des Art 13 EMRK: Die Vorschrift gewährt jeder Person, die in einem Konventionsrecht verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Wirksam ist eine Beschwerde, wenn mit ihr die Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder angemessene Hilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann. Wird eine überlange Verfarhensdauer gerügt, muss es einen Rechtsbehelf geben, mit dem der Bf entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangen kann (EGMR, Slg 2002, VIII Nr 17 – Mifsud). Im deutschen Recht kommen eine VB, Dienstaufsichtsbeschwerde, Untätigkeitsbeschwerde und eine Klage auf Schadensersatz in Betracht. a) Verfassungsbeschwerde: Das BVerfG erkennt ein Recht auf ein zügiges Gerichtsverfahren
109 Vgl EGMR, NVwZ 2000, 661, Rn 60 ff – Pellegrin; NJW 2002, 3087, 3089 – Volkmer. Dazu Schmidt-Aßmann FS Schmitt-Glaeser, 2003, S 317, 328 f. 110 Vgl auch Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 6 Rn 3. 111 Zur Frage, was angemessen ist, vgl → § 6 Rn 55 ff. 112 Vgl EGMR, NJW 1997, 2809 ff – Probstmeier; EuGRZ 1997, 310 ff – Pammel; EuGRZ 2003, 228, Rn 51 – Norbert Kind. 113 Vgl EGMR, NJW 2001, 2694 – Kudla. Dazu Meyer-Ladewig NJW 2001, 2679 f; SchmidtAßmann (Fn 109) S 331 ff; Gundel DVBl 2004, 17 ff. 114 Vgl zB BVerfG-K, NJW 2008, 503. 115 Näher dazu Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008, 1783 ff. 116 EGMR, NJW 2006, 2389 Rn 137 f – Sürmeli. 117 Vgl dazu Roller ZRP 2008, 122 ff.
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an. Bei übermäßig langem Verfahren stellt es die Verfassungswidrigkeit fest und fordert das zuständige Gericht auf, das Verfahren zu beschleunigen oder abzuschließen (vgl zB BVerfG, NJW 2005, 739). Doch kann das BVerfG weder eine Frist zum Abschluss des Verfahrens setzen (vgl aber auch BVerfG, NJW 2001, 214) noch andere Maßnahmen zur Beschleunigung anordnen oder eine Wiedergutmachung zusprechen. Daher ist die VB (jedenfalls bei Zugrundelegung der bisherigen Rspr des BVerfG) nach Ansicht des EGMR kein wirksamer Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK. b) Dienstaufsichtsbeschwerde: Eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 2, 26 DRiG ist schon deshalb kein wirksamer Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK, weil sie dem Bf keinen Anspruch darauf gibt, den Staat zur Ausübung seiner Aufsichtsbefugnisse zu zwingen. c) Außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde: Für eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde gibt es in Deutschland keine gesetzliche Grundlage. Einige Gerichte erkennen sie zwar trotzdem an. Wegen der Unsicherheit, ob und unter welchen Voraussetzungen sie zulässig ist, kann sie aber nicht als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden. d) Amtshaftungsklage: Selbst wenn die Gerichte zu dem Ergebnis kommen sollten, dass Verfahrensverzögerungen zu einer Amtshaftung führen, können sie doch keinen Ersatz für Nichtvermögensschäden zusprechen. Somit gibt es in Deutschland nach Auffassung des EGMR keinen wirksamen Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK gegen eine überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens. 2. Verletzung eines Konventionsrechts: In Betracht kommt eine Verletzung des Art 6 I 1 EMRK, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten (hier in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hier war die Verfahrensdauer nicht mehr angemessen, so dass Art 6 I 1 EMRK verletzt wurde. Der EGMR hat dem Bf gem Art 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von 10 000 € zugesprochen.118
6. Konventionsrechte als Elemente objektiver Ordnung Wie ausgeführt wurde (Rn 12), gilt die EMRK in der deutschen Rechtsordnung im Rang eines Bundesgesetzes und bindet demgemäß alle staatlichen Organe, auch wenn keine Rechte geltend gemacht werden. Dies hat ua zur Konsequenz, dass das nationale Recht konventionskonform ausgelegt werden muss (vgl auch Rn 14). Lösung Fall 4: Eine auf die EMRK gestützte Individualbeschwerde (Art 34 EMRK) ist begründet, wenn der Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Hier kommt eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art 2 EMRK), des Rechts auf Empfang von Informationen (Art 10 I 2 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 I EMRK) in Betracht. Da die Bf keinen Anspruch auf Abwehr staatlichen Handelns, sondern auf positive Verpflichtung zur Information geltend machen, können die Vorschriften nur verletzt sein, wenn sich aus ihnen Leistungsrechte ableiten lassen. Dies dürfte hinsichtlich des Konventionsrechts auf Leben (Art 2 I EMRK) hier zu verneinen sein. Was das Recht angeht, Informationen zu empfangen (Art 10 I 2 EMRK), hat der EGMR im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Journalisten von einem Recht der Öffentlichkeit gesprochen,
118 Von der Einreichung der Beschwerde beim EGMR bis zur Entscheidung der Großen Kammer sind rund sieben Jahre vergangen. Dies zeigt, dass es Vorteile bietet, „zu kontrollieren als kontrolliert zu werden“.
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angemessen informiert zu werden119 (vgl zB EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer). Ein Anspruch auf Informationserteilung durch den Staat soll aber nur Journalisten zustehen. Im Übrigen bleibe es bei dem Grundsatz, dass Art 10 EMRK ein Abwehr- und nicht ein Leistungsrecht gewährt. Dagegen verpflichtet Art 8 I EMRK nach stRspr des EGMR den Staat nicht nur dazu, sich eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben zu enthalten, sondern gebietet ihm auch positiv eine wirkungsvolle Respektierung des Privat- und Familienlebens. Da der EGMR annimmt, dass schwerwiegende Umweltverschmutzungen das Privat- und Familienleben beeinträchtigen, habe der Staat die Bf über die Risiken informieren müssen, die sie und ihre Familien dadurch eingingen, dass sie in einer im Falle eines Unfalls den Gefahren der Chemiefabrik in besonderer Weise ausgesetzten Ortschaft wohnen blieben. Der Hinweis auf die noch laufenden Untersuchungen verfange nicht, weil den Bf ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar gewesen sei. Somit habe der Staat durch das Vorenthalten von Umweltinformationen die Garantie des Art 8 I EMRK verletzt.
III. Auslegung der Konventionsrechte 31
Die Auslegung der EMRK120 hat sich ebenso wie die Ermittlung der Bindungswirkungen der EGMR-Entscheidung an der gleicherweise maßgeblichen (vgl Art 33 WVK) englischen und französischen Sprachfassung zu orientieren (Rn 7). Nicht anders als sonstige völkerrechtliche Verträge (vgl Art 31 I WVK) muss die EMRK autonom im Lichte ihres Zieles und Zweckes ausgelegt werden. Dem humanitären Völkerrecht ist aber nach Möglichkeit Rechnung zu tragen.121 Wegen ihres auf dauerhafte Begrenzung der Staatsgewalt gerichteten Charakters ist ähnlich wie im Europäischen Gemeinschaftsrecht eine dynamische (im Gegensatz zur statisch-historischen) Auslegung geboten, die dem Grundsatz der Effektivität (effet utile) verpflichtet ist. Dementsprechend betont die Rspr, dass die EMRK ein „living instrument/instrument vivant“ sei, „which must be interpreted in the light of present day conditions/à interpréter à la lumiére des conditions de vie actuelles“. Garantiert werden sollen Rechte, die nicht „theoretical or illusory/théorique ou illusoires“, sondern „practical and effective/concret et effective“ sind.122 Der historischen Interpretation kommt nur dann eine größere Bedeutung zu, wenn es um die Auslegung von Vorbehalten der Konventionsstaaten geht. Systematisch muss das Zusammenspiel von Konvention und Zusatzprotokollen mit der Satzung des Europarates und den vor diesem Rat abgeschlossenen Abkommen sowie die Einbettung in das allgemeine Völkerrecht beachtet werden. Soweit auf das Recht der Konventionsstaaten verwiesen wird (zB Art 12 EMRK: „nach den innerstaatlichen Gesetzen“), darf dieses den Wesensgehalt des Konventionsrechts nicht antasten.123
119 Vgl zB EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer. 120 Näher dazu Cremer in: Grote/Marauhn, KK, IV. 121 Vgl EGMR, NJW 2001, 3035 ff – Streletz, Keßler und Krenz; EuGRZ 2003, 472 Rn 163 – Öcalan. 122 Grundlegend EGMR, EuGRZ 1979, 162, Rn 31 – Tyrer; EuGRZ 1979, 626, Rn 24 – Airey. 123 Vgl zB EGMR, Series A 106, Rn 50 – Rees.
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IV. Berechtigte der Konventionsrechte Wie sich aus Art 1 EMRK ergibt, werden durch die EMRK (einschließlich der Zusatzprotokolle) grundsätzlich alle der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstehenden „Personen“ geschützt. Auf die Staatsangehörigkeit kommt es anders als nach den deutschen Grundrechten (die zwischen Jedermanns- und Deutschenrechten unterscheiden) prinzipiell nicht an.124 Aus dem Schutzgehalt der Verbürgung kann sich allerdings ergeben, dass diese nur für bestimmte Personen von Bedeutung ist und daher auch nur diesen Personen zukommen kann. ZB steht das Recht auf Eheschließung allein „Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter“ (Art 12 EMRK), das Recht auf Einreise allein den eigenen Staatsangehörigen (Art 3 II 4. ZP EMRK) und bestimmte Verfahrensrechte in Bezug auf die Ausweisung allein ausländischen Personen (Art 1 7. ZP EMRK) zu.125 Was die EMRK unter Personen versteht, lässt sich aus der das Recht der Individualbeschwerde garantierenden Bestimmung des Art 34 herleiten (Rn 73 ff). Danach sind natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen oder Personenvereinigungen gemeint. Soweit das Recht auf Leben in Rede steht, könnte (und dürfte) zu den natürlichen Personen auch der nasciturus gehören. Der EGMR hat sich hierzu bisher nicht abschließend geäußert und offen gelassen, ob die EMRK ein Recht auf Abtreibung oder ein Verbot der Abtreibung kennt respektive die Tötung eines Fötus mit Blick auf Art 2 EMRK strafrechtlich verfolgt werden muss.126 Auf das Alter oder die Geschäftsfähigkeit der natürlichen Personen kommt es nicht an. Kollidiert der Konventionsschutz der Minderjährigen mit dem ebenfalls geschützten Erziehungsrecht der Eltern (Art 2 S 2 1. ZP EMRK), muss der Staat eine verhältnismäßige Zuordnung vornehmen. Zur prozessualen Geltendmachung des Minderjährigenschutzes (Rn 76). Auch ein postmortaler Konventionsschutz scheint denkbar. Eine diesbezügliche Rspr gibt es bisher aber nicht. Jedoch dürfen Erben bei berechtigtem Interesse das Verfahren des verstorbenen Beschwerdeführers vor dem EGMR fortführen.127 Zu den geschützten Organisationen und Personengruppen gehören Stiftungen und Personenvereinigungen jeglicher Art, sofern sie nichtstaatlicher Provenienz sind. Unerheblich ist, ob die Zusammenschlüsse mit Rechtsfähigkeit ausgestattet sind, nach welchem Recht sie organisiert wurden und wo sie ihren Sitz haben.128 Demgemäß können sich insbesondere die von Privaten getragenen juristischen Personen des Privatrechts auf die EMRK berufen. 124 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 3. 125 Das in Art 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und das in Art 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vermitteln Ansprüche, die dazu führen können, dass ein Ausländer nicht des Landes verwiesen werden darf. So kann aus Art 3 EMRK folgen, dass ein Ausländer nicht ausgeliefert werden darf, wenn dieser im Verfolgerstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu sein droht, die mit Art 3 EMRK nicht vereinbar ist. Vgl EGMR, EuGRZ 1989, 314 ff – Soering; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 314. Zur Prüfung bei einer Abschiebung in einen Konventionsstaat vgl BVerwG, NWVBl 2005, 260 ff. 126 Zur Frage der strafrechtlichen Verfolgung vgl Europäische Kommission für Menschenrechte, EuGRZ 1978, 199; EGMR, NJW 2005, 727 – Vo = JK 9/05 EMRK Art 2 I 1/1. Für einen Schutz auch Röben in: Grote/Marauhn, KK, V Rn 26. 127 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 13. Nach Grabenwarter EMRK, § 17 Rn 4 soll die Fortführung eines Prozesses nur die Prozessfähigkeit betreffen. 128 Vgl auch Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg) Die Grundrechte, Bd I/1, 1966, 235, 295; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, 284.
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Allerdings schützen viele Konventionsrechte nur Freiheitssphären, die ihrem Inhalt nach allein auf natürliche Personen anwendbar sind (zB das Recht auf Leben, der Schutz vor Folter, das Recht auf persönliche Freiheit oder das Recht auf Achtung des Familienlebens). Dagegen hat der EGMR129 im Gegensatz zum EuGH 130 zB das Recht auf Achtung der Wohnung (Art 8 I EMRK) so ausgelegt, dass auch Geschäftsräume geschützt werden (→ § 3 Rn 13). Daher können auch Personenvereinigungen Träger dieses Grundrechts sein. Die Rechte der nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen sind von denen ihrer Mitglieder zu unterscheiden. Dementsprechend sind die Organisationen oder Personengruppen nicht befugt, Rechte ihrer Mitglieder geltend zu machen.131 Auch nach ihrer Auflösung können Organisationen oder Personengruppen sich unter bestimmten Voraussetzungen noch auf die Konventionsrechte berufen (insbesondere wenn die Auflösung Folge der behaupteten Verletzung ist).132 Keinen Schutz genießen staatliche Organisationen oder Personengruppen.133 Der Staat ist Verpflichteter, nicht Berechtigter der Konventionsrechte. Dies gilt auch dann, wenn er sich privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedient (also zB „fiskalisch“ tätig wird).134 Deshalb wird zB nicht das Eigentum von Gemeinden durch Art 1 1. ZP EMRK geschützt.135 Andererseits kann den juristischen Personen des öffentlichen Rechts nicht generell die Konventionsrechtsfähigkeit abgesprochen werden. So sind die korporierten Religionsgemeinschaften als nichtstaatliche Organisationen bzw Personengruppen anzusehen, da es sich um gesellschaftliche Einrichtungen handelt (also jedenfalls, wenn sie nicht als Staatskirchen organisiert sind).136 Entsprechendes kann für Rundfunkanstalten gelten.137 Im Übrigen sind noch viele Fragen ungeklärt. Wie im deutschen Recht dürften sich auch diejenigen staatlichen Rechtsträger, die „unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen“ sind (Beispiel: Meinungsäußerung staatlicher Universitäten in Wahrnehmung ihres wissenschaftlichen Auftrags),138 auf die Gewährleistungen berufen können.139 Hinsichtlich der Privatrechtssubjekte mit staatlichen und privaten Anteilseignern oder Mitgliedern (etwa gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen140) tendiert das Europäische Gemeinschaftsrecht dahin, auf die Beherrschungsver-
129 EGMR, EuGRZ 1993, 65, Rn 29 ff – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1; Urt v 16.4.2002 Rn 41 – STÉS. 130 EuGH, Slg 1989, 2919, Rn 18 – Hoechst = JK 6/90, EWGV § 173/2. 131 Vgl die Nachw bei Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 25 Rn 140; dems EuGRZ 1996, 341, 343; Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 16. 132 Vgl die Nachw bei Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 17. 133 Vgl auch Art 34 EMRK (nichtstaatliche Organisation). 134 Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 16. 135 AA Tettinger FS Börner, 1992, S 625, 633 ff, wonach sich alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts auf das Eigentumsrecht berufen können, weil nach Art 1 I 1. ZP EMRK „jede natürliche oder juristische Person“ das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat. Vgl auch Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Bd III/1, 1103. Die von Tettinger zitierte Rspr des EGMR betraf juristische Personen des Privatrechts und gerade nicht des öffentlichen Rechts. 136 Vgl Ehlers in: Sachs (Fn 45), Art 140 GG/137 WRV Rn 21. 137 Vgl Grabenwarter EMRK, § 17 Rn 5; Röben in: Grote/Marauhn, KK, V Rn 35. 138 Vgl BVerfGE 31, 314, 322; 39, 302, 314. 139 Vgl Grabenwarter EMRK, § 17 Rn 5. 140 Vgl zum deutschen Recht Schmidt-Aßmann FS Niederländer, 1991, S 383 ff.
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hältnisse abzustellen (→ § 14 Rn 44). Für die EMRK könnte Entsprechendes gelten.141 Mit Staatsgewalt beliehenen Personen muss eine Berufung auf die Konventionsrechte dagegen versagt bleiben, da sie als Träger von Staatsgewalt anzusehen sind, wenn und soweit sie Hoheitsrechte ausüben.
V. Verpflichtete der Konventionsrechte 1. Konventionsstaaten des Europarates Wenn die EMRK gem Art 1 die der Hoheitsgewalt einer Vertragspartei unterliegenden Personen berechtigt, folgt daraus als Umkehrschluss, dass die Vertragsparteien durch die Konventionsrechte verpflichtet werden. Unter Vertragsparteien sind alle Staaten des Europarates zu verstehen, welche die EMRK ratifiziert haben (Art 59 EMRK) – Konventionsstaaten. Die Bindung bezieht sich auf alle Staatsgewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) und alle Träger von Staatsgewalt (zB auch auf die Bundesländer und kommunalen Gebietskörperschaften). Auf die Rechtsform des Handelns (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) kommt es nicht an. Zu den Trägern von Staatsgewalt sind ebenso wie im deutschen Recht 142 auch die Beliehenen und alle Privatrechtssubjekte zu zählen, hinter denen unmittelbar oder mittelbar allein der Staat steht (Eigengesellschaften). Entsprechendes dürfte für die vom Staat beherrschten gemischt zusammengesetzten Privatrechtsvereinigungen gelten (Rn 35). Dagegen müssen die korporierten Religionsgemeinschaften, jedenfalls soweit es sich nicht um Staatskirchen handelt, der Sphäre der Privaten zugeordnet werden (Rn 35). Der Staat ist für jede Konventionsverletzung verantwortlich, auch wenn er keine Möglichkeit der Einflussnahme hatte (wie auf die Jurisdiktion der unabhängigen Gerichte) oder Amtsträger weisungswidrig gehandelt haben.143 Neben positiven Handlungen können auch Duldungen oder Unterlassungen des Staates (zB Verweigerung der Unterstützung durch einen Dolmetscher im Falle des Art 6 III lit e EMRK) eine Verletzung der Konvention herbeiführen.144 Ferner können Verstöße der Konventionsstaaten gegen supranationales Recht am Maßstab der EMRK gemessen werden. So soll eine willkürliche Nichtvorlage an den EuGH (Art 234 EGV/267 AEUV) gegen das in Art 6 I EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren verstoßen 145 und die Nichtbeachtung einer unmittelbar anwendbaren EG-Richtlinie das in Art 1 1. ZP EMRK geschützte Eigentumsrecht verletzen können.146 Rechtsschutz vor dem EGMR kann wegen der Subsidiarität der Individualbeschwerde (Rn 83) allerdings nur verlangt werden, wenn die gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Schutzmechanismen einschließlich der verfassungsrechtlichen Rechtsbehelfe nicht zum Tragen kommen. Näher zur Bindung der Konventionsstaaten an die EMRK bei der Anwendung internationalen oder supranationalen Rechts (Rn 10 ff). 141 142 143 144
Vgl auch Barden Grundrechtsfähigkeit gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, 2002, 185 ff. Vgl Ehlers in: Erichsen/ders (Hrsg) Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl 2006, § 1 Rn 4. EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 150 ff – Irland. Vgl auch die Rechtsprechungsbeispiele bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 11 (Pflicht des Staates zum Einschreiten bei Untätigbleiben eines Pflichtverteidigers bzw der Durchsetzung des Rechts auf Trennung von Tisch und Bett). 145 EGMR, Urt v 23.3.1999 – Desmots; Urt v 7.9.1999 – Dotta; Urt v 25.1.2000 – Moosbrugger (unveröff). 146 Vgl EGMR, EuGRZ 2007, 671 ff – S.A. Jacquers Dangeville; näher dazu Breuer JZ 2003, 433 ff.
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Nicht verantwortlich ist ein Staat für die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf seinem Territorium, wenn die Gewalt nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen Staat ausgeübt wird. In einem solchen Fall trifft die Verantwortlichkeit nur den anderen Staat, sofern es sich um einen Konventionsstaat handelt.147 Eine solche Lage kann sich insbesondere bei einem transnationalen Verwaltungshandeln auf völkerrechtlicher oder gemeinschaftsrechtlicher Grundlage ergeben. So darf die Polizei bspw nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen148 unter bestimmten Voraussetzungen grenzüberschreitend tätig werden.149 Auch nach Maßgabe der EMRK ist dann nur der Staat verantwortlich, der die Grenze überschritten hat, und nicht derjenige, auf dessen Territorium gehandelt worden ist. Da die Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK grundsätzlich territorial begrenzt ist, bindet die EMRK den Staat bei einem extraterritorialen Handeln nur ausnahmsweise (Rn 49).
2. Internationale und supranationale Organisationen 38
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Fall 5: (EGMR, NJW 1999, 3107 ff – Matthews = JK 11/99, EMRK, Art 3 1. ZP/2) Die Bf ist britische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in Gibraltar. Sie beantragte ihre Registrierung als Wählerin für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Unter Hinweis auf den Anhang II des Beschlusses und des Aktes zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20.9.1976 (Sart II Nr 262) wurde dieser Antrag abgelehnt. Nach Anhang II (heute Anhang I) wird das Vereinigte Königreich die Vorschriften des Wahlaktes nur auf das Vereinigte Königreich anwenden. Gibraltar ist ein vom Vereinigten Königreich abhängiges Territorium, stellt jedoch selbst keinen Teil des Vereinigten Königreiches dar. Der EGV findet gemäß Art 299 IV EGV auf Gibraltar Anwendung. Im Beitrittsvertrag von 1972 ist jedoch festgelegt, dass nicht alle Bestimmungen des EGV in Gibraltar gelten. Insbesondere ist Gibraltar nicht Teil der Zollunion und gilt als Drittstaat im Sinne der gemeinsamen Handelspolitik. Obwohl Gibraltar nicht Teil des Vereinigten Königreichs ist, gelten die dort lebenden britischen Bürger als Staatsangehörige im Sinne des EGV. Die Bf rügt mit einer gegen das Vereinigte Königreich gerichteten Individualbeschwerde die Verletzung des Art 3 1. ZP EMRK. Die Vorschrift garantiert, freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.
Fall 6: (EGMR, NJW 2006, 197 – Bosphorus = JK 7/06, EMRK Art 1/3) Ein von einer jugoslawischen Fluggesellschaft geleastes Flugzeug der türkischen Fluggesellschaft Bosphorus (Bf) ist während des Jugoslawien-Konfliks im Jahre 1993 in Dublin auf der Grundlage der eine Resolution des UN-Sicherheitsrats umsetzenden Embargo-VO (EWG) Nr 990/93 beschlagnahmt worden. Der irische Supreme Court hat das gegen die Beschlagnahme gerichtete Rechtsmittel der Bf letztinstanzlich zurückgewiesen, nachdem der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens entschieden hat, dass die EGVO auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Die Bf wendet sich an den EGMR und rügt die Verletzung ihres Rechts auf Eigentum aus Art 1 des 1. ZP EMRK.
147 Vgl Partsch (Fn 128) 299. 148 BGBl II 1993, 1013 = Sart II Nr 280. 149 Vgl Art 40, 41 Schengen-Durchführungsübereinkommen.
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a) Direkte Bindung Da die EMRK auf der Grundlage der Satzung des Europarates erlassen worden ist, sind auch die Organe des Europarates selbst an die Konvention und ihre Zusatzprotokolle gebunden (solange sie nicht durch spätere Abkommen überlagert oder außer Kraft gesetzt werden).150 Dem kommt deshalb keine große Bedeutung zu, weil dem Europarat keine Herrschaftsbefugnisse übertragen wurden. Doch ist der Europarat verpflichtet, nur solche Mitglieder aufzunehmen, die im Prinzip (dh vorbehaltlich der Anbringung von Vorbehalten151) die in der EMRK positivierten Menschenrechte anerkennen, wie sich auch aus Art 3 seiner Satzung ergibt (vgl Rn 5). Sonstige internationale oder supranationale Organisationen, die im räumlichen Geltungsbereich der Konvention Hoheitsrechte ausüben, sind nicht (direkt) an die EMRK gebunden, weil der Beitritt zur EMRK gem Art 59 I derzeit nur den Mitgliedern des Europarates und somit nur Staaten152 gestattet ist (Rn 18). Dies gilt auch für die Europäische Union respektive Europäische Gemeinschaft.153 Anders wird sich die Rechtslage darstellen, wenn das 14. ZP EMRK und der Vertrag von Lissabon in Kraft treten (Rn 18). Kommt es zu einem Beitritt der EU zur EMRK, kann nach Erschöpfung der Rechtsbehelfe Beschwerde gegen die Entscheidungen des Gerichtshofs der EU154 beim EGMR eingelegt werden. Je nach Zusammensetzung des Spruchkörpers des EGMR (Rn 68), könnte dies zur Folge haben, dass ausschließlich Richter über EU-Recht urteilen, die keinem der Mitgliedstaaten der EU angehören. Überprüfbar wäre nicht nur das Sekundär- (oder Tertiär-) Recht der EU155, sondern auch das Primärrecht (Vertragsrecht).156 Verstöße der EU gegen die EMRK würden die konventionsrechtliche Haftung nach Art 41 auslösen.
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b) Indirekte Bindung Sind die internationalen oder supranationalen Organisationen nicht Verpflichtungsadressaten der Konventionsrechte, ändert dies nichts daran, dass die Konventionsstaaten grundsätzlich auch dann an die EMRK gebunden bleiben, wenn sie Hoheitsrechte auf eine internationale oder supranationale Organisation übertragen haben. Allerdings hat der EGMR eine Überprüfung des Handelns der Konventionsstaaten, die im Namen der Vereinten Nationen tätig geworden sind, am Maßstab der EMRK unter Hinweis auf die Vorrangregel des Art 103 UN-Charta157 sowie die hierzu ergangene Rspr des IGH 158 abge-
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154 155 156 157 158
Vgl auch Partsch (Fn 128), S 299 f. Vgl Art 57 EMRK. Art 4 und 5 der Satzung des Europarates. In der Rs Senator Lines GmbH hat ein Bf alle EU-Staaten vor dem EGMR verklagt, weil seinen Rechtsmitteln gegen eine von der EU-Kommission auferlegte Geldbuße weder von der Kommission noch vom EuG oder EuGH aufschiebende Wirkung zuerkannt worden ist. Der EGMR hat die Beschwerde zurückgewiesen (spätere Aufhebung der noch nicht bezahlten oder vollstreckten Geldbuße), ohne die Frage nach der prinzipiellen Zulässigkeit zu beantworten (NJW 2004, 3617, 3619). Art 19 I EUV-E. Zum Begriff der tertiären Rechtsetzung vgl Härtl Europäische Rechtsetzung, 2006, § 15 Rn 8 f. Der Gerichtshof der EU besitzt für die Überprüfung des Primärrechts keine Zuständigkeit. Sart II Nr 1. Vgl IGH, ICJ Rep 1994, 392 Rn 107 – Nicaragua.
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lehnt (Rn 50, Fall 8). Um eine Kollision zwischen dem innerstaatlich geltenden internationalen bzw vorrangig geltenden supranationalen Recht einerseits und der EMRK nach Möglichkeit zu entgehen, hat die – inzwischen aufgelöste159 – Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) eine an die Solange II-Entscheidung des BVerfG 160 angelehnte Auffassung vertreten. Danach soll eine Beschwerde auf der Grundlage der EMRK unzulässig sein, wenn im Recht der internationalen bzw supranationalen Organisationen ein vergleichbarer Grundrechtsschutz angelegt ist.161 Dies treffe namentlich auf das europäische Gemeinschaftsrecht zu. Damit hat die EKMR eine Verantwortung der Konventionsstaaten für EG-Akte de facto verneint.162 Der EGMR ist dieser Ansicht mittlerweile mit gewissen Modifikationen bzw Klarstellungen gefolgt. Bereits in seiner Entscheidung vom 15.11.1996 hat er allerdings festgestellt, dass ein Konventionsstaat nicht allein deswegen von seiner konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit für einen innerstaatlichen Rechtsakt befreit ist, weil dieser lediglich zwingende Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts umsetzt.163 In neueren Entscheidungen hat der EGMR seinen Standpunkt verdeutlicht. Zwar schließe die EMRK die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Organisationen nicht aus. Dies ändere aber nichts an der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Einhaltung der Konventionsrechte. Die Konventionsstaaten müssten sicherstellen, dass die internationale oder supranationale Rechtsordnung einen der Konvention vergleichbaren Standard gewährleistet. Tun sie dies nicht, verletzt das Unterlassen die Konvention. Die Verantwortlichkeit bleibe auch im Verhältnis zum europäischen Gemeinschaftsrecht bestehen. Da die von der EMRK garantierten Rechte nicht „theoretical or illusory“, sondern „practical and effective“ gelten sollten und da die Wirkungen des Gemeinschaftsrechts denjenigen des innerstaatlichen Rechts entsprächen, müsse ein Mitgliedstaat die Konventionsrechte auch gegenüber Gemeinschaftsakten in vollem Umfange sichern.164 Allerdings hat der EGMR in seiner Bosphorus-Entscheidung (Fall 6) festgestellt, dass die Staaten ihre Verpflichtungen aus der Konvention erfüllen, solange der Grundrechtsschutz in der internationalen Organisation dem durch die EMRK gewährleisteten zumindest gleichwertig ist. Treffe dies zu, läge eine Vermutung für die Einhaltung der Anforderung der EMRK durch den Staat vor (Rn 47). Gleichwertigkeit bedeutet nicht Identität, sondern Vergleichbarkeit. Widerlegt ist die Gleichwertigkeitsvermutung, wenn der Schutz der Konventionsrechte „offensichtlich“ unzureichend ist. Für das Europäische Gemeinschaftsrecht (im Gegensatz zur 2. und 3. Säule der EU165) wird eine solche Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes prinzipiell bejaht (Rn 47). Sind die Mitgliedstaaten der EU bei der Umsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts nicht strikt gebunden, sondern verfügen sie über einen Handlungsspielraum, greift die Gleichwertigkeitsvermutung nicht ein. 159 Vgl Rn 50 ff. 160 BVerfGE 73, 339, 375 f. Näher dazu → § 14 Rn 18. 161 Vgl namentlich EKMR, ZaöRV 50 (1990), 865, 867 – M & Co. Näher dazu Giegerich ZaöRV 1990, 836 ff. 162 Zutreffend Lenz EuZW 1999, 311 ff. 163 EGMR, Rep 1996-V, 1614 Rn 30 – Cantoni. 164 Vgl EGMR, NJW 1999, 1173 ff – Waite = JK 12/99, EMRK Art 6/2; NJW 1999, 3107 ff – Matthews = JK 11/99, EMRK Art 3 1. ZP/2. Näher dazu Rn 21. 165 Vgl dazu Gaja FS Tomuschat, 2006, S 525; Callewaert in: Breitenmoser (Hrsg), Liber amicorum Wildhaber, 2007, 115, 128.
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Vergleicht man die Zurücknahme der Kontrolldichte des EGMR mit der (ua) das Verhältnis des sekundären Gemeinschaftsrechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes betreffenden Solange-Rspr des BVerfG166, zeigen sich Unterschiede. Das BVerfG erachtet den Grundrechtsschutz im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaft als nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des GG im Wesentlichen gleich. Deshalb will es seine Gerichtsbarkeit im Hinblick auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht nur noch ausüben, wenn dargelegt wird, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz auf der Ebene des Europäischen Gemeinschaftsrechts „generell“ nicht gewährleistet ist (→ § 14 Rn 18, 51). Diese Voraussetzung dürfte kaum jemals gegeben sein. Dagegen stellt der EGMR nicht auf einen strukturellen (generellen) Vergleich der EMRK-Rechte und Unionsgrundrechte, sondern auf den Einzelfall ab. Andererseits wird die Vermutung eines vergleichbaren Grundrechtsschutzes nur widerlegt, wenn der Schutz der Konventionsrechte „offensichtlich“ unzureichend ist. Damit nähert sich der EGMR doch wieder der Betrachtungsweise des BVerfG an. Wird die Vermutung der Gleichwertigkeit der EMRK-Rechte und der Unionsgrundrechte ausnahmsweise widerlegt, überprüft der EGMR indirekt über die Verantwortung der Mitgliedstaaten der EU für die Wahrung der Rechte aus der EMRK auch die Akte der EG. Für die Staaten, die sowohl Mitglied des Europarates als auch der EU sind, kann die Verantwortung für die Einhaltung des EMRK-Standards auch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht dann zu erheblichen Problemen führen. Folgen sie dem (nach Ansicht des EGMR) konventionswidrigen europäischen Gemeinschaftsrecht, verletzen sie die EMRK. Lassen sie dagegen das Gemeinschaftsrecht unangewendet, missachten sie dessen Vorrang gegenüber dem nationalen Recht.167 Zu einer endgültigen Lösung des Rangverhältnisses von EMRK und Unionsgrundrechten kommt es erst, wenn die Europäische Union der EMRK beitritt (Rn 18). Lösung Fall 5: Die zulässige Individualbeschwerde ist begründet, wenn die Bf in einem durch die EMRK geschützten Recht verletzt ist. Als verletztes Recht kommt nur das durch Art 3 1. ZP EMRK garantierte Recht auf Teilnahme an freien Wahlen zu einer gesetzgebenden Körperschaft in Betracht. Die Verletzung setzt voraus, dass der Schutzbereich des genannten Rechts betroffen ist, sich die Betroffenheit als Beeinträchtigung darstellt und einer Rechtfertigung entbehrt. Der Schutzbereich kann nur beeinträchtigt sein, wenn die Bf zum Kreis der Berechtigten gehört, das Vereinigte Königreich Verpflichtungsadressat des Konventionsrechts ist und der räumliche Geltungsbereich der EMRK bzw des 1. ZP EMRK betroffen ist. Ferner müssen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift gegeben sein. Da Art 3 1. ZP EMRK das Wahlrecht grundsätzlich allen (erwachsenen) Personen zuerkennt, die der Hoheitsgewalt der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen, ist die Bf als Berechtigte des Konventionsrechts anzusehen. Eine Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs für die Nichtdurchführung von Wahlen zum Europäischen Parlament in Gibraltar könnte hier daran scheitern, dass der zum europäischen Gemeinschaftsrecht gehörende Anhang II des Wahlaktes eine Wahl in Gibraltar ausschließt. Da die EG nicht Mitglied des Europarats ist, unterliegen Gemeinschaftsakte nicht der Kontrolle durch den EGMR. Die Konventionsstaaten können sich durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Gemeinschaften aber nicht der Verantwortung entziehen. Sie sind daher
166 Vgl BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 161 ff. 167 Vgl zu diesem Vorrang EuGH, Slg 1964, 1253, 1270 f – Costa/ENEL.
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auch nach Übertragung für die Einhaltung des Konventionsschutzes verantwortlich. Somit wird das Vereinigte Königreich nach wie vor durch Art 3 1.ZP EMRK verpflichtet. Mittels der Abgabe von Erklärungen iSd Art 56 EMRK, Art 4 1. ZP EMRK hat das Vereinigte Königreich den räumlichen Geltungsbereich der EMRK und des 1. ZP auch auf Gibraltar erstreckt. Schließlich ist das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft anzusehen, da es sich nicht notwendigerweise um ein nationales Parlament handeln muss und das Europäische Parlament „the principle form of democratic, political accountability in the Community“ repräsentiert. Allerdings wird das Recht auf freie Wahlen nicht absolut gewährleistet, sondern ist Beschränkungen (bzw Ausgestaltungen) unterworfen. Diese dürfen das Wahlrecht aber nicht in seinem Wesensgehalt antasten. Da hier den Bürgern von Gibraltar jede Einflussmöglichkeit auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments genommen wird, ist der Wesensgehalt des Rechts auf freie Wahlen verletzt. Daher hatte die Individualbeschwerde der Bf Erfolg. In Reaktion auf die Entscheidung des EGMR hat das Vereinigte Königreich auch den Personen mit Wohnsitz in Gibralta das aktive und passive Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament gewährt. Der EuGH hat dies für vereinbar mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht gehalten.168
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Lösung Fall 6: Die Beschwerde ist begründet, wenn die Bf durch die Beschlagnahme des Flugzeugs in ihrem Recht auf Eigentum aus Art 1 des 1. ZP EMRK verletzt worden ist. Die Beschlagnahme des Flugzeugs greift in das konventionsrechtlich geschützte Eigentumsrecht der Bf ein. Der Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und den Eigentumsinteressen der Bf hergestellt wurde. Rechtsgrundlage für den Eingriff ist die VO (EWG) Nr 990/93. Da eine VO nach Art 249 II EGV allgemeine Geltung hat und in allen ihren Teilen verbindlich unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, war Irland gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, die VO anzuwenden. Dies ergab sich auch aus der Vorabentscheidung des EuGH. Dass mit der Beschlagnahme verfolgte Allgemeininteresse lag für Irland somit in der Erfüllung der sich aus der Mitgliedschaft in der EG ergebenden rechtlichen Verpflichtungen. Hierbei handelt es sich um ein berechtigtes Interesse von erheblichem Gewicht. Die EMRK verbietet es den Konventionsstaaten nicht, Hoheitsbefugnisse auf eine internationale oder supranationale Organisation zu übertragen. Andererseits ist jeder Konventionsstaat nach Art 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich, unabhängig davon, ob ein solches Handeln oder Unterlassen auf innerstaatliches Recht oder auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurückgeht. Deshalb bleibt jeder Konventionsstaat auch dann nach der Konvention verantwortlich, wenn er vertraglich Verpflichtungen gegenüber einer internationalen Organisation nachkommt, die er nach Inkrafttreten der Konvention eingegangen ist. Staatliches Handeln in Erfüllung solcher Verpflichtungen ist jedoch solange gerechtfertigt, wie die jeweilige Organisation die Grundrechte schützt – und dass in einer Art, die wenigstens als gleichwertig zu dem von der Konvention gewährten Schutz anzusehen ist. Gleichwertig meint dabei vergleichbar, nicht identisch. Wenn sich zeigt, dass die internationale Organisation einen gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, gilt die Vermutung, dass sich ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn er lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich für ihn aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben. Diese Vermutung kann hier wiederlegt werden, wenn in einem bestimmten Fall
168 EuGH, Slg 2006, I-7917 Rn 59 ff – Spanien/Vereinigtes Königreich.
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anzunehmen ist, dass der Schutz von Konventionsrechten offensichtlich unzureichend ist. Dann muss das Interesse an internationaler Zusammenarbeit wegen der Rolle der Konvention als ein „Verfassungsinstrument der europäischen ordre public“ im Bereich der Menschenrechte zurückstehen. Die Gründungsverträge der EG enthielten ursprünglich keine ausdrücklichen Bestimmungen zum Schutz der Grundrechte. Später hat der EuGH allerdings anerkannt, dass diese Rechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung er zu sichern hat. Bei der Ausformung der ungeschriebenen Unionsgrundrechte hat sich der EuGH im besonderen Maße an der EMRK als Rechtserkenntnisquelle orientiert (→ § 14 Rn 8, 10). Die Wirksamkeit materieller Menschenrechtsgarantien hängt allerdings von den zur Sicherstellung ihrer Einhaltung vorgesehenen Kontrollmechanismen ab. Zwar weist das EG-Recht bislang keine Grundrechtsbeschwerde für Individuen auf. Die Verklammerung von innerstaatlichen Rechtsbehelfen mit dem Verfahren vor dem EuGH (durch das Vorabentscheidungsverfahren) ermöglicht es den Bürgern jedoch, ihren Grundrechtsschutz gerichtlich durchzusetzen. Deshalb ist der EGMR zu der Auffassung gelangt, dass der im EG-Recht vorgesehene Schutz der Grundrechte als dem der Konvention „gleichwertig“ angesehen werden kann. Folglich ist zu vermuten, dass sich Irland den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, da es die rechtlichen Verpflichtungen erfüllte, denen es als Mitglied der EG nachzukommen hatte. Auch in Anbetracht der vorliegenden Vorabentscheidung des EuGH ist es hinsichtlich der Einhaltung der Grundrechte zu keinem Versagen der beschriebenen Kontrollmechanismen gekommen. Da die Beschlagnahme somit nicht das Eigentumsgrundrecht des Bf aus Art 1 des 1. ZP EMRK verletzt hat, ist die Individualbeschwerde als unbegründet abgewiesen worden.
3. Privatpersonen Entgegen einer mitunter vertretenen Ansicht169 entfalten die Konventionsrechte keine unmittelbare Wirkung gegenüber Privatpersonen. Dies folgt bereits aus Art 1 EMRK und wird durch die Bestimmungen der Art 33 und 34 EMRK bestätigt, weil diese nur Beschwerden gegen die Konventionsstaaten, nicht aber gegen Individuen vorsehen. Allerdings wirken nicht wenige Konventionsrechte – wie etwa das Verbot der Leibeigenschaft (Art 4 I EMRK) sowie das Recht auf Eheschließung (Art 12 EMRK) oder die Gleichberechtigung der Ehegatten (Art 5 7. ZP EMRK) – auch und gerade auf das Privatrecht ein. Ferner ist bereits ausgeführt worden (Rn 25 f), dass sich aus den Konventionsrechten Ansprüche auf Gewährung staatlichen Schutzes vor rechtswidrigen Eingriffen Privater entnehmen lassen. In erster Linie ist der Staat verpflichtet, Gesetze zu erlassen, die ein konventionswidriges Verhalten Dritter nicht zulassen.170 Jedenfalls in einem Fall ist der EGMR weiter gegangen und hat eine unmittelbare Verantwortung eines Konventionsstaates für eine körperliche Bestrafung durch den Direktor einer Privatschule angenommen, also nicht an ein staatliches, sondern privates Verhalten angeknüpft, dieses aber dem Staat zugerechnet.171
169 BGHZ 27, 284, 285 f. Vgl demgegenüber zB Szczekalla (Fn 94) S 900 f, 906; Röben in: Grote/ Marauhn, KK, V Rn 101 ff. 170 Vgl EGMR, Series A 44, Rn 49 – Young ua. 171 EGMR, Series A 247-C, Rn 27 f – Costello-Roberts. Zwar fehlte in England ein Gesetz, welches die körperliche Bestrafung von Schülern verbot, so dass der EGMR auf die Schutzpflicht des Staates hätte abstellen können. Er hat dies aber nicht getan.
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VI. Räumlicher Geltungsbereich der EMRK 49
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Fall 7: (EGMR, NJW 2003, 413 – Bankovic) Mehrere Bf haben sich unter Berufung auf Art 2 EMRK und weiterer Vorschriften der EMRK mit einer gegen die der NATO angehörenden Konventionsstaaten gerichteten Individualbeschwerde an den EGMR gewandt, weil die NATO einen Fernsehsender der ehemaligen Republik Jugoslawien bombadiert hat und hierbei Angehörige der Bf zu Tode gekommen sind.
Fall 8: (EGMR, NVwZ 2008, 645 – Behrami ua) Bf A und B aus dem Kosovo haben sich an den EGMR gewandt. A rügt die Verletzung des Art 2 EMRK, weil ein französischer Offizier der (auf der Grundlage einer Entschließung der Vereinten Nationen tätig gewordenen) Internationalen Schutztruppe (KFOR) eine nicht explodierte Bombe nicht entschärft habe und dadurch sein Sohn getötet worden ist. B macht geltend, dass er zu Unrecht auf Befehl eines norwegischen Offiziers der Schutztruppe festgenommen wurde und dies gegen Art 5 EMRK verstoßen habe.
Art 1 EMRK knüpft die Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Beachtung der EMRK an die Ausübung von Hoheitsgewalt („jurisdiction“ bzw „juridiction“). In der Regel übt ein Staat Hoheitsgewalt auf dem eigenen Territorium aus. Jedoch ist der räumliche Geltungsbereich der EMRK weiter. So unterstehen die diplomatischen und konsularischen Vertreter oder die staatlichen Schiffe und Flugzeuge auch außerhalb des eigenen Territoriums der Hoheitsgewalt des Staates. Das extraterritoriale Handeln eines Staates unterliegt nach der Rspr des EGMR dagegen prinzipiell nicht der Bindung an die EMRK, weil die Hoheitsgewalt iSd Art 1 EMRK territorial zu verstehen sei. Die EMRK sei nicht dazu gedacht, auf das Verhalten von Vertragsstaaten weltweit angewendet zu werden.172 Anderes gilt aber, wenn ein Staat die (effektive) Kontrolle über einen außerhalb seiner Grenzen gelegenes Gebiet durch militärische Besetzung173 oder kraft Zustimmung, Aufforderung oder Einwilligung der Regierung174 ausübt.175 Im Einzelnen lässt die Rspr nicht immer eine klare Linie erkennen. Keine effektive Kontrolle soll die Lufthoheit darstellen, so dass auch Bombadierungen nicht an der EMRK gemessen worden sind (Fall 7). Werden Streitkräfte im Namen der Vereinten Nationen tätig, soll die EMRK von vornherein nicht anwendbar sein (Fall 8). Bei Festnahmen (Enführungen) von Personen aus dem Ausland (die der Staat anschließend in seinen Einflussbereich bringt) wird dagegen die tatsächliche
172 EGMR, NJW 2003, 413, 417 – Bankovic. 173 EGMR, EuGRZ 1997, 555 Rn 52 – Loizidou (Verantwortlichkeit der Türkei für das Verhalten in Nordzypern). 174 Vgl EKMR, Yearbook of the European Convention on Human Rights 20 (1977), 372, 404 – X (Ausübung fremdenpolizeilicher Tätigkeit der Schweiz in Liechtenstein auf der Grundlage eines Abkommens). 175 EGMR, NJW 2003, 413 ff – Bankovic; NJW 2005, 1849 – Ilas¸cu (Verantwortlichkeit der Russischen Föderation für ein Gebiet von Moldawien); Urt v 16.11.2004 – Issa ua (unveröff.); NVwZ 2006, 2971 – Saddam Hussein. Tendenziell scheint der EGMR geringere Anforderungen an die Ausübung von Hoheitsgewalt zu stellen, wenn das Gebiet eines anderen Konventionsstaates betroffen ist.
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Gewalt über die festgenommene Person als ausreichend erachtet.176 Des Weiteren bleibt die Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates auch dann bestehen, wenn er eine Person ausweist oder an einen anderen Staat ausliefert, die menschenrechtsverletzenden Maßnahmen jedoch allein in dem aufnehmenden Land erfolgen oder zu befürchten sind.177 Schließlich ermöglichen es die „Kolonialklausel“ des Art 56 EMRK und die entsprechenden Bestimmungen der Zusatzartikel (Art 4 1. ZP EMRK, Art 5 4. ZP EMRK, Art 5 6. ZP EMRK, Art 6 7. ZP EMRK) den Konventionsstaaten, die Konvention einschließlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten auf Gebiete auszudehnen, für deren internationale Beziehungen sie verantwortlich sind (zB Niederländische Antillen, Falklandinseln usw).178 Lösung Fall 7: Der EGMR hat die Beschwerden als unzulässig abgewiesen, weil für die angegriffenen Handlungen der beklagten Staaten eine Verantwortlichkeit nach der Konvention nicht besteht. Extraterritoriale Handlungen unterfielen nur dann dem Begriff der Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK, wenn über das fremde Gebiet eine effektive Kontrolle ausgeübt werde. Dies treffe auf eine bloße Luftherrschaft nicht zu. Eine gegenteilige Auffassung lässt sich gut vertreten.
Lösung Fall 8: Der EGMR hat die Beschwerden als unzulässig angesehen, weil diese rationae personae (nicht rationae loci – vgl zu dieser Unterscheidung Rn 78 ff) mit der EMRK unvereinbar seien. Das umstrittene Vorgehen der KFOR sei den Vereinten Nationen zuzurechnen, weil diese – nicht die Heimatstaaten – die Kontrolle über die Handlung der Soldaten gehabt habe. Auch der Umstand, dass sich die Konventionsstaaten nicht einfach durch Übertragung ihrer Hoheitsrechte auf eine internationale Organisation ihrer Verantwortung entziehen könnten (Fall 6 → Rn 39) soll hier zu keinem anderen Ergebnis führen. Zum einen komme dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine einzigartige Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu, was eine Kontrolle von Maßnahmen aufgrund von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ausschließe. Zum anderen ergebe sich aus Art 103 UN-Charta ein Vorrang der Charta vor anderen Verpflichtungen. Die Argumentation des EGMR ist nicht zweifelsfrei. Zunächst wird gegen Maßnahmen der Vereinten Nationen kein dem EMRK vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährt (schon weil es an einer dem EGMR vergleichbaren Gerichtsinstanz fehlt). Sodann werden die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Kapitel VII der Vereinten Nationen zu militärischen Maßnahmen ermächtigt, aber nicht verpflichtet. Des Weiteren setzt Art 103 der Charta einen Widerspruch voraus. Schließlich ließe sich die Auffassung vertreten, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Teil seiner „einzigartigen Verantwortung“ an die Staaten abgibt, wenn er zu Militäreinsätzen ermächtigt, so dass Raum für die Anwendbarkeit der Konvention gegeben wäre. Folgt man dem EGMR, können Maßnahmen im Namen der UNO niemals an der EMRK gemessen werden.
176 Vgl EGMR (Kammer der Ersten Sektion), EuGRZ 2003, 472 – Öcalan (Verhaftung des Kurdenführers durch türkische Beamte in Kenia); EGMR (Große Kammer), NVwZ 2006, 1267 ff – Öcalan. 177 EGMR, EuGRZ 1989, 314 Rn 91 – Soering. 178 Andererseits ist das Individualbeschwerderecht im Hinblick auf das Hoheitsgebiet der Isle of Man zeitweilig nicht anerkannt worden. Vgl näher dazu Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 63 Rn 4 f.
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VII. Zeitliche Geltung der EMRK 54
Da die Konvention keine rückwirkende Kraft hat, werden die Konventionsstaaten erst mit dem Beitritt zur Konvention und nur für die Dauer des Beitritts gebunden (sofern kein Vorbehalt gemacht wurde). Für Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland, die vor dem 3.9.1953 erlassen worden sind (dh dem Inkrafttreten der Konvention), besteht somit keine Konventionsbindung.179 Allerdings müssen sich vor Inkrafttreten der Konvention erlassene Maßnahmen dann auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention hin überprüfen lassen, wenn sie fortdauernde Auswirkungen zeitigen.
VIII. Gewährleistungen und Beschränkungen der Konventionsrechte 1. Stufen der Konventionsrechtsprüfung 55
In Deutschland wird eine Grundrechtsprüfung üblicherweise in drei Stufen vorgenommen, indem zwischen Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung unterschieden wird.180 Dieser Prüfungsaufbau ist für die Abwehrfunktionen der Freiheitsrechte entwickelt worden und auch dort nicht selbstverständlich. So besteht die Tendenz zur Annahme quasi unbegrenzter natürlicher Freiheiten (im Gegensatz zu rechtlich gewährten und damit oftmals von vornherein begrenzten, gleichzeitig aber auf reale Entfaltung angelegten Freiheiten).181 Ferner ist zweifelhaft, ob sich die Ausgestaltung der rechts- bzw normgeprägten Grundrechte (wie etwa die Vereinigungsfreiheit oder das Eigentumsgrundrecht) auf diese Weise in den Griff bekommen lassen. Dennoch wird das Prüfungsschema mit gewissen Modifikationen182 zumeist auch bei den anderen Grundrechtsarten (also den Gleichheits-, Leistungs-, Staatsbürger- und Verfahrensrechten) zugrunde gelegt. Für die Überprüfung von EMRK-Verletzungen fehlt es bisher an einem ausgefeilten Raster. Obwohl der deutsche Prüfungsaufbau angreifbar ist, tauchen die behandelten Fragestellungen auch auf der EMRK-Ebene in vergleichbarer Weise auf. Daher erscheint es angemessen, den Prüfungsansatz auch insoweit zugrunde zu legen.183 Zusätzlich ist die Anwendbarkeit der Konvention gesondert zu prüfen. Tendenziell sind Schutzbereich und Eingriff weit zu fassen, dafür werden den Konventionsstaaten auf der Rechtfertigungsebene aber erhebliche Gestaltungsspielräume eingeräumt (vgl Rn 65). Vertretbar ist es auch, nach Feststellung der Anwendbarkeit der Konvention nur zweistufig vorzugehen, dh zunächst danach zu fragen, ob der Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte beeinträchtigt wurde, und sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigung rechtmäßig ist. Ohnehin darf ein Prüfungsschema nicht schematisch angewendet werden. Geht es zB nur um die Frage, ob gegen das
179 Vgl EGMR, NJW 2009, 492 ff – Associazione Nazionale ua (Entschädigung für Zwangsarbeit italienischer Kriegsgefangener). 180 Vgl etwa Starck in: v Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg), Das Bonner Grundgesetz, 5. Aufl 2005, Bd 1, Art 1 Rn 262 ff; Dreier (Fn 55) Rn 119 ff; Jarass in: ders/Pieroth, Grundgesetz, 9. Aufl 2007, Vorb vor Art 1 Rn 14 ff; Pieroth/Schlink (Fn 93) Rn 195 ff. 181 Krit Hoffmann-Riem Der Staat 2004, 203, 226 ff (der ebenfalls einen dreistufigen Aufbau befürwortet, aber statt vom Schutzbereich vom Gewährleistungsgehalt spricht, um deutlich zu machen, dass es nicht um abgegrenzte Sphären bzw Bereiche, sondern um normative Gehalte geht); Krebs in: Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd II, 2006, § 31 Rn 123 ff. 182 Vgl Jarass in: ders/Pieroth, (Fn 180) Vorb vor Art 1 Rn 15 ff. 183 Ebenso Grabenwarter EMRK, § 18 Rn 1 ff; Peters EMRK, Anhang 257 ff.
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Allgemeine Lehren der EMRK
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Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK verstoßen worden ist, reicht es (nach Feststellung der Einschlägigkeit der Konventionsrechte) aus zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und ob sich diese rechtfertigen lässt. Bei Verfahrensrechten empfiehlt es sich, darauf abzustellen, ob das Verfahrensrecht anwendbar ist (entspricht der Eröffnung des Schutzbereichs) und ob das gebotene Verfahren beachtet wurde.
2. Die Anwendbarkeit der Konvention Ein staatliches Verhalten kann nur an den Verbürgungen der EMRK gemessen werden, wenn diese eine einschlägige Maßstabsnorm enhält, die auf den zu beurteilenden Sachverhalt anwendbar ist. Beides ist nicht selbstverständlich, da die EMRK keinen umfassenden Grundrechtsschutz gewährt und nicht alle EMRK-Bestimmungen Bindungswirkungen entfalten. So treten die Zusatzprotokolle nur in Kraft, wenn sie von einer ausreichenden Zahl von Konventionsstaaten ratifiziert worden sind. Sie verpflichten nur jene Staaten, die diese ratifiziert haben. Dagegen gilt die EMRK selbst im Grundsatz für alle Konventionsstaaten. Allerdings kann jeder Staat gem Art 57 EMRK bei Unterzeichnung der Konvention (bzw der Zusatzprotokolle) oder bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde durch einseitige Erklärungen (iSd Art 2 I lit d WVK) Vorbehalte anmelden184, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Hoheitsgebiet geltendes Gesetz mit der betreffenden Bestimmung nicht übereinstimmt. Die Vorbehalte schließen eine Konventionsbindung aus. Unzulässig sind Vorbehalte zu der Regelung, dass die Todesstrafe abgeschafft ist (Art 4 6. ZP EMRK; Art 3 13. ZP EMRK). Im Übrigen müssen die Vorbehalte auf einem bereits in Kraft befindlichen Gesetz zum Zeitpunkt der Ratifikation der EMRK oder eines Zusatzprotokolls (nicht später) beruhen. Erforderlich ist, dass die Gesetze nicht allgemeiner Art185 (dh sich auf „einzelne Bestimmungen“ der EMRK beziehen und nicht nur zB bloß auslegende Erklärungen der Konventionsstaaten darstellen), mit der EMRK oder ihren Zusatzprotokollen kollidieren und dem Bestimmtheitsgebot 186 genügen. Der Vorbehalt muss mit einer kurzen Darstellung des betreffenden Gesetzes verbunden sein (Art 57 II EMRK). Die Gültigkeit der (leider zahlreichen187) Vorbehalte unterliegt der Überprüfung durch den EGMR.188 Aufgrund einer mittlerweile restriktiven Auslegung der Voraussetzungen des Art 57 EMRK für die Erklärung von Vorbehalten zu einzelnen Bestimmungen der EMRK erweisen sich viele von Mitgliedstaaten abgegebene Vorbehalte jedoch als ungültig oder in ihrer Wirkung als eingeschränkt.189 Die Notstandsklausel des Art 15 EMRK berührt nicht die Anwendbarkeit der Regelungen, sondern ermächtigt nur dazu, von den Verpflichtungen abzuweichen.
184 Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von Vorbehalten vgl Art 19 WVK. 185 Vgl Art 57 I 2 EMRK. 186 Erklärungen, die nicht auf bestimmte Regelungen abzielen oder unklar formuliert wurden, sind unzulässig. Vgl EGMR, EuGRZ 1989, 21, Rn 52 ff – Belilos. 187 Vgl die Zusammenstellung bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, 893 ff; zu den deutschen Vorbehalten (betreffend ZP Nr 1 und Nr 6) vgl Meyer-Ladewig EMRK, Art 57 Rn 7 ff; die Protokolle Nr 7 u 12 wurden von Deutschland nicht ratifiziert. 188 Vgl zB EGMR, EuGRZ 1989, 21, Rn 50 – Belilos; ÖJZ 2001, 194, Rn 28 f – Eisenstecken. 189 Vgl zB EGMR, Series A 328-C – Gradinger. Siehe zu dieser Problematik auch Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 297 f.
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§ 2 VIII 4
Dirk Ehlers
3. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) der Konventionsrechte 57
Unter dem Schutzbereich der Konventionsrechte lässt sich der geschützte Wirklichkeitsausschnitt (zB Äußerung einer Meinung im Falle des Art 10 EMRK), unter dem Gewährleistungsgehalt die rechtliche Garantie selbst verstehen (zB Recht auf freie Meinungsäußerung).190 Ebenso wie im deutschen Recht191 wird auch die sog negative Freiheit geschützt (also zB die Freiheit, keine Religion zu haben).192 Zur Auslegung der Konventionsbestimmungen vgl Rn 33. Nicht auf den Konventionsschutz berufen kann sich, wer auf die Konventionsrechte verbindlich verzichtet hat oder diese missbräuchlich in Anspruch nimmt (Art 17 EMRK; vgl Rn 88). Ein Verzicht ist nur wirksam, wenn nicht Rechte anderer oder öffentliche Interessen entgegenstehen.193 Missbräuchlich in Anspruch genommen wird das durch Art 10 EMRK garantierte Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung zB, wenn der Holocaust geleugnet wird.194
4. Eingriff, Beeinträchtigung 58
Die Hoheitsrechte schützen in ihrem thematisch einschlägigen Bereich nicht vor Nachteilszufügungen jeglicher Art, sondern nur vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen bzw Beeinträchtigungen. Eine Beeinträchtigung ist nur gegeben, wenn ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen der staatlichen Maßnahme und der Belastung für den Berechtigten besteht.195 Die EMRK spricht auch von Einschränkungen (restrictions; zB Art 9 II, Art 11 II), Eingriffen (interferences; zB Art 8 II, Art 10 I) oder Entzug (Art 1 I 1. ZP EMRK). Eine systematische Eingriffsdogmatik zur EMRK wurde bislang nicht entwickelt. Vielmehr ist das Vorgehen kasuistisch.196 So stellt der EGMR vielfach nicht darauf ab, ob die Nachteilszufügung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich bzw mit oder ohne Befehl erfolgt ist.197 Im Einzelnen kann sich die Lage aber anders darstellen, zB weil ein Rechtsakt198 oder eine gewisse Intensität der Beeinträchtigung199 verlangt wird. Grundsätzlich herrscht die Tendenz vor, keine besonde-
190 191 192 193 194 195 196 197 198
Vgl zum Sprachgebrauch Pieroth/Schlink (Fn 93) Rn 203; Jarass EU-GR, § 6 Rn 15 ff. Krit Hellermann Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993. Vgl zur Religionsfreiheit Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 9 Rn 2; → vgl auch § 3 Rn 31 ff. Ebenso Grabenwarter EMRK, § 18 Rn 32. EGMR, NJW 2004, 3691 – Garaudy. Vgl für das deutsche Recht Jarass in: ders/Pieroth (Fn 180) Vorb vor Art 1 Rn 25. Vgl Weber-Dürler VVDStRL 57 (1998), 57, 86. Restriktiver Villiger EMRK Rn 542 (Ausklammerung mittelbarer Grundrechtsberührungen). Nach der Menschenrechtskommission sind medizinische Untersuchungen oder Impfungen nur dann als Eingriff in Art 8 EMRK anzusehen, wenn sie aufgrund einer obligatorischen Anordnung erfolgen (krit hierzu Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 64). Prinzipiell ist anerkannt, dass auch Realakte (wie das Sammeln und Speichern personenbezogener Daten, vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 5) Eingriffscharakter haben können. 199 So kann von Folter iSd Art 3 EMRK nur gesprochen werden, wenn ein gewisses Minimum an Schwere erreicht wird (EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 162 – Irland). Auch sollen geringfügige staatliche Maßnahmen und Handlungen keine Eingriffe iSd Art 8 II EMRK darstellen (Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 61). Vgl auch EGMR, EuGRZ 1995, 530 ff – Lopéz Ostra, wonach nur schwere Umweltverschmutzungen und damit verbundene Emissionen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 I EMRK beeinträchtigen können.
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ren Anforderungen an den Eingriff bzw die Beeinträchtigung zu stellen,200 um einen wirksamen Konventionsrechtsschutz zu gewährleisten. ZB kann auch die Mitwirkung an Fremdbeeinträchtigungen (Auslieferung einer Person an einen Staat, in dem der Person eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe droht) den Konventionsrechtsschutz auslösen.201 Die Nichterfüllung positiver Handlungspflichten wird einem Eingriff gleichgestellt.202 Vom Eingriff bzw von der Beeinträchtigung zu trennen sind andere Formen der Rechtsregulierung wie insbesondere die Ausgestaltung der Konventionsrechte durch den Gesetzgeber. Wenn Art 12 EMRK das Recht auf Eheschließung „nach den innerstaatlichen Gesetzen“ garantiert, stellt der Erlass diesbezüglicher Gesetze keine Beschränkung dar, sondern ermöglicht erst die Konventionsrechtsausübung. Derartige Normprägungen kennzeichnen viele Konventionsrechte, auch wenn sie im Normtext nicht immer ausdrücklich anklingen (wie zB bei dem Recht auf Achtung des Eigentums und dem Recht auf freie Wahlen, Art 1, 3 1. ZP EMRK). Die Ausgestaltungen der Konventionsrechte mutieren zum Eingriff bzw zur Beeinträchtigung, wenn das Untermaßverbot missachtet oder in eine nach bisherigem Recht bestehende Position eingegriffen wird.203
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5. Rechtfertigung des Eingriffs bzw der Beschränkung a) Beschränkbarkeit der Konventionsrechte Beeinträchtigt ein staatliches Tun, Dulden oder Unterlassen den Schutzbereich bzw den Gewährleistungsgehalt eines Konventionsrechts, folgt daraus noch keine Rechtsverletzung. Vielmehr kann die Maßnahme gerechtfertigt sein, weil der Staat das Konventionsrecht beschränken darf. Wie das Grundgesetz unterscheidet auch die EMRK zwischen vorbehaltlos gewährleisteten Rechten und solchen mit einem Schrankenvorbehalt. Vorbehaltlos gewährleistete Rechte stellen eine Ausnahme dar. In Deutschland dürfen derartige Rechte durch kollidierendes Verfassungsrecht begrenzt werden204, wobei dieses teils als Schutzbereichsbegrenzung, im Wesentlichen aber als Grundrechtsschranke fungiert und dann einer konkretisierenden gesetzlichen Grundlage bedarf.205 Entsprechendes dürfte für die EMRK gelten,206 wenn sich das Problem wegen des eingeschränkteren Schutzes auch
200 Vgl auch Roth Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, 58 ff. 201 Vgl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 3 Rn 18 ff. Im Falle einer Ausweisung liegt zudem so gut wie immer ein Eingriff in das durch Art 8 I EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vor. Vgl etwa EGMR, NJW 2003, 2595 ff – Adam. 202 Vgl EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 54 ff – Lopéz Ostra; NVwZ 2008, 1215, 1216 – Gaida. Krit zur früheren Rspr Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 13, 55 ff. 203 Vgl zu dem hier zugrunde gelegten Grundrechtsverständnis für das deutsche Recht BVerfGE 57, 295, 320 ff; Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 225; Bethge VVDStRL 57 (1998), 7, 29 f. Zum Untermaßverbot vgl BVerfGE 39, 1, 42 ff; Scherzberg Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, 208 ff. 204 BVerfGE 28, 243, 261; 67, 213, 228; 93, 1, 21. 205 Vgl Sachs in: ders, (Fn 45) Vor Art 1 Rn 120 ff. 206 Aus dem Umstand, dass die Abs 2 der Art 8–11 EMRK ausdrücklich eine Beschränkung „zum Schutz der Rechte (und Freiheiten) anderer“ zulassen, wird man nicht den Gegenschluss ziehen können, dass kollidierende Konventionsrechte im Übrigen unbeachtlich sind.
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ganz selten stellen wird.207 So ist davon auszugehen, dass das Verbot der Folter oder Sklaverei (Art 3, Art 4 I EMRK) keinerlei Beschränkungen zugänglich ist (→ § 3 Rn 45). Verschiedentlich hat die Rspr aber immanente, implizite oder stillschweigende Grundrechtsschranken anerkannt, um Bagatellfälle auszuklammern208 oder den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, die Bedingungen der Rechtsausübung (zB des Wahlrechts209 oder des Rechts auf Zugang zu einem Gericht 210) zu regeln211. In Wahrheit liegt in solchen Fällen in aller Regel kein Eingriff vor, weil es um die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen, die Anerkennung eines staatlichen Gestaltungsauftrags oder die Bestimmung der für die Annahme eines Eingriffs notwendigen Beeinträchtigungsschwelle geht. ZB schließt das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art 3 EMRK) nicht jede Gewaltanwendung aus. Ist die Gewaltanwendung wegen des Verhaltens eines Gefangenen „unbedingt erforderlich“212, fehlt es an der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.213 Der Sache nach bedeutet dies, dass die notwendigen Abwägungen in nicht wenigen Fällen auf der Tatbestands- oder Eingriffs-, statt auf der Rechtfertigungsebene vorgenommen werden müssen. Sieht man von dem (äußerst seltenen) Fall des kollidierenden Konventionsrechts ab, dürfen die Konventionsrechte nur nach Maßgabe der vorgesehenen Schranken geschmälert werden. Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen und speziellen Schrankenregelungen. b) Allgemeine Schrankenregelungen 61
Allgemeine Schrankenregelungen enthalten die Art 15–17 EMRK. Nach Art 15 I EMRK dürfen die Konventionsrechte im Falle des Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes beschränkt werden, soweit die Maßnahmen unbedingt erforderlich sind und nicht im Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen.214 Das Vorliegen eines Notstandes setzt voraus, dass dieser besteht oder unmittelbar bevorsteht, Auswirkungen auf die gesamte Nation hat, eine Bedrohung für das organisierte Gemeinwesen darstellt und durch normale Maßnahmen oder Einschränkungen nicht bekämpft werden kann.215 Den nationalen Organen wird ein Beurteilungsspielraum zugestanden.216 Das Abweichen von den Konventionsverpflichtungen muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Wegen des Günstigkeitsprinzips des Art 53 EMRK (Rn 9) darf das Verfassungs-
207 Einschlägige Rspr hierzu gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Gegen die Begrenzung vorbehaltslos gewährleisteter Konventionsrechte durch kollidierende Konventionsrechte Grabenwarter/Marauhn in: Grote/Marauhn, KK, VII Rn 17. 208 Vgl hierzu Wildhaber/Breitenmoser in: Karl, Int EMRK, Art 8 Rn 579 f. 209 EGMR, Urt v 02.09.1998, Rn 75 – Ahmed; Urt v 02.03.1987, Rn 52 – Mathieu-Mohin. 210 EGMR, Urt v 21.11.2001, Rn 33 – Fogarty. 211 Vgl Rn 41. 212 Vgl EGMR, Rep 1998-IV, 1504 ff Rn 52 f – Tekin. 213 Der Rechtfertigungsebene ordnet diesen Fall dagegen Peters EMRK, § 6 III zu. Vgl auch EGMR, EuGRZ 2008, 466 ff – Gäfgen = JK 1/09 EMRK Art 3/3, wonach Art 3 EMRK zwar ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung enthält, eine Mißhandlung aber ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich des Art 3 EMRK zu fallen. 214 Gegen die Einordnung des Art 14 EMRK als Grundrechtsschranke Grabenwarter/Marauhn in: Grote/Marauhn, KK, VII Rn 18. 215 Vgl Meyer-Ladewig EMRK, Art 15 Rn 4 m Rspr-Nachw. 216 EGMR, EuGRZ 1979, 149, Rn 207 – Irland.
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recht des Konventionsstaates nicht verletzt werden. Notstandsfest sind die in Art 15 II EMRK genannten Rechte. Nach Absatz 3 der Vorschrift muss der Generalsekretär des Europarats umfassend unterrichtet werden. Die Klausel des Art 15 EMRK hat in einer beachtlichen Anzahl von Fällen eine Rolle gespielt (Griechenland, Zypern, Türkei, Nordirland).217 Art 16 EMRK erlaubt den Konventionsstaaten, die politische Tätigkeit von Ausländern ohne Rücksicht auf das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK einzuschränken. Die – antiquierte, in den sonstigen Menschenrechtspakten nicht enthaltene – Vorschrift dürfte auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU nicht anwendbar sein.218 Art 17 EMRK will dem Missbrauch vorbeugen (Rn 88) und lässt einerseits die Berufung von „Freiheitsfeinden“ auf die Konventionsrechte nicht zu. Dies bedeutet, dass der Staat die Grundrechtsausübung verbieten und bestrafen darf. Gleichzeitig werden andererseits aber auch dem Staat weitergehende Beschränkungen der Rechte und Freiheiten als in der Konvention vorgesehen untersagt. c) Spezielle Schrankenregelungen Daneben gibt es spezielle Schrankenregelungen, die jeweils nur die Einschränkung desjenigen Konventionsrechts erlauben, für das sie formuliert sind. Auch diese speziellen Regelungen weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf.
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aa) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung Die Beeinträchtigung nicht vorbehaltlos gewährleisteter Konventionsrechte ist nur durch oder aufgrund Gesetzes (law, loi) zulässig (vgl zB Art 5, 8–11 EMRK, Art 1 1. ZP EMRK, Art 2 4. ZP EMRK, Art 2 7. ZP EMRK). Anders als die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (→ § 14 Rn 66 f) enthält die EMRK somit keinen allgemeinen Gesetzesvorbehalt, sondern drei spezifische Vorbehalte, denen allerdings kein unterschiedliches Gesetzverständnis zugrunde liegt. Welche Anforderungen die EMRK an ein Gesetz stellt, ist noch nicht vollständig geklärt.219 Wie der EGMR festgestellt hat, kann ungeschriebenes Recht (Richterrecht, Gewohnheitsrecht) als Gesetz iSd Konvention angesehen werden, weil nicht angenommen werden könne, dass die Grundrechtsvorbehalte der EMRK eine Grundlage der Rechtsordnung der Staaten des Common Law verändern wollten.220 Hieraus ergibt sich zugleich, dass nur ein Gesetz im materiellen Sinne (also eine – regelmäßig – abstrakt-generelle Regelung221 im Außenrechtskreis), nicht dagegen ein Gesetz im formellen Sinne (dh iS eines Parlamentsgesetzes) erforderlich ist. Die Abgrenzung der Wirkungsbereiche von Legislative und Exekutive wäre danach nicht Aufgabe der Geset-
217 Näher dazu Stein in: Maier (Hrsg), Europäischer Menschenrechtsschutz, Schranken und Wirkungen, 1982, 135 ff. 218 Vgl EGMR, Serie 314, Rn 64 – Piermont; Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 16 Rn 1; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 333. 219 Vgl auch Weiß Das Gesetz im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, 69 f; Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, 144 ff. 220 Grundlegend EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 47 ff – Sunday Times; vgl auch EGMR, EuGRZ 1984, 147 Rn 85 – Silver; EuGRZ 1985, 17, Rn 66 – Malone; ferner EKMR, EuGRZ 1977, 419, Rn 63 ff – Klass. 221 Ausnahmsweise kann es sich auch um einen Einzelfallgesetz handeln. Vgl Fassbender in: Klein (Hrsg), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, 73, 86.
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zesvorbehalte iSd EMRK.222 Allerdings wird vielfach die Auffassung vertreten, dass auch die EMRK die demokratische Dimension des Gesetzesvorbehalts anerkennt und deshalb erforderlich ist, dass ein Eingriff in ein Konventionsrecht auf ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zurückgeführt werden kann.223 Dies würde dann aber doch auf einen – mit dem Common Law System und auch den Rechtstraditionen in Frankreich nicht zu vereinbarenden – Vorbehalt des formellen Gesetzes hinauslaufen, mag die geforderte Regelungsdichte des Parlamentsgesetzes auch gering zu veranschlagen sein. Nach der hier vertretenen Auffassung verlangt der Gesetzesvorbehalt der EMRK zwingend nur, dass das geschriebene oder ungeschriebene materielle Gesetzesrecht zugänglich224 und so bestimmt ist, dass die Konsequenzen für den Rechtsunterworfenen vorhersehbar sind225. Ob weitere Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen zu stellen sind, überlässt die EMRK dagegen den Rechtsordnungen der Konventionsstaaten.226 In Deutschland muss insbesondere die zur Abgrenzung der legislativen und exekutiven Rechtsetzung entwickelte Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG 227 beachtet werden. Bedarf etwa das Tätigwerden der Verwaltung nach den in Deutschland geltenden Regelungen der Ermächtigung in einem Parlamentsgesetz, ist es der Verwaltung nicht gestattet, ohne ein solches Gesetz die Konventionsrechte einzuschränken. Eine derartige Einschränkung wäre zudem ohnehin nicht mit den konventionskonform auszulegenden nationalen Grundrechten vereinbar. bb) Verfolgung zulässiger Zwecke 64
Die Schrankenbestimmungen der EMRK enthalten eine Aufzählung von bestimmten Eingriffszwecken. ZB muss eine Einschränkung der Religionsfreiheit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder Moral oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienen (Art 9 II EMRK). Die Garantie der freien Meinungsäußerung (Art 10 EMRK) lässt weitere Zielsetzungen zu (zB Schutz der territorialen Unversehrtheit, Schutz des guten Rufes, Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen usw). Wie Art 18 EMRK (nochmals) ausdrücklich klarstellt, dürfen die Rechte und Freiheiten nur zu den vorgesehenen Zwecken eingeschränkt werden. Art 1 1. ZP EMRK erlaubt zwar eine Entziehung des Eigentums zu den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen, nennt diese aber nicht. Notwendig sein dürften hinreichende Gemeinwohlerfordernisse. cc) Verhältnismäßigkeit der Beschränkung
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Viele Einschränkungsklauseln der Konvention enthalten die Formel, dass die betreffende Beschränkung für die verfolgten Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“
222 In diesem Sinne auch Fassbender in: Klein, (Fn 221) S 106. 223 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Vorb zu Art 8–11 Rn 2; Weiß (Fn 219) S 153 f; Rieckhoff (Fn 219) S 144, 147; Grabenwarter EMRK, § 18 Rn 9. 224 EGMR, EuGRZ 1979, 389 Rn 47 ff – Sunday Times; EuGRZ 1999, 193 Rn 35 – Cantoni. 225 Vgl EGMR EuGRZ 1979, 389, Rn 46 ff – Sunday Times; EGMR Series A 260 Rn 40 – Kokkinakis; EGMR, ÖJZ 1990, 564, Rn 30 – Kruslin; EuGRZ 1992, 535 Rn 88, 91 – Herczegfalvy; NVwZ 2000, 421, Rn 34 ff – Rekvényi. 226 Vgl auch EGMR, Series A 260, Rn 37 ff – Kokkinakis. Ferner Rieckhoff (Fn 219) S 146, 148; Grabenwarter EMRK, § 18 Rn 8. 227 Vgl BVerfGE 40, 237, 249; 49, 89, 126; 108, 282, 311.
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sein muss.228 Nach und nach hat der EGMR herausgearbeitet, dass der Terminus Notwendigkeit nicht mit Erforderlichkeit, sondern mit Verhältnismäßigkeit gleichzusetzen ist.229 Die Verhältnismäßigkeit wird im Sinne des deutschen Rechts verstanden.230 Ebenso wie die deutschen Gerichte und seit längerem auch der EuGH (→ § 7 Rn 109; → § 14 Rn 71) unterscheidet der EGMR zwischen Geeignetheit 231, Erforderlichkeit 232 und Angemessenheit 233 (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) der staatlichen Maßnahmen. Anders als im europäischen Gemeinschaftsrecht kommt es idR auf die Angemessenheitsprüfung an, dh auf die Gegenüberstellung und Bewertung der Belange der Konventionsstaaten einerseits und der Berechtigten andererseits. In der Anlehnung an diese zunächst in Deutschland entwickelten Vorstellungen dürfte hierin einer der wichtigsten Beiträge der jüngeren deutschen Rechtskultur für die europäische Rechtsordnung liegen. Allerdings ist die Kontrolldichte eine andere als in Deutschland. Tendenziell liegt sie niedriger (Rn 99). Im Einzelfall können aber andere Maßstäbe gelten. Die Verhältnismäßigkeit wirkt auch dann als Schranken-Schranke, wenn die EMRK und die Zusatzprotokolle nicht ausdrücklich auf die „Notwendigkeit“ der Einschränkung verweisen.
6. Schematische Zusammenfassung Zusammenfassend wird empfohlen, die Verletzung von Konventionsrechten (jedenfalls im Falle des Vorliegens von Freiheitsrechten) wie folgt zu prüfen: I. Anwendbarkeit der Konvention 1. Inkrafttreten der Konventionsbestimmung 2. Ratifizierung der Konventionsbestimmung durch den Konventionsstaat 3. Nichteingreifen eines Vorbehalts II. Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) des Konventionsrechts 1. Sachlicher Schutzbereich 2. Persönlicher Schutzbereich Konventionsberechtigung Konventionsverpflichtung 3. Räumlicher Schutzbereich Extraterritoriale Wirkung 4. Zeitlicher Schutzbereich III. Eingriff in das Konventionsrecht (Beschränkung des Konventionsrechts) UU Ausklammerung von entfernten oder geringen Beeinträchtigungen, wenn die Nachteilszufügung nicht final, rechtlich und/oder unmittelbar erfolgt ist IV. Rechtfertigung des Eingriffs 1. Kollidierendes Konventionsrecht 2. Allgemeine Schrankenregelungen a) Art 15 EMRK
228 229 230 231 232
Vgl die Abs 2 der Art 8–11 EMRK. Vgl EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 – Handyside; Series A 256, Rn 55 ff – Funke. Vgl Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 308. Näher dazu → § 14 Rn 71. Vgl EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 70 – Groppera Radio AG. EGMR, EuGRZ 1985, 170, Rn 52 ff – Barthold. Vgl auch EGMR, EuGRZ 1983, 488, Rn 58 – Dudgeon. 233 Vgl EGMR, EuGRZ 1993, 552, Rn 46 – Moustaquim.
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b) Art 16 EMRK c) Art 17 EMRK 3. Spezielle Schrankenregelungen a) Notwendigkeit einer materiell-gesetzlichen Regelung, Zugänglichkeit und Bestimmtheit, ggf Erfüllung der weiteren Anforderungen des konventionsstaatlichen Gesetzesvorbehalts b) Vorliegen zulässiger Zwecke c) Verhältnismäßigkeit der Einschränkung Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit
IX. Rechtsschutz 1. Rechtsschutz durch den EGMR 67
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Fall 9: (EGMR, NJW 1999, 775 ff – K-F = JK 9/99, EMRK Art 5 I/1) Der Bf (ein deutscher Staatsangehöriger) war von deutschen Polizeibeamten wegen des dringenden Tatverdachts eines Einmietbetruges und wegen Fluchtgefahr zur Identitätsfeststellung auf eine Polizeidienststelle verbracht und dort bis zum nächsten Morgen festgehalten worden. Die Zeitspanne betrug 12 Stunden und 45 Minuten. Das anschließende Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, weil dem Bf ein Mietbetrug nicht nachgewiesen werden konnte. Daraufhin erstattete der Bf Strafanzeige gegen die an den Geschehnissen beteiligten Polizeibeamten wegen Verdachts der Freiheitsberaubung, der versuchten Nötigung und der Beleidigung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. In dem vom Bf angestrengten Klageerzwingungsverfahren stellte das OLG fest, dass die Einstellung gerechtfertigt sei. Das BVerfG nahm eine gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Daraufhin erhob der Bf eine Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EGMR. Ist die Beschwerde zulässig und begründet?
Wirkkraft können Grundrechte erst dann entfalten, wenn ihre Einhaltung von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden kann. Ansonsten bleiben sie bloße Verheißungen. Geht es um die Einhaltung völkerrechtlicher Gewährleistungen, bedarf es einer internationalen Gerichtsbarkeit. Durch das am 1.11.1998 in Kraft getretene 11. Zusatzprotokoll zur EMRK234 ist der – zuvor sehr kompliziert gestaltete und bei Individualbeschwerden eine Unterwerfungserklärung des verklagten Staates voraussetzende – Menschenrechtsschutz der EMRK grundlegend reformiert und vereinfacht worden.235 Während früher die Europäische Kommission für Menschenrechte, das Ministerkomitee und der EGMR zusammenwirken mussten, wird heute im Wesentlichen nur noch der EGMR als Kontrollinstanz tätig. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde aufgelöst, das Ministerkomitee236 überwacht nur noch die Durchführung der Urteile des EGMR (Art 46 II EMRK). Der EGMR nimmt seine Aufgaben als „ständiger Gerichtshof“ wahr (Art 19 S 2 EMRK) und verfügt über hauptamtlich tätige (Art 21 III EMRK), für die
234 BGBl II 1995, 578. 235 Vgl dazu Meyer-Ladewig/Petzold NJW 1999, 1165 f; Schlette JZ 1999, 219 ff; Schmidt-Aßmann in: Schoch/ders/Pietzner (Hrsg), VwGO, 1999, Einl Rn 145 ff; → § 1 Rn 11. 236 Art 13 ff Satzung des Europarates = Sart II Nr 110.
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Dauer von sechs Jahren von der Parlamentarischen Versammlung (Art 22 EMRK) auf der Grundlage eines Listenvorschlags des jeweiligen Konventionsstaates gewählte und wieder wählbare (Art 23 EMRK) Richter.237 Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein (Art 21 I EMRK). Ihre Anzahl entspricht derjenigen der Konventionsstaaten (Art 20 EMRK). Der EGMR gliedert sich derzeit in drei Spruchkörper, nämlich in Ausschüsse mit drei Richtern, Kammern mit sieben Richtern und eine Große Kammer mit 17 Richtern (Art 27 I EMRK).238 Der Kammer und Großen Kammer gehört von Amts wegen der für den als Partei beteiligten Staat gewählte Richter an. Das Plenum (Art 26 EMRK) nimmt nur Verwaltungsaufgaben wahr. Die Organisation und das Verfahren im Einzelnen richten sich nach der vom EGMR erlassenen Verfahrensordnung von 1998. Die Gerichtsbarkeit ist für alle Konventionsstaaten obligatorisch (also eines Vorbehalts nicht zugänglich).239 Anders als im europäischen Gemeinschaftsrecht (Art 222 EGV/252 AEUV) wird die Arbeit des Gerichtshofs nicht durch Generalanwälte unterstützt. Um die langfristige Wirksamkeit des Kontrollsystems in Anbetracht der stetigen Zunahme der Arbeitslast des Gerichtshofs zu wahren und zu verbessern, ist das bisher nicht in Kraft getretene 14. ZP EMRK entworfen worden (Rn 8). Geplant ist neben einer Kompetenzerweiterung der Ausschüsse vor allem, dass der Gerichtshof auch in Einzelrichterbesetzung entscheiden kann. Der Einzelrichter soll eine Individualbeschwerde endgültig für unzulässig erklären oder im Register streichen können, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann (Art 27 EMRK-E). Die Übertragung der Rspr auf Einzelrichter trägt zur Beschleunigung des Rechtsschutzes bei 240, bringt aber auch Gefahren für die Qualität und Koherenz der Rspr mit sich – auch wenn der Einzelrichter keine Beschwerde gegen die Hohe Vertragspartei prüfen darf, für die er gewählt worden ist.241 Die folgende Darstellung orientiert sich am geltenden Recht. Doch wird jeweils auf das 14. ZP EMRK hingewiesen, sofern dieses wesentliche Neuerungen mit sich bringt. Die EMRK sieht derzeit zwei Formen des Rechtsschutzes vor, nämlich die Staatenbeschwerde (Art 33) und die Individualbeschwerde (Art 34). Künftig soll zudem das Ministerkomitee den Gerichtshof anrufen können (Rn 72).
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a) Staatenbeschwerde Die Staatenbeschwerde ermöglicht es jedem Konventionsstaat, den EGMR wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention und der Protokolle durch einen anderen Konventionsstaat anzurufen. Der beschwerdeführende Staat macht keine eigenen Rechte geltend und braucht auch kein irgendwie geartetes Interesse am Ausgang des Verfahrens deutlich
237 Tritt das 14. ZP EMRK in Kraft, werden die Richter für neun Jahre ohne Möglichkeit der Wiederwahl gewählt (Art 2). 238 Näher zur Bildung dieser Spruchkörper, deren Einteilung auf Sektionen beruht, Art 24 ff VerfO EGMR. Vgl dazu auch Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 19 ff. 239 Die früheren Fakultativklauseln sind weggefallen. 240 Der Einzelrichter soll von einem nichtrichterlichen Berichterstatter der Kanzlei des Gerichtshofs (der die Sprache und das Rechtssystem des Konventionsstaates beherrscht) unterstützt werden. Vgl Art 24 Nr 2 EMRK-E. Näher dazu Keller, EuGRZ 2008, 359, 362. 241 Vgl Art 26 Nr 3 EMRK-E.
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zu machen. Die Zahl der Staatenbeschwerden ist gering 242, dennoch wird die Staatenbeschwerde als ein wirksames Mittel zur Sicherung eines Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes in allen Konventionsstaaten angesehen.243 b) Anrufung des EGMR durch das Ministerkomitee 72
Nach bisherigem Recht kann der Gerichtshof auf Antrag des Ministerkomitees Gutachten über Rechtsfragen erstatten, welche die Auslegung der Konvention und der Protokolle betreffen (Art 47 EMRK). Nach dem 14. ZP EMRK ist vorgesehen, dass sich das Ministerkomitee auch an den EGMR wenden kann, um die Überwachung des Vollzugs des endgültigen Urteils des Gerichtshofs oder dessen ordnungsgemäße Befolgung klären zu lassen (Art 46 Nr 3, 4 EMRK-E). Im zuletzt genannten Fall bedarf es einer vorherigen Mahnung der betreffenden Partei. c) Individualbeschwerde
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Sehr viel bedeutsamer ist die Individualbeschwerde (Art 34 EMRK), die als ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbarer außerordentlicher Rechtsbehelf anzusehen ist.244 Sie hat keine aufschiebende Wirkung, jedoch kann der EGMR den Parteien vorläufige Maßnahmen empfehlen (Art 39 VerfO EGMR).245 Nach der neueren Rspr des EGMR sind die Empfehlungen verbindlich. Ihre Nichtbeachtung zieht eine Verletzung des Art 34 (Verbot der Behinderung) nach sich.246 Vorläufige Maßnahmen werden idR nur ergriffen, wenn Verletzungen der Art 2 oder 3 EMRK drohen.247 aa) Zulässigkeit der Beschwerde 248 (1) Form, Sprache
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Die Beschwerde ist schriftlich zu erheben und vom Bf oder dessen Vertreter zu unterzeichnen (Art 45 VerfO EGMR). Die Beschwerdeschrift muss nicht in einer offiziellen Sprache (Englisch oder Französisch), sondern kann auch in der Amtssprache des Konventionsstaates (bei Beschwerden aus Deutschland also in Deutsch) eingereicht werden (Art 34 II VerfO EGMR). Gerichtskosten werden nicht erhoben. (2) Vereinbarkeit mit der EMRK oder den Protokollen
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Gem Art 35 III EMRK erklärt der Gerichtshof Individualbeschwerden ua dann für unzulässig, wenn er sie für unvereinbar mit der Konvention oder den Protokollen hält. Damit werden zugleich die Grenzen umschrieben, innerhalb derer der Gerichtshof tätig werden
242 Bislang sind nur 22 Fälle vor den EGMR gebracht worden, vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 24. 243 Vgl Frowein JuS 1986, 845, 846. Aus neuerer Zeit vgl EGMR, EuGRZ 2001, 619 f – Dänemark; Urt v 10.5.2001 – Zypern. 244 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 2; Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 25 Rn 82. 245 Die VerfO EGMR ist vom Gerichtshof gem Art 26 lit d EMRK erlassen worden. 246 EGMR, EuGRZ 2003, 704; (Große Kammer) EuGRZ 2005, 357 – Mamatkulov u Askarov. 247 Vgl EGMR, EuGRZ 1991, 203, Rn 53 – Cruz Varas; NJW 1999, 1167 f – Öcalan. 248 Vgl auch Kunig/Uerpmann Übungen, 189; Grabenwarter EMRK, § 13; Peters EMRK, § 35; Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 25 Rn 1–70; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 37 ff.
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darf. Erforderlich sind vier Sachentscheidungsvoraussetzungen, die sich auf die Personen (ratione personae) sowie den räumlichen (ratione loci), zeitlichen (ratione temporis) und sachlichen (ratione materiae) Geltungsbereich der Konvention und ihrer ZP beziehen. Es wäre auch möglich, alle Anforderungen der Beschwerdebefugnis zuzuordnen.249 (a) Ratione personae (1) Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit des Bf Zunächst ist erforderlich, dass der Bf parteifähig ist. Gem Art 34 S 1 EMRK darf die Individualbeschwerde nur von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen (auch nichtrechtsfähiger Art) eingelegt werden. Zur Abgrenzungen des Personenkreises kann auf die Rn 34 ff verwiesen werden. Die Prozessfähigkeit ist nicht näher geregelt. Es ist daher davon auszugehen, dass die EMRK und die VerfO EGMR keine besonderen Anforderungen stellen, so dass jeder zugelassen wird, der faktisch in der Lage ist, Prozesshandlungen vorzunehmen.250 Dies kann auch ein Minderjähriger oder uU sogar ein Geschäftsunfähiger sein. Eine Vertretung (zB minderjähriger Bf durch die Eltern) ist zulässig. Verstirbt der Bf, dürfen bei berechtigtem Interesse (etwa wenn es um die Wahrung höchstpersönlicher Rechte geht) die Erben oder sonstigen Verwandten das Verfahren fortsetzen.251 Ab Zustellung der Beschwerde besteht grundsätzlich Postulationszwang, dh die Notwendigkeit, sich durch einen Anwalt oder eine andere vom Kammerpräsidenten zugelassene Person vertreten zu lassen (Art 36 II, IV VerfO EGMR). Ab diesem Zeitpunkt müssen auch die schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen grundsätzlich in einer der Amtssprachen des Gerichtshofs (also englisch oder fanzösisch) abgefasst werden (Art 34 III VerfO EGMR).
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(2) Parteifähigkeit des Beschwerdegegners Gegenstand der Beschwerde muss ein Verhalten sein, das einem Verpflichtungsadressaten der Konventionsrechte zuzurechnen ist. Wegen der Einzelheiten kann auf Rn 36 ff verwiesen werden. Gem Art 35 VerfO EGMR werden die Vertragsparteien durch Prozessbevollmächtigte vertreten, die zu ihrer Unterstützung Rechtsbeistände oder Berater hinzuziehen können.
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(b) Ratione loci Hinsichtlich des räumlichen Anwendungsbereichs der EMRK kann auf Rn 49 ff verwiesen werden.
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(c) Ratione temporis Die zeitliche Geltung der Konvention richtet sich nach den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen (Rn 54).
249 Vgl zur Abgrenzung von Beschwerdebefugnis und ratione personae auch Rn 81. 250 Vgl Murswiek JuS 1986, 8, 9. 251 Vgl EKMR, EuGRZ 1978, 314, Rn 1 – Ensslin, Baader u Raspe; EGMR, ECHR 2000-IX, 237 Rn 41 – Jecius.
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(d) Ratione materiae 80
In sachlicher Hinsicht ist Voraussetzung, dass die EMRK oder Protokolle auf den Streitfall anwendbar sind. Alle weiteren Zulässigkeitsprüfungen sollten im Rahmen der Erörterung, ob ein Verpflichteter in Anspruch genommen wurde (Rn 36 ff) oder der Beschwerdebefugnis (Rn 81) angestellt werden. (3) Beschwerdebefugnis
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Nach Art 34 EMRK muss der Bf ferner behaupten, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem in der Konvention oder den Protokollen anerkannten Recht verletzt zu sein. Wie sich aus der französischen und englischen Sprachfassung („ce prétent victime d’une violation, claiming to be the victim of a violation“) ergibt, muss der Bf nachweisen, Opfer einer Konventionsrechtsverletzung zu sein. Fehlt eine Opfereigenschaft, weist der Gerichtshof die Beschwerde ratione personae als unzulässig zurück.252 Doch empfiehlt es sich, die Beschwerdebefugnis gesondert zu prüfen. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bf die Verletzung eigener Rechte geltend zu machen hat.253 Eine Verletzung der Konventionsrechte anderer, kann zugleich eigene Rechte verletzen (wie dies etwa auf die Tötung oder schwere Misshandlung eines Ehepartners zutrifft).254 Die Geltendmachung soll nach Literaturansichten in einem substantiierten und schlüssigen Vortrag bestehen, durch den angegriffenen Hoheitsakt oder das unterlassene Hoheitshandeln in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt und dadurch direkt betroffen zu sein.255 Doch dürften im Wesentlichen dieselben Anforderungen wie nach der für die §§ 90 BVerfGG, 42 II VwGO entwickelten sog Möglichkeitstheorie256 zu stellen sein. Die Möglichkeit einer Verletzung scheidet danach aus, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Bf behaupteten Rechte bestehen, ihm zustehen oder verletzt sein können. Für die Annahme einer relativ geringen Substantiierungslast spricht auch der Umstand, dass der EGMR eine Beschwerde nur für unzulässig erklären darf, wenn sie „offensichtlich“ unbegründet ist (Art 35 III EMRK). Erforderlich ist grundsätzlich eine bereits eingetretene, unmittelbare Betroffenheit in einem Konventionsrecht. Dies ist etwa der Fall, wenn der Bf Verpflichtungsadressat eines Verwaltungsaktes oder einer Sachentscheidung eines Gerichts ist (mögen die Entscheidungen auch noch nicht vollstreckt worden sein).257 Sind schwerwiegende und irreparable Konventionsverletzungen zu befürchten (wie im Falle einer bevorstehenden Auslieferung an einen Staat, in dem die Todesstrafe droht), reicht eine bevorstehende Verletzung aus.258 Richtet sich die Beschwerde gegen gesetzliche Bestimmungen, ohne dass der Vollziehungsakt angegriffen wird, muss der Bf unmittelbar (selbst und gegenwärtig) durch das Gesetz
252 Meyer-Ladewig EMRK, Art 34 Rn 10. 253 Unter victime bzw victim wird eine direkt betroffene Person verstanden, EGMR, EuGRZ 1990, 255 Rn 47 – Groppera Radio AG. Vgl auch Schmidt-Aßmann in: Schoch/ders/Pietzner, (Fn 235) Einl Rn 147. 254 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 45. 255 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 20. Vgl auch Rogge in: Karl, Int EMRK, Art 25 Rn 214 ff. 256 Vgl zB Pieroth/Schlink (Fn 93) Rn 1129 ff; Wahl/Schütz in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, (Fn 235) § 42 II Rn 64 ff. 257 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 43. 258 Vgl EGMR, EuGRZ 1989, 314 – Soering.
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(und nicht erst die Vollziehung des Gesetzes) beeinträchtigt werden. Dies trifft etwa auf Strafrechtsnormen zu.259 Entfällt die Beschwer nachträglich, steht dies der Sachprüfung nicht entgegen, es sei denn, der Konventionsstaat hat die Konventionsverletzung anerkannt und ggf Entschädigung geleistet.260 Vgl zur Verfahrensbeendigung auch Rn 93. (4) Rechtswegerschöpfung Art 35 I EMRK verlangt, dass der EGMR erst „nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe“ angerufen wird.Unterschieden wird zwischen vertikaler Rechtswegerschöpfung (Ausnutzung der innerstaatlich gegebenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten).261 Die Beweislast für die Rechtswegerschöpfung liegt zunächst beim Bf (Art 47 I 2 lit. f, II lit. a VerfO EGMR), die Beweislast für die Zugänglichkeit des innerstaatlichen Rechtsschutzes beim verklagten Staat. Beruft sich der Konventionsstaat nicht auf die Nichterschöpfung des Rechtswegs, wirkt sich dies nach dem Estoppel-Prinzip des englischen Rechts wie ein Verzicht (Art 55 VerfO EGMR) aus. 262 Zu den Rechtsbehelfen sind sowohl förmliche (einschließlich des Widerspruchs) als auch formlose zu zählen, sofern letztere hinreichend zur Abhilfe geeignet sind.263 Rügt der Bf eine überlange Verfahrensdauer (Art 6 I 1 EMRK), kommt es darauf an, ob er das Verfahren beschleunigen oder ggf auch Entschädigung wegen der überlangen Verfahrensdauer erlangen konnte.264 Der Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen bedarf es nicht, wenn dem Rechtsschutzziel des Bf damit nicht Genüge getan wird.265 Nicht zu den Rechtsbehelfen gehört (wegen seines außerordentlichen Charakters) das Wiederaufnahmeverfahren.266 Der Bf muss vor Anrufung des EGMR alle innerstaatlichen Gerichtsbehelfe ausgeschöpft haben. UU reicht es aus, dass die Entscheidung der letzten innerstaatlichen Instanz erst nach Anrufung (aber vor Entscheidung des EGMR über die Zulässigkeit) ergangen ist.267 Falls der Bf die Möglichkeit dazu hatte, ist der Rechtsweg erst erschöpft, wenn das höchste zuständige Gericht erfolglos angerufen wurde. Auch eine nach innerstaatlichem Recht zulässige Verfassungsbeschwerde soll grundsätzlich zur Erschöpfung des Rechtsweges gehören, sofern die Konventionsverletzung damit beseitigt werden kann.268 Erschöpfung des Rechtsweges hat der EGMR verschiedentlich auch dann angenommen, wenn das BVerfG eine VB mangels Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen hat.269 Nach der Rspr des EGMR sind ferner die aus den von den Konventionsstaaten geschlossenen internationalen Verträgen resultierenden Strukturveränderungen bei der Auslegung der Konvention zu berücksichtigen.270 Daher können auch Rechtsbehelfe nach 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268
Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 43. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 25 Rn 29; Villiger EMRK, § 9 Rn 149 f. Vgl Grabenwarter EMRK, § 13 Rn 23 ff; Kadelbach in Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 47 ff. Vgl Villiger EMRK, § 7 Rn 114; Grabenwarter EMRK, § 13 Rn 21. Schmidt-Aßmann in: Schoch/ders/Pietzner (Fn 235) Einl Rn 148. EGMR, NJW 2001, 2692, 2693 – Tomé Mota. EGMR, Rep 1997-II, Rn 37 – Hornsby; EuGRZ 1999, 317 – Iatridis. Peters EMRK, § 35 I 3 a. Grabenwarter EMRK, § 13 Rn 22. Vgl EGMR, NJW 2004, 2209 ff – Herz; Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 26 Rn 28; Wittinger NJW 2001, 1238, 1239. Die meisten Konventionsstaaten kennen keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die mittels einer Urteilsverfassungsbeschwerde angerufen werden kann. 269 Papier VVDStRL 66 (2007), 425, 426. 270 EGMR, EuGRZ 1999, 200, Rn 39 – Matthews.
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Maßgabe des europäischen Gemeinschaftsrechts als „innerstaatlich“ iSd Art 35 I EMRK anzusehen sein.271 Stets müssen die innerstaatlichen Rechtsbehelfe für den Bf zugänglich und geeignet gewesen sein, der behaupteten Rechtsverletzung abzuhelfen. Unzulänglich ist ein Rechtsmittel auch, wenn es für den Bf mangels finanzieller Mittel und ohne Prozess- bzw Beratungskostenhilfe faktisch unerreichbar bleibt.272 Die Zugänglichkeit bedarf insbesondere bei Strafgefangenen oder Mittellosen und nicht der Sprache des Konventionsstaates mächtigen Bf besonderer Prüfung. Nicht erforderlich ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs des Weiteren, wenn sie zwar formal möglich, aber ohne jede Erfolgschance war (zB wegen einer feststehenden entgegenstehenden Rspr).273 Unterbleibt die Einlegung eines Rechtsbehelfs, der nur eine rechtliche Überprüfung, nicht aber eine Sachverhaltsermittlung ermöglicht hätte, ist maßgebend, ob es einer Tatsachenüberprüfung zwingend bedurfte.274 Führt der innerstaatliche Rechtsschutz deshalb nicht zum Ziel, weil der Bf die Formerfordernisse, Kostenvorschriften oder Fristen missachtet hat, muss er sich dies zurechnen lassen.275 Da dem Staat die Möglichkeit gegeben werden soll, Konventionsverletzungen zu beheben, und der EMRK-Rechtsschutz nur subsidiär ist, verlangt das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in horizontaler Hinsicht, dass die geltend gemachte Menschenrechtsverletzung „in substance“ vor den innerstaatlichen Instanzen vorgebracht worden ist (ohne dass es einer ausdrücklichen Berufung auf die EMRK bedarf).276 In Zweifelsfällen neigt der EGMR zu einer rechtsschutzfreundlichen Betrachtungsweise. (5) Beschwerdefrist
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Die Beschwerde kann nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingelegt werden (Art 35 I EMRK). Die Frist beginnt mit der Kenntnisnahme. Muss die Entscheidung zugestellt werden (wie bei gerichtlichen Urteilen), beginnt die Frist erst mit der Zustellung und nicht bereits mit der Verkündung zu laufen.277 Als Datum der Beschwerdeerhebung dient idR das Datum der ersten Mitteilung des Bf, nicht der Zugang bei Gericht (Art 47 V VerfO EGMR). Der EGMR kann aber ein anderes Datum für maßgeblich erklären (zB wenn das Beschwerdeschreiben offensichtlich zurückdatiert worden ist).278 Vor Ablauf der Frist muss mindestens der wesentliche Gegenstand der Beschwerde mitgeteilt worden sein. Eine Hemmung der Frist kommt grundsätzlich nicht in Betracht, es sei denn, der Bf war tatsächlich (zB wegen einer Isolierhaft) verhindert, die Frist einzuhalten. Die Frist endet an dem Tag des sechsten Monats, der durch seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht. Handelt es sich um einen Feiertag, ist der folgende Werktag ausschlaggebend.279 Ist sich der Bf unsicher, ob der Rechtsweg bereits erschöpft wurde, empfiehlt es sich, sowohl den möglicherweise
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Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 335. EGMR, EuGRZ 1979, 626 – Airey; Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 48. Vgl Murswiek JuS 1986, 8, 10; Peters EMRK, § 35 I 3 d. Vgl EGMR, NJW 2001, 54, Rn 43 ff – Civet. Vgl EGMR, NJW 2004, 3401 ff – Haase. Vgl Villiger EMRK, § 7 Rn 133 f; Grabenwarter EMRK, § 13 Rn 31 ff. Vgl EGMR, Rep 1997-V, 1535 Rn 31 f – Worm; Meyer-Ladewig EMRK, Art 35 Rn 19 ff. In der Praxis wird deshalb regelmäßig vom Datum des Poststempels ausgegangen. Grabenwarter EMRK, § 13 Rn 36.
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geeigneten innerstaatlichen Rechtsbehelf als auch die Beschwerde beim EGMR einzulegen.280 (6) Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen Art 34 u 35 EMRK statuieren eine Reihe weiterer Sachentscheidungsvoraussetzungen, die sich zT mit den bereits genannten überschneiden. So darf die Beschwerde nicht anonym eingelegt werden (Art 35 II lit a EMRK). Anonymität schließt bei berechtigtem Interesse Vertraulichkeit nicht aus (Art 40 EMRK; 33 II, III, 47 III VerfO EGMR). Ferner darf die Beschwerde gem Art 35 II lit b EMRK nicht im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmen (res judicata) oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden sein (Litispendenz). Unzulässig ist die Beschwerde, wenn der Bf, der Sachverhalt und der Beschwerdegegenstand identisch sind. Für die Bf reicht materielle Identität aus.281 Zulässig ist eine Beschwerde, wenn sie neue Tatsachen enthält. Keine neuen Tatsachen sind solche, die zwar erstmalig erwähnt werden, aber schon im Rahmen einer früheren Beschwerde hätten vorgebracht werden können. War eine Tatsache zum Zeitpunkt des früheren Urteils des EGMR unbekannt und konnte sie der Partei nach menschlichem Ermessen nicht bekannt sein, kann Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt werden (Art 80 VerfO EGMR). Internationale Rechtshängigkeit ist vor allem anzunehmen, wenn die Streitsache dem UN-Menschenrechtsausschuss oder einem Kontrollorgan des IPbürgR unterbreitet worden ist (Rn 5). Gleiches soll für die Kontrollorgane der internationalen Arbeitsorganisation gelten.282 Zur Unzulässigkeit bzw zur Unbegründetheit283 der Beschwerde führt nach Art 35 III EMRK auch ein Missbrauch des Beschwerderechts (vgl auch Rn 61). Als Missbrauch wird es zB angesehen, wenn bewusst falsche Tatsachen vorgetragen werden284 oder gefälschte Unterlagen vorgelegt werden. In der Praxis spielt das Kriterium der Anonymität kaum eine Rolle. Weitere Fälle des Missbrauchs regelt Art 44 A ff VerfO EGMR (insbesondere Nichtbefolgung einer Anordnung des Gerichtshofs, fehlende Mitwirkung, unangemessene Stellungnahmen). Als Fall der Unzulässigkeit einer Beschwerde sieht die EMRK (verwirrender Weise) auch die offensichtliche Unbegründetheit an (Art 35 III EMRK). In solchen Fällen dürfte aber bereits die Beschwerdebefugnis (Rn 81) fehlen. Das 14. ZP EMRK (Art 12) erlaubt dem Gerichtshof ferner, eine Individualbeschwerde für unzulässig zu erklären, wenn er der Ansicht ist, das dem Bf kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention
280 Vgl Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 53. 281 Vgl EKMR, EuGRZ 1982, 15, Rn 2 – Rudolf Hess (Wiederholung der Beschwerde des Opfers durch Verwandte); EKMR, DR 73, 120 – Cereceda Martin (Beschwerde von Mitgliedern in einer Vereinigung, die als Bf vor einem anderen Verfahren auftraten). In beiden Fällen sind die Beschwerden als unzulässig erachtet worden. 282 EKMR, DR 50, 228, 237 – Council of Civil Service Unions; krit Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 60. 283 Die Frage des Missbrauchs kann so eng mit derjenigen des Gewährleistungsgehalts der jeweiligen Konventionsnorm verbunden sein, dass der Gerichtshof sie erst in der Begründetheit prüft. Vgl EGMR, NJW 2006, 197, 198. 284 Vgl EGMR, NJW 2007, 2097 ff – Hüttner.
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und den Protokollen anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit. Voraussetzung ist ferner, dass nicht eine Rechtssache zurückgewiesen wird, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist (Art 34 III lit b EMRK-E). Schließlich muss der Bf wie jeder Rechtsschutzsuchende ein Rechtsschutzbedürfnis besitzen.285 IdR kommt es darauf nicht mehr an, auch weil die zuvor erwähnten Sachentscheidungsvoraussetzungen bereits die wesentlichen Fallgestaltungen fehlenden Rechtsschutzbedüfnisses gesondert geregelt haben. (7) Schematische Zusammenfassung
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Zusammenfassend wird empfohlen, die Zulässigkeit von Individualbeschwerden wie folgt zu prüfen: 1. Ordnungsgemäße Form und Sprache 2. Vereinbarkeit der Beschwerde mit der Konvention a) Ratione personae (1) Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit des Bf (2) Parteifähigkeit des Beschwerdegegners b) Ratione loci c) Ratione temporis d) Ratione materiae 3. Beschwerdebefugnis 4. Rechtswegserschöpfung 5. Beschwerdefrist 6. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen a) Keine Anonymität b) Keine res judicata c) Keine Litispendenz d) Kein Missbrauch e) Keine offensichtliche Unbegründetheit f) Erheblicher Nachteil Nach Inkrafttreten des Art 35 III lit b EMRK-E g) Rechtsschutzbedürfnis bb) Verfahren
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Das Verfahren des EGMR nach Einlegung einer Individualbeschwerde (Rn 73) ist mehrstufig ausgestaltet. Wenn der Präsident der Sektion (Art 25 VerfO EGMR) nicht selbst entscheidet, ernennt er einen berichterstattenden Richter, der darüber entscheidet, ob die Beschwerde dem Ausschuss oder der Kammer zugewiesen wird (Art 49 III lit b VerfO EGMR). Ergibt sich aus dem vorgelegten Material, dass die Beschwerde unzulässig ist oder im Register gestrichen werden sollte, entscheidet grundsätzlich ein Ausschuss (Art 49 I VerfO EGMR). Kommt der Ausschuss einstimmig zu dem Ergebnis, dass ohne weitere Prüfung eine Unzulässigkeit anzunehmen oder die Beschwerde im Register zu streichen ist (Art 37 EMRK), trifft er eine endgültige Entscheidung (Art 28 S 2 EMRK). Rund 90 % aller Beschwerden finden so ihren Abschluss.286 Nach Inkrafttreten des 14. ZP EMRK
285 Vgl Peukert in: Frowein/ders, EMRK, Art 25 Rn 38. 286 Kadelbach in: Ehlers/Schoch, RS, § 5 Rn 20.
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kann auch ein Einzelrichter selbst endgültig über die Zulässigkeit oder Streichung im Register entscheiden (vgl Rn 69). Ergeht keine negative Entscheidung, hat die Kammer über die Zulässigkeit und Begründetheit zu entscheiden (Art 29 EMRK). Nach Art 29 Abs 3 EMRK soll die Entscheidung über die Zulässigkeit grundsätzlich gesondert ergehen. In der Praxis werden Zulässigkeit und Begründetheit zumeist gleichzeitig geprüft (Art 54 A VerfO EGMR). Ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine sofortige Unzulässigkeit oder Streichung, bringen die Kammer (respektive ihr Präsident) die Beschwerde dem Beschwerdegegner zur Kenntnis (Art 54 II lit b VerfO EGMR), setzen die Prüfung fort, nehmen die erforderlichen Ermittlungen vor und bemühen sich um eine gütliche Einigung (Art 38 I lit b, 39 EMRK). Nach Zustellung gilt grundsätzlich Anwaltszwang sowie die Verpflichtung, die englische oder französische Sprache zu verwenden (Rn 74). Die jederzeit möglichen Verhandlungen (Art 54 III, 58 II VerfO EGMR) sind grundsätzlich öffentlich (Art 40 I EMRK). Dem Bemühen des EGMR, eine gütliche Einigung zu erzielen (friendly settlement), kommt heute eine ganz erhebliche Rolle zu.287 Erkennt die Regierung im Laufe des Verfahrens an, dass eine Konventionsverletzung erfolgte, und erklärt sie, in welcher Form sie deshalb Wiedergutmachung leisten will (unilateral declaration), kann dies auch dann zu einer Streichung der Beschwerde aus der Liste gem Art 37 I lit c EMRK führen, wenn der Bf die Fortführung des Verfahrens wünscht.288 Die Streichung einer für zulässig erklärten Beschwerde ergeht durch Urteil mit einer Kostenregelung und unterliegt wegen der völkerrechtlichen Bindungswirkung der Überwachung durch das Ministerkomitee (Art 43 III, IV VerfO EGMR). Wird eine Rechtssache in dem Register gestrichen, unterbleibt eine Feststellung über die Konventionsverletzung. Nur in Ausnahmefällen (wenn die Sache besondere Schwierigkeiten aufweist oder die Kammer von einer früheren Entscheidung einer anderen Kammer abweichen will) legt die Kammer – bevor sie selbst eine Entscheidung getroffen hat – die Rechtssache von Amts wegen der Großen Kammer vor, sofern nicht eine Partei widerspricht (Art 30 EMRK).289 Eine Befassung der Großen Kammer mit einer Beschwerde kommt ferner dann in Betracht, wenn eine Partei „in Ausnahmefällen“ innerhalb von drei Monaten nach Erlass des Urteils der Kammer die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt (Art 43 I EMRK). In diesem Falle bedarf es zunächst einer Annahme des Antrags durch einen Fünferausschuss der Großen Kammer, wobei es um schwerwiegende Fragen gehen muss (Art 43 II EMRK). Nimmt der Ausschuss den Antrag an, entscheidet die Große Kammer die Sache endgültig durch Urteil (Art 43 III EMRK). Kommt es zum Verfahren des Art 43 EMRK, entscheidet die Große Kammer als gerichtsinterne Rechtsmittelinstanz.290
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Vgl auch Art 39 EMRK-E idF des 14. ZP EMRK (Art 15). Vgl Keller EuGRZ 2008, 359, 365. Nicht verständlich ist, warum den Parteien ein Widerspruchsrecht eingeräumt wurde. Problematisch erscheint, dass der Großen Kammer gemäß Art 27 III 2 EMRK mit dem Präsidenten der Kammer und dem Richter, welcher in der Kammer für den als Partei beteiligten Staat mitgewirkt hat, zwei Richter angehören, die bereits beim Erlass des zur Überprüfung stehenden Urteils mitgewirkt haben. Krit Schlette JZ 1999, 219, 225 f.
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cc) Begründetheit der Beschwerde 97
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Begründet ist eine Individualbeschwerde, wenn der Bf in einem Konventionsrecht verletzt worden ist. Die Entscheidung ergeht – anders als Entscheidungen über die Zulässigkeit einer Beschwerde („decisions/décision“) – in Form eines Urteils („judgements/jugements“). Die Abfassung des Urteils folgt den Vorgaben des Art 74 VerfO EGMR. Insbesondere wird zwischen der Darstellung des Prozessverlaufs, dem Sachverhalt, der Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien, den Entscheidungsgründen und dem Urteilstenor unterschieden. Sondervoten sind zulässig und sehr häufig üblich (Art 75 II EMRK). Die Urteile werden grundsätzlich nur in englischer oder französischer Sprache erlassen (Art 76 VerfO EGMR). Eine Kostenentscheidung ergeht nur, wenn Kosten auferlegt werden. Das Verfahren vor dem EGMR ist grundsätzlich kostenfrei. Die Kosten – insbesondere für die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistands – können aber gegebenenfalls bei der Zusprechung einer gerechten Entschädigung (Art 41 EMRK) berücksichtigt werden. Die gerichtliche Kontrolldichte ist eher geringer als in Deutschland, weil der EGMR den Konventionsstaaten in großzügigerer Weise Einschätzungsspielräume (margins of appreciation) zugesteht. Anders als im deutschen Rechtskreis wird nicht kategorisch zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielräumen, Ermessensspielräumen und sonstigen Rechtsbindungen unterschieden, selbst wenn die Begriffe gelegentlich genannt werden. Daher ist die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle schwer vorherzusagen. Auf den Wortlaut der Konventionsbestimmungen wird zumeist nicht maßgeblich abgestellt. Zu unterscheiden ist, ob sich die Freiräume auf die Tatsachenfeststellung, die Tatsachenwürdigung, die Auswahl der Maßnahmen zur Einschränkung der Konventionsrechte oder auf die Schutzpflichten beziehen sollen. Bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten wird den Konventionsstaaten ein weiter Spielraum zugestanden. Ferner kommt es ua darauf an, wie wichtig die verfolgten Zielsetzungen sind, ob es gemeineuropäische Standards gibt und wie intensiv die Souveränität der Vertragsstaaten berührt wird.291 Gibt es keinen Konsens in den Konventionsstaaten wird diesen idR ein Beurteilungsspielraum zugestanden.292 Auch wird die Gewährung materiell-rechtlicher Entscheidungsspielräume zu Lasten der Konventionsberechtigten eher hingenommen, wenn es verfahrensrechtliche oder organisatorische Vorkehrungen zum Schutz der Rechte der Einzelnen gibt.293 dd) Wirkungen der Urteile des EGMR
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Die Entscheidungen des EGMR sind für die an dem Verfahren beteiligten Personen verbindlich und erzeugen in Bezug auf den entschiedenen Fall völkerrechtliche Bindungswir-
291 Vgl EGMR, 31.7.2001, Rn 40 f – Refah Partisi. 292 Vgl EGMR, NJW 2005, 727, Rn 82 ff – Vo = JK 9/05, EMRK Art 2 I 1/1; NJW 2006, 3263 Rn 25 – I.A. 293 Vgl beispielhaft EGMR, Urt v 26.2.2002, Rn 28 ff – Dichand. Näher zum Ganzen Yourow The Margin of Appreciation Doctrin in the Dynamics of the European Human Rights Jurisprudence, 1996; Rupp-Swienty Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1999; Arai-Takahashi The Margin of Appreciation Doctrin and the Principle of Proportionality in the Jurisprudence of the ECHR, 2002; Rubel Die Gewährung von Entscheidungsfreiräumen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs, 2005; König/Peters in: Grote/Marauhn, KK, XXII, Rn 129 ff, 195 ff.
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kungen für den verurteilten Konventionsstaat (Art 46 I EMRK). Inhaltlich handelt es sich um Feststellungsurteile (wie sich ua aus Art 41 EMRK ergibt). Dagegen vermag der EGMR nicht die konventionsverletzenden Maßnahmen (zB die nationalen Gerichtsentscheidungen) aufzuheben oder die Konventionsstaaten (abgesehen von der Auferlegung einer Entschädigung nach Art 41 EMRK) zu Leistungen zu verurteilen.294 Ungeachtet dessen ist der EGMR verstärkt dazu übergegangen, den Konventionsstaaten positive Maßnahmen aufzuerlegen. So hat er in der Rechtssache Kudla erstmals einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf verlangt, um einer überlangen Verfahrensdauer begegnen zu können.295 Ferner hatte der Gerichtshof beginnend mit der Rechtssache Broniowski den Konventionsstaat unter Hinweis auf seine Arbeitsbelastung in sog Piloturteilen zwecks Vermeidung massenhafter Parallelverfahren mehr oder weniger klar bestimmte Handlungspflichten auferlegt.296 Das Verfahren betraf unzureichende Enteignungsentschädigungen des polnischen Staates. Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren bereits 167 gleichartige Fälle beim EGMR anhängig und nahezu 80000 Polen nicht angemessen entschädigt worden.297 In dem Urteil Assanidzé 298 vertrat der EGMR zudem die Auffassung, dass es angesichts der Art der festgestellten Verletzung keine wirkliche Wahl unter verschiedenen Abhilfemaßnahmen geben kann. In anderen Urteilen werden Abhilfemaßnahmen in den Gründen bezeichnet299 oder empfohlen300. Die Anordnung eindeutiger Abhilfemaßnahmen im Urteilstenor dürfte nur dann zulässig sein, wenn der Sachverhalt noch nicht abgeschlossen ist und eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.301 Keine Aussage trifft die EMRK darüber, welche Rechtswirkungen den Entscheidungen des EGMR in der innerstaatlichen Rechtsordnung 302 zukommen. Dies bestimmt sich nach nationalem Recht, in Deutschland nach dem Zustimmungsgesetz, durch welches der deutsche Gesetzgeber die EMRK und ihre Zusatzprotokolle in das deutsche Recht überführt hat. Infolgedessen entfalten die Deutschland betreffenden Entscheidungen des EGMR grundsätzlich Bindungswirkungen gegenüber allen Trägern von Staatsgewalt.303 Grenzen folgen aus der Bindung der Staatsorgane an Recht und Gesetz (Art 20 III GG), da die EMRK nur als einfaches Bundesgesetz gilt (Rn 12) und daher auch den zu ihrer Auslegung ergangenen Urteilen des EGMR keine gesetzesverdrängende Wirkung zukommen kann. Der verurteilte Konventionsstaat ist völkerrechtlich verpflichtet, das Urteil zu befolgen (Art 46 EMRK), dh sicherzustellen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Folglich ist es Sache des beklagten Staates, jedes Hindernis im
294 Ganz hM, vgl BVerfG, NJW 1986, 1425 ff; BVerfGE 111, 307, 320 f = JK 3/05, GG Art 20 III/39 (Fall 2); Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, 172 ff. 295 EGMR, NJW 1001, 2694 Rn 152 ff – Kudla. 296 Vgl EGMR, EuGRZ 2004, 472 – Broniowski. 297 Zu den Auswirkungen der Entscheidung und dem auf seiner Grundlage ergangenen „friendly settlement“ vgl EGMR, EuGRZ 2008, 126. Näher zu dieser und auch der folgenden Rspr Schmahl EuGRZ 2008, 369 ff. 298 EGMR, NJW 2005, 2207, 2212 f – Assanidzé. 299 Vgl EGMR, NJW 2004, 3397 Rn 64 – Görgülü. 300 Vgl EGMR, NVwZ 2006, 1267 Rn 210 – Öcalan. 301 Vgl Rohleder Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2008, 122 ff. 302 Zusammenfassend zur innerstaatlichen Bindungswirkung der Urteile des EGMR s Rohleder (Fn 301) S 459 ff, 461 ff. 303 BVerfGE 111, 307, 316 = JK 3/05, GG Art 20 III/39 (Fall 2).
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innerstaatlichen Recht zu beseitigen, das einer Wiedergutmachung der Situation des Bf entgegensteht.304 Zum ersten muss die Rechtsverletzung beendet, zum zweiten Wiedergutmachung geleistet, zum dritten eine gleichartige Verletzung in Zukunft unterbunden werden. Im Übrigen ist danach zu unterscheiden, welche Staatsgewalt betroffen ist.305 Konventionswidrige untergesetzliche Bestimmungen (Verordnungen oder Satzung) und Landesgesetze sind nichtig, konventionswidrige Bundesgesetze zu ändern respektive aufzuheben. Ist dies noch nicht geschehen, ist ein Fachgericht wegen der Ausstrahlung der Konventionsrechte auf die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes zur Vorlage nach Art 100 I GG zum BVerfG verpflichtet. Ebenso obliegt die Feststellung der Nichtigkeit von Landesgesetzen gem Art 100 I 2 GG der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dagegen dürften die Verwaltungsbehörden keine Normaussetzungs- bzw -verwerfungskompetenz haben.306 Mehr Probleme bereiten die konventionswidrigen nationalen Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen. Da zur Bindung an Gesetz und Recht (Art 20 III GG) die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR gehört, trifft die deutschen Gerichte und Verwaltungsbehörden, wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, die Pflicht, im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben (Rn 17, Fall 2). Relativierend hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass sich im Falle mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse307 (wenn nur der Bf, nicht aber der andere Grundrechtsträger an dem Verfahren vor dem EGMR beteiligt wird308) oder bei geändertem Sachverhalt anderes ergeben könnte.309 Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass der EGMR auch Dritte beteiligen kann oder gegebenenfalls sogar muss (Art 36 EMRK). Ob die nationalen Gesetzgeber verpflichtet sind, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahrens zuzulassen, wenn der EGMR festgestellt hat, dass die betroffene Gerichtsentscheidung die Konvention verletzt, ist umstritten. Die hM lehnt dies ab.310 Für die gegenteilige Auffassung311 sprechen gute Gründe. Für den EGMR stellt bei einer konventionswidrigen Gerichtsentscheidung im Prinzip die Durchführung eines neuen Verfahrens oder eine Wiederaufnahme auf Antrag des Betroffenen die angemes-
304 EGMR, NJW 2005, 2207, 2212 – Assanidzé; BVerfGE 111, 307, 316, 321 = JK 3/05, GG Art 20 III/39 (Fall 2). 305 Näher dazu Cremer in: Grote/Marauhn, KK, XXXII Rn 70 ff. 306 Näher zum ganzen Schmalz Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland, 2007, 41 ff. 307 Zur Kontrolldichte bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auch Grabenwarter in: FS Tomuschat, S 193 ff. 308 ZB im Falle eines Verfahrens über das elterliche Sorgerecht nur der Vater, nicht aber die Mutter (vgl Fall 2). 309 BVerfGE 111, 307, 329. Krit Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2005, 15, 17. Vgl auch Kadelbach JURA 2005, 480 ff. 310 Vgl BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1986, 1425 ff; BVerfGE 111, 307, 325 ff = JK 3/05, GG Art 20 III/39 (Fall 2); BVerfG, EuGRZ 2005, 426, 429; DVBl 2005, 761; BVerwG, NJW 1999, 1645, 1651; Polakiewicz Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, 128 ff; Pache EuR 2004, 393, 404. Vgl auch EGMR, EuGRZ 2004, 777, 778 – Lyons ua. 311 Vgl Walter in: Grote/Marauhn, KK, XXXI Rn 53; Schmalz (Fn 306) S 62 ff; Csaki Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der deutschen Rechtsordnung, 2007, 48 ff.
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sene Art der Wiedergutmachung dar.312 Das Ministerkomitee313 und die Parlamentarische Versammlung haben empfohlen, ein Wiederaufnahmeverfahren einzuführen. Nachdem Deutschland einen entsprechenden Wiederaufnahmetatbestand schon seit dem Jahre 1998 in das Strafverfahrensrecht eingeführt hat (§ 359 Nr 6 StPO314), ist ein solcher mittlerweile auch in das Zivilprozessrecht aufgenommen worden (§ 580 Nr 8 ZPO). Kraft Verweisung gilt die zivilprozessuale Norm auch für die anderen gerichtlichen Verfahrensordnungen (§§ 79 ArbGG, 153 VwGO, 176 SGG, 134 FGO). Schließlich findet § 580 Nr 8 ZPO über § 51 I Nr 3 VwVfG auch auf bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsverfahren Anwendung.315 Wird kein Antrag iSd § 51 I VwVfG gestellt, ist die Behörde mit Kenntniserlangung der EGMR-Entscheidung wegen Ermessensreduzierung auf Null von Amts wegen verpflichtet, das Verfahren nach Maßgabe der §§ 51 V, 48 VwVfG wieder aufzugreifen. Der Vertrauensschutz eines Dritten kann dann aber der Rücknahme des Verwaltungsaktes entgegenstehen.316 Ist eine Entscheidung des nationalen Gerichts noch nicht vollstreckt worden, steht nach Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den EGMR Art 46 EMRK einer Vollstreckung zugunsten des Konventionsstaates entgegen.317 Hat der EGMR in Parallelverfahren entschieden, sind die innerstaatlichen Gerichte und Verwaltungen im Falle einer gefestigten Rechtsprechung vorbehaltlich eindeutiger entgegenstehender nationaler Gesetze oder Verfassungsbestimmungen gehalten, diese zu berücksichtigen, bei Fehlen einer gefestigten Rechtsprechung sich an diesen zu orientieren.318 Von einer gefestigten Rechtsprechung ist insbesondere auszugehen, wenn die Entscheidung des EGMR im Piloturteilsverfahren (Rn 102) ergangen ist. Besondere Schwierigkeiten entstehen, wenn der konkrete Einzelfall von dem BVerfG und dem EGMR gegenläufig entschieden wird. Der deutsche Rechtsanwender unterliegt dann zwei verschiedenen Bindungswirkungen. Einerseits ist er nach §§ 31 I, II BVerfGG an die Entscheidung des BVerfG, andererseits über das Zustimmungsgesetz zur EMRK iVm den materiell-rechtlichen Garantien sowie Art 46 EMRK an das Urteil des EGMR gebunden. Besteht für das Fachgericht noch Auslegungsspielraum, muss bei Fortsetzung des Verfahrens die Möglichkeit der konventionskonformen Auslegung genutzt werden, vorausgesetzt der EGMR hat nach dem BVerfG entschieden, da das Verfassungsrecht im Lichte der EMRK auszulegen ist. Kommt der Entscheidung des BVerfG Gesetzeskraft zu (§ 31 II BVerfGG), ist für eine abweichende Auslegung kein Raum mehr.319 De lege ferenda sollte eine Änderung des § 31 BVerfGG in Betracht gezogen werden.
312 Vgl EGMR, NVwZ 2006, 1267, Rn 210 – Öcalan, wonach zwar eine grds freie Mittelwahl beim bekl Staat besteht auf eine Konventionsverletzung zu reagieren, als angemessenste Form einer Wiedergutmachung aber ein neues Verfahren propagiert wird. Krit zum zweiten Öcalan-Urteil Kühne JZ 2005, 653, 654 f. 313 Vgl auch Empfehlung des Ministerkomitees Nr R (2000) 2 v 19.01.2000. 314 Die Vorschrift lautet, dass die Wiederaufnahme eines durch rechtskräfiges Urteil abgeschlossenes Verfahrens zu Gunsten des Verurteilten zulässig ist, wenn der EGMR „eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 315 Vgl auch Empfehlung des Ministerkomitees Nr R (2000) 2 v 19.01.2000. 316 Vgl Rohleder (Fn 301) S 210 ff. 317 Vgl auch Frowein JuS 1986, 845, 850. 318 Vgl Rohleder (Fn 301) S 230 ff, 461 f. 319 Vgl Schmalz (Fn 306) S 38. AA Rohleder (Fn 301) S 343 ff m umfangr Nachw zum Streitstand.
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Gestattet das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung, spricht der EGMR der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist (Art 41 EMRK).320 Der Anspruch muss ausdrücklich geltend gemacht werden (Art 60 VerfO EGMR). Der Bf ist gehalten, seinen Schaden und die Kausalität der Konventionsverletzung darzulegen.321 Neben materiellen sind immaterielle Schäden ersatzfähig322 – selbst wenn es sich um juristische Personen handelt 323. Die Bemessung erfolgt nach billigem Ermessen. Berücksichtigungsfähig sind auch die Kosten und Auslagen im EMRK-Verfahren (Rn 98). Bei der Bemessung des Schadensersatzes sind gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzansprüche anzurechnen.324 Der EGMR sieht eine Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht auch dann als unvollkommen an, wenn zwar ein Schadensersatzanspruch besteht, der Bf aber zu dessen Realisierung auf das erneute Beschreiten des innerstaatlichen Rechtsweges angewiesen ist.325 Die innerstaatliche Schadensverteilung bestimmt sich in Deutschland nach dem auf der Grundlage des Art 104a VI 1 GG erlassenen Lastentragungsgesetz des Bundes.326 Nach § 4 des Lastentragungsgesetzes ist für die Lastenzuordnung bei Konventionsverletzungen von Gerichten das Gericht der Instanz maßgeblich, dass die beanstandete Entscheidung getroffen hat. Hat ein Gericht des Bundes die Entscheidung des Gerichts eines Landes bestätigt, tragen der Bund und das betroffene Land die Lasten je zur Hälfte. Für Klagen auf Gewährung der zugesprochenen Entschädigung ist in Deutschland der Rechtsweg nach § 40 II 1 3. Alt VwGO gegeben.327 Lösung Fall 9: Bedenken gegen die Zulässigkeit der Individualbeschwerde zum EGMR könnten nur deshalb bestehen, weil der Bf nicht alle Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechtsweges ausgeschöpft hat. So ist er weder gegen seine Festnahme noch das Festhalten vorgegangen, sondern hat vielmehr nur ein Klageerzwingungsverfahren im Hinblick darauf angestrengt, ob sich die Polizeibeamten strafbar gemacht haben. Nach der Rspr des EGMR dient das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (Art 34 EMRK) dem Zweck, den Vertragsstaaten Gelegenheit zu geben, die ihnen vorgeworfenen Konventionsverletzungen zu verhindern oder ihnen abzuhelfen. Es müssten aber nur die Rechtsbehelfe erschöpft werden, die effektiv und geeignet sind, der behaupteten Verletzung abzuhelfen328 (Rn 83 ff). Zudem sei das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung mit einem gewissen Maß an Flexibilität anzuwenden. Nach der Entscheidung des EGMR hat der Bf diesen Anforderungen hier genügt, indem er Anzeige gegen die an der Festnahme und dem Festhalten beteiligten Polizeibeamten erstattet und anschließend ein Klageerzwingungsverfahren unter Berufung darauf betrieben habe, dass seine Festnahme und die Entziehung seiner Freiheit rechtswidrig ge-
320 Vgl dazu Dannemann Schadensersatz bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1994; Dörr in: Grote/Marauhn KK, XXXIII Rn 44 ff. Zur Höhe der Entschädigung bei verbundenen Beschwerden EGMR, NJW 2009, 655, 656 – Kakamoukas ua. 321 Vgl dazu EGMR, NVwZ-RR 2006, 513, 517 – Dzelili. 322 Vgl zB EGMR, NJW 2000, 2089, Rn 12 f – Smith und Grady. 323 Vgl EGMR, ECHR 2000-IV, Rn 35 – Comingersoll. 324 EGMR, Rep 1998-II, Rn 18 – Hornsby; Grabenwarter VVDStRL 60 (2001), 290, 335 f. 325 EGMR, Series A 330-B, Rn 40 – Papamichalopoulos; Series A 315-C, Rn 50 – Scollo; Series A 285-C, Rn 17 – Barberà; Series A 17, Rn 30 – Neumeister. 326 Vgl Art 15 des Föderalismus-Begleitgesetzes v 5.9.2006 (BGBl I 2089). 327 Vgl Frowein in: Isensee/Kirchhof, HdB des Staatsrechts, Bd VII, 1992, § 180 Rn 18. 328 Vgl EGMR, Rep 1996-II, 559, Rn 33 – Remli.
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wesen seien. Das Klageerzwingungsverfahren stelle einen effektiven und geeigneten Rechtsbehelf dar, da das OLG die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zumindest teilweise geprüft habe. Vom Bf könne nicht verlangt werden, weitere Rechtsbehelfe in Anspruch zu nehmen. Begründet ist die Beschwerde, wenn Art 5 I lit c EMRK verletzt worden ist. Ein hinreichender Tatverdacht bestand. Die Festnahme oder das Festhalten müsste aber rechtmäßig gewesen sein. Gem § 163c III StPO darf eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität die Dauer von insgesamt 12 Stunden nicht überschreiten. Hier lag eine Überschreitung um 45 Minuten vor. Daher hat der EGMR eine Verletzung des Art 5 I lit c EMRK angenommen und dem Bf eine Entschädigung in Höhe von 10.000,– DM zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland zugebilligt.
2. Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte Fall 10: (BVerfG-K, DVBl 2007, 248 = JK 8/07, GG Art 14 I/50) Der die Jagd aus Gewissensgründen ablehnende Bf ist Eigentümer von Grundflächen, die zu einem gemeinschaftlichen Jagdbezirk gehören und gem §§ 8 I, 9 I BJagdG Zwangsmitglied in eine Jagdgenossenschaft. Der Genossenschaft ist kraft Gesetzes das Jagdausübungsrecht übertragen worden. Nachdem eine verwaltungsgerichtliche Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der Mitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft in allen Instanzen erfolglos blieb 329, hat der Bf VB beim BVerfG eingelegt und sich unter anderem darauf berufen, dass die Verwaltungsgerichte die Rspr des EGMR nicht berücksichtigt hätten.
Weil die EMRK und ihre Zusatzprotokolle in Deutschland im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gelten (vgl Rn 12) und den geschützten Personen subjektive Rechte vermittelt werden, können (und müssen) diese (vorrangig) auch vor deutschen Gerichten eingeklagt werden. Da es sich bei EMRK-Bestimmungen wegen der hoheitlichen Inpflichtnahme der Staaten um Vorschriften des öffentlichen Rechts oder gleichgeartete Normierungen handelt, ist vorbehaltlich abweichender Rechtswegzuweisungen der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt (vgl Rn 17, Fall 2), sind die nationalen Gerichte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zur Berücksichtigung des Konventionsrechts und der Entscheidungen des EGMR verpflichtet. Lösung Fall 10: Die zulässige VB ist begründet, wenn die gesetzlich angeordnete und von den VGen bestätigte Zwangsmitgliedschaft in Jagdgenossenschaften oder die Übertragung des Jagdausübungsrechts auf die Genossenschaften das Grundrecht des Bf aus Art 2, 3, 4, 9 oder 14 GG verletzt. Das BVerfG hat eine Verletzung der Grundrechte aus der Sicht der nationalen Rechtsordnung verneint. Soweit der Bf eine Verletzung der EMRK rügt, sieht das BVerfG dies als unzulässig an, weil die EMRK kein unmittelbar verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab nach Art 93 I Nr 4 lit a GG ist. Allerdings könne der Bf gestützt auf ein nationales Grundrecht mit der VB rügen, dass ein staatliches Organ eine Konventionsbestimmung oder eine Entscheidung des EGMR missachtet oder nicht berücksichtigt hat. Der EGMR hat es als eine Verletzung von Art 1 ZP EMRK angesehen, wenn Eigentümer kleinerer Grundstücke in Frankreich, welche die Jagd ablehnen, das Jagdrecht auf ihrem Land auf einen kommunalen Verband übertragen müssen, damit Dritte davon Gebrauch machen können.
329 Vgl BVerwG, NVwZ 2006, 92 ff.
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Zudem verstoße es gegen Art 1 1. ZP EMRK (Schutz des Eigentums) und gegen Art 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), wenn nur Eigentümer größerer Grundstücke das Recht gegeben werde, ihr Land in Übereinstimmung mit ihren Gewissensüberzeugungen zu nutzen. Schließlich werde Art 11 EMRK verletzt, wenn ein Grundstückseigentümer dazu gezwungen wird, einem Jagdverband beizutreten und ihm sein Jagdrecht zu übertragen, obwohl er die Jagd aus ethischen Gründen ablehnt.330 Die Entscheidung hat nur inter partes Wirkung. Doch muss die ratio decidendi auch in anderen gerichtlichen Verfahren mit anderen Beteiligten beachtet werden. Da die Fachgerichte, insbesondere das BVerwG die Entscheidung des EGMR in den Blick genommen und hierbei die Unterschiede der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse nach deutschem Jagdrecht gegenüber denjenigen nach französischem Recht herausgearbeitet haben, sind die angegriffenen Gerichtsentscheidungen nach Auffassung des BVerfG dem verfassungsrechtlich maßgeblichen völkerrechtlichen Berücksichtigungsgebot gerecht geworden. Demgemäß wurde die VB abgewiesen. Eine andere Auffassung (ungenügende Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR) lässt sich gut vertreten.
330 EGMR, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou.
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§3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot Robert Uerpmann-Wittzack Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1989, 314 ff – Soering = JK 5/90, EMRK Art 3/1; NJW 1993, 718 ff – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1; NVwZ 1999, 57 ff – Guerra = JK 8/99, EMRK Art 8/3. Schrifttum: Breitenmoser Der Schutz der Privatsphäre gem Art 8 EMRK, 1986; Graf Kielmansegg Jenseits von Karlsruhe – Das deutsche Familienrecht in der Straßburger Rechtsprechung, AVR 46 (2008), 273 ff; Hailbronner Art 3 EMRK – ein neues europäisches Konzept der Schutzgewährung?, DÖV 1999, 617 ff; Heselhaus/Marauhn Straßburger Springprozession z Schutz der Umwelt EuGRZ 2005, 549 ff; Kälin Tragweite und Begr des Abschiebungshindernisses von Art 3 EMRK bei nichtstaatlicher Gefährdung in: Hailbronner/Klein (Hrsg), Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, 1999, 49–72; Kugelmann Individualkommunikation, EuGRZ 2003, 16 ff; Meyer-Ladewig Das Umweltrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, NVwZ 2007, 25–30; Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, 2000, 55–200; Schöbener Die „Lehrerin mit Kopftuch“ – europäisch gewendet!, JURA 2003, 186 ff; Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg Die Europäische Menschenrechtskonvention als Ordnungsrahmen für das Internet, MMR 2008, 83–89; Wolfrum (Hrsg), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003.
Der folgende Abschnitt behandelt einige der materiellen Kernbestimmungen der EMRK, namentlich den Schutz des Privatlebens, den Schutz der persönlichen Integrität und das Diskriminierungsverbot. Er soll kein Detailwissen zu diesen Garantien vermitteln, sondern er will Verständnis für die Grundstrukturen wecken und so ein eigenständiges Arbeiten mit den Garantien ermöglichen. Die EMRK ist ebenso wie das deutsche Grundgesetz Teil einer gemeinsamen europäischen Grundrechtskultur.1 Ihre Garantien weisen daher trotz signifikanter Unterschiede auch starke Parallelen auf. An diesen Parallelen und Unterschieden orientiert sich die folgende Darstellung. Sind die Grundstrukturen bekannt, ist es relativ einfach, aus der deutschen Grundrechtsdiskussion bekannte Streitstände auf die EMRK zu übertragen. Freilich hat die EMRK ihre Wirkkraft gerade auch in einigen Bereichen entfaltet, in denen deutsche Grundrechte blass geblieben sind. Das gilt etwa für den Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Ausländerrecht. Diesen Anwendungsfeldern wird ein besonderes Augenmerk gelten.
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I. Schutz der Privatsphäre Fall 1: Der türkische Staatsangehörige M ist in München geboren worden und wächst dort bei seinen Eltern auf. Die Türkei kennt er nur von Ferienaufenthalten. Türkisch spricht er kaum. Schon vor Vollendung des vierzehnten Lebensjahres tritt er wiederholt strafrechtlich in Erscheinung. Nach seinem vierzehnten Geburtstag begeht er weitere Straftaten wie Ladenund Einbruchsdiebstähle, Raubtaten, gefährliche Körperverletzungen, Nötigungen und Hausfriedensbrüche. Er wird innerhalb von vier Jahren zu Jugendstrafen von insg mehr als drei Jahren verurteilt und nach § 56 II 2 AufenthG ausgewiesen. Ist die Ausweisung konventionsgemäß? 1 Uerpmann Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, 117–130.
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1. Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz (Art 8 EMRK) a) Schutzbereiche aa) Privatleben 3
Mit dem Schutz des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz enthält Art 8 I EMRK vier verschiedene Schutzbereiche. Das Privatleben ist der weiteste von ihnen. Die übrigen Schutzbereiche sind weitgehend besondere Ausprägungen des Schutzes des Privatlebens. Dem Schutz des Privatlebens kommt eine gewisse Auffangfunktion zu. Art 8 I EMRK zeigt insofern Parallelen zu Art 2 I GG. Anders als das Grundgesetz kennt die EMRK zwar kein allgem Freiheitsrecht, das lückenlosen Schutz gegen staatliche Eingriffe vermitteln würde. Der Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK übernimmt aber Funktionen, die in Deutschland Art 2 I GG und namentlich das allgem Persönlichkeitsrecht nach Art 2 I iVm Art 1 I GG erfüllen. Beispielsweise schützen sowohl das Grundgesetz als auch die EMRK das Privatleben Prominenter vor dem aufdringlichen Zugriff der Presse. Unter dem Grundgesetz übernimmt das allgem Persönlichkeitsrecht diesen Schutz,2 während konventionsrechtlich Art 8 EMRK eingreift.3 Ebenso lässt sich für den Datenschutz, der grundgesetzlich als Recht auf informationelle Selbstbestimmung im allgem Persönlichkeitsrecht verankert ist,4 unter der EMRK das Recht auf Achtung des Privatlebens heranziehen.5 In Hinblick auf das Internet hat das BVerfG den Schutz weiter ausdifferenziert und ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ entwickelt.6 Konventionsrechtlich ist auch hier Art 8 EMRK einschlägig. Eine online-Durchsuchung berührt das Privatleben ebenso wie die Überwachung der privaten Internetnutzung am Arbeitsplatz.7 Der EGMR hat außerdem hervorgehoben, dass den Garantien des Art 8 EMRK das Prinzip persönlicher Selbstbestimmung zu Grunde liege.8 Auch darin zeigt sich die Nähe zu Art 2 I GG. Eine Auffangfunktion kommt Art 8 EMRK zudem in Hinblick auf die körperliche Unversehrtheit zu. In der EMRK ist dieses Recht, anders als in Art 2 II 1 GG und im Gegensatz zum Recht auf Leben nach Art 2 EMRK nicht eigens garantiert. Teilbereiche des Rechts auf körperliche Unversehrtheit werden durch das Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung gemäß Art 3 EMRK abgedeckt (u Rn 39). Im Übrigen zählt der EGMR die körperliche und physische Unversehrtheit zum Privatleben.9
2 BVerfGE 73, 118, 201; 97, 125, 146; 101, 361, 379 ff. 3 EGMR, NJW 2004, 2647, Rn 50 ff – von Hannover = JK 4/05, EMRK Art 8/4; Court of Appeal, The All England Law Reports 2001, Bd 2, 289 – Douglas/Hello! Ltd; dazu Amelung/Vogenauer ZEuP 2002, 341 ff; Theusinger ZRP 2001, 529 ff. 4 BVerfGE 65, 1, 41 ff – Volkszählungsurteil; dazu Kunig JURA 1993, 595 ff. 5 EGMR, HRLJ 21 (2000), 221, Rn 65 – Amann; Mock RUDH 1998, 237, 241; z Schutz von Steuerdaten zweif Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 1999, 53 f; zur Verwendung von Informationen aus Stasi-Akten EGMR, NJW 2003, 3041, 3042 – Knauth = JK 2/04, EMRK Art 8 I/1. 6 BVerfG, NJW 2008, 822, Rn 166 ff; dazu Hoffmann-Riem JZ 2008, 1009 ff. 7 Zu letzterem EGMR, EuGRZ 2007, 415, Rn 41– 44 – Copland; allgem Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg MMR 2008, 83, 86 f. 8 EGMR, NJW 2002, 2851, Rn 61 – Pretty = JK 4/03, StGB § 216/5; dazu Fassbender JURA 2004, 115 ff; EGMR, NJW 2004, 2505, Rn 69 – Van Kück. 9 EGMR, NJW-RR 2006, 308, Rn 143 – Storck/Deutschland; Meyer-Ladewig NJW 2007, 25, 26.
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Auf eine Definition des Privatlebens hat der EGMR ausdrücklich verzichtet.10 Er folgt einem kasuistischen Ansatz, wie er für die Konventionspraxis typisch ist. Verlässliche Begriffsdefinitionen, wie sie Rechtsprechung und Lehre unter dem Grundgesetz entwickelt haben, fehlen für die EMRK weitgehend. Daher soll auch hier auf einen Definitionsversuch verzichtet werden. Statt dessen möchte der Beitrag Leitlinien vermitteln, die bei einer kasuistischen Argumentation helfen können. Der Begriff des Privatlebens ist weit zu verstehen. Er umfasst nicht nur einen inneren Bereich menschlichen Daseins, sondern auch die sozialen Beziehungen, also den Kontakt zur Außenwelt. Abzugrenzen ist das Privatleben vom öffentlich-staatlichen Bereich. Die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes gehört nicht zum Privatleben. Außerhalb des staatlichen Bereichs kann aber auch eine berufliche Tätigkeit unter Art 8 I EMRK fallen. Gerade im beruflichen Bereich nehmen viele Menschen Kontakte zur Außenwelt auf. Zudem lässt sich zwischen Privatleben und Beruf zumindest bei manchen Berufsgruppen kaum ein sinnvoller Trennstrich ziehen. So hat der EGMR im Fall Niemietz den staatlichen Zugriff auf Anwaltsakten als Eingriff in das Privatleben gewertet.11 Nach deutschem Verfassungsrecht wäre insoweit am ehesten Art 12 I GG einschlägig. Obwohl die EMRK die Berufsfreiheit als solche nicht garantiert, kann sie über Art 8 I EMRK Schutz vor bestimmten Eingriffen in die Berufsausübung gewähren. Für diese weite Auslegung spricht auch der systematische Zusammenhang mit dem Schutz der Korrespondenz. Dort wird nicht zwischen privater und geschäftlicher Korrespondenz unterschieden. Begreift man den Schutz der Korrespondenz als besondere Ausprägung des Schutzes des Privatlebens, liegt es nahe, das Privatleben ebenfalls entspr weit zu fassen. Das Privatleben umfasst auch die Kommunikation mit anderen Menschen.12 Hier stellen sich allerdings Abgrenzungsprobleme zum spezielleren Schutzbereich der Korrespondenz.13 Was als Korrespondenz von Art 8 I EMRK geschützt wird, muss nicht mehr dem Auffangschutzbereich des Privatlebens zugeordnet werden. Die traditionelle briefliche Kommunikation wird damit ausschließlich vom Schutzbereich der Korrespondenz erfasst. Bei Telefongesprächen erscheint die Zuordnung hingegen zweifelhaft. Legt man den Begriff der Korrespondenz weit aus, lassen sie sich unter diesen spezielleren Schutzbereich fassen. Anderenfalls werden sie als Teil des Privatlebens geschützt. Der EGMR hat sich insoweit nicht festgelegt. In den einschlägigen Entscheidungen führt er sowohl das Privatleben als auch die Korrespondenz an.14 Dogmatisch kann diese Unentschlossenheit nicht ganz befriedigen. Andererseits kommt es auf die Unterscheidung tatsächlich nicht an, weil Privatleben und Korrespondenz beide derselben Schrankenregelung unterliegen. Damit ist es auch weitgehend gleichgültig, wie man neue Kommunikationsformen qualifiziert. Es liegt nahe, die Übertragung von E-Mails mit dem Schutz der Korrespondenz zu versehen.15 Anderenfalls würden sie aber jedenfalls als Teil des Privatlebens
10 EGMR, NJW 1993, 718, Rn 29 – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1; s a Mock RUDH 1998, 237, 239. 11 EGMR, NJW 1993, 718, Rn 29 ff – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1; dazu a Kunig/Uerpmann Übungen, 210 f. 12 Kugelmann EuGRZ 2003, 16, 21 f. 13 Zur Korrespondenz s noch u Rn 14. 14 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 41 – Klass; EuGRZ 1985, 17, Rn 64 – Malone; EuGRZ 1992, 300, Rn 39 – Lüdi; HRLJ 21 (2000), 221, Rn 44 – Amann. 15 Mock RUDH 1998, 237, 243.
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geschützt.16 In Abgrenzung zur Meinungsfreiheit (→ § 4 Rn 4 ff) schützt Art 8 EMRK die Vertraulichkeit der Individualkommunikation, während Kommunikationsinhalte ansonsten durch Art 10 EMRK geschützt werden (→ § 4 Rn 22).17 Art 8 EMRK schützt dabei nicht nur die Vertraulichkeit der Inhalte. Auch sog Verbindungsdaten, also Informationen, welche Personen wann miteinander kommunizieren, werden geschützt.18 Es versteht sich fast von selbst, dass Standortdaten bei der Mobilfunkkommunikation ebenfalls in den Schutzbereich von Art 8 EMRK fallen. Zum Privatleben gehören des Weiteren die physischen Lebensbedingungen an einem Ort. Sind die Bewohner eines Gebietes giftigen Abgasen einer Fabrik ausgesetzt, berührt dies ihr Privatleben (→ § 2 Rn 22).19 Damit enthält Art 8 I EMRK Elemente eines Grundrechts auf Umweltschutz.20 Ebenso ist das Privatleben betroffen, wenn eine Person etwa durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen wird.21 Art 8 I EMRK ist daher insb auch als Grenze für Ausweisung und Abschiebung im Ausländerrecht relevant. Zwar garantiert die EMRK Ausländern weder ein Recht auf Einreise noch ein Recht auf Aufenthalt. Art 3 4. ZP EMRK verbietet lediglich die Verbannung eigener Staatsangehöriger und Art 4 4. ZP EMRK schützt allein vor Kollektivausweisungen. Art 1 7. ZP EMRK, das für Deutschland nicht in Kraft ist, beschränkt sich auf Verfahrensgarantien für den Fall der Ausweisung. Diese punktuellen Regelungen schließen es aber nicht aus, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zusätzlich an allgem Garantien der EMRK wie denen aus Art 8 EMRK zu messen. Das Privatleben hat somit eine starke soziale Komponente. Geschützt wird die Person in ihrem jeweiligen räumlich-gesellschaftlichen Umfeld. Der Schutz erstreckt sich aber auch auf den inneren Bereich der Persönlichkeitssphäre bis hin zur geschlechtlichen Identität und zur sexuellen Selbstbestimmung. Weigert sich der Staat bei Transsexualität, eine erfolgte Geschlechtsumwandlung namens- und personenstandsrechtlich anzuerkennen, ist der Schutzbereich des Privatlebens berührt.22 Auch Homosexualität fällt in den Schutzbereich des Privatlebens.23 Vorschriften, die die Vergewaltigung und andere Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung unter Strafe stellen, dienen ebenfalls dem Schutz des Privatlebens.24 Zur persönlichen Identität, die als Teil des Privatlebens geschützt ist, gehört darüber hinaus die Kenntnis der eigenen Abstammung.25 Das Recht der Mutter, anonym
16 So a EGMR, EuGRZ 2007, 415, Rn 41, 44 – Copland ohne Abgrenzung zwischen Privatleben und Korrespondenz. 17 Kugelmann EuGRZ 2003, 16, 24. 18 EGMR, EuGRZ 2007, 415, Rn 43 – Copland. 19 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 57 – Guerra = JK 8/99, EMRK Art 8/3; Urt v 26.10.2006, Rn 91 ff – Ledyayeva; s a schon EGMR, EuGRZ 1995, 530 ff – López Ostra = JK 5/96, EMRK Art 8/2. 20 Ausf Schmidt-Radefeldt Ökologische Menschenrechte, 2000, S 105 ff; ferner Heselhaus/Marauhn EuGRZ 2005, 546 ff; Meyer-Ladewig NJW 2007, 15 ff. 21 Mock RUDH 1998, 237, 241; im Grundsatz ebenso ohne Unterscheidung zwischen Privat- und Familienleben EGMR, NVwZ 1998, 164, Rn 23 ff – Mehemi; NVwZ 2000, 1401, Rn 32 ff – Baghli. 22 EGMR, HRLJ 13 (1992), 358, Rn 44 – 63 – B; NJW-RR 2004, 289, Rn 71 ff – Goodwin. 23 EGMR, EuGRZ 1983, 488, Rn 37 ff – Dudgeon; EuGRZ 1992, 477, Rn 38 – Norris; NJW 2000, 2089, Rn 70 f – Smith und Grady. 24 EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 22 – X und Y; dazu noch u Rn 26. 25 EGMR, FamRZ 2006, 1354, Rn 28 ff – Jäggi; s a EGMR, EuGRZ 2006, 129, Rn 102 f – Mizzi, zur Anfechtung der Vaterschaft.
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zu bleiben, wird allerdings ebenso durch Art 8 I EMRK geschützt. Bei der Frage, ob der Staat Babyklappen und anonyme Geburten gestatten darf, stehen sich also Rechte des Kindes und der Mutter aus Art 8 I EMRK gegenüber. Zudem ist das öffentliche Interesse, Abtreibungen und das unkontrollierte Aussetzen von Kindern zu verhindern, zu berücksichtigen. Der EGMR hat daher die französische Regelung zur anonymen Geburt an Art 8 EMRK gemessen, befand aber letztlich, dass sie sich innerhalb des nationalen Beurteilungsspielraums bewege.26 bb) Familienleben Das Familienleben ist gleichfalls weit zu verstehen.27 Eine eheliche Verbindung ist nicht erforderlich.28 Auch die Beziehung eines einzelnen Elternteils zu seinem Kind wird als Familienband erfasst. Geschützt wird der tatsächliche soziale Kontakt unabhängig von seiner rechtlichen Anerkennung. Damit fällt die Beziehung eines nichtehelichen Kindes zu seinem Vater schon vor der Feststellung der Vaterschaft ebenso in den Schutzbereich des Familienlebens wie die Beziehung eines Kindes zu Adoptiv- oder Pflegeeltern.29 Auch lässt die Trennung der Eltern bei einem Kind, das bei einem Elternteil lebt, das Familienband zum anderen Elternteil nicht abreißen, soweit beide in Kontakt bleiben.30 Nicht ausreichend ist allerdings die bloße Abstammung. Wichtig ist, dass tatsächlicher Kontakt vorhanden oder zumindest gewollt ist. Unter diesen Voraussetzungen werden auch die Beziehungen zu entfernteren Familienangehörigen wie Großeltern oder Tanten geschützt.31 Im Vergleich zum Schutz der Familie nach Art 6 I GG fällt auf, dass sich der EGMR stärker an der faktischen Familie orientiert als das BVerfG.32 Der EuGH betont, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften nicht vom Schutz des Familienlebens erfasst seien.33 Angesichts der Weite des Familienbegriffs, der nicht auf rechtlich-formale Bindungen abstellt, scheint dies zweifelhaft.34 Um eine Familie handelt es sich jedenfalls, soweit in einer solchen Beziehung Kinder aufwachsen. Außerdem wird jede Lebensgemeinschaft zumindest als Teil des Privatlebens von Art 8 I EMRK geschützt. Eine Gleichstellung nichtehelicher und namentlich gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit der traditionellen Ehe fordert die Konvention freilich nicht. Das ergibt sich schon aus Art 12 EMRK, der das Recht zur Eheschließung gewährleistet und der Ehe damit einen besonderen Platz zuweist. Dabei geht der EGMR bisher im Einklang mit dem Wortlaut vom klassischen Bild der Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Partnern unterschiedlichen Geschlechts aus.35 Allerdings äußert er jüngst Zweifel, ob sich das
26 EGMR, NJW 2003, 2145, Rn 28 f, 40 ff – Odièvre; dazu Lux-Wesener EuGRZ 2003, 555 ff; Wittinger NJW 2003, 2138 ff. 27 Ausf Fahrenhorst Familienrecht und Europäische Menschenrechtskonvention, 1994, 94 ff; s a Graf Kielmansegg AVR 46 (2008), 273, 298 ff. 28 BGH, NJW 2001, 2472, 2475 = JK 12/01, BGB § 1626a/1. 29 Mock RUDH 1998, 237, 241; s a Coester-Waltjen JURA 2007, 914, 918. 30 EGMR, NVwZ 2001, 547, Rn 59 – Ciliz; NJW 2001, 2315, Rn 43 f – Elsholz. 31 Mock RUDH 1998, 237, 241 f. 32 S Graf Kielmansegg AVR 46 (2008), 273, 307 f. 33 EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 33 – Grant = JK 4/99, EGV Art 119/1. 34 Wittinger Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, 1999, 42–45. 35 EGMR, Series A, Vol 106, Rn 49 – Rees; dazu a Fahrenhorst (Fn 27) S 204 –212.
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Geschlecht stets allein biologisch bestimmen lasse.36 Im konkreten Fall wurde einer Transsexuellen auch nach ihrer Geschlechtsumwandlung zur Frau verwehrt, einen Mann zu heiraten. Darin sah der EGMR einen Verstoß gegen das Recht zur Eheschließung nach Art 12 EMRK.37 Im Übrigen kommt der Vorschrift neben dem Schutz des Familienlebens nach Art 8 I EMRK keine große Bedeutung zu. In der Praxis spielt der Schutz des Familienlebens nicht nur im Ehe- und Kindschaftsrecht38 eine wichtige Rolle, sondern auch im Ausländerrecht,39 wenn es um aufenthaltsbeendende Maßnahmen40 oder Familiennachzug41 geht. Die Weite des Schutzes zeigt sich darin, dass der EGMR sogar das Erbrecht zwischen nahen Verwandten dem Familienlebens zuordnet.42 cc) Wohnung
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Mit der Wohnung schützt Art 8 EMRK den räumlich-gegenständlichen Bereich der Individualsphäre. Zur Wohnung gehören auch die Geschäftsräume. Dies hat der EGMR im Fall Niemietz klar gestellt.43 Für die weite Auslegung spricht das oben zum Privatleben Gesagte. Wenn das Berufsleben zum Privatleben zählt, liegt es nahe, den räumlichen Bereich, in dem sich das Berufsleben vollzieht, ebenso zu schützen wie die Wohnung ieS. Der Wohnungsbegriff wird damit ähnlich weit ausgelegt wie bei Art 13 GG.44 Der EuGH hatte dies in der Hoechst-Entscheidung noch anders gesehen (→ § 14 Rn 57, 74).45 Geschützt werden die Räume vor jeder Form des Eindringens. Auch „Lauschangriffe“ berühren den Schutzbereich.46 Die Abgrenzung zum Privatleben mag im Einzelnen schwierig sein, ist aber angesichts der Parallelität der Garantien nicht ergebnisrelevant. dd) Korrespondenz
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Schließlich schützt Art 8 I EMRK das Postgeheimnis. Unter Korrespondenz sind schriftliche Mitteilungen 47 zu verstehen, die auf einem anerkannten Beförderungsweg von einer Person zu einer anderen übermittelt werden.48 Unerheblich ist, ob die Dokumente durch eine staatliche Postverwaltung oder durch private Anbieter befördert werden. Mit der Korrespondenz ist der Vorgang der Nachrichtenübermittlung geschützt, also die Phase, in
36 EGMR, NJW-RR 2004, 289, Rn 100 – Goodwin. 37 EGMR, NJW-RR 2004, 289, Rn 101–104 – Goodwin; dazu Henrich FamRZ 2004, 173 f; zust EuGH, NJW 2004, 1440, Rn 33 – K B. 38 S zB die in Fn 30 sowie in Rn 28 genannten Entscheidungen; allgem Fahrenhorst (Fn 27) S 191 ff; Brötel Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, 1991, 175 ff. 39 Dazu allgem Caroni Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, 1999, 170 ff. 40 ZP EGMR, DVBl 2007, 689 ff – Üner. 41 Im Überbl EuGH, Slg 2006, I-5769, Rn 52 ff – Parlament/Rat = JK 1/07, EUV Art 6 II/1. 42 EGMR, ZEV 2005, 162, Rn 26 – Pla u Puncerau; dazu Staudinger ZEV 2005, 140 ff. 43 EGMR, EuGRZ 93, 65, Rn 30–33 – Niemietz; ebenso NJW 2006, 1495, Rn 31 – Buck = JK 9/06, EMRK Art 8/6. 44 Dazu BVerfGE 32, 54, 69 ff. 45 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 18 – Hoechst = JK 6/90, EWGV Art 173/2. 46 EGMR, JZ 2000, 993, Rn 25 – Khan. 47 Zu Telefongesprächen schon o Rn 6. 48 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 34.
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der Dritte bes leicht auf die Dokumente zugreifen können. Ist eine Mitteilung noch nicht abgesandt worden, oder ist sie bereits beim Empfänger angekommen, handelt es sich nicht mehr um Korrespondenz.49 Dann greift allerdings der allgem Schutz des Privatlebens ein. Die Konventionsrechte gelten auch in sog besonderen Gewaltverhältnissen50 wie Militär, Schule oder Gefängnis. So erstreckt sich der Schutz auf die Korrespondenz von Strafgefangenen.51 Damit garantiert Art 8 I EMRK namentlich die ungehinderte Korrespondenz eines Gefangenen mit dem EGMR.52
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b) Beeinträchtigung Was die Rechtsbeeinträchtigung angeht, gelten zunächst allgemeine Grundsätze (→ § 2 Rn 58). Das Durchsuchen einer Wohnung ist ebenso eine Beeinträchtigung wie die Beschlagnahme persönlicher Dokumente oder das Abhören eines Telefongesprächs. Umgekehrt fehlt es an einer Beeinträchtigung, wenn ein Presseorgan ohne Einwilligung des Betroffenen Fotos aus dem Privatleben eines Prominenten veröffentlicht. Mangels konventionsrechtlicher Bindung kann das Presseorgan nicht in Art 8 EMRK eingreifen (→ zu den Konventionsverpflichteten § 2 Rn 36 ff). Verlangt der Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz, ist die Schutzpflichtdimension (→ § 2 Rn 25 sowie u Rn 26 f) des Konventionsrechts angesprochen. Auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen haben Eingriffscharakter, da sie darauf angelegt sind, dem Betroffenen das Weiterleben in seinem aktuellen privaten Umfeld unmöglich zu machen. Hat die Person am Aufenthaltsort familiäre Bindungen, ist das Familienleben beeinträchtigt. Was für Art 8 EMRK weitgehend klar erscheint, ist im Parallelfall des Art 6 I GG umstritten. Die deutsche Rechtsprechung neigt dazu, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf Schutzpflichten aus Art 6 I GG abzustellen.53 Diese dogmatische Unstimmigkeit dürfte sich aus der unzulänglichen Schrankensystematik des Grundgesetzes erklären. Art 6 I GG ist vorbehaltlos gewährleistet. Nähme man einen Eingriff an, ließe sich dieser nur in engen Grenzen über verfassungsimmanente Schranken rechtfertigen. Diese Konsequenz wird über eine Reduktion des Eingriffstatbestandes umgangen. Bei Art 8 EMRK bedarf es angesichts angemessener Schranken in Abs 2 keiner Korrektur auf der Eingriffsebene. Bei ehe- und kindschaftsrechtlichen Entscheidungen ist zu differenzieren.54 Entzieht das Gericht einem geschiedenen Elternteil das Sorgerecht, wird man von einem Eingriff ausgehen können. Versagt hingegen ein Elternteil dem anderen den Umgang mit dem gemeinsamen Kind und wendet sich der andere hilfesuchend an das Gericht, so fehlt es an einem staatlichen Eingriff. Art 8 EMRK ist in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen.55
49 Mock RUDH 1998, 237, 243. 50 Z Begriff v Münch in: v Münch/Kunig (Hrsg) Grundgesetz-Kommentar, Bd I, 5. Aufl 2000, Vorbem Art 1–19 Rn 59. 51 Ovey/White EMRK, 250, 278–281; Jacobs/White The European Convention on Human Rights, 2. Aufl 1996, 297–299. 52 EGMR, REP 1998-VII, Rn 35 ff – Petra; Mock RUDH 1998, 237, 243 f. 53 BVerfGE 51, 386, 396 f; offen BVerfGE 76, 1, 46; s a Pieroth/Schlink Grundrechte, Staatsrecht II, 24. Aufl 2008, Rn 651. 54 EGMR, NVwZ 2001, 547, Rn 62 – Ciliz. 55 ZB EGMR, RUDH 2000, 93, Rn 94 – Ignaccolo-Zenide.
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Schwierig ist die Abgrenzung auch in Umweltschutzfällen. Ein Eingriff liegt vor, wenn die Umweltbelastung unmittelbar von Hoheitsträgern verursacht wird. Das gilt etwa für Belastungen, die von einem Truppenübungsplatz ausgehen. Umweltgefährdendes Verhalten Privater lässt sich dem Staat hingegen grundsätzlich nicht zurechnen. Vielfach wird das private Verhalten allerdings staatlich genehmigt sein. Indem der Staat potenziell umweltgefährdendes Verhalten einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterwirft, kommt er seiner Schutzpflicht nach. Hebt der Staat das präventive Verbot im Einzelfall durch eine Genehmigung wieder auf, unterschreitet er möglicherweise seine Schutzpflicht. Darin allein liegt aber noch kein Eingriff.56 Eingriffscharakter hat die Genehmigung nur, wenn und soweit sie betroffenen Dritten Duldungspflichten auferlegt, wie es etwa bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung nach § 14 BImSchG der Fall ist. Dieser Bereich ist auch in der deutschen Grundrechtsdogmatik umstritten. Die Konventionsdogmatik ist insoweit noch weniger entwickelt, weist aber in dieselbe Richtung. In der Sache Hatton musste der EGMR nächtlichen Fluglärm bewerten, der im Rahmen staatlich reglementierter Nachtflüge am Londoner Flughafen Heathrow entstand. Nach dem oben Gesagten lässt sich die schlichte staatliche Erlaubnis privater Nachtflüge nicht als Eingriff werten. Dementsprechend sah der EGMR in der Nachtflugreglementierung keinen Eingriff. Vielmehr prüfte er, ob das Vereinigte Königreich mit dieser Reglementierung seiner Schutzpflicht aus Art 8 I EMRK ausreichend Rechnung getragen hatte.57 Im Fall López Ostra hatte der EGMR eine schwierige Gemengelage unterschiedlichen staatlichen Verhaltens zu beurteilen.58 Eine umweltverschmutzende Entsorgungsanlage für Gerbereiabfälle war mit staatlichen Subventionen auf einem städtischen Grundstück errichtet worden. Ohne die erforderliche Zulassung ging sie in Betrieb. Verschiedene behördliche Abhilfemaßnahmen hatten nur einen eingeschränkten Erfolg. Da eine Genehmigung gerade nicht erteilt worden war, kam ein Eingriff insoweit nicht in Betracht. Bei den behördlichen Abhilfemaßnahmen handelt es sich um möglicherweise unzureichende Schutzmaßnahmen. Solange sie die Beeinträchtigung nicht verstärken, haben sie ebenfalls keinen Eingriffscharakter. Am ehesten könnte die staatliche Förderung des Anlagenbaus als Eingriff qualifiziert werden, doch müsste man dazu Subventionszweck und Subventionsbedingungen näher beleuchten. Der EGMR ging diesen Fragen nicht nach. Vielmehr ließ er die Frage, ob ein Eingriff vorliege, schlicht offen und begnügte sich mit einer Abwägung, wie sie sowohl bei der Eingriffsrechtfertigung als auch bei der Schutzpflichtprüfung durchzuführen ist (Rn 27). Nachdem er die Schutzmaßnahmen für unzureichend erklärt hatte, kam es auf die Frage, ob sogar ein Eingriff vorlag, nicht mehr an. c) Rechtfertigung
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Eine Beeinträchtigung der Schutzbereiche des Art 8 I EMRK kann nach Maßgabe von Art 8 II EMRK gerechtfertigt sein. Die Schrankenbestimmung stimmt in ihrer Struktur weitgehend mit derjenigen der Art 9 bis 11 EMRK überein. Die Rechtfertigung wird vom EGMR sauber in drei Stufen geprüft (→ § 2 Rn 62 ff). Die Beeinträchtigung muss (aa)
56 Jaeckel Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, 150. 57 EGMR, ÖJZ 2003, 72, Rn 95 – Hatton; dazu Kukk NVwZ 2002, 307 ff; die Große Kammer maß der Unterscheidung in ihrem nachfolgenden Urt NVwZ 2004, 1465, Rn 98, 119, demgegenüber kaum Bedeutung bei; deutlich differenzierend dagegen wiederum EGMR, NJW 2005, 3767, Rn 55 ff – Moreno Gómez = JK 5/06, EMRK Art 8/5 zu Diskolärm. 58 EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 51 ff – López Ostra = JK 5/96, EMRK Art 8/2.
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gesetzlich vorgesehen sein, (bb) ein legitimes Ziel verfolgen und (cc) in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also verhältnismäßig sein. aa) Gesetzesvorbehalt Die deutsche Übersetzung verlangt in Einklang mit der französischen Fassung, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein müsse („prévu par la loi“). Das entspr „prescribed by law“ findet sich in der ebenfalls authentischen englischen Fassung hingegen lediglich in Art 9 bis 11 EMRK. In Art 8 II EMRK heißt es statt dessen „in accordance with the law“. Die englische Fassung könnte dafür sprechen, dass bei Art 8 EMRK, anders als bei Art 9 bis 11 EMRK, lediglich der Vorrang des Gesetzes gelten soll, nicht aber der Vorbehalt des Gesetzes. Diese Auslegung ist allerdings mit der gleichermaßen verbindlichen französischen Fassung nicht vereinbar. Sie entspricht auch nicht der Rechtsprechung des EGMR.59 Zu den Vertragsstaaten der EMRK gehören auch Common-law-Systeme. Der Gesetzesbegriff der Konvention, im Englischen: „law“, ist daher weiter als der kontinentaleuropäische Gesetzesbegriff. Er umfasst auch ungeschriebenes Recht.60 Erforderlich ist in jedem Fall, dass die Normen hinreichend zugänglich und vorhersehbar sind.61 Angesichts der Veröffentlichungsvorschriften, denen deutsche Parlamentsgesetze, Verordnungen und Satzungen unterliegen, wird die Zugänglichkeit regelmäßig unproblematisch sein. Mit dem Kriterium der Vorhersehbarkeit führt der EGMR ein Bestimmtheitserfordernis ein, das nicht über das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes hinausgehen dürfte. Jede Beeinträchtigung, die von der innerstaatlichen Rechtsgrundlage nicht gedeckt ist, verstößt zugleich gegen das Konventionsrecht. Die Prüfungskompetenz des EGMR ist insoweit allerdings eingeschränkt. Die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts ist vorrangig Aufgabe der nationalen Stellen.62 Die europäische Instanz wird erst dort einschreiten, wo nationale Stellen eine Rechtsgrundlage willkürlich heranziehen.63 Das Verhältnis des EGMR zu den nationalen Instanzen ähnelt damit demjenigen des BVerfG zu den Fachgerichten. Das europäische Verfassungsgericht beschränkt sich wie das deutsche darauf, Entscheidungen auf spezifische Verfassungsrechtsverstöße zu überprüfen.
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bb) Legitimes Ziel Beeinträchtigungen des Art 8 I EMRK sind nur gerechtfertigt, wenn sie eines der in Art 8 II EMRK abschließend aufgezählten Ziele verfolgen. In grundgesetzlichen Kategorien formuliert, liegt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt vor. Bei der Auflistung handelt es sich um autonome, gemeineuropäische Begriffe, die nicht unter Rückgriff auf spezifisch nationale Begriffsbildungen definiert werden können. So wird man die Begriffe der „nationalen oder öffentlichen Sicherheit“ einerseits und der „Ordnung“ andererseits nicht im Lichte der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel auslegen können. Allerdings sind die Ziele, die Art 8 II EMRK aufführt, sehr weit. In der Rechtsprechung des EGMR haben
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S zB EGMR, REP 1998-VII, Rn 36–39 – Petra. EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 47 – Sunday Times; s a JK 7/93, EMRK Art 1/1. EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 49 – Sunday Times. Schokkenbroek HRLJ 19 (1998), 30, 33; s a EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 29 – X und Y. S a JK 7/93, EMRK Art 1/1.
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sie kaum Konturen erlangt. Meist begnügt sich der Gerichtshof mit der Feststellung, dass ein Eingriff ein oder mehrere legitime Ziele verfolge.64 Die Rechtfertigung wird fast nie an diesem Prüfungspunkt scheitern.65 cc) Verhältnismäßigkeit 25
Schließlich muss die Beeinträchtigung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Der EGMR verlangt ein „dringendes soziales Bedürfnis“ 66 und führt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch.67 Diese Prüfung entspricht strukturell dem in Deutschland üblichen dreistufigen Vorgehen: Die Beeinträchtigung muss in Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel geeignet, erforderlich und im engeren Sinn verhältnismäßig sein (→ § 2 Rn 65). Bei der Beurteilung, welche Maßnahmen erforderlich und angemessen sind, kommt den nationalen Stellen ein Beurteilungsspielraum68 zu. Die jeweiligen nationalen Stellen sind am ehesten in der Lage, die jeweilige Situation vor Ort differenziert zu beurteilen. Die nationale Entscheidung unterliegt daher nur einer eingeschränkten Überprüfung durch den EGMR. Die Kontrolldichte des Gerichtshofs ist allerdings flexibel und hängt vom Einzelfall ab.69 Man wird hier Argumentationsmuster des BVerfG übernehmen können. So ist der Kontrollmaßstab strenger, je schwerer die Beeinträchtigung wiegt.70 Es ist keine Seltenheit, dass der EGMR Beeinträchtigungen als unverhältnismäßig ansieht.71 d) Schutzpflichtdimension
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Art 8 EMRK ist die Konventionsnorm mit der am stärksten entwickelten Schutzpflichtdimension. Der Konventionstext, der in Art 8 I EMRK anders als in Art 9 bis 12 EMRK nicht nur vom Recht auf die Schutzgüter spricht, sondern vom „Recht auf Achtung“ 72 der Schutzgüter, bringt die Schutzpflicht in dieser Norm bes deutlich zum Ausdruck. Die Leitentscheidung des EGMR im Fall X und Y erging 1985.73 Sie betraf den strafrechtlichen Schutz einer geistig behinderten Frau vor sexuellem Missbrauch. Das niederländische Recht verlangte seinerzeit einen persönlichen Strafantrag der Betroffenen, den diese aber wegen ihrer geistigen Behinderung nicht rechtswirksam stellen konnte. Da das niederländische Recht eine Vertretung ausschloss, konnte der massive Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung nicht strafrechtlich geahndet werden. Der EGMR sah darin eine konventionswidrige Schutzlücke. Mittlerweile hat die Schutzpflichtdimension namentlich beim Umweltschutz erhebliche Bedeutung erlangt.74 64 ZB EGMR, NJW 1993, 718, Rn 36 – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1; NVwZ 2001, 547, Rn 65 – Ciliz; NJW 2001, 2315, Rn 47 – Elsholz. 65 Mock RUDH 1998, 237, 244. 66 „Pressing social need“/„besoin social impérieux“. 67 ZB EGMR, NVwZ 2000, 1401, Rn 45 – Baghli. 68 „Margin of appreciation“/„marge d’appréciation“; dazu Ovey HRLJ 19 (1998), 10 ff; Schokkenbroek HRLJ 19 (1998), 30, 31. 69 Mock RUDH 1998, 237, 245 f. 70 EGMR, EuGRZ 2002, 244, Rn 67 – Kutzner. 71 S zB EGMR, NJW 1993, 718, Rn 37 – Niemietz = JK 8/93, EMRK Art 8/1. 72 „Right to respect for“/„droit au respect de“. 73 EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 23–30 – X und Y. 74 Zu den Leitentscheidungen o Fn 19 und Rn 19; s a Brötel RabelsZ 63 (1999), 580, 591–593 z Kindschaftsrecht sowie Uerpmann-Wittzack/Jankowska-Gilberg MMR 2008, 83, 88 f z Schutz vor Gefahren aus dem Internet.
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Die Prüfung einer Schutzpflichtverletzung ist schwierig. Der Schrankenvorbehalt des Art 8 II EMRK bezieht sich ausdrücklich nur auf Eingriffe und ist daher nicht anwendbar. Insb passt der Gesetzesvorbehalt nicht, wenn positive Maßnahmen des Staates verlangt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Abwägung zwischen dem Schutzinteresse einerseits und sonstigen legitimen staatlichen Interessen andererseits. In dieser Abwägung treffen sich Eingriffsrechtfertigung und Schutzpflichtprüfung.75 Dabei wird man sagen können, dass auch in der Schutzpflichtdimension insb die in Art 8 II EMRK genannten Ziele legitim sind, doch wird man auch andere Ziele ins Auge fassen können. Wenn Medien über das Privatleben Prominenter berichten, steht beispielsweise dem Schutz aus Art 8 EMRK die nicht zuletzt in Art 10 EMRK verankerte Presse- und Medienfreiheit (→ § 4 Rn 17) gegenüber. Bei der Abwägung kommt den innerstaatlichen Stellen ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der jedoch durch die europäische Kontrolle begrenzt wird. Im Aufsehen erregenden Fall Caroline von Hannover hat eine Kammer des EGMR dem Schutz der Prominenten vor der Veröffentlichung von Fotos aus ihrem Privatleben einen höheren Stellenwert eingeräumt als das BVerfG.76
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e) Verfahrensdimension In den Entscheidungen des EGMR zum Ehe- und Kindschaftsrecht wird zudem eine Verfahrensdimension von Art 8 EMRK erkennbar.77 Zum Schutz des Familienlebens gehört es auch, dass der Staat familiäre Beziehungen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg regelt und sie auf diese Weise bevormundet. An Verfahren, in denen der Staat im Einzelfall regelnd in das Familienleben eingreift, sind daher alle Betroffenen hinreichend zu beteiligen.78 Da kindliche Aussagen in ihrer Bedeutung häufig nur schwer zu würdigen sind, kann es sogar geboten sein, psychologischen Sachverstand hinzuzuziehen.79 Zudem kann gerade bei Sorge- und Umgangsrechtsstreitigkeiten der bloße Zeitablauf zu einer Entfremdung zwischen Kind und Elternteil führen, die vollendete Tatsachen schafft. Daher folgt aus Art 8 EMRK insoweit auch ein Anspruch auf eine zügige Entscheidung.80 Verfahrensgarantien hat der EGMR zudem dort angenommen, wo die inhaltliche Überprüfung durch einen Beurteilungsspielraum der nationalen Instanzen eingeschränkt ist. Ein Beispiel ist der Schutz vor Fluglärm.81 Die Kontrolle des behördlichen und ggf gerichtlichen Verfahrens soll hier Defizite in der inhaltlichen Überprüfung kompensieren. Der Gedanke, dass Grundrechte zu ihrer Verwirklichung und Sicherung auch Verfahrensgarantien umfassen, ist aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt.82
75 Die Parallele betont EGMR, EuGRZ 1995, 530, Rn 51 – López Ostra = JK 5/96, EMRK Art 8/2; NVwZ 2001, 547, Rn 61 – Ciliz; NJW 2003, 2145, Rn 40 – Odièvre. 76 EGMR, NJW 2004, 2647, Rn 56 ff – von Hannover = JK 4/05, EMRK Art 8/4; gegen BVerfGE 101, 361, 379 ff; dazu Heldrich NJW 2004, 2634 ff; Klass AfP 2007, 517. 77 Dazu allgem Brötel DEuFamR 1999, 143 ff. 78 EGMR, Series A, Vol 121, Rn 62 ff – W; NVwZ 2001, 547, Rn 66–71 – Ciliz; EuGRZ 2004, 669, Rn 52 f – Gorgulu; Wittinger (Fn 34) 282. 79 EGMR, NJW 2001, 2315, Rn 52 – Elsholz; (Große Kammer) EuGRZ 2004, 711, Rn 68 ff – Sommerfeld. 80 EGMR, Urt v 24.4.2003, Rn 60 – Sylvester. 81 EGMR (Große Kammer), NVwZ 2004, 1465, Rn 103 f, 128 – Hatton. 82 v Münch in: v Münch/Kunig (Fn 50) Vorbem Art 1–19 Rn 25–27.
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Die Konvention enthält allerdings mit Art 6 I EMRK auch spezielle, weit reichende Verfahrensgarantien (→ dazu § 6 Rn 35 ff). Systematische Argumente sprechen dafür, Verfahrensgarantien vorrangig aus Art 6 EMRK abzuleiten. Die Annahme eigener, ungeschriebener Verfahrensgarantien aus Art 8 EMRK ist insoweit weitgehend überflüssig. Der EGMR geht jedoch eher den umgekehrten Weg. Zunächst wird ein Verstoß gegen Art 8 EMRK vor allem mit einem unzulänglichen Verfahren begründet.83 Anschließend wird knapp dargelegt, dass dieselben Umstände auch einen Verstoß gegen Art 6 I EMRK begründen,84 oder diese Vorschrift wird überhaupt nicht mehr geprüft.85 Art 6 I EMRK verliert damit seine eigenständige Bedeutung. Keine Konkurrenzprobleme stellen sich dort, wo der EGMR aus Art 8 EMRK Anforderungen an das Verwaltungsverfahren ableitet, wie im Fall Hatton hinsichtlich des Lärmschutzes am Flughafen Heathrow.86 Lösung Fall 1: Da M bei seinen Eltern lebt, wird er vom Recht auf Achtung seines Familienlebens nach Art 8 I EMRK geschützt. Soweit sein sonstiges Lebensumfeld in München betroffen ist, kann er den Schutz seines Privatlebens geltend machen.87 Da die behördliche Ausweisung darauf abzielt, ihm die Fortsetzung des Familien- und Privatlebens in München unmöglich zu machen, greift sie in beide Schutzbereiche ein. Die Rechtfertigung bestimmt sich nach Art 8 II EMRK. § 56 II 2 AufenthG genügen den konventionsrechtlichen Anforderungen an ein Gesetz. Als legitimes Ziel kommt vor allem die Verhütung von Straftaten in Betracht. Man mag auch an die Aufrechterhaltung der Ordnung oder an den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer denken. Zweifelhaft ist, ob die Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Die Frage nach einem dringenden sozialen Bedürfnis führt zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hier muss sich die Prüfung auf die knappen Angaben des Sachverhalts beschränken. Angesichts der bish Straftaten erscheint es wahrscheinlich, dass M auch in Zukunft Straftaten begehen würde. Die Ausweisung ist ein geeignetes Mittel, weitere Straftaten in Deutschland zu verhindern. Angesichts der langen Liste von Vortaten ist kaum anzunehmen, dass es ein milderes, gleich geeignetes Mittel gibt. Fallentscheidend ist damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, bei der das konventionsrechtlich geschützte Bleibeinteresse des M gegen das öffentliche Ausweisungsinteresse abzuwägen ist. Die ungewöhnliche Häufung von teilweise schwerwiegenden Straftaten spricht für die Ausweisung. Andererseits ist M trotz seiner fremden Staatsangehörigkeit materiell Inländer. Er hat nur in Deutschland gelebt und spricht kaum Türkisch, so dass offenbar Deutsch seine Muttersprache ist.88 Eine Ausweisung würde ihn vergleichbar treffen wie einen Deutschen. Wäre er Deutscher, könnte ihn Deutschland trotz seiner Straftaten nach Art 3 I 4. ZP EMRK nicht ausweisen. Deutsche Staatsgewalt müsste dem Problem dann allein mit den Mitteln des Strafrechts einerseits und der Jugendhilfe andererseits begegnen. Allein die fehlende deutsche Staatsangehörigkeit rechtfertigt es nicht, M als materiellen Inländer anders zu behandeln. Der Fall weist Parallelen zur Sache Mehemi auf, in der der EGMR die Abschiebung eines straffälligen Ausländers der zweiten Einwanderergenera-
83 EGMR, NJW 2001, 2315, Rn 52 f – Elsholz. 84 EGMR, NJW 2001, 2315, Rn 66 – Elsholz. 85 EGMR, NJW 2004, 3401, Rn 108 – Haase; dahin gehend a Brötel RabelsZ 63 (1999), 580 (593): Spezialität von Art 8 EMRK. 86 S o Fn 81. 87 S a EGMR, DVBl 2007, 689, Rn 59 – Üner. 88 Zur Relvanz dieser Kriterien EGMR, InfAuslR 2007, 325, Rn 64 f – Kaya.
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tion als unverhältnismäßig ansah.89 Freilich betont der EGMR, dass auch die Ausweisung eines Einwanderers der zweiten Generation nicht von vornherein unzulässig sei.90
2. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9 EMRK) a) Schutzbereich Art 9 EMRK ist die Parallelbestimmung zu Art 4 I, II GG. Geschützt werden Gedanken, Gewissen, Religion und Weltanschauung. Allgem anerkannte Definitionen, wie es sie für die Parallelbegriffe des Grundgesetzes gibt,91 haben sich für Art 9 EMRK noch nicht herausgebildet.92 Es zeigen sich jedoch erhebliche inhaltliche Übereinstimmungen. Wie bei Art 4 GG wird nicht nur die innere Überzeugung einer Person geschützt (sog forum internum), sondern auch das Bekenntnis nach außen (sog forum externum). Art 4 I, II GG gewährleistet nach Ansicht des BVerfG 93 bekanntlich nicht nur das Bekenntnis ieS, sondern auch das Recht, sein ganzes Leben an den Regeln seines Glaubens oder seiner Weltanschauung auszurichten. Art 9 I EMRK ist insoweit noch deutlicher, indem er das Praktizieren von Bräuchen und Riten ausdrücklich in den Schutzbereich aufnimmt. Will beispielsweise eine Lehrerin aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, so fällt dies ohne weiteres in den Schutzbereich von Art 9 I EMRK.94 Dasselbe gilt für das religiös motivierte Schächten.95 Das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder nach eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu gestalten, wird zusätzlich durch Art 2 S 2 1. ZP EMRK abgesichert.96 Ebenso wie Art 4 GG schützt Art 9 I EMRK neben der positiven Freiheit auch die negative Freiheit, keinen Glauben und keine Weltanschauung zu haben.97 Geschützt werden, wie es der EGMR formuliert, auch Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige.98 Im Übrigen kann die Religionsfreiheit nicht nur von einzelnen Gläubigen geltend gemacht werden, sondern auch von einer Religionsgemeinschaft.99 Insoweit schützt Art 9 EMRK insb die freie innere Organisation einer Religionsgemeinschaft.100 Art 9 EMRK nimmt damit Elemente der Vereinigungsfreiheit (→ § 4 Rn 75 ff)
89 EGMR, NVwZ 1998, 164, Rn 35–37 – Mehemi. 90 EGMR, DVBl 2007, 689, Rn 55 – Üner; FamRZ 2006, 1351, Rn 56 –58 – Keles; s a die Analyse der einschlägigen EGMR-Rspr in BVerfG (Kammer), NVwZ 2004, 852, 853 f. 91 Dazu Mager in: v Münch/Kunig (Fn 50) Art 4 Rn 12 ff. 92 Zur konventionsrechtlichen Kasuistik s schon o Rn 4. 93 BVerfGE 32, 98, 106 f; krit Mager in: v Münch/Kunig (Fn 50) Art 4 Rn 17. 94 S EGMR, NJW 2001, 2871, 2872 – Dahlab = JK 2/02, EMRK Art 9/1; dazu Schöbener JURA 2003, 186 ff; VG Stuttgart, NVwZ 2000, 959, 960 = JK 2/01, GG Art 4 I, II/18. 95 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 73 f – Cha’are Shalom Ve Tsedek; dazu rechtsvergleichend Pabel EuGRZ 2002, 220 ff. 96 Dazu Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel in der EMRK, 1998, 139, 153 f. 97 Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 55. 98 EGMR, NJW 2001, 2871, 2872 – Dahlab = JK 2/02, EMRK Art 9/1. 99 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 72 – Cha’are Shalom Ve Tsedek; Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 43, 61; Walter in: Grote/Marauhn, KK, 17. Kap Rn 92. 100 Muckel DÖV 2005, 191, 195.
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in sich auf.101 Die Versagung des Körperschaftsstatus nach Art 140 GG iVm Art 137 V 2 Weimarer Reichsverfassung fällt daher ebenso in den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit wie die Frage eines muslimischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach nach Art 7 III GG. Schlechterstellungen gegenüber den christlichen Kirchen sind am Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK (Rn 67 ff) zu messen. b) Beeinträchtigung 32
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Die Feststellung einer Beeinträchtigung kann schwierig sein. Es ergeben sich aber kaum Besonderheiten gegenüber anderen Menschen- und Grundrechten. Parallelen zum GG zeigen sich auch hier. Beispielsweise sah der EGMR in der Versagung einer Schächtgenehmigung keinen Eingriff, weil die Gläubigen ausreichend Möglichkeiten hatten, sich aus anderen Quellen mit koscherem Fleisch zu versorgen.102 Das BVerwG argumentierte in Hinblick auf Art 4 I, II GG ähnlich, wenngleich strenger und dogmatisch konsequenter. Es stellte darauf ab, dass kein religiöses Gebot den Verzehr von koscherem Fleisch vorschreibe. Wenn der Staat das Schächten verbiete, bleibe den Gläubigen die Möglichkeit, auf Fleischimporte zurückzugreifen oder auf Fleisch ganz zu verzichten.103 Das BVerfG hat diesen restriktiven Eingriffsbegriff allerdings relativiert. Es stellt darauf ab, dass der erzwungene Verzicht auf Fleisch kaum zumutbar und dass bei Fleischimporten die Unsicherheit größer sei, ob das Fleisch tatsächlich den Glaubensgeboten entspreche.104 Damit nähert es sich der Position des EGMR an. Zweifelhaft ist der Eingriffscharakter einer Abschiebung, wenn die Religions-, Gewissens- oder Gedankenfreiheit des Betroffenen in dem anderen Staat nicht gewährleistet ist. Als belastendem Staatsakt kann einer Abschiebung durchaus Eingriffsqualität zukommen, wie sich schon bei Art 8 EMRK gezeigt hat (Rn 17). Der Akt der Abschiebung selbst verhält sich allerdings in Hinblick auf den Schutzbereich von Art 9 EMRK neutral. Dessen Schutzgüter werden erst in dem anderen Staat beeinträchtigt, ohne dass der abschiebende Staat dies beabsichtigen würde. Das spricht dafür, aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht als Eingriff in Art 9 EMRK zu qualifizieren, selbst wenn dem Betroffenen im Ausland eine Beeinträchtigung der Schutzgüter des Art 9 EMRK droht. Das bedeutet nicht, dass solche Fälle konventionsrechtlich irrelevant wären. Vielmehr kann Art 9 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension einer Abschiebung jedenfalls dann entgegenstehen, wenn die Religionsfreiheit im Ausland gravierend beeinträchtigt wird.105 Alternativ mag man daran denken, eine Abschiebung, die den Betroffenen massiven Beschränkungen seiner Religionsfreiheit aussetzt, als unmenschlich im Sinne von Art 3 EMRK zu behandeln und so zu einem Abschiebungsschutz zu kommen (Rn 41 ff).
101 EGMR, EuGRZ 2007, 24, Rn 58 – Moskauer Untergrundorganisation der Heilsarmee; ÖJZ 2008, 865, Rn 60 f – Zeugen Jehovas. 102 EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 80–83 – Cha’are Shalom Ve Tsedek; krit dazu Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 75. 103 BVerwGE 99, 1, 7 f; zust Trute JURA 1996, 462, 465 f. 104 BVerfGE 104, 337, 350 f = JK 6/02, GG Art 4 I/20. 105 So iE a BVerwGE 111, 223, 229 f.
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c) Rechtfertigung Die Rechte des Art 9 I EMRK sind nur zT einschränkbar. Art 9 II EMRK unterwirft die Bekenntnisfreiheit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Beschränkbar ist also nur das forum externum, während das forum internum vorbehalt- und schrankenlos gewährleistet wird.106 Diese Differenzierung ist sinnvoll. Sie trägt der Unantastbarkeit innerer Überzeugungen ebenso Rechnung wie dem Bedürfnis, menschliches Verhalten, das sich auf andere Menschen auswirkt, rechtlichen Regelungen zu unterwerfen. Die Schrankensystematik der Konvention ist der grundgesetzlichen in diesem Punkt überlegen. Art 4 I, II GG wird zwar weitgehend als vorbehaltloses Grundrecht verstanden, dann aber durch verfassungsimmanente Schranken relativiert.107 Art 9 II EMRK gleicht strukturell dem oben (Rn 20 ff) besprochenen Art 8 II EMRK. Die Beschränkung muss gesetzlich vorgesehen sein, und sie muss zum Schutz eines der aufgelisteten legitimen Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Im Fall einer muslimischen Lehrerin, die nur mit Kopftuch unterrichten wollte, hat das BVerfG entschieden, dass es Aufgabe der parlamentarischen Gesetzgebung sei, den grundlegenden Konflikt zwischen Kopftuchgegnern und -befürwortern im demokratischen Willensbildungsprozess zu entscheiden.108 Das BVerfG bringt damit vor allem den Demokratie schützenden Aspekt des Gesetzesvorbehalts zum Tragen. In der EMRK steht weniger die Demokratie im Vordergrund als vielmehr der Schutz individueller Freiheit und damit die rechtsstaatliche, Freiheit sichernde Dimension des Gesetzesvorbehalts. Man wird daher die Strenge, mit der das BVerfG die wesentliche Grundentscheidung dem Parlament vorbehält, nicht auf den Gesetzesvorbehalt der EMRK übertragen können. Dem besonderen Stellenwert der Religionsfreiheit entspricht es, dass der Katalog legitimer Ziele kürzer ist als bei Art 8 II EMRK, doch dürfte diese Begrenzung angesichts der Weite der verbleibenden Rechtfertigungsgründe kaum praktische Bedeutung erlangen.109 Geht es darum, eine muslimische Lehrerin daran zu hindern, mit Kopftuch vor der Klasse aufzutreten, lässt sich beispielsweise an den Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer denken. Will der Staat Schülerinnen und Schüler vor einer religiösen Beeinflussung schützen, verfolgt er ein legitimes Ziel. Der EGMR110 führt daneben den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung an und zeigt damit, wie wenig der Katalog legitimer Ziele als Rechtfertigungsfilter dient. Entscheidend ist die Abwägung, in der das konventionsrechtliche Schutzgut und das legitime Beschränkungsziel zum Ausgleich zu bringen sind,111 wobei den staatlichen Stellen ein Beurteilungsspielraum zukommt. In einem streng laizistischen Staat wie der Türkei hat der EGMR sogar ein Kopftuchverbot für Studentinnen an Universitäten als gerechtfertigt erachtet.112 Auf Deutschland wird sich diese Entscheidung nicht übertragen lassen. Zum einen sind Staat und Religion in Deutschland weniger konsequent getrennt. Zum
106 Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Fn 96) S 141, 152; Walter in: Grote/Marauhn, KK, 17. Kap Rn 109; aA Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 80. 107 Krit dazu Mager in: v Münch/Kunig (Fn 50) Art 4 Rn 93. 108 BVerfGE 108, 282, 310 ff = JK 4/04, GG Art 4 I, II/29; dazu Baer/Wrase JuS 2003, 1162. 109 S a Grabenwarter in: IntEMRK, Art 9 Rn 82. 110 EGMR, NJW 2001, 2871 – Dahlab = JK 2/02, EMRK Art 9/1; dazu Schöbener JURA 2003, 186 ff. 111 Zur Praxis des EGMR Dujmovitis in: Grabenwarter/Thienel (Fn 96) S 141 ff. 112 EGMR (Große Kammer), NVwZ 2006, 1389, Rn 112 ff – Leyla Sahin; dazu Pabel EuGRZ 2006, 3, 4 f.
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Anderen trifft ein Kopftuchverbot in Deutschland eine religiös-kulturelle Minderheit, sodass Menschenrechte ihre Minderheiten schützende Funktion entfalten müssen. Andererseits werden Bekleidungsvorschriften für Lehrkräfte, die den Staat repräsentieren, leichter zu rechtfertigen sein als solche für Studierende.
II. Schutz der persönlichen Integrität 1. Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung (Art 3 EMRK) 38
Fall 2: (EGMR, NVwZ 1998, 161, Rn 50–53 – D) Der AIDS-kranke Drogenkurier D verbüßt eine Haftstrafe im Vereinigten Königreich. Dort wird seine Krankheit gut behandelt. Nach Ende seiner Haft soll D in seinen karibischen Heimatstaat St. Christopher und Nevis abgeschoben werden. Dort ließe sich seine AIDSTherapie und Pflege nicht fortsetzen. Der Abbruch würde seine Lebenserwartung drastisch verringern. Darf D abgeschoben werden?
a) Schutzbereiche 39
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Art 3 EMRK verbietet Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Im Grundgesetz findet diese Vorschrift keine unmittelbare Entsprechung. Sie weist sowohl Bezüge zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit iSv Art 2 II 1 GG als auch einen besonderen Menschenwürdegehalt 113 auf. Einerseits erfasst Art 3 EMRK nicht jede Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit. So wird die Anordnung und Durchführung einer Blutprobe bei Verdacht auf Trunkenheit am Steuer schon vom Schutzbereich nicht erfasst. Insoweit kann freilich der oben (Rn 3 ff) behandelte, sehr weite Schutz des Privatlebens nach Art 8 I EMRK eingreifen.114 Andererseits kann eine Behandlung erniedrigend sein, selbst wenn sie die körperliche Unversehrtheit nicht beeinträchtigt. So würde etwa ein rassendiskriminierendes Gesetz, das Angehörige einer bestimmten Volksgruppe zwingt, in der Öffentlichkeit ein Erkennungszeichen zu tragen, von Art 3 EMRK erfasst.115 Unter dem Grundgesetz wäre insoweit neben Art 3 III 1 GG das allgem Persönlichkeitsrecht nach Art 2 I iVm Art 1 I GG einschlägig. Eine Definition der Folter findet sich in Art 1 I 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984.116 Folter ist danach „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zB um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit
113 Meyer-Ladewig NJW 2004, 981, 982; s a die ausf rechtsvergleichende Analyse z Konzept der Menschenwürde in Schlussanträge GA Stix-Hackl, Slg 2004, I-9609, Rn 74 ff – Omega. 114 Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 8 Rn 14. 115 S a Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 3 Rn 9. 116 BGBl II 1990, 246.
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deren ausdrücklichem oder stillschweigenden Einverständnis verursacht werden“. Die Definition des UN-Übereinkommens ist für die Auslegung der EMRK nicht verbindlich. Dennoch wird man sie grundsätzlich als gelungene Begriffsbestimmung übernehmen können. Auch der EGMR bezieht sich auf sie.117 Drei Kriterien sind hervorzuheben: (1) Eine Beeinträchtigung muss eine hohe Intensität erreichen, um als Folter qualifiziert werden zu können. (2) Hinzu kommen muss ein finales Element. Wer foltert, will auf den Willen des Gefolterten oder eines Dritten einwirken, sei es, um ein Geständnis zu erpressen, sei es, um Andere zu terrorisieren, zu verschrecken oder zu verunsichern. (3) Schließlich muss das Verhalten zumindest mittelbar einem Staat zugerechnet werden können. Folter in diesem engen Sinn ist in EMRK-Staaten selten. Immerhin kann es auch hier insb im Polizeigewahrsam zu Übergriffen kommen, die als Folter zu qualifizieren sind.118 Unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen müssen ebenfalls eine gewisse Schwere erreichen, bleiben aber unterhalb der Schwelle der Folter. Unmenschlichkeit und Erniedrigung stehen ihrerseits in einem Stufenverhältnis, wobei die erniedrigende Behandlung die schwächste Stufe darstellt. Eine klare Abgrenzung zwischen den Alternativen der Unmenschlichkeit und der Erniedrigung ist aber weder erforderlich noch möglich. Das Feststellen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verlangt eine Einzelfallwertung. Wichtige Kriterien sind die Intensität und die Dauer der Beeinträchtigung.119 Im Laufe der Zeit haben sich Fallgruppen herausgebildet. Schon 1978 wurde die staatliche Prügelstrafe auf der Isle of Man im Fall Tyrer als erniedrigend qualifiziert.120 Im Fall Soering entschied der EGMR 1989, dass die langjährige Haft in einer Todeszelle angesichts der Haftbedingungen im Widerspruch zu Art 3 EMRK stehen könne.121 2006 verurteilte der EGMR die Praxis einiger deutscher Länder, Drogenkurieren, die bei der Festnahme Drogenpäckchen verschluckten, zu Beweiszwecken zwangsweise ein Brechmittel zu verabreichen.122 In den letzten Jahren ist das Anwendungsfeld von Art 3 EMRK zudem in Abschiebungsfällen ausgedehnt worden. Eine Abschiebung kann namentlich dann konventionswidrig sein, wenn dem Abzuschiebenden im Heimatstaat staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung droht.123 Voraussetzung ist freilich das Vorliegen „substanzieller Gründe“, die eine „tatsächliche Gefahr“ darlegen.124 Die Begriffe des Art 3 EMRK unterliegen dabei einer dynamischen Auslegung.125 Sie bringen einen gemeineuropäischen Wertmaßstab zum Ausdruck, der sich fortentwickelt. Was, wie die Prügelstrafe auf der Isle of
117 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 114 – Salman. 118 S zB EGMR, NJW 2001, 56, Rn 96–105 – Selmouni; NJW 2001, 2001, Rn 114 f – Salman. 119 S EGMR, NJW 2006, 3117, Rn 67 – Jalloh; EuGRZ 2008, 21, Rn 43 – Testa; Bank in: Grote/ Marauhn, KK, 11. Kap Rn 16 f. 120 EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 29–35 – Tyrer. 121 EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 105–111 – Soering = JK 5/90, EMRK Art 3/1; s a EGMR, EuGRZ 2007, 141, Rn 120 ff – Ramirez Sanchez; Irmscher EuGRZ 2007, 135 ff zur Einzelhaft. 122 EGMR, NJW 2006, 3117, Rn 67 ff – Jalloh; dazu Safferling JURA 2008, 100 ff; Schuhr NJW 2006, 3538 ff; ausf Pollähne/Kemper Kriminologisches Journal 2007, 185 ff. 123 Kälin in: Hailbronner/Klein (Hrsg) Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, 1999, 49, 54 f. 124 Trechsel in: Barwig/Brinkmann ua (Hrsg) Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat, 1996, 223, 237–240; s a EGMR, NVwZ 1998, 163, Rn 37 – H.L.R. 125 Kälin in: Hailbronner/Klein (Fn 123) S 57 ff; dagegen im ausländerrechtlichen Zusammenhang krit Hailbronner DÖV 1999, 617, 620 f.
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Man, bei der Schaffung der EMRK 1950 vielleicht noch zulässig war, konnte bereits 1978 als erniedrigend erscheinen.126 Gerade bei Übergriffen in Polizeigewahrsam stellen sich häufig Beweisfragen. An sich ist das relevante staatliche Verhalten positiv festzustellen. Bei Misshandlungen in Polizeigewahrsam ist die Sicherung der nötigen Beweise allerdings vielfach fast nur dem beschuldigten Staat möglich. Daher arbeitet der EGMR hier seit einigen Jahren mit einer Beweiserleichterung. Ist eine Person bei der Ingewahrsamnahme guter Gesundheit und verlässt sie den Gewahrsam mit Verletzungen, so obliegt es dem Staat, dafür eine plausible Erklärung zu liefern.127 Vermag er das nicht, stellt der EGMR eine Verletzung von Art 3 EMRK fest. Der Sache nach handelt es sich um einen Anscheinsbeweis.128 Den Staaten wird damit die Obliegenheit auferlegt, Verletzungen während der Haft und ihre Ursachen zu dokumentieren, um einer Verurteilung wegen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu entgehen. b) Beeinträchtigung
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Folter liegt schon begrifflich nur vor, wenn staatliche Organe Schmerzen oder Leiden zufügen. Auch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe muss vom Staat ausgehen, damit eine Beeinträchtigung vorliegt. Umstritten ist, ob und wann aufenthaltsbeendende Maßnahmen als Eingriff gewertet werden können. Auf das Verhalten des Drittstaats wird man entgegen der Auffassung des 9. Senats des BVerwG129 kaum abstellen können. Dieser ist häufig nicht einmal Vertragsstaat der EMRK. Außerdem geht es nicht um sein konventionswidriges Verhalten, sondern um die Konventionswidrigkeit der Auslieferung oder Abschiebung.130 Maßgebend ist, ob die Auslieferung oder Abschiebung in Anbetracht ihrer Folgen unmenschlich oder erniedrigend ist.131 Gegen eine solche Qualifizierung mag man einwenden, dass der ausliefernde oder abschiebende Staat die Bedrohung in dem anderen Staat nicht zu verantworten habe. Dann ließe sich der Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht über die Eingriffsabwehrfunktion des Art 3 EMRK begründen, sondern nur über eine Schutzpflichtdimension.132 Auch dieser Weg scheint aber nicht richtig. Für eine Schutzpflicht wäre das Vorverhalten des Konventionsstaates in Form der aufenthaltsbeendenden Maßnahme unerheblich. Was die Konvention ächtet, ist aber gerade die aufenthaltsbeendende Maßnahme, die den Betroffenen unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen aussetzt. Dieses staatliche Tun ist daher als Beeinträchtigung zu werten. Stellt man in dieser Weise auf das Verhalten des Konventionsstaates ab, ist es unerheblich, von wem die
126 EGMR, EuGRZ 1979, 163, Rn 31 – Tyrer. 127 EGMR, EuGRZ 1996, 504, Rn 34 – Ribitsch; NJW 2001, 56, Rn 87 – Selmouni; dazu Rudolf EuGRZ 1996, 497 ff. 128 Rudolf EuGRZ 1996, 497, 500 f. 129 BVerwGE 99, 331, 334 f; 105, 187, 188 ff; 111, 223, 227 – überholt durch Art 6 lit c RL 2004/ 83/EG, ABl EU Nr L 304, 12; dazu Hruschka/Lindner Der internationale Schutz nach Art 15b und c Qualifikationsrichtlinie im Lichte der Maßstäbe von Art 3 EMRK und § 60 VII AufenthG, NVwZ 2007, 645 ff. 130 Trechsel in: Barwig/Brinkmann (Fn 124) S 234. 131 Bank in: Grote/Marauhn, KK, 11. Kap Rn 106; Kälin in: Hailbronner/Klein (Fn 123) S 63–67. 132 Zu diesem Ansatz Jaeckel (Fn 56) S 162 f.
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Gefahr im Drittstaat ausgeht.133 Verfolgung durch den Drittstaat macht die Auslieferung oder Abschiebung durch den Konventionsstaat ebenso konventionswidrig wie die Verfolgung durch andere Personen oder sonstige unmenschliche Lebensbedingungen. c) Rechtfertigung Die Garantie des Art 3 EMRK ist vorbehaltlos und ausweislich Art 15 II EMRK auch notstandsfest. Gibt es einen hinreichenden Grund, in die körperliche Unversehrtheit einzugreifen, wird der Eingriff regelmäßig schon nicht als unmenschlich, als erniedrigend oder gar als Folter zu qualifizieren sein. Fällt eine Behandlung dagegen in den Schutzbereich des Art 3 EMRK, steht zugleich ihre Konventionswidrigkeit fest. Art 3 EMRK hat in diesem Sinne einen absoluten Charakter.134 Eine Parallele zur deutschen Figur verfassungsimmanenter Schranken kennt die EMRK nicht.135 Diese Figur ist Ausdruck einer unzulänglichen Schrankensystematik des Grundgesetzes. Dieses enthält mehrere vorbehaltlose Grundrechte, die offenkundig gewissen Schranken unterliegen müssen. Demgegenüber weisen die Garantien der EMRK wesentlich weiter gehende Schrankenvorbehalte auf, die immanente Schranken überflüssig machen. Art 3 EMRK ist dagegen ein Recht, das nicht nur vorbehaltlos garantiert ist, sondern auch schrankenlos. Einschränkungen werden für seltene Ausnahmefälle diskutiert. Ein realer Fall hat sich 2002 in Frankfurt/Main ereignet.136 Der dortige Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner drohte dem Entführer von Jakob v. Metzler, Magnus Gäfgen, Folter an, damit dieser das Versteck des entführten Jungen preisgab. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Junge längst getötet worden war. Andere Szenarien betreffen Terroranschläge. In Hinblick auf Art 1 I GG wird erwogen, in solchen Fällen die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Würde der Opfer gegen die Menschenwürde des Täters abzuwägen.137 Dieser Vorschlag rührt am Dogma der Absolutheit und Unabwägbarkeit der Menschenwürde. Auf die EMRK lässt er sich schon deshalb nicht übertragen, weil eine Dogmatik konventionsimmanenter Schranken angesichts der weitgehend stimmigen Schrankensystematik der EMRK mit gutem Grund nicht entwickelt worden ist. Zudem spricht die Missbrauchsgefahr gegen jeden Versuch, Folter auch nur in Ausnahmesituationen zu legalisieren. Jedenfalls kann es nicht angehen, beispielsweise zur Abwehr möglicher Terroranschläge gleichsam auf Verdacht zu foltern. Es ist bezeichnend, dass Folter letztlich auch im Frankfurter Fall ein objektiv untaugliches Mittel zur Rettung des Entführten war. Eher ist zu erwägen, in extremen Ausnahmefällen auf eine strafrechtliche Ahndung zu verzichten.138 Im Fall Daschner hat der EGMR den absoluten Charakter von Art 3 EMRK bekräftigt, sah aber
133 Gusy ZAR 1993, 63, 66; s a Alleweldt Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996, 15, 26. 134 EGMR, NJW 2001, 56, Rn 95 – Selmouni. 135 Jacobs/White (Fn 51) S 299. 136 Z Sachverhalt Schmahl/Steiger AVR 43 (2005), 358; Welsch BayVBl 2003, 481, 482. 137 Wittreck DÖV 2003, 873, 879 ff. 138 Dahingehend Wittreck DÖV 2003, 873, 876; eher ablehnend Hilgendorf JZ 2004, 331, 338 f; s a Art 4 ff der UN-Folterkonvention (Fn 116), die den Staat verpflichten, Folter als Straftat zu verfolgen.
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die strafrechtliche Verurteilung des Polizeivizepräsidenten durch das LG Frankfurt/ Main139 als ausreichende Ahndung der Konventionsverletzung an.140 d) Schutzmechanismen 46
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Konventionsverletzungen können nach Art 33 ff EMRK mit der Beschwerde vor dem EGMR gerügt werden (→ § 2 Rn 49 ff). Für Art 3 EMRK gilt insoweit nichts Besonderes. Dieser Schutz greift allerdings nur ein, wenn eine individuelle Verletzung festgestellt werden kann. Erfahrungsgemäß drohen Verletzungen von Art 3 EMRK bes dort, wo staatliche Stellen Personen in Gewahrsam halten. Gerade in diesen Situationen ist der Nachweis von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bes schwierig. Zudem werden eingeschüchterte Betroffene sich häufig scheuen, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen.141 Auf die Beweisprobleme hat der EGMR mit der oben (Rn 42) beschriebenen Beweiserleichterung reagiert. Unabhängig davon erschien es sinnvoll, den Schutz von Personen in staatlichem Gewahrsam durch ein zusätzliches, präventives Verfahren zu sichern. Zu diesem Zweck wurde am 26.11.1987 das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe abgeschlossen.142 Materiellrechtlich knüpft das Übereinkommen in seiner Präambel und mit seiner Wortwahl an das Verbot des Art 3 EMRK an.143 Verfahrensrechtlich schafft es einen Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.144 Der Ausschuss ist mit unabhängigen Mitgliedern aus allen Vertragsstaaten besetzt.145 Seine Aufgabe ist es, Gefängnisse und andere Haftorte zu besuchen und darüber Berichte anzufertigen.146 Dabei hat er zT alarmierende Zustände aufgedeckt, aber auch Verbesserungen bewirken können.147 Die Schutzmechanismen der EMRK werden durch das Übereinkommen von 1987 nur ergänzt, nicht geschmälert.148 Lösung Fall 2: Die Abschiebung des D könnte als unmenschliche Behandlung gegen Art 3 EMRK verstoßen. Entgegen der Auffassung des BVerwG149 kommt es dabei nicht darauf an, ob dem Betroffenen eine unmenschliche Behandlung durch seinen Heimatstaat droht. Maßgeblich ist allein, ob das Verhalten britischer Staatsgewalt als unmenschlich zu qualifizieren ist. Eine Abschiebung des D hätte konkret vorhersehbare, gravierende Folgen. Eine Abschiebung ist zwar nicht schon dann unmenschlich, wenn eine Krankheit im Inland besser behandelt wer-
139 LG Frankfurt/Main, NJW 2005, 692 ff. 140 EGMR, EuGRZ 2008, 466, Rn 63 ff, 75 ff – Gäfgen = JK 1/09 EMRK Art 3/3; dazu Esser NStZ 2008, 657 ff; s a Schmahl/Steiger AVR 43 (2005), 358 ff; zu einem möglichen Schadensersatzanspruch mit Folter bedrohten Entführers Gäfgen BVerfG (Kammer), NJW 2008, 1060 (1062). 141 Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 246. 142 BGBl II 1989, 946; geänd durch zwei Zusatzprotokolle v 4.11.1993, BGBl II 1996, 1114. 143 Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 248. 144 Art 1 des Übereinkommens. 145 Art 4 f des Übereinkommens. 146 Art 7 ff des Übereinkommens. 147 S die Würdigung von Alleweldt EuGRZ 1998, 245, 249 ff; speziell zur Türkei ders EuGRZ 2000, 193 f. 148 Art 17 II des Übereinkommens. 149 BVerwGE 99, 331, 334 f; 105, 187, 188 ff; 111, 223, 227.
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den kann als in dem anderen Staat.150 Hier würde D aber mit Sicherheit einem nahen Tod ausgesetzt. Unter heutigen Bedingungen wird man davon ausgehen können, dass ein staatlicher Akt, der die Fortsetzung einer lfd, lebensnotwendigen medizinischen Behandlung unmöglich macht, grundsätzlich unmenschlich ist. Die Abschiebung beeinträchtigt damit Art 3 EMRK. Da eine Beeinträchtigung dieser Garantie nicht zu rechtfertigen ist, darf D nicht abgeschoben werden. Für Deutschland stellt § 60 V AufenthG klar,151 dass ein entspr Abschiebungshindernis auch innerstaatlich zu beachten ist.
2. Recht auf Leben (Art 2 EMRK) Fall 3: Terroristen haben sich in einer Wohnung verschanzt. Die Polizei sperrt den Bürgersteig vor dem Wohnhaus, bevor ein Sondereinsatzkommando das Gebäude stürmt. Dabei kommt es zu einem Schusswechsel, in dessen Verlauf eine unbeteiligte Passantin auf der gegenüberliegenden Straßenseite tödlich getroffen wird, bevor die Terroristen den Tod finden. Ermittlungen wegen des Todes der Passantin werden innerhalb kurzer Zeit mit der Begr eingestellt, dass der tödliche Schuss von den Terroristen abgegeben worden sei. Die tödliche Kugel wird nicht gefunden. Tatzeugen und namentlich die beteiligten Polizisten werden nicht vernommen. Alle Versuche des Ehemanns der getöteten Passantin, eine gerichtliche Klärung des Vorfalls zu erreichen, bleiben erfolglos. Als er Beschwerde zum EGMR erhebt, erklärt die Reg, dass die Umstände des Todes der Passantin nicht mehr aufklärbar seien. Wie wird der EGMR entscheiden?
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a) Schutzbereich Art 2 I 1 EMRK schützt menschliches Leben. Der Schutz besteht bis zum Tod. Es erscheint sachgerecht, dabei auf den Hirntod abzustellen. Schwieriger ist der Beginn des Schutzes zu bestimmen. Geschützt werden jedenfalls geborene Menschen. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist umstritten. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat einen Schutz unter Hinweis auf die Schranken abgelehnt.152 Es wäre unverständlich, so der Verfassungsgerichtshof, wenn zwar sogar geborene Menschen unter Umständen getötet werden dürften, die Tötung ungeborenen Lebens hingegen selbst im Falle besonderer Indikation ausgeschlossen sei. Gegen diese Argumentation spricht, dass die Schrankenbestimmungen nur im Falle staatlicher Eingriffe Anwendung finden.153 Nimmt ein privater Arzt auf Wunsch der Schwangeren einen Schwangerschaftsabbruch vor, liegt kein Eingriff vor. Art 2 I 2, II EMRK stünden einer Abtreibung durch Private also nicht entgegen. Damit gibt es keinen durchgreifenden Grund, ungeborenes menschliches Leben aus dem Schutzbereich auszuklammern.154 Dennoch hat sich die Große Kammer des EGMR im Fall Vo gegen Frankreich der restriktiven Position iE angeschlossen. Solange ein gemeineuro-
150 151 152 153 154
EGMR, NVwZ 2005, 1043, 1044 f – Dragan. Z rein deklaratorischen Charakter der Vorschrift BVerwGE 99, 331, 333. Österreichischer VerfGH, EuGRZ 1975, 74, 78. Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 96) S 21, 37 f. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 2 Rn 3; anders allerdings Kneihs in: Grabenwarter/ Thienel (Fn 96) S 40 f.
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päischer Konsens fehle, falle es in den Beurteilungsspielraum der einzelnen Staaten, den Beginn des Lebens zu bestimmen.155 Wenn angesichts neuer medizinisch-technischer Entwicklungen wie der Stammzellenforschung gemeinsame Standards der europäischen Staaten nicht einmal ansatzweise erkennbar sind, kann es in der Tat nicht Aufgabe des EGMR sein, in diesem Bereich eine Vorreiterrolle zu übernehmen.156 Gleichwohl begegnet die Lösung des EGMR Bedenken. Die Figur des Beurteilungsspielraums hat ihre Berechtigung auf der Rechtfertigungsebene.157 Hier wird jedoch der Schutzbereich zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt, obwohl Einigkeit bestehen dürfte, dass auch ungeborenes Leben nicht völlig schutzlos sein darf. Im Gegensatz zu anderen Freiheitsrechten umschließt Art 2 I 1 EMRK nicht die negative Freiheit, nicht zu leben.158 Ebenso wenig wie unter dem Grundgesetz159 umfasst das Recht auf Leben unter der EMRK ein Recht auf Selbstmord oder auf aktive Sterbehilfe. Das schließt nicht aus, dass die Selbstbestimmung über das eigene Leben in den Schutzbereich von Art 8 I EMRK fällt.160 Ein Staat kann jedoch die Sterbehilfe nach Art 8 II EMRK zum Schutz des Lebensrechts der anderen Person beschränken.161 Da das Lebensrecht nach Art 2 I 1 EMRK unverzichtbar ist, darf sich der Staat beim Verbot der Sterbehilfe auch über den Willen des Sterbewilligen hinwegsetzen. Dabei kann vor allem die Missbrauchsgefahr ein Grund dafür sein, Sterbehilfe zu verbieten. Eine räumliche Einschränkung erfährt der Schutzbereich wie bei jedem Konventionsrecht durch Art 1 EMRK (→ dazu § 2 Rn 51). Diese Einschränkung ratione loci wird vor allem bei Militäreinsätzen im Ausland relevant. Der EGMR hat sich in Zusammenhang mit den NATO-Angriffen auf Belgrad im Zuge des Kosovo-Konflikts im Fall Bankovic´ grundsätzlich zu der Frage geäußert.162 Art 1 EMRK beschränkt den Anwendungsbereich der Konvention auf solche Personen, die der Hoheitsgewalt der Konventionsstaaten unterstehen. Die deutsche Übersetzung ließe sich vom Wortlaut her dahin verstehen, dass jede faktische Auswirkung mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt der Konvention unterfällt. Dann wäre allerdings die ausdrückliche Anknüpfung an die Hoheitsgewalt in Art 1 EMRK überflüssig. Der Zusatz würde nur besagen, dass die Verantwortlichkeit stets bei einem staatlichen Verhalten ansetzt. Das versteht sich von selbst.163 Im Übrigen ist allein der Originaltext maßgeblich. Im Englischen heißt es „jurisdiction“, im Französischen „juridiction“. Diese Begriffe bezeichnen eher die staatliche Regelungskompetenz. Da die Hoheitsgewalt eines Staates rechtlich vor allem territorial begrenzt wird, fallen extraterri-
155 EGMR, NJW 2005, 727, Rn 81 ff – Vo; bestätigt durch EGMR, EuGRZ 2006, 389, Rn 46 – Evans; krit Groh/Lange-Bertalot NJW 2005, 713 ff; Lux-Wesener EuGRZ 2005, 558 ff; Pichon GLJ 7 (2006), 433, 439 f. 156 Zur Zurückhaltung der Konventionsorgane Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Hrsg) Development and Developing International and European Law, 1999, 671, 672 f. 157 Peters EMRK, 25. 158 EGMR, NJW 2002, 2851– Pretty = JK 4/03, StGB § 216/5, Rn 39 f; dazu Fassbender JURA 2004, 115 ff. 159 Dazu Kunig in: v Münch/Kunig (Fn 50) Art 2 Rn 50. 160 Zur Weite dieses Schutzbereichs schon o Rn 3 ff. 161 EGMR, NJW 2002, 2851 – Pretty = JK 4/03, StGB § 216/5, Rn 68 ff. 162 EGMR, NJW 2003, 413, Rn 54 ff – Bankovic´ ; dazu grundlegend Jankowska-Gilberg Extraterritorialität der Menschenrechte, 2008, S 42 ff. 163 S Schröder in: Graf Vitzthum, VR, 7. Abschn Rn 14.
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toriale Akte danach nur ausnahmsweise in den Schutzbereich der Konventionsrechte.164 Die Konvention soll damit nach Ansicht des EGMR vorrangig solche Personen schützen, die sich in den europäischen Konventionsstaaten aufhalten, nicht aber das Handeln der Konventionsstaaten weltweit begrenzen. Ein Militäreinsatz im Ausland begründet noch keine Hoheitsgewalt über die dort lebenden Menschen, die den Anwendungsbereich der Konvention nach Art 1 EMRK eröffnen würde. Angriffe im Ausland, die dort Menschen töten, fallen also nicht in den Schutzbereich von Art 2 EMRK.165 Allerdings wird man die gezielte Tötung im Ausland von dieser Regel ausnehmen müssen. Greift ein Staat gezielt auf eine Person zu, beansprucht er Hoheitsgewalt über sie.166 Eröffnet ist der Anwendungsbereich der Konvention auch im Falle der militärischen Besetzung, dh wenn ein Konventionsstaat die Staatsgewalt in einem fremden Gebiet effektiv kontrolliert.167 So hatte der EGMR keine Bedenken, die Türkei für eine Verletzung von Art 2 EMRK in Nordzypern verantwortlich zu machen.168 Die Bankovic´-Rspr hat also Ausnahmecharakter. Sie wird verständlich, wenn man bedenkt, wie schnell der EGMR überfordert wäre, sollte er Militäroperationen außerhalb des Konventionsraumes durchleuchten.169 b) Beeinträchtigung In der Eingriffsabwehrfunktion verbietet Art 2 EMRK Tötungen, die dem Staat zuzurechnen sind. Ein Tötungsvorsatz ist nicht erforderlich.170 Eine Beeinträchtigung liegt insb dann vor, wenn staatlicher Schusswaffengebrauch zum Tode führt, gleichviel ob der Tod beabsichtigt war oder lediglich eine ungewollte Folge ist. Beruht der Tod auf privatem Verhalten oder auf Naturereignissen, liegt kein Eingriff vor. Das gilt etwa in dem oben angesprochenen Fall des Schwangerschaftsabbruchs. Auch wenn ein Privater in Notwehr nach § 32 StGB einen Menschen tötet, liegt kein Eingriff vor.171 Art 2 I 1 EMRK kommt dann nur in seiner Schutzpflichtdimension zum Tragen (dazu u Rn 62 ff). Bleibt unklar, ob eine Tötung von staatlichen Stellen ausgegangen ist, kann eine Beeinträchtigung und damit eine Verletzung von Art 2 EMRK in der Eingriffsabwehrdimension nicht festgestellt werden. Der EGMR verlangt vielmehr, dass die Tötung ohne vernünftigen Zweifel dem Staat zugeordnet werden kann.172 An sich sind die Umstände, die die staatliche Verantwortlichkeit für den Tod begründen, positiv festzustellen. Stirbt eine Person in polizeilichem Gewahrsam, wird ein solcher Nachweis häufig allerdings ähnlich schwer zu führen sein wie in den oben (Rn 42) angesprochenen Fällen von Folter oder unmenschlicher Behandlung. Daher arbeitet der
164 165 166 167 168 169 170 171 172
Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 Rn 4. Krit Breuer EuGRZ 2003, 449, 450 f; Rüth/Trilsch AJIL 97 (2003), 168, 171. Jankowska-Gilberg (Fn 162) S 165 ff. Detailliert Krieger ZaöRV 62 (2002), 669, 673 ff in Hinblick auf Auslandseinsätze der Bundeswehr. EGMR, ECHR 2001-IV, Rn 75 ff, 131 ff – Zypern; in Anknüpfung an EGMR, EuGRZ 1997, 555, Rn 52 ff – Loizidou. Verständnis zeigt daher Shelton Duke Journal of Comparative and International Law 13 (2003), 95, 128. EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 78 – Og˘ ur; NJW 2001, 2001, Rn 98 – Salman. AA Alleweldt in: Grote/Marauhn, KK, 10. Kap Rn 67, der von einer staatlichen Tötungsermächtigung ausgeht. EGMR, Urt v 28.7.1998, Rn 78 – Ergi.
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EGMR hier mit einer Beweislastumkehr.173 Ist eine Person bei der Ingewahrsamnahme guter Gesundheit und weist der Leichnam später Verletzungen auf, so ist es Sache des Staates, dies zu erklären. Vermag er angesichts dieser Indizien nicht nachzuweisen, dass der Tod ohne staatliche Einwirkung eingetreten ist, wird ein Eingriff festgestellt. Fraglich ist, ob die Auslieferung bei drohender Todesstrafe in das Recht auf Leben eingreift. Begnügt man sich damit, dass der ausliefernde Staat eine notwendige Bedingung für eine spätere Verurteilung und Hinrichtung setzt, lässt sich ein Eingriff annehmen. Dafür spricht auch, dass die Auslieferung gerade zum Zwecke der Strafverfolgung und -vollstreckung erfolgt. Liefert der Staat trotz drohender Todesstrafe aus, nimmt er diese Folge zumindest billigend in Kauf. Lässt man den indirekten Zurechnungszusammenhang für eine Tötungshandlung nicht ausreichen, wäre Art 2 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen. Außerdem wäre dann eine Lösung über Art 3 EMRK zu erwägen. Es lässt sich ohne weiteres annehmen, dass eine Auslieferung bei drohender Todesstrafe eine unmenschliche Behandlung darstellt. Der EGMR entschied 1989 im Fall Soering anders.174 Damals hatte aber das Vereinigte Königreich als Beschwerdegegner das 6. Zusatzprotokoll, das die Todesstrafe verbietet, noch nicht ratifiziert. Unter Geltung des 6. Zusatzprotokolls ist anders zu entscheiden.175 c) Rechtfertigung
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Art 2 EMRK enthält keine einheitliche Schrankenbestimmung, sondern mehrere Ausnahmen und Schranken, die auf Abs 1 S 2 und Abs 2 verteilt sind. Die beiden Sätze sind in der sprachlichen Konstruktion nicht gut aufeinander abgestimmt, was die Auslegung erschwert. Ergänzt werden die Schrankenbestimmungen durch das Verbot der Todesstrafe im 6. und 13. Zusatzprotokoll. aa) Einschränkung und Verbot der Todesstrafe
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1950 wurde die Todesstrafe konventionsrechtlich noch nicht verboten. Art 2 I 2 EMRK stellt lediglich besondere Rechtfertigungsanforderungen. Die Verhängung der Todesstrafe steht danach unter Gesetzes- und Gerichtsvorbehalt. Außerdem wird die Verhängung auf Verbrechen, also auf bes schwere Straftaten begrenzt. Das 6. Zusatzprotokoll vom 28.4.1983 schafft die Todesstrafe in Art 1 ab. Verhängung und Vollstreckung sind verboten. Lediglich in Kriegszeiten sind nach Art 2 6. ZP EMRK Ausnahmen zulässig. Ansonsten ist das Verbot nach Art 3 notstands- und nach Art 4 6. ZP EMRK vorbehaltsfest. Das 13. Zusatzprotokoll vom 3.5.2002 176 lässt auch die Ausnahmen für Kriegszeiten entfallen, so dass das Verbot der Todesstrafe absolut gilt. Aufbauend auf dieser Entwicklung hat der EGMR im Fall Öcalan erwogen, die Konventionsstaaten könnten Art 2 I 2 EMRK zumindest hinsichtlich der Erlaubnis der Todesstrafe in Friedenszeiten unabhängig von der konkreten Geltung des 6. ZP EMRK konkludent abbedungen haben.177 Diese Überlegungen sind allerdings dogmatisch höchst problematisch 173 174 175 176 177
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EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 100–103 – Salman. EGMR, EuGRZ 1989, 314, Rn 101–103 – Soering = JK 5/90, EMRK Art 3/1. S a Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 156), S 678. BGBl II 2004, 982. EGMR, EuGRZ 2003, 472, Rn 189–198 – Öcalan; (Große Kammer), NVwZ 2006, 1267, Rn 162–165 – Öcalan; dazu Breuer EuGRZ 2003, 449, 453; Kühne JZ 2003, 670, 673 f; Künzli LJIL 17 (2004), 141, 152 ff.
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und praktisch weitgehend irrelevant, nachdem nur Russland das 6. ZP EMRK noch nicht ratifiziert hat und auch dieser Staat die Todesstrafe nicht mehr anwendet. bb) Verteidigung von Personen Nach Art 2 II lit a EMRK ist eine Tötung gerechtfertigt, wenn sie aus einer Gewaltanwendung folgt, die zur Verteidigung einer Person gegen rechtswidrige Gewalt unbedingt erforderlich ist. Das betrifft vor allem den polizeilichen Schusswaffengebrauch. Es fällt auf, dass die Vorschrift keinen Gesetzesvorbehalt enthält, sondern lediglich materielle Anforderungen normiert.178 Dennoch wird man mit dem EGMR179 davon ausgehen müssen, dass es einer gesetzlichen Regelung bedarf. In materieller Hinsicht stellt Art 2 II lit a EMRK allein auf den Schutz von Personen ab. Die Verteidigung von Sachwerten rechtfertigt tödliche Schüsse nach der Konvention nicht. Fraglich ist, ob Art 2 II EMRK auch einen sog finalen Todesschuss zu rechtfertigen vermag. Dagegen könnte Art 2 I 2 EMRK sprechen. Wird dort die absichtliche Tötung mit Ausnahme der Todesstrafe verboten, scheint Abs 2 nur unbeabsichtigte Tötungen zu erfassen. Es erscheint allerdings kaum stimmig, die rein repressive Tötung eines Menschen im Rahmen des Strafrechts zu erlauben, hingegen die gezielte Tötung zur Rettung anderer Menschenleben ausnahmslos auszuschließen. Abs 2 ist daher als gleichberechtigte Schranke neben Abs 1 S 2 zu lesen. Auch die gezielte Tötung eines Menschen kann durch Art 2 II lita EMRK gerechtfertigt sein.180 Freilich setzt Art 2 II EMRK voraus, dass die Gewaltanwendung „unbedingt erforderlich“ ist. Im Vergleich zu Art 8 II EMRK, wo es heißt, dass der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein muss, stellt Art 2 II EMRK mit dem qualifizierenden „unbedingt“ gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen.181 Der Gewalteinsatz unterliegt damit bes strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. So wird beispielsweise einem gezielten Schuss regelmäßig ein Warnschuss vorauszugehen haben, es sei denn, dass er ausnahmsweise den Verteidigungserfolg konterkarieren würde. Je höher das Risiko ist, dass der Angreifer getötet wird, desto größer muss die abzuwendende Gefahr sein.
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cc) Weitere Schranken Art 2 II EMRK kennt weitere Fälle, in denen staatliche Gewalt, die zum Tode führt, gerechtfertigt ist. Lit b nennt die Gewaltanwendung zur Festnahme oder zur Fluchtverhinderung, lit c die Gewaltanwendung, um Aufruhr oder Aufstand niederzuschlagen. In beiden Fällen gelten die strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, die schon unter Rn 59 angesprochen wurden. Gezielte Todesschüsse werden hier kaum je zu rechtfertigen sein. Eine letzte Ausnahme sieht Art 15 EMRK vor. Die selten angewandte Vorschrift gestattet in ihren Abs 1, 2 unter engen Voraussetzungen die Einschränkung der Konvention im Kriegs- oder Notstandsfall.182 Nach Art 15 II EMRK sind unter diesen Voraussetzun-
178 Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 156) S 681. 179 EGMR, NJW 2005, 3405, Rn 58 – Makaratzis, und dazu Arzt DÖV 2007, 230, 232, 235–237. 180 EGMR, HRLJ 16 (1995), 260 = ÖJZ 1996, 233, Rn 148, 199 f – McCann; Arzt DÖV 2007, 230, 233; Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 96) 33 f. 181 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 78 – Og˘ur; NJW 2001, 2001, Rn 98 – Salman; Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 96), 31 ff. 182 Dazu Ashauer AVR 45 (2007), 400, 409 ff.
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gen auch Tötungen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen zulässig. Die Konvention verweist damit auf die Rechtmäßigkeitsanforderungen des humanitären Völkerrechts, wie sie namentlich in den vier Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 sowie im 1. Zusatzprotokoll zu diesen Konventionen von 1977 niedergelegt sind.183 Bei kriegerischen Auseinandersetzungen außerhalb des Konventionsgebietes bedarf es der speziellen Rechtfertigung über Art 15 EMRK nicht. Sie fallen nach dem oben (Rn 51) Gesagten von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der Konvention. d) Schutzpflichtdimension 62
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Geht der Tod nicht auf staatliches Verhalten zurück, sondern auf privates Verhalten oder auf ein Naturereignis, so ist Art 2 I 1 EMRK in seiner Schutzpflichtdimension angesprochen. Dabei sind nicht nur präventive Maßnahmen z Schutz des Lebens geboten.184 Vielmehr muss der Staat das Leben auch dadurch schützen, dass Tötungen unter Strafe gestellt und verfolgt werden.185 Auf der Ebene des materiellen Strafrechts ist vor allem die Notwehrproblematik umstritten. Grundsätzlich hat der Staat das private Notwehrrecht so zu beschränken, dass das Leben des Angreifers ausreichend geschützt wird.186 Dabei gelten aber nicht die engen Schranken des Art 2 II lit a EMRK (Rn 58 f). So kann unter Umständen auch die Verteidigung von Sachwerten mit lebensgefährlicher Gewalt hingenommen werden, ohne dass der Staat seine Schutzpflicht verletzen würde. Bei einem extremen Missverhältnis zwischen dem verteidigten Rechtsgut und der Lebensbedrohung wird der Staat aber einschreiten müssen. Bei der notwendigen Abwägung kann man sich auch an den Wertungen des Art 2 II EMRK orientieren,187 wenn man berücksichtigt, dass diese Schranken gerade nicht unmittelbar anwendbar sind. In der Gerichtspraxis spielt die konventionsrechtliche Notwehrproblematik nahezu keine Rolle.188 Das mag allerdings auch daran liegen, dass entspr Fälle von vornherein nicht zur Anklage gebracht werden. Der strafrechtliche Schutz darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern er muss effektiv durchgesetzt werden. Das bedeutet insb, dass der Staat dort, wo die Todesursache nicht von vornherein klar ist, eine Untersuchung mit den Ziel einzuleiten hat, die Todesursache zu klären und Beweise zu sichern.189 Die Ermittlungen müssen geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung etwaiger Verantwortlicher zu führen.190 Das setzt namentlich voraus, dass die Untersuchungsbehörde hinreichend unabhängig ist.191 Staatlicher Ermittlun183 Dazu Bothe in: Graf Vitzthum, VR, 8. Abschn Rn 56 ff. 184 Zur Versagung medizinischer Versorgung EGMR, ECHR 2001-IV, Rn 219 – Zypern; zur Überwachung von Industrieanlagen EGMR (Große Kammer), ECHR 2004-XII, Rn 69 ff – Öneryildiz; Xenos German Law Journal 8 (2007), 231 ff. 185 Trechsel in: Benedek/Isak/Kicker (Fn 156) S 673 ff. 186 Das deutsche strafrechtliche Schrifttum nimmt diese Schutzpflichtdimension kaum zur Kenntnis; s Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder (Hrsg), Strafgesetzbuch, 27. Aufl 2006, § 32 Rn 62; Fischer Strafgesetzbuch, 55. Aufl 2008, § 32 Rn 40; sowie Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 51. Aufl 2008, Anh 4 MRK, Art 2 Rn 3; jew mwN. 187 So Kneihs in: Grabenwarter/Thienel (Fn 96) S 38 f; ähnlich Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 2 Rn 2, 11. 188 Uerpmann (Fn 1) S 25 f. 189 EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 104 f – Salman. 190 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 88 – Og˘ ur; NJW 2001, 1989 – Grams. 191 EGMR, NJW 2001, 1991, Rn 91 – Og˘ ur.
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gen bedarf es insb auch dann, wenn eine Person in staatlichem Gewahrsam zu Tode kommt.192 Der EGMR hat damit aus der Schutzpflicht eine Verfahrensdimension abgeleitet, die der des Art 8 EMRK (Rn 28) ähnelt.193 Lösung Fall 3: Man könnte an der Zulässigkeit der Beschwerde zweifeln, weil der Ehemann nicht in seinem eigenen Recht auf Leben verletzt ist. Im Interesse eines effektiven Konventionsrechtsschutzes müssen jedoch auch Verstöße gegen Art 2 EMRK vom EGMR überprüft werden können. Daher sind im Falle der Tötung einer Person nahe Angehörige wie der Ehemann als Opfer im Sinne von Art 34 S 1 EMRK beschwerdebefugt.194 Mit der Tötung der Passantin ist der Schutzbereich nach Art 2 I 1 EMRK eröffnet. Allerdings lässt sich nicht ohne jeden vernünftigen Zweifel feststellen, dass der tödliche Schuss von einem Polizisten abgegeben wurde. Damit fehlt es an einer Beeinträchtigung, die dem Staat zuzurechnen wäre (Rn 52). Art 2 EMRK greift in seiner Eingriffsabwehrfunktion nicht ein. Aus der Konventionsgarantie ergibt sich jedoch auch eine Schutzpflicht (Rn 62). Es liegt nicht fern, dass bei einem Einsatz der vorliegenden Art Querschläger die gegenüberliegende Straßenseite erreichen. Daher hätte die Polizei die Umgebung zum Schutz unbeteiligter Passanten weiträumig absperren müssen. Es sind keine Gründe ersichtlich, die das polizeiliche Unterlassen rechtfertigen könnten. Art 2 EMRK ist somit in seiner Schutzpflichtdimension verletzt. Zudem ergibt sich aus Art 2 EMRK die staatliche Verpflichtung, bei unklaren Todesfällen hinreichende Anstrengung zu unternehmen, um mögliche Täter zu ermitteln (Rn 64). Diese Verpflichtung bestand hier umso mehr, als der tödliche Schuss möglicherweise von staatlichen Organen abgegeben worden war. Dieser Pflicht sind die Strafverfolgungsbehörden, die nicht einmal die beteiligten Polizisten vernommen haben, nicht nachgekommen. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird der EGMR einen Verstoß gegen Art 2 EMRK feststellen.195
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III. Diskriminierungsverbot Fall 4: (EGMR, EuGRZ 1995, 392 ff – Karlheinz Schmidt = JK 4/95, EMRK Art 14/1) In Baden-Württemberg und Bayern bestand bis Mitte der 90er Jahre eine Feuerwehrdienstpflicht für Männer. Männer, die keinen Dienst leisteten, mussten stattdessen eine Abgabe zahlen. Tatsächlich wurde niemand gegen seinen Willen zum Dienst in der Freiwilligen Feuerwehr verpflichtet, doch war die Feuerwehrabgabe ein wichtiges Finanzierungsinstrument. Frauen unterlagen keiner Dienst- und damit auch keiner Abgabenpflicht. Ein Mann aus Baden-Württemberg griff die ihn treffende Abgabenpflicht mit der Beschwerde in Straßburg an.
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EGMR, NJW 2001, 2001, Rn 105 – Salman. Grabenwarter EMRK, § 19 Rn 9. Meyer-Ladewig EMRK, Art 34 Rn 12. S a in einem von der rechtlichen Würdigung her ähnlichen Fall EGMR, Urt v 28.7.1998, Rn 77 ff – Ergi.
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1. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK a) Akzessorietät 67
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Art 14 EMRK ist ein akzessorischer Gleichheitssatz. Er knüpft an den „Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten“ an und greift daher nur ein, wenn ein anderes Recht der Konvention zumindest vom Schutzbereich her einschlägig ist.196 Auf eine Verletzung des anderen Rechts kommt es nicht an. Nicht einmal ein Eingriff in das andere Recht muss festgestellt werden.197 Zu den Konventionsrechten, an die Art 14 EMRK anknüpft, zählen auch die Garantien der Zusatzprotokolle. Die Vorschrift spricht zwar nur von Konventionsrechten, doch sind ihnen die Rechte der Zusatzprotokolle durch entspr Vorschriften in den Zusatzprotokollen198 gleichgestellt. Die Akzessorietät führt dazu, dass der EGMR staatliches Verhalten in Sachbereichen, die die EMRK thematisch nicht erfasst, auch nicht auf Gleichheitsverstöße überprüfen kann. Das gilt namentlich im Bereich sozialer Rechte. Die EMRK unterscheidet sich insoweit vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966. Dessen Art 26 ist vom Wortlaut her nicht akzessorisch. Dementsprechend wendet ihn der UN-Menschenrechtsausschuss auch im Bereich sozialer Rechte an.199 Die Akzessorietät mag früher sinnvoll gewesen sein. Heute wirkt sie zunehmend anachronistisch. Daher wurde am 4.11.2000 ein 12. Zusatzprotokoll zur EMRK abgeschlossen.200 Sein Art 1 greift den Wortlaut von Art 14 EMRK auf, formt das Recht aber zu einem allgem Diskriminierungsverbot aus.201 Das Protokoll ist seit 2005 in Kraft, gilt aber bislang nicht für Deutschland. Der EGMR kompensiert die Akzessorietät zT durch eine großzügige Anknüpfung an andere Rechte. So hat er beispielsweise über den Schutz des Familienlebens nach Art 8 EMRK eine Sozialleistung wie das Kindergeld in den Anwendungsbereich der Konvention gebracht und die Anspruchsvoraussetzungen dann an Art 14 EMRK gemessen.202 Die Akzessorietät führt dazu, dass Art 14 EMRK relativ geringe Bedeutung hat. Ist bereits ein Freiheitsrecht verletzt, verzichtet der EGMR häufig darauf, zusätzlich einen Gleichheitsverstoß zu prüfen.203 Ist der Eingriff in ein Freiheitsrecht gerechtfertigt, wird in den meisten Fällen auch keine sachwidrige Ungleichbehandlung vorliegen. Art 14 EMRK kommt daher nur selten zum Zuge. b) Ungleichbehandlung
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Art 14 EMRK verbietet Diskriminierungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Die Vorschrift führt eine Reihe von Merkmalen auf, die als Anknüpfungspunkt für Ungleichbehandlungen grundsätzlich unzulässig sind. Sie ähnelt insoweit dem speziellen Gleichheitssatz des Art 3 III GG. Die Aufzählung ist jedoch ausweislich des Wortes „insbesondere“ nur beispielhaft. Verboten ist jede Diskriminierung, gleich aus
196 197 198 199 200 201
EGMR, NJW 2003, 2145, Rn 54 – Odièvre. EGMR, RUDH 2000, 247, Rn 86 f – Cha’are Shalom Ve Tsedek. Art 5 1. ZP, Art 6 4. ZP, Art 6 6. ZP, Art 7 7. ZP. Zu den damit verbundenen Problemen Kunig/Uerpmann Übungen, S 237 f. ETS Nr. 177; abrufbar unter http://conventions.coe.int/. Trechsel in: Wolfrum (Hrsg), Gleichheit und Nichtdiskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, 119, 122–124. 202 EGMR, NVwZ 2006, 917, Rn 32 – Okpisz. 203 ZB EGMR, EuGRZ 1985, 297, Rn 32 – X und Y; NJW 2000, 2089, Rn 115 f – Smith und Grady.
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welchen Gründen.204 Insb erfasst die Vorschrift nicht nur personenbezogene Merkmale.205 Zwar stellt Art 14 in der deutschen Übersetzung ebenso wie im englischen Original speziell auf Unterscheidungen wegen des „Status“ ab. Der ebenfalls authentische französischen Text spricht jedoch nicht von status-, sondern von situationsbezogenen Unterscheidungen. Dementsprechend hat der EGMR beispielsweise mögliche Unterscheidungen zwischen Hochsee- und Küstenfischerei an Art 14 EMRK gemessen.206 Es handelt sich somit um einen allgem Gleichheitssatz, der Art 3 I GG entspricht. Daher stimmt die Prüfungsstruktur der beiden Gleichheitsrechte bis auf die Akzessorietätsproblematik weitgehend überein. Bei beiden Normen ist eine Ungleichbehandlung festzustellen, die den Anwendungsbereich des Gleichheitssatzes eröffnet. c) Rechtfertigung Eine verbotene Diskriminierung liegt nur vor, wenn die festgestellte Ungleichbehandlung nicht sachlich gerechtfertigt ist. In Deutschland ist die Gleichheitsdogmatik relativ weit ausdifferenziert. Es wird zwischen dem allgem und speziellen Gleichheitssätzen unterschieden, und innerhalb des allgem Gleichheitssatzes hat das BVerfG mit der sog neuen Formel207 weitere Differenzierungen eingeführt. In der EMRK ist die Unterscheidung zwischen allgem und bes Gleichheitssätzen bis auf wenige, unten (Rn 73 ff) anzusprechende Ansätze unbekannt. Auch innerhalb von Art 14 EMRK ist die dogmatische Strukturbildung noch nicht ganz so weit fortgeschritten.208 Der EGMR fragt nach einem berechtigten Ziel, das die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag, wobei den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum zukommt. Entspr variiert die Kontrolldichte. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, Gedanken, die von Art 3 I GG her bekannt sind, ebenso bei Art 14 EMRK fruchtbar zu machen.209 So ist die vom BVerfG formulierte Frage, ob Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen zu rechtfertigen vermögen,210 auch bei Art 14 EMRK sachgerecht. In diesem Sinne fragt der EGMR bei Art 14 EMRK danach, ob ein angemessenes Verhältnis zwischen den angewendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht.211 Man wird zudem davon ausgehen können, dass die Auflistung in Art 14 EMRK bes wichtige Differenzierungsverbote enthält.212 Je näher die Differenzierungsgründe im konkreten Fall den in Art 14 EMRK genannten stehen, desto höher sind die Rechtfertigungsanforderungen. Im Übrigen dürften die Rechtfertigungsanforderungen steigen, je mehr an unverfügbare, personenbezogene Merkmale angeknüpft wird.213 Daher wird zB eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts nur ganz ausnahmsweise gerechtfertigt sein.214 Das schließt posi-
204 205 206 207 208 209 210 211
Bayefsky HRLJ 11 (1990), 1, 5 f. So aber Peters EMRK, 216 f. EGMR, Urt v 24.9.2002, Rn 79 ff – Posti und Rahko. BVerfGE 88, 87, 96 f = JK 9/93, GG Art 3 I/18 und dazu Bryde/Kleindiek JURA 1999, 36 ff. Krit Nolte in: Wolfrum (Fn 201) S 235, 250–252. Zu den Parallelen Walter in: Wolfrum (Fn 201) S 253, 255 ff. BVerfGE 88, 87, 96 f = JK 9/93, GG Art 3 I/18 und dazu Bryde/Kleindiek JURA 1999, 36 ff. EGMR, NJW 2001, 2871, 2873 – Dahlab = JK 2/02, EMRK Art 9/1; EGMR, NVwZ 2006, 917, Rn 33 – Okpisz; NZA 2006, 1401, Rn 44 – Kosteski. 212 S Thürer/Dold EuGRZ 2005, 1, 6 f zur Rassendiskriminierung. 213 S a BVerfGE 88, 87, 96 = JK 9/93, GG Art 3 I/18. 214 Wittinger (Fn 34) S 163 f; z Ehenamen EGMR, FamRZ 2005, 427, Rn 58 ff – Ünal Tekeli.
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tive Fördermaßnahmen zum Ausgleich faktischer Benachteiligungen von Frauen nicht aus. Anders als Art 3 II GG215 enthält die EMRK zwar keinen Auftrag zur Verwirklichung der Gleichberechtigung auch im gesellschaftlichen Bereich und zur Bekämpfung faktischer Ungleichheiten. Setzt sich ein Mitgliedstaat die faktische Gleichheit zum Ziel, kann dies aber eine Ungleichbehandlung zu Lasten von Männern rechtfertigen.216 Bislang sind die Lösungen des EGMR stark freiheitsrechtlich geprägt. Das zeigt die Transsexuellen-Rspr. In Deutschland steht Art 3 I GG217 im Vordergrund, unter der EMRK Art 8 218. Hier zeigt sich auch, dass Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte bis zu einem gewissen Grad funktional äquivalent sind. In den letzten Jahren gewinnt die Gleichheitsrechtsprechung des EGMR jedoch an Dynamik.219 Mittlerweile lässt sich sogar diskutieren, ob Art 14 EMRK die Staaten jedenfalls bei bestimmten Diskriminierungsmerkmalen wie dem der Rasse über das Verbot staatlicher Diskriminierungen hinaus verpflichtet, Schutz vor Diskriminierungen durch Private zu gewähren.220 Insoweit gilt Ähnliches wie innerstaatlich zu den besonderen Diskriminierungeverboten des Art 3 III GG.221 Lösung Fall 4: In Fall 4 drängt sich die Gleichheitsproblematik auf. Da die EMRK bislang kein selbständiges Diskriminierungsverbot kennt, ist zunächst zu prüfen, ob ein anderes Konventionsrecht einschlägig ist. Art 4 II EMRK verbietet Zwangs- und Pflichtarbeit. Darunter könnte man auch die Feuerwehrdienstpflicht fassen. Allerdings nimmt Art 4 III lit d EMRK Arbeiten oder Dienstleistungen von dem Verbot aus, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören. Diesen Ausnahmetatbestand sah der EGMR zu Recht als gegeben an, so dass Art 4 II EMRK nicht verletzt war. Fraglich ist, ob nun Art 14 EMRK iVm Art 4 EMRK geprüft werden kann. Geht man vom Wortlaut aus, werden Dienstpflichten nach Art 4 III EMRK nicht einmal vom Schutzbereich des Art 4 II EMRK erfasst. Dann wäre Art 14 EMRK unanwendbar. Der EGMR sah dies anders. Indem Art 4 III lit d EMRK diese Dienstpflicht regele, falle sie in den Anwendungsbereich der Konvention. Damit greife Art 14 EMRK ein. Dieses Verständnis erscheint sachgerecht. Es überspannt die Akzessorietätsanforderungen nicht und stellt doch sicher, dass nur solche Diskriminierungen erfasst werden, die im Zusammenhang mit den übrigen Gewährleistungen der Konvention stehen. Die Abgabenpflicht berührt für sich genommen weder Art 4 EMRK noch ein anderes Konventionsrecht. Wegen des engen Zusammenhangs mit der Dienstpflicht bezieht sie der EGMR dennoch in den Anwendungsbereich des Art 14 EMRK mit ein. Die Dienstpflicht, die an das Geschlecht anknüpft, stellt eine klare Ungleichbehandlung dar. Da die Abgabenpflicht über die Dienstpflicht mittelbar mit dem Geschlecht verknüpft ist, liegt auch hierin eine Ungleichbehandlung.
215 Dazu BVerfGE 85, 191, 206 f = JK 9/92, GG Art 3 II/6; Osterloh in: Sachs (Hrsg), Grundgesetz, 4. Aufl 2007, Art 3 Rn 261 ff. 216 Wittinger (Fn 34) S 165 f; zur Bestätigung dieser Rechtslage durch das 12. Zusatzprotokoll Wittinger EuGRZ 2001, 272, 279. 217 BVerfGE 88, 87, 96 ff = JK 9/93, GG Art 3 I/18. 218 Bes deutlich EGMR, NJW 2004, 2505, Rn 91 f – Van Kück; s a Rn 8. 219 S Thürer/Dold EuGRZ 2005, 1, 6–9. 220 Dazu Staudinger ZEV 2005, 140, 142 f unter dem Gesichtspunkt einer mittelbaren Drittwirkung und in krit Auseinandersetzung mit EGMR, ZEV 2005, 162, Rn 44 ff – Pla Puncerau; krit a Heyden/v. Ungern-Sternberg EuGRZ 2009, 81 ff; allgem König/Peters in: Grote/Marauhn, KK, 21. Kap Rn 72. 221 Dazu Uerpmann-Wittzack ZaöRV 68 (2008), 359 ff.
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Die Frage nach der Rechtfertigung stellt sich für die Dienstpflicht und für die Abgabenpflicht unterschiedlich. Der EGMR äußert zunächst Zweifel an der Rechtfertigung der Dienstpflicht. Er fordert insoweit objektive und vernünftige Gründe sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen Mittel und Zweck. Dabei macht er deutlich, dass an eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechtes strenge Anforderungen zu stellen sind. Der Umstand, dass andere Bundesländer eine Feuerwehrdienstpflicht für Frauen kennen und dass auch in Süddeutschland Frauen freiwillig Dienst leisteten und leisten, spricht gegen eine Rechtfertigung. Der EGMR ließ dies offen, weil die Dienstpflicht ohnehin nur auf dem Papier bestand.222 Damit kam es allein auf die Rechtfertigung der Abgabenpflicht an. Da niemand zwangsverpflichtet wurde, kam ihr keine Ausgleichs-, sondern eine reine Finanzierungsfunktion zu. Für die Entscheidung, nur den männlichen Teil der Bevölkerung zur Finanzierung der Freiwilligen Feuerwehr heranzuziehen, war kein hinreichender Grund ersichtlich. Damit war die Abgabenpflicht konventionswidrig. Das BVerfG hat die Entscheidung des EGMR zum Anlass genommen, die Feuerwehrabgabe, die bis dahin als verfassungskonform galt,223 kurz darauf auch am Grundgesetz scheitern zu lassen.224 Dabei ist das Ergebnis grundgesetzlich viel einfacher zu begründen als konventionsrechtlich. Art 3 III 1 GG ist offenkundig beeinträchtigt und mangels Rechtfertigung ohne weiteres verletzt.
2. Spezielle Gleichheitsaspekte Punktuell finden sich Gleichheitsaspekte auch außerhalb von Art 14 EMRK. Mit der Gleichberechtigung der Ehegatten enthält Art 5 7. ZP EMRK einen speziellen Gleichheitssatz. Die Vorschrift hat noch keine bedeutende Rolle gespielt.225 Sie ergänzt die Konventionsgarantien kaum, schränkt sie aber auch nicht ein.226 Für Deutschland ist das ganze Protokoll nicht in Kraft. In der Konvention selbst werden Gleichheitsmomente vor allem in den Justizgarantien des Art 6 EMRK (→ § 6 Rn 35 ff) erkennbar. Das wichtigste Beispiel ist Art 6 III lit e EMRK mit dem Recht auf einen unentgeltlichen Dolmetscher im Strafverfahren. Vom Wortlaut her handelt es sich um eine verfahrensrechtliche Garantie, die einen fairen Prozess gewährleisten soll, ohne eine Gleichheitskomponente aufzuweisen. Zunächst ging man jedenfalls in Deutschland davon aus, dass die Unentgeltlichkeit nur bis zum Abschluss des Verfahrens gelten sollte. Man hielt es für zulässig, den Verurteilten im Rahmen der Gerichtskosten auch mit den Dolmetscherkosten zu belasten. Zur Sicherung eines fairen Verfahrens reicht es in der Tat grundsätzlich aus, wenn der Dolmetscher zunächst aus der Staatskasse bezahlt wird, so dass seine Beiziehung nicht an der Kostenfrage scheitern kann. Im Fall Luedicke entschied der EGMR jedoch, dass auch der Verurteilte nicht mit angefallenen Dolmetscherkosten belastet werden dürfe.227 Diese Entscheidung ist schlüssig, wenn man Art 6 III lit e EMRK als speziellen Gleichheitssatz interpretiert. Über seine Primärfunktion, eine effektive Verteidigung zu sichern, hinaus soll er den Angeklagten, der der Gerichtssprache nicht mächtig ist, von 222 Zur Rechtfertigung der auf Männer beschränkten Wehrpflicht am Maßstab v Art 4 iVm Art 14 EMRK BVerwG, NJW 2006, 2871, 2872 f; Hahn JR 2007, 45, 49 f. 223 S BVerwG, BayVBl 1994, 315 ff sowie die krit Bestandsaufnahme v Rozek BayVBl 1993, 646 ff. 224 BVerfGE 92, 91 ff. 225 Dazu Wittinger (Fn 34) S 177–179. 226 EGMR, RUDH 1994, 27, Rn 22 f – Burghartz. 227 EGMR, EuGRZ 1979, 34, Rn 38 ff – Luedicke.
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allen sich daraus ergebenden zusätzlichen finanziellen Lasten freistellen und den Sprachunkundigen so mit dem Sprachkundigen gleichstellen.228 Der Grundsatz des fairen Verfahrens weist ebenfalls Aspekte eines speziellen Gleichheitssatzes auf. Das gilt namentlich für das Prinzip der Waffengleichheit, das der EGMR als Ausprägung des fair-trial-Gedankens ansieht und an dem er die Stellung der Verfahrensbeteiligten misst.229
228 Das Argument klingt in den Gründen der Luedicke-Entscheidung, EuGRZ 1979, 34 ff, vor allem in Rn 42 an. 229 EGMR, EuGRZ 1991, 519, Rn 24 – Borgers.
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§4 Kommunikationsgrundrechte Thilo Marauhn I. Die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK Kommunikationsgrundrechte leisten einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung des Menschen, indem sie dessen Bedürfnis nach Mitteilung und Auseinandersetzung mit anderen schützen. Die freie Kommunikation ist aber auch von erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, denn ohne sie ist Demokratie nicht denkbar. Mit seiner Rechtsprechung trägt der EGMR beiden Funktionen gleichermaßen Rechnung und hebt hervor, dass die Gewährleistung einer offenen geistigen Auseinandersetzung den Kern freiheitlicher zwischenmenschlicher Kommunikation bildet.1 Die EMRK enthält kein umfassendes Kommunikationsgrundrecht, sondern garantiert in den Art 9 2, 10 und 11 EMRK mehrere nebeneinander stehende Freiheiten, die erst in ihrer wechselseitigen Verschränkung und Bedingtheit die vielfältigen Kommunikationsvorgänge der Lebenswirklichkeit erfassen. Die zentrale Vorschrift des Art 10 EMRK gewährleistet eine Vielzahl von Grundrechten: die Meinungsbildungsfreiheit, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Freiheit, Mitteilungen zu empfangen, die Pressefreiheit sowie die Freiheit von Rundfunk, Fernsehen und Film 3. In der Kombination von Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit kommt zum Ausdruck, dass menschliche Kommunikation kein einseitiger, sondern ein gegenseitiger Prozess ist, auch wenn die Gegenseitigkeit echter Dialoge rechtlich ansonsten kaum fassbar ist.4 Art 10 EMRK erfährt eine spezifische Ergänzung durch die in Art 11 EMRK gewährleisteten Grundfreiheiten: die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit. Ähnlich wie der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der die in der US-amerikanischen Verfassung nicht ausdrücklich garantierte Vereinigungsfreiheit aus der im Ersten Zusatzartikel enthaltenen Meinungsfreiheit abgeleitet hat,5 betont der EGMR den systematischen Zusammenhang zwischen Art 10 und Art 11 EMRK. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei den Garantien des Art 11 EMRK um leges speciales im Verhältnis zu denen des Art 10 EMRK.6 Dieses Spezialitätsverhältnis wirkt
1 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside; EuGRZ 1986, 424, Rn 41 – Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 58 – Oberschlick; EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer und Guardian; ÖJZ 2002, 814, Rn 83 – Feldek. 2 Zu Art 9 EMRK, der in diesem Kapitel nicht näher erläutert wird, s Frowein in: Grote/Marauhn (Hrsg) Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, 73 ff. Eingehend auch Weber ZevKR 2002, 265 ff; Grabenwarter EMRK, § 22 Rn 82 ff; Sahlfeld Aspekte der Religionsfreiheit, 2004; Walter in: Grote/Marauhn, KK, Kap 17. 3 Grabenwarter EMRK, § 23 Rn 2 ff; Grote/Wenzel in: Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 28 ff. 4 Müller Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl 1999, 184 f. 5 US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958). 6 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 62 – Ezelin; vgl jetzt auch EGMR, RJD 2005-I, 209, Rn 44 – Partidul Comunistilor. Dazu auch Grote/Wenzel in: Grote/Marauhn, KK, Kap 18 Rn 141.
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sich nicht nur auf den Anwendungsbereich der beiden Vorschriften aus. Es führt auch zu einer parallelen Auslegung der Schutzbereiche und der Schranken.7 Neben den notstandsfesten Grundfreiheiten stehen die Kommunikationsgrundrechte an der Spitze aller weiteren Gewährleistungen der EMRK, denn ohne freie Kommunikation ist eine wirksame Verteidigung fundamentaler Rechte nicht möglich.8 Dem hat die Straßburger Spruchpraxis insoweit Rechnung getragen, als sie im Interesse von Pluralismus und Toleranz weite Schutzbereiche anerkannt und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt angesehen hat. Eine konturenscharfe Abgrenzung der einzelnen in Art 10 und Art 11 EMRK enthaltenen Gewährleistungen ist weder durchgängig möglich noch unbedingt erforderlich, denn die beiden Vorschriften sollen die zwischenmenschliche Kommunikation umfassend schützen.9 Allerdings ist den Differenzierungen bei der Rechtfertigung staatlicher Eingriffe zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen.10
II. Die Meinungs- und die Informationsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; EuGRZ 1986, 424 ff – Lingens; EuGRZ 1988, 543 ff – Müller; EuGRZ 1990, 255 ff – Groppera Radio AG; EuGRZ 1991, 216 ff – Oberschlick; EuGRZ 1992, 484 ff – Open Door und Dublin Well Woman; EuGRZ 1994, 549 ff – Informationsverein Lentia; HRLJ 1994, 371 ff – Otto-Preminger-Institut; EuGRZ 1995, 590 ff – Vogt; EuGRZ 1995, 16 ff – Observer und Guardian; EuGRZ 1996, 302 ff – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; EuGRZ 1999, 8 ff – Janowski; EuGRZ 1999, 453 ff – Bladet Tromsø; RJD 2000-III, 1 ff – Özgür Gündem; ÖJZ 2002, 814 – Feldek; EuGRZ 2004, 404 ff – von Hannover; NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris; ÖJZ 2008, 161 ff – Pfeifer. Schrifttum: Calliess Werbung, Moral und Europäische Menschenrechtskonvention, AfP 2000, 248 ff; Engel Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit – insbesondere auf die Einführung von innerer Pressefreiheit, AfP 1994, 1 ff; Frowein AfP 1986, 197 ff; Frowein/Peukert (Hrsg), Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl 1996; Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2008, 252 ff; Grote/Wenzel in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap 18; Hoffmeister Art 10 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1994 – 1999, EuGRZ 2000, 358 ff; Klein Einwirkungen des europäischen Menschenrechtsschutzes auf Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit, AfP 1994, 9 ff; Kühling Zu den möglichen Grenzen der Kommunikationsfreiheit, AfP 1999, 214 ff; Malinverni Freedom of Information in the Convention on Human Rights and in the International Covenant on Civil and Political Rights, HRLJ 1983, 443 ff; Mowbray Cases and Materials, 2. Aufl 2007, 623 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, §§ 9–14; Stürner Caroline-Urteil des EGMR – Rückkehr zum richtigen Maß, AfP 2005, 213 ff; Trenkelbach Internetfreiheit 2005.
7 EGMR, RJD 1998-I, 3, Rn 42 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; Pabel ZaöRV 2003, 921, 930 ff eingehend zu den Prüfkriterien des EGMR bei Parteiverboten, insb im Vergleich zur Rechtsprechung des BVerfG. 8 Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 277 f. 9 EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 42 – Barthold; explizit EGMR, RJD 2005-I, 209, Rn 44 – Partidul Comunistilor. 10 Villiger EMRK, 390.
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1. Schutzbereiche a) Die Meinungsfreiheit Die in Art 10 I 2 EMRK geschützte Meinungsfreiheit ist die Grundlage und der Oberbegriff der in Satz 1 gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit.11 Die Meinungsfreiheit schützt – insoweit der in Art 9 EMRK gewährleisteten Gedankenfreiheit vergleichbar – das forum internum, die innere Meinungsbildung. In den 1970er Jahren entschied der EGMR, dass der Staat daran gehindert ist, den Bürgern Meinungen durch Indoktrinierung oder andere Mittel aufzudrängen.12 Ebenso dürften eine gezielt einseitige staatliche Informationspolitik wie auch eine gezielt einseitige Berichterstattung in staatlichen Massenmedien konventionswidrig sein.13 Das lässt sich zumindest aus dem vom EGMR betonten „Schutz der Meinungsvielfalt“, also des Pluralismus, ableiten.14 Anders als das Bundesverfassungsgericht, das – methodisch nicht überzeugend – den Begriff der „Meinung“ über vage Umschreibungen zu erschließen sucht,15 hat der EGMR den Begriff der „Meinung“ bislang nicht abstrakt definiert. Man mag diese Zurückhaltung des EGMR kritisieren, sollte aber bedenken, dass Synonyme und wenig präzise Umschreibungen, die das Schutzgut nicht hinreichend verdeutlichen, die Gefahr bergen, die Tatbestands- und die Eingriffsebene zu vermengen. Außerdem kann sich der EGMR auf den Wortlaut der Äußerungsfreiheit zurückziehen, der so weit gefasst ist, dass insbesondere keine Notwendigkeit besteht, zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ zu unterscheiden.16
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b) Die Äußerungsfreiheit Die Äußerungsfreiheit schließt die Meinungsäußerungsfreiheit und die Freiheit zur Mitteilung von Informationen und Ideen (gelegentlich auch als aktive Informationsfreiheit bezeichnet 17) ein. Unter Berücksichtigung der authentischen englischen („freedom of expressions“) und französischen („liberté d’expression“) Texte kommt daher eine Beschränkung auf „Meinungen“ nicht in Betracht. Dadurch erübrigt sich hier wiederum eine Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung18 und Werturteil.19
11 Guradze Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1968, 142. 12 EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen (Indoktrinierungsverbot vom EGMR ausdrücklich formuliert für die Schule auf der Grundlage von Art 10 EMRK und Art 2 1. ZP EMRK). 13 So auch Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 4; vgl auch EGMR, ÖJZ 1998, 151 – Radio ABC. 14 EGMR, EuGRZ 1994, 549 – Informationsverein Lentia. 15 Vgl nur BVerfGE 61, 1, 8 f. 16 Insoweit krit zur Rspr des BVerfG, die den Unterschied zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ schon im Schutzbereich für wesentlich erachtet, vgl Erichsen Jura 1996, 85 ff – Der EGMR unterscheidet zwischen „Meinungen“ und „Tatsachenmitteilungen“ allerdings im Rahmen der Rechtfertigung von Einschränkungen, so dass Werturteile wohl einen höheren Schutz genießen; so etwa EGMR, 6.12.2007 – Katrami. Vgl auch Peters EMRK, 2003, 59. 17 So Peters EMRK, 70 ff. 18 Zum Schutz von Tatsachenbehauptungen EGMR, NJW 1999, 1315 – Fressoz und Roire. 19 Zum Schutz von Werturteilen ggf auch ohne Tatsachenbasis vgl EGMR, Medien&Recht 2007, 71 – Nikowitz; zum besonderen Schutz von Werturteilen vgl auch EGMR, ÖJZ 2007, 836 Rn 41 ff – Standard Verlagsgesellschaft mbH.
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In einer jeweils am Einzelfall orientierten Spruchpraxis hat der EGMR alle Mitteilungen von Sinngehalten, wie Tatsachen, Meinungen und Unterhaltungsbeiträge,20 unter die Äußerungsfreiheit subsumiert. Der Schutz der Äußerungsfreiheit erstreckt sich insbesondere auch auf solche Inhalte, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.21 Es sind nicht nur unproblematische oder unkritische Inhalte geschützt. Dem EGMR geht es nämlich um den Schutz einer offenen geistigen Auseinandersetzung als Kern der Meinungsäußerungsfreiheit. Dazu gehört auch die Aufrechterhaltung von Pluralität im Informationssektor. Neben politischen Äußerungen 22 werden auch kommerzielle Meinungsäußerungen vom EGMR dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zugeordnet.23 Dazu gehören sowohl kritische Äußerungen über bestimmte Geschäftspraktiken 24 als auch Werbemaßnahmen 25. Kritik lässt sich gegenüber dieser weiten Auslegung allenfalls damit begründen, dass erfolgreiche Werbung darauf beruht, dem Verbraucher Kaufimpulse auf eine nicht notwendig bewusste Weise zu vermitteln. Es findet demnach keine offene geistige Auseinandersetzung statt, um die es doch bei Art 10 I EMRK eigentlich geht.26 Weder der Wortlaut noch der systematische Zusammenhang legen aber eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs nahe, die allein daraus abzuleiten sein soll, dass es keinen Grund gebe, die kommerzielle Meinungsäußerung gegenüber anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten zu privilegieren. Art 10 I EMRK schützt nicht nur Substanz und Inhalt der Mitteilung, sondern auch die Form und die Darstellung der Mitteilung.27 So sind Bilder und auch Realhandlungen, die das Missfallen an Tätigkeiten anderer ausdrücken, von Art 10 I EMRK geschützt.28
20 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 54 f – Groppera Radio AG. 21 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside; bestätigend EGMR, 19.9.2006, Rn 21 – White und EGMR, ÖJZ 2007, 618 – Vereinigung bildender Künstler. Vgl auch EGMR, 4.10.2007, Rn 5 – VgT (2007), wo die Intensivtierhaltung mit Konzentrationslagern verglichen wird. Dazu, dass politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger als auch Journalisten hinsichtlich der Wahrheit der verbreiteten Tatsachen einen vergleichbaren Schutz genießen, sofern sie gutgläubig sind, vgl EGMR, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris einerseits und EGMR, EuGRZ 1999, 453 ff – Bladet Tromsø andererseits. 22 In einer Unzulässigkeitsentscheidung aus dem Jahre 2002 bringt der EGMR die besondere Bedeutung politischer Äußerungen in Wahlkampfsituationen zum Ausdruck; EGMR, ÖJZ 2005, 276 – Schüssel. 23 Eingehend dazu Nolte RabelsZ 1999, 507 ff; zum Schutz von außerhalb des Politischen getätigten Meinungsäußerungen vgl auch Bartnik AfP 2004, 489, 494. 24 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 25 EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 58 – Barthold; HRLJ 1994, 184, Rn 35 – Casado Coca (EGMR verneinte in diesem Fall eine Verletzung von Art 10 EMRK, weil es sich nicht um ein absolutes Werbeverbot für Anwälte handelte). Vgl auch EKMR, EuGRZ 1991, 525 – Hempfing (EKMR verneinte eine Verletzung von Art 10 EMRK in diesem Fall, wo der Beschwerdeführer, ein Anwalt, disziplinarisch verwarnt wurde, weil er in einem Rundschreiben die Kunden aufforderte, ihn zu „testen“). 26 Zu dieser Kritik vgl für das GG etwa J Ipsen Staatsrecht II, Grundrechte, 11. Aufl 2008, Rn 422. 27 Zutreffend Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 5; deutlich EGMR, NStZ 1995, 237, Rn 31 – Jersild; zu Fotomontagen vgl EGMR, ÖJZ 2005, 276 – Schüssel. Zum Schutz des Mediums der Meinungsäußerung Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 39 ff. 28 EGMR, RJD 1998-VII, 2719, Rn 92 iVm Rn 7 – Steel; RUDH 1999, 331, Rn 28 – Hashmann und Harrup.
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Bei Symbolen dürften Äußerung und Form wegen der Komplexität der Darstellung regelmäßig zusammenfallen; jedenfalls ist ihren Besonderheiten Rechnung zu tragen.29 Meinungsäußerungen bedürfen grundsätzlich weder hinsichtlich ihrer Form noch hinsichtlich ihrer Darstellung einer besonderen Zulassung. Die Grenze zieht Art 10 I 3 EMRK, der für bestimmte technische Medien einen Genehmigungsvorbehalt vorsieht. c) Die Informationsfreiheit Art 5 I 1 GG schützt die Freiheit, sich aus „allgemein zugänglichen Quellen“ zu informieren, während Art 10 I 1 EMRK ohne nähere Präzisierung der Quellen die „Freiheit zum Empfang … von Nachrichten oder Ideen“ gewährleistet. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf Art 5 I 1 GG solche Informationsquellen als „allgemein zugänglich“ anerkannt, die technisch geeignet und bestimmt sind, der Allgemeinheit Informationen zu verschaffen. Insbesondere verlieren Quellen diesen Charakter nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch, dass gegen ihre Verbreitung Maßnahmen ergriffen werden.30 Damit hat das Gericht zwar – gemessen am Wortlaut – einen relativ weiten Schutzbereich eröffnet. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die deutsche Rechts- und Verfassungstradition sich durch eine bemerkenswerte Zurückhaltung gegenüber an staatliche Stellen gerichteten Informationsansprüchen auszeichnet. Erst in jüngster Zeit wächst – auch in Anbetracht des so genannten Informationszeitalters – die Erkenntnis, dass die Informationsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen Bedingung rationaler Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ist.31 Es ist aber nicht nur die demokratisch-politische Funktion der Informationsfreiheit, die es in den Blick zu nehmen gilt. Die Möglichkeit, an Informationen teilzuhaben, ist nicht nur Voraussetzung sozialer Kompetenz. Sie ist auch unabdingbare Voraussetzung persönlicher Entfaltung. Auch kann die Informationsfreiheit einen Beitrag zur Effizienz des Gemeinwesens leisten, indem sie dessen Problemlösungskapazität und Innovationsfähigkeit erhöht.32 Einerseits hat der Gerichtshof klargestellt, dass es sich bei der Informationsfreiheit um eine eigenständige Gewährleistung handelt.33 Andererseits haben die Konventionsorgane die Empfangsfreiheit aber eher restriktiv ausgelegt und insbesondere eine positive Informationspflicht staatlicher Behörden verneint,34 obwohl der Wortlaut eine solche Aus-
29 Vgl zu mehrdeutigen Symbolen nur die neuere Rechtsprechung, EGMR, 8.7.2008, Rn 56 – Vajnai („roter Stern“). 30 BVerfGE 27, 71, 83 f; 33, 52, 65; 90, 27, 32; 103, 44, 60 (stRspr). 31 In Deutschland sind in den letzten Jahren zahlreiche Informationsansprüche geschaffen worden, die über den grundgesetzlichen Mindeststandard hinausgehen. Zu diesen Entwicklungen Kugelmann NJW 2005, 3609; Fluck/Merenyi VerwArchiv 2006, 381; Schoch DÖV 2006, 1. 32 Müller (Fn 4) S 278 f. 33 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 65, 66 – Sunday Times (Nr 1). 34 EGMR, RJD 1998-I, 210, Rn 53 – Guerra. Der Spruchpraxis der Straßburger Organe lässt sich in Einzelfällen entnehmen, dass bei bestimmten Gefahren für die Schutzgüter des Art 8 EMRK eine Informationspflicht des Staates besteht; vgl dazu neben der Entscheidung im Fall Guerra auch EGMR, Ser A Nr 303-C, Rn 44–58 – López Ostra; EGMR, RJD 1998-III, 1334, Rn 96–104 – McGinley und Egan; EGMR, RJD 1998-III, 1390, Rn 35– 41 – L.C.B. Auch ein (positives) Recht auf Empfang bestimmter Informationen seitens der Behörden kann aus der Informationsfreiheit nicht abgeleitet werden; vgl EGMR, Series A, Vol 160, Rn 52 – Gaskin; dazu auch EGMR, NJOZ 2007, 865 – Roche.
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legung durchaus zulassen würde.35 Zwar hat der EGMR betont, dass die Medien die Aufgabe haben, Informationen zu verbreiten.36 Auch habe die Öffentlichkeit das Recht, diese Informationen zu empfangen.37 Nach Auffassung des EGMR garantiert Art 10 I 1 EMRK aber nur den Empfang allgemein zugänglicher Informationen („general sources of information“) 38 und deckt sich insoweit mit Art 5 I 1 GG.39 Innerhalb dieses Rahmens schützt die Informationsfreiheit in erster Linie das Recht des Rezipienten, ungehindert Meldungen, Nachrichten und Meinungen zu empfangen – ein Recht, das für das Rundfunkwesen von besonderer Bedeutung ist.40 Anders als Art 5 I 1 GG stellt Art 10 I 1 EMRK ausdrücklich klar, dass dieses Recht ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen gewährleistet ist. In den Grenzen von Art 10 I 3 und Art 10 II EMRK schließt dies die Nutzung der erforderlichen Empfangsgeräte ein.41 Über das bloße (passive) Recht auf Informationsempfang hinaus ist umstritten, ob auch die (aktive) Freiheit zur Informationsbeschaffung vom Schutzbereich des Art 10 I 1 EMRK erfasst wird. Zwar unterscheidet sich der Wortlaut dieser Gewährleistung von den vergleichbaren Bestimmungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Art 19 II) und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Art 13 I). Es ist jedoch vertretbar, diesen Wortlautunterschied als Redaktionsversehen zu qualifizieren, denn immerhin enthielt einer der EMRK-Entwürfe ein Recht auf Informationsbeschaffung.42 Da ohne Recherchen und aktive Informationsbeschaffung keine wirksame Mitteilungs- und Verbreitungsarbeit geleistet werden und eine Mitteilung nicht erfolgen kann, ist es vertretbar, die Freiheit zur Informationsbeschaffung im Wege der teleologischen Auslegung unter Art 10 I 1 EMRK zu subsumieren.43 Schließlich kann es nicht Sinn und Zweck der Konvention sein, die Äußerungsfreiheit dadurch auszuhebeln, dass die Freiheit zur Informationsbeschaffung schutzlos gestellt wird. Art 10 EMRK enthält kein ausdrückliches Zensurverbot. Beschränkungen der Gewährleistungen aus Art 10 I EMRK sind jedoch nur im Rahmen von Art 10 II EMRK zulässig,44 so dass insbesondere aus dem in Art 10 I 3 EMRK vorgesehenen Zulassungsverfahren keine Rechtfertigung staatlicher Vorzensur für Programme und Sendungen abgeleitet werden kann.45
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Das betonen auch Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 50. EGMR, 14.12.2006, Rn 30 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 1). EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 65 – Sunday Times (Nr 1). EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 41 – Lingens; Série A, Vol 116, Rn 74 – Leander. Ähnlich zuvor auch schon die Kommission; vgl EKMR, DR 17, 227, 230 – X. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist der Staat auf der Grundlage von Art 10 I EMRK nicht verpflichtet, Informationen herauszugeben, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden; er darf aber den Empfang von Informationen nicht verhindern, die Private weitergeben wollen; s dazu EGMR, Series A, Vol 160, Rn 52 – Gaskin. Mittlerweile gibt es mehrere Entscheidungen des EGMR zum Quellen- und Informantenschutz, vgl EGMR, 25.4.2006 – Dammann; 25.4.2006 – Stoll; 22.11.2007 – Tillack. Vgl dazu Villiger EMRK, 413. Vgl Gornig Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988, 291. Probst Art 10 EMRK – Bedeutung für den Rundfunk in Europa, 1996, 24 f. S dazu Meyer-Ladewig EMRK, Art 10 Rn 17a unter Hinweis auf EGMR, HRLJ 2001, 217 – Zypern/Türkei, wonach eine allgemeine Zensur für Schulbücher Art 10 EMRK verletzt; vgl auch Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 62. Gornig (Fn 42) S 294.
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d) Die Kunstfreiheit Fall 1: (EGMR, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller) Der Künstler M malte im Rahmen einer Ausstellung an Ort und Stelle drei große Gemälde mit dem Titel „Drei Tage, drei Nächte“. Die Bilder stellten ua homosexuelle Aktivitäten und Sodomie dar. Am Tage der Eröffnung beschwerte sich ein Vater über die Bilder, nachdem seine minderjährige Tochter heftig darauf reagiert hatte. In der Folge wurden die Bilder eingezogen. M wurde wegen unzüchtiger Veröffentlichungen bestraft. Außerdem wurde die Vernichtung der Bilder angeordnet.
Die Kunstfreiheit wird in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt. Auch künstlerische Aktivitäten sind jedoch Formen der Äußerung im Sinne von Art 10 I EMRK, denn der Künstler bringt durch sein schöpferisches Wirken seine persönliche Weltanschauung und seine Gedanken über die Gesellschaft zum Ausdruck.46 Es ist daher grundsätzlich anerkannt, dass Art 10 EMRK die Freiheit des Kunstschaffens in allen Ausprägungen erfasst. Sie schließt den Werk- und den Wirkbereich ein, erstreckt sich also auch auf Personen, die Kunstwerke interpretieren, verbreiten oder ausstellen.47 Lösung Fall 1: Die Aktivitäten des M, das Erstellen der Kunstwerke und deren Ausstellung, fallen in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, denn diese ist nicht auf Äußerungen verbaler Art beschränkt. Auch Kunstwerke und Filme fallen in den Schutzbereich von Art 10 I EMRK. Die Verurteilung des M und die vorgesehene Vernichtung der Bilder stellen Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit des Künstlers dar. Ein solcher Eingriff muss, um konventionsrechtlich gerechtfertigt zu sein, auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen und einen nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszweck verfolgen. In Betracht zu ziehen ist der Schutz der öffentlichen Moral. Bei der Beurteilung, ob die Maßnahmen diesem Zweck dienen, kommt den zuständigen Organen der Konventionsstaaten ein Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die Verurteilung des M dürfte den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen, anders als die angedrohte Vernichtung der Bilder. Im Fall der Vernichtung könnte M seine Bilder auch dort nicht mehr ausstellen, wo sie willkommen sein mögen. Daraus dürfte die Unverhältnismäßigkeit der angedrohten Vernichtung resultieren. Auch eine Rückgabe der Bilder ändert nichts an der Unverhältnismäßigkeit der Androhung (anders aber der Straßburger Gerichtshof).
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e) Presse- und Medienfreiheit Die Pressefreiheit wird in Art 10 I EMRK nicht ausdrücklich, sondern als Bestandteil der allgemeinen Äußerungs- und Informationsfreiheit geschützt.48 Die EMRK folgt damit der Tradition anderer internationaler Menschenrechtsinstrumente, in denen die Pressefreiheit
46 EKMR, EuGRZ 1986, 702, Rn 70 – Müller. Vgl auch EGMR, RJD 1996-V, 1937 ff – Wingrove und HRLJ 1994, 371 ff – Otto-Preminger-Institut; 29.3.2005 – Alinak; ÖJZ 2007, 618 – Vereinigung bildender Künstler. 47 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 56 – Otto-Preminger-Institut. 48 Die Presse wird lediglich in Art 6 I 2 EMRK im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit von mündlichen Gerichtsverhandlungen ausdrücklich erwähnt.
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nicht ausdrücklich genannt, aber ohne Zweifel geschützt wird. Der EGMR hat die zentrale (demokratische) Funktion der Presse, die Öffentlichkeit über Fragen von allgemeinem Interesse zu informieren,49 stets betont und die ihr zukommende Wächterrolle („public watchdog“), die Öffentlichkeit auf Mängel, Fehler und rechtswidrige Machenschaften in Politik und Gesellschaft hinzuweisen,50 als Grundlage eines umfassenden Grundrechtsschutzes fruchtbar gemacht. Der funktionale Schutzbereich der Pressefreiheit schließt auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschäftsgebaren einzelner Unternehmen und Unternehmerpersönlichkeiten im Wirtschaftsleben ein.51 Dabei ist die Satire ein erlaubtes Mittel; 52 der EGMR anerkennt Freiräume für Provokation und Übertreibung.53 Generell ist beim Schutz der Pressefreiheit zwischen drei Fallgruppen zu unterscheiden: der mit journalistischen Meinungen verbundenen Presseberichterstattung, der Wiedergabe fremder Meinungen (ohne dass sich die Presse von zitierten beleidigenden Äußerungen distanzieren muss)54 und der Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder Materialien. Diese Differenzierungen wirken sich vor allem im Kontext der presserechtlichen Sorgfaltspflichten aus.55 Der Schutz der Pressefreiheit erstreckt sich auf alle Informationen und Ideen, die mittels Druckerpresse oder anderer Reproduktionsmethoden der Öffentlichkeit vermittelt werden.56 Ob und inwieweit auch inhaltsferne Hilfsfunktionen, die vom Bundesverfassungsgericht in den Schutzbereich der Pressefreiheit nach Art 5 I 2 GG einbezogen werden,57 und damit nicht zuletzt die gesamte Infrastruktur der Presse (also etwa der Zeitungsvertrieb) unter die Gewährleistung von Art 10 I EMRK fallen, ist noch nicht abschließend geklärt. Berücksichtigt man aber, dass der EGMR auch die erforderlichen Übertragungs- und Empfangsmittel in den Schutzbereich der Gewährleistungen des Art 10 I EMRK einbezogen hat,58 und anerkennt man, dass es beim Schutz der Pressefreiheit nicht nur um den Schutz individueller Presseerzeugnisse geht, sondern gerade auch um den Schutz des Pressewesens als solchem, dann kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Eingriffe in die Verteilung der Presseerzeugnisse die Presse als Institution sehr empfindlich treffen können. Im Wege der teleologischen Auslegung ist daher die
49 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 65 – Sunday Times (Nr 1). 50 EGMR, HRLJ 1992, 30, Rn 50 – Sunday Times (Nr 2); HRLJ 1992, 440, Rn 63 – Thorgeirson; EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer und Guardian; jetzt auch EuGRZ 2004, 404 – von Hannover. 51 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; hierauf verweist der EGMR auch in NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris. Ähnlich gelagert sind die Urteile des EGMR in den Fällen Series A, Vol 177 – Weber; RJD 1998-VI, 2298 – Hertel und ÖJZ 2002, 855 – Verein gegen Tierfabriken (VGT). Zur Unternehmerpersönlichkeit vgl EGMR, 14.12.2006, 10520/02, Rn 36 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 2). 52 EGMR, Medien&Recht 2007, 71 – Nikowitz (insbesondere die Sachverhaltsdarstellung in Rn 6 und die Verhältnismäßigkeitsprüfung in Rn 26 der Entscheidung). 53 EGMR, 6.12.2007 – Katrami. 54 EGMR, 14.12.2006, 76918/01, Rn 33 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 1). 55 Eingehend zu dieser Differenzierung unter Aufarbeitung der neueren Rspr des EGMR Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 363 ff; zur Einordnung der presserechtlichen Sorgfaltspflichten vgl Rn 48 ff; nicht ganz unproblematisch EGMR, RJD 2000-III, 1, Rn 58 – Özgür Gündem. 56 Vgl Villiger EMRK, 405. 57 BVerfGE 77, 346, 353 f. 58 EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic.
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Infrastruktur des Pressewesens in den Schutzbereich der (ungeschriebenen) Pressefreiheit einzubeziehen.59 Umstritten ist, ob Art 10 I EMRK zur Einführung eines Gegendarstellungsrechts verpflichtet. Obwohl das Gegendarstellungsrecht im Bewusstsein seiner Existenz nicht in die EMRK aufgenommen wurde, gibt es gute Gründe, in Verbindung mit Art 8 EMRK jedenfalls für die Fälle, „in denen das Persönlichkeitsrecht durch Presseveröffentlichungen verletzt worden ist“, ein konventionsrechtlich gewährleistetes Gegendarstellungsrecht anzunehmen.60 Es dürfte allerdings überzeugender sein, das Gegendarstellungsrecht allein in Art 8 I EMRK zu verankern61 und es als medienspezifische Form des Ehrschutzes den nach Art 10 II EMRK gerechtfertigten Eingriffen in die Pressefreiheit zuzuordnen.62 Art 10 I 3 EMRK bestätigt, dass die in Art 10 I EMRK garantierten Freiheiten der Äußerung und der Information auch die Freiheit von Rundfunk, Film und Fernsehen einschließen.63 Diese Freiheit umfasst die Herstellung, die Ausstrahlung und den Empfang von Sendungen und Programmen. Die Vorschrift unterscheidet nicht nach der Art der Übermittlung der Information, sondern schließt alle Übermittlungsarten (Äther, Kabel, Satelliten, etc) ein. Im Rahmen der Rundfunk-, Film- und Fernsehfreiheit ist besonders hervorzuheben, dass Art 10 I EMRK den freien internationalen Informationsfluss schützt, denn der Schutz wird „ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen“ gewährleistet. Soweit es um Herstellung, Ausstrahlung und Empfang unabhängig vom organisationsrechtlichen Rahmen geht, ist der Schutzbereich dieser Teilgewährleistung allenfalls hinsichtlich der Berechtigung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten problematisch. Dass der persönliche Geltungsbereich von Art 10 I EMRK Personenvereinigungen und juristische Personen des Privatrechts erfasst, wirft keine besonderen Fragen auf.64 Es dürfte aber auch unzweifelhaft sein, dass ein staatliches Rundfunk- und Fernsehunternehmen gegenüber staatlichen Einflüssen eine ausreichende Freiheit haben muss.65 Anderenfalls würde die Freiheit im Falle staatlicher Monopole, die bis in die 1970er Jahre in Europa üblich waren, leer laufen. Es bleibt die Frage, welche Bedeutung der Schutzbereich des Art 10 I EMRK für die neuen Medien (Bildschirmtext, Pay-TV und Internet) entfaltet. Ähnlich wie das Grundgesetz unterscheidet die EMRK zwischen dem Schutz von Individual- (Art 8 EMRK) und Massenkommunikation (Art 10 EMRK). Es liegt daher nahe, hinsichtlich neuer Medien bei den Gewährleistungsgehalten eine Differenzierung in Anlehnung an die verschiedenen Kommunikationsformen vorzunehmen.66 Das Versenden und das Empfangen elektronischer Nachrichten (e-mail) fallen in den Schutzbereich von Art 8 EMRK, während die Präsentation von Informationen auf einer Internet-Seite (homepage) durch
59 Zum Schutz des Verlegers einer Zeitschrift vgl EGMR, ÖJZ 2000, 394, Rn 39 – NEWS Verlags GmbH & Co KG; vgl jetzt auch EGMR, 10.1.2006 – Halis Dog˘an. 60 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 16. 61 Malinverni HRLJ 1983, 443, 448; in diese Richtung deutet jetzt auch die neuere Rechtsprechung des EGMR, ÖJZ 2008, 161 – Pfeifer. 62 So das BVerfG zu Art 5 II GG, BVerfGE 63, 131, 142 f. 63 Vgl hierzu die nunmehr recht umfangreiche Spruchpraxis, EGMR, ÖJZ 1990, 482 – B.; EuGRZ 1990, 261 – Autronic; EuGRZ 1994, 549 – Informationsverein Lentia; ÖJZ 1998, 151 – Radio ABC; EuGRZ 2003, 488 – Demuth. 64 Vgl nur EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic; → § 2 Rn 34. 65 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 19. 66 Vgl dazu Grote KritV 1999, 27, 29 ff.
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Art 10 EMRK geschützt wird. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings bei Kommunikationsformen, die nicht eindeutig der Individual- oder der Massenkommunikation zuzuordnen sind. Lassen sich bei Diskussionsforen noch Differenzierungen danach vornehmen, ob es sich um moderierte oder offene Foren handelt, so dürfte die Grenze zwischen Individual- und Massenkommunikation bei anderen interaktiven Medien zunehmend verschwimmen. Dies ist für die EMRK vor allem deshalb nicht ganz unproblematisch, weil es in der Konvention – anders als im deutschen Grundgesetz – kein Auffanggrundrecht gibt. Es dürfte deshalb kaum möglich sein, im Wege der Auslegung oder der lückenfüllenden Ergänzung der EMRK ein Recht der Internet-Freiheit67 zu begründen. Da aber andererseits auch nicht davon auszugehen ist, dass die Konvention bestimmte Kommunikationsformen schutzlos stellen will, sollte jeweils anhand der konkreten Einzelfälle einer den unterschiedlichen Schutzfunktionen der Art 8 und 10 EMRK entsprechende Zuordnung der einzelnen Handlungen erfolgen.68 Eine solche Lösung kann zudem den differenzierten Schranken der EMRK Rechnung tragen. f) Wissenschaftsfreiheit 23
Ähnlich wie die Kunstfreiheit wird die Wissenschaftsfreiheit in der EMRK nicht ausdrücklich gewährleistet. Sie ist allerdings unstreitig Bestandteil der konventionsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit.69 Sie erfasst Lehre und Forschung gleichermaßen und erstreckt sich auf den gesamten Prozess zur Erzielung wissenschaftlicher Ergebnisse, auch wenn dieser im Vorfeld des eigentlichen Kommunikationsvorgangs liegt.70 Zu beachten ist, dass es für die innerstaatlich so wichtige objektivrechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit auf europäischer Ebene nach wie vor an einem sich auf die Organisation von Wissenschaft beziehenden Konsens fehlt,71 so dass einstweilen diesbezügliche Korrekturen nationaler Regelungen auf der Grundlage der EMRK die Ausnahme bleiben dürften.
2. Eingriff 24
Fall 2: (EGMR, NJW 2001, 1195 – Wille) W, Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz des Staates L und ehemaliges Regierungsmitglied, hatte im Rahmen eines wissenschaftlichen Vortrags die Auffassung vertreten, dass dem Staatsgerichtshof des Landes bei einem Streit zwischen Regierung und Parlament über die Auslegung der Verfassung eine Entscheidungskompetenz zukomme. Nach Presseberichten über diesen Vortrag richtete das Staatsoberhaupt ein Schreiben an W, in dem ausgeführt wurde, dass W’s Aussagen gegen Sinn und Wortlaut der Verfassung verstießen und das Staatsoberhaupt, in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte, W deshalb nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen werde, auch wenn das Parlament ihn dafür vorschlagen sollte. In einem sich anschließenden Briefwechsel legten der Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz und das Staatsoberhaupt ihre gegensätzlichen Standpunkte ohne Annäherung in der Sache erneut dar. W wurde dem Staatsoberhaupt später vom Parlament für eine weitere
67 Für die Diskussion zum deutschen Recht vgl Mecklenburg ZUM 1997, 525 ff; jetzt auch insbesondere hinsichtlich des Zugangs zum Internet Trenkelbach Internetfreiheit 2005. 68 Zur Multimedia-Diskussion Dörr FS Kriele, 1997, S 1417 ff; vgl auch Bröhmer Europäisches Medienrecht 1998, 79 ff. 69 Vgl nur Grabenwarter EMRK § 23 Rn 11. 70 EGMR RUDH 1999, 182, Rn 8 und 36 ff – Wille; ÖJZ 1999, 614, Rn 50 – Hertel. 71 So auch Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 23.
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Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz vorgeschlagen. Das Staatsoberhaupt lehnte die neuerliche Ernennung ab. W ist der Auffassung, die Entscheidung des Staatsoberhaupts, ihn für keine neue Amtszeit zu ernennen, sei eine Sanktion für seine bei einem akademischen Vortrag geäußerten Ansichten über die Verfassung und verletze Art 10 EMRK.
Art 10 II EMRK eröffnet Spielräume für staatliche Eingriffe in die Freiheiten des Art 10 I EMRK.72 Ausdrücklich genannt werden bestimmte Eingriffsmodalitäten: Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen. Auf der Grundlage dieser Aufzählung lässt sich allerdings weder eine Eingriffstypologie entwickeln, wie schon der weite Begriff „Einschränkungen“ deutlich macht, noch lassen sich die Probleme des Eingriffsbegriffs umfassend erschließen. Ausgangspunkt ist vielmehr die allgemeine Überlegung, dass nicht jede Einschränkung der Grundfreiheiten des Art 10 I EMRK einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff im Sinne der Konvention darstellt.73 Herkömmlich muss der staatliche Hoheitsakt unmittelbar und wesentlich in das Recht der geschützten Person eingreifen. Dieser Eingriffsbegriff erfasst ohne Zweifel Veröffentlichungsverbote, wobei zu beachten ist, dass der EGMR eine Vorzensur im Regelfall nicht zulässt, weil sie das für den Schutzbereich und die Rechtfertigung von Eingriffen zentrale Verhältnis zwischen Regel und Ausnahme tendenziell verkehrt.74 Unter den „klassischen“ Eingriffsbegriff fallen aber auch Sanktionen disziplinarrechtlicher, verwaltungs- oder gar strafrechtlicher Art, die an bestimmte Mitteilungen geknüpft werden.75 Der enge Begriff des „Grundrechtseingriffs“, der im Rahmen der Art 8 bis 11 EMRK grundsätzlich zur Anwendung kommt,76 wird in Bezug auf die Kommunikationsgrundrechte seit geraumer Zeit kritisch hinterfragt und weiterentwickelt. Erste Ansätze einer Weiterentwicklung haben indirekte Sanktionen wie etwa Berufsverbote und Schadensersatzrisiken thematisiert, denn auch auf diese Weise können unerwünschte Meinungsäußerungen unter Umständen sehr wirksam beschränkt werden.77 Die Kritik am engen Eingriffsbegriff geht aber darüber hinaus und greift zwei weitere Fragestellungen auf: einerseits wird im Schrifttum die so genannte Drittwirkung der Kommunikationsgrundrechte thematisiert,78 andererseits musste sich der EGMR selbst mit der Frage auseinandersetzen, ob bereits ein faktischer Einschüchterungsversuch als Eingriff zu qualifizieren ist.79
72 Zur Beschränkbarkeit von Art 10 EMRK erläuternd Grabenwarter EMRK § 23 Rn 12. 73 Grabenwarter/Marauhn in: Grote/Marauhn, KK, Kap 7 Rn 10. 74 Zwar hat der EGMR im Fall Observer und Guardian, EuGRZ 1995, 16, Rn 60, Verbotsanordnungen vor der Veröffentlichung nicht ausgeschlossen, hierfür aber einen strengen Prüfungsmaßstab verlangt. Zur Bewertung dieser Entscheidung Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 24; vgl auch Probst (Fn 43) S 25. 75 Villiger EMRK, 391 f. 76 Villiger EMRK, 344; vgl auch Grabenwarter EMRK, § 18 Rn 5–6; → ausf dazu § 2 Rn 58 f. 77 Näher dazu Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 36. 78 Probst (Fn 43) S 27 f; Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 285 f; Dröge Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003, 38 f; → auch § 2 Rn 48. Vgl jetzt auch EGMR, RJD 2000-III, 1, Rn 43 – Özgür Gündem 79 Dies bejahen im Anschluss an EGMR, NJW 2001, 1195 – Wille bspw Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 64. Zurückhaltend Grabenwarter EMRK § 23 Rn 17.
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Ausgehend von der Überlegung, dass „gezielt einseitige Berichterstattung und Beeinflussung im staatlichen Rundfunk und Fernsehen einen Verstoß gegen die Freiheit der Meinungsbildung“ 80 darstellen kann, ist zu diskutieren, ob die immer stärker anwachsende private Medienmacht und die private Medienkonzentration die Meinungsfreiheit in vergleichbarer Weise beeinträchtigen können. Die EMRK thematisiert die Drittwirkung als solche nicht. Entsprechend zurückhaltend sind die Konventionsorgane,81 und es ist kaum damit zu rechnen, dass diese Zurückhaltung in absehbarer Zeit aufgegeben wird. Andererseits eröffnet das Konzept „positiver Pflichten“, das – weniger im Kontext von Art 10 EMRK82 als vielmehr anhand wichtiger Streitfälle im Rahmen von Art 8 EMRK (→ vgl dazu § 3 Rn 26 f) – von den Konventionsorganen anerkannt worden ist, Spielräume, den für die demokratische Gesellschaft im Sinne von Art 10 II EMRK so zentralen Pluralismus effektiv zu sichern.83 Im konkreten Fall ging es bei Schutzpflichten dann weniger um eine Rechtfertigung anhand von Art 10 II EMRK, sondern um eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den betroffenen Individualinteressen im Rahmen von Art 10 I EMRK.84 Mag man schon indirekte Sanktionen zu den subtileren Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit zählen, so gilt dies erst recht für die Androhung von Sanktionen, deren Ausführung selbst kein Konventionsrecht entgegensteht. Nach Auffassung des EGMR kommt es in einem solchen Fall weder darauf an, ob der Inhalt der Drohung konventionswidrig ist, noch darauf, ob die Drohung selbst unmittelbare Rechtswirkungen entfaltet. Maßgeblich ist allein, ob die Maßnahme bezweckt, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken.85 Anknüpfend an vorsichtige Modifikationen des Eingriffsbegriffs in Richtung auf eine Öffnung gegenüber anderen als gezielten Einwirkungen auf den Schutzbereich in früheren Entscheidungen86 hat der EGMR deutlich zum Ausdruck gebracht, dass auch faktische Einschüchterungsversuche einen Eingriff darstellen können.87 Diese Entwicklungen sprechen dafür, bei der Prüfung einschlägiger Sachverhalte zunächst vom klassischen Eingriffsbegriff auszugehen, dann aber im Hinblick auf Modifikationen, die sich angesichts spezifischer Grundrechtsgefährdungen kaum von der Hand weisen lassen, fallspezifische Weiterungen zuzulassen. Lösung Fall 2: Prima facie könnte man annehmen, es gehe in diesem Fall hauptsächlich um den Zugang zum öffentlichen Dienst. Ein solches Recht wurde nicht in die Konvention aufgenommen. Trotzdem können sich öffentliche Bedienstete gegen ihre Abberufung wehren, falls diese Abberufung ihre aus der Konvention erwachsenden Rechte verletzen würde. Hier kommt die Meinungsäußerungsfreiheit in Betracht, deren Schutzbereich im konkreten Fall eröffnet ist.
80 81 82 83 84 85 86 87
Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 4. Näher dazu Probst (Fn 43) S 27; vgl EKMR, DR 62, 151 ff – Rommelfanger. Vgl aber EKMR, DR 49, 5 ff – X. Zum Pluralismus als Grundlage der Meinungs- und Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 38 – Informationsverein Lentia. So jedenfalls der Prüfungsansatz bei Art 8 EMRK: EGMR, Series A, Vol 160, Rn 42 – Gaskin; Series A, Vol 172, Rn 41 – Powell und Rayner. Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 359. Vgl etwa EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 44 – Lingens; Series A, Vol 149, Rn 29 – Barfod. EGMR, NJW 2001, 1195, Rn 44 ff – Wille. Krit Grabenwarter EMRK § 23 Rn 17; vgl auch Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 359.
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Es ist dann zu prüfen, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in Form einer „Formalität, Bedingung, Beschränkung oder Strafe“ vorliegt oder ob die Maßnahme im Bereich des Zugangs zum öffentlichen Dienst lag, das nicht im Schutzbereich der Konvention liegt. Das Hauptaugenmerk bei Prüfung dieser Frage ist auf den Brief des Staatsoberhaupts an W zu richten. Diesen Brief erhielt W während seiner Amtszeit als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz, ohne dass eine Neubesetzung dieser Position aktuell gewesen wäre. Aus dem Inhalt des Briefes geht hervor, wie sich das Staatsoberhaupt in Ausübung der ihm eingeräumten Rechte zukünftig gegenüber W zu verhalten gedenke. Zu prüfen ist also, ob bereits der bloßen Absichtserklärung Eingriffscharakter zuzumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ankündigung des Staatsoberhauptes, W nicht mehr für ein öffentliches Amt ernennen zu wollen, eine Rüge für die von W getätigten Äußerungen darstellte und diesen entmutigen sollte, sie in Zukunft zu wiederholen. Zwar ist die Nichternennung als solche nicht konventionswidrig. Die Androhung zielt aber darauf, die Meinungsäußerungsfreiheit des W zu unterdrücken. Sie stellt daher, obwohl sie selbst nicht unmittelbar rechtlich wirkt, einen Eingriff in das Recht des W auf Freiheit der Meinungsäußerung dar und lässt sich nicht als ein den späteren Rechtsakt lediglich vorbereitender Akt qualifizieren. Unter der Annahme, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und einen legitimen Zweck verfolgte, ist weiter zu prüfen, ob dieser in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Dabei könnte der Stellung W’s als hochrangigem Richter besondere Bedeutung zukommen, denn bei der Freiheit der Meinungsäußerung solcher Personen bekommen die Pflichten und die Verantwortung in Art 10 II EMRK eine besondere Bedeutung. Insbesondere kann von W Zurückhaltung bei der Ausübung dieses Rechts erwartet werden, um nicht die Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung in Frage zu stellen. Der Vortrag war Teil einer Reihe akademischer Vorlesungen zum Thema Verfassungsrecht und hatte fast zwangsläufig auch politische Zusammenhänge. Allein wegen dieser Tatsache sollte W aber nicht davon abgehalten werden, sich zu solchen Themen äußern zu können. Die Ansichten waren zudem nicht unhaltbar. Die Ansichten des W hatten zudem offensichtlich keinen Einfluss auf seine Amtsführung als Präsident der Verwaltungsbeschwerdeinstanz. Daher ist der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Es liegt eine Verletzung von Art 10 EMRK vor.
3. Rechtfertigung Eingriffe in die durch Art 10 I EMRK geschützten Freiheiten sind gerechtfertigt und damit konventionsgemäß, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 10 II EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vorliegen.88 Was die von Art 10 II EMRK zugelassenen Eingriffszwecke betrifft, so fällt auf, dass es sich im Vergleich mit den anderen Konventionsgewährleistungen um den umfangreichsten Beschränkungskatalog der Konvention handelt.89 Ungewöhnlich ist auch, dass Art 10 II EMRK der Aufzählung der zugelassenen Eingriffszwecke eine Begründung voranstellt: dass die Ausübung der gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte Pflichten und Verantwortung mit sich bringt. Nachdem der EGMR in einer frühen Entscheidung noch betont hatte, dass derjenige, der die Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK aus-
88 Zum Prüfungsaufbau vgl auch EGMR, 31.1.2006, Rn 38 – Giniewski. 89 So auch Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 23.
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übt, Pflichten und Verantwortlichkeiten „übernimmt“,90 hat er später klar gestellt, dass aus dieser Eingangs- oder Begründungsformel keine eigene Grundlage für Einschränkungen folgt.91 Möglicherweise sollten mit der Formel eher die weitreichenden Beschränkungsmöglichkeiten mit dem spezifischen Gefahrenpotential von Massenmedien in Verbindung gebracht und damit legitimiert werden.92 Der EGMR ist allerdings offensichtlich der Auffassung, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit „ein gewisses Verantwortungsbewußtsein“ 93 voraussetzt. Dies schlägt sich in drei unterschiedlichen Fallkonstellationen 94 nieder, nämlich (1) in weitergehenden Beschränkungsmöglichkeiten bei Personen in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Status- oder Funktionsverhältnis,95 (2) bei mit der Meinungsäußerung möglicherweise verbundenen Verletzungen des sittlichen oder religiösen Empfindens anderer96 und (3) in Gestalt einer besonderen Inpflichtnahme der Presse 97. a) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage
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Fall 3: (EGMR, RJD 1998-VII, 2719 ff – Steel) A stellte sich bei einer Demonstration von Tierschützern gegen die Moorhuhnjagd vor einen Jäger und hinderte diesen so am Einsatz seiner Schusswaffe. Sie wurde wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgenommen und verurteilt. Das Gericht zweiter Instanz forderte A auf, einer Anordnung zuzustimmen, die sie verpflichtet hätte, für die nächsten zwölf Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, widrigenfalls eine zu hinterlegende Kaution verfiele. Da A dies ablehnte, wurden sie zu 28 Tagen Haft verurteilt. A behauptet eine Verletzung von Art 10 EMRK.
Vorausgesetzt wird in der Regel eine die Behörde zum Eingriff ermächtigende generellabstrakte Norm, der innerstaatlich Gesetzeskraft zukommt, auch wenn es sich um einen im Ausgangspunkt völkerrechtlichen Rechtsakt 98 handelt. Dies schließt, in Abhängigkeit vom jeweiligen Rechtsquellensystem,99 auch ungeschriebenes Recht ein. Allerdings muss die gesetzliche Grundlage hinreichend zugänglich und vorhersehbar100 sein (→ § 2 Rn 63). Ob hier mit dem EGMR auch auf besondere Kenntnisse des konkreten Normadressaten (etwa eines Rechtsanwalts) abgestellt werden kann,101 dürfte eher zweifelhaft sein.102 Probleme treten insbesondere im Zusammenhang mit der Verwendung eines erweiterten Eingriffsbegriffs auf. Werden nämlich faktische Einschüchterungsversuche als Eingriff quali-
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EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside. EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 46 – Thorgeirson. Probst (Fn 43) S 28. So die Formulierung bei Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 71. Eingehend dazu Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 72. Exemplarisch EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 61 – Vogt. Vgl jüngst EGMR, 31.1.2006, Rn 43 – Giniewski. Hierzu schon EGMR, Series A, Vol 298, Rn 31 – Jersild. EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 68 – Groppera Radio AG. Grabenwarter EMRK, § 23 Rn 20. Dazu, dass die Vorhersehbarkeit durch widersprüchliche gerichtliche Entscheidungen trotz an sich hinreichender Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage beeinträchtigt werden kann, vgl EGMR, 17.1.2006, Rn 54 – Goussev und Marenk. 101 EGMR, RJD 2004-III, 197, Rn 33 – Amihalachioacie. 102 Zu Recht kritisch Grabenwarter EMRK, § 23 Rn 20.
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fiziert,103 so wird es häufig schwierig sein, eine spezielle Rechtsgrundlage im Sinne von Art 10 II EMRK zu finden. Dies führt nicht per se zur Unzulässigkeit des Eingriffs, wenn man berücksichtigt, dass Art 10 II EMRK von seiner Struktur her eigentlich auf rechtliche Eingriffe zugeschnitten ist. Es dürfte bei faktischen Eingriffen daher zulässig sein, vom Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage abzusehen, soweit die Maßnahme im Übrigen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.104 Lösung Fall 3: Zunächst ist zu klären, ob überhaupt der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist. A hat den Jäger physisch an der Ausübung der Jagd gehindert. Es handelt sich also um eine Realhandlung. Allerdings soll diese mit einem gewissen Störungspotential das Missfallen an der Mohrhuhnjagd zum Ausdruck bringen. Die Handlung lässt sich als solche also dem Schutzbereich von Art 10 I EMRK zuordnen. Fraglich ist allerdings, ob die Unfriedlichkeit dieser Handlung und die somit durch drittstörendes Tun vermittelte Meinungsäußerung der Einordnung in den Schutzbereich entgegensteht. Die Störung Dritter ist jedoch kein Problem des Schutzbereichs, sondern eines der konventionsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs. Der Eingriff liegt in der gerichtlichen Verurteilung und der Verhängung von Haft. Eine Rechtfertigung ist grundsätzlich nur möglich, wenn der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. Die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wurde in den letzten Jahrzehnten von der innerstaatlichen Rechtsprechung des betroffenen Landes so präzisiert, dass es nun hinlänglich klar ist, dass eine solche Störung nur vorliegt, wenn das Verhalten einer Person einen Schaden gegenüber einer anderen Person oder Sache verursacht oder verursachen könnte. Es ist ebenso ausreichend klar, dass eine solche Person deswegen festgenommen und angehalten werden kann. Das von der Konvention verlangte Mindestmaß an Deutlichkeit innerstaatlicher Rechtsnormen ist demnach gegeben. Die Festnahme von A verfolgte die legitimen Zwecke Aufrechterhaltung der Ordnung und Schutz der Rechte anderer. Die verhängte Haft verfolgte überdies den Zweck, das Ansehen der Rechtsprechung im Sinne von Art 10 II EMRK zu gewährleisten. Die innerstaatlichen Gerichte konnten wegen der Weigerung der A, sich zu verpflichten, für die nächsten zwölf Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, begründeterweise annehmen, dass sie mit ihren Protestaktivitäten in dieser Art und Weise fortfahren würde. Wegen der großen Bedeutung, die der Rechtsstaatlichkeit und dem Ansehen der Rechtsprechung in einer demokratischen Gesellschaft zukommen, kann die Haft der A trotz der Dauer von 28 Tagen (noch) als verhältnismäßig angesehen werden.
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b) Die zulässigen Eingriffszwecke Im Rahmen der nach Art 10 II EMRK zulässigen Eingriffszwecke, die den Bezugspunkt für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit bilden, kommt dem Schutz des guten Rufes anderer zentrale Bedeutung zu.105 Da Beleidigungstatbestände je nach Fassung und Anwendung die Meinungsfreiheit erheblich einschränken können, ist in Anbetracht der Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie (auf die Art 10 II EMRK mit der typischen Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „in einer demokratischen Gesellschaft … notwendig“ hinweist) sowohl eine restriktive Auslegung des Eingriffs103 → Vgl dazu o Rn 24 ff. 104 So auch Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 359. 105 Vgl jetzt EGMR, ÖJZ 2008, 161, Rn 35 – Pfeifer.
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zwecks als auch besondere Sorgfalt bei der Prüfung der Rechtfertigung hierauf beruhender Eingriffe geboten.106 Nur auf diese Weise lässt sich die vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten als „chilling effect“107 bezeichnete Gefahr in Grenzen halten, dass Menschen Äußerungen allein deshalb unterlassen, weil sie befürchten, dass ihnen aus der Meinungsäußerung Nachteile erwachsen. Andererseits hat der EGMR nie einen Zweifel daran gelassen, dass Beleidigungsvorschriften zum Schutz des Rechtsfriedens notwendig sind. Insbesondere gilt der Beleidigungsschutz auch für Politiker.108 Allerdings hat der Gerichtshof, insoweit einer demokratisch-funktionalen Auslegung folgend, die Grenzen einer Kritik an Politikern weiter gezogen als im Fall von Privatpersonen.109 Dies ist letztlich eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Ein besonderes Problem stellt der „Ehrschutz“ von staatlichen Institutionen dar. Nachdem der EGMR zunächst einen solchen Beleidigungsschutz anerkannt hatte,110 scheint er nunmehr davon abzurücken.111 So hat er die Bestrafung eines Wehrpflichtigen wegen Kollektivbeleidigung der griechischen Armee unter dem Gesichtspunkt der nationalen und öffentlichen Sicherheit als unverhältnismäßig angesehen.112 Indem der EGMR die Funktionsfähigkeit der Armee zum geschützten Rechtsgut erhob, dürfte er implizit nunmehr einen besonderen Ehrschutz von staatlichen Institutionen ablehnen.113 Eng verwandt mit dem Beleidigungsschutz ist der Schutz der Rechte anderer. Dieser Eingriffszweck überschneidet sich teilweise mit dem des Ehrschutzes. Allerdings lassen sich dem Schutz der Rechte anderer weitere Eingriffszwecke zuordnen. So hat der EGMR anerkannt, dass der Schutz der religiösen Auffassungen anderer 114 wie auch der Schutz der Privat- und Intimsphäre anderer 115 Eingriffe in die Meinungs- und in die Informationsfreiheit rechtfertigt. In Erwägung zu ziehen ist der Schutz der Rechte anderer auch im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen. Eingriffe auf der Grundlage von Regelungen über den unlauteren Wettbewerb lassen sich diesem Eingriffs-
106 Differenzierend Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff; ähnlich Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 32. 107 Zum „chilling effect“ vgl US Supreme Court, NAACP/Alabama ex rel Patterson, 357 US 449 (1958); zu Lehre und Rspr in Deutschland s Grimm NJW 1995, 1703 ff; zur EMRK vgl insb EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 68 – Thorgeirson und Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 819 f. 108 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 36 – Lingens; hierzu auch EGMR, ÖJZ 2008, 161 – Pfeifer. 109 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 42 – Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 59 – Oberschlick; vgl dazu Peukert FS Mahrenholz, 1994, S 294 ff. 110 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 59 – Thorgeirson (Ehrschutz öffentlicher Einrichtungen); Series A, Vol 236, Rn 46 – Castells (Ehrschutz der Regierung). 111 Hierfür spricht auch EGMR, ÖJZ 2007, 618, Rn 34 – Vereinigung Bildender Künstler; vgl ferner EGMR, 6.12.2007, Rn 37 – Katrami. 112 EGMR, RJD 1997-VII, 2575, Rn 47 – Grigoriades; zur Geltung von Art 10 EMRK für Soldaten vgl EGMR, Series A, Vol 302, Rn 36 – Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi. 113 So ausdrücklich Richter Jambrek in seinem Sondervotum: EGMR, RJD 1997-VII, 2595, Rn 3–4 – Grigoriades. Eingehend zur Beleidigungsfähigkeit von Streitkräften Nolte AfP 1996, 313 ff. 114 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 47 f – Otto-Preminger-Institut; RJD 1996-V, 1937, Rn 52 ff – Wingrove. 115 Dazu jetzt EGMR, RJD 2001-I, 263, Rn 68 f – Tammer; NJW 2004, 2647 Rn 63–66 – von Hannover (entgegen BVerfGE 101, 361, 390 f). Zuvor schon Frowein in: ders/Peukert Art 10 EMRK Rn 33, unter Bezugnahme auf Art 8 EMRK.
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zweck zuordnen.116 Neuerdings qualifiziert der EGMR auch das Recht auf effektive Demokratie als „Recht anderer“.117 Es ist nicht zu verkennen, dass sich dieser Eingriffszweck damit zu einer Art Generalklausel entwickelt. Im Hinblick auf die Zulässigkeit und Notwendigkeit politischer Kritik erweisen sich auch die Eingriffszwecke der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit und der öffentlichen Sicherheit als ausgesprochen sensibel. Das Verteilen von Flugblättern, die eine Aufforderung zur Fahnenflucht verbunden mit konkreten Hinweisen auf Desertionsmöglichkeiten enthalten, lässt sich ohne Zweifel als Gefahr für die nationale Sicherheit werten.118 Nichts anderes gilt für das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen,119 wobei diesbezüglich auch der Schutz der Rechte anderer in Erwägung zu ziehen ist. Eher zweifelhaft ist es, die Veröffentlichung der Erinnerungen eines früheren Mitglieds des Geheimdienstes120 ohne weiteres dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnen, insbesondere wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es eher um den Schutz des Geheimdienstes als um den der nationalen Sicherheit geht.121 In einer Reihe von Fällen gegen die Türkei hat der EGMR ausdrücklich auf den Schutz der territorialen Unversehrtheit Bezug genommen und anerkannt, dass die Unterdrückung separatistischer pro-kurdischer Aussagen aus diesem Grund ebenso wie aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgen kann.122 Der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung (und der Verbrechensbekämpfung) schützt nicht nur die öffentliche Ordnung als solche,123 sondern ermöglicht auch den Schutz der Ordnung spezifischer sozialer Gruppen oder von Institutionen.124 Zu denken ist in diesem Kontext etwa an den Schutz der Streitkräfte,125 den Schutz von Strafanstalten,126 aber 116 EGMR, EuGRZ 1985, 150 ff – Barthold; EuGRZ 1996, 302 ff – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; HRLJ 1994, 184 ff – Casado Coca. 117 EGMR, RJD 1998-VI, 2356, Rn 54 – Ahmed; zuvor schon angedeutet in EGMR, RJD 1998-I, 175, Rn 38 – Bowmann; näher dazu Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 360; Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 92. 118 EKMR, DR 19, 5, 38 f – Arrowsmith. 119 EKMR, DR 56, 205, 209 – Kühnen. 120 Hiervon zu unterscheiden sind die unzweifelhaft dem Schutz der nationalen Sicherheit zuzuordnenden Verbote der Veröffentlichung geheimdienstlicher Dokumente als solcher (EGMR, ÖJZ 1995, 469, Rn 36 – Weekblad Bluf!) oder militärischer Geheimnisse (EGMR, NJW 1993, 1697, Rn 43 – Hadjianastassiou). 121 So die zutr Kritik von Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 29 am EGMR im Fall Observer und Guardian EuGRZ 1995, 16, Rn 56 und 69; vgl auch die Sondervoten der Richter Petitti (dem sich Richter Pinheiro Farinha anschloss) und Morenilla, zusammengefasst in EuGRZ 1995, 23 ff. 122 Vgl statt aller EGMR, RJD 2002-X, 301, Rn 40 und Rn 48–49 – Arslan (mit kritischen Anmerkungen des EGMR zum konkreten Fall). Wenn Äußerungen mit einem Aufruf zur Gewalt verknüpft sind, lässt der EGMR einen größeren Beurteilungsspielraum zu; kritisch dazu, dass der EGMR bislang noch keine klaren Kriterien dafür entwickelt hat, wann von einem Aufruf zur Gewalt auszugehen ist, Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 362; zahlreiche weitere Nachw aus der Rechtsprechung bei Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 88 (dort Fn 389). 123 Dazu EGMR, ÖJZ 1994, 173, Rn 28 – Chorherr. 124 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 30. 125 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 98 – Engel. 126 EGMR, EuGRZ 1975, 91, Rn 45 – Golder (zu Art 8 II EMRK). Vgl auch Laeuchli/Bosshard Die Meinungsfreiheit gem Art 10 EMRK unter Berücksichtigung der neueren Entscheidungen und der neuen Medien, 1990, 165 ff.
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auch an Standesregeln,127 die im Zusammenhang mit der Verbreitung kommerzieller Informationen bemüht wurden. Soweit sich die Verbreitung rassistischer Äußerungen128 oder auch der Auschwitzlüge129 nicht oder nur teilweise anderen Eingriffszwecken zuordnen lassen, ist ein Rückgriff auf die Aufrechterhaltung der Ordnung (gegebenenfalls auch kumulativ) in Erwägung zu ziehen. Die Ausgestaltung der Rundfunkordnung, die schon Art 10 I 3 EMRK insoweit ermöglicht, als in diesem Bereich tätige Unternehmen einem Genehmigungsverfahren unterworfen werden können, lässt sich, soweit es dabei um wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen geht, nur dann zweifelsfrei Art 10 II EMRK zuordnen, wenn in diesem Zusammenhang der Eingriffszweck der Aufrechterhaltung der Ordnung bemüht wird.130 Zu beachten ist dabei allerdings, dass im Rahmen der Gewährleistungen der Art 8–11 EMRK allein Art 8 II EMRK ausdrücklich auf „das wirtschaftliche Wohl des Landes“ Bezug nimmt. Zu den eher problematischen Eingriffszwecken, die sich eigentlich nur durch eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf ein dem Schutz der Kommunikationsfreiheiten gerecht werdendes Maß reduzieren lassen, gehört der Schutz der Moral, der sich für staatliche Behörden als erheblich attraktiver erweist als der in unmittelbarem Zusammenhang damit genannte Schutz der Gesundheit. Der Schutz der Moral ist insbesondere im Zusammenhang mit pornographischen Schriften und Videofilmen bemüht worden. Gelegentlich tritt der Schutz der Moral gleichwertig neben den Schutz der Rechte anderer, etwa im Zusammenhang mit dem Schutz religiöser Überzeugungen. Die besondere Problematik beim Schutz der Moral liegt sicherlich darin, dass der Schutz der Moral stark von unterschiedlichen Vorstellungen geprägt ist, dass es keine europäische Konzeption der Moral gibt und dass der EGMR möglicherweise weniger zur Beurteilung der Lage geeignet ist als staatliche Behörden.131 Das Problem des an dieser Stelle in Gestalt eines den staatlichen Behörden und Gerichten verbleibenden Beurteilungsspielraums („margin of appreciation“/„marge d’appreciation“) 132 ist anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu diskutieren. Der Schutz der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten hat bislang in der Spruchpraxis keine besondere Rolle gespielt. Bei staatlichen Nachrichten liegt hier ein Zusammenhang mit dem Schutz nationaler Sicherheit nahe.133 Ob und inwieweit dieser Eingriffszweck auch zum Schutz der Vertraulichkeit privater Nachrichten herangezogen werden kann, dürfte in Anbetracht neuerer technischer Entwicklungen noch zu klären sein. Immerhin sehen nationale telekommunikationsrechtliche Regelungen den Vertraulichkeitsschutz auch für private Nachrichten vor. Zwar schützt Art 8 EMRK die private Kommunikation vor dem Zugriff Privater allenfalls in engen Grenzen, so dass ein (positiver)
127 EGMR, HRLJ 1994, 184 ff – Casado Coca. 128 EGMR, Series A, Vol 298, Rn 33–35 – Jersild. 129 EKMR, DR 29, 194 ff – X; DR 82, 117 ff – Remer. Der Gerichtshof hat in einem obiter dictum festgestellt, dass das Leugnen der geschichtlichen Tatsache des Holocausts kraft Art 17 EMRK nicht dem Schutz von Art 10 EMRK unterfalle; EGMR, RJD 1998-VII, 2864, Rn 47 – Lehideux und Isorni. 130 Zum Verhältnis zwischen Art 10 I 3 und Art 10 II EMRK → vgl unten Rn 56. 131 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 48 – Handyside; EuGRZ 1988, 543, Rn 34 – Müller. 132 Allgem zum Beurteilungsspielraum Brems ZaöRV 1996, 240ff; zum Beurteilungsspielraum im Kontext der Pressefreiheit Prepeluh ZaöRV 2001, 771 ff. 133 So Laeuchli/Bosshard (Fn 126) S 180. Vgl im Übrigen die Kommissionsentscheidungen: Yearbook of the European convention on human rights 13, 888 ff – X und DR 35, 224 ff – Z.
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Schutzanspruch aus der EMRK nur unter bestimmten, hier nicht näher zu diskutierenden Voraussetzungen in Betracht kommt.134 Werden aber private Nachrichten durch die staatliche Gesetzgebung geschützt,135 so können sich diese Schutzmaßnahmen durchaus als Eingriffe in den Schutzbereich von Art 10 I EMRK darstellen, deren Rechtmäßigkeit anhand von Art 10 II EMRK zu prüfen ist. Der Schutz des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung war aus der deutschen Perspektive lange von eher geringer Bedeutung, wurde dieser Grund doch in erster Linie zum Schutz des Rechtsinstituts des „contempt of court“, wie er in den Rechtsordnungen des common law bekannt ist, aufgenommen.136 Allerdings ist dieser Eingriffszweck (neben dem der Aufrechterhaltung der Ordnung) heute im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Gerichtsverfahren zu beachten.137
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c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Wie bei den übrigen Einschränkungsklauseln der Art 8–11 EMRK ist auch bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die Schutzbereiche von Art 10 I EMRK nicht nur zu prüfen, ob ein zulässiger Zweck verfolgt wird. Vielmehr müssen Eingriffe in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, um den Anforderungen von Art 10 II EMRK zu genügen.138 Ob dies der Fall ist, entscheiden die Konventionsorgane.139 In Anbetracht der besonderen Bedeutung der Kommunikationsfreiheiten des Art 10 I EMRK für demokratisch verfasste Gesellschaften kommt der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs und damit der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art 10 II EMRK besondere Bedeutung zu (allgem zur Verhältnismäßigkeitsprüfung → § 2 Rn 65).140 Nicht nur müssen die oben genannten Eingriffszwecke als Ausnahmen eng interpretiert und ein Eingriff überzeugend begründet werden. Vielmehr besteht grundsätzlich sogar eine Vermutung für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung.141 Dies ist auf den ersten Blick überzeugend, hat aber eine nicht unproblematische Differenzierung zur Folge, die sich gerade aus dem zwischen demokratischer Ordnung und Meinungsäußerungsfreiheit bestehenden Zusammenhang ergibt. Der EGMR privilegiert nämlich die politische Meinungsäußerung gegenüber anderen Meinungsäußerungen bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes142 und inter-
134 Zur Bedeutung von Art 8 EMRK für die Verwendung kryptographischer Verfahren vgl Diregger DuD 1998, 28 ff. 135 EGMR, NJW 1999, 1315, Rn 43 – Fressoz und Roire. 136 EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 56 f – Sunday Times (Nr 1). 137 So nunmehr EGMR, RJD 1997-V, 1534, Rn 49 – Worm. Vgl auch die rechtsvergleichende Perspektive bei Gehring ZRP 2000, 197 ff. 138 Trotz ausdifferenzierter Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt der EGMR regelmäßig ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis („pressing social need“), vgl statt aller EGMR, NJW-RR 2008, 1141, Rn 105 – Stoll. 139 So jüngst bspw EGMR, 8.7.2008 – Vajnai („roter Stern“). 140 So auch der EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 63 – Thorgeirson; Series A, Vol 236, Rn 42 – Castells. 141 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 26. 142 So auch die Einschätzung von Villiger EMRK, 400 und Brems ZaöRV 1996, 240, 274 f. Dazu, dass der weite Beurteilungsspielraum nationaler Behörden im Bereich des wirtschaftlichen Lebens in bestimmten Fallkonstellationen Einschränkungen erfahren hat, vgl Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 805 ff. Grabenwarter merkt hierzu an, dass in „jüngerer Zeit … Meinungsäußerungen von politischem oder allgemeinem Interesse der Presse gleichgestellt“ werden (Grabenwarter EMRK, § 23 Rn 25). Dabei verkennt der EGMR allerdings nicht die Unterscheidung zwischen
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pretiert Art 10 EMRK insoweit demokratisch-funktional.143 Auch wenn man die daraus resultierende Diskriminierung kommerzieller und anderer nicht-politischer Meinungsäußerungen nicht teilt, so wird man dem EGMR zumindest konzedieren müssen, dass die Differenzierung mit guten Gründen nicht schon am Schutzbereich ansetzt, sondern erst im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen zum Tragen kommt. Allein dieser Ansatz ist dogmatisch haltbar. Für eine Differenzierung des Schutzbereichs gibt Art 10 I EMRK insoweit nichts her. Auch wenn die Straßburger Spruchpraxis bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes regelmäßig nicht zwischen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit eines Eingriffs unterscheidet, so lassen sich doch Anhaltspunkte für eine Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art 10 II EMRK ausmachen. Dabei ist es trotz der Zurückhaltung des EGMR zu empfehlen, zunächst die Geeignetheit eines Eingriffs und dessen Erforderlichkeit zu prüfen. Der Maßstab variiert nach Maßgabe des Eingriffsziels.144 Schon an der Geeignetheit eines Veröffentlichungsverbots dürfte es fehlen, wenn – wie im Fall der Erinnerungen eines früheren Mitgliedes des britischen Geheimdienstes – das betreffende Werk im Ausland (im konkreten Fall in den Vereinigten Staaten) schon veröffentlicht worden war.145 Auch das Verbot, in Irland über Abtreibungsmöglichkeiten in Großbritannien zu informieren, wirft Fragen der Geeignetheit auf, wenn interessierte Frauen die Auskünfte ohne großen Aufwand auch anderweitig (etwa über britische Telefonbücher oder Zeitschriften) einholen können.146 Die Erforderlichkeit von Eingriffen ist insbesondere in den Fällen indirekter Sanktionen für Meinungsäußerungen ein Problem. In Betracht zu ziehen ist hier in erster Linie die Spruchpraxis zu den so genannten „Berufsverboten“. Wenig überzeugend hatte der EGMR zunächst in zwei Fällen die Auffassung vertreten, eine Verletzung von Art 10 EMRK liege deshalb nicht vor, weil es um den Zugang zum öffentlichen Dienst gehe, der von der Konvention nicht gewährleistet werde. Dabei übersah der Gerichtshof, dass es nicht um den Zugang zum öffentlichen Dienst ging (in einem Fall war die Ernennung einer Lehrerin auf Probe wegen Täuschung zurückgenommen,147 im anderen Fall ein Beamter wegen rechtsradikaler Äußerungen entlassen worden148), sondern um die Reichweite von an Beamte zu stellenden Loyalitätsanforderungen. Man wird annehmen müssen, dass der EGMR sich mit dem eigentlichen Problem in der Phase des Kalten Krieges nicht befassen wollte. Erst nach dem Ende des (ideologischen) Konflikts zwischen Ost
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politischer und persönlicher Debatte, dazu nur EGMR, ÖJZ 2001, 693, Rn 40 – Jerusalem. Zum fast uneingeschränkten Schutz einer künstlerischen Meinungsäußerung mit politischer Ausrichtung vgl EGMR, ÖJZ 2007, 618, Rn 26 ff – Vereinigung bildender Künstler. Zum Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation nach wie vor einschlägig: Böckenförde NJW 1974, 1529 ff. Eingehend Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 100 ff. Wenig überzeugend insoweit EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 66 ff – Observer und Guardian; vgl dazu die Kritik bei Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 27. EGMR, EuGRZ 1992, 484, Rn 55 – Open Door and Dublin Well Woman; eingehend zu dieser Entscheidung Zimmermann NJW 1993, 2966 ff und Langenfeld/Zimmermann ZaöRV 1992, 259 ff (hier auch zur einschlägigen Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit). EGMR, EuGRZ 1986, 497 ff – Glasenapp. EGMR, EuGRZ 1986, 509 ff – Kosiek.
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und West setzte sich der EGMR kritisch mit den Loyalitätsanforderungen auseinander und entschied, dass die Festlegung einer Loyalitätspflicht zwar zulässig, ihre Anwendung aber ohne Berücksichtigung der vom Beamten ausgeübten Funktion und ohne Würdigung der Auswirkungen einer bloßen Parteimitgliedschaft auf die Erfüllung der Dienstpflichten unverhältnismäßig sei.149 Dem Erforderlichkeitsgrundsatz hätte im konkreten Fall allenfalls eine andere Maßnahme genügt. Als nicht erforderlich und deshalb unverhältnismäßig sind auch extrem hohe Schadensersatzsummen wegen Beleidigung anzusehen.150 Jenseits der Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit sind im Rahmen von Art 10 II EMRK einige Differenzierungen entwickelt worden, die Auswirkungen auf die Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben. Dabei geht es um die Privilegierung politischer Kommunikation, um Anforderungen an rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, um den staatlichen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und um eigenständige Prüfungsmaßstäbe bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit.
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d) Die Privilegierung politischer Kommunikation Die politische Kommunikation wird dadurch besonders geschützt, dass Eingriffe, die politische Kritik mehr oder weniger unmöglich machen, grundsätzlich als unverhältnismäßig und damit konventionswidrig angesehen werden müssen. So hat der EGMR in mehreren Entscheidungen das Erfordernis eines Wahrheitsbeweises bei Werturteilen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen als unverhältnismäßig angesehen und gelegentlich Äußerungen, die von nationalen Gerichten als Tatsachenbehauptungen angesehen wurden, als Werturteile qualifiziert.151 Auch die Forderung, bei einem Bericht über Gerüchte und Erzählungen anderer von Polizeibrutalität, den Nachweis der Richtigkeit zu erbringen,152 und die Verurteilung eines dänischen Journalisten, der in einer Sendung rassistische Äußerungen von Interviewpartnern verbreitet, sich aber nach Auffassung des EGMR davon eindeutig distanziert hatte, ließ der EGMR am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern.153 Allerdings machte der EGMR auch deutlich, dass tatsächliche Äußerungen nicht ohne jede Grundlage oder gar böswillig gemacht werden dürfen.154
149 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 59–61 – Vogt. 150 EGMR, HRLJ 1995, 295 ff – Tolstoy Miloslavsky; dazu, dass die Höhe von Strafen oder Schadenersatzbeträgen eine zentrale Rolle spielen kann, vgl auch EGMR, RJD 2004-XI, 63, Rn 116 ff – Cumpa˘na˘ und Masa˘re. 151 Wird für Werturteile ein Wahrheitsbeweis verlangt, so liegt in aller Regel eine Verletzung von Art 10 EMRK vor; vgl EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 46 – Lingens; EuGRZ 1991, 216, Rn 63 – Oberschlick; Series A, Vol 242-B, Rn 34 – Schwabe; ÖJZ 2002, 468, Rn 45–46 – Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Anders dagegen die Entscheidung im Fall Castells, Series A, Vol 236, Rn 48, wo es um Tatsachen ging, die prinzipiell dem Beweis zugänglich waren, die im konkreten Fall aber nicht in das Verfahren eingebracht werden konnten. 152 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 65 – Thorgeirson. 153 EGMR, Series A, Vol 298, Rn 33–36 – Jersild; bestätigend EGMR, ÖJZ 2003, 618, Rn 33 – Verlagsgruppe NEWS GmbH (Nr 2). 154 EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 63, 67 – Thorgeirson.
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Steht eine Äußerung in einem wirtschaftlichen Kontext, findet ein weniger strenger Maßstab Anwendung;155 der staatliche Beurteilungsspielraum ist deutlich weiter. So können etwa die Verbreitung richtiger Tatsachenbehauptungen156 oder die Übersendung von Zeitungsartikeln157 durch Regelungen des unlauteren Wettbewerbs beschränkt werden, ohne dass allein dadurch schon der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt wäre. Dies gilt nur eingeschränkt für Standesregeln und darauf gestützte Werbeverbote. Eine extensive Interpretation und Anwendung standesrechtlicher Bestimmungen kommt in diesem Zusammenhang wohl eher nicht in Betracht. Der EGMR betont mit Recht die besondere Bedeutung der Beteiligung fachlich kompetenter Personen an einer öffentlichen Diskussion und macht die Zulässigkeit eines Eingriffs in die Rechte des Art 10 I EMRK davon abhängig, ob der an den Standesregeln zu messende Werbeeffekt eines Diskussionsbeitrages (einer Anwaltkanzlei oder einer Arztpraxis) primär oder bloß sekundär ist.158 e) Anforderungen an potentiell rufschädigende und ehrverletzende Äußerungen, insbesondere: Sorgfaltspflichten der Presse
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Fall 4: (EGMR, EuGRZ 1999, 453 – Bladet Tromsø) Die B-Zeitung hatte den Bericht eines vom zuständigen Ministerium ernannten Robbenfanginspektors über seine Jagd-Saison-Beobachtung auf einem namentlich genannten Schiff abgedruckt. Der Inspektor stellte in diesem Bericht die Behauptung auf, einige nicht namentlich genannte Mannschaftsmitglieder hätten Robben lebendig gehäutet und eine bestimmte Robbenart vorschriftswidrig gefangen. Der Bericht war im Kontext einer längeren öffentlichen Debatte über den Robbenfang erschienen, in der alle vertretenen Interessen in der B-Zeitung zu Wort kamen. Allerdings war der Zeitung im Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannt, dass der in diesem Fall grundsätzlich gewährte Zugang der Öffentlichkeit zum Bericht vom Ministerium unterbunden worden war, weil die strafrechtlich relevanten Anschuldigungen gegen die Mannschaftsmitglieder geprüft werden sollten. Sowohl der Inspektor als auch die B-Zeitung wurden in der Folge zu Schadensersatzleistungen verurteilt, weil sie den Wahrheitsbeweis für die Tatsachenbehauptungen nicht führen konnten. Der Inspektor und die B-Zeitung behaupten eine Verletzung von Art 10 EMRK. 155 S Calliess AfP 2000, 248 ff und Grabenwarter ÖZW 2002, 1 ff; dies gilt jedenfalls für Fälle kommerzieller Werbung, nicht für wirtschaftliche Äußerungen, die eine gesellschaftspolitische Ausrichtung haben, vgl EGMR, NJW 2006, 1255 ff – Steel und Morris und zuvor schon EGMR, ÖJZ 1999, 614, Rn 50 – Hertel, wo allerdings auch die Wissenschaftsfreiheit zu berücksichtigen war. Zum Beurteilungsspielraum bei kommerziellen Interessen EGMR, EuGRZ 2003, 288, Rn 41 f – Demuth; krit dazu Scheyli EuGRZ 2003, 455, 458. 156 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35–36 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann. 157 EGMR, EuGRZ 1996, 306, Rn 26–30 – Jacubowski; krit dazu die Mindermeinung im Gericht; zur Kritik an dem den Staaten eingeräumten weiten Beurteilungsspielraum in der genannten Entscheidung sowie in EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 35–36 – markt intern Verlag GmbH & Klaus Beermann; vgl auch Calliess EuGRZ 1996, 293, 295 ff. 158 So die zutreffende Würdigung durch Villiger EMRK, 404, unter Bezugnahme auf EGMR, EuGRZ 1985, 150, Rn 58 – Barthold; vgl aber auch EGMR, HRLJ 1994, 184, Rn 55–56 – Casado Coca, wo der EGMR angesichts der uneinheitlichen Situation in Europa eine weitere Lockerung der Standesregeln über Art 10 EMRK nicht durchsetzen wollte. In der Entscheidung EGMR, RJD 1998-III, 1042, Rn 30–34 – Schöpfer, akzeptierte der EGMR eine einem Anwalt auferlegte Buße als verhältnismäßig, weil dieser in einer Pressekonferenz die Justiz in unangemessener Form angegriffen hatte, statt zu Gunsten seines Klienten zunächst den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten.
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Der grundsätzliche Schutz auch heftiger Kritik an Politikern159 durch Art 10 I EMRK erfährt zu Gunsten des Ehrschutzes insoweit eine erhebliche Einschränkung, als es eine ständige Straßburger Spruchpraxis gibt, die in diesen Fällen die Meinungsäußerung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht.160 Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn es sollte eigentlich um die Verhältnismäßigkeit des zu rechtfertigenden staatlichen Eingriffs gehen und nicht um die Angemessenheit der Ausübung von Grundfreiheiten. Vor diesem Hintergrund ist die einschlägige Spruchpraxis insbesondere wegen der potentiellen Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Grundfreiheit und zu rechtfertigendem Eingriff kritisch zu bewerten. Besondere Bedeutung kommt den Fällen zu, in denen die Ausübung der Meinungsfreiheit in Konflikt mit dem über Art 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsrecht gerät.161 Der EGMR knüpft dabei ganz wesentlich an die soziale Rolle an, in der sich eine Person, die von einer Meinungsäußerung betroffen wird, befindet.162 Auch behandelt der EGMR die abwägungsrelevanten Interessen als zeitabhängig – und insoweit variabel.163 Generell gilt, dass der Schutz der Meinungsfreiheit abnimmt, je stärker die private und nicht die gesellschaftliche oder politische Rolle der von der Meinungsäußerung betroffenen Person, aber auch der Diskussion insgesamt betroffen ist.164 Der EGMR prüft, ob die vom Grundrechtsträger geäußerte Meinung auf andere Weise mit gleicher Wirkung hätte vorgetragen werden können. Vor allem mit Blick auf die Art und Weise der Äußerung, insbesondere deren Schärfe, soll abgewogen werden, ob persönliche Angriffe unbedingt notwendig waren.165 Für den Gerichtshof sind unwahre Tatsachen, ehrenrührige Behauptungen, nicht notwendige Schärfen sowie Werturteile, denen jegliche Faktengrundlage fehlt, daher im Ergebnis nicht geschützt, weil Eingriffe auf dieser Grundlage regelmäßig verhältnismäßig sein dürften.166 Während die einzelnen Fallbeispiele aus der Rechtsprechung im Ergebnis durchaus zu überzeugen vermögen, verdient das methodische Vorgehen Kritik. Im Zusammenhang mit der Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder Materialien hat der EGMR eine Reihe von Sorgfaltspflichten für die Presse entwickelt, die sich unmittelbar auf die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe auswirken.167 Einerseits hat der EGMR anerkannt, dass für eine im Umlauf befindliche Information kein dringendes Geheimhaltungsinteresse mehr besteht.168 Bei anonymen Informanten dürfte das Quellen-
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EGMR, ÖJZ 2008, 161, Rn 35 – Pfeifer. St Rspr seit EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 46 – Lingens. Vgl hierzu auch Lenski NVwZ 2005, 50 ff. EGMR, NJW 2004, 2647 Rn 63–66 – von Hannover (entgegen BVerfGE 101, 361, 390 f). Hierzu mwNachw Grote/Wenzel (Fn 3) Kap 18 Rn 111 ff. EGMR, NJW 1999, 1318, Rn 18 – Janowski; ÖJZ 2007, 472, Rn 68 und 71 – Österreichischer Rundfunk; vgl auch EGMR, 19.9.2006, Rn 20 und 29 – White. EGMR, Series A, Vol 149, Rn 33–35 – Barfod; krit hierzu Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 25. EGMR, ÖJZ 1997, 912, Rn 47 – De Haes und Gijsels; ÖJZ 2002, 468, Rn 47 – Unabhängige Initiative Informationsvielfalt. Im letzten Fall wurde eine hinreichende Basis für den Vorwurf „rassistischer Agitation“ gegenüber der FPÖ im Zusammenhang mit einem von ihr veranstalteten Volksbegehren zur Begrenzung der Immigration bejaht. Ausführlich dazu EGMR, RJD 2004-II, 119, Rn 39 – Radio France und EGMR, 19.9.2006, Rn 21 – White. EGMR, Series A, Vol 306-A, Rn 44 ff – Vereniging Weekblad Bluf!.
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schutzinteresse jedenfalls dann überwiegen, wenn dem Betroffenen auf der anderen Seite nur ein geringer Schaden droht.169 Insoweit ist die Presse von Sorgfaltspflichten noch weitgehend freigestellt. Wird der Presse Material anonym zugesandt, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich der Journalist vergewissern muss, dass die Informationen zutreffend sind. Grundsätzlich können solche Informationen wohl nur veröffentlicht werden, wenn der Journalist deren Authentizität überprüft hat,170 es sei denn es gibt besondere Gründe, die Presse von dieser Verpflichtung zu entbinden, wie etwa die Vertrauenswürdigkeit der erlangten Informationen.171 Festzuhalten ist, dass der Abdruck ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen selbst dann zulässig sein kann, wenn deren Wahrheitsgehalt auch nachträglich nicht bewiesen werden kann.172
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Lösung Fall 4: Weitgehend unproblematisch zu bejahen sind die Einschlägigkeit des Schutzbereichs, das Vorhandensein eines Eingriffs sowie die Einschlägigkeit des Ehrschutzes als eines zulässigen Eingriffszwecks. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob der Eingriff einem zwingenden sozialen Bedürfnis entsprach, ob er in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Zweck stand und ob die Begründung der innerstaatlichen Behörden nach Art 10 II EMRK ausreichend war. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zeitung nicht nur diesen einen Artikel über die Robbenjagd veröffentlicht hatte, sondern über einen längeren Zeitraum alle unterschiedlichen Standpunkte zu Wort kommen ließ. Die umstrittenen Artikel sollten demnach nicht einzelne Personen diffamieren, sondern eine ausgewogene Berichterstattung gewährleisten. Das Recht der Journalisten, Informationen zu Fragen von allgemeinem Interesse zu verbreiten, wird von Art 10 EMRK jedoch nur insoweit geschützt, als sie sich im guten Glauben und auf Grundlage exakter Tatsachen äußern, die journalistische Berufsethik gewahrt ist, sowie zuverlässige und sachliche Informationen liefern. Zu prüfen ist, ob im vorliegenden Fall besondere Gründe vorlagen, die die Zeitung von der Verpflichtung, Tatsachenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, entbunden hätten. Diese Frage hängt etwa auch von der Art und Intensität der gemachten Äußerungen ab. Obwohl manche Anschuldigungen schwerwiegend waren, wurde deren potentielle nachteilige Wirkung auf Ruf und Rechte jedes einzelnen Robbenjägers dadurch abgeschwächt, dass die Kritik nicht gegen die gesamte Besatzung oder einzelne namentlich genannte Besatzungsmitglieder gerichtet war. Zudem konnte die B-Zeitung zum damaligen Zeitpunkt dem Bericht des Inspektors vernünftigerweise vertrauen, handelte es sich doch um einen offiziellen Bericht, hinsichtlich dessen im Übrigen auch nicht absehbar war, dass die Veröffentlichung eventuell rechtswidrig wäre. Würde man der Presse hier noch die Pflicht zu eigenen Recherchen auferlegen, könnte sie ihre „Kontroll“-Funktion in öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr ohne weiteres erfüllen. Wägt man den vergleichsweise geringen Schaden für die einzelnen Besatzungsmitglieder und den Kenntnisstand der B-Zeitung ab, so kann man nicht daran zweifeln, dass diese in gutem Glauben handelte. Der Eingriff stellt sich damit als unverhältnismäßig dar.
169 EGMR, RJD 1996-II, 483, Rn 42–45 – Goodwin; zum Informanten- und Quellenschutz vgl auch EGMR, NJW 2008, 2565 – Tillack; NJW-RR 2008, 1141 – Stoll. 170 EGMR, EuGRZ 1999, 5, Rn 53–55 – Fressoz und Roire. 171 EGMR, EuGRZ 1999, 453, Rn 66 – Bladet Tromsø. 172 Prepeluh ZaöRV 2001, 771, 801; Hoffmeister EuGRZ 2000, 358, 366.
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f) Der staatliche Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz der Moral und zum Schutz religiöser Überzeugungen Der EGMR hat stets betont, dass es keine europäische Konzeption von Moral gibt und dass die staatlichen Behörden grundsätzlich besser in der Lage seien, die Angemessenheit von Eingriffen in die Rechte des Art 10 I EMRK zu diesem Zweck zu beurteilen. So hielt er die englischen Gerichte für berechtigt, schädliche Wirkungen für die Moral von Kindern und Heranwachsenden bei der Beurteilung eines umstrittenen Buches zu bejahen.173 In ähnlicher Weise hat der EGMR religiösen Vorstellungen Raum gelassen. Ausdrücklich stellte er fest, dass es nicht möglich sei, in Europa Einvernehmen über den Stellenwert bestimmter religiöser Überzeugungen in der Gesellschaft zu erzielen.174 Obwohl für Beschränkungen der Meinungsfreiheit im Rahmen politischer und sonstiger öffentlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich wenig Raum bleibt, ist es zum Schutz religiöser Überzeugungen vor allem auch wegen der Unmöglichkeit, europaweit einheitliche Wertvorstellungen auszumachen, in erster Linie Sache staatlicher Behörden, die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen zu beurteilen. Der EGMR begründet dies auch damit, dass die staatlichen Behörden direkten und ständigen Kontakt mit den gesellschaftlichen Kräften ihrer Länder haben.175 Illustrativ für die Zurückhaltung der Straßburger Organe ist der Fall eines Belgiers, der für die Verteilung einer in den Niederlanden frei erhältlichen Zeitschrift verurteilt wurde. Die Kommission hielt selbst diesen Eingriff für verhältnismäßig.176 Nicht überzeugend ist die Entscheidung des EGMR im Fall eines Künstlers, der Bilder pornographischen Inhalts gemalt und ausgestellt hatte. Der Künstler sollte nicht nur bestraft werden, sondern es sollten auch seine Bilder vernichtet werden. Während die Kommission nur die Verurteilung für verhältnismäßig hielt, erachtete der EGMR sowohl diese als auch die angedrohte Vernichtung als verhältnismäßig.177 Obwohl die Bilder tatsächlich noch nicht vernichtet und dem Beschwerdeführer dann in der Tat wenige Monate vor dem Urteil des Gerichtshofs zurückgegeben worden waren, hat es der EGMR in diesem Fall versäumt, eine umfassende Angemessenheitsprüfung in Anbetracht des von den Maßnahmen verfolgten Zieles vorzunehmen. Begründen lässt sich diese Entscheidung nur damit, dass der EGMR überfordert wäre, wenn er einheitliche Moralvorstellungen für alle Vertragsstaaten herbeiführen müsste. Immer dann, wenn es um Eingriffe geht, die dem Schutz der Moral oder der Religion dienen, greift der vom EGMR stets betonte staatliche Beurteilungsspielraum, der die Kontrolldichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung erheblich lockert.
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g) Der Prüfungsmaßstab bei Eingriffen in die Rundfunk- und Fernsehfreiheit Für die Rundfunk- und Fernsehfreiheit kommt es im Wesentlichen darauf an, welche Vorgaben Art 10 I 3 EMRK für die Regelung der Rundfunkorganisation macht. Ohne Zwei-
173 EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 52 – Handyside. 174 EGMR, HRLJ 1994, 371, Rn 50 – Otto-Preminger-Institut. Vgl auch Grabenwarter ZaöRV 1995, 128 ff. 175 EGMR, RJD 1996-V, 1937, Rn 58 – Wingrove; vgl dazu auch Kolonovits in: Grabenwarter/ Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK, 1998, 169 ff. 176 EKMR, DR 9, 13 ff X, Y und Z. 177 EGMR, EuGRZ 1988, 543, Rn 35–36 und 43 – Müller.
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fel verbleibt den Mitgliedstaaten eine gewisse Freiheit, die technischen Aspekte von Radio- und Fernsehen zu regeln. In diesem Zusammenhang bietet Satz 3 die Grundlage für die Durchsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen des Telekommunikationsrechts.178 Dabei ist allerdings der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. So hielt der EGMR die Verweigerung einer behördlichen Genehmigung durch schweizerische Behörden zum Empfang eines Rundfunkprogramms für unverhältnismäßig, weil – abgesehen von einer fehlenden Einwilligung in den Empfang eines sowjetischen Rundfunkprogramms seitens der damaligen UdSSR – keine Gründe ersichtlich waren, den Empfang eines unverschlüsselten, für die Allgemeinheit in der UdSSR bestimmten Programms zu verbieten.179 In ähnlicher Weise dürfte die Beschränkung der Errichtung individueller Empfangsanlagen auf der Grundlage denkmalschutzrechtlicher und baurechtlicher Vorschriften jedenfalls dann einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen, wenn eine Kollektivantenne kein gleichwertiges Empfangsangebot ermöglicht.180 Ein unverhältnismäßiger Eingriff liegt vor, wenn die Informationsfreiheit in ihrem Kern getroffen wird.181 Soweit die Bestimmung nicht nur technische Aspekte regelt, hat der Gerichtshof das Lizenzierungsverfahren den Bedingungen von Art 10 II EMRK unterstellt. Mit dieser – dogmatisch nicht ohne weiteres nachvollziehbaren, teleologisch aber überzeugenden, weil dem technischen Fortschritt und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragenden – Interpretation von Art 10 I 3 EMRK gehört die Freiheit des Privatrundfunks und Privatfernsehens182 nicht nur zum Schutzbereich des Grundrechts, sondern ein staatliches Radio- und Fernsehmonopol erscheint auch als unverhältnismäßig.183 Jedenfalls dann, wenn ein an die EMRK gebundener Staat das (überkommene) Radio- oder Fernsehmonopol gelockert und Genehmigungen für private Sender eingeführt hat, ist die Erteilung und die Verteilung der Genehmigungen an Art 10 II EMRK zu messen. Dies hindert die Staaten nicht daran, andere als technische Aspekte bei der Erteilung einer Genehmigung zu berücksichtigen, wie beispielsweise Natur und Ziele einer Station, den kulturellen Pluralismus,184 Besonderheiten der staatlichen Organisation (wie zB bundesstaatliche Eigenheiten) oder auch nicht-technische Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen.185 Soweit damit Einschränkungsziele verfolgt werden, die nicht nach Art 10 II EMRK gerechtfertigt sind, hält der Gerichtshof dies grundsätzlich für unschädlich und für durch
178 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 60 f – Groppera Radio AG. 179 EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 63 – Autronic. 180 EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic. Vgl außerdem die nachfolgenden Kommissionsentscheidungen Radio X/Schweiz, DR 37, 236; A/Schweiz, DR 41, 141; Autronic/Schweiz (Kommissionsbericht), Rn 49; Ebner/Schweiz, Beschwerde Nr 13253/87 (Zulässigkeitsentscheidung der Kommission), Rn 3. 181 Vgl dazu Laeuchli-Bosshard (Fn 126) S 31 ff; Villiger EMRK, 413. 182 Vgl allgem Engel Privater Rundfunk vor der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1993. 183 EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 39 und 41–43 – Informationsverein Lentia; vgl auch die friedliche Streitbeilegung im Fall Telesystem Tirol Kabeltelevision, RJD 1997-III, 970, sowie die Entscheidung EGMR, RJD 1997-VI, 2188, Rn 31–33 – Radio ABC. Der EGMR (ÖJZ 2001, 156 ff – Tele 1 Privatfernsehgesellschaft MBH) hielt ein Monopol für terrestrisches Fernsehen bei gleichzeitig vorhandener Möglichkeit der Verbreitung von Fernsehprogrammen über Kabel allerdings nicht für unverhältnismäßig und damit nicht für konventionswidrig. 184 Der EGMR hat es sogar nicht beanstandet, dass ein Konventionsstaat einseitige kommerzielle Spartenprogramme verhindert, EGMR, EuGRZ 2003, 488 – Demuth. 185 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 10 Rn 19.
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Art 10 I 3 EMRK gedeckt,186 verlangt jedoch die Beachtung der anderen Voraussetzungen von Art 10 II EMRK, insbesondere das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sowie die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.187 Weitere Vorgaben für die Regelung der Rundfunkorganisation ergeben sich nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut der Vorschrift, lassen sich aber in der Spruchpraxis der Konventionsorgane ausmachen. Insbesondere hat der EGMR das Gebot des Medienpluralismus anerkannt und dieses im Zusammenhang mit Art 10 II EMRK und dem „Schutz der Rechte anderer“ berücksichtigt.188 Allerdings haben die Konventionsorgane – anders als die nicht immer überzeugenden „Fernsehurteile“ des Bundesverfassungsgerichts 189 – eine begrüßenswerte Zurückhaltung insoweit geübt, als sie der Versuchung widerstanden haben, auf der Grundlage der Rundfunk- und Fernsehfreiheit eine umfassende Rechtsordnung für die Massenmedien zu entwickeln. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der EGMR der Rundfunk- und Fernsehfreiheit gar einen Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber entnehmen würde. Damit besteht für Straßburg auch keine Gefahr, dass grundrechtsdogmatisch eine Metamorphose der Medienfreiheit hin zur Pflicht stattfindet.190
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III. Versammlungsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1989, 522 ff – Plattform „Ärzte für das Leben“; HRLJ 1991, 185 – Ezelin; RJD 2001-IX, 273 – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden; RJD 2002-III, 1 – Cisse; ÖJZ 2007, 79 – Öllinger; EKMR, EuGRZ 1980, 36 ff – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. Schrifttum: Bröhmer in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap 19; Fitzpatrick/Taylor Trespassers Might be Prosecuted: The European Convention and Restrictions on the Right to Assemble, EHRLR 1998, 292 ff; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, 296 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 15.
Ebenso wie das Recht der Meinungsfreiheit gehört das Recht der Versammlungsfreiheit, das in Art 11 I EMRK gewährleistet wird, zu den für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen grundlegenden Freiheiten. Die Versammlung ist nicht nur eine besondere Form der Meinungsäußerung. Sie löst Isolierung auf, vermittelt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und ermöglicht die Bildung und Äußerung individueller wie auch kollektiver Meinungen. Damit trägt die Versammlungsfreiheit zur Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit bei und sichert als bedeutender Faktor im Vorfeld institutionalisierter politischer Entscheidung die Demokratie.191 Der EGMR betont, dass die Versammlungsfreiheit von grundlegender Bedeutung für Toleranz und Pluralismus ist.192 Geschützt sind sowohl die Organisatoren von Versammlungen als auch deren Teilnehmer. 186 EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 32 – Informationsverein Lentia. 187 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 61 – Groppera Radio AG; EuGRZ 1994, 549, Rn 32 f – Informationsverein Lentia. 188 EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 69 und 70 – Groppera Radio AG; zustimmend Probst (Fn 43) S 26. 189 Vgl dazu Stock JZ 1997, 583 ff. 190 Vgl die Kritik an der Rspr des BVerfG bei Engel AfP 1994, 185 ff. 191 EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 57 – Young, James und Webster; HRLJ 1991, 185, Rn 37 – Ezelin. 192 EGMR, 3.5.2007, Rn 62 – Ba˛czkowski.
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Fall 5: (EGMR, RJD 2001-IX, 273 ff – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden) S war Vorsitzender einer Organisation, die mit dem Ziel gegründet worden war, eine spezifische ethnische Minderheit auf einer religiösen und kulturellen Basis zu einigen und deren Anerkennung als Minderheit in B zu erreichen. Nachdem der Organisation die Eintragung als Vereinigung von den Gerichten mit der Begründung verweigert worden war, dass ihre Ziele in Wahrheit gegen die Einheit der Nation und auf die Förderung von ethnischem Hass gerichtet wären und sie eine Gefahr für die territoriale Integrität des Staates darstellen würde, wurde dem S und seiner Organisation über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg wiederholt die Abhaltung von Versammlungen oder Gedenkfeiern an historischen Plätzen behördlich untersagt. Die dagegen angerufenen Gerichte wiesen die Rechtsmittel jeweils mit der Begründung ab, dass aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Organisation um eine verbotene Vereinigung handle, begründete Bedenken bestanden hätten, dass die Versammlungen oder Gedenkfeiern die öffentliche Ordnung und die Rechte und Freiheiten anderer gefährden würden. S und die Organisation sehen sich in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art 11 EMRK verletzt.
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Der Begriff der Versammlung wird in Art 11 I EMRK nicht definiert. In Übereinstimmung mit Rechtsprechung und Literatur ist darunter das Zusammenkommen von Menschen mit dem Zweck, untereinander oder gegenüber Dritten Meinungen mitzuteilen, zu diskutieren oder ihnen symbolischen Ausdruck zu geben, zu verstehen.193 Fehlt einer Gruppe von Menschen das Bewusstsein, der gemeinsame Zweck oder ein Mindestmaß an Organisation, so kann man kaum von einer Versammlung sprechen. Ein Menschenauflauf ist keine Versammlung. Trotz des Beitrags, den die Versammlungsfreiheit zur Demokratie leistet, sollte der Schutzbereich nicht auf politische Zusammenkünfte beschränkt werden. Es ist nicht ersichtlich, warum Versammlungen zu gesellschaftlichen Zwecken nur den Schutz von Art 8 EMRK genießen sollen,194 obwohl sie im Einzelfall durchaus meinungsbildende Funktion aufweisen können.195 Art 11 I EMRK schützt unterschiedliche Erscheinungsformen von Versammlungen, deren Vorbereitung und deren Durchführung: Zusammenkünfte mit öffentlichem oder privatem Charakter, Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen, ortsgebundene Veranstaltungen und Umzüge sowie Veranstaltungen von kurzer oder unbegrenzter Dauer. Die Versammlungsfreiheit ist nicht nur in privaten Räumen oder auf privaten Grundstücken geschützt. Vielmehr sind im Besonderen auch öffentliche Plätze für die Realisierung der Versammlungsfreiheit von Bedeutung, kann doch gerade dort die kollektive Meinungsäußerung ihre Wirkung entfalten.196 Art 11 I EMRK gewährleistet daher nicht nur die (engere) Versammlungsfreiheit, sondern auch die (weitere) Demonstrationsfreiheit, in deren Schutzbereich beispielsweise auch „sit-ins“ fallen.197 So ist auch die von der Kirchenleitung geduldete Besetzung einer Kirche durch eine Gruppe von Aus-
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EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 12 – Plattform „Ärzte für das Leben“. So aber Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 2 und Grabenwarter EMRK, § 23 Rn 62. Müller (Fn 4) S 327 f. EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. EKMR, DR 60, 256, Rn 2 – X.
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ländern ohne Aufenthaltsgenehmigung als Versammlung angesehen worden.198 Im Gegensatz zu Art 8 GG, der die Versammlungsfreiheit „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ garantiert, stellen bloße Anmelde- und formelle Genehmigungserfordernisse in Bezug auf die Nutzung der öffentlichen Straße allerdings keine Einschränkungen des Rechts der Versammlungsfreiheit dar.199 Schon von ihrer Funktion als unentbehrlicher Bestandteil einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung her ist nur die gewaltfreie Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft geschützt. Der Wortlaut von Art 11 I EMRK bezieht ausdrücklich nur friedliche Versammlungen in den Schutzbereich ein. Da insbesondere bei Demonstrationen auch die gezielte Provokation ein wesentliches Ausdrucksmittel ist, dürfen nur krasse Fälle der Gewalttätigkeit dazu führen, Versammlungen a priori vom Schutzbereich des Art 11 I EMRK auszunehmen. Unfriedlich sind in erster Linie solche Versammlungen, die von Anfang an von den Veranstaltern zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen geplant sind. Nicht ausreichend sind unfriedliche Ereignisse am Rande einer Demonstration oder der Versuch von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen.200 In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass Art 11 I EMRK den Staaten auch die positive Verpflichtung auferlegt, für den Schutz von Demonstrationen zu sorgen.201 Sonst könnte aus Furcht vor gewaltsamen Gegendemonstrationen die Ausübung des Rechtes aus Art 11 I EMRK praktisch verhindert werden.202 Dabei obliegt dem Staat allerdings die Wahl der Mittel. Diese positive Schutzpflicht hat auch Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Gegendemonstrationen. Es ist durchaus vertretbar, diese jedenfalls dann nicht mehr dem Schutzbereich von Art 11 I EMRK zuzuordnen, wenn sie ausschließlich darauf abzielen, eine andere Demonstration zu stören. Vorzugswürdig dürfte allerdings eine Bewertung von Gegendemonstrationen anhand von Art 11 II EMRK sein.
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2. Eingriff Während ein Genehmigungserfordernis für die Durchführung von Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen nicht als Eingriff zu werten ist, stellt ein Versammlungsverbot ohne Zweifel einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Auch andere Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die sich auf die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Versammlungen beziehen, lassen sich ohne Probleme als Eingriff qualifizieren. Ebenso stellen spätere disziplinarische oder strafrechtliche Sanktionen wegen der Teilnahme an einer Demonstration einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar.203
198 EGMR, RJD 2002-III, 1, Rn 35–39 – Cisse. 199 EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 200 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 – Ezelin; EKMR, EuGRZ 1981, 216, Rn 4 – Christians against Racism and Facism. 201 Dazu Bröhmer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 19 Rn 42 ff. 202 EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“. 203 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 – Ezelin. In einem anderen Fall wurden die Teilnehmer eines Kirchenasyls in Folge der Räumung teilweise festgenommen, abgeschoben oder ausgewiesen. Auch darin sah der EGMR einen Eingriff in das Recht aus Art 11 EMRK; EGMR, RJD 2002III, 1, Rn 40 – Cisse.
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3. Rechtfertigung 66
Art 11 II 1 EMRK folgt dem Muster der Eingriffsrechtfertigungen der Art 8 bis 10 EMRK.204 Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind danach gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Diese Bedingungen müssen kumulativ vorliegen. a) Zulässige Eingriffszwecke
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Unter den in Art 11 II 1 EMRK genannten Zwecken, die der Rechtfertigung von Eingriffen in die Versammlungs-, die Vereinigungs- und die Koalitionsfreiheit dienen, kommen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und zur Aufrechterhaltung der Ordnung für die Versammlungsfreiheit besondere Bedeutung zu. Die übrigen Eingriffszwecke (nationale Sicherheit,205 Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) haben in der Praxis bislang allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
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Der Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen kommt im Rahmen von Art 11 II 1 EMRK entscheidende Bedeutung zu.206 Dabei ist zwischen direkten und indirekten Eingriffen sowie zwischen Versammlungsverboten und milderen Eingriffen zu unterscheiden. Indirekte Eingriffe unterliegen insofern einer strengen Prüfung, als disziplinarische und strafrechtliche Sanktionen nur unter engen Voraussetzungen und nur in Bezug auf die Personen angewendet werden dürfen, die selbst vorwerfbare Akte begehen. Für andere Personen darf das Recht zur friedlichen Versammlung in Anbetracht seiner Bedeutung nicht auf diesem Wege eingeschränkt werden.207 Direkte Eingriffe sind in der Gestalt von Versammlungsverboten nur ausnahmsweise zulässig. Ein allgemeines Veranstaltungsverbot über einen Zeitraum von zwei Tagen im Zusammenhang mit den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Bildung des Kantons Jura wurde von der früheren Kommission als verhältnismäßig angesehen.208 Auch ein sehr viel weiter gehendes, für zwei Monate geltendes Demonstrationsverbot in der Londoner Innenstadt wurde als verhältnismäßig angesehen. Allerdings betonte die frühere Kommission in diesem Fall den Ausnahmecharakter eines solchen generellen Verbots.209 Unterhalb der Schwelle von Versammlungsverboten ist die Verhältnismäßigkeit direkter Eingriffe anhand einer Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu beurteilen, bei der die mit der Durchführung der Veranstaltung verbundenen Beeinträchtigungen der in Art 11 II 1 EMRK genannten Schutzgüter, das Ausmaß des Eingriffs und
204 EGMR, EuGRZ 2007, 24, Rn 60 – Moskauer Zweig der Heilsarmee. 205 Vgl auch EKMR, DR 36, 187 ff – Vereinigung X und Y; EGMR, RJD 2001-IX, 273 – Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden. 206 Bröhmer (Fn 201) Kap 19 Rn 72. 207 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 53 – Ezelin; vgl auch EKMR, DR 29, 194, Rn 2 – X. 208 EKMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 11 – Rassemblement jurassien und Unité jurassienne. 209 EKMR, EuGRZ 1981, 216, Rn 5 – Christians against Racism and Facism.
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die Möglichkeit weniger weitgehender Maßnahmen in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen sind. In Anbetracht erheblicher Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung ist es etwa zulässig, die Wahl des Ortes einer Versammlung210 oder der Route einer Demonstration zu beschränken.211 c) Besondere Einschränkungen für staatliche Bedienstete Die besonderen Einschränkungen für staatliche Bedienstete, die in Art 11 II 2 EMRK vorgesehen sind, haben bislang nur geringe praktische Bedeutung erlangt – und dies auch eher im Kontext der Vereinigungsfreiheit, wo sie näher behandelt werden, als bei der Prüfung von Eingriffen in die Versammlungsfreiheit. In einem Verfahren, bei dem es um die Verhältnismäßigkeit disziplinarischer Maßnahmen gegenüber niederländischen Soldaten ging, konnte der EGMR sich darauf zurückziehen, dass die Betroffenen nicht wegen ihrer Teilnahme an einer Versammlung bestraft worden waren.212 Lösung Fall 5: Da nicht ersichtlich ist, dass die Organisatoren der Versammlungen oder Gedenkfeiern gewalttätige Absichten gehabt hätten, ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit eröffnet. In Gestalt der Versammlungsverbote liegt ein Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit vor. Eine gesetzliche Grundlage unterstellt, verfolgte der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Fraglich ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Ausgehend von dem engen Zusammenhang zwischen Art 10 EMRK und Art 11 EMRK ist es in diesem Fall besonders problematisch, dass die Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zumindest teilweise in Reaktion auf die von den Teilnehmern vertretenen Ansichten erfolgten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einwohner einer Region eines Landes berechtigt sind, Vereinigungen zur Förderung der speziellen regionalen Charakteristika zu bilden. Insbesondere ist die Tatsache, dass eine solche Vereinigung ein „Minderheitenbewusstsein“ geltend macht, für sich allein noch kein Grund für einen Eingriff in die Rechte des Art 11 EMRK. Auch die Verweigerung der Eintragung genügt nicht, um eine Praxis von systematischen Verboten bezüglich der Abhaltung von Versammlungen zu rechtfertigen. Weder der behauptete Einsatz von Waffen noch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ließen sich hinreichend belegen. Allenfalls die Verbreitung separatistischer Ideen ließ sich im konkreten Fall nachweisen. Dies reicht aber nicht aus, um ein Versammlungsverbot zu rechtfertigen. In einer demokratischen Gesellschaft, die auf dem Rechtsstaatsprinzip beruht, muss politischen Ideen, welche die bestehende Ordnung angreifen und deren Verwirklichung durch friedliche Mittel angestrebt wird, angemessene Gelegenheit zur Verbreitung, wie etwa durch Versammlungen oder andere gesetzliche Mittel, gegeben werden. Insgesamt stellt sich der Eingriff daher als in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig dar. Art 11 EMRK ist verletzt.
210 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung EGMR, RJD 2003-VI, 185 Rn 25 ff – Appleby, die zwar zu Art 10 EMRK ergangen ist, deren Grundsätze aber auf Art 11 EMRK übertragbar sind. Der EGMR hat dort betont, dass aus der Meinungsäußerungsfreiheit keine Freiheit der Wahl des Ortes, an dem die Meinungsäußerung erfolgen soll, folgt. Eingehend dazu Bröhmer (Fn 201) Kap 19 Rn 42 ff. 211 Zum Verbot einer Demonstration auf dem Trafalgar Square in London vgl EKMR, DR 81-A, 146 ff – „Negotiate Now“. 212 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 108 – Engel.
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IV. Vereinigungsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1981, 551 ff – Le Compte, Van Leuven and De Meyere; RJD 1998-I, 1 ff – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei; NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou; NuR 2008, 489 ff – Schneider; EuGRZ 2003, 206 ff – Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal. Schrifttum: Bröhmer in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap 19; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, 305 ff; Klein Parteiverbotsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ZRP 2001, 397 ff; Koch Parteiverbote, Verhältnismäßigkeitsprinzip und EMRK, DVBl 2002, 1388 ff; Pabel Parteiverbote auf dem europäischen Prüfstand, ZaöRV 2003, 921 ff; Tomuschat in: MacDonald ua (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 493 f; Wildhaber Politische Parteien, Demokratie und Art 11. EMRK, FS Schefold, 2001, S 257 ff.
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Fall 6: (EGMR, EuGRZ 2003, 206 ff – Refah Partisi, Erbakan, Kazan und Tekdal) Die W wurde 1983 als politische Partei in der Türkei gegründet. Nachdem sie in den Parlamentswahlen 1995 mit ca. 22 % der Stimmen zur stärksten Partei im türkischen Parlament wurde, war sie an einer Koalitionsregierung beteiligt. Anfang 1998 wurde die W. vom türkischen Verfassungsgerichtshof aufgelöst, da die Partei ein „Zentrum von Aktivitäten gegen das Prinzip des Säkularismus“ sei. In seiner Urteilsbegründung betonte der Verfassungsgerichtshof das Prinzip des Säkularismus als unverzichtbare Voraussetzung der Demokratie. Vertreter der Partei hätten in öffentlichen Reden wiederholt die Trennung von Staat und Religion in Frage gestellt. Zudem hätten Parlamentsabgeordnete der Partei zu einem „heiligen Krieg“ gegen ihre politischen Gegner und zur Einführung der Scharia aufgerufen. Zusätzlich entzog der Verfassungsgerichtshof den Parlamentsabgeordneten der W das Mandat und verbot ihnen, für die Dauer von fünf Jahren irgendeine Funktion in einer anderen Partei zu übernehmen.
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Die Vereinigungsfreiheit schützt den freien Zusammenschluss von Personen zu rechtmäßigen Zwecken. Der Staat muss also in seiner Rechtsordnung Möglichkeiten zum Zusammenschluss vorsehen, ohne dass daraus ein Anspruch auf bestimmte Rechtsformen resultieren würde.213 Grundsätzlich steht es den Staaten frei, die Voraussetzungen für die Gründung juristischer Personen zu regeln. Insbesondere schützt Art 11 I EMRK nicht die Gründung öffentlich-rechtlicher Institutionen. Selbst wenn es sich dabei um Zwangskörperschaften handeln sollte, liegt ein Eingriff in den Schutzbereich nach Auffassung des EGMR nur vor, wenn gleichzeitig die Bildung freier einschlägiger Vereinigungen ausgeschlossen ist.214 Ob und inwieweit die Vereinigungsfreiheit Auswirkungen auf das Gesellschaftsrecht – etwa im Sinne einer Einführung neuer Organisationsformen – hat, ist im Einzelnen umstritten.215 Dagegen hat die Vereinigungsfreiheit in den letzten Jahren als Parteienfreiheit zunehmend Bedeutung für das Parteienrecht erlangt.216 Parteien sind vom Schutzbereich des Art 11 I EMRK auch dann erfasst, wenn sie nach nationalem Recht einem Sonderregime unterstehen. Restriktive staatliche Maßnahmen gegen aus Sicht des betroffenen
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Hierzu EGMR, EuGRZ 2007, 24, Rn 60 – Moskauer Zweig der Heilsarmee. EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. Vgl dazu Marauhn RabelsZ 1999, 537, 550 ff. Der EGMR betont hier gelegentlich die Bedeutung von Art 10 EMRK für die Auslegung von Art 11 EMRK, vgl EGMR, RJD 2005-I, 209, Rn 44 – Partidul Comunistilor.
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Staates als verfassungsrechtlich eingestufte Parteien entziehen diesen nicht den Schutz der Vereinigungsfreiheit.217 In den Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit fällt neben dem Zusammenschluss auch die Tätigkeit der Vereinigung, soweit sich dies aus der Konkretisierung in Gestalt der Koalitionsfreiheit ergibt.218 Nicht gewährleistet ist damit allerdings auch schon die Erreichung des Zwecks, für den die Vereinigung gegründet wurde.219 Obwohl Art 11 I EMRK (anders als Art 20 II der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) keine allgemeine Aussage über die so genannte negative Vereinigungsfreiheit, also die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, enthält, geht der EGMR davon aus, dass diese Freiheit Bestandteil von Art 11 I EMRK ist.220 Diese Freiheit ist vor allem für die so genannte negative Koalitionsfreiheit, auf die noch zurückzukommen ist, von Bedeutung.
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2. Eingriff Eingriffe können sowohl eine breite Vielfalt von Adressaten betreffen als auch sehr unterschiedliche Formen annehmen. Das Verbot von Vereinigungen und die Unterbindung bestimmter Aktivitäten dieser Vereinigungen lassen sich unproblematisch als Eingriffe qualifizieren. Ebenfalls als Eingriff zu werten ist darüber hinaus nationales Recht, das an die Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in Vereinigungen Sanktionen knüpft. Dies gilt sowohl für gewerkschaftliche Beschäftigungsmonopole („closed shop“) 221, auf die im Zusammenhang mit der Koalitionsfreiheit näher einzugehen ist, als auch für die NichtBeschäftigung im oder Entlassung aus dem Staatsdienst wegen Mitgliedschaft in einer (nicht verbotenen) politischen Partei.222 Ohne eine Aussage zur möglichen Drittwirkung zu treffen, hat der EGMR jüngst klargestellt, dass die Vereinigungsfreiheit den Staaten auch positive Pflichten auferlegt.223
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3. Rechtfertigung Wie im Fall der Versammlungsfreiheit sind Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit dann gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen,224 einen der in Art 11 II 1
217 Grabenwarter EMRK § 23 Rn 76 unter Bezugnahme auf EGMR, RJD 1998-I, 1, Rn 27 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei. Vgl auch EGMR, RJD 1998-III, 1233, Rn 29 – Sozialistische Partei ua. 218 EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38–39 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. 219 EKMR, DR 9, 5, Rn 52 – Vereinigung X. 220 EGMR, Series A, Vol 264, Rn 35 – Sigurdur Sigurjónsson; vgl auch NJW 1999, 3695, Rn 103 – Chassagnou und die Folgeentscheidung NuR 2008, 489 – Schneider; ÖJZ 2006, 550, Rn 54 – Sørensen und Rasmussen. 221 EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 49 und 51–53 – Young, James und Webster; jetzt auch EGMR, ÖJZ 2006, 550 ff – Sørensen und Rasmussen. 222 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 44 – Vogt. Ein Eingriff liegt auch in dem Verbot für Parteivorsitzende, in Zukunft kein ähnliches Amt in einer anderen Partei zu bekleiden; EGMR, RJD 1999VIII, 293, Rn 27 – Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP). 223 EGMR, 20.10.2005, Rn 37 und 43–44 – Ouranio Toxo. 224 EGMR, RJD 2001-IX, 1, Rn 26, 31 f – N.F. In diesem Fall hielt der EGMR ein Gesetz, auf dessen Grundlage der Beitritt eines Richters zu einer Freimaurerloge sanktioniert wurde, für so vage
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EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Nicht unproblematisch ist die Bezugnahme auf „die nationale oder öffentliche Sicherheit“ im Zusammenhang mit der Verteidigung nationaler kultureller Traditionen und nationaler historischer und kultureller Symbole. Dies dürfte grundsätzlich unzulässig sein, auch wenn der EGMR in einer Griechenland betreffenden Entscheidung das Vereinsverbot erst am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern ließ.225 Im Übrigen kann hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden. Besondere Bedeutung hat die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Bildung und dem Fortbestand politischer Parteien erlangt. Weder kann eine Partei allein aufgrund ihres Namens226 noch allein aufgrund ihres regierungskritischen Engagements für die Rechte von Minderheiten verboten werden.227 Etwas anderes kann freilich dann gelten, wenn eine Partei verfassungsfeindliche, insbesondere anti-demokratische und menschenrechtswidrige Ziele verfolgt und dabei gewaltsame Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht ausschließt. Dann kommt dem Staat ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen der EGMR die Rechtfertigung von Eingriffen nicht im Einzelnen überprüft.228 Im Fall Vogt stellte der EGMR eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit fest, weil die Beschwerdeführerin wegen ihrer Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei aus dem Staatsdienst entlassen worden war, das Bundesverfassungsgericht diese Partei jedoch nicht verboten hatte.229 Zwar hat der EGMR ausdrücklich offen gelassen, ob Art 11 I 2 EMRK auch auf deutsche Lehrer im Beamtenverhältnis Anwendung findet. Ein aus der Treuepflicht staatlicher Bediensteter (soweit der personelle Anwendungsbereich dieser Vorschrift reicht) resultierendes Verbot, einer bestimmten Vereinigung beizutreten, dürfte aber in Ausnahmefällen jedenfalls dann von der besonderen Einschränkung gedeckt sein, wenn das Verbot auf gesetzlicher Grundlage beruht und ohne Willkür angewendet wird.230 Lösung Fall 6: Unstreitig ist der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit eröffnet. Auch ist unproblematisch, dass die Auflösung der W. und die damit einhergehenden Maßnahmen einen Eingriff darstellen. Ein solcher Eingriff ist dann gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, eines der in Art 11 II EMRK genannten legitimen Ziele verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft zur Durchsetzung dieser Ziele notwendig (also verhältnismäßig) ist. Der türkische Verfassungsgerichtshof ist gesetzlich befugt, eine Partei aufzulösen, die gegen Verfassungsprinzipien verstößt. Zu den Verfassungsprinzipien gehören auch der Gleichheitssatz
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und damit für den Betroffenen nicht vorhersehbar, dass letztlich vom Fehlen einer gesetzlichen Grundlage auszugehen war. Vgl auch die ähnlich gelagerte Entscheidung des EGMR, Urt v 17.02.2004, Rn 42 – Maestri. EGMR, RJD 1998-IV, 1595, Rn 47 – Sidiropoulos. EGMR, RJD 1998-I, 1, Rn 54 – Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei. EGMR, RJD 2002-II, 369, Rn 56–57 und 60 – Yazar, Karatas¸ , Aksoy und Arbeitspartei des Volkes (HEP). EGMR, EuGRZ 2003, 206, Rn 80–83 – Refah Partisi (Nr 2); dazu näher Bröhmer (Fn 201) Kap 19 Rn 99. EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 60 f und 66 ff – Vogt; diese Entscheidung ist zu unterscheiden von EGMR, 2.9.1998 – Ahmed. EKMR, DR 50, 228, 240 – Council of Civil Service Unions.
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und der Grundsatz einer demokratischen und säkularen Republik. Der Eingriff ist daher gesetzlich vorgesehen. Auch verfolgt der Eingriff mehrere der in Art 11 II EMRK genannten legitimen Ziele, nämlich den Schutz der nationalen und öffentlichen Sicherheit, die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Nach stRspr müssen ausreichende Beweise für eine Gefährdung der Demokratie vorliegen. Die Handlungen der Funktionäre der Partei sind dieser zurechenbar, soweit sich aus ihnen ein Gesamtbild des von der Partei angestrebten Gesellschaftsmodells ergibt. Der türkische Verfassungsgerichtshof begründete die Verfassungswidrigkeit der W. in diesem Zusammenhang vor allem mit der angestrebten Einführung verschiedener Rechtssysteme für die Angehörigen unterschiedlicher Religionen sowie der damit verbundenen Anwendung der Scharia und dem möglichen Rückgriff auf Gewalt als politischem Mittel. In der Tat kann die Einführung verschiedener Rechtssysteme nicht als vereinbar mit der EMRK betrachtet werden. Ein solches System würde die Rolle des Staates als Garant individueller Rechte und Freiheiten weitgehend abschaffen. Überdies würde es dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK widersprechen. Auch ist die Scharia unvereinbar mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, die in der Konvention festgeschrieben sind. Die Feststellung der Unvereinbarkeit der von der W. angestrebten Einführung der Scharia mit der Demokratie durch den Verfassungsgerichtshof war daher gerechtfertigt. In Anbetracht der Unvereinbarkeit ihrer Ziele mit der Demokratie und der Tatsache, dass sie auch die Anwendung von Gewalt zum Erreichen dieser Ziele nicht ausgeschlossen hat, entspricht die Auflösung der W. und der vorübergehende Entzug bestimmter politischer Rechte einzelner Funktionäre einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis und ist verhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Der Eingriff ist daher notwendig in einer demokratischen Gesellschaft.
V. Koalitionsfreiheit Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1975, 562 ff – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; EuGRZ 1976, 62 ff – Schwedischer Lokomotivführerverband; EuGRZ 1981, 559 ff – Young, James u Webster; HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson; ÖJZ 2006, 550 ff – Sørensen und Rasmussen; EKMR, DR 50, 228 ff – Council of Civil Service Unions. Schrifttum: Hendy The Human Rights Act, Article 11 and the right to strike, EHRLR 1998, 582 ff; Marauhn Die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit zwischen menschenrechtlicher Gewährleistung und privatrechtlicher Ausgestaltung. Zur Bedeutung von Art 11 EMRK für das kollektive Arbeitsrecht und das Gesellschaftsrecht, RabelsZ 1999, 537 ff; Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349 ff; ders GYIL, 1976, 239 ff.
Neben der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit gewährleistet Art 11 I EMRK in Anlehnung an Art 20 und Art 23 Nr 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Recht, Gewerkschaften zum Schutz ihrer Mitglieder zu bilden und diesen beizutreten. Die ausdrückliche Gewährleistung der Koalitionsfreiheit ist keine Privilegierung dieses wichtigen Bestandteils des allgemeinen Rechts der Vereinigungsfreiheit gegenüber anderen Teilgewährleistungen.231 Vielmehr handelt es sich dabei um eine Klarstellung mit dem Ziel, die Gewerkschaftsfreiheit unabhängig davon zu gewährleisten, ob Koalitionen nach nationalem Recht als Vereinigungen anzusehen sind.232 231 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 9. 232 van Dijk/van Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2. Aufl 1990, 431; Tomuschat in: MacDonald ua (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 493, 494.
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Fall 7: (EGMR, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson) G war Inhaber eines Restaurants. Er verweigerte die Mitgliedschaft im Hotel- und Gaststättenverband, so dass die Arbeitsverträge seiner Angestellten nicht den Kollektivverträgen unterlagen. Die Unterzeichnung eines entsprechenden Zusatzabkommens lehnte G ebenfalls ab. Daraufhin boykottierten ihn die Gewerkschaften, ua durch die Einstellung von Lieferungen an sein Restaurant. G ersuchte daraufhin die Regierung darum, auf die Gewerkschaften zwecks Einstellung der Boykottmaßnahmen einzuwirken. Diese verwies ihn auf die Zuständigkeit ordentlicher Gerichte. Rechtsmittel gegen die Untätigkeit der Regierung blieben erfolglos. Aufgrund von durch den Boykott verursachten finanziellen Schwierigkeiten musste G schließlich sein Restaurant verkaufen. G sieht sich durch die Untätigkeit der Regierung in seinen Rechten aus Art 11 EMRK verletzt.
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Die in Art 11 I EMRK gewährleistete Koalitionsfreiheit schützt sowohl den einzelnen Staatsbürger als auch die Vereinigung selbst und ist daher ein Doppelgrundrecht. Speziell für die Tätigkeit der Gewerkschaften ergibt sich darüber hinaus unmittelbar aus der Formulierung „zum Schutze ihrer Interessen“ eine Gewährleistung für die Ausübung ihrer Tätigkeit. Verpflichtungsadressat ist der Staat. Art 11 I EMRK entfaltet keine unmittelbare Drittwirkung. Allerdings kann man von einer mittelbaren Drittwirkung in dem Sinne sprechen, dass eine staatliche Schutzverpflichtung gegenüber Beeinträchtigungen durch Dritte besteht.233 Ist der Staat selbst Arbeitgeber, so greift Art 11 EMRK unmittelbar.234 a) Individuelle Koalitionsfreiheit
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Zur individuellen Koalitionsfreiheit des Art 11 I EMRK gehört zunächst das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten. Arbeitgebervereinigungen werden nicht ausdrücklich benannt. Es ist aber unstreitig, dass deren Bildung durch die allgemeine Vereinigungsfreiheit geschützt wird.235 Der EGMR billigte auch freien Ärztevereinigungen den Schutz des Art 11 I EMRK zu.236 Öffentlich-rechtliche Zwangszusammenschlüsse fallen dagegen – wie schon dargelegt – nicht unter Art 11 EMRK.237 Das Recht, einer Koalition beizutreten, besteht nur im Rahmen der Statuten dieser Koalition, die insoweit aufgrund von Art 11 I EMRK Autonomie genießt.238
233 Vgl dazu eingehend Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 15; Tomuschat (Fn 232) S 504 f; van Dijk/van Hoof (Fn 232) S 435, 437 f; EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 49 – Young, James u Webster. Vgl hierzu auch Wildhaber FS Vischer, 1983, S 349, 358 f. 234 EGMR, EuGRZ 1976, 62, Rn 37 – Schwedischer Lokomotivführerverband; EuGRZ 1976, 68, Rn 33 – Schmidt und Dahlström. 235 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 1; Tomuschat (Fn 232) S 494. 236 EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. 237 EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 62 ff – Le Compte, Van Leuven and De Meyere; EuGRZ 1983, 190, Rn 43 f – Albert und Le Compte. 238 EKMR, DR 42, 178, 185 f – Ernest Dennis Cheall.
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Die eigentliche Bedeutung der Straßburger Spruchpraxis zur individuellen Koalitionsfreiheit liegt in der Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit.239 Diese Spruchpraxis wurde zunächst in der Auseinandersetzung mit so genannten „closed shop“-Regelungen entwickelt. Zwar ist der Abschluss einer Vereinbarung zwischen einem privaten Arbeitgeber und einer Gewerkschaft, wonach nur Arbeitnehmer mit einer bestimmten Gewerkschaftszugehörigkeit bei dem betreffenden Arbeitgeber beschäftigt werden dürfen, grundsätzlich von der Vertragsfreiheit beider Seiten gedeckt und fällt mangels unmittelbarer Drittwirkung des Art 11 I EMRK nicht in dessen Schutzbereich. Sanktioniert der Staat jedoch dieses System, indem er Entlassungen durch private Arbeitgeber wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit zulässt und in diesen Fällen keinen oder nur eingeschränkten Kündigungsschutz gewährt, so stellt sich unmittelbar die Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit des betroffenen Arbeitnehmers.240 In ihrer Spruchpraxis betonten die Straßburger Instanzen, sie hätten nicht zur Konventionskonformität des „closed shop“ als solchem Stellung genommen.241 Keine Verletzung von Art 11 I EMRK sah der Gerichtshof in einem Fall, in dem der Arbeitnehmer an einem ihm von seinem Arbeitgeber angebotenen anderen Arbeitsplatz hätte weiterarbeiten können.242 Art 11 I EMRK ist nach Auffassung des Gerichtshofs auch auf Boykottmaßnahmen von Gewerkschaften anwendbar, die das Ziel verfolgen, einen Arbeitgeber zur Mitgliedschaft in einem Berufsverband oder zur Teilnahme an einem Kollektivvertragssystem zu zwingen.243 Derartige Maßnahmen berühren den Schutzbereich der negativen Vereinigungsfreiheit. Allerdings soll der Staat nur dann zum Eingreifen verpflichtet sein, wenn die Boykottmaßnahmen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigten.
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b) Kollektive Koalitionsfreiheit, insbesondere Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit Art 11 EMRK schützt nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Koalitionsfreiheit. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm. Die kollektive Koalitionsfreiheit haben die Konventionsorgane in den 1970er Jahren ausdifferenziert.244 Art 11 I EMRK gewährleistet allerdings weder ein spezifisches Konsultationsrecht der Gewerkschaften gegenüber privaten oder staatlichen Arbeitgebern in Berufsangelegenheiten noch einen Anspruch auf den Abschluss bestimmter Tarifverträge.245 In Abgrenzung zu Art 6 der Europäischen Sozialcharta räumt der EGMR lediglich ein, die Gewerkschaft müsse gehört werden,246 sie müsse also „die Möglichkeit haben …, in der Öffentlichkeit zu wirken“ 247. Hieraus lassen sich kaum eindeutige Aussagen hinsichtlich der Reichweite der
239 Vgl dazu auch die wichtige Entscheidung zur Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, EGMR, NJW 1999, 3695, Rn 103 – Chassagnou und die Folgeentscheidung NuR 2008, 489 – Schneider. Dazu Dietlein, Agrarrecht 2000, 76 ff. 240 So zutreffend dargelegt bei Tomuschat (Fn 232) S 502 f. 241 EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 61 – Young, James u Webster. 242 EGMR, Series A, Vol 258-A, Rn 29 – Sibson. 243 EGMR, HRLJ 1996, 118 ff – Gustafsson. 244 Eingehend Wildhaber GYIL 1976, 238 ff. 245 EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft; EuGRZ 1976, 62, Rn 39 – Schwedischer Lokomotivführerverband. 246 EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 39 – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. 247 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 11.
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gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit im Rahmen von Art 11 I EMRK ableiten.248 Auch lassen sich keine Aussagen zu Mitbestimmungsregelungen treffen.249 Dies ist allerdings vor dem Hintergrund hinnehmbar, dass die Rechte der Gewerkschaften in einer Vielzahl völkerrechtlicher Verträge erheblich detaillierter ausgestaltet sind. Besteht also weder ein Anspruch auf Aufnahme von Verhandlungen noch ein solcher auf vertragliche Fixierung der Verhandlungsergebnisse, so ist zu fragen, wie es sich mit anderen Kollektivmaßnahmen, insbesondere dem Streikrecht verhält. Der Gerichtshof hat das Streikrecht zwar als eine der wichtigsten Kollektivmaßnahmen bezeichnet, sogleich aber auf die Einschränkungsmöglichkeiten, die auch in der Europäischen Sozialcharta vorgesehen sind, verwiesen. Kollektivmaßnahmen sollen grundsätzlich von Art 11 EMRK garantiert sein, dem Staat bleibe aber ein weiter Spielraum hinsichtlich der Zulässigkeit einzelner Maßnahmen.250 Danach scheint es zulässig zu sein, den Gewerkschaften an Stelle eines Streikrechts andere angemessene Mittel zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zur Verfügung zu stellen.251 In dieser Allgemeinheit kann eine solche Schlussfolgerung allerdings nicht überzeugen. Abzustellen ist vielmehr darauf, dass Art 11 EMRK den typischen Zweck gewerkschaftlicher Organisation schützt. Neben einer grundsätzlichen Gleichbehandlung mit dem Einzelnen hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Interessen in Berufsangelegenheiten wird man den Schutzbereich von Art 11 EMRK jedenfalls so weit ausdehnen müssen, wie Gewerkschaften eine Funktion wahrnehmen, die ein Einzelner gerade nicht wahrnehmen kann.252 Der völlige Ausschluss des Streikrechts dürfte nicht mehr mit Art 11 EMRK vereinbar sein.253
2. Eingriff 90
In die Koalitionsfreiheit kann auf unterschiedliche Art und Weise eingegriffen werden. In der Spruchpraxis der Straßburger Organe hat neben direkten Eingriffen, wie einem Gewerkschaftsverbot, in erster Linie die staatliche Sanktionierung der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit eine Rolle gespielt. Auch die Zwangsmitgliedschaft in einer privatrechtlichen Vereinigung für Selbstständige wurde im Fall eines Taxifahrers, dem in der Folge seines Austritts aus einer Berufsvereinigung seine Taxikonzession entzogen worden war, als Eingriff angesehen.254 Darüber hinaus sind – wie schon dargelegt – auch gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen, die einen Arbeitgeber zur Teilnahme an einem Kollektivvertragsystem veranlassen sollen, als Eingriffe zu werten.255
248 Frowein in: Vassilouni (Hrsg) Aspects of the protection of individual and social rights, 1995, 203, 213. 249 Öhlinger Verfassungsrechtliche Probleme der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen, 1982, 145 f. 250 EGMR, EuGRZ 1976, 68, Rn 68 ff – Schmidt und Dahlström; zum Streikrecht Bröhmer (Fn 201) Kap 19 Rn 102. 251 So die Einschätzung von Villiger EMRK 417 f. 252 So überzeugend Tomuschat (Fn 232) 500 f. 253 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 13; Frowein (Fn 248) S 213. Ebenso Hendy EHRLR 1998, 582, 587 und 608 ff. 254 EGMR, Series A, Vol 264, Rn 35 – Sigurdur Sigurjónsson. 255 EGMR, HRLJ 1996, 118, Rn 44–45 – Gustafsson.
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3. Rechtfertigung Weder die individuelle noch die kollektive Koalitionsfreiheit werden von Art 11 EMRK unbegrenzt gewährleistet. Eingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einen der in Art 11 II 1 EMRK abschließend genannten Zwecke verfolgen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind. Hinsichtlich der zulässigen Eingriffszwecke kann auf die Ausführungen zur Versammlungsfreiheit verwiesen werden. Besondere Bedeutung kommt besonders bei der Koalitionsfreiheit der Beschränkungsklausel des Art 11 II 2 EMRK zu. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst stellt sich die Frage, wer zu den Mitgliedern der Staatsverwaltung zu rechnen ist, die neben denen der Streitkräfte und der Polizei genannt werden. Die offene Formulierung birgt Unsicherheiten hinsichtlich des Anwendungsbereichs. Man wird wohl in Anlehnung an die frühere Kommission fordern müssen, dass es sich um Personen handeln muss, die lebensnotwendige Funktionen zum Schutz der nationalen Sicherheit wahrnehmen.256 Es ist also eine funktionale Betrachtung vorzunehmen.257 So wurde das Gewerkschaftsverbot für Angehörige eines britischen Telekommunikationszentrums für militärische und andere amtliche Nachrichtensendungen unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten.258 Andererseits hat der Gerichtshof ausdrücklich offen gelassen, ob deutsche Lehrer im Beamtenverhältnis unter die besondere Einschränkung fallen.259 Neben dem personellen Anwendungsbereich der Vorschrift ist außerdem ungeklärt, ob die Bestimmung nur die Ausübung der Rechte oder auch ihre Existenz für den genannten Personenkreis besonderen staatlichen Beschränkungen zugänglich macht. Einerseits mag man argumentieren, dass die Ausübung der Rechte vollständig untersagt werden kann, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt.260 Auf der anderen Seite besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Ausübung von Rechten und der Rechtsinhaberschaft, der jedenfalls nahe legt, dass ein Anknüpfen der staatlichen Beschränkung an die Ausübung eine differenziertere Lösung ermöglicht.261 In einer unveröffentlichten Kommissions-Entscheidung wird offensichtlich das gegenüber einem belgischen Polizeibeamten verhängte Koalitionsverbot unter Bezugnahme auf Art 11 II 2 EMRK für konventionsgemäß gehalten. Diese Entscheidung ist deshalb kritisiert worden, weil sie den betroffenen Personen die Koalitionsfreiheit vorenthält, obwohl es eigentlich ausreichen sollte, die Modalitäten der Ausübung dieser Freiheit zu beschränken.262 Schließlich stellt sich mit Blick auf Satz 2 noch die Frage, ob für derartige staatliche Beschränkungen der Koalitionsfreiheit eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Nicht zu überzeugen vermag eine von der früheren Kommission geäußerte Auffassung, diese Beschränkungen müssten lediglich den allgemeinen Rechtsmäßigkeitsanforderungen ge-
256 EKMR, DR 50, 228, 239 – Council of Civil Service Unions. 257 Tomuschat (Fn 232) S 511. 258 Zu den in diesem Zusammenhang bei der Internationalen Arbeitsorganisation eingelegten Beschwerden vgl Mills EHRLR 1997, 35, 41 ff. 259 EGMR, EuGRZ 1995, 590, Rn 68 – Vogt. 260 So wohl Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 18. 261 Velu/Ergec La convention européenne des droits de l’homme, 1990, 659. 262 van Dijk/van Hoof (Fn 232) 439 (dort ist auch die Kommissionsentscheidung nachgewiesen).
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nügen.263 Art 11 I 2 EMRK ersetzt nämlich lediglich die Zweckbestimmung der Beschränkungsklausel des Satzes 1, nicht aber die übrigen Anforderungen an staatliche Beschränkungen.264 Dies gilt in jedem Fall für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.265 Darüber hinaus wird man trotz des unterschiedlichen Wortlauts im Vergleich zu den in Art 8 bis 10 und Art 11 I 1 EMRK verwendeten Beschränkungsklauseln für Art 11 I 2 EMRK auch eine ähnlich klare Rechtsgrundlage fordern müssen,266 wenn man nicht den grundsätzlich auch diesen Trägern staatlicher Funktionen zustehenden Schutz der Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit erheblich relativieren will.
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Lösung Fall 7: Zunächst ist zu prüfen, ob der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit überhaupt betroffen ist. Die Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften zielten darauf ab, G zur Teilnahme am Kollektivvertragssystem zu zwingen. G standen dafür zwei Möglichkeiten offen: entweder die Mitgliedschaft im Hotel- und Restaurantverband oder die Unterzeichnung eines Zusatzabkommens. Darin liegt eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit des G, die in den Schutzbereich von Art 11 EMRK fällt. Ein Eingriff liegt nur vor, wenn der Staat zum Handeln verpflichtet ist. Eine solche positive Pflicht gemäß Art 11 EMRK ist dann gegeben, wenn die gerügten Handlungen tatsächliche Auswirkungen auf die Vereinigungsfreiheit zeigen. Die Ausübung von Zwang allein – auch wenn dies wie hier wirtschaftliche Schäden verursachte – bedingt diese Pflicht noch nicht. Auch wenn man die Bedeutung der Kollektivverträge im Arbeitsrecht berücksichtigt und somit der Auffassung ist, dass die umstrittenen Boykottmaßnahmen der Gewerkschaften einen legitimen Zweck verfolgten, bestehen doch erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit. In der Untätigkeit der Regierung kann man eine Verletzung des Untermaßverbotes sehen.267
VI. Zusammenfassung 96
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Die hohe Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte im System der EMRK kommt in dem umfassenden Schutz, der durch differenzierte Teilgewährleistungen sichergestellt werden solle, zum Ausdruck. Das Nebeneinander vieler Teilfreiheiten in Art 10 und 11 EMRK soll Schutzlücken verhindern. Dabei geht der Gerichtshof davon aus, dass die Gewährleistungen des Art 11 I EMRK gegenüber denen aus Art 10 I EMRK die spezielleren sind und deshalb vorrangig zu prüfen sind, weil die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit besondere Formen der Meinungsäußerung schützen.268 Innerhalb der Freiheiten des Art 11 I EMRK ist die Koalitionsfreiheit ein besonderer Fall der Vereinigungsfreiheit. Abgesehen von der Koalitionsfreiheit, bei der sich eine Reihe von Besonderheiten aus dem Verhältnis zur Europäischen Sozialcharta und zu anderen völkerrechtlichen Gewährleistungen gewerkschaftlicher Aktivitäten ergeben, sind die Schutzbereiche der Kommuni-
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EKMR, DR 50, 228, 240 – Council of Civil Service Unions. So überzeugend Tomuschat (Fn 232) S 512. Ausdrücklich van Dijk/van Hoof (Fn 232) S 439. Davon geht offensichtlich auch Villiger EMRK, 419 aus. Der EGMR hat im konkreten Fall allerdings keine Verletzung festgestellt, vgl EGMR, HRLJ 1996, 118, Rn 54–55 – Gustafsson. 268 EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 35 – Ezelin.
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kationsgrundrechte grundsätzlich weit auszulegen. Nur so lässt sich der demokratischen Funktion dieser Grundrechte Rechnung tragen, obwohl Art 10 und 11 EMRK nicht auf diese Funktion beschränkt sind. Eingriffe in die Kommunikationsgrundrechte können auch indirekt erfolgen. Es ist dann bei der Rechtfertigung zu differenzieren. Bei der Prüfung der Rechtfertigung sind dann regelmäßig strenge Maßstäbe sowohl an die Eingriffszwecke als auch an die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzulegen. Ob und inwieweit beide Grundrechte auf wirtschaftliche Sachverhalte angewendet werden können, ist nach wie vor in der Diskussion. Trotz des offenen Wortlauts vertritt eine Reihe von Autoren die Auffassung, dass die Kommunikationsgrundrechte wirtschaftliche Freiheiten eher nicht gewährleisten. Nicht nur habe die Konvention ursprünglich keine erwerbswirtschaftlichen Freiheitsrechte gewährleistet, auch schützten die Kommunikationsgrundrechte nicht bestimmte Inhalte, sondern in erster Linie bestimmte Kommunikationsformen. Beide Argumente vermögen nicht zu überzeugen, zumal sich Art 11 I EMRK sowohl der Kategorie der politischen als auch dem Bereich der wirtschaftlichen Rechte zuordnen lässt. Zur wirtschaftlichen Dimension der in Art 10 I EMRK gewährleisteten Rechte liegt nunmehr in ausreichendem Maße Rechtsprechung vor, die klarstellt, dass Art 10 EMRK auch Informationen wirtschaftlicher Natur schützt.269 Die Kommunikationsgrundrechte lassen sich eben nicht auf bloße Ausübungsrechte reduzieren, auch wenn etwa im Rahmen der Vereinigungsfreiheit die Erreichung des Vereinigungszwecks nicht gewährleistet wird.270 Letztlich vermag keines der Argumente für eine restriktive, auf nicht-wirtschaftliche beschränkte Interpretation der Kommunikationsgrundrechte zu überzeugen, so ist davon auszugehen, dass Art 10 und 11 EMRK mit ihrem offenen Wortlaut auch die wirtschaftliche Dimension der Kommunikation schützen.
269 EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 26 – markt intern Verlag GmbH Klaus Beermann; vgl auch HRLJ 1994, 184, Rn 35 – Casado Coca. 270 Frowein in: ders/Peukert, EMRK, Art 11 Rn 7 mwN – Interessant ist die verfassungsrechtliche Parallele: Nach Auffassung des BVerfGs schützt Art 9 I GG auch die werbewirksame Selbstdarstellung eines Vereins (BVerfGE 84, 372 ff).
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§5 Wirtschaftsgrundrechte Bernhard W. Wegener Leitentscheidungen: EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong und Lönnroth; EuGRZ 1988, 341 ff – James; EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI; RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley; EuGRZ 2004, 57 ff; NJW 2005, 2907 ff – Jahn. Schrifttum: Condorelli in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg), La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, 971 ff; Cremer in: Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz 2006, Kap 22; S 1222–1345; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg), Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, 215 ff; Fiedler Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz des Eigentums, EuGRZ 1996, 354 ff; Frowein Der Eigentumsschutz in der Europäischen Menschenrechtskonvention in: FS Rowedder, 1994, S 49 ff; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 1996; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 2008, 399–417; Hartwig Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, RabelsZ 63 (1999), 561 ff; Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European convention on human rights, 1995, 516 ff; Mahlzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007; Meyer-Ladewig Europäische Menschenrechtskonvention, 2006; Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000; ders Die Rechtsprechung des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Eigentumsschutz, EuGRZ 2001, 364 ff; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, 62 ff; Peters Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, 193–201; Peukert Der Schutz des Eigentums nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, EuGRZ 1981, 97 ff; Reininghaus Eingriffe in das Eigentumsrecht nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK, 2002.
I. Einführung 1
Der internationalrechtliche Schutz der Wirtschaftsgrundrechte ist keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil verzichten völkerrechtliche Regelungen des Grundrechtsschutzes nicht selten auf die Normierung entsprechender Garantien. Zwar normierte schon die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 in Art 17 eine Gewährleistung des Eigentums.1 Anlässlich der Verhandlungen über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) konnte man sich aber zunächst nicht auf einen Schutz der Eigentumsfreiheit verständigen, so dass diese 1950 ohne eine entsprechende Garantie verabschiedet wurde. Bereits zwei Jahre später einigte man sich dann aber auf ihre Aufnahme in das am 20. März 1952 unterzeichnete 1. Zusatzprotokoll zur EMRK.2 Jenseits der Eigentums-
1 „1. Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.“ Zur ursprünglichen Absicht des Rechtsausschusses der Beratenden Versammlung des Europarates, eine Eigentumsgarantie der EMRK in Form der Bezugnahme auf Art 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorzuschlagen und zu weiteren Einzelheiten der Vorgeschichte von Art 1 1. ZP EMRK: Peukert EuGRZ 1981, 97 f mwN. 2 Zur Entstehungsgeschichte von EMRK und 1. ZP EMRK vgl Robertson Human Rights in Europe, 1977, 5 ff; v Danwitz in: v Danwitz/Depenheuer/Engel (Hrsg), Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, 220 ff.
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garantie fehlt es der EMRK bis heute nahezu völlig an weitergehenden Gewährleistungen wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte.3 Insbesondere verzichtet sie auf eine eigenständige Normierung der Garantie der Berufsfreiheit.4 Motive dieser Zurückhaltung waren – neben dem historisch überwundenen Systemgegensatz – vor allem die Unterschiede in den nationalen Vorstellungen über die Ausgestaltung der eigenen Wirtschaftsordnung sowie die Sorge vor ihrer zu weitgehenden völkerrechtlichen Überformung und vor einem Verlust einzelstaatlicher Gestaltungsfreiheit zugunsten eines grundrechtlich angeleiteten „gouvernement des juges“ im Bereich der Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik.5 Angesichts der im europäischen und globalen Maßstab wachsenden Angleichung der Wirtschafts- und Sozialordnungen haben sich diese Motive in den letzten Jahrzehnten sicherlich relativiert. In der Vergangenheit aber prägte die Zurückhaltung bei der Normierung internationaler Garantien der Wirtschaftsfreiheit, die ihren Niederschlag auch in einer betont eingeschränkten Formulierung der entsprechenden Garantien gefunden hat,6 die eher vorsichtige und tastende Entwicklung der Spruchpraxis des EGMR.7 In jüngster Zeit nimmt die Zahl der festgestellten Grundrechtsverstöße jedoch deutlich zu.8
2
II. Schutz des Eigentums Art 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, das bislang von 45 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert wurde,9 garantiert den „Schutz des Eigentums“ 10 wie folgt:
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„Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Die vorstehenden Bedingungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininte-
4
3 Frowein The Protection of Property in: MacDonald/Matscher/Petzold (Hrsg), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 515. 4 Näher dazu u Rn 12 und 61. 5 Vgl dazu mit Blick auf die Garantie der Eigentumsfreiheit: Fiedler EuGRZ 1996, 354: „rechtspolitisch delikat“, „ureigene Dispositionsbereich des Staates“, „existentiellen Lebensnerv“. 6 Vgl die entsprechende Bewertung der Garantie des Eigentumsrechts in Art 1 1. ZP EMRK durch Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European convention on human rights, 1995, 516: „a much qualified right, allowing the state a wide power to interfere with property“. 7 Kritischer noch spricht Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 366 mit Blick auf die Rechtsprechung zu Art 1 1. ZP EMRK von einer „Phase …, während welcher der Gerichtshof größtenteils zu Ergebnissen kam, die dem Eigentumsschutz in Europa nicht unbedingt dienlich waren“; vgl zur Kritik im Übrigen: Fromont GS Geck, 1990, S 213 f; Dolzer FS Zeidler, 1987, S 1679. 8 Kritisch zur älteren Rechtsprechung zu Art 1 1. ZP EMRK: Clements European Human Rights – Taking A Case Under The Convention, 1994, 201: „Article 1 of the First Protocol is frequently invoked, but violations are seldom found“. Tendenziell aA Frowein FS Rowedder, 1994, S 49, wonach die Rechtsprechung seit den achtziger Jahren stärkere Konturen gewonnen habe. 9 Zu den zwei Staaten, die bis zum 17.09.2008 das 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hatten, gehören die Schweiz (Mitglied seit 1963) und Monaco (Mitglied seit 2004), vgl EuGRZ 2008, 439. 10 Überschrift des Art 1 1. ZP EMRK.
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resse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“11 5
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Das hier gewährleistete Grundrecht unterscheidet sich von den entsprechenden Garantien des nationalen Verfassungsrechts vor allem durch seine fehlende Anbindung an eine konkrete rechtlich konstituierte Eigentums- und Wirtschaftsordnung. Es ist daher weniger „normgeprägt“ als die Garantien des nationalen Rechts.12 Daraus folgt allerdings – entgegen einer gelegentlich vertretenen Meinung 13 – nicht, dass Art 1 1. ZP EMRK zugleich der Charakter einer Institutsgarantie abzusprechen wäre. Ein weiterer, wesentlicher Unterschied liegt darin, dass in der Eigentumsgarantie der EMRK keine Junktimklausel wie in Art 14 III GG enthalten ist, sondern die Frage nach dem Ob und Wie der Entschädigung in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einfließt.14 Die Prüfung einer Verletzung des hier gewährleisteten Grundrechts kann grundsätzlich entsprechend dem aus dem deutschen Recht vertrauten Dreischritts von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung erfolgen.15
1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie 7
Fall 1: (nach EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz) G ist türkischer Staatsangehöriger und arbeitete als sozialversicherter Arbeitnehmer elf Jahre in Österreich. Nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes bezog er Arbeitslosenunterstützung. Nach deren Auslaufen beantragt er die Gewährung der sich anschließenden sog „Notstandshilfe“, die nach österreichischem Recht zeitlich unbefristet an diejenigen gezahlt wird, die keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr haben. Sein Antrag wird mit dem Hinweis darauf abgewiesen, Notstandshilfe werde nach der gesetzlichen Regelung allein österreichischen Staatsangehörigen gewährt.
11 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl II 1956, 1879. Die authentische englische Fassung lautet: “Every natural or legal person is entitled to the peaceful enjoyment of his possessions. No one shall be deprived of his possessions except in the public interest and subject to the conditions provided for by law. The preceding provisions shall not, however, in any way impair the right of a State to enforce such laws as it deems necessary to control the use of property in accordance with the general interest or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties.” Mit der vielfach kritisierten Verwendung der unterschiedlichen Begriffe „possessions / property“ bzw „propriété / biens“ in den engl bzw franz Originalfassungen verbindet sich kein unterschiedlicher Sinngehalt. Schon in seiner ersten Entscheidung zum Eigentumsrecht betonte der EGMR, dass jeweils das Eigentum in einem einheitlichen Sinne gemeint sei, vgl dazu EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside; sowie später EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx; näher dazu Peukert in: Frowein/Peukert, Art 1 1. ZP EMRK Rn 4. 12 Ähnlich Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 2; zur Eigenständigkeit des Eigentumsbegriffs der EMRK gegenüber dem der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten des Europarates: EKMR, EuGRZ 1993, 607, 609 – Heilige Klöster. 13 Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 2. 14 Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 2. 15 Zur Möglichkeit einer solchen Übertragung, ihren Funktionen und ihren Grenzen → § 2 Rn 55.
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a) Allgemeines Eigentum im Sinne des Art 1 1. ZP EMRK meint nicht allein das Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen. Erfasst werden vielmehr grundsätzlich alle wohlerworbenen vermögenswerten Rechte (acquired rights, droits acquis).16 Zu ihnen zählen etwa auch Anteile an Handelsgesellschaften17 und ähnliche geldwerte Vermögenspositionen18. Auch ein Erstattungsanspruch, der auf Grund der unmittelbaren Anwendbarkeit einer EG-Richtlinie besteht, kann unter die Eigentumsgarantie fallen.19 Die Rechtsprechung der Konventionsorgane bezieht in ihre weite und autonom konventionsrechtliche Auslegung auch solche Rechte mit ein, die nach der Rechtsordnung des Staates, gegen den Beschwerde geführt wird, nicht geschützt sind.20 Träger des Eigentumsrechts sind nach der ausdrücklichen Formulierung des Art 1 I 1. ZP EMRK nicht allein natürliche, sondern auch juristische 21 Personen.22 Ob angesichts dieses Umstandes die Interpretation des Eigentumsrechts der EMRK allein an seinem Charakter als einem „Menschenrecht“ orientiert werden kann,23 erscheint zumindest zweifelhaft.24
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b) Schutz des Bestandes, nicht des Erwerbs Vom Begriff des Eigentums nicht umfasst werden bloße Erwartungen und Chancen, die sich noch nicht zu einer vermögenswerten und rechtlich gesicherten Position verfestigt haben.25 Gewissermaßen spiegelbildlich stellt auch die bloße Hoffnung, ein ehemals bestehendes und in den Zeitläufen entwertetes und bestrittenes Eigentumsrecht werde wieder erstarken, oder ein bedingter Anspruch, der infolge des Nichteintritts der Bedingung erloschen ist, als solche kein Eigentum dar.26 Insoweit kann in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis der Kommission27 davon gesprochen werden, ein Recht zum Eigentums-
16 Frowein (Fn 8) S 49, 50. 17 Vgl dazu EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow. 18 Zur Frage, ob auch das Vermögen als solches in den Anwendungsbereich des Art 1 1. ZP EMRK fällt, s Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, 69; aA v Danwitz (Fn 2) S 233 f. 19 EGMR, EuGRZ 2007, 671 ff – S. A. Dangeville gegen Frankreich; Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 41, 45. 20 EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong und Lönnroth; RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König; Harris/O’Boyle/Warbrick (Fn 6) S 516, 517 f; Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 ZP 1 zur EMRK, 1996, 200. 21 Zum Schutz des Eigentums juristischer Personen des Öffentlichen Rechts s Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 7 sowie § 13 Rn 10; Müller-Michaels (Fn 18) S 70. 22 Zur (zweifelhaften) Bedeutung der Bestimmung für die kollisionsrechtliche Frage nach Sitz- oder Gründungstheorie des internationalen Gesellschaftsrechts: Engel ZEuP 1993, 150 ff. 23 So aber Gelinsky (Fn 20) S 36 ff; zu diesem Ansatz im Übrigen: Riedel Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986, 65 ff, 118 f. 24 Ähnlich Frowein (Fn 8) S 49; van Dijk/van Hoof Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2006, 864. 25 Harris/O’Boyle/Warbrick (Fn 6) S 517. 26 EGMR, EuGRZ 2001, 466 ff – Fürst Hans-Adam II. von und zu Lichtenstein; EGMR, NJOZ 2005, 2912 ff – Kopecky/Slowakei. 27 Vgl dazu die Nachw bei Peukert in: Frowein/Peukert, Art 1 1. ZP EMRK Fn 11.
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erwerb werde nicht geschützt.28 Vom Schutzbereich umfasst sind grundsätzlich alle erworbenen Rechte mit Vermögenswert.29 Geschützt sind jedenfalls privatrechtliche Vermögenspositionen. Dazu gehören bestehende Eigentumsrechte nach nationalem Recht und unbedingt entstandene Ansprüche auf vermögenswerte Leistungen bzw Forderungen, sofern diese durchsetzbar sind („sufficiently established to be enforceable“).30 Dies sind Forderungen, die bereits durch eine endgültige und verbindliche gerichtliche Entscheidung anerkannt wurden.31 Auch „berechtigte Erwartungen“ („legitimate expectations“) können schutzwürdige Positionen darstellen, wenn der Inhaber einer Forderung auf deren Erfüllung legitimerweise vertrauen kann32. Der EGMR bejaht dies, wenn die Forderung auf einer ausreichenden Grundlage im innerstaatlichen Recht beruht. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung der zuständigen Gerichte bestätigt wird33. Geschützt sind also verfestigte schuldrechtliche Positionen,34 da diese als vermögenswerte Rechte Eigentum iSd Art 1 1. ZP EMRK sind. c) Goodwill 11
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Vom Schutzbereich des Eigentums nach Art 1 1. ZP EMRK werden auch die geschäftlichen Beziehungen erfasst, die sich ein Unternehmen oder ein Unternehmer in der Vergangenheit erarbeitet hat und die den Vermögenswert des Geschäfts über den reinen Substanzwert hinaus beeinflussen.35 Bedeutung hat der Schutz dieses sogenannten „goodwill“ 36 vor allem für die wenig durchsichtige Entscheidungspraxis der Konventionsorgane hinsichtlich der Entziehung von Gewerbeerlaubnissen gewonnen. Danach kann eine solche Entziehung jedenfalls dann, wenn die Erteilung der Erlaubnis von Anfang an an zwischenzeitlich entfallene Bedingungen geknüpft war, keine Eigentumsverletzung darstellen. Ein eigentumsrechtlicher Schutz gegenüber den entsprechenden Maßnahmen soll sich aber aus einer mit der Entziehung einhergehenden Beeinträchtigung des dem Erlaubnisinhaber entgegengebrachten „goodwill“ ergeben können.37 In dieser eigentümlich weiten Interpretation des als Eigentum geschützten „goodwill“ manifestiert sich das Bemühen des EGMR, im Sinne eines möglichst umfassenden und effektiven Grundrechtsschutzes den sehr begrenzten Katalog der durch die EMRK geschützten Wirtschaftsgrundrechte ausgreifend zu verstehen. So werden Schutzbereiche
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So Villiger EMRK Rn 669; Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 31. Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 3. Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 3. Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 43; Meyer-Ladewig Europäische Menschenrechtskonvention, Art 1 Rn 9 f. Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 43; Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 3. EGMR, NJOZ 2005, 2912 ff – Kopecky/Slowakei. Dazu v Danwitz (Fn 2) S 227 f; s auch Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 3. Nach Gelinsky (Fn 20) S 28 findet sich eine Anerkennung dieser Rechtsfigur der Sache nach erstmals in EGMR, EuGRZ 1988, 35 ff – van Marle; zum eigentumsrechtlichen Schutz der „Kundenstämme“ eines Rechtsanwalts und eines Steuerberaters, vgl EGMR, NJW 2001, 1556 – Döring und NJW 2001, 1558 – Olbertz. Kritisch zur Anerkennung des „goodwill“ als geschütztes Eigentum: Hartwig RabelsZ 63 (1999), 566, der eine Transformierung der Eigentumsgarantie zu einer Absicherung künftiger Gewinnerwartungen befürchtet. S dazu auch v Danwitz (Fn 2) S 233. EGMR, RUDH 1989, 578 ff – Tre Traktörer AB; vgl auch EGMR, HRLJ 1991, 93 ff – Fredin (Nr 1); zum Ganzen eingehender Gelinsky (Fn 20) S 27 ff.
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dem Eigentumsschutz zugeschlagen, die nach herkömmlichem nationalem Verständnis eher den – von der Konvention nicht gewährleisteten – Garantien der Berufsfreiheit oder der allgemeinen wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit zuzuordnen wären. d) Öffentlich-rechtliche Ansprüche Von besonderer praktischer Bedeutung – aber auch in besonderer Weise umstritten – ist die Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts. Zu diesen Ansprüchen zählen etwa Ansprüche aus der Sozialversicherung, besoldungsrechtliche Ansprüche der Beamten oder Ansprüche auf Rückerstattung zu Unrecht bezahlter Abgaben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennt einen Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche dann an, wenn diese „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet“ sind, „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten“ beruhen und „der Sicherung seiner Existenz“ dienen.38 Die Spruchpraxis der EKMR zeigte sich dagegen gegenüber einer Einbeziehung öffentlich-rechtlich begründeter vermögenswerter Positionen in den Schutzbereich des Eigentumsrechts eher zurückhaltend.39 Auch solche Ansprüche, die – wie etwa Pensionsansprüche – wenigstens zum Teil aus einer eigenen Leistung der Anspruchsinhaber resultierten, sollten danach grundsätzlich keinen Schutz genießen.40 Eine Ausnahme sollte nur insoweit gelten, als zwischen der Höhe der geleisteten Beiträge und der Höhe der Pensions- oder Rentenansprüche eine unmittelbare Verbindung dergestalt bestand, dass dem Berechtigten ein „identifizierbarer Anspruch auf einen Anteil am Versicherungsfonds“ zustand. Daran sollte es fehlen, wenn das Versicherungssystem dem Gedanken einer generationenübergreifenden Solidargemeinschaft verpflichtet sei.41 Auch ein nach diesen Kriterien dem Grunde nach in den Schutzbereich des Eigentumsrechts fallender öffentlich-rechtlicher Anspruch ist nach der Spruchpraxis der Kommission aber nicht unbedingt geschützt. Vielmehr soll mit Rücksicht auf haushaltspolitische Erfordernisse allein eine erhebliche nachträgliche Reduktion der einmal erworbenen Ansprüche als vom Schutzbereich der Eigentumsfreiheit umfasst angesehen werden können.42 Wenn der Spruchpraxis der EKMR dennoch schon in der Vergangenheit zumindest eine Tendenz zu einer weitergehenden Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich des Eigentumsrechts entnommen worden ist,43 so wird diese Auffas-
38 BVerfGE 69, 272, 300; vgl auch BVerfGE 53, 257; 72, 9, 18; 75, 78; 76, 220, 235; zur traditionell weitaus zurückhaltenderen Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs: Pech in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg) Kontinuität und Wandel der EMRK: Studien zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1998, 233 f. 39 Kritisch dazu Gelinsky (Fn 20) S 29 ff, 36 ff; Pech (Fn 38) S 233 ff. 40 Zur abweichenden Sicht vgl van Dijk/van Hoof (Fn 24) S 867 f. 41 EKMR, CD 38 (1972), 9 ff = YB 14, 224 – X/Niederlande; bestätigt in: DR 43 (1985), 190, 191 f – Vos; DR 42 (1985), 162, 166 – Kleine Staarmann; zu Recht kritisch zu der dem zugrunde liegenden und zu formal anmutenden Unterscheidung zwischen Kapitalhäufungs- und intergenerationellem Umlageverfahren: v Danwitz (Fn 2) S 235. 42 EKMR, DR 3 (1976), 31, 32 – Müller. 43 Peukert in: Frowein/Peukert, Art 1 1. ZP EMRK Rn 17 f.
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sung ua44 durch das in seiner Interpretation wie in seinem Ergebnis allerdings umstrittene Urteil des EGMR in der Sache Gaygusuz bestätigt.45 In jüngster Vergangenheit hat der EGMR in weiteren Urteilen ausgesprochen, dass auf Zahlung von staatlichen Pensionen und sonstigen Sozialleistungen gerichtete Ansprüche von Art 1 1. ZP geschützt werden, wenn Beiträge in eine Versicherungskasse eingezahlt wurden.46 Auch wenn man davon ausgehe, dass Art 1 1. ZP Sozialleistungen schütze, die aufgrund vorheriger Beitragszahlung zahlbar seien, soll sich die Höhe des zu zahlenden Betrags nach Auffassung des EGMR grundsätzlich nicht durch Heranziehung der Vorschrift ermittelt lassen. Es könne jedoch erheblich sein, ob ein sozialversicherungsrechtlicher Rentenanspruch in seinem Wesen beeinträchtigt werde.47 Insbesondere, wenn sozialversicherungsrechtliche Ansprüche in einem vollstreckbaren Titel festgestellt worden sind, genießen sie konventionsrechtlichen Eigentumsschutz.48
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Lösung Fall 1: Einen Anspruch aus Art 1 1. ZP EMRK (iVm dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK49) kann G nur dann erfolgreich geltend machen, wenn es sich bei der beantragten „Notstandshilfe“ um Eigentum im Sinne dieser Bestimmung handelt. Öffentlichrechtliche Ansprüche können aber wenigstens nach der älteren Rechtsprechung der Konventionsorgane nur dann als Eigentum angesehen werden, wenn sie zumindest auch auf einer eigenen Leistung des Versicherten beruhen und diesem insoweit ein identifizierbarer Teilanspruch zusteht. Auch wenn dies im Fall der Notstandshilfe nach österreichischem Recht durchaus als fraglich angesehen werden kann,50 hat der EGMR im konkreten Fall – wohl mit Rücksicht auf die in der Verweigerung liegende Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit – eine Verletzung des Eigentumsrechts bejaht.51
e) Geistiges Eigentum 18
Die allgemein zum geistigen Eigentum gezählten Immaterialgüterrechte wie Urheber-, Patent-, Verlags-, Marken- und andere Schutzrechte dienen der wirtschaftlichen Nutzung
44 Vgl im Übrigen die Nachw bei v Danwitz (Fn 2) S 236, Fn 100. 45 IdS Pech (Fn 38) S 233, 241, wonach angesichts dieser Entscheidung „überhaupt keine Zweifel“ mehr bestehen, „dass die zentralen Ansprüche aus dem Sozialversicherungssystem, also Pensionsansprüche und Ansprüche aus der Kranken- oder Unfallversicherung, nunmehr in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie des Art 1 ZP 1 EMRK fallen“. 46 Cremer in: Grote/Maraun, KK, Kap 22 Rn 45; EGMR No. 60669/00 (2004) – Asmundsson, abrufbar auf der Internet-Homepage http://www. echr.coe.int; EGMR, NJW 2003, 2441 ff – Lenz/ Deutschland. 47 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 45; EGMR No. 60669/00 (2004) – Asmundsson. 48 Cremer in: Grote/Marauhn, KK, Kap 22 Rn 45; EGMR No. 11931/03 (2005) – Teteriny, abrufbar auf der Internet-Homepage http://www. echr.coe.int. 49 Zur rechtlichen Konstruktion und Funktion dieser Verbindung, s u Rn 57. 50 Vgl Hailbronner JZ 1997, 397, 398, der die Leistung mit Rücksicht auf ihre teilweise Finanzierung nicht allein aus Versicherungsbeiträgen, sondern auch aus staatlichen Mitteln als Element der Sozialfürsorge begreift. (Nur) insoweit erscheint – wie Hailbronner zu Recht ausführt – eine Einordnung als eigentumsrechtlich geschützte Forderung kaum gerechtfertigt. Für eine Einbeziehung von Ansprüchen auf Arbeitslosengeld in den Schutzbereich des Eigentumsrechts nach Art 14 GG vgl etwa BVerfGE 72, 9, 18; 74, 203, 213. 51 EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz.
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unter Ausschluss von Dritten und können veräußert werden. Auch diese Rechte unterfallen daher nach allgemeiner Meinung dem Eigentumsbegriff des Art 1 1. ZP EMRK.52 Die Kommission hat dementsprechend den Eigentumscharakter eines nach niederländischem Recht begründeten Patents bejaht.53 In einer jüngeren Entscheidung hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, dass geistiges Eigentum von Art 1 1. ZP EMRK geschützt ist. Das gilt auch für eine eingetragene Marke. Bereits die Antragstellung, die auf Eintragung einer Marke gerichtet ist, kann Gegenstand entgeltlicher Rechtsgeschäfte sein, hat deshalb wirtschaftlichen Wert und vermittelt folglich eine Rechtsposition. Das genügt nach Ansicht der Großen Kammer des EGMR, um Art 1 1. ZP EMRK anzuwenden.54 Selbst das Nutzungsrecht an einer Internetdomainadresse, das an Firmen verkauft werden kann und somit kommerziellen Wert hat, unterfällt dem Schutzbereich von Art 1 1. ZP EMRK.55 f) Erbrecht Anders als Art 14 GG nimmt Art 1 1. ZP EMRK das Erbrecht nicht ausdrücklich in Bezug. Dennoch sieht der EGMR das Recht des Eigentümers, über sein Vermögen von Todes wegen zu verfügen, als vom Schutzbereich des Art 1 1. ZP EMRK umfasst an.56 Er hat es aber ausdrücklich abgelehnt, eine gesetzliche Regelung der Erbfolge auf Antrag des potentiellen Erben am Eigentumsrecht zu messen. Art 1 1. ZP EMRK schütze allein das aktuelle Eigentum lebender Personen, nicht aber bloße Erbanwartschaften.57
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2. Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts Fall 2: (nach EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong und Lönnroth) Für Grundstücke der S besteht eine staatliche Enteignungsgenehmigung zugunsten der Kommune. Die Enteignungsgenehmigung ist mit einem Bauverbot verknüpft, das Neubauten auf den Grundstücken untersagt. Eine Entschädigung für zwischenzeitlich getätigte Renovierungen der vorhandenen Bebauung oder für Vermögenseinbußen, die aus der ungewissen Lage hinsichtlich der betroffenen Grundstücke resultieren, wird in den einschlägigen nationalen Vorschriften ausgeschlossen. Die zunächst auf drei Jahre befristete Enteignungsgenehmigung wird von der Kommune nicht in Anspruch genommen aber auf ihr Drängen sukzessive verlängert. Erst nach einem Zeitraum von über zwanzig Jahren werden die Genehmigung und das Bauverbot aufgehoben, weil sich die ursprünglich verfolgten Stadtentwicklungspläne zwischenzeitlich verändert haben. S, die zwischenzeitlich mehrfach vergeblich versucht hat ihre Grundstücke zu verkaufen, die notwendige Renovierungen zurückgestellt hat und Mietausfälle beklagt, sieht sich in ihrem Eigentumsrecht verletzt.
Zumindest die ältere Spruchpraxis der Konventionsorgane EGMR und EKMR unterscheidet zwischen drei verschiedenen Eingriffsformen: Enteignungen, nutzungsregelnden
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Peukert EuGRZ 1981, 97, 103; Gelinsky (Fn 20) S 32; Riedel (Fn 23) S 69. EKMR, DR 66 (1990), 70, 79 – Smith Kline/Niederlande. EGMR, GRUR 2007, 696 ff – Anheuser-Busch Inc/Portugal, Budweiser. EGMR, MMR 2008, 29ff – Paeffgen GmbH. EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx. EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff – Marckx.
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Maßnahmen und sonstigen Eingriffen.58 Maßgeblich für die Unterscheidung sind die Zielrichtung der jeweiligen Maßnahme und die Eingriffsintensität. Ohne Bedeutung ist, ob der Eingriff gezielt erfolgte oder sich als unbeabsichtigte Nebenfolge staatlichen Handelns darstellt. Auch seine Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nach nationalem Recht spielt für die Einordnung keine Rolle.59 22
Fall 3: (nach EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI). Die deutsche Goldhandelsfirma A verkauft dem britischen Staatsbürger X im Jahre 1975 Krügerrand-Goldmünzen im Wert von 120 000 £. Das Eigentum bleibt bis zur Bezahlung vorbehalten. Weil die Bezahlung nicht erfolgt und A den Kaufvertrag später erfolgreich anficht, bleiben die Münzen Eigentum der A. X transportiert die Münzen ohne Wissen der A nach Großbritannien. Bei der nach britischem Recht illegalen Einfuhr werden die Münzen vom Zoll beschlagnahmt. Ein Herausgabeverlangen der A wird von den britischen Behörden abgelehnt. Die Münzen seien rechtmäßig beschlagnahmt worden und das Eigentum an ihnen nach den einschlägigen Vorschriften verfallen.
a) Enteignungen 23
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Während das BVerfG den Begriff der Enteignung nach Art 14 III GG tendenziell eng versteht,60 neigt der EGMR dazu, die Position des Eigentümers gegenüber staatlichen Eingriffen zu stärken,61 indem er den Anwendungsbereich des Art 1 I 2 1. ZP EMRK großzügig auslegt. Der Gerichtshof kleidet dies in die Formulierung, die Konvention solle „konkrete und wirksame“ Rechte schützen.62 Die Prüfung einer nationalen Maßnahme am Maßstab der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 1. ZP EMRK setzt nicht voraus, dass ein formeller Eigentumstransfer stattgefunden hat. Zur Sicherung eines effektiven Eigentumsschutzes werden vielmehr auch faktische Eigentumsentziehungen einbezogen.63 Für die Abgrenzung zu Nutzungsregelungen nach Art 1 II 1. ZP EMRK kommt es vor allem darauf an, ob von den betroffenen Vermögenswerten weiterhin in wirtschaftlich sinnvoller Weise Gebrauch gemacht werden kann.64 Darüber hinaus können auch nutzungsregelnde nationale Maßnahmen an der Enteignungsnorm des Art 1 I 2 1. ZP EMRK zu messen sein, wenn die Maßnahmen der Vorbe-
58 Zur älteren Entscheidungspraxis, die von einer eigenständigen Kategorie „sonstiger Eingriffe“ ausgeht, zu der an ihr geäußerten Kritik und zu neueren Tendenzen in der Rechtsprechung des EGMR sogleich u Rn 32 ff. 59 Gelinsky (Fn 20) S 200. 60 Vgl etwa BVerfG, Beschluss v 6.10.2000, WM 2001, 775 ff. 61 Zu sonstigen Unterschieden zwischen der Garantie des Art 14 GG und der des Art 1 1. ZP EMRK vgl Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 2, der zu Recht auch auf Momente eines schwächeren Eigentumsschutzes nach Art 1 1. ZP EMRK aufmerksam macht. 62 EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn. 63 Vgl etwa EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn; zur Unterscheidung zwischen formellen und de facto – Eingriffen s Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 9 ff. 64 Zur Abgrenzung der formellen Enteignung von der Nutzungsregelung s auch Mittelberger Der Eigentumsschutz nach Art 1 des 1. ZP zur EMRK im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Organe, 2000, 92 ff; zur Abgrenzung der de facto-Enteignung von der Nutzungsregelung s ders, 86 ff; Müller-Michaels (Fn 18) S 74 f.
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reitung einer Enteignung dienen und es deshalb an einer bloß nutzungsregelnden Intention des nationalen Hoheitsträgers fehlt.65 In jüngster Zeit beschäftigt den EGMR vermehrt die Rechtmäßigkeit von Enteignungen im Rahmen der europäischen Nachkriegsordnung. Das Ende des Kalten Krieges und der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa stellen die Staaten vor erhebliche Probleme bei der Bewältigung des hier geübten (Un-)Rechts. Fall 4: (nach EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff; NJW 2005, 2907 ff – Jahn)66 A hatte noch vor der Wende 1989 nach dem Recht der DDR kraft Erbfolge Eigentum an einem Grundstück aus der sog Bodenreform erlangt. Die Bodenreform hatte von 1945 bis 1949 in der sowjetischen Besatzungszone stattgefunden. Dabei waren Großgrundstücke enteignet und in einen Bodenfonds übergeführt worden, aus dem anschließend kleine Parzellen landlosen oder landarmen Bauern sog „Neubauern“ zugeteilt worden waren. Das „Eigentum“ an diesen Grundstücken war nach dem Recht der DDR zwar grundsätzlich vererblich, im Übrigen jedoch in vielfacher Hinsicht beschränkt. Über die Grundstücke durfte nicht frei verfügt werden. Zur Zeit der DDR erlassene Besitzwechselverordnungen regelten die Fälle der Rückführung der Grundstücke in den Bodenfonds und erlaubten die Zuteilung an Dritte nur unter der Voraussetzung, dass diese sich verpflichteten, die Grundstücke landwirtschaftlich zu nutzen. Das am 16. März 1990 in Kraft getretene Modrow-Gesetz hob sämtliche Verfügungsbeschränkungen für die Grundstücke aus der Bodenreform auf und machte deren Besitzer zu vollwertigen Eigentümern. Die ersten freien Wahlen fanden in der DDR am 18. März 1990 statt. Am 22. Juli 1992 trat das vom bundesdeutschen Gesetzgeber verabschiedete Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz über die Abwicklung der Bodenreform in den Ländern im Gebiet der ehemaligen DDR in Kraft. Nach den danach in Art 233 EGBGB eingefügten §§ 11 ff geht das Eigentum an Bodenreformgrundstücken kraft Gesetzes grds auf die Person über, die bei Ablauf des 15.3.1990 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen war, oder an deren Erben. Letzteres allerdings nur dann, wenn es keine „besserberechtigte“ Person gibt, die einen Anspruch auf unentgeltliche Auflassung des Grundstücks hat und diesen auch erhebt. War der im Grundbuch eingetragene Eigentümer bereits bei Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes verstorben, gilt der Fiskus des Landes, in dem das Grundstück liegt, als besserberechtigt, wenn nicht der Erbe bei Ablauf des 15.3.1990 in der Land- oder Forstwirtschaft tätig war. 1994 ließ A, der zu keinem Zeitpunkt in der Land- oder Forstwirtschaft tätig war, sich in das Grundbuch eintragen. 1996 wurde A dazu verurteilt, sein Grundstück an das Land L unentgeltlich aufzulassen.
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b) Nutzungsregelnde Maßnahmen Grundsätzlich werden als Nutzungsregelung Maßnahmen angesehen, die zwar in die Eigentümerposition eingreifen, dieser jedoch noch eine „Substanz“ lassen.67 So hat der EGMR etwa den gesetzlichen Ausschluss polizeilicher Mithilfe bei der Räumung einer zu
65 Allgemein zur Enteignung nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK: Peukert EuGRZ 1988, 510 ff; Gelinsky (Fn 20) S 42 ff. 66 Das „Jahn-Urteil“ wird in der deutschen Literatur kontrovers diskutiert, s etwa Cremer EuGRZ 2004, 134 ff; Kämmerer DVBl 2004, 995 ff; Hornickel NVwZ 2004, 567 ff; Nußberger DÖV 2006, 454 ff. 67 Zum Begriff und den Voraussetzungen für die Nutzungsregelung s auch Hartwig (Fn 36) S 569 f; v Danwitz (Fn 2) S 243 ff; Mittelberger (Fn 64) S 66, 69 f, der auch zahlreiche Beispiele für typische Anwendungsfälle der Nutzungsänderung erwähnt, S 66 ff.
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Recht gekündigten Wohnung als Art 1 II 1. ZP EMRK verletzende Nutzungsregel beurteilt.68 Allerdings hat der EGMR auch solche Maßnahmen als Nutzungsregelung nach Art 1 II 1. ZP EMRK begriffen, die eine vollständige Entziehung des Eigentums zur Folge hatten. Dafür soll es ausreichen, wenn die entziehenden Maßnahmen sich als Sanktion der Verletzung einer Nutzungsregelung darstellen.69 Art 1 II 1. ZP EMRK enthält neben den Nutzungsregelungen als weitere Untergruppe Ermächtigungen zur Auferlegung von Abgaben, insbesondere Steuern, und von Geldstrafen.70 Nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht zur Entschädigung für nutzungsregelnde Eingriffe in das Eigentum gemäß Art 1 II 1. ZP EMRK verpflichtet. Hierin konkretisiert sich die auch aus dem deutschen Recht vertraute Sozialbindung des Eigentums.71 Wie nach Art 14 I 2 GG können aber auch unter der Geltung der EMRK zulässige Inhaltsbestimmungen ausnahmsweise entschädigungspflichtig sein, sofern unbillige Härten anders nicht vermieden werden können. Dies legt schon die Herleitung der Entschädigungspflicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nahe.72 Lösung Fall 3: Der Verfall der Krügerrand-Goldmünzen stellt einen Eingriff in das von Art 1 I 1. ZP EMRK geschützte Eigentum dar. Obwohl der Verfall der Münzen diese der Eigentümerin dauerhaft entzieht, sieht der EGMR darin keine Enteignung, sondern nur die rechtliche Folge des Verbots der Einfuhr. Weil letzteres lediglich eine Nutzungsregelung darstelle, sei auch der Verfall als „Nutzungsregel“ gemäß Art 1 II 1. ZP EMRK zu beurteilen.73
c) „Sonstige“ Beeinträchtigungen 32
Die Anerkennung einer eigenständigen Kategorie sonstiger Eingriffe nach Art 1 I 1 des 1. ZP EMRK durch den EGMR74 wird in der Literatur vielfach abgelehnt. Der Eingangssatz des Art 1 1. ZP EMRK beschreibe allein den Schutzbereich der Eigentumsgarantie und mache die nachfolgend eröffneten Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigungspflichtig. Er habe insoweit eingriffsbeschränkende, nicht aber eingriffsermöglichende Funktion.75 In
68 EGMR, ECHR 1999-V, 73 ff – Immobilare Saffi, vgl dazu näher Peters EMRK, 197. 69 Vgl dazu das – im Übrigen viel kritisierte – Urteil in der Sache EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. Hinsichtlich der Einordnung solcher „Konfiskationen“ in die Kategorie der Nutzungsregelung zustimmend Gelinsky (Fn 20) S 47 f, 54. 70 Dazu v Danwitz (Fn 2) S 246; Mittelberger (Fn 64) S 71; Müller-Michaels (Fn 18) S 73. 71 Zu dieser Parallele Frowein (Fn 8) S 49, 50. 72 Vgl dazu u Rn 45 ff. 73 EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. Nach Auskunft von Frowein (Fn 8) S 49, 65 bekam die Firma im Anschluss an das Urteil die Hälfte des Wertes der Münzen erstattet. 74 Vgl dazu EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong und Lönnroth; vgl aber auch die schon zu diesem Urteil insoweit geäußerte abweichende Ansicht von acht Richtern. Vgl aus jüngerer Zeit: EGMR, NJW 2003, 654 ff – Beyerle. Zur Unterscheidung auch Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 366. 75 Gelinsky (Fn 20) S 86 ff; aA Peters EMRK, 198, die dem Grundgedanken der Schaffung eines Auffangtatbestandes grundsätzlich positiv gegenübersteht.
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seiner jüngeren Rechtsprechung scheint sich der EGMR dieser Auffassung zumindest insoweit anzunähern, als er eine explizite Unterscheidung zwischen einzelnen Eingriffsarten jedenfalls in komplexen Sachverhalten als entbehrlich ansieht und den Eingriff an der die Eigentumsfreiheit begründenden Grundnorm des Art 1 I 1 1. ZP EMRK misst.76 In jüngeren Entscheidungen ist außerdem nunmehr von drei in Art 1 1. ZP EMRK enthaltenen „Regeln“ die Rede, von denen sich die zweite (enteignende Eingriffe gem Art 1 I 2 1. ZP EMRK) und die dritte (nutzungsregelnde Eingriffe gem Art 1 II 1. ZP EMRK) mit spezifischen Begrenzungen des Rechts auf Achtung des Eigentums beschäftigten, die im Lichte des allgemeinen Grundsatzes der ersten Regel (Art 1 I 1 1. ZP EMRK) auszulegen seien.77 Auch soll eine Prüfung „sonstiger Eingriffe“ allein anhand der ersten Regel nur dann in Frage kommen, wenn für eine Anwendung der Eingriffsnormen der zweiten und dritten Regel kein Raum ist.78 Soweit der EGMR sonstige Eigentumsbeeinträchtigungen für zulässig erachtet, gelten diese nur dann als mit Art 1 I 1 1. ZP EMRK vereinbar, sofern eine Entschädigungsregelung existiert oder aber das nationale Recht anderweitige Vorkehrungen zum Ausgleich der erlittenen Nachteile vorsieht. An die Rechtfertigung sonstiger Eingriffe werden damit höhere Anforderungen gestellt als an die nutzungsregelnder Maßnahmen.79 Lösung Fall 2: Die Enteignungsgenehmigung stellt keine Enteignung iSv Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar. Eine solche hat zu keinem Zeitpunkt stattgefunden und ist nach Aufhebung der Genehmigung auch nicht mehr zu erwarten. Die Beschränkung der Eigentumsrechte der S erreichte auch während der Gültigkeit der Enteignungsgenehmigung nicht ein solches Ausmaß, dass sie in ihren Wirkungen einer Enteignung gleichzusetzen gewesen wäre. Der EGMR sieht sich allerdings auch gehindert, die Enteignungsgenehmigung nach ihren Wirkungen als eine Regelung der „Nutzung des Eigentums“ iSv Art 1 II 1. ZP EMRK einzuordnen. Die Genehmigung habe zu keinem Zeitpunkt darauf abgezielt, die Nutzung zu beschränken oder zu kontrollieren. Als (später nicht verwirklichte) Anfangsstufe einer Enteignung könne sie als „sonstige Beschränkung“ allein an Art 1 I 1 1. ZP EMRK gemessen werden.80 In der Sache erweist sich die Enteignungsgenehmigung wegen ihrer unangemessen langen Dauer und wegen des Ausschlusses eines Ersatzes der aus ihr resultierenden Vermögensschäden als Verletzung des Eigentumsrechts der EMRK.81
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3. Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen Nach dem Text des Art 1 1. ZP EMRK und der Rechtsprechung der Konventionsorgane bemisst sich die Rechtfertigung von Eingriffen in das Eigentumsrecht an drei kumulativen 76 EGMR, RJD 2000-I, Ziff 106 – Beyeler; Späte Ausübung eines Vorkaufsrechts für ein Gemälde von Vincent van Gogh; s auch EGMR, EuGRZ 2004, 472 ff – Broniowski. 77 Vgl dazu etwa EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. 78 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 79 Gelinsky (Fn 20) S 203. 80 Zur Kritik an dieser dogmatischen Einordnung bereits soeben Rn 32 f. 81 EGMR, EuGRZ 1983, 523 ff – Sporrong und Lönnroth. Dazu, dass die unangemessen lange Dauer eines Flurbereinigungsverfahrens sich als eine neben einer Verletzung von Art 6 I EMRK selbständige Verletzung auch des Art 1 I 1. ZP EMRK erweisen kann: EGMR, NJW 1989, 650 ff – Poiss; zu einer Verneinung einer überlangen Verfahrensdauer hinsichtlich eines eigentumsrechtlichen Entschädigungsverfahrens: EGMR, EuGRZ 1999, 319 – Papachelas.
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Voraussetzungen. Die entsprechenden staatlichen Maßnahmen müssen gesetzmäßig erfolgen, dem öffentlichen Interesse dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.82
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Fall 5: (nach EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside) Der britische Verleger H will die englische Fassung eines dänischen Buches mit dem Titel „The little Red Schoolbook“ auf den Markt bringen. Das Buch behandelt als Nachschlagewerk für Schüler allgemeine Fragen von Erziehung und Unterricht und thematisiert in einem Umfang von etwa 10 % seines Inhalts Fragen der Sexualkunde. Das Buch wird von der britischen Polizei beschlagnahmt. In den nachfolgenden Verfahren vor britischen Gerichten wird H wegen Verstoßes gegen den Obscene Publications Act zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem wird die Einziehung und Vernichtung der beschlagnahmten Bücher angeordnet.
a) Gesetzmäßigkeit der Beeinträchtigung 37
Nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK ist eine Enteignung nur unter den durch Gesetz und durch die Allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts83 vorgesehenen Bedingungen zulässig. Auch Art 1 II 1. ZP EMRK erlaubt nur eine gesetzmäßige Regelung der Nutzung des Eigentums. Der Entzug oder die Ausgestaltung des Inhalts des Eigentums verlangt dabei nach einer hinreichend bestimmten rechtlichen Grundlage, die insb eine hinreichende Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit der staatlichen Eingriffe ermöglichen muss.84 Nach der jüngeren Rechtsprechungspraxis des EGMR ist die Gesetzmäßigkeit des Eigentumseingriffes die erste und bedeutendste Voraussetzung zu seiner Rechtfertigung.85 So hat der EGMR entschieden, dass eine fortdauernde Entziehung von Eigentum konventionswidrig sei, wenn diese im Widerspruch zu Normen des nationalen Rechts erfolgt sei oder aufrecht-
82 Ob diese Voraussetzungen allerdings einheitlich auf alle drei Eigentumseingriffe angewendet werden können, wird unterschiedlich beurteilt. Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 12 ff sowie MüllerMichaels (Fn 18) S 78 ff differenzieren bei der Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen nochmals zwischen den einzelnen Eigentumseingriffen. Dem Erfordernis der Einhaltung der „durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“ bei Enteignungen, s Art 1 I 1. ZP EMRK, kommt jedoch keine besondere Bedeutung zu, so dass sich die Voraussetzungen der Rechtfertigung von Nutzungsregelungen und Enteignungen insofern gleichen. Ob allerdings an die Voraussetzungen teilweise unterschiedliche Anforderungen zu stellen sind, ist ebenfalls str. S dazu und insb zu dem Streit, ob das „Öffentliche Interesse“ (Abs 1) mit dem „Allgemeininteresse“ (Abs 2) gleichzusetzen ist, Mittelberger (Fn 64) S 115 ff. Ähnlich wie hier: v Danwitz (Fn 2) S 250 ff. 83 Diesem Merkmal kommt in der Entscheidungspraxis des EGMR allerdings schon deshalb eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu, weil das Völkerrecht Regeln für die Enteignung nur hinsichtlich des Eigentums von Ausländern kennt. Eine einfache Übertragung der im Völkerrecht anerkannten und mit der Formulierung des Art 1 I 2 1. ZP EMRK in Bezug genommenen (vgl dazu Weiß Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954, 20) Beschränkungen und Kompensationserfordernisse auf die Enteignung der eigenen Staatsangehörigen lehnt der EGMR aus teleologischen Gründen ab, vgl EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 84 Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 367. 85 EGMR, EuGRZ 1999, 317 ff – Iatridis; EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König.
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erhalten werde.86 Allerdings reklamiert der Gerichtshof angesichts der Besonderheiten des jeweiligen nationalen Rechts insoweit nur eine begrenzte eigene Prüfungskompetenz.87 In erster Linie sei es Aufgabe der innerstaatlichen Behörden und Gerichte, das nationale Recht auszulegen und anzuwenden und ggf über seine Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden.88 Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung der Gesetzmäßigkeit deshalb auf die Frage, ob die Auslegung der anwendbaren Normen „willkürlich“ sei.89 Unklarheiten des anwendbaren nationalen Rechts müssen dabei dennoch nicht zwangsläufig zu Lasten des jeweiligen Beschwerdeführers gehen. Im Gegenteil verlangt gerade das Kriterium der Gesetzmäßigkeit des Eingriffs nach einer für den Betroffenen hinreichend zugänglichen, präzisen und vorhersehbaren Ausgestaltung des nationalen Rechts.90 b) Schutz des öffentlichen Interesses Art 1 I 2 1. ZP EMRK erlaubt Enteignungen im „öffentlichen Interesse“. Art 1 II des 1. ZP EMRK spricht von der Möglichkeit der Rechtfertigung von nutzungsregelnden Eigentumsbeschränkungen durch das „Allgemeininteresse“. Beide Begriffe werden in Rechtsprechung und Literatur als deckungsgleich verstanden.91 Auch für „sonstige Eingriffe“ verlangt der EGMR eine Legitimation durch ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel der jeweiligen Maßnahme.92 Dabei formuliert der EGMR zurückhaltend, die innerstaatlichen Stellen verfügten aufgrund ihrer „unmittelbaren Kenntnis“ der lokalen Situation oder der „jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse“ über einen weiten Einschätzungsspielraum bei der Bestimmung des Allgemeininteresses an einer Beschränkung des Eigentums.93 Die gerichtliche Prüfung durch den EGMR beschränkt sich allein darauf, zu prüfen, ob die entsprechenden Motive des Gesetzgebers sich als „offensichtlich unbegründet“ darstellen.94 So hat der EGMR im Bereich des Steuerrechts die Umsetzung einer EGRichtlinie an sich, ohne Berücksichtigung des Inhalts, als legitimes Ziel angesehen.95 Bezüglich der Beschlagnahme eines Flugzeugs, die auf einer EG-Verordnung beruhte, hat der EGMR entschieden, dass die Beachtung des Gemeinschaftsrechts einem öffentlichen Interesse von erheblichem Gewicht dient.96 Damit ist nach dem EGMR allerdings in Einklang zu bringen, dass jeder Vertragsstaat nach Art 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich bleibt, auch wenn er Hoheitsbefugnisse auf
86 EGMR, EuGRZ 1999, 317 ff – Iatridis, Aufrechterhaltung der Wirkungen einer Zwangsräumung trotz gegenteiliger Entscheidungen der nationalen Gerichtsbarkeit. 87 EGMR, EuGRZ 1992, 5 ff – Håkansson und Sturesson. 88 EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. 89 EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff, NJW 2005, 2907 ff – Jahn. 90 EGMR, EuGRZ 1996, 593 ff – Hentrich; EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; RJD 2000-I, Ziff 109 – Beyeler. 91 Dazu EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James; Peukert in: Frowein/Peukert, Art 1 1. ZP EMRK Rn 51; Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 367. 92 EGMR, RJD 2000-I, Ziff 111 – Beyeler. 93 Vgl etwa EGMR, RUDH 1991, 551 ff – Wiesinger, unter Hinweis auf EGMR, HRLJ 1991, 93 ff – Fredin (Nr 1); sowie EGMR, RUDH 1994, 21 ff – Raimondo. 94 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 95 Grabenwarter EMRK, § 25 Rn. 16; EGMR, EuGRZ 2007, 671 ff – S. A. Dangeville gegen Frankreich. 96 EGMR, NJW 2006, 197 Rn 150 – Bosphorus/Irland.
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eine internationale Organisation übertragen hat.97 Wenn die internationale Organisation gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, gilt aber die Vermutung, dass sich ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht entzogen hat, wenn er rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation ergeben. Der EGMR erachtet den im Gemeinschaftsrecht vorgesehen Grundrechtsschutz als gleichwertig und deshalb die Beschlagnahme als konventionsgemäß.98 Ferner kann auch die Begünstigung privater Dritter im „öffentlichen Interesse“ liegen. Unzulässig ist eine solche Begünstigung allerdings dann, wenn sie den alleinigen Zweck der hoheitlichen Maßnahme darstellt und eine Förderung sonstiger öffentlicher Interessen nicht erkennbar ist.99 Verlangt wird im Übrigen keine Übertragung des Eigentums in den Gemeingebrauch. Vielmehr können sozial- oder wirtschaftspolitische Erwägungen den Gesetzgeber auch zu einer Umverteilung von Eigentum zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen berechtigen.100 Soweit erkennbar ist in Anwendung dieser Maßstäbe erst in einer Entscheidung des EGMR ein öffentliches Interesse hinsichtlich einer Eigentumsbeeinträchtigung verneint worden.101 Lösung Fall 5: Die Beschlagnahme der Bücher wie die Anordnung ihrer Einziehung und Vernichtung greifen in das in Art 1 1. ZP EMRK geschützte Eigentumsrecht des H ein. Weil die Beschlagnahme, Einziehung und Vernichtung sich als konfiskatorische Konsequenz eines Publikationsverbots für obszöne Schriften darstellen, werden sie vom EGMR einheitlich als Ergebnis der Anwendung einer nationalen Vorschrift begriffen, die nicht der Entziehung, sondern lediglich der Regelung der Benutzung des Eigentums iSv Art 1 II 1. ZP EMRK dient.102 Nach Auffassung des EGMR setzt dieser zweite Absatz aber „die Vertragsstaaten als alleinige Richter über die ‚Notwendigkeit‘ eines Eingriffs ein“ und eröffnet ihnen einen besonders weiten Beurteilungsspielraum. An einer von der der nationalen Instanzen abweichenden Beurteilung der moralischen Verwerflichkeit des Schulbuches sieht sich der Gerichtshof deshalb gehindert.103
c) Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung 41
Wesentlichste 104 Frage und damit zentrales richterliches Instrument bei der Beurteilung von staatlichen Eigentumsbeeinträchtigungen ist auch für den Grundrechtsschutz nach der
97 EGMR, NJW 2006, 197 Rn 153 f – Bosphorus/Irland. 98 EGMR, NJW 2006, 197 Rn 165 – Bosphorus/Irland. 99 Vgl dazu VerfGH Wien, EuGRZ 1990, 425 ff, wonach die Verweigerung einer Ausfuhrbewilligung für Kupferdrahtabfälle nicht allein damit begründet werden kann, durch sie ginge einem inländischen Produzenten eine vergleichsweise günstige inländische Bezugsquelle für Kupfer verloren, das er deshalb auf dem Weltmarkt zu deutlichen höheren Preisen beschaffen müsse. 100 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. 101 EGMR, RUDH 1994, 21 ff – Raimondo, kein öffentliches Interesse an der Verzögerung einer gerichtlich angeordneten Restitution zuvor zu Unrecht konfiszierten Eigentums. 102 Vgl dazu schon Rn 28, insb Fn 59. 103 EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside. 104 Vgl v Danwitz (Fn 2) S 252, zur insoweit wachsenden Bedeutung des Gesetzmäßigkeitsprinzips. Auch v Danwitz betont aber die ganz wesentliche Bedeutung, die dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit als Abwägungskriterium zukommt, S 253.
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EMRK die allgemeine Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.105 Der EGMR begreift das Verhältnismäßigkeitserfordernis in ständiger Rechtsprechung als ungeschriebene Rechtfertigungsvoraussetzung des Art 1 1. ZP EMRK.106 aa) Legitimer Zweck Nach der Rechtsprechung des EGMR muss jede eigentumsbeeinträchtigende Maßnahme einen berechtigten Zweck verfolgen.107 Die Prüfung dieses Punktes deckt sich inhaltlich mit der Frage nach dem die Maßnahme rechtfertigenden „öffentlichen Interesse“ iSv Art 1 I 2 1. ZP EMRK.108
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bb) Erforderlichkeit Dem Kriterium der Erforderlichkeit einer eigentumsbeschränkenden staatlichen Maßnahme ist in der Spruchpraxis der Konventionsorgane wegen des den Mitgliedstaaten insoweit zugebilligten weiten Prognosespielraums109 bislang noch keine besondere Bedeutung zugewachsen.110 Die Kommission hat kurz vor Ende ihrer Tätigkeit sogar noch festgestellt, Art 1 1. ZP EMRK enthalte überhaupt kein Erforderlichkeitskriterium.111 Auch dem EGMR ist der Vorwurf gemacht worden, er berücksichtige in seiner Rechtsprechung nicht hinreichend, ob die konkret gerügten Eigentumsbeeinträchtigungen nicht durch eingriffsmildernde Maßnahmen hätten vermieden werden können.112 In der Tat hat der EGMR ausdrücklich festgestellt, in Art 1 1. ZP EMRK könne kein „Erfordernis einer strikten Notwendigkeit“ hineingelesen werden. Die bloße Möglichkeit alternativer Verfahrensweisen mache für sich genommen eine nationale Maßnahme noch nicht ungerechtfertigt. Sie biete lediglich „einen Gesichtspunkt unter anderen“, der berücksichtigt werden müsse, um festzustellen, ob die gewählten Mittel als vernünftig und angemessen zur Erzielung des legitimen Zwecks erachtet werden könnten. Innerhalb dieser Grenzen sei es dem Gerichtshof „verwehrt festzustellen, ob“ eine Maßnahme „die beste Lösung des Problems“ darstelle oder ob das den nationalen Stellen einzuräumende Ermessen anders hätte ausgeübt werden müssen.113
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cc) Gerechter Ausgleich der Interessen Zum zentralen Argumentationstopos avanciert dabei in der Rechtsprechung der Konventionsorgane die Frage, ob zwischen den Forderungen des Allgemeininteresses und den
105 Dazu Cremona FS Bernhardt, 1995, S 323; Eissen in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg) La Convention Européenne des droits de l’homme, 1999, 65 ff; Fiedler EuGRZ 1996, 354, 355; → § 2 Rn 65. 106 Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 368 f. 107 EGMR, RJD 2000-I, Ziff 111 – Beyeler. 108 Vgl dazu schon o Rn 38. 109 Vgl dazu insbesondere EGMR, EuGRZ 1977, 38 ff – Handyside. 110 Mittelberger EuGRZ 2001, 364, 368 spricht gar davon, das Kriterium der Erforderlichkeit sei „nicht von Bedeutung“; ebenso Malzahn Bedeutung und Reichweite des Eigentumsschutzes in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007, 192, 255. 111 Vgl EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. 112 Gelinsky (Fn 20) S 203 unter Hinweis auf die Entscheidung in der Sache EGMR, EuGRZ 1988, 513 ff – AGOSI. 113 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James.
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Erfordernissen eines effektiven Individualrechtsschutzes ein „gerechter Ausgleich“ oder auch ein „Gleichgewicht“ besteht.114 Die Rechtsprechung erstreckt die eigene Prüfung nationaler Maßnahmen, die der Sache nach einer Prüfung ihrer Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nach deutschem Rechtsverständnis weithin entspricht, mit Hilfe dieses Abwägungstopos auch auf die tatsächlichen Einzelheiten des konkret zu beurteilenden Einzelfalles.115 dd) Kompensationserfordernis
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Fall 6: (nach EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James) Durch Gesetz werden sog „Langzeitpächter“ berechtigt, die von ihnen bewohnten und instand gehaltenen Häuser zu gesetzlich festgelegten Konditionen zu erwerben und so den vertraglich vereinbarten „Heimfall“ an den Verpächter zu verhindern. Die den ehemaligen Verpächtern zu zahlenden Kaufpreise liegen dabei deutlich unter den am Markt zu erzielenden Preisen.
Art 1 1. ZP EMRK enthält – anders als Art 14 GG – keine ausdrückliche Bestimmung zur Notwendigkeit einer Entschädigung. Die „durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“, auf die die Norm verweist, beinhalten eine Entschädigungspflicht nur für solche staatlichen Maßnahmen, die sich gegen das Eigentum von Ausländern richten.116 Dennoch hält der EGMR seit der Entscheidung in der Sache James die Enteignung oder die sonstige (faktische) vollständige Wegnahme des Eigentums auch von Inländern ohne Entschädigung unter Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit117 für nur in Ausnahmefällen rechtfertigungsfähig.118 Sei der Eigentumseingriff gesetzmäßig erfolgt und nicht willkürlich gewesen, mache das Fehlen einer Entschädigung nicht eo ipso und stets den Eigentumsentzug unzulässig.119 Es bleibe zu ermitteln, ob die Beschwerdeführer im Rahmen einer gesetzmäßigen Eigentumsentziehung eine unverhältnismäßige und übermäßige Last zu tragen hatten. Umgekehrt kann eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung die Härten eines Eigentumsentzugs oder einer Eigentumsbeschränkung so weit abmildern, dass sich die Maß-
114 Engl/franz: „proper balance“/„juste équilibre“, vgl etwa EGMR, RUDH 1991, 551 ff – Wiesinger; ähnlich für die Beurteilung des Verhältnisses von Enteignung und Kompensation EGMR, HRLJ 1995, 30 ff – Heilige Klöster: „fair balance“. Zu den aus der Verwendung dieses Begriffs drohenden „Gefahren beliebig steuerbarer Ergebnisse“ Fiedler EuGRZ 1996, 354, 355. 115 Vgl dafür EGMR, EuGRZ 1996, 593 ff – Hentrich. In einer Gesamtbetrachtung aber dennoch kritisch gegenüber der in der Rechtsprechung (nicht) erreichten Kontrollintensität: Gelinsky (Fn 20) S 202 f. 116 Zu den dogmatischen Schwächen dieser Argumentation v Danwitz (Fn 2) S 221, 255 mwN. 117 v Danwitz (Fn 2) S 256. 118 EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James: „the protection of the right of property … would be largely illusionary and ineffective in the absence of any equivalent principle“; vgl auch EGMR, HRLJ 1995, 30 ff – Heilige Klöster; EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. Näher zur Bedeutung des Kompensationserfordernisses auch für die Fälle der de-facto-Enteignung: Frowein (Fn 8) S 49, 58 ff; Fiedler EuGRZ 1996, 354, 355 f. 119 EGMR, EuGRZ 2004, 57, Rn 83; NJW 2005, 2907, Rn 95 – Jahn.
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nahmen insgesamt als verhältnismäßig erweisen.120 Voraussetzung ist allerdings, dass die vorgesehene Kompensation den betroffenen Eigentümern auch tatsächlich zukommt und für sie der Sache nach nicht völlig ohne Wert ist. So hat der EGMR die Berechtigung zur Jagd auf fremden Grundstücken als untaugliche Kompensation der gesetzlich auferlegten Pflicht zur Duldung der Jagd durch Dritte auf dem eigenen Grundstück angesehen. Wer – wie die Beschwerdeführer – die Jagd aus ethischen Gründen ablehne, für den sei die Einräumung eines solchen kompensatorischen Rechts ohne Wert.121 Die Entschädigungspflicht 122 gilt gegenüber Inländern wie gegenüber Ausländern.123 Auch für die Ermittlung der Höhe der damit notwendigen Kompensation ziehen EGMR und Kommission das Kriterium des gerechten Ausgleichs heran. Dabei muss nicht in jedem Fall der volle Verkehrswert des entzogenen Eigentums gezahlt werden.124 So kann unter Umständen auf einen Ausgleich für inflationsbedingte Vermögenseinbußen verzichtet werden, die sich bis zum Zeitpunkt der Auszahlung der Entschädigung ergeben.125 Insgesamt begründet sich nach der Rechtsprechung des EGMR allein eine Pflicht zur „angemessenen“ Entschädigung.126 Ablehnend steht der Gerichtshof allerdings solchen rechtlichen Regelungen gegenüber, die die zu leistende Entschädigung unter Hinweis auf unwiderlegliche gesetzliche Fiktionen pauschal mindern. Verworfen wurde deshalb eine griechische Entschädigungsregelung, nach der der Bau einer Nationalstraße für die betroffenen Anwohner stets als eine Wertsteigerung anzusehen sei, die bei der Berechnung der Entschädigung für die teilenteigneten Grundstücke pauschal in Anrechung zu stellen sei. Auch Argumente der Verwaltungspraktikabilität sollen ein solches System wegen seiner „exzessiven Starrheit“ nicht rechtfertigen können.127 Im Übrigen verlangt der EGMR lediglich, dass die Höhe der Entschädigung in einem „vernünftigen Zusammenhang“ zum Wert des enteigneten Objekts steht.128 Dabei billigt der EGMR den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Festsetzung der Entschädigung zu. So soll insbesondere auch der „soziale“ oder auch „sozialisierende“ Charakter129 der staatlichen Maßnahme Berücksichtigung finden können, sofern er den Grundsätzen einer „demokratischen Gesellschaft“ noch entspricht.130 Enteignende Maß120 121 122 123
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EGMR, EuGRZ 2001, 397 ff – Ehemaliger König. EGMR, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou. Zu ihr eingehend Riedel EuGRZ 1988, 333 ff. Allerdings lehnt der EGMR eine Übertragung der für die Enteignung von Ausländern geltenden strengen kompensationsrechtlichen Regeln, wie sie sich aus den in Art 1 I 1 1. ZP EMRK in Bezug genommenen „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ ergeben, auf die Enteignung von Inländern ab. Eine „Inländerdiskriminierung“ im Bereich der Enteignungsentschädigung ist deshalb zulässig; vgl dazu EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James. EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; näher dazu Gelinsky (Fn 20) S 144 ff. Wie hier: Peters EMRK, 195 f. EGMR, EuGRZ 1999, 319 ff mwN – Papachelas. EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow: „an amount reasonably related to its value“/„raisonnablement en rapport avec la valeur du bien“; für eine weitere Ausdifferenzierung der angewandten Kriterien vgl Condorelli (Fn 105) S 990 ff. Vgl dafür schon EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James: „greater social justice“/„justice social“. Für diese Formeln vgl EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow; unter Berufung darauf ablehnend zu einer „klassenspezifisch orientierten Kollektivierung“ und zur Perpetuierung der Wirkungen der kommunistischen Bodenreform zwischen 1945 und 1949 in Ostdeutschland: Fiedler EuGRZ 1996, 354, 356.
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nahmen zum Zwecke der Durchsetzung von Wirtschafts- und Agrarreformen können demnach auch bei geringer oder fehlender Kompensation eher auf Akzeptanz stoßen als sonstige, eher im Einzelfall veranlasste Enteignungen. Eine jüngere Entscheidung131 nimmt Bezug auf die Entscheidungen James und Broniowski, wonach bei berechtigten Zielen „öffentlichen Interesses“, wie Maßnahmen bei einer Wirtschaftsreform oder zur Herbeiführung größerer sozialer Gerechtigkeit, eine Entschädigung unter dem vollen Marktwert ausreichend sein kann.132 Jedoch verletzt eine Enteignung, die nicht im Rahmen einer wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Reform stattfindet oder durch sonstige besondere Umstände veranlasst ist, Art 1 1. ZP, wenn die Entschädigung unter dem Marktwerkt liegt.133
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Lösung Fall 6: Der durch Gesetz begründete Zwang zum Verkauf der ursprünglich bloß verpachteten Häuser stellt sich als Eigentumsentziehung nach Art 1 I 2 1. ZP EMRK dar. Diese Enteignung liegt, auch wenn sie private Dritte begünstigt, im von der Vorschrift vorausgesetzten „öffentlichen Interesse“. Die Enteignungen werden auch nicht dadurch konventionswidrig, dass sie keine vollständige Entschädigung der betroffenen Alteigentümer vorsehen. Zwar hält der EGMR eine Entschädigung für grundsätzlich geboten. In ihrer Höhe müsse sie jedoch nicht dem Marktpreis entsprechen. Insbesondere sind die Härten, die sich aus der Anwendung einer allgemeinen Enteignungsmaßnahme im Einzelfall ergeben können, im Interesse der Gleichförmigkeit, Rechtssicherheit und Schnelligkeit der Enteignung insgesamt grundsätzlich hinzunehmen.134
Die Herleitung der Entschädigungspflicht aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit macht die Anerkennung einer Fallgruppe der entschädigungspflichtigen Nutzungsbestimmung wahrscheinlich. Noch hat der EGMR dazu aber – soweit erkennbar – noch nicht entschieden.135 Wenn der EGMR auch durchaus gewillt ist, nationale Besonderheiten wie etwa die deutsche Wiedervereinigung mit ihren Schwierigkeiten zu berücksichtigen,136 so stellt er doch hohe Anforderungen an einen Eingriff in das Eigentumsrecht, die allerdings in dem Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005 etwas gesenkt wurden.137 In der vorherigen Entscheidung 138 hatte die dritte Sektion des EGMR nicht nach der Art und Weise differenziert, auf die das Eigentum erworben wurde, sondern nur danach gefragt, ob überhaupt Eigentum zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, in dem die EMRK
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EGMR, NZW 2007, 1259 ff – Scordino/Italien Nr 1. EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff– James; EGMR, EuGRZ 2004, 772 ff – Broniowski. EGMR, NZW 2007, 1259 ff – Scordino/Italien Nr 1. EGMR, EuGRZ 1988, 341 ff – James; Vgl auch EGMR, EuGRZ 1988, 350 ff – Lithgow, für die Beschränkung des Maßes der Entschädigung in Fällen der Verstaatlichung bestimmter Industriezweige. Ähnlich wie hier: Weber Anrechnung von (mittelbaren) Enteignungsvorteilen? in: Bröhmer (Hrsg) Der Grundrechtsschutz in Europa, 2002, 115. Einstweilen hält Weber aber wie Peters EMRK, 194 an der gerade durch die Entschädigungspflicht konstituierten Unterscheidung von Enteignung und Nutzungsbeschränkung fest. EGMR, EuGRZ 2004, 57, Rn 89 – Jahn. EGMR, NJW 2005, 2907 ff – Jahn. EGMR, EuGRZ 2004, 57 – Jahn.
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Geltung erlangt hat. Dies führte zu Differenzen zwischen der Rechtsprechung des BVerfG zu Art 14 GG und der des EGMR zu Art 1 1. ZP EMRK.139 In dem Urteil vom 30. Juni 2005 140 hingegen stellt die Große Kammer darauf ab, dass die Beschwerdeführer unter den von tiefgreifenden Veränderungen und Ungewissheiten gekennzeichneten Umständen, unter denen das Modrow-Gesetz verabschiedet wurde, nicht sicher sein konnten, ihre formale Rechtsposition zu behalten. Lösung Fall 4: Bei der Verpflichtung zur unentgeltlichen Auflassung des Grundstücks durch A an das Land L handelt es sich um eine Entziehung des Eigentums gemäß Art 1 I 2 1. ZP EMRK. A ist nach dem Wegfall der Beschränkungen hinsichtlich der Bodenreformgrundstücke durch das Modrow-Gesetz rechtmäßig vollwertiger Eigentümer geworden. Dieses Eigentumsrecht ist durch die deutsche Wiedervereinigung Bestandteil des Rechts der Bundesrepublik Deutschland geworden, wodurch es in den Geltungsbereich der EMRK gelangte. Die Rechtmäßigkeit des auf diese Weise erworbenen vollwertigen Eigentums kann nicht dadurch in Zweifel gezogen werden, dass die Bundesregierung anschließend dieses Eigentum als unrechtmäßig erworben beurteilt. Allein entscheidend ist, dass A nach der deutschen Wiedervereinigung in das Grundbuch eingetragen worden war und zunächst frei über sein Eigentum verfügen konnte. Der so festgestellte Eigentumsentzug ist gesetzmäßig. Auch sind mit der gesetzlichen Regelung die Kriterien der Zugänglichkeit, Genauigkeit und Vorhersehbarkeit gewahrt; die Auslegung der einschlägigen Normen durch die deutschen Gerichte und die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit durch das BVerfG ist nicht willkürlich. Außerdem hegt der EGMR
139 Anders als der EGMR, der eine Entziehung des Eigentums nach Art 1 I 2 1. ZP bejaht, hatte das BVerfG eine Enteignung im Sinne des Art 14 III GG im vorliegenden Fall verneint (BVerfG, Beschluss v 6.10.2000, WM 2001, 775 ff). Das BVerfG sieht in Art 233 §§ 11 III, 12 II, III EGBGB eine Regelung über die Bestimmung von Inhalt und Schranken des (Grundstücks-) Eigentums im Sinne von Art 14 I 2 GG. Enteignung sei der staatliche Zugriff auf das Eigentum des Einzelnen. Ihrem Zweck nach sei sie auf die vollständige oder partielle Entziehung konkreter subjektiver, durch Art 14 I 1 GG geschützter Positionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet. Demgegenüber gehe es bei Art 233 §§ 11 bis 16 EGBGB um die nachträgliche Korrektur der durch das Modrow-Gesetz erfolgten ersatzlosen Aufhebung der Besitzwechselvorschriften und um die Schaffung klarer Eigentumsverhältnisse an den aus der Bodenreform stammenden Grundstücken. Der Gesetzgeber dürfe im Rahmen seiner Regelungsbefugnis nach Art 14 I 2 GG bei der generellen Neugestaltung eines Rechtsgebietes unter bestimmten Voraussetzungen auch bestehende, durch die Eigentumsgarantie geschützte Rechtspositionen beseitigen. Die Verhältnismäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung sieht das BVerfG hauptsächlich deswegen gewahrt an, da A nicht in schützenswerter Weise darauf vertrauen konnte, das Eigentum an dem nur wegen der unterbliebenen Umsetzung der Besitzwechselverordnungen der DDR erlangten Grundstück behalten zu dürfen. Vertrauen in den Fortbestand von Rechtsvorschriften der DDR habe sich in der Zeit nach der Wende mit Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht allgemein bilden können, sondern nur dort, wo besonderer Anlass für die Erwartung bestand, dass das Recht der DDR ausnahmsweise in Kraft bleiben werde. Das Vertrauen in die grundsätzliche Anerkennung von vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet erworbenen Grundrechtspositionen könne nicht denselben weitgehenden Schutz beanspruchen wie das Vertrauen in den Fortbestand von Rechten, die unter der Geltung des Grundgesetzes erlangt worden seien. 140 EGMR, NJW 2005, 2907 ff – Jahn.
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keinen Zweifel daran, dass der Wille des Gesetzgebers, die Eigentumsfragen im Zusammenhang mit der Bodenreform zu klären und die Auswirkungen des Modrow-Gesetzes zu korrigieren, dem öffentlichen Interesse dient. Insoweit stimmen das Urteil der dritten Sektion des EGMR vom 22. Januar 2004 141 und das Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 30. Juni 2005 142 überein. Die Große Kammer sieht jedoch abweichend von der dritten Sektion die Verhältnismäßigkeit als gewahrt an. Die dritte Sektion hatte entschieden, der Eingriff sei nicht verhältnismäßig, da A kein Anspruch auf Entschädigung zustehe. Zwar erklärte sie, sie sei sich der „unendlich großen Aufgabe“, die der deutsche Gesetzgeber hinsichtlich des Eigentums beim Übergang von einem sozialistischen Eigentumssystem zu einem Marktwirtschaftssystem zu bewältigen hatte, bewusst. Dennoch hielt die Sektion es nicht für gerechtfertigt, das Eigentum des A als „illegitim“ zu betrachten. Nach ihrer Ansicht hatte A mit Inkrafttreten des Modrow-Gesetzes rechtmäßig vollwertiges Eigentum an dem Grundstück erlangt. Der deutsche Gesetzgeber durfte das Modrow-Gesetz zwar noch zwei Jahre später korrigieren. Er durfte aber eine solche Eigentumsentziehung zu Gunsten des Staates nicht vornehmen, ohne eine angemessene Entschädigung für die Betroffenen vorzusehen. Im Gegensatz zu dem Urteil der dritten Sektion erachtet die Große Kammer den Eingriffs trotz des Fehlens jeglicher Entschädigung als verhältnismäßig.143 Eine Enteignung unter Ausschluss jeglicher Entschädigung ließe sich zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen rechtfertigen. Diese sieht die Große Kammer hier aber als gegeben an, wobei drei Faktoren entscheidend seien. Erstens, dass das Modrow-Gesetz in einer Zeit des Regimewechsels verabschiedet wurde, die durch tiefgreifende Veränderungen und Ungewissheiten
141 EGMR, EuGRZ 2004, 57 ff – Jahn. 142 EGMR, NJW 2005, 2907 ff – Jahn. 143 EGMR, NJW 2005, 2907 ff Rn 116 f – Jahn; vgl aber anders den polnischen Fall EGMR, EuGRZ 2004, 472 ff – Broniowski. Die Große Kammer des EGMR hatte bereits zuvor die Beschwerden der ehemaligen Eigentümer, die zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone oder nach 1949 in der DDR enteignet wurden, in einer Entscheidung vom 02.03.2005 (EGMR – von Maltzan und andere) für unzulässig erklärt. Diese Eigentümer sahen sich durch das Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz von 1994 und ein bereits ergangenes Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2000 (BVerfGE 102, 254) in ihrem Recht auf Eigentum gemäß Art 1 1. ZP verletzt, da sie der Meinung waren, dass die Ausgleichsbeträge, die sie erhalten hatten, weit unter dem tatsächlichen Wert ihrer unrechtmäßig enteigneten Güter lagen. Der EGMR verneint eine berechtigte Erwartung der Beschwerdeführer auf einen gegenwärtigen und einklagbaren Anspruch auf Rückgabe der Güter oder auf Ausgleichsleistungen für Enteignungen zwischen 1945 und 1949 bzw Entschädigungszahlungen für die Enteignungen nach 1949 in einer bestimmten, in einem angemessenen Bezug zum tatsächlichen Grundstückswert stehenden Höhe. Eine berechtigte Erwartung, die konkret und auf eine gesetzliche Grundlage gestützt werden oder eine solide Grundlage in der Rechtsprechung haben muss, habe nicht vorgelegen. Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, dass sie Inhaber von hinreichend nachgewiesenen und mithin klagbaren Ansprüchen waren. Der EGMR verneint seine Zuständigkeit, die Umstände der Enteignungen oder ihre bis heute fortwirkenden Folgen zu untersuchen. Denn die Bundesrepublik sei weder für die von der sowjetischen Besatzungsmacht veranlassten Handlungen noch für die der DDR verantwortlich, auch wenn sie später die Rechtsnachfolge der DDR angetreten habe. Im Übrigen billigt der EGMR der Bundesrepublik auch hier einen weiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung der Entschädigungsregelungen zu.
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gekennzeichnet war.144 Unter diesen Umständen konnten die Beschwerdeführer, auch wenn sie eine formale Eigentumsposition erworben hatten, nicht sicher sein, diese zu behalten. Zweitens der kurze Zeitraum zwischen dem Wirksamwerden der deutschen Wiedervereinigung und der Verabschiedung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Drittens dessen Begründung: Unter Berücksichtigung des „glücklichen Zufallls“ („windfall“), der den Beschwerdeführern dank des Modrow-Gesetzes zugute gekommen ist, war der Umstand, dass die Korrektur ohne Entschädigung erfolgte, nach Ansicht der Großen Kammer nicht unverhältnismäßig. Angesichts all dessen, insbesondere der Unsicherheit der Rechtslage der Erben und der von den deutschen Behörden angeführten Gründe der sozialen Gerechtigkeit, kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass in dem einzigartigen Zusammenhang der deutschen Wiedervereinigung der Ausschluss jeglicher Entschädigung Art 1 1. ZP nicht verletzt hat.145
4. Eigentumsrecht und andere Garantien der EMRK Fall 7: (nach EGMR, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley) Die Firma H erwirbt ein Gelände, das außerhalb der normalen Bauzonen liegt, für das aber eine besondere Planungsgenehmigung zum Bau eines Kaufhauses existiert. Die Planungsgenehmigung ist in ein öffentliches Register eingetragen. Nach Erwerb des Grundstückes wird die Planungsgenehmigung in einem Musterprozess vom Obersten Gerichtshof des Landes für nichtig erklärt. Während für eine Vielzahl vergleichbarer anderer Fälle ein Gesetz die Nichtigkeit nachträglich beseitigt und die Wirkung der ursprünglich rechtswidrig erteilten besonderen Planungsgenehmigungen wiederherstellt, unterbleibt dies für das Grundstück der H.
Der durch Art 1 1. ZP EMRK garantierte Schutz des Eigentums erfährt in besonderen Fällen eine Verstärkung durch weitere Garantien der EMRK. Eine solche Funktion hat etwa das Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK (→ allgem § 3 Rn 66 ff). Zwar soll der Bestimmung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „keine eigenständige Bedeutung“ zukommen. Sie soll vielmehr den Einzelnen nur vor einer unberechtigten Ungleichbehandlung hinsichtlich des Gebrauchs seiner in anderen Vorschriften der Konvention und der ergänzenden Protokolle normierten Freiheiten schützen. Soweit der Gerichtshof bereits auf eine Verletzung der in Art 1 1. ZP EMRK garantierten Eigentumsfreiheit erkennt, hält er es deshalb regelmäßig für entbehrlich, auch noch eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes zu prüfen. Anderes soll nur gelten, wenn eine klare Ungleichbehandlung bei der Ausübung des Eigentumsrechts einen
144 Kritisch zu diesem Argument Nußberger DÖV 2006, 454, 460: Zu bedenken sei, dass dieses Argument für alle ehemals sozialistischen Konventionsstaaten gelte. Verallgemeinere man diese Sichtweise, würde dies den eigentumsrechtlichen Schutz in diesen Ländern „grundsätzlich unterminieren“. Auch Richter Ress bezeichnet in seinem Sondervotum die Anerkennung außergewöhnlicher Umstände als gefährlichen Schritt in der Entwicklung der Auslegung der Konvention. Das Sondervotum ist – im Anschluss an das Urteil – abrufbar unter der Homepage http://www.echr.coe.int. Dem zustimmend Malzahn (Fn 110) S 386 ff. 145 Die Richter Barreto und Pavlovschi weichen teilweise, die Richter Costa, Borrego Borrego, Botoucharova und Ress vollständig ab. Die Sondervoten sind – im Anschluss an das Urteil – abrufbar unter http:///www.echr.coe.int.
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wesentlichen Aspekt des Streitfalles darstellt. Als einen solchen gerade in der Ungleichbehandlung sich manifestierenden Verstoß gegen Art 1 I 1. ZP EMRK iVm Art 14 EMRK hat der Gerichtshof eine französische Gesetzgebung gewertet, die lediglich die Eigentümer kleiner Grundstücke verpflichtete, den Zutritt Dritter zum Zwecke der Jagd zu dulden, Eigentümer größerer Grundstücke aber von dieser Verpflichtung ausnahm.146 Eine den Eigentumsschutz verstärkende Funktion kann daneben vor allem der Bestimmung über das faire Verfahren in Art 6 EMRK zukommen.147 Lösung Fall 7: Obwohl die Planungsgenehmigung von Anfang an nichtig war, sieht der EGMR in der dies feststellenden gerichtlichen Entscheidung einen Eingriff in das Eigentum der H. Mit Rücksicht auf die Rechtswidrigkeit der Genehmigung und auf die Kenntnis der H von den insoweit bestehenden rechtlichen Zweifeln hält der Gerichtshof die Nichtigerklärung allerdings für verhältnismäßig und als solche für nicht entschädigungspflichtig. Eine Entschädigungspflicht ergibt sich allerdings angesichts der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung aus Art 1 I 1, II 1. ZP EMRK iVm dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK.148
III. Sonstige wirtschaftsrechtliche Garantien 60
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Neben dem Eigentumsrecht kennt die EMRK im Unterschied zur Universellen Erklärung der Menschenrechte der UN keine weiteren Wirtschaftsgrundrechte. Lediglich einen eher unbedeutenden Sonderfall normiert Art 1 des 4. ZP: Danach darf „niemandem … die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen.“ Die Regelung, nach der das Instrument des „Schuldturms“ 149 konventionswidrig ist, macht die Beugehaft, die Art 5 I lit b EMRK ausdrücklich anerkennt, nicht unzulässig.150 Die Anordnung der Haft zur Erzwingung einer eidesstattlichen Versicherung gemäß § 901 ZPO und ähnliche Vorschriften werden durch Art 1 des 4. ZP nicht berührt.151 Im Übrigen fehlt es an der Gewährleistung wichtigerer Wirtschaftsgrundrechte, etwa der Berufs- oder Gewerbefreiheit.152 Letztere soll sich auch nicht im Wege der Ableitung einer allgemeinen Handlungsfreiheit ergeben können. Auch für sie findet sich jedenfalls nach herrschender Meinung in der Konvention kein hinreichender Anhaltspunkt.153 Bis-
146 Vgl EGMR, NJW 1999, 3695 ff – Chassagnou. 147 Zu Art 6 EMRK → § 6 Rn 35. Zur Bedeutung des Art 6 I EMRK für eigentumsrelevante Verfahren, vgl o in Fn 81. Speziell zur Funktion des Art 6 EMRK im EG-Kartellrecht: Weiß EWS 1997, 253, 255 f; dort auch zum Schutz von Geschäftsräumen durch Art 8 EMRK. 148 EGMR, HRLJ 1992, 36 ff – Pine Valley. 149 Der entsprechende Sinn der Bestimmung ergibt sich nicht zuletzt aus dem 1. ZP, das für sie die Überschrift: „Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden“ eingeführt hat. 150 Villiger EMRK, Rn 682. 151 EKMR, Yb 14, 692, 697 f – X/Deutschland; hier zit nach Frowein/Peukert in: dies, Art 1 des 4. ZP EMRK. 152 Frowein in: Frowein/Peukert, Art 4 EMRK Rn 1. 153 Laule EuGRZ 1996, 357, 362; Peukert in: Frowein/Peukert, Art 5 EMRK Rn 7 f; → vgl § 2 Rn 22, § 3 Rn 3.
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lang haben die Konventionsorgane den gelegentlichen Bemühungen um eine Erweiterung des Kreises der Wirtschaftsgrundrechte weithin wiederstanden.154
IV. Einfluss der Europäischen Sozialcharta Fall 8: (nach BVerwGE 91, 327 ff – Landeserziehungsgeld) Die T, eine türkische Staatsangehörige, wohnt seit mehreren Jahren zusammen mit ihrem türkischen Ehemann, der als Arbeitnehmer tätig ist, in Baden-Württemberg. Sie beantragt für das gemeinsame Kind Landeserziehungsgeld. Ihr Antrag wird von der zuständigen Behörde abgelehnt, weil die einschlägigen Richtlinien des Landesministeriums eine Auszahlung des Erziehungsgelds nur für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU vorsehen.
Die EMRK verzichtet nach dem Gesagten weithin auf den Schutz anderer als der klassischen wirtschaftlichen Freiheitsgrundrechte. Insb enthält sie keine sozialen Leistungsrechte (→ vgl § 2 Rn 24). Solche enthält auch die vom Europarat als „sozialrechtliches Pendant zur EMRK“ 155 beschlossene Europäische Sozialcharta (ESC)156 von 1961 nur in einer strukturell abgeschwächten Variante.157 Die Rechte der Sozialcharta, wie etwa das Recht auf Arbeit (Art 1 ESC), auf ein gerechtes Arbeitsentgelt (Art 4 ESC), auf soziale Sicherheit (Art 12 ESC) und auf Fürsorge (Art 13 ESC) oder das Vereinigungs- (Art 5 ESC) und Streikrecht (Art 6 IV ESC) sind lediglich als Programmbestimmungen ausgestaltet, die von den Vertragsstaaten in ihr nationales Recht umgesetzt werden müssen. Dies folgt aus Teil III des Anhangs zur ESC.158 Danach enthält die Charta „rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters …, deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV vorgesehenen Überwachung unterliegt.“ Die in Art 21 bis 29 ESC geregelte „Überwachung“ sieht aber – anders als die EMRK – weder behördliche noch gerichtliche Kontrollen innerhalb der einzelnen Vertragsstaaten, sondern lediglich ein Berichts-, Prüfungs- und Empfehlungsverfahren auf zwischenstaatlicher Ebene vor. Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates angeregte Schaffung eines Europäischen Sozialgerichtshofs oder einer für die Kontrolle der Einhaltung der in der ESC enthaltenen Bestimmungen zuständigen Kammer des EGMR ist auch im Rahmen der unlängst erfolgten Revision der ESC nicht umgesetzt worden.159 Unmittelbar aus den Bestimmungen der ESC lassen sich nach herrschender Meinung deshalb keine individuellen Rechte ableiten.160
154 Vgl dazu insb Melchior Rights Not Covered by the Convention in: MacDonald/Matscher/Petzold (Hrsg), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 593, 599 f. 155 Hailbronner JZ 1997, 397, 398. 156 Vgl BGBl II 1964, 1262, Sartorius II Nr 115. 157 Allgemein zur ESC vgl Agnelli /Berenstein ua Die Europäische Sozialcharta – Wege zu einer europäischen Sozialordnung, 1978. Zur gewerkschaftlichen Kritik an der rechtlichen Schwäche der ESC vgl Gabaglio/Fonteneau/Lörcher ArbuR 1997, 345 ff. 158 Der Anhang ist nach Art 38 ESC verbindlicher Bestandteil der Charta selbst. 159 Dazu und zu den Veränderungen durch die am 1.7.1999 in Kraft getretene, von Deutschland am 29.6.2007 unterzeichnete, aber noch nicht ratifizierte „Revidierte Europäische Sozialcharta“ vgl Dötsch AuA 2001, 27 ff. 160 Vgl dazu BVerwGE 65, 188, 196; 66, 268, 274; BAG, JZ 1985, 445 ff mit ablehnender Besprechung Konzen JZ 1986, 157 ff; VGH Mannheim, DÖV 2000, 874; Wengler Die Unanwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta im Staat, 1969, 11 f; Pischel Die Bedeutung der europäischen Sozialcharta für das Recht in der Bundesrepublik Deutschland, 1966; Harris The European
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Nicht nur ihrer gerichtlichen Durchsetzungsschwäche wegen, sondern auch inhaltlich wird die Wirkkraft der in der ESC normierten Rechte wenigstens zum Teil als stark beschränkt angesehen. Die ESC umschreibe „primär und wesentlich den bereits als vorhanden vorausgesetzten Mindeststandard von Rechtsinstitutionen sozialer Sicherheit“ und ziele anders als das Sozialrecht der EG nicht auf die Veränderung des Rechts der Mitgliedstaaten.161 Ob sich diese Bewertung angesichts der umfangreichen Verpflichtungstatbestände der ESC und der Vorbehalte, die selbst Vertragsstaaten wie die Bundesrepublik für erforderlich hielten162, aufrechterhalten lässt, mag allerdings bezweifelt werden.163 Lösung Fall 8: Die T hat keinen Anspruch auf die Zahlung des Landeserziehungsgeldes. Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus Art 16 ESC. Zwar verpflichtet die Bestimmung die Vertragsstaaten, den wirtschaftlichen, gesetzlichen und sozialen Schutz des Familienlebens, insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen zu fördern. Einen individuell einklagbaren Anspruch auf konkrete Fördermittel begründet die Vorschrift aber angesichts des bloß völkerrechtlichen Charakters der ESC nicht. Der Umstand, dass sowohl die Türkei als auch Deutschland als Signatarstaaten der ESC die entsprechende Verpflichtung als für sich verbindlich anerkannt haben, verpflichtet die Landesbehörden auch in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 3 I GG nicht, die Regelungen über das von ihr auf freiwilliger haushaltsrechtlicher Basis gewährte Landeserziehungsgeld so auszugestalten, dass sie auch türkische Staatsangehörige erfassen.164
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Social Charter, 2001, 290 f, 404; Zuleeg ZaöRV 35 (1975) 341, 352; Swiatkowski Charter of Social Rights of the Council of Europe, 2007, 42. Für den tastenden Versuch der Begründung einer abweichenden Ansicht vgl Lörcher EuZW 1991, 395 f. So Eichenhofer in: Oetker/Preis (Hrsg), EAS, B 1200, 1995, Rn 4; konsequent wird in dieser Darstellung des Europäischen Sozialrechts denn auch auf Ausführungen zur ESC weitestgehend verzichtet. Die Bundesrepublik hat von der in Art 20 ESC vorgesehenen Möglichkeit einer nur eingeschränkten Ratifikation der Charta Gebrauch gemacht und den Art 4 IV (Recht auf angemessene Kündigungsfrist), Art 7 I (Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre), Art 8 II (Verbot der Kündigung während Mutterschaftsurlaubs) und Art 8 IV (Sonderregelungen für Nachtarbeit und gefährliche Arbeiten von Arbeitnehmerinnen) sowie Art 10 IV (finanzielle Unterstützung der beruflichen Bildung) ESC nicht zugestimmt; vgl dazu Art 1 des Zustimmungsgesetzes zur ESC: BGBl II 1964, 1262, Sartorius II Nr 115. Für eine positivere, allerdings auch schon ältere, Einschätzung der „praktischen Auswirkungen der Europäischen Sozialcharta“ vgl Fuchs in: Agnelli/Berenstein ua (Fn 157) S 289 ff mwN. So BVerwGE 91, 327, 330 mwN; anders noch die Vorinstanz: VGH Mannheim, NVwZ-RR 1993, 83 ff.
§6 Justiz- und Verfahrensgrundrechte Christoph Grabenwarter Leitentscheidungen: EGMR, NJW 1989, 652 – Deumeland = JK 12/89, EMRK Art 6 I/1; EuGRZ 1996, 577 ff – Amuur; NJW 2001, 3035 – Kreuz; Urt v 29.1.2008 (Große Kammer) – Saadi; Urt v 10.2.2009 (Große Kammer) – Sergey Zolotukhin.1 Schrifttum: Frowein Article 13 as a growing pillar of Convention law; GS Ryssdal, 2000, S 545 ff; Grabenwarter Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997; Murdoch Safeguarding the liberty of the person: recent Strasbourg Jurisprudence, ICLQ 42 (1993), 494 ff; Trechsel in: Macdonald/ Matscher/Petzold (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 277 ff.
Im folgenden Abschnitt werden jene Garantien der EMRK behandelt, die Verfahrensrechte in einem weiteren Sinn zum Gegenstand haben. Verglichen mit den Grundrechten des GG enthält die EMRK eine weit größere Zahl von Verfahrensgrundrechten. Sie sind – beeinflusst vom anglo-amerikanischen Recht – um einiges detaillierter gefasst und überwiegen auch quantitativ in der Rspr die klassischen Freiheitsrechte. Demgemäß überrascht es nicht, dass die Verfassungsordnungen zahlreicher Mitgliedstaaten gerade in diesem Bereich maßgeblichen Einfluss erfahren haben.2 Nicht zufällig definierte das BVerfG die Bedeutung der EMRK im deutschen Recht aus Anlass der zwar nach der EMRK, nicht aber nach dem GG explizit grundrechtlich verankerten Unschuldsvermutung.3 Unter Justiz- und Verfahrensgrundrechten werden durchaus unterschiedliche Rechtspositionen zusammengefasst, die jedoch ihrerseits einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, nämlich den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes als Ausdruck eines europäischen Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit.4
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I. Der Schutz der persönlichen Freiheit (Art 5 EMRK) Der Inhalt des Art 5 EMRK lässt sich geleitet von der Regelungsstruktur des GG in drei Teile teilen. Art 5 I 1 EMRK enthält die allgem Garantie der Freiheit der Person (vergleichbar Art 2 II 2 GG), Satz 2 enthält die Zulässigkeitsbedingungen für bestimmte Eingriffstatbestände (vergleichbar Art 104 I GG), Art 5 II bis V EMRK enthalten schließlich besondere Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen (vgl Art 104 II und III GG). Die Grundrechte-Charta der EU enthält in Art 6 das Recht auf Freiheit und Sicherheit.5 Fall 1: EGMR, Urt v 29.1.2008 (Große Kammer) – Saadi Ein irakischer Staatsangehöriger landete am 30.12.2000 am Flughafen London Heathrow, nachdem er aus seinem Heimatland geflohen war. Bei seiner Ankunft stellte er bei der Einwanderungsbehörde einen Asylantrag. Die Behörde gewährte ihm eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung. Als er sich am 2.1.2001 wiederum zur Stelle meldete, wurde er festge-
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Aktuelle Urt des EGMR können im Internet unter http://www.echr.coe.int/ abgerufen werden. Für Bsp vgl Grabenwarter FS Steinberger, 2002, S 1129, 1130 f. BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 115. Grabenwarter Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, 696 ff. Zum Gewährleistungsumfang vgl Grabenwarter DVBl 2001, 1, 4; Jarass GR, § 11 Rn 1 ff.
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nommen und in das Aufnahmezentrum Oakington6 gebracht. Am 4.1.2001 wurde ihm die Möglichkeit gewährt, sich mit einem Rechtsvertreter zu beraten. Aufgrund einer telefonischen Nachfrage wurde diesem am nächsten Tag mitgeteilt, dass der Flüchtling angehalten werde, weil er aus dem Irak stamme und die Voraussetzungen für eine Anhaltung in Oakington erfülle. Nach Durchführung des erstinstanzlichen Asylverfahrens, wurde er schließlich am 9.1.2001 aus dem Aufnahmezentrum entlassen. Vor dem EGMR macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art 5 I (Recht auf persönliche Freiheit) und Art 5 II EMRK (Recht auf Information über die Gründe der Festnahme) geltend. Zu Recht?
1. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit 5
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Der sachliche Schutzbereich des Art 5 EMRK umfasst neben dem Verbot der willkürlichen Festnahme und Freiheitsentziehung (Abs 1)7 die Garantie der richterlichen Kontrolle des Freiheitsentzugs. Art 5 EMRK ist auch bei kurzzeitiger Freiheitsentziehung anwendbar.8 Bei der Beurteilung, ob eine Freiheitsentziehung iSd Art 5 EMRK vorliegt, ist von der konkreten Situation des Betroffenen auszugehen.9 Obwohl die Begriffe „Freiheit und Sicherheit“ in Art 5 I EMRK getrennt aufgeführt sind, hat das „Recht auf Sicherheit“ nur geringe eigenständige Bedeutung erlangt.10 Das Recht auf Sicherheit kann einen gewissen Schutz vor staatlichen Maßnahmen außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates gewähren, es verpflichtet aber keineswegs die Konventionsstaaten, Personen, deren Sicherheit im Herkunftsland bedroht ist, ein Einreiserecht, einen Anspruch auf Nicht-Ausweisung oder ein allgem Asylrecht zu gewähren. Hinsichtlich des Schutzgutes von Art 5 EMRK bestehen Abgrenzungsschwierigkeiten mit der Freizügigkeitsgarantie des Art 2 4. ZP EMRK, der die Bewegungs-, Niederlassungsund Ausreisefreiheit schützt. Nach der Rspr des EGMR sind in diesen Fällen die konkreten Umstände des Einzelfalls, wie sie sich durch Art und Weise der Beschränkung, ihre
6 Das Anhaltelager Oakington dient der Unterbringung von Asylwerbern, bei denen Grund zur Annahme besteht, dass ihr Antrag in einem Schnellverfahren erledigt werden kann. Zur Vereinfachung der Entscheidung wurden Listen mit Ländern erstellt, deren Angehörige in der Regel für das Schnellverfahren in Oakington in Frage kommen. Personen, deren Fälle komplizierter sind oder bei denen die Gefahr der Flucht aus dem Anhaltezentrum besteht, werden als ungeeignet für die Anhaltung in Oakington betrachtet. 7 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 42 – Amuur; EuGRZ 1979, 650, Rn 37 – Winterwerp; Series A, Vol 3, Rn 14 – Lawless; Rep 1997-II, Rn 41 – Lokanov. 8 Villiger EMRK, 494 ff. 9 EGMR, EuGRZ 1986, 5, Rn 41 – X./Vereinigtes Königreich; EuGRZ 1983, 633, Rn 92 – Guzzardi; EuGRZ 1976, 221, Rn 59 – Engel. 10 Im Urt EGMR, EuGRZ 1987, 101, Rn 54, 60 – Bozano wird das „Recht auf Sicherheit“ erwähnt, ohne dass Konsequenzen daraus gezogen werden; Bleichrodt in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak (Hrsg) Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2006, 455 ff; Kopetzki in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg) Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd III, 1997, 261, 290; Trechsel EuGRZ 1980, 514, 518; ders in: Macdonald/Matscher/Pertold (Hrsg) The European System for the Protection of Human Rights, 1993, 282 f. Im Urt EGMR, EuGRZ 2003, 472, Rn 88 – Öcalan sah der EGMR das Recht auf Sicherheit als betroffen an, wenn eine Verhaftung durch Organe eines Konventionsstaates auf dem Territorium eines anderen Staates erfolgt.
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Dauer sowie ihre Auswirkungen ergeben, zu berücksichtigen.11 Des Weiteren erfasst der Schutzbereich des Art 5 I EMRK auch nicht die Bedingungen der Haft.12 Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Rechtsfragen sind in erster Linie im Lichte des Art 3 EMRK zu prüfen (zur Problematik der Haftbedingungen Suchtmittel- und Geisteskranker, Rn 17).
2. Die Eingriffstatbestände Ein Eingriff in Art 5 I EMRK liegt bei jeder Freiheitsentziehung durch staatliche Organe vor, wobei Art 5 I lit a bis f EMRK einen abschließenden Katalog mit zulässigen Beschränkungen der persönlichen Freiheit enthält. Die entsprechenden Tatbestände sind restriktiv auszulegen.13 Die Kontrolle der Eingriffsvoraussetzungen erfolgt in erster Linie durch die nationalen Gerichte. Der EGMR überprüft nur den betreffenden Einzelakt, nicht auch das zugrunde liegende anwendbare nationale Recht. Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn die EMRK selbst – wie in Art 5 I EMRK – auf das innerstaatliche Recht verweist.14 Damit ein Eingriff gerechtfertigt ist, muss er auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, in Übereinstimmung mit dem gesetzlich vorgeschriebenen innerstaatlichen Verfahren und unter Beachtung des (ungeschriebenen) Willkürverbots erfolgen, sowie materiell gerechtfertigt sein, dh es muss einer der in Art 5 I lit a bis f EMRK enthaltenen Tatbestände erfüllt sein. Das innerstaatliche geschriebene oder ungeschriebene Recht muss hinreichend präzise sein, um es dem Betroffenen zu ermöglichen – auch unter Einholung von Rechtsrat – die Folgen seines Handelns vorauszusehen.15 Ausreichend für die Rechtmäßigkeit ist eine gefestigte Rspr zur Auslegung verfahrensrechtlicher Normen.16 Hinsichtlich der Übereinstimmung mit dem nationalen Verfahren verlangt der EGMR, dass das innerstaatliche Recht konventionskonform ist und im Einzelfall tatsächlich eingehalten wird.17 Allerdings ist eine Freiheitsentziehung nach der Rspr des EMGR willkürlich, wenn sie zwar mit dem Gesetzeswortlaut im Einklang steht, aber nicht in gutem Glauben erfolgt. Um dem Willkürverbot zu entsprechen, müssen ferner sowohl die Anordnung der Haft als auch ihre Vollstreckung insgesamt [genuinely] mit dem Zweck der Beschränkungen des jeweiligen Tatbestandes in Art 5 I lit a bis lit f im Einklang stehen. Schließlich muss eine gewisse Beziehung zwischen dem jeweiligen Haftgrund einerseits und dem Ort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung bestehen.18 Darüber hinaus gebietet das Willkürverbot dem EGMR zufolge die Einhaltung einzelner Teile des Grundsatzes des Verhältnismäßigkeit iSd
11 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 42 – Amuur; EuGRZ 1983, 633, Rn 92 – Guzzardi; EuGRZ 1976, 221, Rn 59 – Engel. 12 EGMR, ECHR 2001-IX, Rn 16 – Vittorio; dazu Uerpmann-Wittzack Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, Rn 37 ff. 13 EGMR, Rep 1997-II, Rn 41 – Loukanov; Series A, Vol 311, Rn 42 – Quinn; Series A, Vol 148, Rn 41 – Ciulla; Series A, Vol 129, Rn 43 – Bouamar. 14 EGMR, EuGRZ 1979, 650, Rn 46 – Winterwerp; grs and vgl Series A, Vol 13, Rn 97 – Ringeisen. 15 EGMR, Rep 1998-VII, Rn 54 – Steel. 16 EGMR, Rep 2001-XI, Rn 51 – Laumont. 17 EGMR, Series A, Vol 296-C, Rn 37 – Kemmache (Nr 3). 18 EGMR, Urt v 29.1.2008 (Große Kammer), Rn 69 – Saadi, mwN auf die Rspr.
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deutschen Grundrechtsdogmatik, wobei die Anforderungen je nach Haftgrund erheblich differieren.19 – Für die Haftgründe der lit b, lit d und lit e impliziert das Willkürverbot den Grundsatz der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit ieS, mithin das Gebot des Einsatzes des gelindesten Mittels (Prüfung des Ausreichens weniger strenger Maßnahmen) und der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Erfüllung einer Verpflichtung und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person, wobei die Dauer der Freiheitsentziehung eine maßgebliche Rolle für das Ergebnis der Abwägung spielt. – Für die Strafhaft nach lit a reicht es aus, wenn die allgem Bedingungen des Willkürverbots erfüllt sind, insbesondere wird die Länge der Haft nicht in einer Abwägung durch den EGMR nachgeprüft; dies ist vielmehr Sache der innerstaatlichen Gerichte. – Für die Haft nach lit f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit, wohl aber eine (zurückgenommene) Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer insoweit stattzufinden, sodass die Haft nur solange angemessen ist, als das in lit f Bezug genommene Verfahren Fortschritte macht und mit angemessener Sorgfalt geführt wird („with due diligence“). Die materielle Rechtmäßigkeit der Haft richtet sich, wie bereits erwähnt, nach Art 5 I lit a bis f EMRK: a) Verurteilung 9
Verurteilungen iSv Art 5 I lit a EMRK umfassen straf- oder disziplinarrechtliche Tatbestände und setzen die Feststellung von Schuld voraus.20 Das „Gericht“ iSd Art 5 I lit a EMRK muss von der Exekutive unabhängig sein.21 Entscheidend ist, dass die Haft der Verurteilung nicht nur zeitlich nachfolgt, sondern kausal von ihr abhängt,22 wobei in diesem Zusammenhang die Haft ab der erstinstanzlichen Verurteilung, nicht erst ab Rechtskraft des Urt gemeint ist.23 Aus Art 5 I lit a EMRK lässt sich kein Recht auf Aussetzung der Haft ableiten, zB bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe nach Ermessen.24 b) Nichtbefolgung von Gerichtsbeschlüssen oder einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung
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Bei dem Haftgrund der „Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses oder … einer durch Gesetz vorgesehenen Verpflichtung“ gem Art 5 I lit b EMRK entspricht der Begriff des „Gerichts“ dem des Art 5 I lit a (Rn 9). Ein „Gerichtsbeschluss“ kann auch
19 EGMR, Urt v 29.1.2008, Rn 70–72 – Saadi; vgl hierzu auch Grabenwarter EMRK, § 21 Rn 10. 20 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 38 – B./Österreich; Villiger EMRK, Rn 330; Kopetzki (Fn 10) S 323; Trechsel (Fn 10) 297; ders EuGRZ 1980, 518, 523 ff. 21 EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 68 – Engel. 22 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 38 – B./Österreich; Series A, Vol 115, Rn 40 – Monnell; EuGRZ 1988, 316, Rn 42 – Weeks; EuGRZ 1987, 101, Rn 53 – Bozano. 23 EGMR, RUDH 1990, 158, Rn 36 – B./Österreich; Series A, Vol 7, Rn 9 – Wemhoff; aA Reindl in: Grabenwarter, Kontinuität, 45, 48: Bis Rechtskraft des erstinstanzlichen Urt Untersuchungshaft iSd Art 5 I lit c EMRK. 24 Villiger EMRK, Rn 332 mwN; vgl zur Zulässigkeit des Wiederauflebens von Haftstrafen von zu lebenslanger Haft Verurteilten auch EGMR, Series A, Vol 114, Rn 42, 50 ff – Weeks; ECHR 2002-IV, Rn 81 – Stafford.
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bei Handeln einer Verwaltungsbehörde gegeben sein.25 Während die auf die Nichtbefolgung eines gerichtlichen Beschlusses hin angeordnete Haft repressiven Charakter hat,26 weist die Haft aufgrund der Nichtbefolgung des Zwangs, eine Verpflichtung zu erfüllen (zB den Pass bei sich zu tragen27), keinen punitiven Charakter auf, da der Haftgrund wegfällt, sobald der Betroffene die ihm obliegende Verpflichtung erfüllt hat.28 Um einer allzu extensiven Interpretation von Art 5 I lit b EMRK entgegenzutreten, verlangt die Rspr, dass eine Freiheitsentziehung nach Art 5 I lit b EMRK nur dann zulässig ist, wenn das nationale Recht die Inhaftnahme einer Person zu dem Zweck erlaubt, sie zur Erfüllung einer konkreten und spezifischen Pflicht, der sie bislang nicht nachgekommen ist, zu zwingen.29 c) Präventiv- und Untersuchungshaft Die Präventiv- und Untersuchungshaft gem Art 5 I lit c EMRK dient der Sicherung der strafrechtlichen Untersuchung und steht stets in einem strafrechtlichen Kontext.30 Die Untersuchungshaft beginnt mit der Inhaftnahme und endet mit dem Urt erster Instanz.31 Ihr Zweck muss die Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde sein.32 Der Begriff der Gerichtsbehörde entspricht dem „Richter“ bzw dem „richterlichen Beamten“ in Art 5 III EMRK. Die EMRK verlangt nur die unverzügliche Vorführung vor den Richter (Art 5 III EMRK), nicht jedoch die Anordnung der Untersuchungshaft selbst durch einen Richter.33 Der Inhalt der strafbaren Handlung bestimmt sich nach dem innerstaatlichen Recht.34 Art 5 I lit c EMRK nennt als kumulative Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Haft den Zweck der richterlichen Vorführung sowie den Tatverdacht oder die Ausführungsoder Fluchtgefahr. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist Art 5 I lit c EMRK verletzt.35 Grundvoraussetzung für die Untersuchungshaft ist der hinreichende Tatverdacht.36 Bei der Inhaftnahme genügt er als ausschließlicher Haftgrund, nicht aber bei der Fortdauer der Untersuchungshaft,37 für die wiederum Art 5 III EMRK maßgeblich ist (Rn 24 ff). Sieht das innerstaatliche Recht eine höhere Eingriffsschwelle vor, so ist diese entscheidend,38 mit der Folge, dass neben dem in Art 5 I lit c EMRK ausdrücklich genannten hinreichenden Tatverdacht und der Fluchtgefahr auch die klassischen Haftgründe der Ver-
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Peukert in: Frowein/Peukert, Art 5 EMRK Rn 67. Grabenwarter EMRK, § 21 Rn 13. EKMR, DR 52, 111, 118. EKMR, DR 25, 15, 81; Kopetzki (Fn 10) S 330. EGMR, EuGRZ 1976, 221, Rn 69 – Engel. EGMR, Series A, Vol 148, Rn 38 – Ciulla. S Meyer-Ladewig EMRK, Art 5 Rn 12; aA Reindl in: Grabenwarter, Kontinuität, 46 ff. EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 68 – Murray; Series A, Vol 25, Rn 199 – Irland; Series A, Vol 3, Rn 13 f – Lawless. EKMR, DR 9, 210, 212. Peukert in: Frowein/Peukert, Art 5 EMRK Rn 72, zu der Frage, ob darunter auch bloßes Ordnungsunrecht fällt. Vgl EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 55 – Murray; RUDH 1990, 418, Rn 32 – Fox; EuGRZ 1983, 633, Rn 102 – Guzzardi. Ausf dazu Grabenwarter EMRK, § 21 Rn 17. EGMR, Series A, Vol 7, Rn 4 – Stögmüller; EuGRZ 1985, 700, Rn 44 – De Jong. Villiger EMRK, Rn 346.
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dunkelungs- und Wiederholungsgefahr konventionsrechtlich erheblich sind, soweit sie nach dem innerstaatlichen Recht Voraussetzung für die Untersuchungshaft sind.39 Das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts ist zu bejahen, wenn genügend Tatsachen vorliegen, die objektiv darauf schließen lassen, dass der Betroffene die strafbare Handlung hätte begehen können.40 Nicht erforderlich ist eine bereits vollständig erfolgte Sachverhaltsaufklärung. Die Nachprüfung dieser Voraussetzungen durch den EGMR beschränkt sich auf eine Willkürkontrolle.41 Des Weiteren ist die Festnahme einer Person zwecks Vorführung vor das zuständige Gericht rechtmäßig, wenn dies notwendig erscheint um den Betreffenden an der Begehung einer Straftat zu hindern. Gem Art 5 I lit c EMRK muss nicht notwendig die Wiederholungsgefahr gegeben sein, sondern es genügt bereits die bloße Ausführungsgefahr. Voraussetzung für die Haft ist in diesem Fall das Vorliegen konkreter Gründe, die auf die Begehung einer bestimmten künftigen strafbaren Handlung schließen lassen.42 Schließlich bildet auch die Fluchtgefahr nach Begehung einer Straftat einen zulässigen Haftgrund. Da jedoch gem Art 5 I lit c EMRK bei hinreichendem Tatverdacht eine Inhaftierung auch ohne weitere Haftgründe zulässig ist, findet diese Alternative nur dann Anwendung, wenn es um die Frage der Zulässigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft geht.43 d) Inhaftnahme Minderjähriger
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Die Inhaftnahme Minderjähriger (lit d) umfasst Maßnahmen der Fürsorge und des Jugendstrafrechts,44 so dass auch die vorübergehende Inhaftnahme bis zur Entscheidung über eventuelle Erziehungsmaßnahmen zulässig ist.45 Eine elterliche Entscheidung für ein psychiatrisches Kinderkrankenhaus fällt hingegen nicht in den Anwendungsbereich des Art 5 EMRK.46 Die Freiheitsentziehung nach lit d kann auch von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden.47 e) Unterbringung Kranker und Landstreicher
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Bei der Unterbringung Kranker oder Landstreicher nach Art 5 I lit e EMRK liegt der Beurteilungsspielraum in erster Linie bei den nationalen Behörden,48 da Art 5 I lit e EMRK selbst keine inhaltliche Begrenzung enthält. Art 5 I lit e EMRK lässt eine Inhaftnahme bei Vorliegen ansteckender Krankheiten zu, die zwingend durch ein objektives ärztliches
39 EGMR, Series A, Vol 296-C, Rn 42 – Kemmache (Nr 3); EKMR, DR 34, 119, 124. 40 Z Sonderfall der Terrorismusbekämpfung vgl EGMR, RUDH 1990, 418, Rn 32 – Fox, HRLJ 1994, 331, Rn 50 ff – Murray; Urt v 16.10.2001, Rn 34 – O’Hara. 41 EGMR, Rep 1997-VI, Rn 51 f – Erdagöz; RUDH 1990, 418, Rn 34 – Fox; EKMR, DR 88-B, 94, 113; DR 16, 111, 118; DR 54, 35, 38; Peukert in: Frowein/Peukert, Art 5 EMRK Rn 75 ff. 42 EGMR, EuGRZ 1983, 633, Rn 102 f – Guzzardi. 43 Ausf dazu Reindl Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention, 1997, 65 ff. 44 EGMR, Series A, Vol 129, Rn 50, 52 – Bouamar. 45 EGMR, Series A, Vol 129, Rn 50 – Bouamar. 46 EGMR, Series A, Vol 144, Rn 72 – Nielsen. 47 Villiger EMRK, Rn 335. 48 EGMR, EuGRZ 1992, 535, Rn 63 – Herczegfalvy; EuGRZ 1985, 642, Rn 27 – Luberti; EuGRZ 1982, 101, Rn 43 – X./Vereinigtes Königreich; EuGRZ 1979, 650, Rn 40 – Winterwerp.
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Attest festzustellen sind,49 ferner bei Alkohol- oder Rauschgiftsucht sowie bei Geisteskrankheit. Die die Haft rechtfertigende Gefährlichkeit der betreffenden Person kann für die Allgemeinheit oder für die in Haft genommene Person selbst bestehen.50 Eine entsprechende Gefahr kann in der Ausbreitung ansteckender Krankheiten liegen.51 Art 5 I EMRK verlangt aber auch, dass zwischen dem Grund für eine gerechtfertigte Freiheitsentziehung und den Bedingungen der Haft ein angemessenes Verhältnis bestehen muss.52 Folglich kann den Konventionsstaaten aus Art 5 I lit e EMRK auch die Pflicht erwachsen, in hinreichendem Umfang Plätze in derartigen Einrichtungen bereitzustellen.53
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f) Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, Abschiebungsund Auslieferungshaft Art 5 I lit f EMRK sieht zwei Haftgründe vor: Einerseits die Verhinderung des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet, andererseits die geplante Abschiebung oder Auslieferung. Die Rechtmäßigkeit dieser Inhaftierungen erfordert über die Einhaltung der verfahrens- und materiellrechtlichen Vorschriften hinaus auch die Beachtung des Gesamtziels des Art 5 EMRK.54 Die Maßnahme muss staatlichem und internationalem Recht entsprechen.55 Der Haftgrund des unberechtigten Eindringens in das Staatsgebiet gilt so lange als gegeben, bis die betroffene Person eine offizielle Bewilligung zum Verbleib in dem Staat – etwa durch eine Aufenthaltsbewilligung oder durch positive Erledigung eines Asylantrages – erhalten hat.56 Im Fall von Art 5 I lit f EMRK kann mit Blick auf das differenzierte Willkürverbot (Rn 8) eine Haft allein aus Gründen der erleichterten Durchführung der notwendigen Administrativverfahren zulässig sein, sofern Ort und Bedinungen der Internierung angemessen sind.57 Um eine Verfälschung des Haftgrundes zu vermeiden, darf die Festnahme in Fällen der Auslieferung oder Abschiebung ausschließlich zu diesem Zweck erfolgen.58 Anders als bei Art 5 I lit c EMRK kommt es bei Art 5 I lit f EMRK alleine darauf an, ob ein schwebendes Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren besteht. Ob die Auslieferung selbst rechtmäßig ist, ist für Art 5 EMRK irrele-
49 EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 37 – Ashingdane; EuGRZ 1982, 101, Rn 40 – X./Vereinigtes Königreich; EuGRZ 1979, 650, Rn 39 – Winterwerp. 50 EGMR, EuGRZ 1983, 633, Rn 98 – Guzzardi. 51 Kopetzki (Fn 10) S 333. 52 EGMR, ECHR 2003-IV, Rn 48 – Hutchison Reid. 53 EGMR, Urt v 11.5.2004, Rn 65 f – Brand; Urt v 11.5.2004, Rn 48 f – Morsink. In seiner älteren Rspr, Rep 1996-V, Rn 32 ff – Bizzotto, hatte der EGMR noch eine Verletzung von Art 5 I EMRK verneint, da seiner damaligen Meinung nach die nicht gesetzeskonforme Unterbringung von drogenabhängigen Straftätern nichts an der Konventionsmäßigkeit der Haft an sich ändere. Vgl hierzu auch Grabenwarter EMRK, § 21 Rn 23. 54 EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 129 – Chahal. 55 EKMR, DR 12, 14, 27. 56 EGMR, Urt v 29.1.2008, Rn 65 f – Saadi; der EGMR stellt klar, dass ein Asylwerber nicht allein aufgrund der Tatsache, dass er sich bei der Einreise an die Einwanderungsbehörden gewandt hat, einen „rechtmäßigen“ (iSd Art 5 lit f) – und eben keinen „unrechtmäßigen“ – Eintritt in den Staat sucht. 57 EGMR, Urt v 29.1.2008, Rn 74 – Saadi. 58 EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 112 – Chahal.
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vant.59 Allerdings sind weitere vom innerstaatlichen Recht vorgesehene Voraussetzungen auch vom EGMR zu beachten.60 Eine Verletzung von Art 5 I lit f ist im Fall von Asylbewerbern gegeben, die sich im Transitbereich eines internationalen Flughafens aufhielten, deren Aufenthaltsbedingungen aber keiner gerichtlichen Kontrolle unterlagen und denen keinerlei Zugang zu rechtlicher, humanitärer oder sozialer Betreuung gewährt wurde.61 Der EGMR beurteilte in mehreren Fällen die russischen Auslieferungsbestimmungen als widersprüchlich und sah darin eine Verletzung von Art 5 I lit f, da diese keinen adäquaten Schutz gegen willkürliche Eingriffe des Staates gewährleisten und die Bestimmungen weder vorhersehbar noch präzise formuliert waren.62
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Lösung Fall 1: Die von 2.1. bis 9.1.2001 dauernde Anhaltung des Beschwerdeführers im Aufnahmezentrum Oakington ist eine Freiheitsentziehung, die in das Grundrecht auf persönliche Freiheit eingreift; der Schutzbereich des Art 5 I ist folglich eröffnet. Der Haftgrund des Art 5 I lit f EMRK gestattet die rechtmäßige Festnahme und Anhaltung einer Person in zwei Fällen: erstens zur Verhinderung einer unberechtigten Einreise in das Staatsgebiet und zweitens bei einer Person, die von einem gegen sie anhängigen Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist. Zu prüfen gilt es also, ob die Haft des Beschwerdeführers unter die erste Fallgestaltung fällt? Solange einem potentiellen Einwanderer kein Recht eingeräumt wurde, in dem Land zu bleiben, ist er nicht rechtmäßig eingereist und daher wird angenommen, dass die Anhaltung der Verhinderung der unerlaubten Einreise dient und somit materiell gerechtfertigt ist. Da eine hinreichende gesetzliche Grundlage besteht und das innerstaatliche Recht tatsächlich eingehalten wurde, ist schließlich zu klären, ob auch dem Willkürverbot entsprochen wurde? Die Behörde handelte in gutem Glauben. Zweck der Inhaftierung war die Anwendung eines Schnellverfahrens um rasch über die Einreiseerlaubnis abzusprechen und darüberhinaus eine unrechtmäßige Einreise zu verhindern. Für die Haft nach Art 5 lit f hat zwar keine Prüfung der Erforderlichkeit – etwa um die Begehung einer Straftat oder die Flucht zu verhindern – wohl aber eine Prüfung der Angemessenheit der Haftdauer stattzufinden. Notwendig ist somit lediglich, dass die Freiheitsentziehung Teil des Prozesses zur Feststellung, ob der Person Asyl bzw eine Einreiseerlaubnis gewährt werden sollte, und dass sie nicht aus anderen Gründen – etwa aufgrund ihrer Dauer – willkürlich erfolgt. Der EGMR kam zu dem Schluss, dass es angesichts der schwierigen Verwaltungsprobleme (anschwellende Flut enormer Zahlen von Asylwerbern) nicht unvereinbar mit Art 5 I lit f war, den Beschwerdeführer sieben Tage lang unter angemessenen Bedingungen anzuhalten, um die rasche Behandlung seines Asylantrags zu ermöglichen.63
59 Die Rechtmäßigkeit des Ausweisungs- und Auslieferungsverfahrens richtet sich nach Art 1 7. ZP EMRK, dazu u Rn 69. 60 EGMR, ECHR 2003-X, Rn 151 – Slivenko. 61 EGMR, EuGRZ 1996, 577, Rn 48, 53 – Amuur, dazu Kriebaum in: Grabenwarter, Kontinuität, 71 ff; EGMR, Urt v 24.1.2008, Rn 78 ff – Riad und Idiab. 62 Aus der Judikatur: EGMR, Urt v 11.10.2007, Rn 76 ff – Nasrulloyev; Urt v 19.6.2008, Rn 129 f – Ryabikin, der EGMR sieht vor allem in der Tatsache, dass die russische Strafverfolgungsbehörde außerstande war, die zuständige Behörde zu bestimmen, auf die anwendbaren gesetzlichen Vorschriften hinzuweisen und die Haftfristen festzusetzen, eine Verletzung des Art 5 I lit f. 63 EGMR, Urt v 29.1.2008, Rn 80 – Saadi.
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3. Rechte der festgenommenen Person a) Informationsrecht Gem Art 5 II EMRK muss jeder Festgenommene in möglichst kurzer Frist und in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme informiert werden. Nach dem Wortlaut bezieht sich die Informationspflicht des Staates nur auf die „Festnahme“. Diese Garantie gilt jedoch für alle in Art 5 I EMRK vorgesehenen Formen der Freiheitsentziehung.64 Art und Umfang der Unterrichtung richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Unterrichtung muss jedenfalls in einer dem Festgenommenen verständlichen Sprache erfolgen und die tatsächlichen und juristischen Gründe der Freiheitsentziehung darlegen.65 Mit der Information soll dem Festgehaltenen die Möglichkeit gegeben werden, effektiven Rechtsschutz gem Art 5 IV EMRK zu erlangen. Die Fristen, innerhalb derer die Unterrichtung erfolgen soll, müssen „möglichst kurz“66 sein und sollten in der Regel 24 Stunden nicht überschreiten, wobei die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind.67
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b) Angemessene Haftdauer und richterliche Vorführung gem Art 5 III EMRK Art 5 III EMRK ergänzt Art 5 I lit c EMRK, der die Untersuchungshaft regelt, und enthält zwei Garantien: Die Vorführung vor den Richter und bei Aufrechterhaltung der vorläufigen Festnahme die Durchführung eines zügigen Verfahrens verbunden mit der raschen Erlangung eines Urt. Die Vorführung muss vor einen Richter oder richterlichen Beamten erfolgen. Die Zuständigkeit können die Staaten wahlweise einem Gericht oder einer Behörde übertragen.68 Erforderlich ist jedoch die Unabhängigkeit des Richters oder richterlichen Beamten gegenüber der Exekutive69 sowie das Recht bindende Entscheidungen treffen zu können70. Der EGMR verlangt, dass die Behörde bei Feststellung der Haftgründe „besondere Sorgfalt“ im Verfahren walten lässt.71 Eine Vorführung ist „unverzüglich“, wenn eine Frist von 24 bis 48 Stunden72, in besonderen Fällen von bis zu vier Tagen73, nicht überschritten wird.
64 EGMR, RUDH 1990, 60, Rn 27 f – Van der Leer; EuGRZ 1982, 101, Rn 66 – X./Vereinigtes Königreich; EKMR, DR 16, 111, 117; DR 34, 119, 124; und EGMR, RUDH 1990, 466, Rn 22 – Keus. 65 EGMR, RUDH 1990, 418, Rn 40 – Fox; RUDH 1990, 60, Rn 27 f – Van der Leer; EuGRZ 1982, 101, Rn 66 – X./Vereinigtes Königreich; EKMR, DR 16, 111, 117. 66 EGMR, RUDH 1990, 418, Rn 40 – Fox. 67 Villiger EMRK, Rn 351; EGMR, HRLJ 1994, 331, Rn 78 – Murray (3 Stunden); RUDH 1990, 60, Rn 31 – Van der Leer (zufällige Kenntnisnahme der Haftgründe genügt nicht); RUDH 1990, 418, Rn 42 – Fox (7 Stunden); EKMR, DR 21, 250, 253 f; DR 30, 93, 95. 68 EGMR, EuGRZ 1980, 202, Rn 27 – Schiesser. 69 EGMR, EuGRZ 1980, 202, Rn 31 – Schiesser. 70 EGMR, ECHR 2003-XII, Rn 166 – Yankov; ECHR1999-II, Rn 51 – Nikolova. 71 EGMR, Urt v 8.4.2004, Rn 74 – Belchev; Urt v 6.4.2004, Rn 51 – J.G./Polen; ECHR 2000-IV, Rn 152 f – Labita. 72 So Villiger EMRK, Rn 358. 73 EGMR, HRLJ 1988, 293, Rn 62 – Brogan.
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Die zulässige Dauer der Untersuchungshaft ist abhängig vom Einzelfall, sie kann für Verdächtige terroristischer Straftaten länger sein,74 aber schon sechs Tage ohne richterliche Überprüfung wurden als zu lang angesehen.75 Die Beurteilung, ob eine „angemessene Frist“ für die Dauer der Untersuchungshaft eingehalten wurde, unterliegt in erster Linie der Beurteilung durch die nationalen Gerichte.76 Diese sind im Zuge ihrer Überprüfung aber verpflichtet, alternative Maßnahmen zur Erreichung des Haftzwecks zu berücksichtigen.77 Es handelt sich hierbei um eine Einzelfallentscheidung, der eine Abwägung zwischen den Allgemeininteressen einerseits und den Interessen des Betroffenen andererseits zugrunde liegt.78 Zunächst ist das Fortbestehen eines hinreichenden Tatverdachts conditio sine qua non für die Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Haft,79 aber nach einiger Zeit genügt dieser alleine als Begründung nicht mehr. Vielmehr muss dann überprüft werden, ob andere Motive wie Schwere der Tat, Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr, Wiederholungsgefahr oder die Ermöglichung einer ordentlichen Verfahrensführung ebenfalls fortbestehen.80 Liegen ausreichende Haftgründe vor, überprüft der EGMR in einem zweiten Schritt, ob die nationalen Behörden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben haben,81 insb ob sie die Ermittlungstätigkeiten zügig vorangebracht und das Verfahren nicht durch behördeninterne Schwierigkeiten verzögert haben.82 c) Recht auf richterliche Haftprüfung gem Art 5 IV EMRK
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Das in Art 5 IV EMRK garantierte Recht auf richterliche Haftprüfung spiegelt die angelsächsische „Habeas corpus-Doktrin“ wider. Die Garantie des Art 5 IV EMRK gilt für alle in Art 5 I EMRK vorgesehenen Formen der Haft. Die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Inhaftnahme („lawfulness“) erfolgt am Maßstab des internen Rechts und des VR.83 74 EGMR, HRLJ 1988, 293, Rn 61 – Brogan. 75 EGMR, Urt v 16.10.2001, Rn 46 – O’Hara (6 Tage); HRLJ 1997, 221, Rn 78 – Aksoy (14 Tage); Rep 1998-VI, Rn 40 – Demir (16 und 23 Tage); Rep 1997-VII, Rn 45 – Sakik (12 und 14 Tage). 76 EGMR, Series A, Vol 321, Rn 55 – Van der Tang; HRLJ 1995, 286, Rn 50 – Yag˘ci; Series A, Vol 319-B, Rn 52 – Mansur; EuGRZ 1994, 101, Rn 84 – Tomasi; HRLJ 1992, 112, Rn 67 – Toth; HRLJ 1992, 42, Rn 45 – Kemmache (Nr 1 & 2); HRLJ 1991, 302, Rn 35 – Letellier; Series A, Vol 8, Rn 5 – Neumeister; Series A, Vol 7, Rn 12 – Wemhoff; z insoweit bestehenden Unterschied zu Art 6 EMRK: EGMR, Series A, Vol 9, Rn 5 – Stögmüller. 77 So EGMR, Urt v 20.1.2004, Rn 84 – G.K./Polen; oder auch EGMR, Urt. v. 4.7.2006, Rn 41 – Dzyruk, hinsichtlich der Sicherstellung des Erscheinens vor Gericht. 78 EGMR, Urt v 4.10.2001, Rn 58 – Ilowiecki; Rep 1996-VI, Rn 74 – Scott; Series A, Vol 321, Rn 55 – Van der Tang; EuGRZ 1993, 384, Rn 30 – W./Schweiz; vgl Series A, Vol 7, Rn 10 – Wemhoff. 79 EGMR, Urt v 4.10.2001, Rn 59 – Ilowiecki; RUDH 1990, 158, Rn 42 – B./Österreich; Series A, Vol 9, Rn 4 – Stögmüller. 80 EGMR, Urt v 20.1.2004, Rn 84 – G. K./Polen; Rep 1997-II, 374, Rn 35 – Muller; Series A, Vol 321, Rn 55 – Van der Tang; EuGRZ 1993, 384, Rn 30 – W./Schweiz; EuGRZ 1994, 101, Rn 84 – Tomasi; HRLJ 1992, 117, Rn 36 – Clooth; HRLJ 1992, 112, Rn 67 – Toth; HRLJ 1992, 42, Rn 45 – Kemmache (Nr 1 & 2); HRLJ 1991, 302, Rn 35 – Letellier; Urt v 20.1.2004, Rn 84 – G. K./Polen. 81 EGMR, Urt v 31.7.2001, Rn 46 – Zannouti; Urt v 26.7.2001, Rn 42 ff – Kreps. 82 EGMR, Urt v 2.12.2003, Rn 85 – Matwiejczuk; Series A, Vol 224, Rn 76 f – Toth; Urt v 8.11. 2007, Rn 107 f – Lelièvre (Zeitspanne von zwei Jahren zwischen Übermittlung der Untersuchungsakte und Eröffnung des Verfahrens). 83 EGMR, RUDH 1997, 365, Rn 127 – Chahal; EuGRZ 1988, 316, Rn 57 – Weeks.
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Die Haftprüfung muss beantragt werden.84 Der Anspruch entsteht immer dann, wenn eine Verwaltungsbehörde die Inhaftnahme verfügt hat.85 Hat hingegen ein Gericht die Haft angeordnet, so ist zu differenzieren zwischen der Haft im Anschluss an die Verurteilung und der Untersuchungshaft. In dem Urt des zuständigen Gerichts findet grundsätzlich die Überprüfung der Haft im Sinne des Art 5 IV EMRK statt.86 Bei Fortdauer der Haft besteht ein Anspruch auf Haftprüfung nur dann, wenn neue Umstände die Rechtmäßigkeit der Haft nachträglich in Frage stellen können.87 Die Haftprüfung muss „in angemessenen Abständen“ erfolgen.88 Die überprüfende Behörde muss gerichtlichen Charakter aufweisen.89 Sie darf nicht nur beratend tätig werden, sondern muss verbindliche Entscheidungen treffen können. Im Haftprüfungsverfahren müssen nicht alle Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK erfüllt werden. Grundlegende Garantien wie der Grundsatz der Waffengleichheit 90 sind jedoch zu gewährleisten. Im Einzelnen verlangt die Rspr die persönliche Anhörung 91, den Anspruch auf Rechtsvertretung 92, die Angabe einer Begründung für die Inhaftierung sowie das Recht auf umfassende Akteneinsicht.93 Die verweigerte Akteneinsicht muss sich auf jene Teile der Akten beziehen, welche die Verdächtigung in Frage stellen würde und für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eine Rolle gespielt hätte.94
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d) Das Recht auf Haftentschädigung Art 5 V EMRK sieht eine Entschädigung für EMRK-widrige Haft vor. Die Vorschrift begründet direkte Ansprüche für Privatpersonen.95 Die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch sind, dass der Betroffene unter Verletzung der Art 5 I bis IV in Haft genommen wurde und er infolgedessen einen materiellen oder immateriellen Schaden erlitten hat.96 Für die Anwendbarkeit von Art 5 V ist es jedoch unerheblich, ob die Kon-
84 EGMR, Series A, Vol 12, Rn 82 f – De Wilde; Series A, Vol 129, Rn 55 – Bouamar; Villiger EMRK, Rn 366. 85 EGMR, EuGRZ 1985, 642, Rn 31 – Luberti; EuGRZ 1976, 221, Rn 77 – Engel; Series A, Vol 12, Rn 76 f – De Wilde. 86 EGMR, Urt v 20.1.2004, Rn 19 – König; Series A, Vol 325-C, Rn 30 – Pérez. 87 EGMR, EuGRZ 1979, 650, Rn 55 – Winterwerp; EuGRZ 1984, 6, Rn 45 ff – Van Droogenbroeck; Series A, Vol 325-C, Rn 30 – Pérez; EKMR, DR 40, 5, 26; Villiger EMRK, Rn 368. 88 EGMR, EuGRZ 1979, 650, Rn 55 – Winterwerp; dazu auch Urt v 24.7.2001, Rn 37 ff – Hirst. 89 EGMR, HRLJ 1993, 184, Rn 58 – Brannigan. 90 EGMR, Urt v 21.7.2003, Rn 118 – Hristov; NJW 2002, 2015, Rn 44 – Schöps. 91 EGMR, Urt v 20.1.2004, Rn 93 f – G. K./Polen; ECHR 1999-II (Große Kammer), Rn 58 – Nikolova; EuGRZ 1979, 650, Rn 60 – Winterwerp. 92 Peukert in: Frowein/Peukert, Art 5 EMRK Rn 143; EGMR, Urt v 25.10.2007, Rn 87 – Lebedev, wonach den Staat zwar keine positive Pflicht trifft, Rechtsbeistand zu gewähren, aber doch die negative Verpflichtung besteht, die effektive Unterstützung nicht zu behindern. 93 EGMR, NJW 2002, 2018, Rn 42 – Garcia Alva; NJW 2002, 2013, Rn 47 – Lietzow; NJW 2002, 2015, Rn 44 – Schöps. Dazu Kieschke/Osterwald NJW 2002, 2003 ff. 94 EGMR, Urt v 11.3.2008 – Falk (Unzulässigkeitsentscheidung). 95 Charrier Code de la Convention européenne des Droits de l’Homme, 2000, Art 5 Rn 45. 96 EGMR, Series A, Vol 145-B, Rn 67 – Brogan; RUDH 1990, 425, Rn 38 – Wassink; RUDH 1990, 466, Rn 29 – Keus; Rep 1997-III, Rn 64 ff – Tsirlis; EKMR, DR 19, 213, 219; DR 42, 127, 131; DR 52, 236, 242; DR 77-A, 98, 107; DR 81-B, 130, 133.
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ventionswidrigkeit der Haft durch ein nationales Gericht festgestellt worden ist.97 Nach st Rspr des EGMR ist Art 5 V dann verletzt, wenn der Geschädigte weder vor noch nach der Feststellung der Konventionswidrigkeit einen durchsetzbaren Anspruch auf Entschädigung hat.98 Für die Bemessung des immateriellen Schadens gelten die Grundsätze des Art 41 EMRK.99
4. Gewährleistungspflichten 33
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Aus dem ersten Satz des Art 5 I werden in Anlehnung an die Rspr des EGMR zu den Art 2, 3 und 8 und unter Berufung auf die Bedeutung der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft Gewährleistungspflichten („positive obligations“) des Staates abgeleitet. Der Staat ist verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die einen effektiven Schutz der persönlichen Freiheit besonders schutzbedürftiger Personen sicherstellen, einschließlich angemessener Schritte, die Freiheitsentziehungen verhindern, von denen die Behörden Kenntnis haben oder haben sollten.100 Strafrechtliche Sanktionen (selbst mit hohen Freiheitsstrafdrohungen) und zivilrechtliche Schadensersatzansprüche lässt der EGMR im Gegensatz zur (oder wenigstens in Fortentwicklung der) Judikatur zu anderen Konventionsrechten nicht genügen. Lösung Fall 1: Der wirkliche Grund für die Festnahme des Beschwerdeführers wurde erstmals genannt, als seinem Vertreter am 5.1.2001 mitgeteilt wurde, dass der Asylwerber die Voraussetzungen für das in Oakington eingerichtete Eilverfahren erfülle. Zu dieser Zeit befand er sich bereits seit rund 76 Stunden in Haft. Unter der Annahme, dass die mündliche Mitteilung der Gründe gegenüber dem Vertreter des Beschwerdeführers den Anforderungen des Art 5 II EMRK entsprach, erachtet der EGMR eine Verzögerung von 76 Stunden als unvereinbar mit dem Erfordernis, dass solche Gründe innerhalb möglichst kurzer Frist mitgeteilt werden müssen. Daher liegt eine Verletzung von Art 5 II EMRK vor.101
II. Justizgrundrechte im Zusammenhang mit Verfahren vor Gerichten 1. Das Recht des fair trial gem Art 6 I EMRK 35
Art 6 I EMRK bildet das Kernstück der Justizgrundrechte der EMRK. Die in ihm enthaltene Gerichtsgarantie lässt sich in Organisationsgarantien und in Verfahrensgarantien aufgliedern. Zu den Organisationsgarantien gehört das Recht auf Zugang zu einer mit gewissen Mindestgarantien ausgestatteten Spruchinstanz (b). Die Verfahrensgarantien umfassen neben der allgem Garantie des fairen Verfahrens einschließlich besonderer Verfahrensrechte im Strafprozess (c) das Gebot der Verfahrensöffentlichkeit (d) sowie das
97 EGMR, Urt v 16.10.2003, Rn 31 – Wynne; Series A, Vol 190-A, Rn 82 – Thynne, Wilson und Gunnel. 98 EGMR, Series A, Vol 182, Rn 46 – Fox, Campbell und Hartley; Series A, Vol 145-B, Rn 67 – Brogan. 99 Villiger EMRK, Rn 374. 100 EGMR, Urt v 16.6.2005, Rn 98, 102, 105 – Storck, der Staat unterliege insb der Pflicht, Aufsicht und Kontrolle über private psychiatrische Einrichtungen auszuüben. 101 EGMR, Urt v 29.1.2008, Rn 81 ff – Saadi.
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Gebot der angemessenen Verfahrensdauer (e). Art 47 und Art 48 GRCh enthalten ebenfalls entsprechende Rechtsgarantien, ohne jedoch die Beschränkungen des Schutzbereichs des Art 6 EMRK aufzuweisen.102 a) Der Schutzbereich des Art 6 I EMRK Wie bei keinem anderen Grundrecht der EMRK hat die Umschreibung des Schutzbereichs Aufmerksamkeit in Judikatur und Lehre erfahren. Art 6 I EMRK garantiert die Verfahrensgrundrechte für alle Verfahren, in denen entweder über zivilrechtliche Streitigkeiten („civil rights“) oder über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage („criminal charge“) entschieden wird. Zum Inhalt des Begriffs „civil rights“ gelangt man auf der Grundlage einer rechtsinhaltsbezogenen Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht auf der Basis der Rechtsvergleichung, wobei die klassische kontinental-europäische Begriffsbildung maßgeblich ist. Der Begriff umfasst nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Privaten ieS, sondern auch bestimmte öffentlich-rechtliche Verfahren, welche Auswirkungen auf Vertragsbeziehungen103 oder auf vermögenswerte Positionen104 („Auswirkungsjudikatur“) haben. In Verfahren über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und Abgaben wird eine Abwägung zwischen privat- und öffentlich-rechtlichen Aspekten der Streitigkeit vorgenommen („Abwägungsjudikatur“).105 Für die Frage der Anwendbarkeit auf beamtenrechtliche Streitigkeiten kam es nach der jüngeren Judikatur des EGMR für die Eröffnung des Schutzbereichs darauf an, welche Funktion der Beamte bekleidet. War der Beamte zur Ausübung von hoheitlichen Befugnissen ermächtigt, so war die Streitigkeit regelmäßig nicht vom Grundrecht erfasst.106 Von dieser Position ist der EGMR nunmehr explizit abgerückt, indem er von der Vermutung der Anwendbarkeit des Art 6 ausgeht.107 Schließlich fallen auch Verfahren, die einen vermögenswerten Gegenstand haben oder sich auf behauptete Verletzungen gründen, die ihrerseits vermögenswerte Rechte betreffen, ungeachtet verwaltungsbehördlicher Zuständigkeiten in den Schutzbereich des Art 6 EMRK.108 Hierzu gehört auch das verfahrensgegenständliche Recht selbst, und nicht nur die Auswirkungen auf ein vermögenswertes Recht.109 Nicht in den Schutzbereich fallen von vornherein Streitigkeiten aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts. Dazu gehören staatsbürgerschaftliche Angelegenheiten, Asylverfahren, Verfahren über das Aufenthaltsrecht von Ausländern, Verfahren über das Wahl-
102 103 104 105 106
107 108 109
Jarras GR, § 40 Rn 1 ff, § 41 Rn 41 ff. EGMR, EuGRZ 1978, 406, Rn 90 – König. EGMR, HRLJ 1992, 419, Rn 40 – Editions Périscope. EGMR, Series A, Vol 304, Rn 51 – Schouten; NJW 1989, 652, Rn 60 ff – Deumeland = JK 12/89, EMRK Art 6 I/1. EGMR, NVwZ 2000, 661, Rn 64 ff – Pellegrin. Der EGMR verweist für die Abgrenzung dabei hilfsweise auf die Ausnahme des Art 39 IV EGV; zu dieser Problematik umfassend Widmaier ZBR 2002, 244, 252 ff. EGMR, Urt v 19.4.2007 (Große Kammer), Rn 62 – Eskelinen; krit Grabenwarter EMRK, § 24 Rn 11. EGMR, Rep 1997-II, Rn 30 – Paskhalidis ua; Series A, Vol 234-B, Rn 40 – Editions Périscope; vgl dazu Grabenwarter (Fn 4) S 44 ff. EGMR, EuGRZ 1988, 452 Rn 32 – Bodén.
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recht sowie abgabenrechtliche Verfahren, welche den Umfang der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern betreffen.110 Auch die Abgrenzung der strafrechtlichen Streitigkeiten ist letzten Endes rechtsinhaltsbezogen. Denn der EGMR wählt das nationale Recht als Ausgangspunkt und ordnet alle strafrechtlichen Verfahren nach nationalem Recht dem Schutzbereich zu. Darüber hinausgehend sind aber alle Verfahren von Art 6 EMRK erfasst, bei denen eine Zuordnung nach der Natur der Zuwiderhandlung sowie der Art und Schwere der Sanktion sinnvoll erscheint, wobei von diesen drei Kriterien jeweils nur eines vorliegen muss.111 Auf der Tatbestandsseite ist hierbei entscheidend, dass der sachliche und persönliche Anwendungsbereich der Norm nicht von vornherein auf spezifische Personengruppen beschränkt ist. Auf der Rechtsfolgenseite ist entscheidend, dass Sanktionen mit präventivem und repressivem Charakter drohen. Nach diesem Kriterium fällt etwa das Ordnungswidrigkeitenrecht unter Art 6 EMRK,112 nicht aber das Disziplinarrecht. Das Disziplinarrecht ist nur dann von Art 6 EMRK umfasst, wenn das dritte Kriterium einer gewichtigen Strafdrohung erfüllt ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Gewicht der insgesamt zu gewärtigenden negativen Konsequenzen, die für den Beschuldigten auf dem Spiel stehen, hinreichend ist.113 Das wird in der Rspr jedenfalls für mehr als nur geringfügige Haftstrafen sowie für Geldstrafen angenommen, wenn ersatzweise eine Freiheitsstrafe verhängt wird oder droht.114 Auch der Entzug der Berufsberechtigung als typische schwerste Sanktion des Disziplinarrechts freier Berufe begründet die Anwendbarkeit des Art 6 EMRK unter strafrechtlichen Gesichtspunkten.115 Schließlich unterliegt auch der Begriff der Anklage („charge“) einer autonomen Interpretation im Sinne der Konvention, wobei der EGMR davon ausgeht, dass eine „criminal charge“ ab dem Zeitpunkt vorliegt, in dem der Betreffende offiziell von der zuständigen Behörde darüber informiert wird, dass ihm die Begehung einer Straftat vorgeworfen wird.116 b) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht
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Das Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden, unabhängigen und unparteiischen Gericht („tribunal“) bildet eine Organisationsgarantie. Mit dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sollen ad hoc-Zugriffe auf die Gerichtsorganisation durch die Exekutive vermieden werden, es dient mittelbar auch der Unabhängigkeit. Dieser Gesetzesvorbehalt umfasst vor allem die Zusammensetzung des Gerichts, seine Organisation im Übrigen sowie seine Zuständigkeit.117 Die Unabhängigkeit des Gerichts setzt die (grund-
110 Aus der Judikatur EGMR, RUDH 1997, 73, Rn 45 ff – Pierre-Bloch; ECHR 2000-X, Rn 35 ff – Maaouia; ECHR 2001-VII, Rn 29 – Ferrazzini; sowie die Nachw bei Grabenwarter (Fn 4) S 49 ff. 111 Näheres bei Grabenwarter EMRK, § 24 Rn 17 ff. 112 EGMR, EuGRZ 1985, 62, Rn 47 ff – Öztürk. 113 EGMR, ECHR 2003-X, Rn 130 – Ezeh und Connors. 114 EGMR, Series A, Vol 177, Rn 22, 34 – Weber. 115 Grabenwarter (Fn 4) S 100 f; österreichischer Verfassungsgerichtshof Slg 11506/1987; die Rspr des EGMR lässt die Frage offen, ob Berufsverbote eine ausreichend schwere Strafe bilden, bejaht aber die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK, da er in der Verhängung eines Berufsverbots eine Entscheidung über ein „civil right“ sieht; zB EGMR, Series A, Vol 325-A, Rn 28 – Diennet; EuGRZ 1981, 551, Rn 53 – Le Compte ua. 116 EGMR, EuGRZ 1980, 667, Rn 46 – Deweer. 117 Ausf dazu Grabenwarter EMRK, § 24 Rn 30 f.
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sätzliche) Unabsetzbarkeit der Mitglieder, ihre Unversetzbarkeit, ihre Weisungsfreiheit und eine bestimmte Mindestamtsdauer voraus. Die Unabhängigkeit ist zugleich auch eine Voraussetzung der Unparteilichkeit eines Gerichts.118 Unparteiisch ist ein Gericht nur dann, wenn weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht eine Befangenheit der Richter des betreffenden Gerichts gegeben ist. Die subjektive Prüfung stellt auf die persönliche Beziehung zwischen dem konkreten Richter und der Partei des Verfahrens ab; die Unparteilichkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Der Betroffene kann auf die Unparteilichkeit des Gerichts verzichten.119 Eine rassistische Bemerkung eines Mitglieds des Gerichts in einem Verfahren gegen einen afrikanischen Einwanderer kann die Unparteilichkeit in dieser Hinsicht vernichten.120 Die objektive Prüfung abstrahiert von den Einzelpersonen und fragt abstrakt, ob nach den Organisations- und Verfahrensvorschriften, insb nach der Reichweite und Natur der von einem Richter im Vorfeld des Verfahrens gesetzten Maßnahmen, eine Befangenheit angenommen werden muss.121 Schließlich muss das Gericht über hinreichende Entscheidungsbefugnisse in Rechts- und Tatsachenfragen verfügen.122 Das Recht auf Zugang zu Gericht ist nicht absolut gewährleistet, sondern unterliegt Beschränkungen, die zulässig sind, solange sie ein legitimes Ziel verfolgen und soweit ein vernünftiges Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und den damit angestrebten Zielen besteht. Die Schranken dürfen den Gerichtszugang nicht so erschweren, dass der Wesensgehalt („very essence“) des Rechts verletzt wird.123 Der Zugang zum Gericht darf mit anderen Worten Beschränkungen unterworfen werden, die im Hinblick auf das verfolgte Ziel dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Für die Frage nach dem legitimen Ziel und den in der Abwägung zu berücksichtigenden Mitteln finden sich mehrfach Hinweise in der Rspr des EGMR. Beginnend mit dem Fall Golder führt der EGMR in stRspr aus, dass das Recht auf Zugang zu Gericht schon seiner Natur nach nach einer Regelung durch den Staat verlange, die nach Ort und Zeit wechseln könne, abhängig von den Bedürfnissen und den Mitteln der Gemeinschaft und der Einzelpersonen.124 Beschränkungen des Zugangs zu Gericht können Ziele verfolgen, die sich je nach Art der Beschränkung, je nach Art des Gerichts und je nach der betroffenen Rechtsordnung unterscheiden können. Sie können im Schutz vor missbräuchlichen und wiederholten Klagen 125 ebenso liegen wie in der Vermeidung eines Durcheinanders von Rechtsbehelfen einer Vielzahl von Aktionären im Falle einer weitreichenden Verstaatlichungsmaßnahme126 oder in der Sicherung der Unabhängigkeit des Berichtswesens von Kontrollorganen über die Geschäftsführung von bestimmten Kapitalgesellschaften127. Eine weitere
118 119 120 121
122 123 124 125 126 127
Peukert in: Frowein/Peukert, Art 6 EMRK Rn 41. Näheres dazu bei Grabenwarter EMRK, § 18 Rn 31 f. EGMR, Rep 1996-II, Rn 47 f – Remli. EGMR, EuGRZ 1985, 407, Rn 26 – De Cubber; ECHR 2000-VI, Rn 45 – Morel; s dazu auch Urt v 10.8.2006, Rn 43 ff – Schwarzenberger, anlässlich der Mitwirkung zweier Richter, die bereits an der Verurteilung des mutmaßlichen Mittäters des Beschwerdeführers mitgewirkt und in diesem Urt den Beschwerdeführer betreffende Aussagen getätigt hatten, an der Entscheidung. Vgl EGMR, RUDH 1993, 399, Rn 29 – Zumtobel. EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 57 – Ashingdane; EuGRZ, 1988, 350, Rn 194 – Lithgow; EuGRZ 1991, 335, Rn 59 – Philis; Villiger EMRK, Rn 431. EGMR, EuGRZ 1975, 91, Rn 38 – Golder. EGMR, EuGRZ 1986, 8, Rn 58 – Ashingdane. EGMR, EuGRZ, 1988, 350, Rn 197 – Lithgow. EGMR, HRLJ 1994, 344, Rn 70 – Fayed.
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Gruppe möglicher Beschränkungen bilden die Bedingungen, die das nationale Verfahrensrecht für die Zulässigkeit von Klagen oder Rechtsmitteln, wie Fristen, (absoluter oder relativer) Anwaltszwang, Formvorschriften, Genehmigung der Prozessführung128, Sicherheiten für Kosten oder Klageerhebungsgebühren129 aufstellt. Ferner können auch völkerrechtliche Immunitäten130 und die parlamentarische Immunität eine angemessene Beschränkung des Zugangs zu Gericht bilden.131 c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens 43
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Das Recht, „in billiger Weise“ gehört zu werden, bringt den Grundsatz des fairen Verfahrens („fair hearing“) zum Ausdruck. Es beinhaltet eine Vielzahl von Teilgarantien, die alle auf das Ziel eines Verfahrensablaufs gerichtet sind, in dem die Parteien unter im Wesentlichen gleichartigen Bedingungen ihren Prozessstandpunkt vertreten können.132 Dieser Anspruch verlangt insb, dass der Betroffene seine Rechtsposition effektiv vertreten kann. Zum Fairnessgrundsatz gehören zunächst Teilgewährleistungen, wie der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Akteneinsicht, der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Begründung von Entscheidungen. Daneben werden Rechte des Angeklagten als Ausdruck des Fairnessgebots angesehen, die einerseits in Art 6 III und II EMRK verankert sind und andererseits in der Rspr entwickelt wurden, wie zB der Grundsatz des nemo tenetur. In manchen Fällen begnügt sich der Gerichtshof auch mit der Feststellung, dass das betreffende Verfahren insgesamt nicht den Erfordernissen eines fairen Verfahrens genügt, ohne eine der Teilgarantien speziell als verletzt zu erachten.133 In anderen Fällen zieht der EGMR den Grundsatz des fairen Verfahrens in Zusammenschau mit einer der in Art 6 I ausdrücklich gewährleisteten Garantien als Prüfungsmaßstab heran.134 Mitunter prüft der Gerichtshof einzelne Teilaspekte des Art 6 EMRK, nachdem er bereits die Feststellung getroffen hat, dass ein Verfahren in seiner Gesamtheit einen nicht fairen Charakter aufweist.135 aa) Der Grundsatz der Waffengleichheit
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Der Grundsatz der Waffengleichheit ist Bestandteil des Fairnessgebots des Art 6 I EMRK und bildet gleichzeitig eine besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes.136 Danach muss jede Partei Gelegenheit haben, ihren Fall einschließlich ihrer Beweise zu präsentieren, und zwar unter Bedingungen, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner darstellen.137 Das bedeutet, dass die einander gegenüberstehenden Parteien verfahrensrecht-
128 EGMR, Series A, Vol 93, Rn 59 – Ashingdane. 129 EGMR, ECHR 2001-VI, Rn 61 ff – Kreuz (Einhebung einer Klageerhebungsgebühr in der Höhe eines durchschnittlichen Jahresgehalts als unverhältnismäßige Erschwerung des Zugangs zu Gericht). 130 EGMR, NJW 1999, 1173, Rn 59 ff – Waite = JK 12/99, EMRK Art 6/2. 131 Dazu Matscher ÖZÖR 1980, 20 f. 132 Miesler/Vogler in: Int EMRK, Art 6 Rn 341. 133 So etwa in EGMR, NJW 2004, 2505, Rn 55 ff, 62 ff – Van Kück. 134 So etwa EGMR, Urt v 20.10.2005, Rn 29 – Groshev. 135 EGMR, Urt v 11.7.2006 (Große Kammer), Rn 109 ff – Jalloh; z Verhältnis zwischen allgem Grundsatz und den Teilgarantien s auch Trechsel, Human Rights, 2005, 86 ff. 136 Vgl Grabenwarter (Fn 44) S 596 f. 137 EGMR, RUDH 1993, 426, Rn 33 – Dombo Beheer; Rep 1996-V, Rn 38 – Ankerl.
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lich grundsätzlich gleichgestellt werden müssen. Es kommt nicht darauf an, ob die Gegenpartei den Vorteil tatsächlich ausgenutzt hat, sondern ob ein solcher abstrakt besteht, und ob dieser von der Partei ausgenutzt werden könnte.138 bb) Anspruch auf rechtliches Gehör Aus Art 6 EMRK folgt auch eine dem Art 103 I GG korrespondierende Garantie. Voraussetzung für die effektive Ausübung des rechtlichen Gehörs ist es, dass die Parteien Kenntnis vom Akteninhalt, insb von den von der gegnerischen Partei vorgebrachten Stellungnahmen und Beweismitteln haben.139 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit auch, über welche Möglichkeiten der Stellungnahme die Gegenseite verfügte. Gab es hier einen Wissensvorsprung einer Partei gegenüber den anderen Parteien und konnte diese folglich weitergehende Stellungnahmerechte ausüben, so bedeutet das regelmäßig eine Verletzung des Art 6 EMRK.140 Werden dem Angeklagten bestimmte Beweismittel wegen des Schutzes widerstreitender Interessen, wie etwa jenen der öffentlichen Sicherheit oder des Schutzes von Zeugen, nicht offengelegt, so muss durch die Einhaltung verfahrensrechtlicher Garantien insgesamt sichergestellt werden, dass dem Angeklagten ein faires Verfahren zuteil geworden ist.141 Ebenso muss es dem Betroffenen möglich sein, die Authentizität und die Verwendung von Beweismitteln, die unter Bruch eines anderen Konventionsrechts erlangt worden sind, in allen Verfahrensstadien in Frage zu stellen.142 Mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch der Anspruch auf Begründung der Entscheidungen verbunden. Das Ausmaß der Begründungspflicht hängt dabei entscheidend von der konkreten Verfahrenssituation und dem Rechtssystem ab. So hängt es von der jeweiligen nationalen Rechtsstaatsvorstellung ab, wie groß das Ausmaß der Begründung sein muss.143 Aus der Perspektive der Verfahrenssituation ist maßgeblich, welches Parteivorbringen im Verfahren erfolgte, ob es sich um eine Entscheidung erster Instanz oder höherer Instanz handelte und schließlich von welcher Präzision die angewendeten gesetzlichen Bestimmungen sind. Bei Ermessensentscheidungen ist die Begründungspflicht regelmäßig höher.144
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cc) Besondere Rechte des Angeklagten Art 6 III EMRK enthält eine demonstrative Aufzählung von Rechten des Angeklagten.145 In der Rspr des EGMR ist klargestellt, dass diese ihrerseits Bestandteile des Konzepts des fairen Verfahrens nach Art 6 I EMRK sind. Alle diese Garantien sind vom Gedanken der Effektivität der Verteidigung geprägt, sei es, dass ein bestimmtes Zeitmoment normiert ist,146 sei es, dass Nachteile aus Sprachproblemen des Angeklagten hintangehalten wer-
138 139 140 141 142 143 144 145
EGMR, EuGRZ 1991, 519, Rn 27 f – Borgers; vgl aber Urt v 4.10.2007, Rn 32 ff – Corcuff. EGMR, EuGRZ 1992, 190, Rn 66 f – Brandstetter; EuGRZ 1993, 453, Rn 63 – Ruiz-Mateos. EGMR, EuGRZ 1993, 453, Rn 67 – Ruiz-Mateos. EGMR, Urt v 19.6.2001, Rn 40 f – Atlan; ECHR 2000-II, Rn 61 – Rowe und Davis. EGMR, ECHR 2000-V, Rn 38 ff – Khan. EGMR, Series A, Vol 303-B, Rn 27 – Hiro Balani. EGMR, RUDH 1994, 401, Rn 55 – De Moor; Series A, Vol 127-B, Rn 53 – H./Belgien. Ein systematischer Vergleich zwischen den Verfahrensgarantien im dt Strafprozess und den Gewährleistungen der EMRK findet sich bei Eisele JR 2004, 12 ff. 146 Möglichst kurze Frist der Information über Art und Grund der Beschuldigung – Art 6 III lit a EMRK; ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung – lit b.
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den,147 sei es, dass der Kontakt mit dem Verteidiger sichergestellt wird,148 sei es, dass ökonomische Nachteile für die Verteidigung ausgeglichen werden149 oder sei es, dass die Effektivität und die Waffengleichheit in der Hauptverhandlung sichergestellt werden.150 Insb zum Zeugen- und Sachverständigenbeweis hat sich eine umfangreiche Judikatur des EGMR herausgebildet. Nach Art 6 III lit d EMRK hat der Angeklagte das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Bei der Ermittlung der Pflichten des Gerichts zur Ladung von Zeugen und Sachverständigen ist nach der Judikatur des EGMR zu fragen, ob die Nichtladung oder Nichtzulassung von Fragerechten durch legitime Gründe gerechtfertigt werden kann. Dabei ist zwischen dem Gewicht dieser Gründe und den Nachteilen für den Angeklagten abzuwägen.151 Zu den Rechten des Angeklagten gehört auch das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu beschuldigen („nemo tenetur“), das im dt Recht in § 136 I 2 StPO positiviert ist und in der Menschenwürde nach Art 1 I GG wurzelt.152 Der „nemo tenetur“-Grundsatz ist in Art 6 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt, wird vom Gerichtshof aber zum Kernbereich eines fairen Verfahrens gerechnet, wobei dieser stets auf den engen Zusammenhang mit der Unschuldversmutung gem Art 6 II EMRK hinweist.153 Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, den Beschuldigten zu überführen, ohne hierfür auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwangs- oder Druckmittel ohne den Willen des Beschuldigten erlangt wurden.154 Die Garantie ist nicht lediglich auf Aussagen beschränkt,155 sondern umfasst auch den Zwang zur eigenhändigen Herausgabe von Beweismaterial.156 Nicht geschützt sind Ergebnisse von Atem-, Blut-, Urin- oder Körpergewebeproben, die unter Zwang erreicht wurden, deren Existenz jedoch nicht vom Willen des Beschuldigten abhängen.157 Es
147 „Verständliche Sprache“ der Information über die Anklage – Art 6 III lit a EMRK; unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers – lit e. 148 Art 6 III lit c EMRK. 149 Unentgeltlicher Pflichtverteidiger – Art 6 III lit c EMRK; unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers – lit e. 150 Recht auf Anwesenheit und eigene Verteidigung – lit c; Waffengleichheit beim Zeugenbeweis – lit d. 151 Für Einzelheiten vgl Grabenwarter (Fn 4) S 636 ff mit umfangreichen Nachw aus der Rspr des EGMR. 152 BVerfGE 38, 105, 114 f; 55, 144, 150; 56, 37, 43. Ausf z Ganzen Müller EuGRZ 2001, 546 ff. 153 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 40 – Heany; Rep 1996-VI, Rn 68 – Saunders; EuGRZ 1996, 587, Rn 46, 58 – Murray. 154 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 40 – Heany; Rep 1997-VI, Rn 46 – Serves; Rep 1996-VI, Rn 68 – Saunders. 155 Das Recht zu schweigen ist nicht auf unmittelbar selbstbelastende Aussagen beschränkt, sondern umfasst auch Aussagen, die auf den ersten Blick nicht belastend erscheinen. Entscheidend ist, welche Verwendung die unter Zwang erlangten Aussagen im Verlauf eines Strafverfahrens finden (EGMR, Rep 1996-VI, Rn 71 – Saunders). 156 EGMR, RUDH 1993, 232, Rn 44 – Funke (anders als etwa Art 14 § 3g IPBPR). 157 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 40 – Heany; EGMR, Rep 1996-VI, Rn 69 – Saunders; Villiger EMKR, Rn 502.
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handelt sich weiterhin nicht um ein absolutes Recht,158 vielmehr kann es Beschränkungen unterworfen werden, solange dadurch nicht der Wesensgehalt der Garantie ausgehöhlt wird. Für die Beurteilung dieser Frage werden in der Rspr nach der Art eines beweglichen Systems folgende Gesichtspunkte als maßgeblich erachtet: die Art und Schwere des Zwangs zur Beweiserlangung, das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Straftat und der Bestrafung des Täters, die Existenz angemessener Verfahrensgarantien und die Verwertung der somit erlangten Beweismittel.159 So ist etwa das Ziehen nachteiliger Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen vereinbar mit der Garantie.160 So verneint der EGMR beispielsweise eine Verletzung von Art 6 I EMRK, wenn ein Strafverfahren zum Zeitpunkt der Aussageverweigerung noch gegen unbekannt und nicht gegen den Auskunftspflichtigen geführt wird und allenfalls als Folge der (verweigerten) Aussage gegen diesen eingeleitet wird, sofern der Zusammenhang mit den Strafverfahren lose und hypothetisch bleibt.161 Hingegen vermag die Verabreichung eines Brechmittels in Form von chemischen Substanzen über eine mit Zwang gelegte Magen-Darm-Sonde durch öffentliche Interessen an der Verfolgung eines Straßendealers nicht gerechtfertigt zu werden, wenn die zur Verfügung stehenden Verfahrensrechte nicht genutzt werden konnten und der erlangte Beweis später verwertet wird.162 Schließlich gehört das Prinzip der Unschuldsvermutung zu den Rechten des Angeklagten, wenngleich es neben der Garantie des fair trial selbständig geregelt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 II EMRK ein entspr rechtsstaatliches Gebot nach dem GG angenommen.163 Das Gebot der Unschuldsvermutung hat mehrere Dimensionen. Im Vorfeld und während eines Strafverfahrens verbietet es Äußerungen staatlicher Behörden und Gerichte, wonach eine bestimmte Person eine strafbare Handlung begangen habe, noch bevor sie gerichtlich verurteilt wurde.164 Daneben verbietet es Art 6 II EMRK, wenn ein Angeklagter trotz Einstellung des Verfahrens und daher mangels Feststellung seiner Schuld dennoch zur Tragung der Verfahrenskosten verpflichtet wird, weil hieraus Schuldannahmen abgeleitet werden können.165 Selbst wenn Zweifel an der Unschuld bereits im Freispruch ausgedrückt werden oder wenn dieser nur aus Mangel an Beweisen erfolgt, ist jeder Ausdruck eines Schuldverdachts nach einem rechtskräftigen Freispruch mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar.166 158 EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 47 – Heany; Rep 2000-V, Rn 56 – Condron; EuGRZ 1996, 587, Rn 47 – Murray; s a EGMR, ZulE v 5.12.2000, Rn 2 – Randall. 159 S zB EGMR, ECHR 2000-XII, Rn 51–55 – Heany; EGMR, ECHR 2002-IX, Rn 44 – Allan; Urt v 11.7.2006 (Große Kammer), Rn 118 ff – Jalloh. 160 EGMR, Urt v 8.10.2002, Rn 53 ff – Beckles; vgl hierzu Ashworth/Strange E.H.R.L.R. 2004, 121, 134 ff; ECHR 2000-V, Rn 61 f – Condron; EuGRZ 1996, 587, Rn 50 f, 54 – Murray; s a EGMR, ZulE v 5.12.2000, Rn 2 – Randall. Hierzu auch Kühne EuGRZ 1996, 571 ff. Im Zusammenhang mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers EGMR, ECHR 2000-VI, Rn 43 – Magee. 161 EGMR, ÖJZ 2004, 853, Rn 53 ff – Weh (Verweigerung der Aussage über den Fahrzeuglenker seitens des Halters des Fahrzeuges – Zulassungsbesitzer – nach österreichischem Recht). 162 EGMR, Urt v 11.7.2006 (Große Kammer), Rn 118 ff – Jalloh. 163 BVerfGE 74, 358, 370. 164 EGMR, EuGRZ 1988, 390, Rn 51 – Schenk; RUDH 1995, 295, Rn 41 – Allenet de Ribemont. 165 Beginnend mit EGMR, RUDH 1993, 358, Rn 29 ff – Sekanina; dazu Pilnacek ÖJZ 2001, 546 ff; aus jüngerer Zeit EGMR, Urt v 21.3.2000, Rn 31 f – Asan Rushiti. 166 EGMR, Urt v 21.3.2000, Rn 31 f – Asan Rushiti; anders hingegen, wenn das Verfahren ohne Endurteil über Schuld oder Unschuld eingestellt worden ist (vgl hierzu auch ZulE v 1.4.2004 – Reinmüller).
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Schließlich hat der Staat auch eine Schutzpflicht gegenüber vorverurteilender Medienberichterstattung.167 d) Die Öffentlichkeit des Verfahrens 51
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Art 6 EMRK schreibt die Öffentlichkeit des Verfahrens in zweierlei Hinsicht vor: Zum einen gebietet er mündliche Verhandlungen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, zum anderen wird die Öffentlichkeit der verfahrensbeendenden Entscheidungen gefordert. Explizit wird die Medienöffentlichkeit im Rahmen der Ausschlusstatbestände erwähnt. Journalisten erfüllen in qualifizierter Weise den Begriff der Öffentlichkeit iSv Art 6 I EMRK, da sie durch ihre Berichterstattung den Hauptanteil an der Veröffentlichung des Verfahrens tragen. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage der Zulässigkeit von Tonoder Bildaufzeichnungen während der Verhandlung. Während die Öffentlichkeit der Entscheidungen vorbehaltlos gewährleistet wird, steht die Öffentlichkeit von Verhandlungen unter einem unmittelbar anwendbaren Eingriffsvorbehalt: Die Öffentlichkeit kann während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, ferner wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder unter besonderen Umständen, wenn die Öffentlichkeit die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde (in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang). Dieser Vorbehalt weist inhaltlich große Parallelen zu den Gesetzesvorbehalten der Art 8 bis 11 EMRK auf.168 Daneben hat die Rspr weitere Gründe entwickelt, aus denen eine öffentliche Verhandlung oder die öffentliche Verkündung eines Urt unterbleiben kann. Für die öffentliche Verhandlung geht die stRspr davon aus, dass keine Verletzung des Grundrechts vorliegt, wenn die betroffene Prozesspartei auf das Recht verzichtet hat. Ein solcher Verzicht wird angenommen, wenn er freiwillig und unzweideutig erfolgt ist. Das Kriterium der Unzweideutigkeit des Verzichts kann nach der Rspr des EGMR nicht nur bei einer ausdrücklichen Erklärung vorliegen, sondern auch dann, wenn diese durch eine konkludente Handlung erfolgt.169 Für strafrechtliche Verfahren gelten jedoch strengere Anforderungen hinsichtlich der Eindeutigkeit eines Verzichts, als dies bei zivilrechtlichen Verfahren der Fall ist, da bei ersteren ein Verzicht grundsätzlich ausdrücklich erklärt werden muss.170 Lediglich wenn es sich um Verfahren außerhalb des Kriminalstrafrechts handelt, in denen nur eine geringe Strafe droht, kann ein ausdrücklicher Verzicht unterbleiben.171 In zivilrechtlichen Verfahren hingegen liegt ein antragsbedürftiges Recht auf Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung vor, wenn die Anberaumung einer solchen vom nationalen Gesetz nicht zwingend vorgesehen, sondern in das Ermessen des Gerichts gestellt ist. Ein stillschweigender Verzicht wird folglich nur dann ausgeschlossen, wenn das Gesetz ausdrücklich vorsieht, dass keine mündliche Verhandlung stattfindet, ein Antrag daher mit Sicherheit
167 EKMR, DR 14, 112 f. 168 Für Einzelheiten und Abweichungen vgl ausf Grabenwarter (Fn 4) S 481 ff. 169 EGMR, Series A, Vol 263, Rn 58 – Schuler-Zgraggen; EGMR, EuGRZ 1992, 5, Rn 66 – Håkansson und Sturesson; EuGRZ 1981, 551, Rn 59 – Le Compte ua. 170 EGMR, Urt v 20.12.2001, Rn 26 – Baischer. 171 EGMR, Urt v. 23.11.2006 (Große Kammer), Rn 48 – Jussila.
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erfolglos bliebe,172 sowie in Fällen, in denen das innerstaatliche Recht keine Regelungen betreffend die Durchführung einer mündlichen öffentlichen Verhandlung enthält und es der Praxis der nationalen Gerichte entspricht, nicht öffentlich zu verhandeln.173 In Fällen, in denen eine Verhandlung ausschließlich auf Antrag oder entweder auf Antrag oder von Amts wegen anberaumt wird, verlangt der EGMR einen Antrag des Betroffenen, insb dann, wenn in der Praxis dieses Gerichts und vergleichbarer Gerichte entsprechende Verfahren regelmäßig ohne Verhandlung stattfinden.174 Ausnahmsweise ist ein Verzicht zur Rechtfertigung des Unterbleibens der Verhandlung aber dann nicht hinreichend, wenn dieser einem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderlaufen würde.175 In Rechtsmittelverfahren kann die Verhandlung auch ohne Verzicht unterbleiben, es sei denn, die Bedeutung und Notwendigkeit einer Verhandlung für die Beweiserhebung und -würdigung sowie für die Lösung von Rechtsfragen oder die Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Betroffenen machen sie erforderlich.176 Das Recht auf öffentliche Verkündung der Entscheidungen nach Art 6 I EMRK hat der EGMR in einer teleologischen Reduktion auf einen Anspruch auf Veröffentlichung des Urt beschränkt, um dem Standard der Urteilsveröffentlichung in den Vertragsstaaten zu entsprechen. Dabei reicht es aus, wenn der Kontrollzweck der Veröffentlichung durch eine andere Art und Weise, in der das Urt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ebenso gut wie bei öffentlicher Verkündung erfüllt wird.177 Das Recht erstreckt sich sowohl auf den Urteilsspruch als auch auf dessen Begründung.178 Die Beschränkungstatbestände für Verhandlungen sind auf die Urteilsveröffentlichung nicht anwendbar. Dem Gebot des Schutzes der Privatsphäre nach Art 8 EMRK kann durch Anonymisierungen von Entscheidungen Rechnung getragen werden.
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e) Das Gebot angemessener Verfahrensdauer Nach Art 6 I EMRK hat das Gericht „innerhalb einer angemessenen Frist“ zu entscheiden. Diese Garantie ist einerseits Bestandteil des Gebots effizienten gerichtlichen Rechtsschutzes, steht andererseits aber in einem Spannungsverhältnis zu den einzelnen Gewährleistungen des fairen Verfahrens, da ein Mehr an Verfahrensrechten regelmäßig das Verfahren verlängert.179 Insb im Strafverfahren geht es darum, die Ungewissheit über den Ausgang eines Strafverfahrens möglichst kurz zu halten. Die Berechnung der für das Grundrecht maßgeblichen Zeitspanne beginnt in Zivilverfahren mit der Erhebung der Klage,180 im Strafverfahren bereits vor Beginn des Hauptverfahrens in dem Zeitpunkt, in dem erste Schritte der Strafuntersuchung nach außen hin gesetzt werden.181 Bei verwal172 EGMR, Series A, Vol 325-A, Rn 31 – Diennet; Series A, Vol 127-B, Rn 54 – H./Belgien. 173 EGMR, Urt. v 21.9.2006, Rn 96 – Moser (z österreichischen Außerstreitgesetz 1854). 174 EGMR, RUDH 1994, 25, Rn 22 – Fredin (Nr 2); Series A, Vol 312-A, Rn 44 – Fischer; vgl hierzu Grabenwarter EMRK, § 24 Rn 90. 175 EGMR, EuGRZ 1992, 5, Rn 66 – Håkansson und Sturesson; Rep 1997-III, Rn 62 – Pauger. 176 Vgl Grabenwarter (Fn 4) S 526 mwN. 177 EGMR, EuGRZ 1985, 548, Rn 27 – Pretto. 178 EGMR, Urt v 17.1.2008, Rn 45 f – Ryakib Biryukov. 179 EGMR, EuGRZ 1978, 406, Rn 100 – König. 180 EGMR, HRLJ 1992, 419, Rn 43 – Editions Périscope. 181 EGMR, Urt v 2.10.2003, Rn 32 – Hennig; Series A, Vol 195-B, Rn 16 – Manzoni; Series A, Vol 57, Rn 34 – Corigliano; Series A, Vol 51, Rn 73 – Eckle; vgl hierzu auch Leigh in: Weissbrodt/ Wolfrum (Hrsg) The Right to a Fair Trial, 1997, 653.
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tungsgerichtlichen Verfahren kann auch die Dauer des vorangehenden Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen sein. Das Ende des Verfahrens bildet regelmäßig die abschließende Entscheidung der letzten Instanz sowie eines nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Verfahrens.182 Ein Strafverfahren endet auch durch die formelle Einstellung des Verfahrens, wobei der Angeklagte davon Kenntnis erlangen muss.183 Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stellt die Judikatur auf eine Einzelfallbetrachtung ab, in der vier Kriterien zur Anwendung gelangen.184 Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer: Wenn der Ausgang des Verfahrens für den Betroffenen von besonderer Bedeutung ist, so führt regelmäßig bereits eine kürzere Zeitspanne zu einer Verletzung. Besondere Bedeutung wird in Strafverfahren bei Inhaftierung des Beschwerdeführers, im Zivilverfahren bei familienrechtlichen Angelegenheiten oder bei Verfahren mit Auswirkungen auf den Lebensunterhalt des Betroffenen, wie etwa bei arbeitsrechtlichen185 und schadensersatzrechtlichen186 Verfahren oder Entscheidungen über Rentenansprüche,187 angenommen. Verfahren über die Verletzung eines Konventionsrechts aufgrund diskriminierender Behandlung wertet der EGMR ebenfalls als besonders bedeutend.188 Komplexität des Falles: Wenn ein Verfahren im Hinblick auf Sach- oder Rechtsfragen besondere Komplexität aufweist, kann eine vergleichsweise längere Verfahrensdauer gerechtfertigt sein (zB komplexe Wirtschafts-189 und Umweltstrafsachen190). Verhalten des Beschwerdeführers: Wenn der Beschwerdeführer durch sein Verhalten das Verfahren verzögert hat, so ist das bei der Beurteilung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Nicht zum Nachteil des Betroffenen darf berücksichtigt werden, wenn dieser alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ergreift.191 Vor allem im Strafverfahren ist nicht gefordert, dass der Angeklagte mit den Strafverfolgungsbehörden aktiv zusammenarbeitet.192 Verhalten der Behörden: Maßgeblich ist schließlich, ob die Behörden und Gerichte des Staates das Verfahren zügig betrieben haben oder aber längere Phasen der Inaktivität gezeigt haben. Aus Art 6 folgt ein Recht auf Verfahrensbeschleunigung.193 Auch punktuelle oder länger andauernde Überlastungen von Gerichten können zu Lasten des Staates gehen. Nach der Rspr hat der Staat sein Gerichtssystem so einzurichten, dass er den
182 EGMR, NJW 2001, 213, Rn 29 – Klein. Krit dazu Breuer Sonderheft Weber, Beilage zur NJW 2002, 6 ff. 183 EGMR, Urt v 4.4.2006, Rn 58 ff – Kobtsev. 184 Vgl hierzu exemplarisch EGMR, NJW 1989, 652, Rn 78 ff – Deumeland = JK 12/89, EMRK Art 6 I/1. 185 EGMR, Urt v 29.1.2004, Rn 56 – Kormacheva. 186 EGMR, Urt v 30.9.2004, Rn 70 – Krastanov. 187 EGMR, Rep 1996-IV, Rn 61 – Süßmann. 188 EGMR, Urt v 17.7.2008, Rn 48 – Orsˇusˇ, wo der EGMR die Bedeutung des Rechts auf Bildung als Verfahrensgegenstand betont. 189 Vgl EGMR, Urt v 13.7.2004, Rn 47 – Lislawska. 190 Vgl EGMR, Urt v 24.7.2003, Rn 86 – Smirnova. 191 EGMR, Urt v 11.12.2003, Rn 56 – Girardi; Series A, Vol 117, Rn 57 – Poiss; EuGRZ 1985, 548, Rn 34 – Pretto; vgl aber andererseits EGMR, ECHR 2003-IX, Z. 86 – Smirnova. 192 EGMR, EuGRZ 1983, 371, Rn 82 – Eckle. 193 Gaede wistra 2004, 166, 168; Krehl NStZ 2006, 1, 4 f.
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Anforderungen des Art 6 EMRK gerecht werden kann.194 Folglich kann auch die Nichtabberufung eines säumigen gerichtlich bestellten Sachverständigen seitens des Gerichts195 sowie das Nichtergreifen adäquater Mittel gegen das wiederholte Nichterscheinen von Zeugen und Beschuldigten vor Gericht196 zu Lasten der Behörde gehen. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass den Konventionsstaaten auch aus Art 13 EMRK die Pflicht erwächst, ein effektives Rechtsmittel gegen eine unangemessen lange Verfahrensdauer bereitzustellen (Rn 70).
2. Nulla poena sine lege (Art 7 EMRK) Fall 2: EGMR, NJW 2001, 3042 ff – W/Deutschland: Der 50-jährige W hatte sich von 1970 bis 1973 zum Wehrdienst der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR verpflichtet. Am 15.2.1972 tötete er mit fünf kurzen Feuerstößen von je zwei Schüssen einen Flüchtling, der versucht hatte, von Ost-Berlin durch die Spree schwimmend nach West-Berlin zu gelangen. Er wurde beglückwünscht, erhielt das Leistungsabzeichen der Grenztruppen der DDR und eine Geldprämie in Höhe von 150 Mark. Am 17.6.1993 verurteilte ihn die Jugendkammer des LG Berlin nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR (§ 113 StGB-DDR), wandte jedoch dann das mildere Strafgesetz der Bundesrepublik an und bestrafte ihn nach §§ 212, 213 StGB und §§ 1, 105 I Nr 1 JGG. Ist diese Verurteilung konventionskonform?
Der Grundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) in Art 7 EMRK enthält ein Rückwirkungsverbot und ein Klarheitsgebot für den Gesetzgeber. Der Anwendungsbereich dieser Garantie entspricht dem des Art 6 EMRK, umfasst also neben dem Strafrecht auch das Ordnungswidrigkeitenrecht und Teile des Disziplinarrechts. Das Bonner GG enthält ein dem Art 7 EMRK entsprechendes Grundrecht in Art 103 II.197 Art 49 GRCh geht über Art 7 EMRK hinaus, indem es einerseits normiert, dass eine mildere Strafe zu verhängen ist, wenn der Gesetzgeber nach der Begehung der Tat eine mildere eingeführt hat (Art 49 I Satz 3 GRCh) und andererseits in Art 49 III ein Gebot der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes enthält.198 Das Rückwirkungsverbot ergibt sich aus dem Wortlaut des Art 7 EMRK. Danach darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Bei der Beurteilung der Frage, ob Handlungen eines Beschwerdeführers zur Tatzeit bereits Straftaten waren, genießen die innerstaatlichen Gerichte einen Spielraum. Es ist vorrangig deren Aufgabe, das staatliche Recht auszulegen und anzuwenden.199 Speziell für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen nach innerstaatlichem Recht berücksichtigt der EGMR, ob
194 EGMR, Rep 1997-IV, Rn 40 – Philis (Nr 2); Rep 1998-VIII, Rn 38 – Podbielski. 195 Vgl EGMR, Urt v 23.9.2004, Rn 90 – Rachevi; Urt v 8.7.2004, Rn 52 – Wohlmeyer Bau GmbH. 196 EGMR, Urt v 21.9.2004, Rn 65 – Kus´ mierek; dazu jüngst auch EGMR, Urt v 13.7.2006, Rn 43 f – Stork. 197 Näheres z unterschiedlichen Umfang von Art 103 II GG und Art 7 EMRK bei Kadelbach in: Grote/Marauhn, KK, Kap 15 Rn 6. 198 Ausf etwa Jarass GR, § 14 Rn 1 ff. 199 EGMR, NJW 2001, 3035, Rn 49, 51, 66 – Krenz; Gemeinschaftsrecht gehört im Hinblick auf dessen Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit aus der Perspektive der EMRK insoweit zum innerstaatlichen Recht, näher dazu Kadelbach in: Grote/Marauhn, KK, Kap 15 Rn 21.
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ein Beschwerdeführer selbst an der Begründung einer Staatspraxis mitgewirkt hat, welche die Strafbarkeit beseitigen soll. Ein Angeklagter könne – so der EGMR – sein zunächst rechtswidriges Verhalten, das zu seiner Verurteilung geführt habe, nicht mit der einfachen Feststellung rechtfertigen, dass es dieses Verhalten tatsächlich gab und in der Praxis ein dieses Verhalten legitimierender Rechtfertigungsgrund vorhanden war.200 Der Hinweis auf das internationale Recht in Art 7 II EMRK nimmt Bezug auf Tatbestände des Völkerstrafrechts wie Kriegsverbrechen, Völkermord uä.201 Neben dem Rückwirkungsverbot enthält Art 7 EMRK auch ein Gesetzmäßigkeitsund Klarheitsgebot. Nur ein Gesetz darf einen Straftatbestand bestimmen und eine Strafe androhen. Das Gesetz darf nicht zu Lasten eines Angeklagten extensiv ausgelegt werden, etwa durch Analogie. Daraus folgt, dass ein Straftatbestand eindeutig vom Gesetz festgelegt sein muss. Diesem Erfordernis wird dann Genüge getan, wenn dem Wortlaut der jeweiligen Vorschrift, soweit erforderlich mit Hilfe der Auslegung durch die Gerichte, zu entnehmen ist, für welche Handlungen und Unterlassungen der Einzelne strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Art 7 EMRK enthält daher kein Verbot einer schrittweisen Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung, vorausgesetzt, die Rspr ist in sich widerspruchsfrei202 und ihre Entwicklung ist iE mit dem Wesen des Straftatbestandes vereinbar und ausreichend vorhersehbar.203 Der EGMR bejaht die Vorhersehbarkeit einer Verurteilung selbst dort, wo die staatliche Praxis für die Dauer der Effektivität der maßgeblichen Rechtsordnung nicht nur jede Strafbarkeit des späteren Angeklagten ausschloss, sondern den Betroffenen vielmehr bei Unterlassen des später mit Strafe belegten Verhaltens sogar mit negativen Konsequenzen belegt hatte. Lösung Fall 2: Da W wegen einer Handlung oder Unterlassung strafrechtlich verurteilt worden ist, kommt Art 7 EMRK zur Anwendung. Fraglich ist, ob die Tötung an der Berliner Mauer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar war. Kein Zweifel besteht daran, dass die Tötung den Tatbestand des § 113 StGB-DDR (Totschlag) erfüllte. Fraglich ist, ob Rechtfertigungsgründe vorliegen. Bei richtiger Sicht wurden solche durch die – wenngleich rechtsstaatlichen Standards nicht entsprechende – Staatspraxis in der DDR begründet, wonach die diensttuenden Grenzsoldaten im Fall einer geglückten Flucht mit strafrechtlichen Ermittlungen durch die Militärstaatsanwaltschaft zu rechnen hatten. Der EGMR ist anderer Ansicht. Er räumt zwar ein, dass es eine solche Staatspraxis gegeben habe. Die dieser Staatspraxis zu Grunde liegende Staatsräson müsse jedoch ihre Grenzen in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR selbst finden, wobei zu berücksichtigen sei, dass das Recht auf Leben zur Tatzeit
200 EGMR, NJW 2001, 3035, Rn 74 – Krenz. 201 Strafbarkeit nach Völkerrecht bejaht in EGMR, Entsch v 17.1.2006 – Kolk, (Verurteilung der Bf wegen der Beteiligung an Deportationen estnischer Zivilisten in die Sowjetunion im Jahr 1949); Harris/O’Boyle/Warbrick Law of the European Convention on Human Rights, 1995, 277; Kreicker Art 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, 2002, 81 f. 202 Kadelbach in: Grote/Marauhn, KK, Kap 15 Rn 25 mwN. 203 EGMR, Series A, Vol 335-B, Rn 34 ff – S.W./Vereinigtes Königreich; Urt v 17.2.2005, Rn 52 – K.A.; Entsch v 13.12.2005 – Witzsch (ausreichende Vorhersehbarkeit der Verurteilung wegen der Leugnung der Verantwortung von Hitler und der NSDAP für den Holocaust in einem privaten Brief gemäß § 289 StGB).
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bereits international den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnahm.204 Die Praxis habe offensichtlich gegen die in der DDR-Verfassung verankerten Grundrechte sowie gegen die völkerrechtliche Verpflichtung zur Wahrung von Menschenrechten verstoßen, die unter anderem durch die Ratifikation des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte begründet wurde. Mit dieser Ansicht verkennt der EGMR – wie schon zuvor das Bundesverfassungsgericht – dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht in innerstaatliches DDR-Recht transformiert wurde und so jedenfalls für den Grenzsoldaten keine Wirkung entfalten konnte.205 Der EGMR bejaht im Übrigen auch die Vorhersehbarkeit der Verurteilung. Zwar sei W als junger Soldat der Indoktrinierung der jungen Rekruten der Volksarmee ausgesetzt gewesen und riskierte die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen bei geglücktem Grenzübertritt eines Flüchtlings. Doch handelte es sich bei der Verfassung und dem StGB der DDR nicht um obskure Verordnungen, weshalb der Grundsatz „Niemand kann sich auf Unkenntnis des Gesetzes berufen“ auch für W gelte. Außerdem habe sich W freiwillig auf drei Jahre verpflichtet, und er kannte wie jeder Bürger der DDR die Art des Grenzregimes. Er musste also wissen, dass die Verpflichtung zum Wehrdienst die Möglichkeit einschloss, an die Grenze abkommandiert zu werden und auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen zu müssen. Ein einfacher Soldat könne sich überdies „nicht voll und blindlings“ auf Befehle berufen, die offensichtlich nicht nur die ureigenen Rechtsgrundsätze der DDR, sondern auch die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte verletzten, insb das Recht auf Leben, das den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnehme. Die Verurteilung verstoße daher iE nicht gegen Art 7 EMRK. Mit dieser Argumentation bemüht der EGMR wie schon vor ihm das Bundesverfassungsgericht die Radbruch’sche Formel, indem er sie völkerrechtlich variiert und reformuliert. Eine rechtsdogmatische Begründung beinhaltet sie nicht.206
3. Das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung Art 4 7. ZP EMRK beinhaltet das Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“). Deutschland hat das 7. Zusatzprotokoll zwar unterzeichnet, bisher allerdings nicht ratifiziert. Im GG findet sich die Gewährleistung als eines der sog grundrechtsgleichen Rechte in Art 103 III GG.207 Art 50 GRCh enthält ein Art 4 7. ZP EMRK entsprechendes Recht, nach dem niemand wegen einer Straftat, deretwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.208 Art 4 7. ZP EMRK besagt, dass niemand „wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz oder dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden“ darf. Art 4 7. ZP EMRK entfaltet keine zwischenstaatliche Geltung, sondern schützt nur vor einer erneuten Bestrafung oder Verhandlung der Sache durch „denselben“ Staat.209 Voraussetzung für die „Sperrwirkung“ der Norm ist ein durch rechtskräftiges Urt oder Freispruch 204 205 206 207 208 209
EGMR, NJW 2001, 3035, Rn 72 – Krenz. Vgl bereits Dreier JZ 1997, 421, 425. Krit z Urt Rau NJW 2001, 3008 ff, sowie Roellecke NJW 2001, 3024 f. S hierzu BVerfGE 3, 248, 250 ff; 75, 1, 8 ff. Jarass GR, § 42 Rn 23 ff. Zur zwischenstaatlichen Geltung des Grundsatzes im übrigen Völker- und Europarecht, insb nach Art 54 Schengener Durchführungsübereinkommen vgl Kadelbach in: Grote/Marauhn, KK, Kap 29 Rn 20 ff.
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endgültig abgeschlossenes strafrechtliches Verfahren.210 Anwendbar ist die Garantie nur, soweit es sich um (zwei) strafrechtliche Sanktionen iSd EMRK handelt. Von der „Sperrwirkung“ des Art 4 7. ZP EMRK nicht erfasst sind daher erneute Sanktionierungen anderer Art (zB disziplinarrechtliche Maßnahmen).211 Der Begriff „strafrechtlich“ entspricht dem Strafrechtsbegriff der Art 6 und 7 EMRK.212 Liegen zwei strafrechtliche Sanktionen vor, so stellt sich die Frage, ob diese wegen derselben „strafbaren Handlung“ („offence/infraction“) verhängt wurden.213 In seiner jüngsten einschlägigen Entscheidung 214 weicht der EGMR von seinem bisherigen Verständnis ab. Wurde bisher das Vorliegen eines Verstoßes nur dann bejaht, wenn jemand wegen derselben tatsächlichen Handlung aufgrund derselben Vorschrift oder aufgrund unterschiedlicher, materiell jedoch mindestens teilweise identischer Vorschriften bestraft wurde,215 so hängt das Vorliegen einer „strafbaren Handlung“ im Sinne des Art 4 I 7. ZP EMRK davon ab, ob Gegenstand der Strafverfahren derselbe oder der im Wesentlichen selbe Sachverhalt ist.216 Damit ist die mehrfache Verfolgung eines Beschuldigten wegen einer Tat durch unterschiedliche Gerichte oder Behörden auch dann unzulässig, wenn es sich um „echte“ Konkurrenzen iSv Idealkonkurrenzen handelt. In Art 4 II 7. ZP EMRK ist klargestellt, dass der Grundsatz des ne bis in idem nicht die Wiederaufnahme eines Verfahrens ausschließt, soweit neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das frühere Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel 217 aufweist.218
4. Recht auf Nachprüfung einer gerichtlichen Verurteilung 67
Nach Art 2 7. ZP EMRK hat jeder, der von einem Gericht wegen einer strafbaren Handlung verurteilt wurde, das Recht, das Urt von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Wenn zunächst eine (weisungsgebundene) Verwaltungsbehörde über eine strafrechtliche Verurteilung entschieden hat, müssen danach noch zwei Gerichtsinstanzen mit dem Fall befasst werden können.219 Das nachprüfende Gericht muss nicht dieselben Kompetenzen haben wie ein Gericht im Sinn des Art 6 EMRK. Auch bloße Revisionsinstanzen oder Gerichte, die über die Annahme oder Zulassung eines Rechtsmittels entscheiden, erfüllen dieses Merkmal.220 Darüber hinaus kann der Gesetzgeber Ausnahmen vorsehen 210 EGMR, ECHR 2004-VIII, Rn 37 – Nikitin; Urt v 29.5.2001, Rn 22 – Fischer; JBl 1995, 577, Rn 53 – Gradinger (m Anm Grabenwarter). 211 Europarat, Explanatory Report relating to Protocol N° 7, HRLJ 1985, 82, Rn 32. 212 Charrier (Fn 95) S 352; Bleichrodt (Fn 1010) S 979 f. 213 Hierzu EGMR, Urt 10.2.2009 (Große Kammer), Rn 58 ff – Sergey Zolotukhin. Überholt sind die Urt EGMR, ECHR 1998-V, 1990, Rn 26 f – Oliveira; Urt v 29.5.2001, Rn 23 ff – Fischer. 214 EGMR, Urt 10.2.2009 (Große Kammer), Rn 58 ff – Sergey Zolotukhin. 215 EGMR, Urt v 29.5.2001, Rn 25, 29 – Fischer. 216 EGMR, Urt v 10.2.2009 (Große Kammer), Rn 82 – Sergey Zolotukhin. 217 Frowein/Peukert in: Frowein/Peukert, Art 4 7. ZP EMRK Rn 3, nennen beispielhaft die Bedrohung oder Bestechung von Zeugen oder Richtern. 218 EGMR, ECHR 2004-VIII, Rn 37, Rn 45 ff – Nikitin. 219 EGMR, Urt v 30.11.2006, Rn 83 ff – Grecu (Bekämpfung einer Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft); Flinterman, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak (Hrsg), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl 2006, 974 (allerdings eingeschränkt auf Art 2 II 3. Fall). 220 EGMR, ZulE v 31.8.1999 – Hubner.
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Justiz- und Verfahrensgrundrechte
§ 6 IV
für Bagatellsachen in Fällen, in denen ein Höchstgericht das Verfahren in erster Instanz geführt hat, und schließlich wenn die Verurteilung erst in zweiter Instanz auf Grund eines Rechtsmittels gegen den Freispruch der ersten Instanz erfolgte (Art 2 II 7. ZP EMRK).
5. Das Recht auf Entschädigung für Fehlurteile (Art 3 7. ZP EMRK) Bei rechtskräftiger Verurteilung und nachfolgender Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ergebnis der Unschuld des Verurteilten sieht Art 3 7. ZP EMRK eine Entschädigungspflicht des Staates für den bereits verbüßten Teil der ungerechtfertigten Strafe vor. Zweifelhaft ist, ob dem Betroffenen jegliche Entschädigung zu versagen ist, wenn die Zurückhaltung der entsprechenden Tatsachen auch anderen Personen zuzuschreiben ist.221 Die Entschädigungspflicht entfällt, wenn der Betroffene die Schuld daran trägt, dass die neu auftretenden Tatsachen nicht rechtzeitig bekannt geworden sind. Art 3 7. ZP EMRK ist folglich nicht anwendbar, wenn die Anklage abgewiesen wurde oder der Angeklagte durch das erstinstanzliche Gericht oder nach der Einlegung von Rechtsmitteln durch ein höheres Gericht freigesprochen wurde.222 Des Weiteren muss die Unschuld des Betroffenen im Nachhinein eindeutig durch das die rechtskräftige Verurteilung aufhebende Urt bzw den das Urt aufhebenden Gnadenakt anerkannt werden.223
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III. Verfahrensgarantien bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Art 1 7. ZP EMRK enthält einige Verfahrensgarantien in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern. Als rechtsstaatliches Mindesterfordernis wird vorgeschrieben, dass ein Ausländer, der zuvor seinen rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Staates hat, nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden darf.224 Darüber hinaus werden als Mindestverfahrensgarantien bestimmte Rechte normiert, die in ausgebauter Form in Art 6 I und III EMRK enthalten sind. Der Ausländer muss die Möglichkeit haben, Gründe vorzubringen, die gegen seine Ausweisung sprechen, ferner seinen Fall prüfen lassen können und schließlich drittens sich zu diesem Zweck vor der zuständigen Behörde vertreten lassen können.225 Ausnahmsweise kann gem Art 1 II 7. ZP EMRK ein Ausländer ohne Gewährung dieser Rechte ausgewiesen werden, wenn die Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt.226
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IV. Das Recht auf wirksame Beschwerde Nach Art 13 EMRK hat jedermann, der eine Verletzung seiner durch die Konvention geschützten Rechte behauptet, das Recht einer „wirksamen Beschwerde“ bei einer natio221 222 223 224
Flinterman (Fn 219) S 976 schlägt in solchen Fällen eine teilweise Entschädigung vor. Explanatory Report, HRLJ 5 (1985), 85. Frowein/Peukert in: Frowein/Peukert, Art 3 7. ZP EMRK Rn 1. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung ist nach den nationalen Vorschriften zu beurteilen, s EGMR, Urt v 5.10.2006, Rn 81 f – Bolat. 225 Für Einzelheiten vgl Wiederin Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Fremdenpolizeirecht, 1993, 85 ff. 226 EGMR, Urt v 12.10.2006, Rn 55 – Kaya (Ausweisung aus Gründen der nationalen Sicherheit auf Grundlage einer Notstandsverordnung).
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nalen Instanz. Art 13 EMRK kann nur iVm einer anderen Bestimmung der EMRK oder eines ZP gerügt werden. Wie bei Art 19 IV GG ist nicht die Rechtsverletzung selbst Voraussetzung, es genügt vielmehr, dass der Beschwerdeführer die Verletzung geltend macht.227 Voraussetzung ist jedoch, dass die Verletzung in vertretbarer Weise angenommen werden kann.228 Art 47 GRCh enthält eine vergleichbare Garantie, ihr Anwendungsbereich ist jedoch weiter, da er sich allgem auf die durch das Recht der Union garantierten Rechte und Freiheiten erstreckt.229 Die nationale Instanz kann in einem Gericht, insb in einem Verfassungsgericht bestehen. Sie muss jedoch nicht notwendigerweise gerichtlich organisiert sein, entscheidend ist, dass die Befugnisse und Verfahrensgarantien vor der Instanz wirksam sind.230 Auch verpflichtet Art 13 EMRK die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung eines Normenkontrollverfahrens.231 Voraussetzung ist lediglich, dass es einen Rechtsanspruch auf Zugang und Entscheidung gibt und dass die Entscheidung eine adäquate Abhilfemöglichkeit im Falle einer Rechtsverletzung bietet. Diese kann in der Aufhebung der angefochtenen Maßnahme, aber auch in einer Entschädigung bestehen.232 Die Reichweite der Verpflichtungen aus Art 13 EMRK hängt von dem jeweiligen Konventionsrecht ab, in dessen Verbindung es geltend gemacht wird. So gewährleistet zB Art 13 iVm Art 3 EMRK bei Verdacht der Misshandlung von Inhaftierten neben der dem Staat aus Art 3 EMRK obliegenden Pflicht, eine sorgfältige und effektive Untersuchung der Vorfälle durchzuführen, ein subjektives Recht des Betroffenen auf Zugang zu einem wirksamen Untersuchungsverfahren und unter Umständen auch auf Zahlung einer Entschädigung.233 Bei behaupteten Verletzungen von Art 3 durch Isolationshaft gebietet Art 13 nach der Rspr des EGMR jedenfalls die Möglichkeit der Beschwerde an eine gerichtliche Instanz („judicial body“).234 Für die Anwendbarkeit der Garantie des Art 13 EMRK ist es nicht erforderlich, dass die Verletzung einer in der Konvention gewährleisteten materiellen Garantie tatsächlich feststeht. Art 13 EMRK muss dahingehend interpretiert werden, dass jedem, der mit einer gewissen Plausibilität darlegt, in einem Konventionsrecht verletzt worden zu sein, die Berufung auf das Recht auf wirksame Beschwerde zustehen muss.235 Ist diese Voraussetzung erfüllt, so untersucht der EGMR eine mögliche Verletzung des Art 13 EMRK auch dann, wenn ein Verstoß gegen das andere angerufene Konventionsrecht verneint wird,236 sofern eine Verletzung eines anderen Konventionsrechts in vertretbarer Weise angenommen werden konnte.237
227 EGMR, EuGRZ 1979, 278, Rn 64 – Klaas; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn, KK, Kap 14 Rn 31 f. 228 EGMR, Series A, Vol 131, Rn 52 – Boyle und Rice. 229 Jarass GR, § 4 Rn 1 ff. 230 EGMR, EuGRZ 1984, 147, Rn 113 – Silver. 231 EGMR, Series A, Vol 98, Rn 85 – James; Series A, Vol 102, Rn 206 – Lithgow. 232 EGMR, Urt v 29.3.2006 (Große Kammer), Rn 186 – Scordino, einige Staaten hätten laut EGMR die Situation „perfekt erfasst“, indem sie beide Arten von Rechtsmitteln kombiniert hätten. 233 EGMR Rep 1996-VI; Rn 98 – Aksoy. 234 EGMR, Urt v 4.7.2006 (Große Kammer), Rn 165 – Sanchez. 235 EGMR, NJW 1979, 1755, Rn 64 – Klass. 236 EGMR, Series A, Vol 247-C, Rn 59 – Costello-Roberts. 237 EGMR, Series A, Vol 172, Rn 33 – Powell und Rayner; Series A, Vol 131, Rn 52 – Boyle und Rice; Series A, Vol 116, Rn 77 – Leander.
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§ 6 IV
Entgegen der früheren Rspr des EGMR238 ist es nunmehr nicht ausgeschlossen, dass Art 13 EMRK auch mit der behaupteten Verletzung einer der in Art 5 IV oder Art 6 I EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien Anwendung findet. So sind beispielsweise Beschwerden wegen der in Art 6 I EMRK enthaltenen Verpflichtung zu einer Gerichtsentscheidung innerhalb einer angemessenen Frist zusätzlich auch auf eine Verletzung von Art 13 EMRK hin zu prüfen.239 Hinsichtlich einer behaupteten Verletzung des Rechts auf Leben, wie es in Art 2 EMRK normiert ist, nimmt der Gerichthof auch eine aus Art 13 EMRK resultierende Verpflichtung der Konventionsstaaten an, ein Verfahren vorzusehen, mit dem die mögliche Verantwortlichkeit der staatlichen Stellen geklärt werden kann.240 Darüber hinaus muss der Betroffene die Möglichkeit haben, für die durch die Konventionsverletzung erlittenen materiellen und immateriellen Schäden Schadensersatz zu erhalten.241 Der EGMR stellt in solchen Fällen nunmehr sowohl eine Verletzung von Art 2 EMRK als auch eine von Art 13 EMRK fest.242
238 EGMR, EuGRZ 1979, 626, Rn 35 – Airey; Series A, Vol 52, Rn 88 – Sporrong. 239 EGMR, ECHR 2001-VIII, Rn 63 – Horvat; NJW 2001, 2694, Rn 149 – Kudla. 240 EGMR, Urt v 20.4.2004, Rn 103 ff – Buldan; Urt v 30.3.2004, Rn 191 – Nuray S¸ en (Nr 2); Urt v 15.1.2004, Rn 96 – Tekdag˘; ECHR 2001-V, Rn 107 – T.P. und K.M./Vereinigtes Königreich; Rep 1998-I, Rn 107 – Kaya. 241 EGMR, ECHR 2002-II, Rn 97 – Paul und Audrey Edwards; ECHR 2001-V, Rn 109 – Z. ua/Vereinigtes Königreich; Rep 1998-I, Rn 107 – Kaya. 242 Vgl EGMR, Urt v 15.1.2004, Rn 95 ff – Tekdag˘; Urt v 9.5.2003, Rn 195 ff – Tepe; ECHR 2002II, Rn 96 ff – Paul und Audrey Edwards; ECHR 2001-V, Rn 108 ff – Z. ua/Vereinigtes Königreich.
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3. Teil: Die Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaften §7 Allgemeine Lehren Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos; Slg 1964, 1251 ff – Costa/ENEL; Slg 1974, 837 ff – Dassonville; Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen; Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou; Slg 1993, I-6097 ff – Keck; Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments; Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1; Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 1/99, EGV Art 30/2; Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 1/01, EGV Art 39/1; Slg 2002, I-4781 ff – Elf-Aquitaine; Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK 12/02, EGV Art 49/6; Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3; NJW 2004, 131 ff – DocMorris = JK 5/04, EGV Art 28/4; Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13. Schrifttum: Jarass Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, 202 ff; ders Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, 705 ff; Ruffert Die Grundfreiheiten im Recht der Europäischen Union, JuS 2009, 97; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; ders Grundfreiheiten in: v Bogdandy (Hrsg), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S 630 ff; Frenz Handbuch Europarecht Bd 1 Europäische Grundfreiheiten, 2004.
I. Eigenart und Stellung der Grundfreiheiten im Gefüge des europäischen Gemeinschaftsrechts 1. Bedeutung der Grundfreiheiten Die Europäische Gemeinschaft (EG) ist zwar nicht nur, aber auch und gerade eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einem Gemeinsamen Markt.1 Ihre Tätigkeit umfasst unter anderem die Errichtung eines Binnenmarktes, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist (Art 3 I lit c EGV/26 II AEUV). Die angesprochenen Freiheiten stellen zugleich die Stützpfeiler der gemeinschaftsrechtlichen Wirtschaftsverfassung dar.2 Sie gelangen insbesondere zur Anwendung, wenn mitgliedstaatliche Regelungen den innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehr behindern. So sind Importverbote für nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Biere aus dem EG-Ausland,3 Niederlassungsverbote für im EG-Ausland gegründete Gesellschaften mit ausschließlicher Ge-
1 Vgl bereits Art 2 EGV (Art 3 III, IV EUV-E). 2 Vgl auch Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 13. Zur Frage des Verfassungscharakters des Vertragsrechts der Gemeinschaften vgl Pernice u Huber VVDStRL 60 (2001), 148 ff, 194 ff. 3 EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 25 – Kommission/Deutschland. Vergleichbar zB EuGH, Slg 1988, 4233 – Drei Glocken (Zulässigkeit in Italien eingeführter Teigwaren mit anderen Bestandteilen als in Italien vorgeschrieben).
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Dirk Ehlers
schäftstätigkeit im Inland,4 Ablehnungen der Kostenerstattung für ärztliche Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat 5 sowie Genehmigungsvorbehalte für den Grundstückserwerb durch Ausländer oder für den Verkauf von Gesellschaftsanteilen6 für unvereinbar mit den Grundfreiheiten erklärt worden. Bestimmte, die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigende Vereinbarungen von Privaten – etwa Ausländerregelungen der Berufs-Fußballverbände in Europa 7 – hat dasselbe Verdikt getroffen. Dies zeigt beispielhaft, dass die Grundfreiheiten die Regulierungsspielräume der Mitgliedstaaten und der Privaten vornehmlich auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Sozialrechts zum Zwecke der Gewährleistung einer grenzüberschreitenden Freiheit erheblich einengen.
2. Die einzelnen Grundfreiheiten 2
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Obwohl der Begriff „Grundfreiheit“ im Text des geltenden EG-Vertrages8 nicht auftaucht,9 besteht Übereinstimmung darüber, dass sich je nach Zählweise vier oder sechs Grundfreiheiten unterscheiden lassen: nämlich die Freiheit des Warenverkehrs (Art 23, 28, 29 EGV/28, 34, 35 AEUV; → § 8), die Freiheit des Personenverkehrs, bestehend aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 39 EGV/45 AEUV; → § 9) und der Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV/49 AEUV; → § 10), die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art 49 EGV/56 AEUV; → § 11) und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 56 EGV/63 AEUV; → § 12). Der Vertrag von Lissabon, der bisher nicht in Kraft getreten ist,10 hat in seinem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die geltenden Bestimmungen über die Grundfreiheiten im Wesentlichen unverändert gelassen. Die Warenverkehrsfreiheit bezieht sich in erster Linie auf die grenzüberschreitende Mobilität von Produkten,11 dh von körperlichen oder sonstigen handelbaren Gegenständen.12 Diese müssen aus der Gemeinschaft stammen oder sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Art 23 II EGV/28 II AEUV).13 Während Art 25 EGV (30 AEUV)
4 EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 18 ff – Centros; Slg 2002, I-9919, Rn 82 – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155, Rn 101 – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4. 5 EuGH, Slg 1998, I-1931, Rn 35 – Kohll (Fall 11); Slg 2001, I-5473, Rn 97 ff – Geraets-Smits; Slg 2003, I-4509 – Müller-Fauré (§ 11 Rn 72); Slg 2006, I-04325, Rn 89 ff – Watts = JK 1/07, EGV Art 49/15. 6 Zur Vereinbarkeit „Goldener Aktien“ mit der Kapitalverkehrsfreiheit vgl EuGH, Slg 2002, I-4731 – Kommission/Portugal = JK 10/02, EGV Art 56/1; Slg 2002, I-4783 – Kommission/Frankreich; Slg 2007, I-8995 – Kommission/Deutschland = JK 6/08, EGV Art 56/5 (Verstoß des VW-Gesetzes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit). 7 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 69 ff – Bosman. 8 Vertrag von Nizza v 26.2.2001, BGBl II 2001, 1667, geändert durch die Akte zum Beitrittsvertrag v 16.4.2003, BGBl II 2003, 1410, ABl 2005 L 157, 203 v 25.4.2005. 9 Dagegen wird der Begriff in der EMRK (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) sowie in der Verweisungsnorm des Art 6 II EUV (6 II AEUV) verwendet, hat dort aber eine andere Bedeutung. 10 ABl 2007 C 306, 1 v 17.12.2007. 11 Vgl Jarass EuR 1995, 202, 205. 12 Wie zB Elektrizität. 13 Waren stammen aus der Gemeinschaft, wenn sie in einem Mitgliedstaat der EG vollständig gewonnen, hergestellt oder wesentlich be- oder verarbeitet worden sind, vgl Art 23 ff Zollkodex – VO 2913/92 bzw Art 36 ff Modernisierter Zollkodex – VO 450/2008 (volle Geltung spätestens ab 24.6.2013, vgl Art 188 II). Im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden sich diejenigen Waren
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Allgemeine Lehren
§7 I2
Ein- und Ausfuhrzölle sowie Abgaben gleicher Wirkung verbietet (sog tarifäre Handelshemmnisse), untersagen die Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) alle mengenmäßigen Einund Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung (nichttarifäre Handelshemmnisse). Die Personenverkehrsfreiheit in Gestalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit ist primär einschlägig, wenn Unionsbürger (Art 17 EGV/20 AEUV) oder (im Falle der Niederlassung) Gesellschaften (Art 48 EGV/54 AEUV; → § 10 Rn 64 ff) in den anderen Mitgliedstaat übersiedeln wollen, um sich dort unselbständig (als Arbeitnehmer) oder dauerhaft selbständig auf der Grundlage einer festen Einrichtung wirtschaftlich zu betätigen. Doch geht der Schutz weiter. So umfasst die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB auch das Recht, sich um im EG-Ausland angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet zu verbleiben.14 Ferner können sich auch die Familienangehörigen des Arbeitnehmers15 (→ § 9 Rn 29) sowie der Arbeitgeber16 und Arbeitsvermittler17 auf die Freiheit berufen. Während die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor allem die abhängig Beschäftigten schützt,18 wendet sich die Niederlassungsfreiheit an die selbstständig Erwerbstätigen19 und erstreckt sich auch auf die Gründung und Leitung von Unternehmen (Art 43 II EGV/49 II AEUV) sowie von Agenturen und Zweigniederlassungen. Die Berechtigten werden sowohl vor Reglementierungen des Wegzugsstaates 20 als auch des Zuzugsstaates 21 geschützt. Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf in der Regel entgeltlich erbrachte Leistungen im grenzüberschreitenden Verkehr, soweit sie nicht (schwerpunktmäßig Rn 65) den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (Art 50 I EGV/57 I AEUV; → § 11 Rn 28) und soweit nicht der Verkehr betroffen ist (Art 51 I EGV/58 I AEUV).22 Die Dienstleistungen können nicht nur dadurch erbracht werden, dass Leistungserbringer und Leistungsempfänger in ihrem Aufenthaltsstaat verbleiben und nur die Leistung – zB auf postalischem Wege oder mittels Tele-
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aus dritten Ländern, für welche die Einfuhr-Förmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind (Art 24 EGV/29 AEUV). Vgl Art 39 III lit a, b, d EGV (45 III lit a, b, d AEUV); → § 9 Rn 19 ff. Zu den Kindern vgl EuGH, Slg 2002, I-7091, Rn 52 – Baumbast. EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 16 ff – Clean Car; → § 9 Rn 28. EuGH, Slg 2007, I-181, Rn 24 – ITC = JK 10/07, EGV Art 39/6. Vgl Art 1 I VO 1612/68, ABl 1968 257, 2 („Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis“). Geschützt wird sogar die selbständig ausgeübte Prostitutionstätigkeit, vgl EuGH, Slg 2001, I-8615, Rn 32 ff – Jany = JK 7/02, EGV Art 43/2. Vgl zB EuGH, Slg 2004, I-2409, Rn 45 ff – de Lasteyrie du Saillant = JK 9/04, EGV Art 43/5 (Verbot der Wegzugsbesteuerung). Vgl aber auch EuGH, EuZW 2009, 75 – Cartesio; wonach die Verhinderung des Wegzugs einer Gesellschaft wegen nationalen Rechts, das den Gesellschaftssitz im Inland vorschreibt, keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt. Vgl zB EuGH, Slg 2002, I-10155, Rn 105 – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4 (Gründung einer Gesellschaft im EG-Ausland zwecks Umgehung der Vorschriften des inländischen Gesellschaftsrechts). Vgl Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 49 EGV Rn 15 ff.
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kommunikation – die Grenze überquert (Korrespondenzdienstleistungsfreiheit).23 Es ist auch möglich, dass sich entweder die Leistungserbringer (aktive Dienstleistungsfreiheit) oder die Leistungsempfänger (passive Dienstleistungsfreiheit) vorübergehend in den anderen Mitgliedstaat begeben oder dass Leistungserbringer und Leistungsempfänger zum Zwecke der Erbringung der Dienstleistung gemeinsam einen dritten Mitgliedstaat aufsuchen.24 Insoweit garantiert die Dienstleistungsfreiheit auch einen freien Personenverkehr. Da nur der vorübergehende Aufenthalt in einem anderen Staat erfasst wird, geht es insoweit allerdings nicht um Integration. Geschützt werden sowohl die Leistungserbringer als auch die Leistungsempfänger. Die Kapitalverkehrsfreiheit gewährleistet die Übertragung von Geld- oder Sachwerten (zB Direktinvestitionen wie dem Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen, Immobilieninvestitionen, Transferzahlungen, Wertpapiergeschäfte usw) über die Grenzen eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft hinweg (primär zu Anlagezwecken). Der Freiheit des Zahlungsverkehrs unterfallen alle Zahlungen mit grenzüberschreitendem Bezug (→ § 12 Rn 6).25 Zum Verhältnis der Grundfreiheiten zueinander vgl Rn 65.
3. Unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 7
Das Gemeinschaftsrecht stellt eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten dar.26 Unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Normen des Gemeinschaftsrechts vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an geltendes Recht auch in den Mitgliedstaaten werden.27 Dies wird teils aus der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung,28 teils aus der Übertragung der nationalen Hoheitsgewalt auf die EG abgeleitet.29 Von der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts ist die unmittelbare Wirkung oder Anwendung (Anwendbarkeit) zu unterscheiden.30 Eine unmittelbare Wirkung respektive Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtskreis liegt bei Zugrundelegung eines weiten Verständnisses bereits dann vor, wenn irgendwelche Adressaten des innerstaatlichen Rechtskreises das Gemeinschaftsrecht beachten müssen. Dies können zB auch die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber sein, wenn und soweit sie eine Richtlinie umsetzen. Zumeist
23 Das kann auch der Fall sein, wenn Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger in demselben Staat ansässig sind und nur die Dienstleistung als solche die Grenze überquert (zB Inanspruchnahme einer Finanzdienstleistung über das EG-Ausland). Näher zum Ganzen auch Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 40 f. 24 Vgl Roth in: HdBEUWirtschR E I Rn 139 ff; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 24 f. 25 Vgl Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 5, 22; Sedlaczeck in: Streinz, EUV/ EGV, Art 56 EGV Rn 7 ff. Wie die Erbschaftssteuer fällt auch die steuerliche Behandlung von Geld- oder Sachspenden unter die Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr, vgl EuGH, NJW 2009, 823, Rn 27. 26 Anderes gilt nur im Falle ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen (zB späteres Inkrafttreten einzelner Vorschriften im Falle eines Beitritts); vgl Fn 34. 27 Vgl EuGH, Slg 1978, 629, Rn 14/16 – Simmenthal. 28 EuGH, Slg 1964, 1251, 1269 – Costa/ENEL; Borchardt EU, Rn 142 ff. 29 In Deutschland bestimmt sich die Übertragung der Hoheitsrechte auf die EG oder EU nach Art 23 I 2 GG. Näher dazu BVerfGE 52, 187, 199; 73, 339, 372; 75, 223, 241; 89, 155 ff. 30 Die Begriffsbildung ist weder in der Rspr noch in der Lit einheitlich. Zu dem hier verwendeten Sprachgebrauch vgl Ehlers in: Schulze/Zuleeg, ER, § 11 Rn 8 f.
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Allgemeine Lehren
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wird von unmittelbarer Wirkung respektive Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts aber nur in einem engeren Sinne gesprochen. Danach soll es darauf ankommen, ob das Gemeinschaftsrecht den Unionsbürgern und sonstigen Privatpersonen Rechte verleiht oder Pflichten auferlegt.31 Ob dies der Fall ist, hängt von der Auslegung der Regelungen ab.32 Alle Grundfreiheiten legen ihren Adressaten (Rn 42 ff) unbedingte Verpflichtungen auf. Die früher generell vorgesehenen Übergangszeiten 33 sind abgelaufen, so dass grundsätzlich alle Grundfreiheiten im innerstaatlichen Rechtskreis unmittelbar anwendbar sind. Treten neue Mitglieder der EG bei, können in der Beitrittsakte (oder im Vertragsrecht) aber wiederum Übergangsvorschriften vorgesehen werden. Hiervon ist im Hinblick auf bestimmte Grundfreiheiten bei dem Beitritt 10 weiterer Staaten zur EU mit Wirkung ab dem 1.5.2004 34 sowie der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien mit Wirkung ab dem 1.1.2007 35 Gebrauch gemacht worden. Allerdings geht das einschlägige primärrechtskonforme Sekundärrecht (also die Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen der EG 36) den Grundfreiheiten vor, weil ebenso wie im nationalen Recht37 diejenige Rechtsquelle anzuwenden ist, die dem zu entscheidenden Fall am nächsten steht.38 Nur wenn das Sekundärrecht keine abschließenden Regelungen trifft, entfalten die Grundfreiheiten ihre Wirkungen. Zurückgedrängt werden können die Grundfreiheiten vor allem durch horizontale, sektorübergreifende Sekundärrechtsbestimmungen, wie dies etwa für die Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt zutrifft.39 Umgekehrt lassen sich aus nicht anwendbaren Sekundärrechtsbestimmungen uU Anhaltspunkte für eine Auslegung der Grundfreiheiten entnehmen: so zB für die Vereinbarkeit der Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der in den Vergaberichtlinien 40 festgelegten Schwellenwerte mit den Grundfreiheiten.41 In keinem Fall darf das Sekundärrecht den Grundfreiheiten widersprechen. Auch muss es im Lichte der Grundfreiheiten ausgelegt werden.42 Dem Gemeinschaftsgesetzgeber
31 EuGH, Slg 1963, 3, 24 ff – van Gend & Loos; Slg 1978, 629, 643 f – Simmenthal II; Kadelbach Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, 57 ff; Borchardt EU, Rn 149. 32 Die unmittelbare Wirkung braucht nicht ausdrücklich angeordnet zu werden, vgl EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. 33 Art 7 I, Art 31, 33, 35, Art 48 I, Art 52 I, Art 59 I, Art 67 EWGV. 34 Vgl Art 24 der Beitrittsakte (ABl L 236, 33 v 23.9.2003; Sart II 149) iVm Anhang V–XIV, ABl L 236, 803. 35 Vgl Art 23 der Beitrittsakte (ABl L 157, 203 v 21.6.2005) iVm Anhang VI u VII, ABl L 157, 278. 36 Art 249 II bis IV EGV; 288 II bis IV AEUV. 37 Vgl Ehlers in: Erichsen/ders (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl 2006, § 2 Rn 8, Rn 90. 38 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Cassis de Dijon; Slg 1993, I-4947, Rn 9 – Vanacker; Slg 2001, I-9897, Rn 32 – DaimlerChrysler; v Bogdandy JZ 2001, 157, 166; Oexle AbfallR 2003, 284, 288. Enthält das Sekundärrecht ein Verbot, steht dieses entgegen EuGH, Slg 2002, I-14887, Rn 52 – DocMorris = JK 5/04, EGV Art 28/4 (Fall 1) dem Rückgriff auf die Grundfreiheiten nicht entgegen, vielmehr bezieht sich das Sekundärrecht nur auf die Rechtfertigung der Beeinträchtigung der jeweiligen Grundfreiheiten. 39 RL 2006/123. Vgl dazu Calliess DVBl 2007, 336 ff; Waldheim, Dienstleistungsfreiheit und Herkunftslandsprinzip, 2008, 212 ff (bisher nur maschinenschriftlich). 40 Vgl einerseits RL 2004/17; 2004/18; andererseits RL 89/95; RL 92/13. 41 Vgl EuGH, Slg 2001, I-9505, Rn 20 ff – Vestergaard; Mitteilung der EG-Kommission ABl 2006 C 179, 02 v 1.8.2006. 42 Vgl zu einem Beispielsfall EuGH, JZ 2008, 889 – Rüffert.
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bleibt es grundsätzlich unbenommen, Sekundärrechtsbestimmungen zu erlassen, welche die Freiheit verstärken, in dem sie mitgliedstaatliche Beschränkungsmöglichkeiten abbauen. Doch geht in mehrpoligen Rechtsverhältnissen die Freiheit des einen fast immer zu Lasten der Freiheit des anderen. So mögen unterschiedliche mitgliedstaatliche Werbeverbote für Tabakerzeugnisse geeignet sein, den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zu beschränken. Verbietet die EG durch eine Richtlinie aber nahezu vollständig die Werbung für Tabakerzeugnisse in der Presse und im Rundfunk,43 werden nicht nur Hemmnisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr ausgeräumt, sondern gleichzeitig die nicht nur durch die Unionsgrundrechte, sondern auch durch die Grundfreiheiten garantierten Freiheitsrechte der Tabakindustrie, Presseunternehmen und Rundfunkanstalten beschränkt.44 Beschränkungen der Grundfreiheiten müssen sich rechtfertigen lassen, wobei der EG prinzipiell dieselben Rechtsfertigungsgründe wie den Mitgliedstaaten zustehen dürften.45 Nähere Vorgaben darüber, welche Belange die Europäische Gemeinschaft verfolgen darf, ergeben sich aus den Gemeinschaftspolitiken.46 So sieht Art 95 III EGV (114 III AEUV) für die Rechtsangleichung in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz ein hohes Schutzniveau vor. Soweit durch diesbezügliche Sekundärrechtsbestimmungen die Grundfreiheiten eingeschränkt werden, lässt sich dieses jedenfalls grds rechtfertigen. Der EuGH prüft bisher sehr selten die Konformität des Sekundärrechts mit den Grundfreiheiten. Soweit ersichtlich, ist bisher nur einmal ein Verstoß angenommen worden.47 Da somit an den Gemeinschaftsgesetzgeber andere Anforderungen als an die Mitgliedstaaten gestellt werden, wird mit zweierlei Maß gemessen.
4. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten 10
Ein freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten kann sich nur entwickeln, wenn die Grundfreiheiten nicht nur Bindungen erzeugen, sondern dem Einzelnen die Rechtsmacht eingeräumt wird, sich gegenüber den Verpflichteten auf die Freiheitsverbürgungen zu berufen. Seit dem Urteil van Gend & Loos des EuGH48 besteht Übereinstimmung darüber, dass die Grundfreiheiten nicht nur objektiv-rechtliche Wirkungen entfalten, sondern dem Schutz der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu dienen bestimmt sind. Somit stellen sie (iSd deutschen Terminologie) subjektive Rechte dar.49 Dies bedeutet, dass sie vor den Gemeinschaftsgerichten und den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können (Rn 115 ff).
43 So Art 3 u 4 RL 2003/33 (EG-Tabakrichtlinie). Vgl dazu EuGH, Slg 2006, I-11573 – Deutschland/Rat und Parlament = JK 5/07, EGV Art 95/4. 44 Der EuGH ist hierauf in seiner Entscheidung Slg 2006, I-11573 – Deutschland/Rat und Parlament = JK 5/07, EGV Art 95/4 nicht eingegangen. 45 Vgl Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 44. 46 Frenz Grundfreiheiten, Rn 460. 47 EuGH, Slg 1978, 928, Rn 35 f, 38, Commissionaires Réunis. 48 EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. 49 Allgemein zur Frage, wann klagefähige Rechte aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht hergeleitet werden können, vgl Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, 47 ff; dens DVBl 2004, 1441, 1445 f.
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5. Vorrang der Grundfreiheiten Für die Grundfreiheiten gelten die zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht entwickelten Grundsätze. Kollidieren Gemeinschaftsrecht und nationales Recht, kommt dem Gemeinschaftsrecht – nach Ansicht des EuGH in jedem Falle,50 nach Ansicht des BVerfG nur in den Grenzen der sog Solange-Rechtsprechung51 – Vorrang zu. Da nicht vorstellbar ist, dass die „Identität der geltenden Verfassungsordnung“ 52 der Mitgliedstaaten mit den Grundfreiheiten in Widerstreit geraten könnte, gelten die Grundfreiheiten ausnahmslos vorrangig.53 Bei dem Vorrang handelt es sich um einen Anwendungs-, nicht Geltungsvorrang.54 Dies bedeutet, dass das gemeinschaftsrechtswidrige staatliche Recht gültig bleibt, aber insoweit unanwendbar ist, als das Gemeinschaftsrecht selbst unmittelbare Anwendung verlangt. Zur Nichtanwendung des dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache befassten Instanzen (sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden55) – und darüber hinaus möglicherweise auch die privaten Verpflichtungsadressaten des Gemeinschaftsrechts (Rn 48) – verpflichtet.
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6. Abgrenzung zu anderen Rechten des primären Gemeinschaftsrechts Das Primärrecht der Europäischen Gemeinschaften (dh das Vertragsrecht der EG und EAG inklusive Protokolle und Anhänge, die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze und das die Verträge ergänzende Gewohnheitsrecht) gewährleistet neben den Grundfreiheiten zahlreiche weitere Rechte. Sie sind von den Grundfreiheiten abzugrenzen. Unterschieden werden kann zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechten.
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a) Geschriebene Rechte aa) Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) Art 12 EGV (18 AEUV) verbietet im Anwendungsbereich des EG-Vertrages „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags“ jede Diskriminierung „aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ (→ § 13). Wie der Vorbehalt zeigt, kommt Art 12 EGV (18 AEUV) nur zum Zuge, wenn der Vertrag keine besondere Regelung der Nichtdiskriminierung vorsieht.56 Da die Grundfreiheiten jedenfalls auch Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbieten (Rn 22 ff), steht Art 12 EGV (18 AEUV) in einem Subsidiaritätsverhältnis zu den Grundfreiheiten, tritt also hinter diesen zurück. Dementsprechend werden weder der von der Rspr entwickelte, in Art 20 GRCh positivierte allgemeine
50 Vgl EuGH, Slg 1964, 1251, 1271 – Costa/ENEL; Slg 1970, 1125, Rn 3 – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1990, I-2433, Rn 18 – Factortame. 51 Vgl BVerfGE 37, 271, 280 ff – Solange I; 73, 339, 375 ff – Solange II; 89, 155, 174 f; 102, 147, 161 ff. 52 BVerfGE 37, 271, 279 – Solange I; 73, 339, 375 ff – Solange II. 53 So steht bspw die RL 96/71, ausgelegt im Lichte des Art 49 EGV (Art 56 AEUV), nationalen Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge entgegen. 54 EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 19 – Nimz; BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204; Jarass/Beljin NVwZ 2004, 1 ff. Zu den Ausnahmen (Nichtigkeit) vgl Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 37) § 3 Rn 46. 55 Vgl EuGH, Slg 1989, 1839, Rn 28 ff – Costanzo. Krit Schmidt-Aßmann in: Ehlers/Krebs (Hrsg), Grundfragen des Verwaltungsrechts und Kommunalrechts, 2000, 1, 17 ff. 56 EuGH, Slg 1996, I-929, Rn 20 – Skanavi & Chryssanthakopoulos. Vgl zB aber auch EuGH, Slg 1993, I-5145, Rn 17 – Collins.
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Gleichheitssatz (→ § 17 Rn 4) noch die besonderen Gleichheitssätze der Art 141 EGV (157 AEUV), 21 ff GRCh verdrängt, weil diese Normen auf andere Ungleichbehandlungen abstellen.57 Zum Anwendungsbereich des EG-Vertrages iSd Art 12 EGV (18 AEUV) gehören auch die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft. Daraus hat der EuGH gefolgert, dass sich die Unionsbürger in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des EG-Rechts erfassten Fällen auf Art 12 EGV (18 AEUV) berufen können, wenn sie sich rechtmäßig im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhalten (→ § 19 Rn 85).58 Dies bedeutet zugleich, dass Unionsbürger im Falle der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit (Art 18 EGV/21 AEUV) nicht schlechter gestellt werden dürfen als die Staatsbürger des jeweiligen Mitgliedstaates. Insbesondere haben sie ein Recht auf Teilhabe an sozialen Vergünstigungen (Rn 34). Die Freizügigkeitsverbürgung (→ § 19 Rn 38 ff) bindet auch den Heimatstaat, so dass ein Wegzug in einen anderen EG-Staat den Heimatstaat grundsätzlich nicht zur Kürzung von Sozialleistungen59 oder Erhöhung der Steuer60 berechtigt. Das Recht auf Freizügigkeit iVm Art 12 EGV (18 AEUV) hat sich damit zu einer Auffanggrundfreiheit des Gemeinschaftsrechts entwickelt.61 Umstritten ist, ob Art 12 EGV (18 AEUV) „unmittelbare Drittwirkung“ entfaltet (→ § 13 Rn 18). Dies dürfte sich nach den gleichen Maßstäben bestimmen wie bei den Grundfreiheiten (Rn 52). Zur Frage, ob Art 12 EGV (18 AEUV) im Falle der Einschränkung ein absolutes Diskriminierungsverbot enthält, vgl → § 13 Rn 25. bb) Besondere Gleichheitsrechte
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Neben Art 12 EGV (18 AEUV) ergeben sich aus dem EG-Vertrag in erheblichem Ausmaße weitere besondere Gleichheitsrechte.62 Zumeist geht es um das Verbot einer Schlechterstellung der EG-Ausländer gegenüber den Inländern sowie um die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Gemeinsamen Markt. Hinzuweisen ist etwa auf die auch den Einzelnen schützenden Verbote der Art 72,63 90 64 (92; 110 AEUV). Die Vorschriften ergänzen oder verdrängen als leges speciales die Grundfreiheiten. Gelegentlich verbieten die EG-Vorschriften auch andere Ungleichbehandlungen. ZB sind nach Art 34 II 2 EGV (40 II 2 AEUV) Diskriminierungen zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte auszuschließen. Besondere Bedeutung kommt der Bestimmung des
57 Dagegen entspricht Art 21 II GRCh der Regelung des Art 12 I EGV (18 AEUV). 58 Grdl EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 34 ff – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-7091 – Baumbast; Slg 2002, I-6191 – D’Hoop; Slg 2005, I-2119 – Vereinigtes Königreich/London Borough of Ealing = JK 9/05, EGV Art 12 I/II; Slg 2005, I-5969 – Kommission/ Österreich = JK 1/06, EGV Art 12/3; Slg 2004, I-7573 – Trojani. Krit Hailbronner NJW 2004, 2185 ff; ders JZ 2005, 1138, 1139 f; Sander DVBl 2005, 1014 ff. 59 EuGH, Slg 2006, I-6947, Rn 39 – De Cuyper = JK 9/07, EGV Art 18/1. 60 EuGH, Slg 2006, I-10685, Rn 39 – Turpeinen. 61 Dörr in: FS Rengeling, 2008, S 205, 213. 62 Mit Inkrafttreten der GRCh werden sowohl der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) als auch zahlreiche weitere Gleichheitssätze (Art 21 ff GRCh) in das geschriebene Recht aufgenommen. Vgl → § 17 Rn 11 ff. 63 Vgl EuGH, Slg 1992, I-3141, Rn 13 ff – Kommission/Deutschland. 64 Vgl EuGH, Slg 1966, 257, 265 ff – Lütticke.
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Art 141 EGV (157 AEUV) zu, die den Frauen und Männern mit unmittelbarer Wirkung 65 auch im Verhältnis zu nichtstaatlichen Arbeitgebern ein gleiches Entgelt garantiert (selbst wenn nur Inländer betroffen sind) und darüber hinaus weitere Festlegungen für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen trifft (→ § 18 Rn 42 ff).66 Vorschriften der genannten Art haben einen anderen Regelungsgehalt als die Grundfreiheiten und treten daher neben diese. cc) Sonstige Rechte Weiterhin kennt der EG-Vertrag Rechtsverbürgungen, die sich nicht auf den Einzelnen als Wirtschaftssubjekt beziehen, sondern ihn in seiner Eigenschaft als Unionsbürger (Art 17 EGV/20 AEUV) ansprechen. Hinzuweisen ist auf das bereits erwähnte (Rn 14) Recht auf Freizügigkeit (Art 18 EGV/21 AEUV), das Wahlrecht zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen (Art 19 EGV/22 AEUV), das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittländern (Art 20 EGV/23 AEUV) und das Petitionsrecht (Art 21 EGV/24 AEUV). Daneben ergibt sich aus Art 255 EGV (15 AEUV) ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane.67 Diese Gewährleistungen stehen nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten, sondern ergänzen diese (→ § 19 Rn 38). Der Auffangcharakter des Rechts auf Freizügigkeit (Rn 14) zeigt sich auch dann, wenn keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegt. So soll die Ablehnung, den Nachnamen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, gegen Art 18 EGV (21 AEUV) verstoßen können.68
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b) Ungeschriebene Rechte Von den Grundfreiheiten abzugrenzen sind schließlich die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die der EuGH auf der Grundlage des Art 220 I EGV (19 I 2 EUV-E) aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den internationalen Verträgen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention, im Wege der wertenden Rechtsvergleichung abgeleitet hat. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören insbesondere die Unionsgrundrechte (→ § 14), die in der (noch nicht in Kraft getretenen, mit den Verträgen gleichrangigen69) Charta der Grundrechte kodifiziert worden sind (→ § 14). Die Unionsgrundrechte binden in erster Linie die Gemeinschaften und die EU, bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts aber auch die Mitgliedstaaten70 (→ § 14 Rn 47 ff). Damit können sich die Anwendungsbereiche der Grundfreiheiten und der Unionsgrundrechte überschneiden. Nach der hier vertretenen Ansicht stellen die Grundfreiheiten spezielle Formen der Grundrechte dar, welche den allgemeinen Grundrechten vorgehen und diese verdrängen, soweit sie anwendbar sind (was
65 EuGH, Slg 1976, 455, Rn 4 ff – Defrenne. 66 Die Quotenregelungen im öffentlichen Dienst (vgl EuGH, Slg 1995, I-3051, Rn 21 ff – Kalanke; Slg 1997, I-6363, Rn 23 ff – Marschall; Slg 2000, I-1875, Rn 13 ff – Badeck) sowie die Beschäftigung von Frauen in den Streitkräften (vgl EuGH, Slg 1999, I-7403, Rn 21 ff – Sirdar; Slg 2000, I-69, Rn 10 ff – Kreil) sind bisher nur am sekundären Gemeinschaftsrecht gemessen worden. 67 Vgl dazu etwa EuGH, Slg 2007, I-11389 – Schweden/Kommission = JK 9/08, EGV Art 255/1. 68 Vgl EuGH, EuZW 2008, 694 – Grunkin und Paul = JK 5/09, EGV Art 18/3. 69 Art 6 I 1 EUV-E. 70 Vgl Art 51 I GRCh.
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einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraussetzt).71 Dies entspricht auch der Bestimmung des Art 52 II GRCh, wonach die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt. Kommen die Grundfreiheiten zum Zuge, entfalten die auf parallelen Schutz abzielenden Unionsgrundrechte in ihrer Eigenschaft als Schranken-Schranke insoweit ihre volle Wirkung, als es um die Beurteilung der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten geht (Rn 104 → § 14 Rn 13). Die Grundfreiheiten werden verletzt, wenn ihre Beeinträchtigung den Unionsgrundrechten widerspricht. Andererseits können die Unionsgrundrechte aber auch mit den Grundfreiheiten kollidieren. Es ist dann im Wege einer der praktischen Konkordanz verpflichteten Abwägung zu ermitteln, welche primärrechtliche Verbürgung sich im konkreten Einzelfall durchsetzt (Rn 98; → § 14 Rn 13).
7. Dogmatik der Grundfreiheiten 19
Obwohl die Grundfreiheiten von konstitutiver Bedeutung für den Wirtschaftsverkehr in der Gemeinschaft sind, besteht über ihre dogmatische Strukturierung keine Einigkeit. Auch der EuGH verfolgt nicht immer eine klare Linie. Nach der hier vertretenen Ansicht lassen sich aber in allen Grundfreiheiten Strukturidentitäten feststellen, die einheitliche dogmatische Lösungen erfordern. Insofern kann von einer Konvergenz der Grundfreiheiten gesprochen werden.72 Diesem Ansatz folgend sollen zunächst nur die übergreifenden Aspekte der Grundfreiheiten in den Blick genommen werden. Die folgenden Beiträge gehen auf die Freiheiten im Einzelnen ein.
II. Funktionen der Grundfreiheiten 20
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Fall 1: (EuGH, Slg 2003, I-14887, 131 – DocMorris = JK 5/04, EGV Art 28/4). Das in den Niederlanden ansässige Unternehmen DocMorris betreibt einen staatlich genehmigten Versandhandel mit apothekenpflichtigen Medikamenten. Über das Internet werden Humanarzneimittel auch in deutscher Sprache zum Kauf angeboten. Der deutsche Apothekerverband sah darin einen Verstoß gegen das deutsche Arzneimittelgesetz von 1998 (AMG Sart Ergb 272) und klagte vor dem Landgericht auf Unterlassung nach den §§ 1, 13 UWG. Das Landgericht hatte Zweifel an der Gemeinschaftsrechtskonformität der maßgeblichen Bestimmung des AMG und legte dem EuGH nach Art 234 EGV (267 AEUV) die Frage vor, ob die Bestimmung mit Art 28 EGV (34 AEUV) vereinbar ist.
Zielsetzung der Grundfreiheiten ist es, einen Binnenmarkt (Rn 1) mittels Gewährung eines Anspruchs der Marktteilnehmer auf diskriminierungsfreien Zugang zu den ausländischen Märkten und gleichzeitiger Beschränkung der staatlichen Regulierungsmöglichkeiten zu garantieren. Dies zeigt, dass den Grundfreiheiten verschiedene Funktionen zukommen. Rechtstechnisch stellt sich zum einen die Frage, ob es sich bei den Grundfreiheiten nur um Gleichheitsrechte (Rn 22 ff) oder auch um Freiheitsrechte (Rn 28 ff) handelt, die dem Einzelnen Abwehrrechte vermitteln. Zum anderen bedarf der Klärung, ob die Grundfreiheiten auch Leistungsrechte (Rn 32 ff) und Verfahrensrechte (Rn 38) enthal-
71 Vgl auch → § 14 Rn 13. 72 Deutlich zurückhaltender Steinberg EuGRZ 2002, 13 ff.
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ten und ihnen eine objektiv-rechtliche Bedeutung (Rn 39) zukommt. Dagegen lassen sich den Grundfreiheiten keine staatsbürgerlichen oder unionsbürgerlichen Rechte entnehmen.73
1. Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte a) Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten Den Grundfreiheiten werden in erster Linie Diskriminierungsverbote entnommen, die das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (Art 18 AEUV) bereichsspezifisch konkretisieren.74 Ein Binnenmarkt lässt sich nicht verwirklichen, wenn EG-Ausländer im Falle eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs schlechter als Inländer behandelt werden. Dementsprechend bestimmt Art 30 S 2 EGV (36 S 2 AEUV), dass Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen zwar unter gewissen Voraussetzungen zulässig sind, diese aber niemals „ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung“ sein dürfen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gebietet „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung“ (Art 39 II EGV/45 II AEUV), die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und die Ausübung von Tätigkeiten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ (Art 43 II EGV/49 II AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Staat „unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Art 50 S 3 EGV/57 S 3 AEUV). Der Kapital- und Zahlungsverkehr schützt vor Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ (Art 56 I, II EGV/63 I, II AEUV). Bei den Beschränkungen kann es sich auch und gerade um diskriminierende Belastungen handeln.
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b) Der Vergleichsmaßstab Wann eine Diskriminierung im Sinne der Grundfreiheiten vorliegt, hängt von dem zugrunde zu legenden Vergleichsmaßstab ab. Die Grundfreiheiten beziehen sich auf Maßnahmen „zwischen den Mitgliedstaaten.“ 75 Sie richten sich primär auf Marktzugang, nicht auf vollständige Marktgleichheit im gesamten Gemeinschaftsgebiet. Daher erfassen sie nach der zutreffenden stRspr des EuGH 76 – anders als die Gemeinschaftsgrundrechte – nur grenzüberschreitende Sachverhalte 77 (wobei allein die hypothetische Möglichkeit eines 73 Vgl aber auch EuGH, Slg 2004, I-8291, Rn 30 ff – Kommission/Österreich: Verletzung des Art 39 EGV (45 AEUV) wegen Ausschlusses der Arbeitnehmer und Angestellten aus anderen Mitgliedstaaten der EU (oder des EWR) vom passiven Wahlrecht in der Kammer für Arbeiter und Angestellte. 74 Vgl Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 7; → § 17 Rn 18; Meyer Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht, 2002, 29 f; vgl aber auch Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Recht, 2003, 136. 75 So ausdrücklich Art 28 EGV (34 AEUV); ähnlich die Art 39 I, II EGV (45 I, II AEUV), 43 I EGV (49 I AEUV), 49 I EGV (56 I AEUV), 56 EGV (63 AEUV). 76 Vgl zB EuGH, Slg 1979, 1129, Rn 11 – Saunders; Slg 1992, I-341, Rn 9 – Steen I; Slg 1994, I-2715, Rn 9 – Steen II; Slg 1995, I-301, Rn 10 ff – Aubertin; Slg 1997, I-195, Rn 19 ff – USSL No 47 di Biella. 77 Vgl auch Gundel DVBl 2007, 269, 270 f; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, Fn 167. AA zB Epiney (Fn 74) S 201, 203, 209 f; Lackhoff (Fn 77) S 55 ff.
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Grenzübertritts nicht ausreicht 78). Demgemäß ist ein Vergleich zwischen dem inländischen und dem ausländischen Sachverhalt anzustellen.79 Dagegen fungieren die Grundfreiheiten nicht als Maßstab für sonstige Ungleichbehandlungen. Insbesondere können rein innerstaatliche Sachverhalte nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden.80 Dies impliziert zugleich, dass den Mitgliedstaaten eine (reine) Inländerdiskriminierung durch die Grundfreiheiten nicht untersagt wird.81 Selbst wenn sich aus dem Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) iVm den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft entgegen der hier vertretenen Auffassung das Verbot einer Inländerdiskriminierung ableiten lassen sollte,82 würden die Grundfreiheiten diesen Vorschriften als leges speciales vorgehen. Deshalb ist es zB nicht gemeinschaftsrechtswidrig, das deutsche Reinheitsgebot für Bier nur für deutsche Brauereien oder die Meisterprüfung nach der Handwerksordnung nur für deutsche Handwerker aufrechtzuerhalten. Ob Inländerdiskriminierungen mit dem nationalen Recht vereinbar sind, bestimmt dieses selber.83 Während etwa in Österreich84 und Italien85 ein Verfassungsverstoß angenommen wird, verbietet das deutsche Verfassungsrecht eine solche Diskriminierung in der Regel nicht. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 I GG dürfte bereits deshalb ausscheiden, weil die Vorschrift nur Bindungswirkungen für den jeweiligen Hoheitsträger innerhalb seines Kompetenzbereichs entfaltet.86 Der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen hat, bedeutet nicht, dass das gesamte Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft so zu behandeln ist, als habe es die Bundesrepublik selbst erlassen.87 Zudem betrifft die Behandlung grenzüberschreitender und innerstaatlicher Vorgänge unterschiedliche Sachverhalte.88 Die deutschen Freiheitsrechte (namentlich Art 12 GG) stehen einer Inländerdiskriminierung nur entgegen, wenn das Regelungsziel wegen der Ausklammerung der EG-Ausländer nicht mehr erreicht werden kann. So lässt sich eine Bindung nur der deutschen Brauereien an das Reinheitsgebot des Bieres oder nur der deutschen Handwerker an das Bestehen einer Meisterprüfung nicht mehr rechtfertigen, wenn das in den Verkehr gebrachte Bier überwiegend aus dem Ausland stammt und nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut wurde respektive das Handwerk in Deutschland überwiegend von Unionsbürgern aus dem EGAusland ohne Meisterprüfung ausgeübt wird. Auch wenn eine Inländerdiskriminierung
78 EuGH, Slg 1984, 2539, Rn 18 – Moser; Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow. 79 Geht es nicht um die Beurteilung einer mitgliedstaatlichen, sondern einer EG-Maßnahme, ist stets ein grenzüberschreitender Sachverhalt anzunehmen. 80 Im Einzelnen kann es schwierig sein, interne von grenzüberschreitenden Sachverhalten abzugrenzen. Vgl zB Kingreen (Fn 2) S 140 ff. 81 Vgl zB Streinz ER, Rn 810 ff. Zu Terminologie und Abgrenzungsfragen der Begrifflichkeiten „umgekehrte Diskriminierungen“ und „Inländerdiskriminierung“ s Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, 20 ff, der beide Begriffe als gleichwertig erkennt. 82 ZB Borchardt EU, Rn 245; Lach (Fn 81) S 220 ff. AA zu Recht Kingreen → § 17 Rn 13 ff. 83 Krit hierzu Lach (Fn 81) S 371 ff. 84 VerfGH, ÖZW 1999, 51; EuGRZ 1997, 362; EuZW 2001, 219. 85 Corte Constitutionale, 30.12.1997 – No 443, RIDPC 1998, 246. 86 BVerfGE 21, 54, 68; 79, 127, 158. 87 Vgl demgegenüber aber auch Kokott in: Lehner (Hrsg) Grundfreiheiten im Steuerrecht der EUStaaten, 2000, 1, 16; Gundel DVBl 2007, 269, 272; Riese/Noll NVwZ 2007, 516, 520 f. Näher zum Ganzen Wesser Grenzen zulässiger Inländerdiskriminierung, 1995, 165 ff. 88 Gundel DVBl 2007, 269, 272 f. Vgl auch Albers JZ 2008, 708, 712 ff; Bösch JURA 2009, 91 ff.
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verfassungsrechtlich zulässig ist, entfalten die Grundfreiheiten einen Anpassungsdruck. Vielfach haben die deutschen Gerichte angenommen, dass jedenfalls von den bestehenden Ausnahmemöglichkeiten zugunsten der Wirtschaftsteilnehmer großzügig Gebrauch gemacht werden muss.89 Das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten verbietet, EG-Ausländer schlechter als Inländer zu behandeln.90 Doch kommt das Diskriminierungsverbot auch den Inländern zugute, wenn sie sich aufgrund ihres Verhaltens gegenüber ihrem Mitgliedstaat in einer Lage befinden, die sich mit derjenigen anderer Personen, die in den Genuss der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist.91 So ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt ebenfalls gegeben, wenn ein Inländer (respektive eine nach inländischen Vorschriften gegründete juristische Person) eine Ware in einen anderen Mitgliedstaat ausführen92 oder eine ausgeführte Ware reimportieren will93, sich zwecks Annahme einer Arbeit, einer Niederlassung oder Erbringung einer Dienstleistung in das EG-Ausland begeben möchte,94 vom Inland aus dienstleistend in anderen EG-Staaten in Erscheinung zu treten beabsichtigt oder einen Kapital- und Zahlungsverkehr mit dem EG-Ausland abwickeln möchte. In allen diesen Fällen greift eine Berufung des Inländers auf die Grundfreiheiten gegenüber dem eigenen Staat durch. Ferner kann auch eine frühere Ansässigkeit in einem anderen EG-Mitgliedstaat ausreichend sein. Hat ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zuvor in einem anderen Mitgliedstaat die erforderliche Qualifikation für einen bestimmten Beruf erlangt, darf er sich seinem eigenen Mitgliedstaat gegenüber auf die Personenverkehrsfreiheiten berufen, um im Inland Zugang zu dem Beruf zu erlangen.95 Darüber hinaus kommen die Grundfreiheiten auch den Vertragspartnern der die Freiheit ausübenden Personen zugute,96 etwa die Freizügigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitgebern97 oder die Dienstleistungsfreiheit den Dienstleistungsempfängern (Rn 5). ZB kann sich ein Tourist aus dem EG-Ausland, von dem in einem staatlichen Museum höhere Eintrittsgelder als von den Einheimischen erhoben werden, auf die Dienstleistungsfreiheit berufen.98 Bei den Vertragspartnern kann es sich auch um Inländer handeln. Schließlich ist bereits erwähnt worden, dass die Personenfreiheiten auch die (aus- oder inländischen) Familienangehörigen der (primär) Berechtigten schützen (Rn 4). Diskriminierend sind auch Maßnahmen, die nicht alle Inländer begünstigen, son-
89 Vgl zu dem Inverkehrbringen von Bier, das nicht dem deutschen Reinheitsgebot entspricht, BVerwGE 123, 82, 85 ff; zu den Ausnahmebewilligungen zur Eintragung in die Handwerksrolle BVerfG-K, EuGRZ 2005, 740 = JK 6/06, GG Art 12 I/80. Generell zur Inländerdiskriminierung am Beispiel des Handwerksrechts s Albers JZ 2008, 712. 90 Zu Einheimischenprivilegierungen im Kommunalrecht s Roeßing Einheimischenprivilegierungen und EG-Recht, 2008, 125 ff. 91 EuGH, Slg 1979, 399, Rn 24 – Knoors; Slg 1996, I-3089, Rn 32 – Asscher. 92 Zur Verlagerung des Sitzes der Geschäftsleitung einer Gesellschaft in das EG-Ausland vgl EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 1 ff – Daily Mail. 93 EuGH, Slg 1996, I-3179, Rn 10 – Remy Schmit. 94 EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 12 – Ciola = JK 3/00, EGV Art 49/1; Slg 1999, I-7641, Rn 20 – Vestergaard. 95 Vgl EuGH, Slg 1979, 399, Rn 24 f – Knoors; Slg 1981, 2311, Rn 19 – Broekmeulen. 96 Jarass EuR 2000, 705, 708. 97 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 16 ff – Clean Car. 98 EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-721, Rn 14 f – Kommission/ Italien = JK 8/03, EGV Art 49/7.
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dern zB nur die Bewohner einer bestimmten Region.99 Statt von einem Verbot der Schlechterbehandlung wird in der Literatur häufig von einem Gebot der Inländergleichbehandlung gesprochen.100 Doch sind beide Begriffe nicht deckungsgleich, weil das Verbot einer Schlechterstellung die sog Inländerdiskriminierung nicht ausschließt (Rn 23). c) Arten der Diskriminierung 26
Eine Diskriminierung kann offen, unmittelbar, formal bzw rechtlich oder aber versteckt, mittelbar, materiell bzw faktisch sein. Die Begriffe werden idR synonym verwendet.101 Im ersten Fall ergibt sich die Differenzierung zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten zum Nachteil der die Grenze überschreitenden Produkte oder Personen ausdrücklich aus der getroffenen Regelung (zB weil auf die ausländische Herkunft einer Ware oder die Staatsangehörigkeit abgestellt wird), im zweiten (in der Praxis weitaus häufigeren) Fall werden die Produkte oder Personen ausländischer Herkunft102 zwar nicht als solche angesprochen, aber typischerweise stärker betroffen.103 Das Anknüpfungskriterium ist somit nur vordergründig neutral. Eine versteckte Diskriminierung ist bspw gegeben, wenn eine Kennzeichnungspflicht für Verbrauchsgüter in der Sprache des Gebietes besteht, in welches das Erzeugnis auf den Markt gebracht werden soll.104 Auch Vorschriften, die nach dem Wohn-, Aufenthalts- oder Beschäftigungsort unterscheiden, können als versteckte Diskriminierung anzusehen sein, weil sie sich auf EG-Ausländer zumeist anders auswirken als auf die im eigenen Land wohnenden oder arbeitenden Personen.105 Nicht ausreichend sind lediglich potenzielle versteckte Diskriminierungen. Ob eine versteckte Diskriminierung vorliegt, kann aber häufig zweifelhaft sein (vgl Fall 7). Der EuGH legt grds einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde. Auf eine Benachteiligungsabsicht des Mitgliedstaates kommt es nicht an. Die Unterscheidung von offenen und versteckten Diskriminierungen ist insbesondere auch für die Beschränkung der Grundfreiheiten von Bedeutung (Rn 76 ff). d) Wirkungsweise des Diskriminierungsverbots
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Diskriminierungen können gerechtfertigt sein (Rn 90 ff). Kommt eine Rechtfertigung nicht in Betracht, hat der Berechtigte ein Abwehrrecht, dh einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch, wenn es um Nachteilszufügungen geht. Beruht die Diskriminierung auf der Vorenthaltung einer Vergünstigung, wird dem Berechtigten grundsätzlich ein Anspruch auf Gleichstellung, jedenfalls aber auf Erlass einer neuen Regelung vermittelt (Rn 34). Ferner können sich aus dem Diskriminierungsverbot verfahrensrechtliche Anforderungen ergeben (Rn 38).
99 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 41 – Angonese = JK 1/01, EGV Art 39/1 (vgl Fall 6); Slg 2003, I-721, Rn 14 – Kommission/Italien = JK 8/03, EGV Art 49/7. 100 Vgl zB Frenz Grundfreiheiten, Rn 2103 ff. 101 Ausführlich dazu Plötscher (Fn 74) S 52 ff. 102 Soweit eine Grenzüberschreitung trotz Inländerbetroffenheit gegeben ist, werden die inländischen Produkte oder Personen den ausländischen gleichgestellt. 103 Vgl etwa EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 f – Sotgiu; Slg 1988, 4635, Rn 30 – Beentjes; Slg 1996, I-2617, Rn 17 ff – O’Flynn; Slg 2003 I-14887, Rn 74 f – DocMorris = JK 5/04, EGV Art 28/4 (Fall 1). 104 Vgl EuGH, Slg 1999, I-3175, Rn 36 ff – Colim. 105 Vgl die Rspr-Nachw bei Plötscher (Fn 74) S 116.
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2. Grundfreiheiten als Freiheitsrechte Der durch die Grundfreiheiten geschützte grenzüberschreitende freie Produkt- und Personenverkehr kann nicht nur durch diskriminierende, sondern auch durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Regelungen, welche In- und Ausländer in gleicher Weise betreffen, behindert oder unmöglich gemacht werden. So ist der selbstständige Betrieb eines zulassungspflichtigen Handwerks in Deutschland grundsätzlich nur gestattet, wenn der Betriebsleiter die Meisterprüfung bestanden hat.106 Würde dieses Erfordernis auch auf EG-Ausländer erstreckt,107 die dauernd handwerkliche Leistungen in Deutschland erbringen wollen, könnte der Maßnahme zwar uU eine (versteckte) Diskriminierungswirkung abgesprochen werden. Sie hätte aber gleichwohl zur Folge, dass der Marktzutritt von EG-Ausländern nahezu ausgeschlossen wird, weil es Meisterprüfungen im Ausland (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht gibt und nicht erwartet werden kann, dass die Ausländer oder die für sie arbeitenden Personen in leitender Stellung vor ihrer selbstständigen beruflichen Betätigung in Deutschland erst eine Meisterprüfung ablegen. Die Maßnahme müsste deshalb als Verstoß gegen die Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit (sowie gegen das Sekundärrecht108) gewertet werden, weil die Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote enthalten. Dies kommt bereits im Wortlaut der Vertragsbestimmungen zum Ausdruck.109 Der EuGH hat den Grundfreiheiten allerdings erst nach und nach neben Diskriminierungsverboten auch Beschränkungsverbote entnommen. Die Ausweitung erfolgte im Jahre 1974 zunächst für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit. In der (bis heute gültigen) Leitentscheidung Dassonville sah er als Maßnahme gleicher Wirkung (Art 28 EGV/34 AEUV) „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“ 110 Unter Beschränkungen iSd Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV/56 AEUV) sollen alle Anforderungen fallen, die „geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“ 111 Ob die Personenverkehrsfreiheiten als Beschränkungsverbote ausgelegt werden können, war lange strittig.112 In seinem (das unterschiedslos im In- und Ausland angewandte Transfersystem im Profifußball betreffenden) Bosman-Urteil 113 hat der EuGH die Frage für die Arbeitnehmerfreizügigkeit positiv beantwortet. Mitte der neunziger Jahre wurde in verschiedenen Urteilen die Niederlassungsfreiheit entsprechend interpretiert.114 Eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheiten liegt insbesondere vor, wenn sich zwar keine offene oder versteckte Schlechterstellung grenzüberschreitender
106 Vgl §§ 1, 7 HandwO. 107 Tatsächlich ist dies nicht der Fall. Vgl § 9 HandwO iVm EWG/EWR-HandwerkVO (BGBl I 2007, 3075). 108 RL 2005/36. 109 Nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist sprachlich etwas anders formuliert. 110 EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 111 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10 ff – van Binsbergen. 112 Für Beschränkungsverbote bereits Ehlers NVwZ 1990, 810, 811; Behrens EuR 1992, 145, 151 ff; Roth in: HdBEUWirtschR E I, Rn 77 ff. 113 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 92 ff – Bosman. 114 Vgl namentlich EuGH, Slg 1993, I-1663, Rn 16 f – Kraus; Slg 1995, I-4165, Rn 34 ff – Gebhard; vgl zum Letzteren Ehlers/Lackhoff JZ 1996, 467, 468. Ausf zum Ganzen Lackhoff (Fn 77) S 358 ff.
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Vorgänge feststellen lässt, wohl aber die Grenzüberschreitung selbst behindert wird.115 Eine solche Behinderung kann selbst dann gegeben sein, wenn die Inländer noch schlechter als die EG-Ausländer behandelt werden.116 Dass die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 56 EGV/63 AEUV) auch unterschiedslos geltende Beschränkungen verbietet, folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut („alle“ Beschränkungen).117 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten anzunehmen ist, wenn nationale Maßnahmen die Ausübung dieser „Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können.“ 118 Ergeben sich aus allen Grundfreiheiten nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote, stellen sich diese zugleich als Freiheitsrechte (und damit als Grundrechte) dar. Im Schrifttum ist dieses Verständnis der Grundfreiheiten zwar nach wie vor umstritten.119 Doch hätte es ansonsten der Verbürgungen wegen des ohnehin schon bestehenden Diskriminierungsverbotes des Art 12 EGV (18 AEUV) nicht bedurft. Auch lässt sich nur so eine weitergehende Marktöffnung erreichen. Da die Grundfreiheiten nur anwendbar sind, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt (Rn 23), setzt allerdings auch das Beschränkungsverbot Transnationalität voraus. Der grenzüberschreitende Sachverhalt wird aber umfassend (dh unabhängig von der Behandlung rein innerstaatlicher Vorgänge) geschützt. Die Eindringtiefe des Gemeinschaftsrechts in das Recht der Mitgliedstaaten erhöht sich somit erheblich. In der Entscheidung Carpenter hat der EuGH sogar die Ausweisung einer sich illegal im Vereinigten Königreich aufhaltenden philippinischen Staatsangehörigen, die mit einem britischen Staatsangehörigen verheiratet war, als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit des Ehemanns angesehen, weil sich die Trennung der Eheleute nachteilig auf das durch Art 9 I EMRK und damit zugleich durch die Unionsgrundrechte geschützte Familienleben sowie auf die Bedingungen auswirke, unter denen der Ehemann von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen könne (→ § 11 Rn 64).120 Bei einem so weiten Verständnis erfassen die Grundfreiheiten nahezu alle nationalen Regulierungen, die auch grenzüberschreitende Auswirkungen haben. Es muss jedoch stets ein Anknüpfungspunkt zu dem von den Grundfreiheiten erfassten Sach-
115 Vgl etwa für die Gründung von Zweigniederlassungen EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 39 – Centros. Nach der Rechtssache Graf (Slg 2000, I-493, Rn 23) hat der EuGH eine unterschiedslos anwendbare Regelung über Kündigungsabfindungen als Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit eingestuft, weil sie die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten kann, ihr Herkunftsland zu verlassen. S auch Jarass EuR 2000, 705, 711. 116 Vgl EuGH, Slg 2000, I-2681, Rn 47 ff – Lehtonen, wonach Transferfristen für Basketballspieler die Arbeitnehmerfreizügigkeit von EG-Ausländern selbst dann verletzen können, wenn für inländische Spieler noch längere Fristen gelten. 117 Näher dazu Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 38 ff; Glaesner in: Schwarze, EUV, Art 56 EGV Rn 16 ff. Vgl auch → § 12 Rn 7 ff. 118 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard. Vgl auch Slg 1996, I-1905, Rn 10 – Guiot; Slg 1999, I-8453, Rn 33 – Arblade; Slg 2001, I-2189, Rn 22 – Mazzoleni u ISA. 119 Für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten zB Kingreen (Fn 2) S 115 ff; ders in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 66 ff; ders in: v Bogdandy, Europ VfR, 652 ff. Vgl auch Jarass EuR 1995, 202, 216 ff, der jedenfalls nunmehr den Grundfreiheiten aber auch Beschränkungsverbote entnimmt (s auch dens EuR 2000, 705, 710 ff). Eine Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten befürwortet Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, 346 ff. 120 EuGH, Slg 2002, I-6279, Rn 39 – Carpenter = JK 12/02, EGV Art 49/6.
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verhalt bestehen, dh ein Binnenmarktnutzen121 gegeben sein. Ob sich im Fall Carpenter ein hinreichend spezifischer Zusammenhang zwischen dem Schutz der Ehe und der durch Art 49 EGV (56 AEUV) geschützten Dienstleistungsfreiheit herstellen ließ, ist sehr zweifelhaft.122 Rechtstechnisch ergeben sich aus Beschränkungsverboten Abwehr-, dh Unterlassungsund Beseitigungsansprüche, wenn der verpflichtete Hoheitsträger einem Beschränkungsverbot zuwiderzuhandeln droht oder zuwidergehandelt hat. Zum Verhältnis von Diskriminierungen und Beschränkungen vgl Rn 89. Lösung Fall 1: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 234 I lit a, II EGV (267 I lit a, II AEUV) bestehen keine Bedenken. 1. Schutzbereich der Freiheit des Warenverkehrs: Art 28 EGV (34 AEUV) verbietet Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Das Verbot des AMG betrifft den Handel zwischen den Mitgliedstaaten (vgl zum Kriterium des grenzüberschreitenden Sachverhalts Rn 23 f, 28 f, 63). Im Hinblick auf den Schutzbereich der Freiheit des Warenverkehrs unterscheidet der EuGH, ob die Arzneimittel in Deutschland zugelassen sind oder nicht. In Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel dürfen nach § 73 I AMG 1998 unabhängig vom Verkaufsmodus nicht in das deutsche Hoheitsgebiet eingeführt werden. Da § 73 AMG nur Art 6 I RL 2001/83/EG umsetzt, soll die Vorschrift nach Ansicht des EuGH nicht als Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 28 EGV (34 AEUV) bewertet werden können. Dies erscheint problematisch, weil die Vereinbarkeit von Beschränkungsmaßnahmen mit dem Sekundärrecht noch nichts darüber aussagt, ob der Schutzbereich einer Grundfreiheit betroffen ist, und im Übrigen auch das Sekundärrecht an der Grundfreiheit gemessen werden muss. Soweit sich das Verbot des Versandhandels auf in Deutschland zugelassene Arzneimittel erstreckt, nimmt der EuGH (nach Feststellung, dass das Sekundärrecht der Gemeinschaft nicht abschließend ist) an, dass der Schutzbereich der durch Art 28 EGV (34 AEUV) garantierten Freiheit des Warenverkehrs einschlägig ist. 2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs: Das in § 43 I AMG 1998 geregelte Verbot des Versandhandels mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln misst der EuGH nicht am Diskriminierungs-, sondern am Beschränkungsverbot des Art 28 EGV (34 AEUV). Die Kriterien der Dassonville-Formel (Rn 28), wonach jede Regelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßig Beschränkung anzusehen ist, sind erfüllt. Keine mengenmäßigen Beschränkungen sind nach der Keck-Rspr allerdings bloße Verkaufsmodalitäten (Rn 84 ff). Dies gilt indessen nur, wenn die Regelungen sowohl für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben (was hier der Fall ist), als auch den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren. Letzteres verneint hier der EuGH, weil die inländischen Apotheker die Möglichkeit hätten, die Arzneimittel in ihren Apotheken zu verkaufen, so dass sich das Verbot des Versandhandels auf sie weniger stark auswirke als auf die ausländischen Apotheker. Diese Auffassung ist nicht zweifelsfrei, weil das Verbot des Versandhandels nicht das Produkt Arzneimittel, sondern den Vertrieb betrifft. Folgt man dem EuGH, stellt das Verbot des § 43 I AMG 1998 eine Maßnahme gleicher Wirkung dar. 121 Vgl Gebauer (Fn 119) S 308 ff, 346 ff; Wilson Die Rechte von Drittstaatsangehörigen nach Gemeinschaftsrecht, 2007, 126. 122 Vgl auch Puth EuR 2002, 860, 865 ff; Mager JZ 2003, 204, 206 f; Kingreen EuGRZ 2004, 570, 573; Wilson (Fn 121) S 121 ff.
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3. Rechtfertigung der Beeinträchtigung: Die Rechtfertigungsnorm des Art 30 EGV (36 AEUV) kommt nur zum Zuge, wenn nicht der Sachbereich durch sekundäres EG-Recht abschließend geregelt worden ist (ansonsten könnte die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung durch nationales Recht unterlaufen werden). Da dies auf den Versandhandel von Arzneimitteln nicht zutrifft, kann § 43 I AMG 1998 auf den Rechtfertigungsgrund „Schutz der Gesundheit und des Lebens“ iSd Art 30 EGV (36 AEUV) gestützt werden. Weiterhin muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Insbesondere muss die nationale Maßnahme zur Erreichung des Schutzziels erforderlich sein. Hierbei differenziert der EuGH zwischen verschreibungspflichtigen und verschreibungsfreien Arzneimitteln. Im zuletzt genannten Fall sei das Gefahrenpotential gering. Auch könne über das Internet eine für diese Medikamente hinreichende Information oder Beratung vorgesehen werden. Dagegen sei bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln der persönliche Kundenkontakt notwendig. Deshalb verletze die Regelung des § 43 I AMG 1998 den Art 28 EGV (34 AEUV) insoweit, als sie sich auf Medikamente erstreckt, die im Importstaat zugelassen sind und nicht der Verschreibungspflicht unterliegen.123
3. Grundfreiheiten als Leistungsrechte 32
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Fall 2: (EuGH, Slg 1997, I-6959 ff – Kommission/Frankreich = JK 1/99, EGV Art 30/2) Nach erfolgloser Abgabe einer begründeten Stellungnahme erhebt die EG-Kommission vor dem EuGH Klage auf Feststellung, dass die Französische Republik gegen Art 28 EGV (34 AEUV) verstoßen hat. Begründet wird dies damit, dass französische Landwirte seit vielen Jahren Anschläge auf Lastwagen verüben, mit denen Obst und Gemüse aus Spanien und Italien nach Frankreich importiert wird. Die französische Regierung verteidigt sich mit dem Hinweis, dass sie die ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen getroffen habe.
Leistungsrechte zielen auf positives hoheitliches Handeln ab. Sie lassen sich danach einteilen, ob sie auf abgeleitete Teilhabe (Rn 34), hoheitlichen Schutz (Rn 35) oder originäre Teilhabe (Rn 37) gerichtet sind. a) Abgeleitete Teilhaberechte
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Abgeleitete Teilhaberechte wurzeln im Gleichheitssatz und räumen dem gleichheitswidrig Ausgeschlossenen das Recht auf Teilhabe an einer gewährten hoheitlichen Begünstigung ein. Handelt es sich bei den Grundfreiheiten in erster Linie um Diskriminierungsverbote und somit um Gleichheitsrechte, kann nichts anderes gelten. Allerdings folgt aus einem rechtswidrigen Begünstigungsausschluss noch nicht notwendigerweise, dass die Leistung gewährt werden muss. So ist im nationalen Recht anerkannt, dass sich ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz auf dreifache Weise beheben lässt: die Begünstigung wird ausgedehnt, sie wird allen entzogen oder der Verstoß wird zum Anlass genommen, den Sachverhalt auf andere Weise neu zu regeln. Einen Anspruch auf die Leistung hat der Bürger nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn eine verfassungsrechtliche oder (im Falle eines Verwaltungshandelns) gesetzliche Verpflichtung zur gleichheitswidrig vorenthaltenen Begünstigung besteht, wenn der Gesetzgeber ein komplexes Regelungssystem geschaffen hat und erkennbar daran festhalten will oder wenn eine Selbstbindung eingetreten ist (was
123 Näher zum Ganzen Ruffert Jura 2005, 258 ff.
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grundsätzlich nur im Hinblick auf die Verwaltung denkbar erscheint).124 Im Gemeinschaftsrecht stellt sich die Rechtslage anders dar, weil normalerweise nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Beseitigung der Diskriminierung zu Lasten der Inländer erfolgen soll. Wird etwa den ausländischen Arbeitnehmern zu Unrecht eine Arbeitsunterstützung vorenthalten, ist nicht damit zu rechnen, dass zur Wiederherstellung der Gleichheit auch die inländischen Arbeitnehmer die Unterstützung verlieren sollen. Dementsprechend leitet der EuGH in stRspr aus Art 12 iVm Art 18 EGV (18 iVm 21 AEUV) ein abgeleitetes Teilhaberecht an denjenigen sozialen Vergünstigungen ab, die der Aufnahmestaat seinen Staatsbürgern gewährt (Rn 14). Zudem muss auch ein nur zeitweiliger Vorteil der Inländer unterbunden werden. Somit richtet sich das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten auf Teilhabe, wenn und soweit die Diskriminierung der EG-Ausländer auf der Vorenthaltung einer den Inländern gewährten Begünstigung beruht.125 Dem nationalen Gesetzgeber bleibt die Möglichkeit, den Sachverhalt in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten neu zu regeln. b) Recht auf hoheitliche Schutzgewähr Im deutschen Recht wird aus den Freiheitsgrundrechten unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater abgeleitet.126 Entsprechende Wirkungen vermögen auch die Grundfreiheiten zu entfalten.127 Handelshemmnisse können nicht nur von den Mitgliedstaaten oder den Europäischen Gemeinschaften selbst, sondern auch von Privaten ausgehen. Die Mitgliedstaaten (oder die EG) sind in ihrer Eigenschaft als Garanten der Grundfreiheiten128 ggf verpflichtet, hiergegen einzuschreiten. Das gilt allerdings nur, wenn sich die beeinträchtigenden Handlungen der Privaten nicht im Bereich legitimer Grundrechtsausübung bewegen. So kann die Nichtuntersagung einer die Freiheit des Warenverkehrs beeinträchtigenden Versammlung (Sperrung der Brenner-Autobahn, um gegen die Umweltbelastung zu demonstrieren) wegen der Versammlungsfreiheit geboten sein.129 Besteht eine Verpflichtung zum Schutz der Grundfreiheiten, kann diese mit einem Anspruch des Schutzbedürftigen korrespondieren. Allerdings steht das Wie des Schutzes grundsätzlich im Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine Verpflichtung zu einem bestimmten Einschreiten kann es nur in Ausnahmefällen geben. Wann der Einzelne einen Anspruch auf fehlerfreie Entscheidung bzw auf Vornahme bestimmter Schutzmaßnahmen hat, ist (ebenso wie im nationalen Recht) noch nicht hinreichend geklärt.130 Ein Anspruch dürfte erst anzunehmen sein, wenn das Untätigbleiben einer Beschränkung gleichkommt. Von den aus den Grundfreiheiten abzu-
124 Vgl dazu auch Pieroth/Schlink Grundrechte, 24. Aufl 2008, Rn 485 f. 125 Vgl auch Kingreen (Fn 2) S 192; Frenz Grundfreiheiten, Rn 184. 126 Vgl die Rechtsprechungsnachweise bei Sachs in: ders (Hrsg) Grundgesetz, 5. Aufl 2009, Vor Art 1 GG Rn 35. Näher dazu Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, 51 ff; krit Isensee FS Großfeld, 1999, S 485, 500 ff. 127 Frenz Grundfreiheiten, Rn 190 ff. 128 Vgl Burgi EWS 1999, 327, 329 f. 129 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 94 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. Näher dazu Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213 ff. 130 Näher zu den grundfreiheitlichen Schutzpflichten und den damit verbundenen Konsequenzen Schwarze EuR 1998, 53 ff; Szczekalla DVBl 1998, 219 ff; Burgi EWS 1999, 327 ff; Kühling NJW 1999, 403 f.
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leitenden Schutzpflichten sind die Schutzpflichten der Unionsgrundrechte (und der nationalen Grundrechte) zu unterscheiden (→ § 14 Rn 35), die uU eine Beschränkung der Grundfreiheiten gebieten können (Rn 83).
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Lösung Fall 2: Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen nicht. Die Kommission hat das in Art 226 EGV (258 AEUV) vorgesehene Verfahren eingehalten. Begründet ist die Klage, wenn Frankreich gegen Art 28 EGV (34 AEUV) verstoßen hat. Der freie Warenverkehr kann nicht nur durch Handlungen, sondern auch durch Unterlassungen eines Mitgliedstaates beeinträchtigt werden, wenn Privatpersonen den Handelsverkehr stören. Es steht im Ermessen der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung allein zuständigen Mitgliedstaaten, zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer solchen Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen der Einfuhr zu beseitigen. Da sich Frankreich im vorliegenden Fall aber offenkundig und beharrlich geweigert hat, ausreichende und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Sachbeschädigungen zu unterbinden, hat der EuGH zu Recht einen Verstoß gegen Art 28 EGV (34 AEUV) angenommen.
c) Recht auf originäre Teilhabe 37
Sieht man von den Ansprüchen auf Gewährung von Schutz sowie den sogleich zu behandelnden verfahrensrechtlichen Ansprüchen ab, lässt sich aus den Grundfreiheiten ein Anspruch auf Schaffung noch nicht vorhandener Einrichtungen oder auf die Gewährung zusätzlicher Vergünstigungen sonstiger Art nicht ableiten. Die normativen Grundlagen geben dies nicht her. Eine Umpolung der Grundfreiheiten von Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten in Leistungsgebote würde diese auch überfordern, den Spielraum der Mitgliedstaaten und des Gemeinschaftsgesetzgebers zu weit zurückdrängen und der europäischen Gerichtsbarkeit zu viel Raum geben. Allenfalls in krassen Ausnahmefällen könnte etwas anderes gelten.131
4. Grundfreiheiten als Verfahrensrechte 38
Aus den Grundfreiheiten dürften sich ferner Verfahrensgarantien entnehmen lassen. In Rspr und Lit hat diese Dimension der Grundfreiheiten lange Zeit wenig Aufmerksamkeit gefunden. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass auch die Anwendung des Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbots oftmals verfahrensrechtliche Auswirkungen haben kann, ohne dass es notwendigerweise einer unmittelbaren Ableitung von Verfahrensrechten aus den Grundfreiheiten bedarf. Wird zB ein Anwalt aus einem anderen Mitgliedstaat in Deutschland nicht zugelassen, weil er kein deutsches Staatsexamen abgelegt hat, stellt dies eine Diskriminierung oder eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Die Diskriminierung oder Beschränkung ist gerechtfertigt, wenn das deutsche Recht ein Verfahren zur Verfügung stellt, in dem die Gleichwertigkeit des im Herkunftsland erworbenen Diploms geprüft wird und wenn der Anwalt die Möglichkeit erhält, die noch fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten (zB im Hinblick auf den deutschen Rechtskreis) in einer (von der staatlichen Pflichtfachprüfung – Staatsexamen – zu unterscheidenden) Zusatz-
131 ZB dürfte die Gründung einer juristischen Person in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Mitgliedstaates nicht dadurch unmöglich gemacht werden, dass überhaupt keine Rechtsformen für juristische Personen vorgesehen werden.
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prüfung nachzuweisen.132 Statt negativ zu argumentieren, könnte aber auch positiv aus der Niederlassungsfreiheit ein Recht auf die genannten Verfahrensvorkehrungen abgeleitet werden, wenn die Zulassung zum Anwaltsberuf nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation abhängt. So hat der EuGH in seiner Vlassopoulou-Entscheidung davon gesprochen, dass eine „Prüfung … nach einem Verfahren vorgenommen werden muss, das mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts … in Einklang steht.“133 Unabhängig von der juristischen Konstruktion zeigt das Beispiel, dass sich aus den Grundfreiheiten nicht nur gelegentlich, sondern oftmals Verfahrensrechte ergeben.134 Auch die sich aus den Grundfreiheiten ergebenden Schutzpflichten laufen oftmals auf eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten hinaus, Verfahrenspositionen vorzusehen. In der Rspr des EuGH kommt die verfahrensrechtliche Dimension der Grundfreiheiten (und sonstigen subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts) immer häufiger zum Tragen. So hat der EuGH dem Gemeinschaftsrecht im Falle seiner unmittelbaren Anwendung und subjektiv-rechtlichen Wirkung einen Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz (dh auf einen Rechtsweg, auf ein Gericht und auf ein wirksames gerichtliches Verfahren135) entnommen.136 Daher sollen die Mitgliedstaaten im Interesse der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet sein.137 Der EuGH hat sich hierbei zwar in erster Linie auf Art 10 EGV (4 III EUV) berufen. Kommt es aber auf den Effet-utile-Gedanken an, kann dieses Gebot auch den Grundfreiheiten selbst entnommen werden. Ferner hat der EuGH zB entschieden, dass die Art 43, 49 EGV (49, 56 AEUV) sowie die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Nichtdiskriminierung und der Transparenz dahingehend auszulegen sind, dass sie es einer öffentlichen Stelle grundsätzlich verbieten, eine öffentliche Dienstleistungskonzession ohne Ausschreibung an einen Privaten zu vergeben.138
5. Grundfreiheiten als Elemente objektiver Ordnung Von einer objektiv-rechtlichen Geltung der Grundfreiheiten wird kaum gesprochen. Gelegentlich wird eine solche Wirkung ausdrücklich abgelehnt.139 Indessen lassen sich subjektive Rechte nur aus dem objektiven Recht herleiten.140 Objektives Recht und subjektives Recht können sich, müssen sich aber nicht entsprechen, weil nicht alle Verhaltensbindungen des objektiven Rechts mit einem subjektiven Recht korrespondieren. Die Grundfreiheiten haben eine objektiv-rechtliche Bedeutung. So strahlen sie auf alle Rechtsgebiete 132 133 134 135 136
137 138
139 140
Vgl RL 2005/36. EuGH, Slg 1991, I-2357, Rn 22 – Vlassopoulou. Vgl statt vieler auch EuGH, Slg 1996, I-2691, Rn 8 ff – Kommission/Italien. Dörr DVBl 2008, 1401, 1402 f m Nachw der Rspr. Vgl EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 18 f – Johnston; Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens; Slg 1992, I-3003, Rn 15 – Borell; Slg 2001, I-9517, Rn 57 – Kühne; Slg 2002, I-6677, Rn 39 – Pequeños Agricultores; Tonne Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, 200 ff; Ehlers DVBl 2004, 1441 f. Vgl EuGH, Slg 1990, I-2433, Rn 19 – Factortame. EuGH, Slg 2005, I-8585, Rn 72 – Parking Brixen. Vgl a EuGH, Slg 2005, I-7287, Rn 28 – Coname (Zugang zu angemessenen Informationen; vgl dazu Braun/Hauswaldt EuZW 2006, 176 ff). Kingreen (Fn 2) S 200 f. Wie hier neuerdings Frenz Grundfreiheiten, Rn 213 ff. Missverständlich daher zB a BVerfGE 7, 198, 205; 50, 290, 337, wonach die deutschen Grundrechte „auch“ eine objektive Werteordnung enthalten.
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der Mitgliedstaaten sowie auf das von den Organen der Gemeinschaft erlassene Recht aus. Dies hat zur Folge, dass das gesamte mitgliedstaatliche Recht (einschließlich des Privatrechts) und das Sekundärrecht der Gemeinschaften den Grundfreiheiten entsprechend und grundfreiheitskonform ausgelegt werden muss.141 Ferner verpflichten die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten (und Gemeinschaften) unter bestimmten Voraussetzungen zur Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 35) und zu Verfahrensvorkehrungen (Rn 38). Da den Grundfreiheiten möglichst reale Geltung verschafft werden soll, können ihnen bereits dann (nicht einklagbare) Bindungswirkungen zu entnehmen sein, wenn ein Anspruch (sei es auch nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung) noch nicht gegeben ist.142 Auch im Falle Carpenter (Rn 29) dürfte die objektiv-rechtliche Dimension der Grundfreiheiten zum Zuge gekommen sein, weil einem Rechtsbehelf der nicht durch die Dienstleistungsfreiheit geschützten Ehefrau gegen ihre Ausweisung wegen Verletzung der Dienstleistungsfreiheit des Mannes stattgegeben wurde. In keinem Falle wirken die Grundfreiheiten kompetenzbegründend oder kompetenzerweiternd. Will die EG die Grundfreiheiten konkretisieren oder erweitern oder das einschlägige mitgliedstaatliche Recht angleichen, muss von den Ermächtigungen zur Ausgestaltung der Grundfreiheiten (zB Art 40, 44, 47, 52, 53 EGV/46, 50, 53, 59, 60 EAUV) Gebrauch gemacht werden.
III. Berechtigte der Grundfreiheiten 1. Staatsangehörige der Mitgliedstaaten (Unionsbürger) 40
Träger der Grundfreiheiten sind vor allem die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürger). Dies ergibt sich für die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit aus den Art 39 II, 43 I, 49 I EGV (45 II, 49 I, 56 I AEUV). Für die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und Zahlungsverkehrs kann nichts anderes gelten. Über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit entscheiden grundsätzlich143 die Mitgliedstaaten allein. Als deutsche Staatsangehörige sind alle Deutschen iSd Art 116 GG anzusehen.144 Zu den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten gehören zT auch die Angehörigen überseeischer Länder und Hoheitsgebiete wie zB von Gibraltar oder Martinique 145 (vgl näher dazu Rn 56). Berechtigt werden in erster Linie die EG-Ausländer, bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Rn 32) auch die Inländer. Besitzt eine Person sowohl die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EG als auch eines Drittstaates, reicht Ersteres aus.146 Teilweise werden weitere Anforderungen gestellt. ZB gesteht Art 43 I 2 EGV (49 I 2 AEUV) nur Ansässigen die Errichtung einer sekundären Niederlassung (Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen, Tochtergesellschaften) zu. Unerheblich ist, ob die Staatsangehörigen volljährig oder geschäftsfähig sind. Hierauf 141 Vgl auch Jarass EuR 1991, 211, 222; dens EuR 1995, 202, 211; Zuleeg VVDStRL 53 (1993), 154, 165 ff. 142 Allgemein zur Wirkung von Grundrechten als Elemente objektiver Ordnung Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl 1999, § 9 Rn 290 ff. Krit W Cremer Freiheitsgrundrechte – Funktionen und Strukturen, 198 ff. 143 Zu den Ausnahmen vgl Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorb Art 39 bis 41 EGV Rn 49. 144 Dies ergibt sich auch aus einer in die Schlussakte aufgenommenen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge (BGBl II 1957, 764). 145 Näher dazu Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorb Art 39 bis 41 EGV Rn 51 ff. 146 Vgl EuGH, Slg 1992, I-4239, Rn 11 – Micheletti.
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kann es nur für die Geltendmachung (zB in einem gerichtlichen oder einem Verwaltungsverfahren) ankommen (Rn 115 ff).
2. Juristische Personen und Personenmehrheiten innerhalb der Gemeinschaft Fall 3: Die deutsche Großstadt A ist alleinige Gesellschafterin einer Stadtwerke-GmbH, die vielfältige Leistungen auf dem Gebiet des Verkehrs-, Energie-, Wasser- und des Beratungssektors erbringt. Die GmbH möchte ihre wirtschaftlichen Dienste künftig in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anbieten. Als die staatliche Kommunalaufsichtsbehörde davon erfährt, fordert sie die Stadt A auf, darauf hinzuwirken, dass dies unterbleibt. Zur Begründung beruft sich die Behörde darauf, dass Gemeinden und damit auch deren wirtschaftliche Unternehmen an das in Deutschland geltende kommunalrechtliche Örtlichkeitsprinzip gebunden seien, sie sich von der Ausnahme der interkommunalen Zusammenarbeit abgesehen also grundsätzlich nur auf dem Gebiet der Gemeinde betätigen dürften. A möchte wissen, ob das Verlangen der Behörde mit den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist.
Kraft ausdrücklicher Anordnung der Art 48 I, 55 EGV (54 I, 62 AEUV) werden im Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit die Gesellschaften den natürlichen Personen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, gleichgestellt. Unter Gesellschaften versteht der EG-Vertrag Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen (Art 48 II EGV/54 II AEUV). Auf eine rechtliche Verselbstständigung kommt es nicht an. Entscheidend ist nur eine rechtlich vorstrukturierte Organisationsform, so dass deutsche Gesellschaften bürgerlichen Rechts auch dann erfasst werden, wenn man ihnen neben der Rechtsfähigkeit auch eine Teilrechtsfähigkeit absprechen würde.147 Aus der Erwähnung von Genossenschaften und juristischen Personen des öffentlichen Rechts folgt, dass der Begriff des Erwerbszwecks weit zu verstehen ist und nicht iSe Gewinnstrebens ausgelegt werden darf. Ausreichend ist vielmehr jede Teilnahme am Wirtschaftsleben mittels Angebots einer entgeltlichen, auf teilweise Kostendeckung abzielenden Tätigkeit.148 Damit sind nur Organisationseinheiten ausgenommen, die zB rein religiöse, karitative, kulturelle oder soziale Zielsetzungen verfolgen.149 Zu den berechtigten juristischen Personen gehören neben den Stiftungen und Vereinen auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts gesellschaftlicher oder staatlicher Provenienz und sogar die Staaten selbst, sofern sie sich (zB durch nichtrechtsfähige Betriebe) im EG-Ausland wirtschaftlich betätigen wollen. Insoweit unterscheiden sich Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte (→ § 14 Rn 43). Gleichstellungsvoraussetzung der juristischen Personen mit den natürlichen Personen ist aber, dass die „Gesellschaften“ nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden sind und in der Gemeinschaft eine Präsenz (satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung, Hauptniederlassung) haben (Art 48 I EGV/54 I AEUV). Auf die Staats-
147 HM, vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 7. Krit Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 4. Zur Teilrechtsfähigkeit von BGB-Gesellschaften vgl BGHZ 146, 341. 148 Vgl auch Oppermann ER, § 26 Rn 8 ff; Scheuer in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 1. 149 Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 3.
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angehörigkeit der Gesellschafter 150 kommt es ebenso wenig wie auf das Vorliegen einer tatsächlichen dauerhaften Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaates an.151 Im Falle des Art 43 I 2 EGV (49 I 2 AEUV) müssen die Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sein. Da sich ein Binnenmarkt nicht verwirklichen lässt, wenn sich Gesellschaften iSd Art 48 II EGV (54 II AEUV) nicht auf die Freiheit des Waren- sowie des Kapital- und des Zahlungsverkehrs berufen können, gilt insoweit dasselbe wie für die Inanspruchnahme der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.152 Selbst die Arbeitnehmerfreizügigkeit soll nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur natürlichen Personen zugute kommen. Vielmehr könne sich auch ein Arbeitgeber auf Art 39 EGV (45 AEUV) berufen, wenn er im Mitgliedstaat seiner Niederlassung einen Angehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat mangels dessen Wohnsitzes im Inland nicht beschäftigen dürfe (Rn 4). Unerheblich ist, ob es sich bei dem Arbeitgeber um eine natürliche oder juristische Person handelt. Lösung Fall 3: Wie sich aus Art 55 (62 AEUV) iVm 48 EGV (54 AEUV) ergibt, können sich alle juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen, und somit auch die öffentlichen Unternehmen auf die Grundfreiheiten berufen. Dies gilt uneingeschränkt gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. Die Grundfreiheiten vermitteln den privaten Unternehmen auch ein Marktaustrittsrecht gegen den eigenen Mitgliedstaat (so dass die Unternehmen europaweit tätig werden dürfen). Vielfach wird angenommen, dass für die öffentlichen Unternehmen entsprechendes zu gelten hat.153 Dem ist nicht zu folgen.154 Das Gemeinschaftsrecht interessiert sich nicht für die Organisation der Mitgliedstaaten, sondern behandelt diese als Einheit. Betreffen die mitgliedstaatlichen Bindungen des Gemeinschaftsrechts alle Untergliederungen des Staates (Bund, Länder, Kommunen, sonstige Verwaltungsträger), kann das Gemeinschaftsrecht den als Einheit verstandenen Staat auch nicht vor sich selbst schützen. Eine erlaubte Selbstbeschränkung liegt auch vor, wenn der Bund oder ein Land den Kommunen oder ihren Unternehmen Bindungen nach Art des deutschen kommunalen Wirtschaftsrechts auferlegt, welche Privaten gegenüber nicht gelten. Geht man entgegen der hier vertretenen Auffassung wegen der Personenverschiedenheit von einer Beschränkung aus, wäre diese jedenfalls gerechtfertigt. Somit gewähren die Grundfreiheiten den öffentlichen Unternehmen im Gegensatz zu den Privaten kein Marktaustrittsrecht gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat.
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Vgl Ahlt/Deisenhofer Europarecht, 3. Aufl 2003, 193 f. Lackhoff (Fn 77) S 193 f. Vgl auch Frenz Grundfreiheiten, Rn 228. Vgl Nagel Gemeindeordnung als Hürde?, 1999, 48 ff; dens NVwZ 2000, 758, 761; Becker ZNER 2000, 259, 261; Schwintowski NVwZ 2001, 607, 610, 612; Jarass Kommunale Wirtschaftsunternehmen im Wettbewerb, 2002, 41 ff; Langner Die örtliche Begrenzung kommunaler Wirtschaftstätigkeit und die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2008, 115 ff. 154 Vgl auch Manthey Bindung und Schutz öffentlicher Unternehmen durch die Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts, 2001, 115 ff; Weiß DVBl 2003, 564 ff; Ehlers in: Wurzel/ Schraml/Becker (Hrsg), Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen, 2005, B Rn 12. Vgl auch Frenz Grundfreiheiten, Rn 241.
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3. Drittstaatler sowie juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Gemeinschaft Fall 4: (EuGH, Slg 2006, I-9521 – Fidium Finanz = JK 3/07, EGV Art 49/16). A, eine Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz, vergibt Kredite. Etwa 90 % der Kredite gehen an in Deutschland ansässige Kunden. Gem §§ 32 I 1, 53 b I KWG (Sart Ergb 856) bedarf die Tätigkeit der gewerbsmäßigen Kreditvergabe im Inland durch ein in einem Drittstaat ansässiges Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen einer vorherigen Erlaubnis. A fehlte diese Erlaubnis. Die zust Behörde (BAFin) untersagte A deshalb die Kreditvergabe in Deutschland. Ist die Untersagung mit den Art 49, 56 EGV (56, 63 AEUV) vereinbar?
Unter bestimmten Voraussetzungen können sich auch Drittstaatler oder juristische Personen und Personenmehrheiten außerhalb der Gemeinschaft auf die Grundfreiheiten berufen. Als einzige Grundfreiheit verbietet die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art 56 EGV/63 AEUV) ausdrücklich auch Beschränkungen „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“, berechtigt also auch Drittstaatsangehörige. Damit soll die freie Zirkulation des Kapitals in der Gemeinschaft ungeachtet seiner Herkunft ermöglicht werden.155 Ferner unterfallen der Warenverkehrsfreiheit auch Waren aus dritten Ländern, die sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden (Art 23 II, 24 EGV/28 II, 29 AEUV). Dies spricht dafür, alle mit solchen Waren handelnde Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat in den Schutz einzubeziehen.156 Dagegen schützen die Freiheiten des Personenverkehrs (dh die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit) grds nur die Angehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürger). Doch können sich aus den Freiheiten des Personenverkehrs uU abgeleitete Rechte für Drittstaatsangehörige ergeben. So kommen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit auch den (möglicherweise aus Drittstaaten stammenden) Familienangehörigen der Berechtigten zugute und vermitteln ihnen einen selbstständigen Anspruch auf Einhaltung der Freiheiten (Rn 4).157 Sind Gesellschaften iSd Art 48 EGV (54 AEUV) nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden und haben sie ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft, stehen sie den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind. Schließlich kann sich aus Abkommen der EG mit dritten Staaten eine Gleichstellung der Drittstaatsangehörigen mit den Angehörigen der Mitgliedstaaten (Unionsbürgern) ergeben. So garantiert Art 28 EWR-Abk158 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den EG-Mitgliedstaaten und den EFTA-Staaten. Auch mit der Schweiz ist ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen worden.159 Die Abkommen begründen unmittelbare Rechte für den Einzelnen entsprechend Art 39 EGV
155 Vgl Weber in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 24. Generell zur mittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten für in Drittstaaten ansässige Unternehmen Sedemund BB 2006, 2781. 156 Ebenso Jarass EuR 2000, 705, 708. AA Kingreen (Fn 2) S 79 mit dem Hinweis darauf, dass die Warenverkehrsfreiheit gem Art 310 EGV (217 AEUV) Gegenstand von Assoziierungsabkommen sein kann. 157 Vgl auch RL 2004/38, Art 12 VO 68/1612/EWG. Näher zum Ganzen Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 8; Lackhoff (Fn 77) S 182; Craig/de Búrca EU, 746 f. Zur Dienstleistungsfreiheit vgl Rn 29 (Fall Carpenter). 158 Sart II Nr 310. 159 ABl 2002 L 114, 6. Vgl dazu Kahil-Wolff/Mosters EuZW 2001, 5 ff.
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(45 AEUV).160 Das Assoziationsabkommen der EWG mit der Türkei 161 sowie der auf dieser Grundlage getroffene Assoziierungsratsbeschluss Nr 1/80 räumen den türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen zwar kein Recht auf Einreise und Aufnahme einer ersten Beschäftigung, wohl aber ein Recht auf ordnungsgemäße Beschäftigung entsprechend Art 39 EGV (45 AEUV) stufenweise mit der Dauer ihrer Beschäftigung ein.162
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Lösung Fall 4: 1. Vereinbarkeit der Untersagung mit Art 49 EGV (56 AEUV): Aus den Art 50 I, 51 I EGV (57 I, 58 I AEUV) könnte sich ergeben, dass die Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr gegenüber denjenigen über den freien Kapitalverkehr nur subsidiär gelten. Der EuGH ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Eine nationale Bestimmung, die sich zugleich auf die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit bezieht, kann die Ausübung beider Freiheiten gleichzeitig hindern. Die in Rede stehende nationale Maßnahme muss dann beiden Freiheiten entsprechen, falls sich nicht herausstellt, „dass unter den Umständen des Einzelfalls eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann“. Nach stRspr stellt die Tätigkeit der Kreditvergabe durch ein Kreditinstitut eine Dienstleistung iSd Art 49 EGV (56 AEUV) dar. Als Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs sind alle Maßnahmen anzusehen, welche die Ausübung dieser Grundfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen. Das Erfordernis einer Beschränkung stellt eine solche Maßnahme dar. Jedoch kann sich A als Drittstaatsunternehmen nicht auf die Dienstleistungsfreiheit berufen. 2. Vereinbarkeit der Untersagung mit Art 56 EGV (63 AEUV): Die Vergabe von Darlehen und Krediten von Gebietsfremden an Gebietsansässige unterfällt dem Kapitalverkehr. Auch Unternehmen aus Drittstaaten können sich auf Art 56 EGV (63 AEUV) berufen. Doch ist der EuGH der Auffassung, dass die Kapitalverkehrsfreiheit für den zu beurteilenden Sachverhalt im Vergleich zu der Dienstleistungsfreiheit „völlig zweitrangig“ ist. Die Beeinträchtigung des Kapitalverkehrs sei nur eine zwangsläufige Folge der Beschränkung des Dienstleistungsverkehrs. Damit scheidet Art 56 EGV (63 AEUV) als Prüfungsmaßstab aus (nach der hier vertretenen Ansicht zweifelhaft). Somit stehen die Grundfreiheiten der getroffenen bankenaufsichtlichen Maßnahmen nicht entgegen.
IV. Verpflichtete der Grundfreiheiten 1. Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften 48
Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten. Da die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht entfalten (Rn 7), ist der Begriff des Mitgliedstaates in einem funktionalen Sinne zu verstehen. Erfasst werden alle Träger von Staatsgewalt. Dazu gehören neben Bund, Ländern und Kommunen sowie den sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts staatlicher Provenienz einschließlich der Kammern,163 die zur Gänze unmittelbar oder mittelbar von einer juristi-
160 Vgl Franzen in Streinz, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 51 f. 161 ABl 1963 L 217, 3687. 162 Näher dazu Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 28 ff; Schneider/Wunderlich in Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 24 ff. 163 Vgl zu den Standesorganisationen mit hoheitlichen oder hoheitsähnlichen Befugnissen EuGH, Slg 1989, 1295, Rn 15 f – Royal Pharmaceutical Society; Slg 1993, I-6787, Rn 15 ff – Hünermund.
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schen Person des öffentlichen Rechts getragenen juristischen Personen des Privatrechts (wie die staatlichen oder kommunalen Eigengesellschaften). Gebunden wird sowohl der Mitgliedstaat, in dem der Empfänger der wirtschaftlichen Leistung sitzt oder in dem die Niederlassung begehrt wird, als auch der Ausgangsstaat.164 Unerheblich ist, welcher Handlungsformen sich die Mitgliedstaaten bedienen.165 Ferner werden alle Einrichtungen, deren Verhalten einem Mitgliedstaat aufgrund des von ihm ausgeübten beherrschenden Einflusses zugerechnet werden kann, in Anspruch genommen.166 Einen beherrschenden Einfluss kann der Staat zB ausüben, wenn die Mitglieder der nicht zur staatlichen Verwaltungsorganisation gehörenden Einrichtung vom Staat ernannt und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden167 oder wenn die der staatlichen Aufsicht unterstehende Einrichtung mit Rechten ausgestattet wird, „die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.“168
2. Europäische Gemeinschaften Neben den Mitgliedstaaten sind auch die Europäischen Gemeinschaften selbst respektive ihre Organe, und damit wegen der Identität der Organe 169 auch die Europäische Atomgemeinschaft, an die Grundfreiheiten gebunden.170 Zum einen kann der Binnenmarkt ebenfalls durch Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften behindert werden. Zum anderen sollen die Grundfreiheiten im gesamten Gemeinschaftsgebiet Beachtung finden. Sie stehen als primärrechtliche Rechtsquellen an der Spitze der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie und gehen daher im Kollisionsfall dem Sekundärrecht (Art 249 I EGV: „nach Maßgabe dieses Vertrags“ (vgl auch 288 I AEUV)) vor.171 Es wäre auch widersprüchlich, wenn die Gemeinschaften den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegen dürften, die für sie selbst nicht gelten (vgl Rn 9). Für die Europäische Atomgemeinschaft gelten allerdings weitgehend Besonderheiten172 (auf die hier nicht eingegangen wird) (vgl auch Rn 65).
164 Jarass EuR 2000, 705, 714. 165 Vgl EuGH, Slg 1982, 4005, Rn 3 ff – Kommission/Irland. 166 Vgl EuGH, Slg 1983, 4083, Rn 16 f – Apple and Pear Development Council; Slg 1990, I-4625, Rn 16 ff – Hennen Olie. Vgl auch Art 2 lit b RL 2006/111. 167 EuGH, Slg 1990, I-4625, Rn 15 – Hennen Olie. 168 Vgl EuGH, Slg 1990, I-3313, Rn 18 – Foster. 169 Vgl Art 3 EAGV. 170 Vgl EuGH, Slg 1984, 1229, Rn 18 – REWE; Slg 1994, I-3879, Rn 11 – Meyhui; Jarass EuR 1995, 202, 211; Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, 45; Kingreen/Störmer EuR 1998, 263, 277. 171 Zum Anwendungsvorrang des niederrangigen Rechts vgl Rn 8. Vgl aber auch v Bogdandy JZ 2001, 157, 166, der der Rspr des EuGH entnimmt, dass lediglich offensichtliche Verstöße der Rechtssetzungsorgane der Union verboten sind. 172 Art 92 ff EAGV.
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3. Privatpersonen 50
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Fall 5: (EuGH, Slg 2007, I-10779 – Viking = JK 7/08, EGV Art 43/9). V, eine Gesellschaft finnischen Rechts, gehört ua das unter finnischer Flagge fahrende Schiff Rosella, welches auf dem Seeweg zwischen Tallin (Estland) und Helsinki (Finnland) verkehrt. V ist nach finnischem Recht und geltendem Tarifvertrag gehalten, der Besatzung Löhne gem dem finnischen Lohnniveau zu zahlen. Wegen unmittelbarer Konkurrenz mit estnischen Schiffen, die auf derselben Linie mit geringeren Lohnkosten verkehren, wurde die Rosella mit Verlust betrieben. Daher plant V das Schiff umzuflaggen und in Estland registrieren zu lassen, um einen neuen Tarifvertrag mit einer estnischen Gesellschaft abzuschließen. Hiergegen wandte sich die Finnish-Seaman’s Union (FSU), eine finnische Gesellschaft für Seeleute, und informierte die International Transport Worker’s Federation (ITF), eine Dachorganisation mit Sitz in London, der sich 600 Gewerkschaften aus 140 Staaten angeschlossen haben. Die ITF übersandte ihren Mitgliedern ein Rundschreiben, in dem sie diese anwies, mit V keine Verhandlungen zu führen. Die ITF verfolgt im Kampf gegen „Billigflaggen“ die Politik, zu verhindern, dass ein Schiff unter der Flagge eines anderen Staates fährt als desjenigen, in dem das wirtschaftliche Eigentum am Schiff liegt. V möchte wissen, ob die gewerkschaftlichen Maßnahmen mit der Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV/49 AEUV) vereinbar sind. Fall 6: (EuGH, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese = JK 1/01, EGV Art 39/1). Der Kl des Ausgangsverfahrens ist italienischer Staatsangehöriger deutscher Muttersprache und hat sein Studium in Österreich absolviert. Er bewarb sich auf eine Ausschreibung hin bei einer privaten Bankgesellschaft in Bozen (Bekl). Für die Zulassung zum Auswahlverfahren forderte die Bankgesellschaft den Nachweis der Zweisprachigkeit in Form einer Bescheinigung der öffentlichen Verwaltung, die nur in Bozen ausgestellt wird. Da der Kl die Bescheinigung nicht beibrachte, wurde seine Bewerbung abgewiesen. Nach Einreichung einer Klage bei einem italienischen Gericht setzte dieses das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung der Frage, ob der in Art 39 EGV (45 AEUV) niedergelegte Grundsatz der Freizügigkeit einer Beschränkung des Nachweises der Zweisprachigkeit auf ein bestimmtes Diplom entgegensteht.
Nach der Rspr können die Grundfreiheiten auch für Privatpersonen verpflichtende Wirkungen entfalten. Der EuGH hat eine unmittelbare Bindung Privater an die Grundfreiheiten (sog unmittelbare Drittwirkung) jedenfalls im Hinblick auf die Personenverkehrsfreiheiten – also die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit – sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) anerkannt.173 Es soll verhindert werden, dass Beschränkungen, die den Mitgliedstaaten untersagt sind, durch Handlungen Privater in Ausnutzung ihrer Vertragsfreiheit errichtet werden. Die Fälle betrafen aber vor allem Maßnahmen, in denen es um den Schutz Einzelner vor der Macht privater Verbände (insb Sportverbände) ging.174 In der
173 Vgl EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave; Slg 1976, 1333, Rn 17 ff – Donà; Slg 1977, 1091, Rn 4, 28 – Van Ameyde; Slg 1995, I-4921, Rn 84 – Bosman; Slg 2000, I-2549 ff – Deliège; Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen. Zur Warenverkehrsfreiheit vgl EuGH, Slg 1981, 181, Rn 16 ff – Dansk Supermarked (dazu Roth FS Everling, Bd II, 1995, S 1231, 1234 f). Vgl auch die Fälle 5 und 6. 174 Vgl Herdegen ER, § 17 Rn 10 ff.
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neueren Rspr scheint der EuGH darüber hinauszugehen und auch im Übrigen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten gegenüber privaten Wirtschaftsteilnehmern jedenfalls in einem gewissen Umfange anerkennen zu wollen (vgl insb Fall 6). Die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten ist problematisch. Schon der Wortlaut der Bestimmungen („zwischen den Mitgliedstaaten“) deutet eher darauf hin, dass nur an ein staatliches Handeln angeknüpft werden soll. Ebenfalls sind die Rechtfertigungsgründe für die Beschränkung der Grundfreiheiten (insbesondere: öffentliche Ordnung und Sicherheit, ferner aber auch die zwingenden Erfordernisse175) ganz auf ein staatliches Tätigwerden und die Verfolgung staatlicher Belange zugeschnitten. Ob diese Gründe auch von Privatpersonen geltend gemacht werden können (wie der EuGH annimmt176), ist sehr zweifelhaft, da Private andere Zwecke als die Träger von Staatsgewalt verfolgen. Zwar gewähren die Grundfreiheiten Schutz vor diskriminierenden oder freiheitsbeschränkenden privatrechtlichen Normen, weil diese den Staaten zuzurechnen sind. Geht es dagegen um ein diskriminierendes oder freiheitsbeschränkendes privatautonomes Handeln, spricht vieles für die Annahme, dass die Grundfreiheiten ähnlich wie die nationalen Grundrechte und Unionsgrundrechte (→ § 14 Rn 35) nur Ansprüche gegen den Staat (oder die EG) auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater vermitteln können (Rn 35).177 Im Übrigen bliebe der Schutz gegenüber privaten Handlungen dann den Wettbewerbsvorschriften (Art 81 ff EGV178/101 ff AEUV) und dem Sekundärrecht überlassen. Lösung Fall 5: 1. Schutzbereich des Art 43 EGV (49 AEUV): Art 43 EGV (49 AEUV) verbietet Beschränkungen der freien Niederlassungen von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen. Hier geht es vor allem um die Frage, ob die Vorschrift geeignet ist, einem Privatunternehmen Rechte zu verleihen, auf die es sich gegenüber einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsbund berufen kann. Art 48 EGV (54 AEUV) garantiert das Recht auf Niederlassung auch den Gesellschaften iSd Vorschrift. Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind zunächst die Mitgliedstaaten. Nach stRspr des EuGH gelten die Art 39, 43 und 49 EGV (45, 49, 56 AEUV) aber
175 Wenn sich die Staaten auf Gründe des Allgemeinwohls berufen, muss es sich um solche nichtwirtschaftlicher Art handeln (Rn 101), wohingegen Private regelmäßig wirtschaftliche Interessen verfolgen. 176 Vgl besonders deutlich EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 86 f – Bosman. Ferner zB EuGH Slg 1998, I-2521, Rn 24 – Clean Car. 177 Krit zur Rspr des EuGH auch Jaensch Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 81 ff; Kluth AöR 122 (1997), 557, 568 ff; Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464 ff; Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213, 220; Pießkalla NZA 2007, 1144, 1146. Für eine unmittelbare Drittwirkung Steindorff FS Lerche, 1993, S 575, 581 ff; Ganten Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, 56 ff; Wernicke Die Privatwirkung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, 201 ff; Parpart Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, 185 ff; Förster Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2007, 52 ff, 213 f. Vgl auch Preedy Die Bindung Privater an die Europäischen Grundfreiheiten, 2005, 128 ff. 178 Durch die Wettbewerbsvorschriften werden nicht sämtliche handelsbehindernde private Verhaltensweisen verboten, sondern nur solche, die zu einer Handlungsbeeinträchtigung geeignet sind. Zudem werden weitere Voraussetzungen verlangt (spürbare Wettbewerbsverfälschung, unternehmerisches und nicht rein privates Handeln, marktbeherrschende Stellung), vgl Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464.
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nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstrecken sich auch auf Regelwerke anderer Art, welche die abhängige Erwerbswirtschaft, die selbstständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen (vgl vor allem EuGH, Slg 1974, 1405 Rn 17 – Walrave). So erinnert der EuGH daran, dass die Freizügigkeit und der freie Dienstleistungsverkehr gefährdet wären, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse neutralisiert werden könnte, die nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen und Einrichtungen im Rahmen ihrer rechtlichen Autonomie setzen. Gerade bei Arbeitsbedingungen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen, teilweise durch Tarifverträge Privater geregelt sind, bestünde die Gefahr, dass eine Beschränkung der in den Grundfreiheiten vorgesehenen Verbote auf Maßnahmen der öffentlichen Gewalt bei ihrer Anwendung zur Ungleichheit führen würde. Unerheblich sei, dass es sich bei einer Gewerkschaft oder einem Gewerkschaftsverband nicht um eine quasi-öffentliche Einrichtung handele. Ferner komme es nicht darauf an, ob die Vereinigung oder Einrichtung eine Regelungsfunktion wahrnehme respektive über quasi-legislative Befugnisse verfüge. Aus alledem folgert der EuGH, dass kollektive Maßnahmen von Gewerkschaften oder Gewerkschaftsverbänden grundsätzlich auch in den Anwendungsbereich des Art 43 EGV (49 AEUV) fallen, die genannten Personen also Verpflichtungsadressaten sind. 2. Beeinträchtigung: Art 43 EGV (49 AEUV) enthält nicht nur ein Diskriminierungs-, sondern auch ein Beschränkungsverbot. Eine Beschränkung liegt bereits vor, wenn eine Maßnahme es weniger attraktiv macht, von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. So wären die in Art 43, 48 EGV (49, 54 AEUV) gewährten Rechte sinnentleert, wenn der Herkunftsstaat Unternehmen verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen. Ebenso sind Kollektivmaßnahmen der FSU und der ITF mit dem Zweck, die Reeder daran zu hindern, ihre Schiffe in einem anderen Mitgliedstaat als jenem registrieren zu lassen, dessen Staatsangehörigkeit die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen, zumindest geeignet, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit zu beschränken. 3. Rechtfertigung: Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nur zulässig, wenn mit ihr ein EGV- (AEUV-) konformes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie verhältnismäßig ist. Der Arbeitnehmerschutz stellt grundsätzlich ein berechtigtes Allgemeininteresse dar. Wie der EuGH ausführt, ist es Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob die kollektiven Maßnahmen wirklich geeignet sind, die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Nicht rechtfertigen lasse es sich, wenn Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände Reeder generell daran hindern, ihre Schiffe in einem anderen Staat als dem registrieren zu lassen, dessen Staatsangehörigekeit die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Schiffe besitzen. ZB dürfe eine Umregistrierung nicht bekämpft werden, wenn sie keine schädlichen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze hat.179
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Lösung Fall 6: 1. Zulässigkeit der Vorlage: Die Vorlage bezieht sich auf die Auslegung des Art 39 EGV (45 AEUV) und damit auf die Auslegung des Vertrages iSv Art 234 I lit a EGV (267 AEUV). Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vorlage könnten sich deshalb ergeben, weil es auf die Entscheidung des EuGH uU nicht ankommt. Die EG-Grundfreiheiten beziehen sich nur
179 Krit zur Beschränkung der Koalitionsfreiheit Zwanziger DB 2008, 294, 296.
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auf grenzüberschreitende Sachverhalte (Rn 23). Da der Kl, der von Geburt an Bewohner der Provinz Bozen war, nie in einem anderen Staat eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hat und das Studium in Österreich in keinem spezifischen Zusammenhang zum Rechtsstreit steht, lässt sich hier an einem Gemeinschaftsbezug des Falles zweifeln. Der EuGH überprüft jedoch grundsätzlich nicht die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung. Nach stRspr darf das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückgewiesen werden, wenn „offensichtlich“ kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht.180 Eine solche Offensichtlichkeit verneint der EuGH hier. 2. Vereinbarkeit des Sprachnachweises mit Art 39 EGV (45 AEUV): Die Frage der Vereinbarkeit stellt sich nur, wenn Art 39 EGV (45 AEUV) auch Privatpersonen bindet. Obwohl es hier nicht um intermediäre Gewalten (gesellschaftliche Institutionen mit besonderen Machtbefugnissen) geht, kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass das in Art 39 EGV (45 AEUV) ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auch für Privatpersonen gilt. Das Gericht stützt sich hierbei auf drei Argumente: seinem Wortlaut nach schließe Art 39 EGV (45 AEUV) eine unmittelbare Anwendung auf Privatpersonen nicht aus (1), die Arbeitnehmerfreizügigkeit könne nicht nur durch staatliche, sondern auch durch private Maßnahmen behindert werden (2) und schließlich gebiete es die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts, Art 39 EGV (45 AEUV) nicht anders als Art 12 EGV (18 AEUV) und 141 EGV (157 AEUV) auszulegen, die ebenfalls jegliche Diskriminierung verhindern sollten (3). Folgt man dieser (keineswegs zwingenden) Argumentation, ist auch die verklagte private Bankgesellschaft an Art 39 EGV (45 AEUV) gebunden. Die von der Bekl aufgestellte Verpflichtung, wonach der Zugang zu einem Auswahlverfahren zur Einstellung von Personal vom Besitz einer einzigen Sprachenbescheinigung der Verwaltung in Bozen abhängig ist, stellt auch eine (versteckte) Diskriminierung dar, da es für Personen, die nicht in der Provinz Bozen wohnen schwierig oder unmöglich ist, die Bescheinigung zu erwerben, und die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den Einwohnern der Provinz Bozen benachteiligt werden. Die Diskriminierung lässt sich nach Ansicht des EuGH auch nicht rechtfertigen. Zwar sei es legitim, von einem Bewerber um eine Stelle Sprachkenntnisse eines bestimmten Niveaus zu verlangen. Es müsse aber als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn es unmöglich sei, die Nachweise auf andere Weise zu erbringen als durch ein bestimmtes, in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaates ausgestelltes Diplom. Daher hat der EuGH ein Zuwiderhandeln gegen Art 39 EGV (45 AEUV) angenommen.
V. Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten Den räumlichen Geltungsbereich des EG-Vertrages und damit den der Grundfreiheiten umschreibt Art 299 EGV (52 EUV-E). Angeknüpft wird an die Mitgliedstaaten und damit an deren Staatsgebiet, dh jenen Teil der Erdoberfläche, des darunter befindlichen Bodens, des Luftraums sowie der Gewässer, über die der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen181 die Gebietshoheit ausübt. Da auf die Mitgliedstaaten als solche verwiesen wird, gilt das Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen. Verändert sich das Hoheitsgebiet eines Staates (wie zB nach der deutschen Wiedervereinigung), wird damit (vorbehaltlich vertraglicher Sonderregelungen) der Geltungsbereich des EG-Vertrages einschließlich der
180 So zB EuGH, Slg 1998, I-2055, Rn 21 – Cabour. 181 Vgl Graf Vitzthum in: ders, VR 5, Abschn Rn 15; Epping in: Ipsen, VR § 5 Rn 4.
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Grundfreiheiten ausgedehnt. Bestimmte überseeische und sonstige Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten unterfallen dem EG-Vertrag (Art 299 II, IV, V EGV/355 I, III, IV AEUV), während andere Gebiete (Art 299 III iVm Anh II/355 II AEUV) ebenso wie die europäischen Zwergstaaten (zB Andorra, Monaco, San Marino, Vatikanstadt) ganz oder teilweise ausgenommen sind.182 Besonderheiten regelt Art 299 VI EGV (355 V AEUV), weil er die Gebiete regelt, auf denen der EG-Vertrag keine oder nur teilweise Anwendung findet. ZB bestimmt Art 299 VI lit c EGV (355 V lit c AEUV) iVm Art 2 des Protokolls Nr 3 zur Beitrittsakte betreffend die Kanalinseln und die Insel Man183, dass für die Staatsangehörigen dieser Gebiete nicht die Gemeinschaftsbestimmungen über die Freizügigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr (wohl aber den freien Warenverkehr) gelten. Somit können sich die Staatsangehörigen nicht hierauf berufen.184 Von den Grundfreiheiten erfasst werden alle Rechtsbeziehungen, die aufgrund des Ortes, an dem sie entstanden sind oder an dem sie ihre Wirkung entfalten, einen räumlichen Bezug zum Gebiet der Gemeinschaft aufweisen.185 Ferner wirken die Grundfreiheiten über die Außengrenzen der Gemeinschaft hinaus, wenn sie einen engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaates und damit zu den einschlägigen Regeln des Gemeinschaftsrechts besitzen. So hat der EuGH etwa entschieden, dass sich eine belgische Staatsangehörige, die in der deutschen Botschaft in Algier beschäftigt ist, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann.186 Auch wenn die Mitgliedstaaten Nutzungsrechte außerhalb ihrer Hoheitsgewässer besitzen, sind sie an die Freiheiten des Personenverkehrs und an die Dienstleistungsfreiheit gebunden.187
VI. Zeitlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten 57
Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist am 01.01.1958 in Kraft getreten. Mit Ablauf der Übergangsfristen haben die Grundfreiheiten unmittelbare Wirkung erlangt (Rn 7). Für neu beigetretene Staaten richtet sich der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Grundfreiheiten nach der Beitrittsakte (Rn 7). Gem Art 312 EGV (356 AEUV) gilt der Vertrag auf unbegrenzte Zeit. Eine Kündigung sieht das bisherige Recht im Gegensatz zu Art 50 EUV-E nicht vor. Da die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge geblieben sind,188 kommt aber eine außerordentliche Kündigung nach Maßgabe des (restriktiv auszulegenden) allgemeinen Völkerrechts (Art 60 ff WVRK) in Betracht.189 Ein Ausschluss von Mitgliedstaaten dürfte kaum in Frage kommen, allenfalls kann eine einstweilige Suspendierung von mitgliedstaatlichen Rechten bei schwerwiegender Verletzung von Fundamentalprinzipien nach Maßgabe des Art 309 EGV (354 AEUV) zulässig sein
182 Vgl auch die Protokolle zu den Gemeinschaftsverträgen, zB Protokoll Nr 16 betreffend den Erwerb von Immobilien in Dänemark (Sart II Nr 151). 183 BGBl II 1997, 1, 1338. 184 Vgl HessVGH, GewArch 2005, 17. 185 Vgl im Hinblick auf einen auch außerhalb der Gemeinschaft tätigen Radsportverband EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 28 f – Walrave. 186 EuGH, Slg 1996, I-2253, Rn 15 ff – Boukhalfa. 187 Vgl Streinz ER, Rn 108. 188 BVerfGE 89, 155, 190; aA Pernice VVDStRL 60 (2001), 148, 171 f. 189 So ist Grönland nach einer sich gegen den Verbleib der Insel in der EG aussprechenden Volksbefragung mit Wirkung vom 1.2.1985 aus der EG entlassen worden und hat von diesem Zeitpunkt an den Staatus eines mit der EG assoziierten überseeischen Gebietes erhalten (ABL 1985 L 29, 18).
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(im Hinblick auf die Grundfreiheiten nur, wenn diese für die das Unions- oder Gemeinschaftsrecht verletzenden Mitgliedstaaten günstig sind).190 In zeitlicher Hinsicht bestimmt sich die Auslegung der Grundfreiheiten grundsätzlich nach dem Zeitpunkt des In-KraftTretens und der unmittelbaren Anwendbarkeit.191 In seltenen Ausnahmefällen (wenn eine objektiv existierende, bedeutende Unsicherheit über die Tragweite der Gemeinschaftsbestimmung bestand und die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen gegeben ist 192) kann sich aus dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit die Notwendigkeit ergeben, die Rechtswirkungen einer die Grundfreiheit konkretisierenden Entscheidungen des EuGH auf die Zukunft zu beschränken.193
VII. Schutzbereiche, Beeinträchtigungen und Schranken der Grundfreiheiten Für die Überprüfung der Vereinbarkeit von Maßnahmen mit den Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts hat sich bisher kein festes Schema eingebürgert. Doch lässt sich ähnlich wie bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen (→ § 2 Rn 55; § 14 Rn 58 ff) danach unterscheiden, ob der Schutzbereich (bzw Anwendungs- und Gewährleistungsbereich) einer Grundfreiheit berührt wird (Rn 58 ff), ob eine Beeinträchtigung vorliegt (Rn 75 ff) und ob die Beeinträchtigung gerechtfertigt ist (Rn 90 ff).
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1. Schutzbereich der Grundfreiheiten Fall 7: (EuGH, Slg 1991, I-5627 ff – Bleis). Die deutsche Staatsangehörige B hat beim französischen Bildungsministerium die Zulassung zum externen Auswahlverfahren für den Erwerb eines Befähigungsnachweises für das Lehramt an höheren Schulen im Fach Deutsch beantragt. Der Antrag wurde wegen ihrer Staatsangehörigkeit abgelehnt. Das daraufhin angerufene französische Gericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) darstellt.
Die Grundfreiheiten vermögen ihren Schutz nur zu entfalten, wenn ein Tun, Dulden oder Unterlassen in sachlicher, personeller, räumlicher und zeitlicher Hinsicht an den Grundfreiheiten gemessen werden kann.
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a) Sachlicher Schutzbereich Der Schutz der Grundfreiheiten kommt in sachlicher Hinsicht nur zum Zuge, wenn fünf Voraussetzungen gegeben sind:
190 Vgl auch Art 7 EUV (7 EUV-E). 191 Vgl EuGH, Slg 1995, I-2229, Rn 42 – Roders; Slg 1998, I-5325, Rn 46 – Kommission/Frankreich. 192 EuGH, Slg 1995, I-2229, Rn 43 – Roders; Slg 2001, I-6193, Rn 53 – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1. 193 EuGH, Slg 2000, I-3625, Rn 39 – Buchner. Näher zum Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts in zeitlicher Hinsicht sowie uU sogar zur übergangsweisen Hinnahme gemeinschaftsrechtswidriger Zustände Ehlers/Eggert JZ 2008, 585, 587 ff.
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aa) Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 62
Zunächst müssen die Grundfreiheiten anwendbar sein. Das ist nicht der Fall, wenn das Sekundärrecht eine abschließende Regelung trifft (Rn 8). Liegt eine solche vor, ist zu prüfen, ob das Sekundärrecht gültig ist. Diese Voraussetzungen sind ua dann nicht gegeben, wenn das Sekundärrecht mit den Grundfreiheiten kollidiert. Deshalb sind diese insoweit auch bei dem Vorliegen abschließenden Sekundärrechts als Kontrollmaßstäbe heranzuziehen. bb) Grenzüberschreitender Bezug
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Sodann muss ein grenzüberschreitender Bezug gegeben sein (vgl Rn 23 ff, 29). cc) Geschützte Verhaltensweisen
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Des Weiteren werden nur bestimmte Verhaltensweisen von Personen geschützt: nämlich solche, die sich auf den Warenverkehr, die Betätigung von Arbeitnehmern, die Niederlassung, den Dienstleistungsverkehr sowie den Kapital- oder Zahlungsverkehr beziehen (vgl Rn 3 ff). Die einschlägigen Garantien sind eigenständig (dh autonom und nicht nach den Maßstäben des nationalen Rechts) auszulegen. Der EuGH bevorzugt die systematischteleologische Methode, wobei er sich vom effet utile des Gemeinschaftsrechts leiten lässt. Dies hat zur Folge, dass der Schutzbereich der Grundfreiheiten weit, die Ausnahme- und Beschränkungsmöglichkeiten demgegenüber eng ausgelegt werden. Da die Grundfreiheiten einen unterschiedlichen Schutzbereich haben, entscheidet die Bestimmung des Schutzbereichs zugleich über die Abgrenzung der Grundfreiheiten. ZB kann die Werbung für ein Produkt als flankierendes Recht der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sein (Annexrecht 194), die Werbung kann sich aber ebenso als Dienstleistung darstellen.195 Fällt ein Verhalten unter den Schutzbereich mehrerer Grundfreiheiten, sind die Grundfreiheiten grundsätzlich nebeneinander anwendbar. Das ist zumal dann der Fall, wenn sich das Verhalten in Teilkomplexe aufspalten lässt. Möchte sich zB eine Gesellschaft aus dem EG-Ausland im Inland niederlassen, um von dort aus Dienstleistungen in ein anderes EG-Land zu erbringen, ist wegen der Trennbarkeit der Verhaltensweisen sowohl die Niederlassungs- als auch die Dienstleistungsfreiheit betroffen. Auch wenn es sich um einen einheitlichen Vorgang handelt, schließen sich die Grundfreiheiten schon wegen der unterschiedlichen Normzwecke nicht notwendigerweise aus.196 ZB soll der Kapitaltransfer in das Ausland zum Zwecke der Gründung einer Gesellschaft sowohl die Kapitalverkehrs- als auch die Niederlassungsfreiheit berühren.197 Lässt sich dagegen eine Hand-
194 Zur Unvereinbarkeit eines diskriminierenden Werbeverbots für Waren mit der Warenverkehrsfreiheit vgl Rn 79. 195 Vgl zB EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 39 – Alpine Investments. 196 Die Rspr des EuGH ist nicht eindeutig. So hat der EuGH teilweise davon gesprochen, dass die Schutzbereiche der Art 39, 43 u 49 EGV (45, 49, 56 AEUV) einander ausschließen (EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 20 – Gebhard), andererseits begnügt er sich mit einer Gesamtschau oder stellt einen Verstoß gegen „Art 48, 52“ (heute Art 39 u 43 EGV/45, 49 AEUV) fest (EuGH, Slg 1996, I-1307, Rn 24 – Kommission/Frankreich; Slg 1997, I-3327, Rn 16 – Kommission/Irland). Wie hier Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 332. 197 Vgl EuGH, Slg 1995, I-3955, Rn 8 ff – Svensson und Gustavsson; Slg 2002, I-4809, Rn 58 f – Kommission/Belgien; Frenz Grundfreiheiten, Rn 371.
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lungsweise nach ihrem Schwerpunkt eindeutig einer Grundfreiheit zuordnen und sind auch die anderen Grundfreiheiten demgegenüber „völlig zweitrangig“, ist deren Schutzbereich gar nicht erst eröffnet.198 So wird man etwa die Mitnahme des Umzugsguts beim Umzug von einem Mitgliedstaat in einen anderen zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit sowie die in diesem Zusammenhang erfolgenden Direktinvestitionen der Niederlassung- und nicht der Warenverkehrs- oder gar der Kapitalverkehrsfreiheit zuzuordnen haben. Die Schwerpunktbetrachtung führt idR nicht zu einer Verkürzung des Schutzes der Grundfreiheiten, weil sich die Gewährleistungsgehalte, Beeinträchtigungsmodalitäten und Rechtfertigungsmöglichkeiten von Beeinträchtigungen der verschiedenen Grundfreiheiten weitgehend angenähert haben. Anderes gilt aber insbesondere für das Verhältnis der Freiheiten des Personenverkehrs und des Kapital- und Zahlungsverkehrs, weil sich auf die zuletzt genannten Freiheiten im Gegensatz zu den erstgenannten auch Drittstaatsangehörige berufen können (Rn 46). In Fällen der Drittstaatsbezogenheit entscheidet die Schwerpunktsetzung demgemäß darüber, ob das Gemeinschaftsrecht überhaupt Schutzwirkungen entfaltet (vgl Fall 4). Da sich vielfach darüber streiten lässt, ob die Freiheiten des Personenverkehrs oder diejenigen des Kapital- und Zahlungsverkehrs „völlig zweitrangig“ sind 199, sollten die Freiheiten im Zweifelsfall parallel angewendet werden. Für die Abgrenzung der Grundfreiheiten voneinander sowie von anderen Gewährleistungen ist ferner bedeutsam, ob ein Rangverhältnis besteht. Dies könnte für die Dienstleistungsfreiheit bedeutsam sein. Nach dem Wortlaut des Art 50 I EGV (57 I AEUV) sind Dienstleistungen nur bestimmte Leistungen, „soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen“. Dies könnte iSe Subsidiarität verstanden werden. Der EuGH ist dieser Betrachtungsweise entgegengetreten. In Art 50 I EGV (57 I AEUV) gehe es nur um die Definition der Dienstleistungen, ohne zwischen der Dienstleistungsfreiheit und den übrigen Grundfreiheiten einen Vorrang festzulegen. Ein solcher Vorrang könne auch nicht aus Art 51 II EGV (58 II AEUV) abgeleitet werden. Diese Bestimmung richte sich namentlich an den Gemeinschaftsgesetzgeber und sei mit der potenziell unterschiedlichen Entwicklung bei der Liberalisierung der Dienstleistungen auf der einen Seite und des Kapitalverkehrs auf der anderen Seite zu erklären.200 Gem Art 305 II EGV beeinträchtigt der EGV (AEUV) nicht die Vorschriften des EAGV. Somit gehen die Bestimmungen des EAGV als lex specialis dem EG-Vertrag und damit auch den Grundfreiheiten vor (vgl auch Rn 49).201 dd) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten Der EuGH hat in zahlreichen Entscheidungen davon gesprochen, dass eine missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf das Gemeinschaftsrecht (und damit auch auf die Grundfreiheiten) nicht statthaft ist.202 Vergleichend kann darauf hingewiesen werden, dass
198 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 20 ff – Schindler; Slg 1994, I-4837, Rn 14 – van Schaik; Slg 2002, I-607, Rn 31 – Canal Satélite Digital; Slg 2004, I-3025, Rn 45 – Karner; Slg 2004, I-9609 Rn 24 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13 (Fall 12); Slg 2006, I-9521, Rn 34 – Fidium Finanz = JK 3/07, EGV Art 49/16 (Fall 4). 199 Vgl zu der Rspr, die keineswegs eine einheitliche Linie erkennen lässt, Germelmann EuZW 2008, 596 ff; Sedemund BB 2006, 2781, 2783 f. 200 EuGH, Slg 2006, I-9521, Rn 32 f – Fidium Finanz = JK 3/97, EGV Art 49/16 (Fall 4). 201 Eine entsprechende Bestimmung kennt der AEUV nicht mehr. 202 Vgl grundlegend EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 24 – Centros mit zahlreichen w Nachw.
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die Art 17 EMRK (→ § 2 Rn 57, 61, 88) und 54 GRCh (→ § 14 Rn 62) die missbräuchliche Inanspruchnahme von Rechten ausdrücklich verbieten. Von Missbrauch kann gesprochen werden, wenn der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr dazu benutzt werden soll, sich ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen. Indessen ist größte Zurückhaltung bei der Annahme von Missbrauchstatbeständen geboten. Vielfach dürfte es sich nur um „immanente“ Schutzbereichsbegrenzungen handeln, die sich aus der Einheit des Unionsrechts ergeben. So können sich Rauschgifthändler deshalb nicht auf die Freiheit des Warenverkehrs berufen, weil dies der Menschenwürde (Art 1 GRCh) und den grundrechtlichen Schutzpflichten zuwiderlaufen würde. Ob man dies als Rechtsmissbrauch bezeichnet, ist eine Frage der terminologischen Verständigung. Zumeist läuft die Prüfung, ob die konkrete Ausübung der Grundfreiheit missbräuchlich ist, nur darauf hinaus, die inhaltliche Tragweite der Freiheit selbst zu ermitteln (also zB festzustellen, ob wirklich ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt).203 Grds dürfen Vergünstigungen, die den Schutz der Einzelnen zu dienen bestimmt sind und diesen daher ein subjektives Recht einräumen, auch in Anspruch genommen werden.204 So ist es gerade der Sinn der Grundfreiheiten, den Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit einzuräumen, sich die Vorteile des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs zunutze zu machen. Dementsprechend steht es zB im Belieben des Einzelnen, eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat zu errichten, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen, mag die Gesellschaft in diesem Staat auch keinerlei Tätigkeit entfalten. Ein missbräuchliches oder betrügerisches Verhalten ist hierin noch nicht zu sehen.205 Anderes nimmt der EuGH zB an, wenn es sich bei der Auslandsgründung um eine „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung“ zum Zwecke der Steuerumgehung handelt.206 Schließlich ist es in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass sich einige ihrer Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch Gemeinschaftsrecht geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des nationalen Rechts entziehen. Betroffen ist also grundsätzlich nicht die Schutzbereichs- sondern die Rechtfertigungsebene.207 ee) Nichtvorliegen von Bereichsausnahmen 67 68
Ferner darf keine Bereichsausnahme vorliegen, dh keine Ausklammerung aus dem Schutzbereich der Grundfreiheiten. Der EG-Vertrag kennt verschiedene ausdrückliche Bereichsausnahmen. So findet die Garantie der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art 39 IV EGV/45 IV AEUV; → § 9 Rn 27). Ferner erstrecken sich die Bestimmungen über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht auf die Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffent-
203 Vgl GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 20 – Centros. 204 ZB hat es der EuGH nicht als missbräuchlich angesehen, wenn eine im 6. Monat schwangere Chinesin allein deshalb nach Irland einreist, um nicht nur ihrem dort geborenen Kind mit dem automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit (ius soli) die Unionsbürgerrechte, sondern auch sich selber ein Aufenthaltsrecht (zwecks Versorgung des Kindes) zu verschaffen: EuGH, Slg 2004, I-9925, Rn 34 ff – Chen. 205 EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 132 ff – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4. 206 EuGH, Slg 2006, I-7995, Rn 55 – Cadbury Schweppes. Vgl ferner zB EuGH, Slg 2007, I-2107, Rn 92 – Thin Cap Test Claimants. 207 Vgl EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 20 – Centros.
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licher Gewalt verbunden sind (Art 45 I iVm Art 55 EGV/51 I iVm 62 AEUV; → §§ 10 Rn 43; § 11 Rn 42). Zudem kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, dass die Kapitel über die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit auf bestimmte Tätigkeiten keine Anwendung finden (Art 45 II iVm Art 55 EGV/51 II iVm 62 AEUV). Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, gelten gem Art 86 II 1 EGV (106 II AEUV) die Vorschriften des Vertrages nur, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Teilweise werden die genannten Bestimmungen nicht als sachliche Bereichsausnahmen, sondern als Schrankenregelungen in Gestalt von Rechtfertigungsnormen angesehen. Während sich eine Grenze des sachlichen Anwendungsbereichs durch eine abstrakte Festlegung sowie dadurch auszeichne, dass es nicht auf die relative Bedeutung kollidierender Rechtsgüter ankomme, sei für die Rechtfertigung einer Maßnahme kennzeichnend, dass sie verhältnismäßig sein müsse.208 Dieser Betrachtungsweise ist nicht zu folgen.209 Zum einen ist der Wortlaut der genannten EG-Vorschriften eindeutig („keine Anwendung“, „gelten …, soweit“; im englischen Text: „shall not apply“, „shall be the subject of the rules … insofar“). Des Weiteren zeigt auch die Gegenüberstellung von Art 45 und 46 EGV (51, 52 AEUV), dass der EG-Vertrag zwischen Bereichsausnahmen und Rechtfertigungsbestimmungen unterscheidet. In Art 46 EGV (52 AEUV) wird die Rechtfertigungsebene ausdrücklich angesprochen. Wäre Art 45 EGV (51 AEUV) ebenfalls eine Rechtfertigungsnorm, gäbe eine gesonderte Regelung keinen Sinn. Schließlich sind Bereichsausnahmen ebenso wie unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand einer Norm durchaus einer relativierenden Abwägung zugänglich.210 Der Abwägungsprozess verläuft aber nicht identisch wie bei Rechtfertigungsvorschriften. So geht es hier nicht darum, eine praktische Konkordanz zwischen kollidierenden Rechtsgütern herzustellen, sondern die Bereichsausnahmen teleologisch im Lichte der Vertragsbestimmungen nachvollziehend auszulegen. In diesem Sinne spricht der EuGH zB davon, dass die Ausnahmen nicht weiter reichen dürfen, „als der Zweck es erfordert, um dessen Willen sie vorgesehen sind.“ 211 Da es sich bei den Bereichsausnahmen um gemeinschaftsrechtliche Freistellungsregelungen handelt, bestimmt sich deren Reichweite nach dem Gemeinschaftsrecht und nicht nach mitgliedstaatlichem Recht (vgl auch Rn 56).212 Es besteht Übereinstimmung darüber, dass die Vorschriften ihrem Ausnahmecharakter entsprechend eng auszulegen sind. So zählen zu den Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung iSv Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) nur diejenigen Stellen, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der
208 Vgl namentlich Jarass EuR 1995, 202, 221 f; dens FS Everling Bd I, 1995, S 593, 604 f; dens EuR 2000, 705, 717 f. 209 Vgl Ehlers NVwZ 1990, 810, 812; Kingreen (Fn 2) S 76 f; Lackhoff (Fn 77) S 152 f; Streinz ER, Rn 825. 210 Vgl etwa BVerwGE 81, 155, 158 f, wonach ein Ausweisungsgrund schwerwiegend iSd (inzwischen außer Kraft getretenen) § 48 I AuslG (vgl nunmehr §§ 50 ff AufenthG) ist, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat. 211 Vgl EuGH, Slg 1974, 631, Rn 42 f – Reyners. Vgl ferner EuGH, Slg 1988, 1637, Rn 10 – Kommission/Griechenland. 212 Vgl etwa (für Art 39 IV EGV/45 IV AEUV) EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 19 – Kommission/Belgien.
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Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“ Hinzu kommen muss „ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten …, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.213 Unter die Ausnahmeregelung fallen zB Richter, Soldaten und Polizisten, nicht aber Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung in den Bereichen Forschung, Bildungswesen, Gesundheitswesen oder Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität.214 Eine Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art 45 I EGV (51 I AEUV) ist nur anzunehmen, wenn die Tätigkeit mit dem Recht verbunden ist, einseitig verbindliche Anordnungen zu treffen.215 Auch bei der Anwendung des Art 86 II EGV (106 II AEUV) wird betont, dass die Ausnahme von der Geltung der Vertragsvorschriften erforderlich sein muss.216 Ohnehin darf nach Art 86 II 2 EGV (106 II 2 AEUV) die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaße beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Fraglich ist, ob es neben den geschriebenen auch ungeschriebene Bereichsausnahmen gibt. Seit seiner grundlegenden Cassis de Dijon-Entscheidung aus dem Jahre 1979 217 geht der EuGH in stRspr davon aus, dass die Grundfreiheiten auch durch „zwingende Erfordernisse“ (im Allgemeininteresse liegende Zwecke 218) begrenzt oder eingeschränkt werden dürfen. Ob es sich hierbei um Bereichsausnahmen in Form negativer Tatbestandsmerkmale oder um Rechtfertigungsgründe handelt, ist umstritten.219 Die Rspr des EuGH ist nicht eindeutig. In der Cassis-Entscheidung scheint der EuGH von Tatbestandsmerkmalen des Art 30 EWGV (heute Art 28 EGV/34 AEUV) ausgegangen zu sein. In anderen (insbesondere neueren) Entscheidungen wird aber ausdrücklich von Rechtfertigung gesprochen.220 Da eine volle Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist, empfiehlt es sich, die zwingenden Erfordernisse der Rechtfertigungsebene zuzuordnen (Rn 101).
213 EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 10 – Kommission/Belgien; Slg 1996, I-3285, Rn 34 – Kommission/ Griechenland. Nach hM müssen die genannten Kriterien kumulativ vorliegen. Näher zum Ganzen Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 102; Franzen in: Streinz, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 149 f; Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 132; → Art 39 EGV. 214 Vgl Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 135 ff mit Rspr-Nachw. 215 Vgl auch Schlussanträge GA Mayras, EuGH, Slg 1974, 631, 665 – Reyners (wenn der Staat „dem Bürger gegenüber von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien und Zwangsbefugnissen Gebrauch macht“). Näher dazu Jarass RIW 1993, 1, 4; Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 45 EGV Rn 7 ff; Lackhoff (Fn 77) S 158. Zu der Frage, ob Notare als Träger öffentlicher Gewalt anzusehen sind, vgl Schill NJW 2007, 2014 ff. 216 Vgl statt vieler Voet van Vormizeele in: Schwarze, EUV, Art 86 EGV Rn 68 ff. 217 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Cassis de Dijon. 218 EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 8 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1. 219 Für immanente Tatbestandsausnahmen zB Jestedt/Kaestle EWS 1994, 26, 27; Schilling EuR 1994, 50, 52; Ahlt/Deisenhofer (Fn 150) S 172. Für die Einordnung als Rechtfertigungsgründe Hirsch ZEuS 1999, 503, 511; Lecheler/Gundel Übungen im Europarecht, 1999, 107, 109 f; Jarass EuR 2000, 705, 719. 220 Vgl zB EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1; Slg 1997, I-3843, Rn 46 – De Agostini.
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b) Personeller, räumlicher und zeitlicher Schutzbereich Die Grundfreiheiten schützen nur bestimmte Personen (Rn 50 ff). Ferner setzt ihre Anwendung voraus, dass der Geltungsbereich der Grundfreiheiten in räumlicher (Rn 56) und zeitlicher (Rn 57) Hinsicht gegeben ist. Wegen der Einzelheiten kann auf die oben getroffenen Ausführungen verwiesen werden. Lösung Fall 7: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 234 EGV (267 AEUV) bestehen keine Bedenken. Eine Beschäftigung iSv Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) ist nur anzunehmen, wenn eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben gegeben ist, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates (oder anderer öffentlicher Körperschaften) gerichtet sind und deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Als Ausnahme vom Grundprinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) so auszulegen, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der durch die Norm geschützten Interessen unbedingt erforderlich ist. Die pädagogische Tätigkeit eines Lehrers ist nicht typischerweise mit hoheitlichen (einseitigen) Befugnissen verbunden. Zudem ist nicht ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat unerlässlich. Daher stellt die Beschäftigung als Lehrkraft für das höhere Lehramt keine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung iSd Art 39 IV EGV (45 AEUV) dar.
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2. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten Fall 8: (EuGH, Slg 2005, I-4133 – Burmanjer = JK 1/06, EGV Art 28/6). Der Niederländer B verkauft in Belgien auf öffentlichen Straßen ohne die nach belgischem Recht erforderliche Genehmigung Abonnements für deutsche und niederländische Zeitschriften. Das belgische Gericht möchte wissen, ob das Genehmigungserfordernis mit dem EG-Recht vereinbar ist.
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a) Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten Der Schutzbereich der Grundfreiheiten kann nur durch ein Tun, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten beeinträchtigt werden. Es ist gut vertretbar, dieses Erfordernis bereits im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung zu überprüfen. Duldungen oder Unterlassungen sind nur dann dem Handeln gleichzustellen, wenn eine Rechtspflicht zum Tätigwerden besteht – zB in Form der Gewährung hoheitlichen Schutzes (Rn 35) oder der Vornahme von Verfahrensvorkehrungen (Rn 38). Als Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten kommen nach der Rspr des EuGH nicht nur die Mitgliedstaaten und die Europäischen Gemeinschaften, sondern uU auch Privatpersonen in Betracht (Rn 52 ff).
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b) Art und Weise der Beeinträchtigung aa) Erfordernis einer Diskriminierung oder Beschränkung Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten setzt weiter voraus, dass die Verpflichteten in bestimmter Weise auf die Grundfreiheiten einwirken. Als Modalitäten der Einwirkung kommen Diskriminierungen (Rn 22 ff) sowie unterschiedslose Beschränkungen (Rn 28 ff) in Betracht.
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bb) Vorliegen einer Diskriminierung oder Beschränkung (1) Diskriminierungsbegriff 77
Der EuGH legt einen sehr weiten Diskriminierungsbegriff zugrunde (Rn 26). Eine Diskriminierung ist anzunehmen, wenn das nationale Recht oder der Rechtsanwender einen grenzüberschreitenden Vorgang notwendig oder typischerweise schlechter als einen rein internen behandelt. Das Diskriminierungsverbot enthält somit ein Schlechterstellungsverbot.221 Dieses ist in der Regel, aber nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einer Inländergleichbehandlung (weil zur Beseitigung der Diskriminierung auch eine Besserstellung der EG-Ausländer gegenüber den Inländern in Betracht kommt).222 Relevant sind nur Schlechterstellungen im Hinblick auf den grenzüberschreitenden Vorgang, nicht sonstige Ungleichbehandlungen (zB allein von Erzeugern und Verbrauchern oder Männern und Frauen). Eine Schlechterstellung in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn sich die Differenzierungen nicht ohne Rückgriff auf ein Kriterium mit grenzüberschreitendem Bezug oder grenzüberschreitender Auswirkung (zB Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Herstellungsort, Niederlassungsort, Sprache usw) begründen lassen. Neben offenen werden auch versteckte Diskriminierungen erfasst (Rn 26). Unerheblich ist, ob die Schlechterstellung des grenzüberschreitenden Vorgangs
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Ganz entfernte Wirkungszusammenhänge dürften allerdings auszuscheiden sein.224 Das gilt zumal dann, wenn ein Verstoß Privater gegen Grundfreiheiten in Betracht kommt.
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auf finalem Handeln beruht oder unbeabsichtigt war, auf einen Rechts- oder einen Realakt zurückgeht, unmittelbar oder mittelbar verursacht worden ist, tatsächlich oder potenziell wirkt oder schwerwiegende respektive geringe Beeinträchtigungen nach sich zieht.223
Lösung Fall 8: Der Schutzbereich des Art 28 EGV (34 AEUV) ist eröffnet, da Zeitschriften als geldwerte körperliche Gegenstände Waren sind, der Verkauf deutscher und niederländischer Zeitschriften in Belgien einen grenzüberschreitenden Sachverhalt betrifft und sekundärrechtliche Regelungen des Vertriebs von Zeitschriften nicht existieren. Das Genehmigungserfordernis könnte eine Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 28 Alt 2 EGV (34 Alt 2 AEUV) sein. Die nationale Regelung über den ambulanten Verkauf betrifft, was Zeitschriftenabonnements angeht, aber nur eine bestimmte Verkaufsmodalität, nämlich den Vertrieb im Wege des ambulanten Gewerbes. Verkaufsmodalitäten stellen nach der Keck-Rspr (Rn 85) keine Maßnahmen gleicher Wirkung dar, wenn sie zum einen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und zum anderen den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren. Das Genehmigungserfordernis gilt unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer. Es liegt auch keine offene Diskriminierung vor. Doch könnte eine versteckte Diskriminierung gegeben sein. Nach Ansicht des EuGH lässt sich anhand der ihm vorliegenden Angaben nicht mit Sicherheit feststellen, ob durch die nationale Rege-
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Vgl zB EuGH, Slg 1989, 195, Rn 10 ff – Cowan; Jarass EuR 1995, 202, 216. Für ein Recht der Inländer auf Gleichbehandlung dagegen Lackhoff (Fn 77) S 222 ff. Vgl Gebauer (Fn 119) S 353 f. Die Rechtslage ist insoweit ebenso wie bei den Beschränkungen. Vgl dazu die folgenden Ausf.
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lung über den ambulanten Verkauf der Absatz von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten stärker beeinträchtigt wird als der von Erzeugnissen aus dem Königreich Belgien. Doch scheine aus der dem Gerichtshof übermittelten Akte hervorzugehen, dass eine solche Wirkung, falls die fragliche Regelung sie haben sollte, zu unbedeutend und zufällig wäre, als dass sie für geeignet gehalten werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern oder auf andere Weise zu stören. Sollte die belgische Gerichtsbarkeit dennoch eine versteckete Diskriminierung annehmen, habe sie zu prüfen, ob das Genehmigungserfordernis durch ein Ziel des Allgemeininteresses iSd der Cassis-Rspr (Rn 84) gerechtfertigt ist (hier: Verbraucherschutz) und ob es in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel steht.
(2) Beschränkungsbegriff Fall 9: (EuGH, Slg 1995, I-1923 ff – Mars) Die M-GmbH führt aus Frankreich Eiscremeriegel nach Deutschland ein, die in Frankreich von einem amerikanischen Konzern zum Zwecke des europaweiten Vertriebs rechtmäßig hergestellt werden. Im Rahmen einer Werbekampagne ist die Menge der Eisriegel um 10 % erhöht worden. Auf der Verpackung wurde hierauf mittels des Aufdrucks „plus 10 %“ auf farblich hervorgehobener Fläche hingewiesen, wobei der Hinweis deutlich mehr als 10 % der Gesamtfläche des Riegels ausmacht. Ein in Deutschland gegründeter Verein zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs klagt vor einem deutschen Gericht auf Unterlassung der Werbeaktion. Einerseits liege ein Verstoß gegen das GWB vor. Der Aufdruck „plus 10 %“ sei geeignet, beim Verbraucher die Vorstellung hervorzurufen, das neue Erzeugnis werde zum gleichen Preis wie das alte angeboten. Die Händler dürften daher nicht den Preis erhöhen. Eine Preisbindung sei aber nicht mit dem GWB vereinbar. Andererseits sei die optische Gestaltung irreführend, da Verbraucher annehmen könnten, die Vergrößerung sei bedeutender als angegeben. Das deutsche Gericht möchte der Klage stattgeben, hat aber Bedenken, ob dies mit Art 28 EGV (34 AEUV) vereinbar ist.
Dem weiten Diskriminierungsbegriff entspricht ein ebenso weiter Beschränkungsbegriff. Dies lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Rspr zur Warenverkehrsfreiheit zeigen. Art 28 EGV (34 AEUV) verbietet nicht nur mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (die heute kaum noch vorkommen), sondern auch alle Maßnahmen gleicher Wirkung. Nach der Dassonville-Formel des EuGH fällt darunter jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern.“ (Rn 28). Dies bedeutet, dass es auf die Finalität, Vorhersehbarkeit und rechtliche Qualität der Maßnahme nicht ankommt und auch noch nicht eingetretene, aber mögliche Behinderungen sowie geringfügige Schutzbereichsbeeinträchtigungen225 als Beschränkungen anzusehen sind. Im Ergebnis ist danach nur auf die (tatsächliche oder potenzielle) Wirkung der Maßnahme bzw auf den (tatsächlichen oder potenziellen) Erfolg abzustellen. Eine Beschränkung liegt bereits dann vor, wenn die (grenzüberschreitende) Ausübung der Warenverkehrsfreiheit in irgendeiner Weise behindert oder weniger attraktiv gemacht wird. Dies ist etwa der Fall, wenn eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware einer zusätz-
225 Vgl EuGH, Slg 1993, I-2361, Rn 20 ff – Yves Rocher = JK 5/94, EWGV Art 30/4.
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lichen Kontrolle unterworfen wird 226 oder wenn Vorschriften über die Beschaffenheit der Ware 227 respektive über die Bezeichnung 228 beachtet werden müssen. Behindert wird die Freiheit des Warenverkehrs selbst dann, wenn sich ein staatlicher Beamter in amtlicher Eigenschaft negativ über eingeführte Waren äußert, ohne dass sonstige Maßnahmen ergriffen worden sind.229 Entsprechendes wie für die Freiheit des Warenverkehrs gilt auch für die anderen Grundfreiheiten (Rn 28). Auch insoweit reicht es aus, wenn die Ausübung der Freiheit weniger attraktiv gemacht wird.230 Ob die Dassonville-Formel auch dann anwendbar ist, wenn Private die Grundfreiheiten tangieren, lässt sich der EuGH-Rspr bisher nicht entnehmen. Der äußerst weite Beschränkungsbegriff des EuGH, der sich deutlich von den an das Vorliegen von Grundrechtseingriffen in Deutschland gestellten Anforderungen absetzt, führte dazu, dass eine schier unübersehbare Zahl mitgliedstaatlicher Maßnahmen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten einem Rechtfertigungstest unterzogen werden konnten und mussten. So hat der EuGH zB auch das Sonntagsverkaufsverbot in Wales231 oder das (früher) in Deutschland geltende wettbewerbsrechtliche Verbot einer Preisgegenüberstellung 232 als Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit angesehen. Es sei zwar wenig wahrscheinlich, dass sich die Verbraucher durch derartige Regelungen vom Erwerb der Erzeugnisse abhalten ließen. Gleichwohl könnten aber negative Folgen für das Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen nicht ausgeschlossen werden.233 Um einer uferlosen Ausdehnung der Grundfreiheiten und einer damit verbundenen Überlastung des EuGH entgegenzuwirken, hat der Gerichtshof in dreifacher Hinsicht versucht, zu einer Eingrenzung der Grundfreiheiten zu kommen. Zunächst hat er in seiner Cassis-Rspr herausgearbeitet, dass Beschränkungen der Grundfreiheiten hingenommen werden müssen, wenn sie auf zwingenden Erfordernissen beruhen.234 Hierbei handelt es sich nach der hier vertretenen Ansicht allerdings nicht um eine Tatbestandsbeschränkung, sondern um die Zulassung weiterer Rechtfertigungsgründe (Rn 71). Dagegen hat der Gerichtshof erstmals in der Rechtssache Keck eine Tatbestandsreduzierung vorgenommen.235 Schließlich hat der EuGH verschiedentlich darauf hingewiesen, dass eine gewisse 226 EuGH, Slg 2002, I-607, Rn 36 f – Canal Satélite Digital; EuGH, EuZW 2008, 177, Rn 28 ff – Dynamic Medien Verlag = JK 11/08, EGV Art 28/10 (Fall 13). 227 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-3553, Rn 11 – van der Veldt. 228 Vgl zB EuGH, Slg 1980, 3839, Rn 15 – Fietje. 229 EuGH, Slg 2007, I-2749, Rn 66 – A.G.M.-COS.MET Srl = JK 1/08, EGV Art 28/8. 230 Krit zur Unschärfe des Kriteriums „Attraktivitätsminderung“ GA Mischo, EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 57 – Pfeiffer. Vgl auch Thiemann Rechtsprobleme der Marke Sparkasse, 2008, 163, wonach das Kriterium dazu verleitet, die Grundfreiheiten von Ansprüchen auf behinderungsfreien Grenzübertritt in Leistungsansprüche auf möglichst attraktive Gestaltung grenzüberschreitender Aktivitäten umzudeuten. 231 EuGH, Slg 1989, 3851, Rn 13 – Torfaen Borough Council; vgl auch EuGH, Slg 1991, I-1027, Rn 9 – Marchandise; Slg 1992, I-6635, Rn 10 – B & Q. 232 EuGH, Slg 1993, I-2361, Rn 11 f – Yves Rocher = JK 5/94, EWGV Art 30/4; vgl auch EuGH, Slg 1982, 4575, Rn 14 f – Oosthoek. 233 So für das Sonntagsverkaufsverbot EuGH, Slg 1991, I-997, Rn 8 – Conforama. 234 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Craig/de Búrca EU, 677 ff. 235 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 14 ff – Keck. S hierzu statt vieler Behrens EuR 1992, 145 ff; Roth ZHR 1995, 78, 86 f; Oliver Free movement of goods in the European Community, 3. Aufl 1996, 100 ff; dens CMLRev 1999, 97 ff; Craig/de Búrca EU, 684 ff.
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Nähebeziehung zwischen Maßnahme und beeinträchtigender Wirkung gegeben sein müsse. Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten soll danach ausscheiden, wenn die Auswirkungen einer Maßnahme zu unbestimmt, zu mittelbar oder eher hypothetisch sind.236 Wo die Grenze einer solchen, die Dassonville-Formel beschränkenden „rule of remoteness“ zu ziehen ist, ist bislang nicht hinreichend deutlich geworden und dürfte sich auch nur im Einzelfall klären lassen.237 Dagegen stellt der EuGH (anders als zB im Wettbewerbsrecht) nicht auf die Spürbarkeit der Beeinträchtigung ab.238 Besonderes Interesse verdient die Einschränkung der Reichweite der Grundfreiheiten durch die Keck-Rspr des EuGH (→ § 8 Rn 39 ff). In der Rechtssache Keck hat es der Gerichtshof abgelehnt, das französische Verbot, Waren unter Einkaufspreis weiterzuverkaufen, an der Garantie des Art 28 EGV (34 AEUV) zu messen. Entgegen der bis dahin geltenden Rspr seien mitgliedstaatliche Regelungen, die nur bestimmte Verkaufsmodalitäten betreffen, nicht als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen, weil sie iSd Urteils Dassonville nicht geeignet seien, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Voraussetzung ist nach der Entscheidung des EuGH allerdings, dass die Regelungen erstens für alle betreffenden Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben (Universalitätskriterium) und zweitens den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren (Neutralitätskriterium).239 Zweifelhaft geblieben ist, ob und ggf wie sich das Neutralitätskriterium von einer Diskriminierung abgrenzen lässt. Gegen eine vollständige Gleichsetzung spricht, dass es im Falle der Bejahung einer Diskriminierung ohnehin nicht auf die Beschränkung der Grundfreiheit ankommt. Es dürfte anzunehmen sein, dass der Diskriminierungsbegriff (trotz der gebotenen weiten Auslegung) enger als das Neutralitätskriterium ist. So können Doppelbelastungen der Rechtsordnungen den Absatz der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten rechtlich wie tatsächlich zusätzlich behindern, während es für die Frage der Diskriminierung nur auf die inländische Rechtsordnung ankommt (Rn 23).240 Über das Vorliegen der Voraussetzung der Keck-Kriterien entscheidet letztverbindlich der EuGH.241 Die Beweislast für das Vorliegen einer rechtlichen oder tatsächlichen Ungleichbehandlung trägt derjenige, der sich auf einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit beruft.242 Die Keck-Rspr, die durch zahlreiche Entscheidungen des EuGH bestätigt worden ist,243 zwingt dazu, produkt- und vertriebsbezogene (verkaufsbezogene) Maßnahmen voneinander abzugrenzen. Im Gegensatz zu den ersteren stellen sich letztere nicht als Beeinträchtigun-
236 Vgl namentlich EuGH, Slg 1996, I-2975, Rn 32 – Semeraro; ferner Slg 1993, I-5009, Rn 9 – CMC Motorradcenter; Slg 1994, I-3453, Rn 24 – Peralta; Slg 1998, I-8033 Rn 22 – Bluhme; Slg 1999, I-6269, Rn 16 – BASF; Slg 2000, I-151, Rn 30 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb; Slg 2000, I-493, Rn 24 f – Graf. 237 Vgl näher dazu Becker EuR 1994, 162, 170; Ebenroth FS Pieper, 1998, S 133, 142; Oliver CMLRev 1999, 97 ff; Deckert/Schroeder JZ 2001, 88, 90. 238 Vgl Ehlers in: Wurzel/Schraml/Becker (Fn 154) B Rn 15; Frenz Grundfreiheiten, Rn 419 f; Borchardt EU, Rn 813. 239 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck. 240 Vgl auch Plötscher (Fn 74) S 189 ff. 241 Krit Lenz NJW 2004, 332 f. 242 EuGH, Slg 1997, I-3843 Rn 44 – De Agostini; Borchardt EU, Rn 817. 243 Vgl zur Rspr die Angaben bei Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 255; Schroeder in: Streinz, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 55 ff.
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gen der Warenverkehrsfreiheit dar, wenn sie unterschiedslos wirken. Die Abgrenzung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen kann erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Eine schematische Trennung lässt sich nicht durchführen.244 So stellen Werbeverbote zumeist Verkaufsmodalitäten dar. Wird auf einem Produkt geworben (vgl Fall 9) oder handelt es sich um ein generelles Werbeverbot, ist die Rechtslage eine andere.245 Leitend dürfte der Gedanke sein, dass eine Verweigerung oder Erschwerung des Zugangs zu einem Markt in einem anderen Mitgliedstaat immer an Art 28 EGV (34 AEUV) gemessen werden muss, während eine unterschiedslos wirkende Regulierung zugelassener Waren den Mitgliedstaaten überlassen bleiben soll.246 Als produktbezogene Regelung hat der EuGH zB Regelungen über die Bezeichnung, Form, Abmessung, Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und Verpackung von Waren angesehen.247 Als Vertriebsmodalitäten (Verkaufsmodalitäten) eingestuft wurden etwa Ladenschlussregelungen248, das Verbot von Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse249 oder das Verbot des Vertriebs einer bestimmten Säuglingsnahrung außerhalb von Apotheken250. Nicht vollends geklärt ist bisher, ob sich die Grundsätze der Keck-Rspr auf die anderen Grundfreiheiten übertragen lassen. Am nahe liegendsten ist eine Übertragung auf die Dienstleistungsfreiheit, weil jedenfalls dann, wenn nur die Dienstleistung die Grenze überschreiten soll, die Mobilität einer produktähnlichen Leistung in Rede steht (vgl auch → § 11 Rn 63). Der EuGH hat deshalb in der Entscheidung Alpine Investments (in der es um das Verbot einer grenzüberschreitenden Telefonwerbung ging) die Kriterien der KeckEntscheidung auch für die Dienstleistungsfreiheit fruchtbar gemacht.251 Doch dürfte der Grundgedanke der Keck-Rspr auch bei den anderen Grundfreiheiten insofern heranzuziehen sein, als es darum geht, den überaus weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten dann näher einzugrenzen, wenn nicht der Markt- oder Berufszugang (dh das Ob der wirtschaftlichen Betätigung), sondern das Verhalten im Markt oder die Berufsausübung (also das Wie der wirtschaftlichen Betätigung) in Rede steht.252 Voraussetzung ist allerdings stets, dass es sich um unterschiedslos wirkende (neutrale und universale) Beschränkungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer handelt.
244 Vgl auch Kingreen (Fn 2) S 125; Becker in: Schwarze, EUV, Art 28 EGV Rn 48 f; → § 8 Rn 34 ff. 245 Vgl Stein EuZW 1995, 435, 436. 246 Näher dazu Schroeder in: Streinz, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 41 ff; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 169 ff; Becker in: Schwarze, EUV, Art 28 EGV Rn 47 ff. 247 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 15 – Keck. 248 EuGH, Slg 1994, I-2227, Rn 14 – Tankstation t’Heukske. 249 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 39 f – De Agostini. 250 EuGH, Slg 1995, I-1621, Rn 15 – Kommission/Griechenland. 251 EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 33 ff – Alpine Investments. Vgl ferner die DocMorris-Entscheidung (Fall 1), wonach das Verbot eines Versandhandels mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln die ausländischen Apotheker stärker iSd Keck-Rspr als die inländischen berühren soll, weil die inländischen Apotheker andere Vertriebswege haben. 252 Vgl zur Arbeitnehmerfreizügigkeit Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 52 ff; Schulte Westenberg Zur Bedeutung der Keck-Rechtsprechung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, 2009; zur Niederlassungsfreiheit (ablehnend) Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 56, zur Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit Frenz Grundfreiheiten, Rn 409 f. Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 57 ff. Wie hier Deckert/Schroeder JZ 2001, 88 ff; Streinz EU, Rn 808.
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Lösung Fall 9: Da die Eisriegel des amerikanischen Konzerns in Frankreich hergestellt werden, handelt es sich um eine aus einem Mitgliedstaat stammende Ware (Art 23 II EGV/28 II AEUV). Ein staatliches (durch Wettbewerbsvorschriften und Gerichtsurteil ausgesprochenes) Verbot, das sich gegen das Inverkehrbringen der Ware in Deutschland richtet, stellt sich iSd DassonvilleFormel (Rn 28, 82 ff) als eine Maßnahme gleicher Wirkung dar, weil der innergemeinschaftliche Handel beschränkt wird. Es geht auch nicht nur um eine bloße Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr (Rn 85 ff). Der Produktbezug ergibt sich aus dem Umstand, dass die angegriffene Werbung auf der Verpackung angebracht ist und ein Verbot M oder den Konzern zwingen würde, die Ausgestaltung der Ware durch eine neue Verpackung zu verändern. Die Rechtfertigungsgründe (vgl Rn 94 ff) des Art 30 EGV (36 AEUV) greifen nicht ein. Die unterschiedslos geltenden Beschränkungen sind auch nicht durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt. Die Interessen der Verbraucher wurden gewahrt. Die Preise sind nicht erhöht worden. Auch kann ein verständiger Verbraucher zwischen der Größe des Werbeaufdrucks und der Mengenerhöhung unterscheiden. Soweit die Händler während der kurzen Dauer der fraglichen Werbekampagne mittelbar gezwungen werden, ihre Preise nicht zu erhöhen, dient dies dem Verbraucherschutz, so dass das Werbeverbot nicht auf ein zwingendes Erfordernis gestützt werden kann. Zumindest würde ein Werbeverbot die Warenverkehrsfreiheit unverhältnismäßig beschränken. Daher muss das Gericht die Unterlassungsklage abweisen.
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cc) Abgrenzung von Diskriminierungen und Beschränkungen In welchem Verhältnis das Diskriminierungs- und das Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten zueinander stehen, lässt sich der Rspr und Lit nicht eindeutig entnehmen. Vielfach enthält eine Beschränkung zugleich eine (zumindest versteckte) Diskriminierung und umgekehrt. So lag in der Rechtssache Cassis de Dijon (Rn 84), in der es um die Beschränkung des Warenverkehrs für alkoholische Getränke durch Festsetzung eines Mindestalkoholgehalts ging, zwar formal eine für In- und Ausländer unterschiedslos geltende Maßnahme vor. Tatsächlich war die Inlandsproduktion aber im Vorteil, weil sie typischerweise bereits dem Standard entsprach und somit ohne zusätzliche Anpassungskosten vermarktet werden konnte.253 In keiner Weise diskriminierend, sondern nur beschränkend wirken dagegen zB allgemein geltende Transferregeln im professionellen Sport,254 nationale Regelungen, nach denen inländischen und EG-ausländischen Arbeitnehmern kein Abfindungsanspruch zusteht, wenn sie ihr Arbeitsverhältnis selbst kündigen,255 sowie nationale Regelungen, die inländische und EG-ausländische Arbeitgeber zur Zahlung eines Mindestlohns an ihre Arbeitnehmer verpflichten.256 Eine Verletzung (nur) des Beschränkungsverbots ist sogar denkbar, wenn die Inländer typischerweise schlechter als die EG-Ausländer behandelt werden.257 Der EuGH verzichtet regelmäßig auf eine Abgrenzung von Diskriminierungs- und Beschränkungsverboten und prüft – von den Fällen der 253 Gundel Jura 2001, 79, 83. 254 Vgl EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 99 – Bosman. Nach Epiney (Fn 74) S 61 f, ist es nicht möglich, versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen auseinander zu halten. 255 EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 15 ff – Graf. 256 EuGH, Slg 2002, I-787, Rn 16 ff – Portugaia Construções = JK 8/02, EGV Art 49 ff/5. 257 Vgl Hirsch ZEuS 1999, 503, 509, mit Hinweis auf EuGH, Slg 1998, I-47 ff – Schöning (in dem Fall ging es um die Anwendbarkeit einer BAT-Regelung, die eine Höhergruppierung von Fachärzten im öffentlichen Dienst vorsieht, wenn sie über eine bestimmte Zeitdauer als Fachärzte im BAT-Anwendungsbereich tätig waren).
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Keck-Rspr abgesehen (Rn 85) – nur den einen oder anderen Aspekt. Er tendiert dazu, bei offenen Diskriminierungen nur hierauf (und nicht auf die Beschränkung) abzustellen.258 Im Falle eines Zusammentreffens von versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen wird jedenfalls dann, wenn der Markt- oder Berufszugang als solcher behindert und damit in den Kernbereich der Gewährleistung eingegriffen wird, vielfach nur das Beschränkungsverbot geprüft.259 Geht es dagegen um den Randbereich der Gewährleistungen (zB um die Einzelheiten der Ausübung eines selbstständigen Berufs), wird oft nur danach gefragt, ob eine Diskriminierung vorliegt.260 So ergibt sich aus der Keck-Rspr (Rn 85), dass eine Regelung von Verkaufsmodalitäten nur an den Grundfreiheiten gemessen werden kann, wenn eine Diskriminierung respektive keine universelle oder neutrale Betroffenheit vorliegt. Hieraus ist gefolgert worden, dass sich das Beschränkungsverbot und das Verbot einer (faktischen) Diskriminierung nicht überschneiden, sondern die Grundfreiheiten im Kernbereich nur Beschränkungsverbote, im Randbereich nur Diskriminierungsverbote darstellen.261 Nach der hier vertretenen Ansicht können indessen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote nebeneinander stehen. Hierfür spricht auch, dass die Grundfreiheiten primär als Diskriminierungsverbote formuliert sind, sich Kernund Randbereichsbeeinträchtigungen oft schwer auseinander halten lassen und jedenfalls offene Diskriminierungen auch im Falle von Zugangsbeschränkungen nicht einfach als unerheblich abgestempelt werden dürfen. Überschneiden sich Diskriminierung und Beschränkung, kommt es auf das Auseinanderhalten dieser beiden Beeinträchtigungsformen jedoch dann nicht entscheidend an, wenn die Rechtfertigungsgründe identisch sind (vgl Rn 80 ff). Allerdings unterscheiden sich die Beweis- bzw Rechtfertigungslast. Während bei Diskriminierungsverboten die EG-Kommission oder die Berechtigten der Grundfreiheiten das Vorliegen einer Diskriminierung zu beweisen haben, muss bei Annahme einer Beschränkung der Mitgliedstaat nachweisen, dass diese gerechtfertigt ist.262
3. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung von Grundfreiheiten 90
Liegt eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten vor, stellt sich die Frage, ob sich die Beeinträchtigung rechtfertigen lässt. Dies ist nur der Fall, wenn eine Grundlage für die Beeinträchtigung besteht (Rn 91), eine ausdrückliche (Rn 94 ff), anderweitige gemeinschaftsrechtliche (Rn 98 f) oder ungeschriebene (Rn 101 ff) Schrankenregelung zur Anwendung gelangt und die Schranken-Schranken (Rn 104 ff) beachtet wurden. a) Bestehen einer Grundlage der Beeinträchtigung aa) Grundlage im Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft
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Trifft das Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft eine abschließende Regelung, sind die Grundfreiheiten nach der Rspr des EuGH ohnehin nicht anwendbar (Rn 8, 62).
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Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien. Hierfür ist die Cassis de Dijon-Entscheidung ein Beispiel. Vgl zB EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 14 ff – Ciola = JK 3/00, EGV Art 49/1. Vgl Lecheler/Gundel (Fn 219) S 177 f; S ferner Jarass EuR 2000, 705, 711, wonach ein Eingriff in den Kernbereich der Grundfreiheiten generell als Beschränkung einzustufen ist, unabhängig davon, ob er zu einer Schlechterbehandlung im jeweiligen Fall führt. Zum Ganzen auch Eilmannsberger JBl 1999, 347 ff. 262 Vgl auch Borchardt EU, Rn 864.
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Nach der hier vertretenen Ansicht gilt dies nur, soweit der Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten wiederholt oder ausgeformt wird, es also nicht um eine Beeinträchtigung der Freiheit geht. Unabhängig davon, muss sich das Sekundärrecht stets an den Grundfreiheiten messen lassen, insbesondere, wenn es eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten gestattet.263 Beeinträchtigt die Europäische Gemeinschaft die Grundfreiheiten selbst, bedarf es einer Verordnung oder (wenn mitgliedstaatliches Handeln zwingend vorgeschrieben wird) einer Richtlinie, nicht aber einer bloßen Durchführungsverordnung der EG-Kommission. Falls sich aus dem Unionsrecht selbst eine Befugnis zur Einschränkung der Grundfreiheiten ergeben sollte, dürfte dies als hinreichend anzunehmen sein. Der Vertrag von Lissabon ordnet auch Beschlüsse des Europäischen Parlaments dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu (Art 289 AEUV). Stützt sich das eine Grundfreiheit beeinträchtigende Tun, Dulden oder Unterlassen eines Mitgliedstaates (oder eines Privaten) zu Recht unmittelbar oder mittelbar auf (nicht abschließendes) Sekundärrecht 264, fungiert dieses und nicht das mitgliedstaatliche Recht als Schranke der Grundfreiheiten. bb) Gesetzliche Grundlage im mitgliedstaatlichen Recht Nach der Rspr des EuGH „bedürfen in allen Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person einer Rechtsgrundlage.“ 265 Der EuGH hat somit den Vorbehalt des Gesetzes als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt.266 Die zitierten Ausführungen beziehen sich allerdings auf die Einschränkung eines Unionsgrundrechts. Der Rspr des EuGH lässt sich bisher nicht entnehmen, dass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage auch für die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten gelten soll. Geht man von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gesetzmäßigkeitsprinzips aus und sieht man die Grundfreiheiten nur als spezielle Ausprägungen der Unionsgrundrechte an (Rn 28 f), kann für die Grundfreiheiten aber nichts anderes als für die Grundrechte gelten.267 So wird das durch die Grundfreiheiten geschützte Tun, Dulden oder Unterlassen auch durch die Unionsgrundrechte geschützt 268, mögen die Grundfreiheiten auch als leges speciales gegenüber den Unionsgrundrechten anzusehen sein (Rn 18). Die Grundfreiheiten werden nach gefestigter Rspr verletzt, wenn ihre Einschränkung den Unionsgrundrechten widerspricht (Rn 18; → § 14 Rn 13). Eine Einschränkung der Unionsgrundrechte muss aber „gesetzlich vorgesehen“269 sein. Für die hier vertretene Ansicht spricht auch, dass Art 46 I EGV (52 I AEUV) eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit nur durch „Rechtsund Verwaltungsvorschriften“ vorsieht. Welche Anforderungen an das Erfordernis einer
263 Vgl zB EuGH, Slg 2004, I-11825, Nr 3, Rn 59 – André GmbH. 264 Mittelbar ist das Sekundärrecht betroffen, wenn zwar eine nationale Vorschrift angewendet wird, diese aber auf einer korrekten Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft beruht. 265 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst. 266 Näher zu den Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt → § 14 Rn 67. 267 Im Ergebnis tendenziell ebenso Jarass EuR 1995, 202, 222; vgl auch Kingreen in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 86. 268 Namentlich durch das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) und das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRCh). 269 Art 52 I GRCh.
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gesetzlichen Grundlage zu stellen sind, ist bislang unklar geblieben.270 Abzustellen ist auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht. Mit Rücksicht auf den Common-Law-Rechtskreis lässt der EGMR eine Einschränkung der EMRK-Rechte auch durch ungeschriebenes Recht zu (→ § 2 Rn 63). Gleiches dürfte dann auch für die Grundfreiheiten anzunehmen sein (vgl aber auch → § 14 Rn 67). In jedem Falle bedarf die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten einer klaren, hinreichend bestimmten und ausreichend zugänglichen Rechtsgrundlage. Geht man davon aus, dass auch Privatpersonen Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sein können (Rn 52), dürfte das Gesetzmäßigkeitsprinzip nicht uneingeschränkt gelten (weil ansonsten zB jegliches die Grundfreiheiten schmälerndes Handeln der internationalen Sportverbände unzulässig wäre). b) Ausdrückliche Schranken 93
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Fall 10: (EuGH, Slg 2004, I-6569 – frz Alkoholwerbeverbot = JK 1/05, Art 49 EGV/12). Ein frz Gesetz „Loi Evin“ – verbietet Alkoholwerbung im Fernesehen. Betroffen davon ist auch die indirekte Werbung, die nicht als eigener Werbespot gesendet wird, sondern beim Ausstrahlen einer Sendung zwangsläufig mitübertragen wird, wie zB die Banden- oder Trikotwerbung bei der Übertragung von Sportereignissen. Erfasst von dem Verbot sind auch im Ausland stattfindende Sportereignisse, wenn dabei indirekte Werbung zu sehen wäre. Ist das frz Gesetz mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar?
Der EG-Vertrag enthält für alle Grundfreiheiten ausdrückliche Schrankenregelungen (Art 30, 39 III, 46 iVm 55, 57 I, 58 I EGV/36, 45 III, 52 iVm 62, 64 I, 65 I AEUV). Alle Regelungen erlauben zumindest eine Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und (oder) Sicherheit. Für die Beschränkung des Warenverkehrs nennt der Vertrag zahlreiche weitere Rechtfertigungsgüter (Sittlichkeit, Gesundheit, Leben, nationales Kulturgut, gewerbliches und kommerzielles Eigentum).271 Die Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit darf ua aus Gründen der Gesundheit beschränkt werden (bei den zuletzt genannten Freiheiten allerdings nur, wenn es um Sonderregelungen für Ausländer geht). Eine Beschränkung der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs ist insbesondere im Verhältnis zu Drittstaaten (Art 57 EGV/64 AEUV) sowie aus steuerlichen Gründen erlaubt, wobei die Schranken der Niederlassungsfreiheit unberührt bleiben (Art 58 II EGV/65 II AEUV). Die Schrankenregelungen gelten für sämtliche Formen der Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten. Welche Zwecke mit einer gesetzlichen Regelung verfolgt werden, richtet sich nicht nur nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers, sondern auch nach der objektiven Zweckrichtung des Gesetzes.272 Verfolgen die Mitgliedstaaten Zwecke, die mit dem sonstigen Gemeinschaftsrecht – namentlich dem Sekundärrecht – kollidieren, vermögen diese nicht die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen. Als Öffnungsklausel für die Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen könnte vor allem der Begriff „öffentliche Ordnung und (oder) Sicherheit“ in Frage kommen. Diese
270 Vgl auch Jarass EuR 1995, 202, 222. 271 Nach Art 30 S 2 (36 S 2 AEUV) dürfen die Verbote oder Beschränkungen kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder verschleierten Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (→ § 8 Rn 90). Vgl mit weiteren Fallbeispielen auch Craig/de Búrca EU, 696 ff. 272 Vgl Cremer NVwZ 2004, 668, 673.
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gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriffe sind indessen – gänzlich anders als im deutschen Recht – nach stRspr des EuGH eng auszulegen.273 Dies wird insbesondere aus dem Ausnahmecharakter hergeleitet. Es müssen staatliche Interessen von fundamentaler Bedeutung berührt sein,274 welche die Grundinteressen der Gesellschaft 275 (öffentliche Ordnung) oder die innere oder äußere Sicherheit (öffentliche Sicherheit) betreffen. Nicht dazu gehört beispielsweise der Verbraucherschutz.276 Die konkreten Umstände, die zB die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, können von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein. Deshalb billigt der EuGH den zuständigen innerstaatlichen Behörden einen Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den EGV gesetzten Grenzen zu.277 Ist das nationale Recht durch Sekundärrecht vollständig harmonisiert worden, richtet sich die Rechtfertigung der Beeinträchtigungen nach dem Sekundärrecht und nicht nach dem nationalen Recht.278 IdR sind dann die Grundfreiheiten bereits nicht anwendbar (Rn 8, 62). Zur Anwendung der Schrankenregelungen im Falle einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Private vgl Rn 52, 75, 92. Lösung Fall 10: Die Ausstrahlung grenzüberschreitender Fernsehsendungen unterfällt der Dienstleistungsfreiheit.279 Die sekundärrechtlichen Regelungen der EG zur Fernsehwerbung beziehen sich nicht auf die indirekte Fernsehwerbung, so dass Art 49 EGV (56 AEUV) anwendbar ist. Das frz Gesetz beschränkt die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. Zulässig ist eine solche Beschränkung gem Art 55 iVm 46 EGV (62 iVm 52 AEUV) gegenüber Ausländern ua aus Gründen der Gesundheit. Maßnahmen, welche die Möglichkeiten der Werbung für alkoholische Getränke einschränken und damit zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs beitragen, dienen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit. Der EuGH hat die frz Fernsehwerbungsregelung auch für verhältnismäßig erachtet (ohne die Angmessenheit der Regelung näher zu prüfen).
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c) Anderweitige gemeinschaftsrechtliche Schranken Neben den ausdrücklichen Schrankenregelungen können auch andere Vorschriften des Gemeinschaftsrechts die Grundfreiheiten partiell zurückdrängen. So können die Grundfreiheiten mit den, den gleichen Rang genießenden Unionsgrundrechten kollidieren. Beispielsweise hat der EuGH in der Rechtssache Schmidberger (→ § 8 Rn 16, 22) eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit wegen des Nichteinschreitens der österreichischen Behörden gegen die Sperrung der Brenner-Autobahn durch Demonstranten für gerechtfertigt erachtet und sich hierbei auch und gerade auf die Grundrechte der Demonstranten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit berufen. Die Grundrechte seien geeignet, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemein-
273 Vgl etwa EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 18 – Van Duyn; Slg 1977, 5, Rn 12 ff – Bauhuis; Slg 1981, 1625, Rn 7 – Kommission/Irland; Slg 1991, 1361, 1377 – Kommission/Griechenland. 274 Vgl Becker in: Schwarze, EUV, Art 30 EGV Rn 11. 275 EuGH, Slg 2000, I-1335, Rn 17 – Scientology. 276 Vgl EuGH, Slg 1984, 3651, Rn 18 f – Kohl. 277 EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 18 – Van Duyn; Slg 1977, 1999, Rn 33 – Bouchereau; Slg 2004, I-9609, Rn 31 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13 (Fall 12). 278 Vgl EuGH, Slg 2003, I-14887, Rn 102 – DocMorris (Fall 1). 279 Vgl auch EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 48 – De Agostini.
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schaftsrecht bestehen.280 Die Grundrechte sollen demnach nicht nur der Ausfüllung der ausdrücklichen oder ungeschriebenen Schranken dienen, sondern auch selbstständige Bedeutung haben können. Der Sache nach dürfte es keinen wesentlichen Unterschied ausmachen, ob man die Grundrechte als selbstständige Schrankenregelungen oder als Bestimmungsfaktoren respektive Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen ansieht. Nicht hinreichend deutlich gemacht hat der EuGH bisher aber, ob es sich um Unionsgrundrechte handeln muss oder ein nationaler Grundrechtsschutz ausreichend ist. Da sich allein nach den Rahmenbestimmungen des Gemeinschafts- (Unions-)rechts bestimmt, welchen Schranken die Grundfreiheiten unterliegen, kommen als selbstständige Schranken nur die Unionsgrundrechte in Betracht.281 Die nationalen Grundrechte entfalten ihre Wirkung aber insofern, als sie dazu beitragen, die ausdrücklichen Schranken des EG-Vertrages (zB die Frage, was unter öffentlicher Ordnung oder unter öffentlicher Sicherheit zu verstehen ist) oder die ungeschriebenen Schranken zu konkretisieren. Hierbei ist freilich zu berücksichtigen, dass es nicht Aufgabe des EuGH oder des Gerichts erster Instanz ist, zu prüfen, ob eine nationale Maßnahme die nationalen Grundrechte verletzt. Ferner vermag sonstiges Primärrecht uU eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen. So stellt ein nationales Gesetz, das den in bestimmten Teilen eines Staatsgebiets ansässigen Betrieben einen prozentualen Anteil an öffentlichen Lieferaufträgen garantiert, nicht nur eine Maßnahme gleicher Wirkung, sondern auch eine Beihilfe dar. Wendet man Art 28 (34 AEUV) und Art 87 EGV (107 AEUV) parallel an, können die besonderen Regelungen der Art 87 ff EGV (107 ff AEUV), insbesondere die Rechtfertigungsvorschriften, unterlaufen werden. Daher wird man in solchen Fällen davon auszugehen haben, dass sich das Ob der Förderung allein nach den Art 87 ff EGV (107 ff AEUV) bestimmt, während das Wie, dh die nähere Ausgestaltung der Beihilfe, auch am Maßstab der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) zu überprüfen ist.282 d) Ungeschriebene Schranken
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Fall 11: (EuGH, Slg 1998, I-1931 – Kohll). Nach luxemburgischem Recht werden die Kosten einer ärztlichen Behandlung im Ausland von der gesetzlichen Krankenversicherung nur erstattet, wenn auf einer Auslandsreise ein Notfall eintritt oder der Patient zuvor eine Genehmigung der Krankenversicherung eingeholt hat. Der luxemburgische Staatsangehörige K möchte eine Zahnregulierung in Deutschland vornehmen lassen. Die Genehmigung hierfür ist ihm aber verweigert worden. Er möchte wissen, ob dies mit den Grundfreiheiten vereinbar ist.
aa) Entwicklung der Rechtsprechung 101
Entnimmt man einerseits den Grundfreiheiten nicht nur ein weites Diskriminierungs-, sondern auch ein weites Beschränkungsverbot und legt man andererseits die Schrankenregelungen des EG-Vertrages äußerst eng aus, führt dies zu einem sehr geringen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten. Dies wird der Regelungsintention der Grundfrei-
280 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 74 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. 281 Vgl auch Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213, 215 f; aA Schorkopf ZaöRV 64 (2004), 125, 140; v Danwitz in Tettinger/Stern, GRCh, Art 53 Rn 6. 282 Vgl Ehlers JZ 1992, 199 f. AA wohl EuGH, Slg 1990, I-889, Rn 22 ff – Du Pont de Nemours Italiana.
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heiten jedoch nicht gerecht. Der EuGH hat deshalb in der Cassis de Dijon-Entscheidung zwingende Erfordernisse im Allgemeininteresse liegender Zwecke der Mitgliedstaaten als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt (Rn 71, 84). Als solche wurden „insbesondere“ die Erfordernisse einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes hervorgehoben.283 Doch kommen auch sonstige im Allgemeininteresse liegende Zwecke mit Ausnahme rein wirtschaftlicher Gründe 284 in Betracht. Existiert Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft, müssen sich die zwingenden Erfordernisse allerdings auch daran messen lassen. Die zunächst für den freien Warenverkehr entwickelten ungeschriebenen Schranken sind später auf alle anderen Grundfreiheiten übertragen worden, wobei die Terminologie ohne Unterschied in der Sache leicht variiert.285 Der CassisRspr ist ein Wertungswiderspruch vorgeworfen worden, weil die enge Auslegung der ausdrücklichen Schrankenregelungen und die Verneinung ihrer Analogiefähigkeit nicht mit der großzügigen Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in Einklang gebracht werden könne.286 In methodischer Hinsicht wird dafür plädiert, die ausdrücklichen Tatbestandsmerkmale „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ erweiternd auszulegen.287 Doch wird das Vorgehen des Gerichtshofs jedenfalls dann verständlich, wenn man die geschriebenen Schrankenregelungen auf alle Formen der Beeinträchtigung, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe dagegen nur auf bestimmte Beeinträchtigungen bezieht (vgl die folgenden Ausf). bb) Geltung der ungeschriebenen Schranken für diskriminierende Beeinträchtigungen Die Cassis-Rspr ist für unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, dh ausschließlich für nicht diskriminierende Beschränkungen, entwickelt worden.288 In vielen neueren Entscheidungen hat der EuGH den Rechtfertigungsgrund der zwingenden Erfordernisse aber auch auf versteckte Diskriminierungen bezogen.289 In der Lit wird teilweise die Auffassung ver283 Vgl zB Borchardt EU, Rn 829. 284 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker; Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll (Fall 11); Slg 2000, I-151, Rn 33 – Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb = JK 10/00, EGV Art 28/1; Slg 2003, I-4509, Rn 72 – Müller-Fauré. Geht man davon aus, dass auch Private an die Grundfreiheiten gebunden sind (Rn 52), ist nicht zweifelsfrei, ob die Berufung auf wirtschaftliche Gründe niemals als zwingendes Erfordernis angesehen werden kann. 285 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB EuGH, Slg 1996, I-2617, Rn 19 – O’Flynn: „objektive Erwägungen“; für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 1991, I-4221, Rn 15 ff – Säger; Slg 1997, I-3589, Rn 8 – Familiapress: „Allgemeininteresse“ = JK 2/98, EGV Art 30/1; Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll (Fall 11); Slg 1999, I-2835, Rn 19 – Pfeiffer: „zwingende Gründe des Gemeinwohls“; ebenso Slg 2003, I-4509, Rn 73 – Müller-Fauré. 286 Vgl Kingreen (Fn 2) S 52, 120 f. 287 Vgl Schweitzer/Hummer/Obwexer ER, Rn 1400. 288 Vgl zB EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 10 – Kommission/Irland; Slg 1994, I-1039, Rn 51 ff – Schindler; Slg 1999, I-6067, Rn 31 – Läärä. 289 Vgl EuGH, Slg 1999, I-7641, Rn 21 ff – Vestergaard; Slg 2003, I-721, Rn 21 ff – Kommission/ Italien = JK 8/03, EGV Art 49/7; vgl auch EuGH, Slg 2001, I-2099, Rn 73 – PreussenElektra (dazu Frenz Grundfreiheiten, Rn 492 ff); Craig/de Búrca EU, 706 f; Nowak/Schnitzler EuZW 2000, 627 ff; Nowak VerwArch 93 (2002), 368, 374; Gundel Jura 2001, 79 ff – mit umfangreichen Nachw der Rspr; aA aber wohl EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 16 – Ciola = JK 3/00, EGV Art 49/1 (diskriminierende Maßnahmen lassen sich mit dem Gemeinschaftsrecht nur vereinbaren, wenn sie unter eine „ausdrücklich abweichende Bestimmung“ fallen).
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treten, dass jegliche Diskriminierung durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt werden kann.290 Diese Auffassung geht jedoch zu weit. Da offene Diskriminierungen besonders schwer wiegen und dem Binnenmarktkonzept diametral zuwiderlaufen, lassen sich diese nur durch ausdrückliche Schrankenregelungen rechtfertigen. Dagegen ist mit der überwiegenden Rspr in der neueren Zeit davon auszugehen, dass die zwingenden Gründe des Allgemeinwohls auch Grundlage für die Rechtfertigung versteckter Diskriminierungen sein können.291 Abgesehen davon, dass sich Beschränkungen und faktische Diskriminierungen nur schwer voneinander abgrenzen lassen, wäre ein geschlossener, nicht erweiterungsfähiger Kanon von Rechtfertigungsmotiven für die Fallgruppe der faktisch diskriminierenden Maßnahmen ebenso unangemessen wie im Falle der „reinen“ Beschränkungen.292 In jedem Falle wirkt die Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn 109) als Korrektiv.
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Lösung Fall 11: Auch wenn das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, müssen die Grundfreiheiten beachtet werden. Eine medizinische Leistung verliert nicht deshalb ihren Charakter als Dienstleistung, weil der Patient, nachdem er den ausländischen Leistungserbringer für die erhaltene Behandlung bezahlt hat, später die Übernahme der Kosten dieser Behandlung durch einen nationalen Gesundheitsdienst beantragt.293 Das Genehmigungserfordernis wirkt grenzüberschreitend und berührt sowohl die Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV/56 AEUV) des Dienstleistungserbringers (Arzt) als auch die des Dienstleistungsempfängers (K). Da die luxemburgische Regelung auf den Ort der Behandlung, nicht die Nationalität des Erbringers oder Empfängers, anknüpft und die Kosten in Luxemburg praktizierender Ärzte aus dem EG-Ausland erstattet werden, liegt keine offene Diskriminierung vor. Die Regelung wirkt sich aber typischerweise nachteilig auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten (Ärzte) aus. Daher ist eine mittelbare Diskriminierung anzunehmen. Auch wenn nicht die Entgegennahme der Leistung durch den Patienten verboten, sondern nur die Erstattung der Kosten abgelehnt wird, liegt eine erhebliche Behinderung des Zugangs zu den Dienstleistungen vor. Somit stellt sich die Maßnahme auch als Beschränkung dar. Als Rechtfertigungsgründe kommen sowohl die in Art 55 iVm 46 EGV (62 iVm 52 AEUV) genannten als auch die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses in Betracht. Die luxemburgische Regelung soll dem Gesundheitsschutz, der Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung sowie der Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems dienen. Hierbei handelt es sich um relevante Gesichtspunkte und nicht nur um rein wirtschaftliche Gründe. Jedoch ist eine Gefährdung der geschützten Interessen nicht ersichtlich. Das gilt auch für die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems, wenn nur Behandlungskosten nach den Tarifen des Versicherungsstaats erstattet werden. Somit darf die luxemburgische Regelung nicht angewendet werden.294 Dagegen darf die Erstattungspflicht für Kosten einer stationären Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat von einer vorherigen
290 Vgl Weiß EuZW 1999, 493, 497; Hakenberg in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 25; Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 20; → § 8 Rn 61. 291 Wie hier Boger Die Anwendbarkeit der Cassis-Formel auf Ungleichbehandlungen im Rahmen der Grundfreiheiten, 2004, 197 ff. 292 Gundel Jura 2001, 79, 83. 293 EuGH, Slg 2007, I-3185, Rn 21 – Stamatelakis. 294 Die Grundfreiheiten finden auch auf Krankenversicherungssysteme Anwendung, denen – wie das deutsche und anders als das luxemburgische – das Sachleistungsprinzip zugrunde liegt, EuGH, Slg 2001, I-5473, Rn 55 – Geraets-Smits.
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Genehmigung des jeweiligen Sozialversicherungsträgers abhängig gemacht werden, wenn das Genehmigungserfordernis auf objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien beruht, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden, die eine missbräuchliche Ausübung verhindern.295
e) Schranken-Schranken Dürfen die Grundfreiheiten beschränkt werden, unterliegen die Schranken ihrerseits Gegenschranken respektive Schranken-Schranken. Darunter sind die Beschränkungen zu verstehen, die für die Verpflichteten der Grundfreiheiten (namentlich die Mitgliedstaaten) gelten, wenn sie dem Gebrauch der Grundfreiheiten (etwa wegen zwingender Erfordernisse) Schranken ziehen. Als Schranken-Schranken kommen namentlich die Unionsgrundrechte und die sonstigen Primärrechtsbestimmungen (Rn 105), das sekundäre Gemeinschaftsrecht (Rn 106) und vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Rn 109) in Betracht.
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aa) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen Die Grundfreiheiten können nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die Maßnahmen auch den Anforderungen des primären Gemeinschaftsrechts im Übrigen gerecht werden. So muss die Gemeinschaft bei einer Einschränkung der Grundfreiheiten die Anforderungen der kompetenzrechtlichen Schrankentrias des Art 5 EGV (5 EUV-E) beachten. Ferner sind die Unionsgrundrechte sowohl von den Gemeinschaften selbst als auch von den Mitgliedstaaten (bei Durchführung des Gemeinschaftsrechts) zu beachten (Rn 18). Die Unionsgrundrechte können sowohl mit den Grundfreiheiten kollidieren (Rn 98) als auch den Schutz der Grundfreiheiten verstärken (→ § 14 Rn 13). Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass die Schrankenregelungen296 und zwingenden Erfordernisse297 „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen sind“ (vgl auch Rn 98). So stellen die Gesichtspunkte „Aufrechterhaltung der Medienvielfalt“ und „Verbraucherschutz“ grundsätzlich zwingende Erfordernisse dar. Wird aus diesen Gründen verboten und damit die Freiheit des Warenverkehrs beeinträchtigt, müssen daher die Auswirkungen auf das von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützte Grundrecht der Meinungsfreiheit in Rechnung gestellt werden. Dies gebietet die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung.298 In der Rechtssache Carpenter (Rn 29) hat der EuGH eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit deshalb für gemeinschaftsrechtswidrig erachtet, weil die Beeinträchtigung im konkreten Fall dem Grundrecht auf Achtung des Familienlebens widersprach. Begrenzen die Unionsgrundrechte die Einschränkbarkeit der Grundfreiheiten (→ § 14 Rn 13), entfalten sie ihre Wirkung als Schranken-Schranken oder als Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen. Nicht zu prüfen ist vom EuGH oder vom Gericht erster Instanz 295 EuGH, Slg 2003, I-4509, Rn 81, 85 – Müller-Fauré; Slg 2007, I-3185, Rn 35 – Stamatelaki = JK 01/08, EGV Art 49/18. Zum Recht der Mitgliedstaaten, das Schutzniveau der Gesundheit ihrer Bevölkerung zu bestimmen und einem daraus resultierenden Beurteilungsspielraum beim Erlass nationaler Vorschriften, vgl EuGH, NJW 2008, 3693, Rn 51 – Kommission/Deutschland. 296 EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT. 297 EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1. 298 Lackhoff (Fn 77) S 459 f; krit Kingreen (Fn 2) S 166 ff.
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nach der hier vertretenen Ansicht, ob die Beschränkung der Grundfreiheiten mit den nationalen Grundrechten vereinbar ist (Rn 98). Die Unionsgrundrechte binden zwar die Union sowie die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts unmittelbar. Stets muss das Gemeinschafts- bzw Unionsrecht aber anwendbar sein. bb) Sekundäres Gemeinschaftsrecht 106
Ähnliches wie für die Unionsgrundrechte gilt für das sekundäre Gemeinschaftsrecht. Zwar sagt die Übereinstimmung einer Maßnahme mit dem sekundären Gemeinschaftsrecht nichts über die Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten aus (vgl Rn 9, 62). Ein Mitgliedstaat (oder ein privater Verpflichtungsadressat der Grundfreiheiten) kann aber eine die Grundfreiheiten einschränkende Maßnahme dann nicht rechtfertigen, wenn und soweit gültiges Sekundärrecht ihm dies untersagt, zB weil Harmonisierungsmaßnahmen getroffen worden sind, die hinsichtlich des konkret verfolgten Schutzziels anderes vorsehen.299 Dies ergibt sich für die Mitgliedstaaten aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts (Rn 11). Hat das Sekundärrecht in zulässiger Weise eine abschließende Regelung getroffen, fehlt den Mitgliedstaaten die Kompetenz zum Erlass abweichender Vorschriften.300 In diesen Fällen sind die Grundfreiheiten wegen des Anwendungsvorrangs des niederrangigen Rechts (Rn 8, 62) ohnehin nicht anwendbar. cc) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
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Fall 12: (EuGH, Slg 2004, I-9609 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13.) Die deutsche O-GmbH, die Spielhallen betreibt, ist dazu übergegangen, in einer Anlage mit dem Namen „Laserdrome“ Unterhaltungsspiele mit simulierten Tötungshandlungen an Menschen zu betreiben, wobei die Spieler mit maschinenpistolenähnlichen Laserzielgeräten auf die an der Kleidung der Spieler angebrachten Sensorenempfänger zielen. In Großbritannien sind solche Spiele üblich. Die Berechtigung, das Spiel in Deutschland zu betreiben, hat O von einer englischen Firma erworben. Außerdem wird die Ausrüstung der Spieler von der englischen Firma geliefert. Die zuständige deutsche Behörde hat den Betrieb des Spiels verboten, weil es menschenverachtend sei. Nach Verhandlungen vor deutschen Gerichten hat sich das BVerwG als letzte verwaltungsgerichtliche Instanz an den EuGH mit der Frage gewandt, ob die Untersagung des Spiels mit den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist. Fall 13: (EuGH, EuZW 2008, 177 – Dynamic Medienvertrieb GmbH = JK 11/08, EGV Art 28/10.) Die A-Media AG vertreibt japanische Bild- und Tonträger im Versandhandel über ihre Internetseite. Die Filme wurden vor ihrer Einfuhr vom Vereinigten Königreich nach Deutschland durch die A-Media AG vom British Board of Film Classification (BBFC) nach den im Vereinigten Königreich geltenden Bestimmungen über den Schutz Minderjähriger überprüft. Das deutsche Jugendschutzgesetz (JuSchG) untersagt den Versandhandel mit Bildträgern, die nicht in Deutschland geprüft worden sind und keine Angabe über die Altersfreigabe tragen. Ein deutsches Gericht möchte wissen, ob das Versandhandelsverbot iSd JuSchG mit Art 28 EGV (34 AEUV) vereinbar ist.
299 Vgl EuGH, Slg 1989, 617, Rn 7 ff – Schumacher; Slg 1994, I-2039, Rn 12 ff – Kommission/ Deutschland; Slg 1994, I-5243, Rn 14 – Ortscheit; Slg 1996, I-2553, Rn 18 ff – Hedley Lomas. 300 Jarass EuR 2000, 705, 719 f; vgl aber Art 95 IV ff EGV (114 IV ff AEUV).
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Schließlich muss die Beschränkung der Grundfreiheiten nach stRspr des EuGH verhältnismäßig sein.301 Die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung lässt sich sowohl aus den Schrankenregelungen, die „gerechtfertigte“ Maßnahmen verlangen (Art 30, 39 III, 46 iVm 55, 58 I EGV/36, 45 III, 52 iVm, 62, 65 I AEUV) als auch aus dem Begriff der „zwingenden“ Erfordernisse oder Gründe des Allgemeinwohls ableiten. Im Übrigen stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (der auch als Übermaßverbot bezeichnet werden kann302) einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der nicht nur die Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten (Art 5 III EGV/5 IV EUV-E), sondern auch und gerade die Grundrechte und damit zugleich die Grundfreiheiten betrifft, weil er sich aus den Freiheitsrechten (vgl Art 52 I 2 GrCh → § 14 Rn 71) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art 2 EUV-E) herleiten lässt. Wie im deutschen Recht (und wohl in allen anderen entwickelten Rechtsordnungen) kommt es für die Beurteilung beeinträchtigender Maßnahmen zumeist entscheidend auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung an. Die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme setzt zunächst voraus, dass legitime Zwecke verfolgt werden. Sodann müssen die eingesetzten Mittel als solche eingesetzt werden dürfen. Schließlich muss der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.303 Geeignetheit bedeutet, dass das Mittel den Zweck fördern muss. Erforderlich ist ein Mittel, wenn der Zweck nicht durch eine geringere Belastung bei gleicher Wirksamkeit erreicht werden kann. Als angemessen ist eine Maßnahme anzusehen, wenn sie in einem recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung der Grundfreiheit steht. Der EuGH und das Gericht erster Instanz prüfen die Verhältnismäßigkeit einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zumeist sehr viel grobmaschiger als im deutschen Recht (vgl auch → § 14 Rn 71). Da das Sekundärrecht kaum am Maßstab der Grundfreiheiten gemessen wird (Rn 8), kommt es in aller Regel auch nicht zu einer Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Regelungen. Soweit der EuGH eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten anerkennt (Rn 52), existiert noch keine ausgeformte Rspr, aus der sich ergibt, welche Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen sind. Werden die Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten beeinträchtigt, wird diesen trotz der generell eher restriktiven Auslegung der Schrankenbestimmungen (Rn 96) hinsichtlich der Beurteilung der Legitimität der verfolgten Zwecke eine weite Einschätzungsprärogative zugestanden. Das weitere Ausmaß der Prüfung hängt mit von der Gewichtigkeit der mitgliedstaatlichen Interessen ab. So wird den Mitgliedstaaten ein „bestimmtes Ermessen“ zuerkannt, wenn die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten der Wahrung moralischer oder kultureller Belange dient, weil solche Erwägungen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein können.304 Manche Entscheidungen ähneln dem Wednesbury-Test des englischen Rechts (der sich mit der Überprüfung begnügt, ob eine Maßnahme vernünftig oder irrational ist).305 Tendenziell strenger ist der Kontrollmaßstab, wenn es um die Freiheit des Waren-, 301 Vgl dazu statt vieler Craig/de Búrca EU, 544 ff; Pache NVwZ 1999, 1033 ff; Jarass EuR 2000, 705, 721 ff; Schwab Der Europäische Gerichtshof und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 2001; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtssprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; Frenz Grundfreiheiten, Rn 523 ff – jeweils mit zahlreichen Nachw der Rspr. 302 Zur Terminologie vgl Krebs Jura 2001, 228 ff. 303 Vgl auch EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 21 – Schräder; Slg 2001, I-837, Rn 31 f – Mac Quen. 304 EuGH, EuZW 2008, 177, Rn 44 – Dynamic Medien Verlag = JK 11/08, EGV Art 28/10 (Fall 13). 305 Vgl v Danwitz EWS 2003, 393, 397; aA Craig/de Búrca EU, 549.
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Dienstleistungs-, Kapital- oder Zahlungsverkehrs (statt um die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit) sowie um offene Diskriminierungen (statt um unterschiedslos anwendbare Beeinträchtigungen) geht.306 Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit die Interessen der Mitgliedstaaten besonders stark berühren. Auch lassen sich für offene Diskriminierungen kaum überzeugende Gründe finden. Vor allem aber ist festzustellen, dass sich die Rspr im Falle des Bestehens legitimer Zwecksetzungen vielfach (zu Unrecht) mit einer zweistufigen Prüfung begnügt, dh mit einer Überprüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit.307 Dagegen unterbleibt nicht selten die Kontrolle der Angemessenheit.308 Maßgebend ist idR die Erforderlichkeitsprüfung, also die Untersuchung, ob der angestrebte Zweck mit weniger restriktiven Mitteln erreicht werden kann. Der Umstand, dass andere Mitgliedstaaten weniger strenge Schutzvorschriften erlassen haben, spricht noch nicht gegen die Erforderlichkeit.309 Nicht erforderlich ist eine nationale Regelung aber, wenn das Ziel der Maßnahme durch gleichwertige Anforderungen des Herkunftsstaates erreicht wird.310 So bedarf es keiner erneuten Überprüfung von Personen und Produkten, wenn bereits ausreichende Kontrollen im Herkunftsland durchgeführt worden sind.311 Bspw ist die Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft aus Gründen des Gläubigerschutzes wegen einer geringeren Mindestkapitalausstattung dann nicht erforderlich, wenn die Gesellschaft als eine solche ausländischen Rechts auftritt. Die potenziellen Gläubiger sind in diesem Falle hinreichend darüber unterrichtet, dass andere Mindestkapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften als im Inland gelten.312
306 Vgl auch Jarass EuR 2000, 705, 723. 307 ZB fehlt einem zum Zwecke der allgemeinen Beschränkung des Alkoholkonsums sowie insbesondere des Jugendschutzes erlassenen schwedischen Gesetz, das die Einfuhr von Alkoholika nur über eine staatliche Alkoholverwaltung erlaubt, nach Auffassung des EuGH sowohl die Geeignetheit (da das Einfuhrverbot für Private die Nachfrage nach Alkoholika nur auf die staatliche Verwaltung umlenkt) als auch teilweise die Erforderlichkeit (da das Einfuhrverbot unabhängig vom Alter gilt). Vgl EuGH, Slg 2007, I-4071, Rn 50 ff – Rosengren = JK 12/07, EGV Art 28/8. 308 Typisch EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 133 mwN – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4. Krit statt vieler v Danwitz EWS 2003, 393, 395 ff. Ders in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 19 f. Teilweise wird die Angemessenheit zwar erwähnt, aber durch die Erforderlichkeit definiert, vgl EuGH, Slg 2003, I-4581, Rn 69 – Kommission/Spanien; Slg 2004, I-6613, Rn 35 f – Loi Evin; Frenz Grundfreiheiten, Rn 534. 309 Vgl EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 50 ff – Alpine Investments; Slg 1996, I-6511, Rn 42 – Broede; Slg 1999, I-6067, Rn 36 – Läärä; Slg 1999, I-7289, Rn 34 – Zenatti; Slg 2001, I-837, Rn 33 f – Mac Quen; Slg 2004, I-6613, Rn 37 – Loi Evin; Slg 2004, I-9609, Rn 38 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13 (Fall 12); EuZW 2008, 177, Rn 49 – Dynamic Medien Verlag (Fall 13). 310 Vgl EuGH, Slg 1991, I-4221, Rn 15 ff – Säger; Slg 1994, I-4249, Rn 19 – Houtwipper; Slg 1995, I-4186, Rn 38 f – Gebhard. 311 EuGH, Slg 1991, I-2357, Rn 15 ff – Vlassopoulou; EuGH, Slg 2006, I-801, Rn 27 ff – Colegio de Ingenieros de Caminos. 312 Vgl EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 135 – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4; näher dazu DeDiego Die Niederlassungsfreiheit von Scheinauslandsgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft, 2004, 124 ff.
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Lösung Fall 12: In Betracht kommt ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV/56 AEUV) und die Freiheit des Warenverkehrs (Art 28 EGV/34 AEUV). 1. Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit: Die Grundfreiheiten setzen das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts voraus. Ein solcher ist hier gegeben, weil die O-GmbH ihr „Laserdrome“ in der von einer englischen Firma entwickelten und vermarkteten Spielvariante betreibt. Sachlich umfasst die Dienstleistungsfreiheit das Erbringen von Leistungen, die idR gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (Art 50 I EGV/57 I AEUV). Das trifft auf die Vermarktung des englischen Spiels zu. Da sich nicht nur der Erbringer, sondern auch der Empfänger (hier die deutsche Gesellschaft) im Falle der Erbringung von Dienstleistungen auf die Freiheit berufen kann, ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit betroffen. 2. Schutzbereich der Freiheit des Warenverkehrs: Da die Spielausrüstung eine Ware darstellt, fällt der Erwerb der Ausrüstung aus Großbritannien unter die durch Art 28 EGV (34 AEUV) geschützte Freiheit des Warenverkehrs. Durch die ergangene Untersagung kann die O-GmbH davon abgehalten werden, die fragliche Ausrüstung zu erwerben. Nach der Rspr des EuGH kann eine nationale Maßnahme, wenn sie sowohl den freien Dienstleistungs- als auch den Warenverkehr beeinträchtigt, nur im Hinblick auf eine der beiden Grundfreiheiten zu prüfen sein, wenn sich herausstellt, dass im konkreten Fall eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann (Rn 65). Dies trifft hier zu, da die Einfuhr von Waren nur hinsichtlich der speziell für die untersagte Laserspielvariante entwickelte Ausrüstung beschränkt wird und dies eine zwangsläufige Folge der Beschränkung in Bezug auf die von der englischen Firma erbrachten Dienstleistungen ist. 3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Dienstleistungsfreiheit: Die Untersagungsverfügung der deutschen Behörde ist ohne Ansehen der Staatsangehörigkeit des Erbringers oder des Empfängers der Dienstleistung ergangen. Es liegt somit keine Diskriminierung, sondern eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs vor. 4. Rechtfertigung der Beeinträchtigung: Die Untersagungsverfügung ist zwar auf ein deutsches Gesetz gestützt worden (§ 14 I OBG NRW). Dieses müsste aber eine zulässige Schrankenregelung der Dienstleistungsfreiheit konkretisieren. Nach Art 55 iVm 46 EGV (62 iVm 52 AEUV) darf die Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung beschränkt werden. Der Begriff ist eng zu verstehen. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das von der deutschen Behörde verfolgte Ziel, die Menschenwürde zu schützen, ist „unzweifelhaft“ mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, ohne dass es insoweit eine Rolle spielt, dass in Deutschland der Grundsatz der Achtung der Menschenwürde die besondere Stellung eines selbständigen Grundrechts (Art 1 I GG) zukommt (vgl zum künftigen Recht Art 1 GRCh). Die Maßnahme ist auch geeignet, die Menschenwürde zu schützen. Nicht erforderlich ist eine Untersagungsverfügung, wenn das verfolgte Ziel mit Maßnahmen erreicht werden kann, die den freien Dienstleistungsverkehr weniger einschränken. Hierbei müssen aber nicht alle Mitgliedstaaten die gleiche Auffassung vertreten. Die Erforderlichkeit scheitert daher nicht bereits schon daran, dass in Großbritannien das Spiel betrieben werden kann. Vielmehr ist zu untersuchen, ob die Maßnahme über das hinausgeht, was zur Erreichung des von der zuständigen Behörde verfolgten Ziels erforderlich ist. Ein milderes Mittel ist hier nicht ersichlich, da die Untersagungsverfügung nur eine bestimmte Variante des Laserspiels betrifft (Verbot auf menschliche Ziele zu schießen und somit das Töten von Menschen zu spielen). Auch gegen die Angemessenheit der Maßnahme bestehen keine Bedenken. Somit verstößt die behördliche Verfügung nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit.
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Lösung Fall 13: Das Vertriebsverbot iSd JuSchG könnte als Maßnahme gleicher Wirkung (Art 28 EGV/34 AEUV) anzusehen sein. Auch nationale Bestimmungen, die eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware zusätzlichen Kontrollen unterwerfen, stellen eine Behinderung iSd Dassonville-Rspr (Rn 28) dar. Bei der Kontrolle und der Kennzeichnungspflicht für Bildträger handelt es sich auch nicht nur um eine Verkaufsmodalität iSd Keck-Rspr (Rn 82, 84 ff). Folglich handelt es sich um eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen iSv Art 28 EGV (34 AEUV). Der durch das JuSchG verfolgte Zweck des Schutzes von Kindern ist jedenfalls ein berechtigtes Interesse iSd Cassis-Rspr (Rn 84, 101). Beschränkungen des freien Warenverkehrs sind jedoch nur gerechtfertigt, wenn sie geeignet sind, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (auf die Angemessenheit geht der EuGH nicht ein). Der EuGH hat vorliegend die Geeignetheit und Erforderlichkeit bejaht. Der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat für andere Schutzmodalitäten als ein anderer Mitgliedstaat (Vereinigtes Königreich) entschieden hat, habe keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der nationalen Bestimmungen. Diese seien allein an dem fraglichen Ziel und dem Schutzniveau zu messen, welches der betroffene Mitgliedstaat gewährleisten will. Das Prüfverfahren muss jedoch leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können. Ferner muss, wenn es zu einer Ablehnung führt, die Ablehnungsentscheidung in einem gerichtlichen Verfahren angefochten werden können. Diese Voraussetzung hat der EuGH beim JuSchG als erfüllt angesehen.
4. Schematische Zusammenfassung 113
Fasst man die Überlegungen zusammen, sollten die Grundfreiheiten wie folgt geprüft werden: I. Schutzbereich der Grundfreiheit 1. Sachlicher Schutzbereich a) Kein abschließendes primärrechtskonformes Sekundärrecht b) Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts c) Vorliegen einer sachlich geschützten Tätigkeit, ggf Abgrenzung der Grundfreiheiten voneinander d) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheit e) Keine Bereichsausnahme 2. Persönlicher Schutzbereich 3. Räumlicher Schutzbereich 4. Zeitlicher Schutzbereich II. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 1. Handeln, Dulden oder Unterlassen eines Verpflichteten Alternativ: Abhandlung im Rahmen der Prüfung des persönlichen Schutzbereichs 2. Vorliegen einer Diskriminierung a) Offene Diskriminierung b) Versteckte Diskriminierung 3. Vorliegen einer Beschränkung a) Dassonville-Formel oder entsprechende Umschreibungen b) Keine Ausklammerung iSd Keck-Rspr c) Hinreichende Nähebeziehung
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III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung 1. Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage a) Grundlage im Sekundärrecht b) Gesetzliche Grundlage im mitgliedstaatlichen Recht (str) 2. Ausdrückliche Schranken 3. Anderweitige gemeinschaftsrechtliche Schranken 4. Ungeschriebene Schranken (zwingende Erfordernisse im Allgemeininteresse liegender Zwecke) a) Offene Diskriminierungen (nur durch ausdrückliche Schranken) b) Versteckte Diskriminierungen (auch durch ungeschriebene Schranken) c) Beschränkungen (auch durch ungeschriebene Schranken) 5. Schranken-Schranken a) Unionsgrundrechte und sonstige Primärrechtsbestimmungen b) Sekundäres Gemeinschaftsrecht c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
VIII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen Fall 14: In der Stadthalle der deutschen Gemeinde G findet einmal im Jahr ein beliebter Regionalmarkt statt,313 auf dem typische Produkte aus der Region veräußert werden. Betrieben wird die Stadthalle von einer gemeindeeigenen GmbH. Deren Bestimmungen sehen vor, dass Mietverträge für die Marktstände nur mit regionalen Betrieben geschlossen werden. K stellt in einer Fabrik in Portugal Trachtenbekleidung her, darunter auch Jacken, die in der Region von G traditionell getragen werden. Diese Jacken möchte er auf dem kommenden Regionalmarkt in G anbieten. Die GmbH hat auf seine Anfrage jedoch erklärt, dass er nicht berücksichtigt werden könne, da sein Betrieb nicht aus der Region stamme. K fragt, auf welchem Rechtsweg er gegen G vorgehen kann.
Da die Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar sind (Rn 7) und dem Einzelnen Rechte verleihen (Rn 10), kann sich dieser gegen eine Verletzung der Grundfreiheiten vor Gericht zur Wehr setzen. Richtet sich das Rechtsschutzbegehren gegen eine mitgliedstaatliche Maßnahme, sind die jeweiligen mitgliedstaatlichen Gerichte zuständig. Der Rechtsweg bestimmt sich nach dem nationalen Prozessrecht.314 In Deutschland sind für öffentlichrechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gem § 40 I 1 VwGO grds die Verwaltungsgerichte, für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten gem § 13 GVG grds die ordentlichen Gerichte (Zivilgerichte) zuständig. Zu unterscheiden ist aber zwischen der Rechtsnatur der Grundfreiheiten und dem Rechtscharakter diesbezüglicher Streitigkeiten. Als primär staatsbezogene, sekundär gemeinschaftsbezogene Vorschriften (Rn 48 f) stellen sich die Grundfreiheiten iSd Kriterien der Subjektstheorie 315 als öffentlich-rechtliche
313 Vertiefend zu öffentlichen Einrichtungen: Roeßing (Fn 90) S 205 ff. 314 Zu den Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts vgl Ehlers DVBl 2004, 1441 ff; Dörr/Lenz Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, 103 ff. 315 Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 37) § 3 Rn 18 ff.
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Streitigkeit dar oder sind zumindest solchen Vorschriften gleichzustellen. Hieran ändert sich nichts, wenn die Mitgliedstaaten privatrechtlich in Erscheinung treten und hierbei die Grundfreiheiten verletzen. Sollten die Grundfreiheiten – nicht nur partiell – unmittelbare Drittwirkung entfalten können (Rn 52), müssten sie nach der hier vertretenen Ansicht der Kategorie des gemeinsamen Rechts zugeschlagen werden.316 Dies würde bedeuten, dass sie dem Privatrecht zuzuordnen wären, wenn ein Privater verpflichtet wird, dem öffentlichen Recht, wenn Verpflichtungsadressat ein Träger von Staatsgewalt oder supranationaler Gewalt ist. Die hM müsste demgegenüber konsequenterweise stets Jedermannsrecht und damit Privatrecht annehmen. Für die Rechtswegbestimmung stellt die hM nicht auf die Rechtsnatur der streitentscheidenden Norm, sondern auf den Rechtscharakter des Rechtsverhältnisses ab, aus dem der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird.317 Maßgeblich für die Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zum öffentlichen oder privaten Recht soll die Rechtsform des Handelns sein. Wird der Staat in privatrechtlicher Form tätig, sollen diesbezügliche Streitigkeiten auch dann dem bürgerlichen Recht zuzuordnen sein, wenn das Privatrecht durch öffentlich-rechtliche Bindungen (hier die Grundfreiheiten) ergänzt, modifiziert und überlagert wird. Ist die Auslegung der Grundfreiheiten nicht zweifelsfrei, können oder müssen sich die nationalen Gerichte im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gem Art 234 EGV (267 AEUV) an den EuGH wenden. Die Verletzung einer Grundfreiheit durch deutsche Staatsgewalt kann auch zu einer Verletzung deutscher Grundrechte führen. Darf sich zB ein EG-Ausländer auf deutsche Grundrechte berufen318 und liegt ein Grundrechtseingriff vor, führt die Verletzung einer Grundfreiheit wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts dazu, dass sich der Grundrechtseingriff nicht rechtfertigen lässt. Demgemäß können Verletzungen der Grundfreiheiten auch mittels Erhebung einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, wenn und soweit zugleich eine Beeinträchtigung nationaler Grundrechte vorliegt. Dies zeigt ein weiteres Mal die Verzahnung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung mit der Gemeinschaftsrechtsordnung. Wendet sich der Einzelne gegen das Verhalten fremder Mitgliedstaaten, können grundsätzlich nur deren Gerichte Rechtsschutz gewähren. Anders ist die Rechtslage, wenn die fremden Mitgliedstaaten im Inland tätig werden und nicht hoheitlich in Erscheinung treten.319 So haben die deutschen Gerichte gem Art 5 Nr 5 VO (EG Nr 44/2001) 320 über Klagen gegen öffentliche Unternehmen aus dem europäischen Ausland zu entscheiden, wenn diese von einer Niederlassung in der Bundesrepublik aus tätig werden.321 Kontrollmaßstab können auch die Grundfreiheiten sein.
316 Vgl Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 37) § 3 Rn 24. 317 GmS-OGB, BGHZ 97, 912; 102, 280; 108, 284; BVerwGE 129, 9; krit Ehlers in: Erichsen/ders (Fn 37), § 3 Rn 89; Stelkens Verwaltungsprivatrecht, 2005, 1029 ff. 318 Näher dazu Wernsmann Jura 2000, 657 ff. 319 Bei hoheitlichem Auftreten genießen die fremden Staaten Immunität. Vgl BVerfGE 16, 27, 61 f. Näher zum Ganzen Ehlers (Fn 49) S 7 ff. 320 Sart II Nr 161. 321 Da nach heutiger Auffassung der völkerrechtliche Immunitätsschutz nur für hoheitliches (acta iure imperii) und nicht für privatrechtliches (acta iure gestiones) Handeln gilt, vgl BVerfGE 16, 27, 61.
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Rügt der Einzelne eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch die Europäischen Gemeinschaften, kommt nur eine Nichtigkeitsklage gem Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) in Betracht, die gem Art 225 EGV (256 AEUV) vor dem Gericht erster Instanz zu erheben wäre. Voraussetzung ist, dass eine an den Betroffenen adressierte Entscheidung oder eine Entscheidung vorliegt, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist, den Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft. Zum künftigen Recht vgl Art 263 IV AEUV (Eröffnung des Rechtsweges auch gegen Verordnungen, die den Einzelnen unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen).322
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2. Durchsetzung der Grundfreiheiten durch die EG-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten Neben den individuell Beeinträchtigten kann auch die EG-Kommission im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 226 EGV (258 AEUV) die Beachtung der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten nach Art 227 EGV (259 AEUV) zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen eine Grundfreiheit verstoßen haben. Schließlich können auch die Mitgliedstaaten und EG-Organe nach Maßgabe des Art 230 II u III EGV (263 II u III AEUV) Nichtigkeitsklage gegen Regelungen der EG erheben. Lösung Fall 14: In Betracht kommen der Verwaltungsrechtsweg gem § 40 I 1 VwGO und der Weg zu den ordentlichen Gerichten nach § 13 GVG. Die Verwaltungsgerichte sind danach zuständig für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art. Die ordentlichen Gerichte entscheiden über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Eine Streitigkeit ist nach hM öffentlichrechtlich, wenn das Rechtsverhältnis aus dem der Anspruch hergeleitet wird, dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist (Rn 115). K begehrt von G, ihm durch Einwirkung auf die Betreibergesellschaft Zugang zu dem Regionalmarkt zu verschaffen. Die den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung einer Gemeinde betreffenden Rechtsbeziehungen zwischen der Gemeinde und einem Privaten werden als öffentlich-rechtlich angesehen (weil das Rechtsverhältnis durch Art 3 I GG, den kommunalrechtlichen Benutzungsanspruch und ggf § 70 GewO geprägt wird).323 Nichts anderes gilt, wenn sich K auf Art 28 EGV (34 AEUV) oder 49 EGV (56 AEUV) beruft (weil auch diese Normen dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind). Würde man dagegen die Grundfreiheiten entgegen der hier vertretenen Ansicht dem Jedermannsrecht und damit dem Privatrecht zuordnen, weil auch die Privaten Verpflichtungsadressaten der Grundfreiheiten sind (Rn 52), könnte uU sowohl ein öffentlichrechtlicher als auch ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch und zugleich sowohl ein öffentlichrechtliches als auch ein privatrechtliches Rechtsverhältnis angenommen werden. K hätte dann ein Wahlrecht. Er könnte sowohl Klage vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Zivilgericht erheben. Das angerufene Gericht hätte gem § 17 II 1 GVG (zur Vermeidung einer Rechtswegspaltung) auch über die rechtswegfremden Ansprüche mit zu entscheiden.
322 Näher zum Ganzen Ehlers in: ders/Schoch RS, § 8 Rn 25 ff. 323 Vgl zB BVerwG, NJW 1990, 134 f; zu § 70 GewO vgl Ehlers in: Püttner/Würtenberger (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd 1, 2. Aufl 2000, § 2 Rn 84.
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§8 Freiheit des Warenverkehrs Astrid Epiney Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 837 ff – Dassonville; Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon; Slg 1993, I-6097 ff – Keck; Slg 1995, I-1923 ff – Mars; Slg 1997, I-3843 ff – de Agostini; EuGH, Slg 2003, I-14887 ff – DocMorris; EuGH, Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjer. Schrifttum: Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art 30 EGV, 1997; Frenz Handbuch Europarecht. Bd. I, Europäische Grundfreiheiten, 2004; Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EGVertrag, 2000; Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages als Gemeinschaftsgrundrechte, 2004; Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Oliver/Jarvis Free Movement of Goods in the European Community, 4. Aufl., London 2003; Oliver/Enchelmaier Free movement of goods: Recent developments in the case law, CMLRev. 2007, 649 ff; Mayer Die Warenverkehrsfreiheit im Europarecht – eine Rekonstruktion, EuR 2003, 793 ff; Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG, 2001; Woods Free Movement of Goods and Services within the European Community, 2004.
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Die Freiheit des Warenverkehrs wird nach der Konzeption des EG-Vertrages durch drei „Kategorien“ von Bestimmungen bzw. Vorgaben gewährleistet: die Verwirklichung der Zollunion, das Verbot mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie das Gebot der Umformung staatlicher Handelsmonopole. Art 25 ff EGV (30 ff AEUV) enthalten die für die Zollunion maßgeblichen Vorschriften. Im Einzelnen ist hier einerseits der Abbau von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie von Abgaben gleicher Wirkung (Art 25 EGV/30 AEUV), andererseits die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten (Art 26 EGV/31 AEUV) vorgesehen. Während Art 25 EGV (30 AEUV) unmittelbar wirksam ist, Einzelnen entspr Rechte verleiht und insofern dieselben Charakteristika wie die Grundfreiheiten aufweist,1 wird der Gemeinsame Zolltarif (notwendigerweise) durch gemeinschaftliches Sekundärrecht eingeführt.2 Das Verbot der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und der Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 28–30 EGV/34–36 AEUV) ergänzt das in Art 25 EGV (30 AEUV) ausgesprochene Verbot der tarifären durch ein solches der nichttarifären Handelshemmnisse und liefert somit einen wesentlichen Beitrag zur Öffnung der Märkte in Bezug auf die grenzüberschreitende Warenzirkulation. Art 31 EGV (37 AEUV) schließlich sieht die Umformung staatlicher Handelsmonopole vor. Diese die Verbote der tarifären und nicht tarifären Handelshemmnisse ergänzende Bestimmung soll verhindern, dass das Verhalten staatlicher Handelsmonopole die Wirksamkeit der Regeln über den freien Warenverkehr einschränkt.3 Die folgenden Ausführungen beschränken sich – iSd Anlage dieses Bandes – auf den an zweiter Stelle genannten Aspekt, dem im Übrigen auch in der (gerichtlichen) Praxis die 1 Während der Begriff der Zölle relativ klar ist, wirft derjenige der Abgaben gleicher Wirkung einige Fragen auf. Hierzu mwN aus der Rspr Epiney in: Bieber/Epiney/Haag, EU, § 11 Rn 13 ff. 2 Vgl hierzu ausf Voß in: Grabitz/Hilf Art 23 EGV Rn 17 ff. 3 Allerdings werden staatliche Handelsmonopole nicht verboten, sondern (auch) den Regeln des freien Warenverkehrs unterstellt. Vgl im Einzelnen zu der Bestimmung und ihrer Auslegung durch den EuGH mwN Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 31 EGV.
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weitaus größte Bedeutung zukommt. In Bezug auf die inhaltliche Tragweite der Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) kann – entspr den ausgeführten allgem Lehren (→ § 7 Rn 58 ff) – zwischen Schutzbereich (I.), Beeinträchtigung (II.) und Rechtfertigung (III.) unterschieden werden. Dabei werden die bereits allgem ausgeführten Probleme nur am Rande angesprochen, so dass der Akzent auf den für den Bereich des Warenverkehrs spezifischen oder bes relevanten Fragestellungen liegt.
I. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich Der räumliche Anwendungsbereich der Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) ergibt sich aus Art 299 EGV (52 EUV-E; 355 AEUV) und entspricht damit dem Geltungsbereich des EGVertrags (→ § 7 Rn 56).
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2. Sachlicher Schutzbereich a) Aus den Mitgliedstaaten stammende oder sich im freien Verkehr befindende Waren Nach Art 25 II EGV (28 II AEUV) findet das Kap über den freien Warenverkehr auf Waren Anwendung, die aus den Mitgliedstaaten stammen oder sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Begriff der Ware wird im Vertrag nicht definiert; allerdings ist er durch die Rspr des EuGH 4 einer gewissen Klärung zugeführt worden. Danach sind unter Waren bewegliche körperliche Sachen zu verstehen, denen grds ein Geldwert zukommt, so dass sie Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Der EuGH legt hier teilweise aber auch eine pragmatische Sicht zugrunde, so wenn er die Warenqualität von Abfall wegen ansonsten auftretender Abgrenzungsschwierigkeiten – Abfall kommt manchmal, aber nicht immer ein Geldwert zu, und diese Beurteilung kann sich auch recht schnell ändern – bejaht.5 Elektrischer Strom und Gas sind ebenfalls als Ware anzusehen,6 wofür insb ihre Handelsfähigkeit und ihre praktische Handhabung als geldwertes Gut sprechen. Auch wenn es um bewegliche Sachen geht, kann die Wareneigenschaft und damit die Einschlägigkeit von Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) dann zu verneinen sein, wenn der beweglichen Sache als solcher gar keine Bedeutung und kein bzw ein vergleichsweise zu vernachlässigender Wert zukommt, insb weil der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einem anderen Gebiet zu suchen ist. So ist etwa die Beschlagnahme von Lotterielosen und des diesbezüglichen Werbematerials im Gefolge der Anwendung eines allgem Verbots von Lotterieveranstaltungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Warenverkehrs-, sondern demjenigen der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen, steht doch die Versendung der Materialien in untrennbarem Zusammenhang mit der Durchführung von Lotterieveranstaltungen.7 Ebenso steht nach Ansicht des EuGH bei der Lieferung eines Laserspiels die Dienstleistungsfreiheit dann im Vordergrund, wenn die Einfuhr von Waren nur hinsichtlich der speziell für die untersagte Laserspielvariante entwickelten Ausrüstung beschränkt und dies eine zwangsläufige Folge der Beschränkung der erbrachten Dienstleistung ist.8 4 5 6 7 8
Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-7319, Rn 30 ff – Jägerskiöld. EuGH, Slg 1992, I-4431, Rn 22 ff – Kommission/Belgien = JK 3/93, EWGV Art 30/3. EuGH, Slg 1994, I-1477, Rn 28 – Almelo; EuGH, Slg 2001, I-2099, Rn 68 ff – Preussen Elektra. EuGH, Slg 1994, I-1039, Rn 22 f – Schindler. EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 26 f – Omega.
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Hingegen berühre ein nationales Verbot des „ambulanten“ Verkaufs von Zeitschriftenabonnementen ohne Genehmigung schwerpunktmäßig Art 28 EGV, während die Dienstleistungsfreiheit nach Art 49 EGV zurücktrete.9 Die Wareneigenschaft ist ebenfalls zu bejahen, wenn ein Produkt als „Speicherungsbehälter“ dient, wie etwa bei Schallplatten.10 Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass diesen Abgrenzungsfragen insofern keine große praktische Relevanz zukommen dürfte, als im Falle der Verneinung der Einschlägigkeit des Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) die Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV/56 AEUV) zum Zuge käme. Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Wareneigenschaft (und ggf die Einschlägigkeit auch anderer Grundfreiheiten) aus ethischen Gründen ausgeschlossen werden soll.11 Diese Problematik wird etwa bei Leichen oder auch bei Embryonen oder Stammzellen relevant und kann sich entspr auch im Rahmen anderer Grundfreiheiten stellen. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe gegen eine grds Einschränkung des Warenbegriffs aus ethischer Sicht: Zunächst ist die Frage der möglichen Reichweite einer solchen Einschränkung kaum wirklich allgemein-abstrakt und damit vorhersehbar zu beantworten, differieren doch die Ansichten darüber, was „ethisch“ ist und was nicht, erheblich, wie die derzeitige Diskussion über die Stammzellen exemplarisch aufzuzeigen vermag. Weiter und insb geht die Systematik der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) davon aus, dass solche Probleme im Rahmen der Rechtfertigung zu lösen sind, nimmt doch Art 28 EGV (34 AEUV) grds gerade keine Rücksicht auf die rechtliche Einordnung eines bestimmten Produkts in einem Mitgliedstaat. Diesem Aspekt wird vielmehr auf der Rechtfertigungsebene (Art 30 EGV/36 AEUV und zwingende Erfordernisse, insb öffentliche Ordnung) Rechnung getragen. Daher erscheint es sinnvoller, die möglicherweise bestehende ethische Fragwürdigkeit des Handels mit bestimmten Produkten auf dieser Ebene zu lösen; auf diese Weise kann dann auch der unterschiedlichen Beantwortung solcher Fragen durch die Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Auch die Rspr des EuGH geht im Zusammenhang mit den Personenverkehrsfreiheiten in diese Richtung, so wenn der Gerichtshof die Einschlägigkeit des Art 49 EGV (56 AEUV) für Abtreibungen12 oder diejenige der Art 39, 43 EGV (45, 49 AEUV) für die Tätigkeit als Prostituierte13 bejaht, wobei er die Erwägung, dass diese Tätigkeiten unethisch sein könnten bzw. nach dem Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten verboten sind, offenbar nicht für ausschlaggebend ansieht. Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) finden jedoch nur auf solche Waren Anwendung, die entweder aus den Mitgliedstaaten stammen oder aber – im Fall von aus Drittstaaten stammenden Waren – sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Der Nachweis des Gemeinschaftscharakters der Waren ist im Einzelnen im Zollkodex geregelt.14
9 EuGH, Slg 2005, I-4133 – Burmanjer. 10 Hierzu und zur Abgrenzung von den „Erfindungen“ Voß in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 23 EGV Rn 12. 11 Zu diesem Problem Frenz Rn 701 f. 12 EuGH, Slg 1991, I-4685 – Grogan. 13 EuGH, Slg 2001, I-8015 – Jany. 14 VO 2913/92, ABl 1992 L 302, 1. Hierzu ausf Voß in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 23 EGV Rn 16 ff. Der Zollkodex wurde jüngst revidiert, was einerseits zu einer Vereinfachung und Neuordnung der Rechtsvorschriften, andererseits zu einer Straffung des Zollverfahrens führt. Der neue Zollkodex ist zwar bereits in Kraft getreten, kann aber vor Erlass der DurchführungsVO durch die Kommission – wofür sie fünf Jahre Zeit hat – nicht angewendet werden. Vgl ABl 2008 L 145, 1.
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Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang schließlich auf Sonderregelungen für spezifische Waren und Bereichsausnahmen: Erstere bestehen hinsichtlich der dem EAG-Vertrag unterfallenden Waren, wobei aber dieser Vertrag ebenfalls den Abbau der Binnenschranken vorsieht. In Erwägung ziehen könnte man, die Vorschriften des EG-Vertrages jedenfalls subsidiär anzuwenden,15 was dann in Betracht kommt, wenn die konkreten Garantien des EG-Vertrages weiter gehen.16 Auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse finden ua die Vorschriften über den freien Warenverkehr soweit Anwendung, als Art 33–38 EGV (39–44 AEUV) nichts Abweichendes bestimmen (Art 32 II EGV/38 II AEUV) Weiter ist von Bedeutung, dass der Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial gemäß Art 296 I lit b) EGV (346 I lit b AEUV) eingeschränkt werden kann.
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b) Zum Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs Auch die Anwendbarkeit der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) setzt im Übrigen nach der Rspr des EuGH einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus (→ § 7 Rn 23, 29).17 Sog „umgekehrte Diskriminierungen“ – dh solche Fälle, in denen inländische Erzeugnisse im Gefolge der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (zB des Art 28 EGV/34 AEUV) schlechter gestellt sind als aus dem EU-Ausland eingeführte Waren – sind danach aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zulässig. In Anbetracht der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts – insb der Einf des Ziels der Errichtung eines „grenzenlosen“ Binnenmarktes – dürfte jedoch das ausschließliche Abstellen auf eine Grenzüberschreitung als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts seinem Stand nicht mehr Rechnung tragen. Angemessener wäre hier eine differenzierendere Betrachtungsweise, so dass das Fehlen eines grenzüberschreitenden Elements zwar bei der Art und Weise der Prüfung des Art 28 EGV (34 AEUV) auf der Rechtfertigungsebene von Bedeutung sein könnte (insb in Bezug auf den den Mitgliedstaaten einzuräumenden Gestaltungsspielraum), nicht jedoch schon von vornherein die Anwendung dieser Bestimmung ausschlösse.18 Letztlich dürfte auch die Rspr des EuGH die Fragwürdigkeit des Abstellens auf die „Grenzüberschreitung“ als Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Grundfreiheiten illustrieren: Denn dieser19 fasst das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements immer weiter, so dass es letztlich ausreicht, dass irgendein Element des Ausgangssachverhalts einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, ohne dass etwa die grenzüberschreitende Wahrnehmung der Freiheit selbst notwendig wäre.20 Zudem 15 So Voß in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 23 EGV Rn 14. 16 So enthält der EAG-Vertrag etwa nur ein Verbot mengenmäßiger Beschränkungen, nicht aber Maßnahmen gleicher Wirkung. 17 Vgl aus der Rspr speziell zu Art 28 EGV EuGH, Slg 1987, 809, Rn 12 – Mathot; EuGH, Slg 1987, 995, Rn 7 – Rousseau. 18 Ausf zu diesem Ansatz Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, insb 200 ff; zum Problemkreis auch Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997; Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 27 ff. 19 Vgl aus jüngerer Zeit insb EuGH, Slg 2002, I-6279, Rn 28 ff – Carpenter = JK 12/02, EGV Art 49/6; EuGH, Slg 2003, I-11613 – Garcia Avello; EuGH, Slg. 2007, I-181 – ITC; EuGH, Slg 2005, I-6421 – Schempp. 20 Insb zum zuletzt genannten Aspekt Hofstötter A Cascade of Rights, or who shall care for little Catherine? Some reflections on the Chen case, ELJ 2005, 548, 551 ff, Tryfonidou, C-200/02, Kunqian Catherine Zhu and Man Lavette Chen v. Secretary of State for the Home Department: Further Cracks in the „Great Wall“ of the European Union?, EPL 2005, 527, 536 ff.
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reicht offenbar bereits die Möglichkeit der Inanspruchnahme zumindest gewisser Grundfreiheiten für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs aus;21 eine Möglichkeit der Wahrnehmung bestimmter Rechte besteht aber fast immer. Auf der Grundlage dieser Rspr ist nicht erkennbar, durch welche voraussehbaren Kriterien das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs festgestellt werden kann und unter welchen Voraussetzungen ein – in den Worten des Gerichtshofs – „relevantes Element“, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausreicht, vorliegen soll; vielmehr legt die Rspr die Annahme nahe, dass nicht ein „relevantes Element“ grenzüberschreitend sein muss, sondern dass „irgendein“, wenn auch sehr schwach ausgeprägter, Bezug zum EU-Ausland ausreicht. Bei einer derart weiten Auslegung des Erfordernisses des grenzüberschreitenden Bezugs erscheint jedoch eine Differenzierung zwischen „grenzüberschreitenden“ und „internen“ Sachverhalten kaum mehr sachdienlich.22
3. Persönlicher Schutzbereich a) Berechtige 15
Der Schutzbereich der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) knüpft entscheidend an den Warenbegriff an und ist insofern ausschließlich als Produktverkehrsfreiheit ausgestaltet; im Gegensatz zu den Personenverkehrsfreiheiten fehlt jeglicher Hinw darauf, dass sich nur Unionsbürger sowie juristische Personen, die gewissen Anforderungen genügen, auf diese Bestimmungen berufen könnten. Diese Sachbezogenheit der Warenverkehrsfreiheit und ihr Sinn und Zweck, im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes den freien Verkehr von Waren im Binnenmarkt zu gewährleisten (eine Zielsetzung, die in Bezug auf die vom Schutzbereich erfassten Waren, unabhängig von deren Eigentümer, zum Zuge kommen muss), legen es nahe, dass sich auch Drittstaatsangehörige auf die Gewährleistung des freien Warenverkehrs berufen können.23 b) Verpflichtete
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Fall 1: (EuGH, Slg 2003, I-5659 – Schmidberger/Österreich): Auf der Brenner-Autobahn, eine zentrale Nord-Süd-Transitachse, kam es 1998 zu einer Demonstration von Umweltschützern, die sich gegen den (wachsenden) Transitverkehr wandten. Die Demonstration wurde von den zuständigen österreichischen Behörden (nach Einreichung eines entspr Antrags) nicht untersagt und führte zu einer 30-stündigen Blockade
21 Hierauf ausdrücklich hinweisend v Bogdandy/Bitter Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot. Zur wechselseitigen Beschleunigung der Schwungräder unionaler Grundrechtsjudikatur, FS Manfred Zuleeg, 2005, 309, 319 f. 22 Vgl. schon Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, insb 200 ff; spezifisch mit Bezug zur Unionsbürgerschaft Bode Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender und ihre Auswirkungen in den Mitgliedstaaten. Zur Reichweite des Diskriminierungsverbots im Hochschulbereich unter besonderer Berücksichtigung der Unionsbürgerschaft, 2005, 237; Shuibhne, CMLRev 2002, 731 ff; Spaventa, CMLRev 2008, 13 ff; Toner, MJ 2000, 158 ff; Kämmerer, EuR 2008, 45 (49), jew mwN s neuerdings die überzeugende Untersuchung von Lach, Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, insb 245 ff. AA aber in der neueren Lit etwa Riese/Noll, NVwZ 2007, 516 ff. 23 Ebenso etwa Frenz, Rn 222 f; aA etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 32 f.
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der Autobahn. Die österreichischen Behörden informierten einige Zeit vor der Demonstration umfassend über diese und schlugen verschiedene Ausweichstrecken vor. Eugen Schmidberger, ein Spediteur, klagte vor dem OLG Innsbruck gegen die Republik Österreich und beantragte Schadensersatz dafür, dass seine LKWs während dieser Zeit nicht genutzt werden konnten und er dadurch einen genauer bezifferten Verdienstausfall erlitten habe. Das OLG Innsbruck stellt sich im Rahmen dieses Verfahrens die Frage, ob die Republik Österreich gegen ihre gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat, da sie die Demonstration nicht untersagt hat.
Normadressaten der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, von denen auch in der Praxis der weitaus größte Teil der Beschränkungen dieser Grundfreiheiten ausgeht. IVm Art 10 EGV (4 EUV-E) ergibt sich im Übrigen auch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen gegen Handelshindernisse einzuschreiten, die von Privaten ausgehen (→ ausf § 7 Rn 53).24 Unklar ist hier auf der Grundlage der Formulierungen in der jüngeren Rspr 25, ob es für die tatbestandliche Einschlägigkeit der Art 28 iVm Art 10 EGV (34 AEUV iVm 4 EUV-E) ausreicht, dass das Verhalten Privater zu irgendeiner, wenn auch nur minimalen Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs führt oder ob eine bestimmte Beeinträchtigungsschwelle notwendig ist. Angesichts des Umstandes, dass letztlich auch verschiedene grds legale Geschäftspraktiken (z.B. das Anpreisen lokaler Produkte in der Werbung) regelmäßig „irgendwelche“ Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Warenverkehr entfalten können, sprechen die besseren Gründe für das Erfordernis zumindest einer gewissen „Beeinträchtigungswahrscheinlichkeit und -schwelle“, wobei letztlich an das sich auch in der Rspr findende Kriterium, dass jedenfalls rein hypothetische Ereignisse nicht zu berücksichtigen sind,26 angeknüpft werden kann, so dass die Beeinträchtigung bzw. ihre Kausalität jedenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und damit wohl auch einer gewissen Intensität zu erwarten sein muss. Dieses Erfordernis lässt sich im Übrigen auch aus den tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der hier relevanten staatlichen Schutzpflicht bzw den Anforderungen an die zu treffenden Schutzmaßnahmen ableiten: Letztlich geht es hier lediglich um die Pflicht zur Ergreifung der nach den Umständen erforderlichen Maßnahmen; liegt nur eine sehr geringfügige Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs vor, dürften aber bereits keine Umstände gegeben sein, die staatliche Schutzmaßnahmen erforderlich machten. Jedenfalls ist im Rahmen der Rechtfertigung anderen Interessen, so insb grundrechtlichen Gewährleistungen, Rechnung zu tragen. Weiter geht der EuGH auf der Rechtfertigungsebene in Bezug auf die Frage, ob die Staaten die notwendigen Schutzmaßnahmen ergriffen haben, regelmäßig von einem (auch im Vergleich zu den abwehrrechtlichen Konstellationen) recht weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten aus. Dies überzeugt insofern, als es regelmäßig mehrere Möglichkeiten gibt, dem Schutzauftrag nachzukommen. Eine staatliche Maßnahme liegt auch dann vor, wenn Private ihre gewerblichen Schutzrechte geltend machen: Zwar muss der Rechtsinhaber seinen Anspruch geltend machen; die dann einfuhrbeschränkende Maßnahme – Beschlagnahme, Vermarktungsverbot unter bestimmten Voraussetzungen oä – geht aber von staatlichen Organen (Behörden oder Ge-
24 EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 1/99, EGV Art 30/3. 25 EuGH, Slg 2003, I-5659 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. 26 EuGH, Slg 2000, I-493 – Graf.
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richten) aus.27 Unerheblich ist es im Übrigen, ob die staatliche Maßnahme zwingenden Charakters ist oder nicht; entscheidend ist allein die diskriminierende oder beschränkende Wirkung. So sah der EuGH etwa eine Werbekampagne der irischen Behörden, vermehrt einheimische Produkte zu kaufen, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung an.28 Aber auch die Gemeinschaftsorgane selbst müssen sich an die Vorgaben der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) halten,29 was sich schon aus der Normenhierarchie (Primärrecht geht Sekundärrecht vor) ergibt. Ob und inwieweit Privatpersonen durch Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) verpflichtet werden, ist – ebenso wie im Rahmen der übrigen Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 52 f) – (noch) nicht abschließend geklärt. Die Rspr hierzu dürfte mittlerweile davon ausgehen, dass Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) keine umfassende Drittwirkung zukommt.30 Allerdings betont die jüngere Rspr auch, dass formal private Gesellschaften, die im Zuge gesetzlicher Vorgaben errichtet worden sind, auf Grund gesetzlicher Zuweisungen bestimmte Zielsetzungen zu verfolgen haben, bestimmte öffentlich-rechtliche Vorgaben bei der Tätigkeit zu beachten haben und durch Pflichtbeiträge bestimmter Personen finanziert sind, die Vorgaben des Art 28 EGV (34 AEUV) beachten müssen, wenn sie eine allen Betrieben der betr Wirtschaftszweige zugängliche Regelung einführen, die sich wie eine staatliche Regelung auf den innergemeinschaftlichen Handel auswirken kann.31 Bei Vorliegen einer solchen Konstellation geht der EuGH offenbar von einer Zurechnung des Verhaltens der privaten Gesellschaft zum Staat aus.32 Eine Verneinung einer umfassenden Drittwirkung liegt jedenfalls im Rahmen der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) vor dem Hintergrund der Funktion und Zielsetzungen der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV) im Gesamtsystem des Vertrages nahe: Denn zunächst sollen diese Bestimmungen im Wesentlichen das Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung durch die Unterbindung nichttarifärer Handelshemmnisse ergänzen. Auch ist es für die effektive Verwirklichung des freien Warenverkehrs nicht unbedingt notwendig, private
27 Vgl aus der Rspr zB EuGH, Slg 1994, I-2789, Rn 33 f – Ideal Standard; Slg 1990, I-3711, Rn 8 f – Haag II; aus der Lit nur Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 29 EGV Rn 6. 28 EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 12 – Kommission/Irland. 29 EuGH, Slg 1994, I-3879, Rn 11 – Meyhui. 30 EuGH, Slg 1982, 4005, Rn 6 ff – Kommission/Irland; Slg 1988, 5249, Rn 11 – Bayer; die entgegengesetzte Aussage in EuGH, Slg 1981, 181, Rn 17 f – Dansk Supermarked hat der Gerichtshof später nicht mehr aufgegriffen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der EuGH nunmehr einer Drittwirkung abl gegenübersteht; auch EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich = JK 1/99, EGV Art 30/3 dürfte in diese Richtung gehen, denn der Umstand, dass der EuGH mit keinem Wort auf die Frage der möglichen Verantwortlichkeit der Privaten einging, deutet wohl darauf hin, dass er eine Drittwirkung ablehnt. Allerdings erwähnte der EuGH in EuGH, Rs C-438/05, NZA 2008, 124 – ITC im Zusammenhang mit der Bejahung der Drittwirkung des Art 43 EGV, dass das Urt EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/ Frankreich darauf hindeute, dass Beschränkungen auch nicht staatlichen Ursprungs sein könnten. Die Bedeutung dieses Hinw bleibt aber unklar, da zwar die Beschränkungen in EuGH, Slg 1997, I-6959, Rn 24 ff – Kommission/Frankreich nicht staatlichen Ursprungs waren, es hingegen aber um die Pflichtverletzung staatlicher Organe im Zusammenhang mit dem entspr privaten Verhalten ging. 31 EuGH, Slg 2002, I-9977 – Kommission/Deutschland (CMA-Gütezeichen) = JK 4/03, EGV Art 28/2. 32 Vgl aber zu den durch dieses Urt aufgeworfenen offenen Fragen Epiney NVwZ 2004, 555, 561.
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Verhaltensweisen zu erfassen, sind diese doch Gegenstand anderer Bestimmungen des Vertrages, nämlich der Wettbewerbsregeln (Art 81 f EGV/101 f AEUV). Im Übrigen erscheint eine nunmehr auch offenbar vom EuGH im Rahmen des Art 39 EGV (45 AEUV) zugrunde gelegte umfassende Drittwirkung (→ § 9 Rn 46) 33 grds problematisch: Denn sie dürfte der ebenfalls zu beachtenden Privatautonomie und Vertragsfreiheit kaum Rechnung tragen und insofern auch über die Funktion der Grundfreiheiten hinausgehen, ganz abgesehen von den damit einhergehenden Auslegungs- und Anwendungsproblemen, etwa auf der Rechtfertigungsebene. Der bislang in der Rspr vorherrschende Ansatz der Beschränkung der Drittwirkung auf Regelungswerke, die eine ähnliche rechtliche oder faktische Bindungswirkung entfalten wie staatliche Normen,34 erscheint daher überzeugender: Er erlaubt die effektive Durchsetzung der Grundfreiheiten in den problematischen Bereichen und ist schon deshalb ausreichend, weil ansonsten die staatliche Schutzpflicht greift. Insofern vermag die erwähnte jüngere Rspr im Grundsatz zu überzeugen, verneint sie doch offenbar eine allgem Drittwirkung des Art 28 EGV (34 AEUV) und bejaht vielmehr eine Zurechnung des Verhaltens Privater zum Staat und damit eine Bindung an Art 28 EGV (34 AEUV) nur unter der Voraussetzung, dass der Staat mit privatrechtlichen Mitteln eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, in verschiedener Hinsicht die Gesellschaft kontrolliert und die Regelung der Gesellschaft sich wie eine staatliche Regelung auf den innergemeinschaftlichen Warenverkehr auswirkt. Lösung Fall 1: Das Verhalten Österreichs (kein Verbot der Demonstration auf der Brenner-Autobahn bzw Genehmigung der Kundgebung) könnte gegen Art 28 iVm Art 10 EGV verstoßen. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Möglichkeit der tatsächlichen Wahrnehmung der Warenverkehrsfreiheit nicht durch das Verhalten (anderer) Privater beeinträchtigt wird. Im vorliegenden Fall liegt eine solche Beeinträchtigung vor, da es die Blockade der Autobahn dem Spediteur verunmöglicht, die Waren in einer wirtschaftlich vertretbaren Zeit zu transportieren; auch die Behinderung oder Verunmöglichung der Durchfuhr von Waren stellt nämlich eine Beeinträchtigung des Art 28 EGV dar. Daher stellt die Genehmigung der besagten Demonstration eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung dar. Allerdings kann diese Einschränkung des freien Warenverkehrs durch den Schutz der Grundrechte, namentlich der in Art 10, 11 EMRK garantierten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit gerechtfertigt werden. Diese Grundsätze stellen nämlich berechtigte Interessen dar, die grds geeignet sind, eine Beschränkung des freien Warenverkehrs zu rechtfertigen. Damit stehen sich zwei Interessen – die Verwirklichung der Freiheit des Warenverkehrs auf der einen und der genannten Grundrechte auf der anderen Seite – gegenüber, die anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls abzuwägen sind. Im vorliegenden Fall ist dabei insb darauf hinzuweisen, dass es sich um eine genehmigte Demonstration handelte, dass die Autobahn (nur) ein einziges Mal für 30 Stunden blockiert war, dass die Blockade geografisch begrenzt war, dass die Demonstration sich nicht gegen den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft richtete, dass die Behörden verschiedene Rahmen- und Begleitmaßnahmen getroffen hatten, um die Störungen des Straßenverkehrs möglichst gering zu halten und dass ein schlichtes Verbot der Versammlung einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die Versammlungsfreiheit bedeutet hätte und strengere Auflagen der Demonstration
33 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 34 ff – Angonese = JK 1/01, EGV Art 39/1. 34 Vgl schon EuGH, Slg 1974, 1405 – Walrave; s sodann EuGH, Slg 1995, I-4921 – Bosman.
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einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung hätten nehmen können. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände war die durch die österreichischen Behörden im vorliegenden Fall vorgenommene Abwägung nicht unvertretbar, so dass sie das ihnen zustehende weite Ermessen nicht überschritten haben. Eine Verletzung der Art 28 iVm 10 EGV ist somit zu verneinen.
II. Beeinträchtigung 23
Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) verbieten mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung, wobei beide Bestimmungen auf Grund ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Tragweite35 getrennt erörtert werden sollen (1., 2.).
1. Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Art 28 EGV/34 AEUV) a) Mengenmäßige Beschränkungen 24
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Art 28 EGV (34 AEUV) verbietet zunächst Einfuhrbeschränkungen. Hierunter sind Maßnahmen zu verstehen, die die Wareneinfuhr der Menge oder dem Wert nach begrenzen.36 Konkret nehmen Einfuhrbeschränkungen idR die Form von Kontingenten an; erfasst sind aber auch – als stärkste Form der Beschränkung – Ein- oder Durchfuhrverbote. Im Gegensatz zu Maßnahmen gleicher Wirkung geht es hier um Maßnahmen, die die Einfuhr ganz oder teilweise verbieten, verunmöglichen oder beschränken, so dass sonstige, nicht unmittelbar die Einfuhr selbst beschränkende Maßnahmen – also insb solche, die bestimmte Anforderungen an die Beschaffenheit von Produkten stellen – als Maßnahmen gleicher Wirkung anzusehen sind bzw sein können.37 Einfuhrbeschränkungen sind per definitionem (offen) diskriminierend; nicht diskriminierende Maßnahmen sind daher unter dem Gesichtspunkt der Maßnahmen gleicher Wirkung zu prüfen. Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen kommen allerdings derzeit allenfalls ausnahmsweise (zB bei umweltpolitisch motivierten Maßnahmen etwa zum Artenschutz) vor, so dass ihre praktische Bedeutung vernachlässigt werden kann. b) Maßnahmen gleicher Wirkung
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Fall 2: (EuGH, Slg 2001, I-2001, I-1795 – Gourmet International.): In Schweden besteht ein Werbeverbot für alkoholische Getränke in Zeitungen und Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen. Gestützt auf dieses Verbot beantragte der Konsumentombudsman (Verbraucherbeauftragte) beim zuständigen Gericht, Gourmet International Products AB (GIP) zu verbieten, Werbeanzeigen für alkoholische Getränke in Zeitungen, Zeitschriften sowie Rundfunk und Fernsehen veröffentlichen zu lassen. Das Gericht möchte der Klage stattgeben, hegt aber Zweifel an der Vereinbarkeit eines solchen Verbots mit Art 28 EGV.
35 Zumindest auf der Grundlage der Rspr und der hier vertretenen Ans. 36 EuGH, Slg 1973, 865, Rn 7 – Geddo. 37 Vgl aus der Rspr etwa EuGH, Slg 1983, 203, Rn 21 f – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1989, 229, Rn 4 f – Kommission/Deutschland.
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Zentral für die Tragweite und Bedeutung des Art 28 EGV (34 AEUV) ist das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen. Ihre Einbeziehung in den Tatbestand des Art 28 EGV (34 AEUV) ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der freie Warenverkehr häufig durch nicht quantifizierbare Maßnahmen ebenso „wirksam“, aber weniger „sichtbar“ wie durch Einfuhrbeschränkungen behindert wird bzw werden kann. Für die Bestimmung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung ist vor diesem Hintergrund in erster Linie die Wirkung einer Maßnahme entscheidend: Entfaltet diese gleiche oder vergleichbare Folgen für die Einfuhr von Waren aus anderen Mitgliedstaaten wie Einfuhrbeschränkungen, wird sie vom Tatbestand des Art 28 EGV (34 AEUV) erfasst. Im Einzelnen können damit in Abhängigkeit von dem „Ob“ und „Wie“ einer Diskriminierung verschiedene Arten von Maßnahmen gleicher Wirkung unterschieden werden.
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aa) Offene Diskriminierungen Zunächst fallen all diejenigen Maßnahmen, die ausdrücklich nach der Warenherkunft (Inland einerseits, EU-Ausland andererseits) differenzieren, unter den Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung. Beispiele aus der Praxis in diesem Zusammenhang sind etwa obligatorische gesundheitspolizeiliche Untersuchungen für eingeführte Waren38 oder Kennzeichnungspflichten nur für eingeführte Waren.39
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bb) Versteckte Diskriminierungen Verboten sind aber auch versteckte Diskriminierungen, also solche Maßnahmen, die zwar an ein „neutrales“ Kriterium anknüpfen, jedoch in der Sache im Wesentlichen eingeführte Produkte betreffen bzw benachteiligen (→ allgem hierzu § 7 Rn 26). Die Abgrenzung versteckter Diskriminierungen von den sogleich zu behandelnden Beschränkungen ist im Einzelnen problematisch und wohl kaum praktikabel unter Zugrundelegung allgem handhabbarer Kriterien, jedenfalls im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten.40 Im Übrigen kommt dieser Unterscheidung jedenfalls im Rahmen des Art 28 EGV (34 AEUV) keine praktische Bedeutung zu, da sich die Rechtfertigungsgründe für versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen decken (→ § 7 Rn 76 ff). Die in der Lit 41 teilweise vertretene Ansicht, im „Kernbereich“ – also zB dem Zugang selbst zu einer Beschäftigung im Rahmen des Art 39 EGV (45 AEUV) – der Grundfreiheiten gelte ein allgem Beschränkungsverbot, während in den „Randbereichen“ – zB der Regelung der Ausübung einer Beschäftigung im Anwendungsbereich des Art 39 EGV (45 EUV-E) – nur ein (weit verstandenes) Diskriminierungsverbot gelte, kommt jedenfalls im Zusammenhang mit Art 28 EGV (34 AEUV) auf der Grundlage der Rspr (der in der Lit weitgehend gefolgt wird) keine Bedeutung zu: Denn Art 28 EGV (34 AEUV) ist allgem als Beschränkungsverbot auszulegen, und Einschränkungen des Tatbestandes ergeben sich aus der sog Keck-Formel, so dass für eine Differenzierung nach „Kern- und
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Vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1989, 3997 ff – Kommission/Deutschland. Vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1981, 1625 ff – Kommission/Irland. Vgl zu Art 12 EGV und den hier maßgeblichen Kriterien Epiney (Fn 21) S 102 ff. In diese Richtung wohl Jarass EuR 2000, 705, 711. S ansonsten die Nachw zur Diskussion in der Lit bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 Rn 56 ff.
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Randbereichen“ der Grundfreiheiten kein Raum mehr bleibt und auch kein Bedürfnis besteht. Im Übrigen ist diese Differenzierung schon vom Ansatz her problematisch: Zunächst impliziert sie, dass im Falle des Kernbereichs allgem ein schwererer Eingriff in die Rechte der Betroffenen vorliege, was aber jedenfalls nicht zwingend ist, können doch zB bestimmte Beschäftigungsmodalitäten möglicherweise zumindest faktisch zu Zugangsbeschränkungen führen. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass sich Kern- und Randbereich häufig wohl nur schwer voneinander trennen lassen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf eine Abgrenzung zwischen versteckten Diskriminierungen und Beschränkungen verzichtet, und die Problembereiche werden im Folgenden im Zusammenhang mit der Erörterung der Beschränkungen behandelt. Dabei geht es im Wesentlichen um die Präzisierung der genauen Tragweite der Keck-Rspr. cc) Beschränkungen
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Auch nicht diskriminierende, sondern „nur“ den Warenverkehr beschränkende Maßnahmen fallen grds unter den Tatbestand des Art 28 EGV (34 AEUV), was schon insofern nahe liegt, als auch diese im Ergebnis ähnliche Wirkungen wie Einfuhrbeschränkungen entfalten können. Als Beispiele sind etwa Regelungen der Produktbeschaffenheit oder die Werbung betr Vorschriften zu nennen. Allerdings bedarf das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen eine solche Beschränkung vorliegt, der Präzisierung, denn ansonsten könnten alle Maßnahmen, die einen irgendwie gearteten Bezug zum freien Warenverkehr aufweisen bzw eine Rückwirkung auf den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten entfalten, von Art 28 EGV (34 AEUV) erfasst werden. Ausgangspunkt hierfür ist nach wie vor die sog Dassonville-Formel: Danach ist unter einer Maßnahme gleicher Wirkung jede staatliche Regelung, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“, zu verstehen.42 Damit ist also die beschränkende Wirkung der Maßnahmen entscheidend, so dass die Eignung einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen zu entfalten, maßgeblich ist. Unerheblich ist dabei, ob diese tatsächlich eingetreten sind oder nicht.43 Diese weite Fassung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung hat zur Folge, dass Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt worden sind, grds in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt und dort vermarktet werden können, auch wenn sie nicht den nationalen Anforderungen (insb Produkt- oder Zulassungserfordernissen) entsprechen. Vorbehalten bleibt aber natürlich das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen. Darüber hinaus können auch nicht produktbezogene Regelungen, wie etwa Produktions- und Vermarktungsvorschriften, unter die Dassonville-Formel fallen. Denn auch sie können (negative) Auswirkungen auf das Volumen (bestimmter) eingeführter Produkte entfalten. Deutlich wird damit auch, dass das konsequente und ausschliessliche Abstellen auf die Dassonville-Formel für die Feststellung der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Art 28 EGV (34 AEUV) zur Folge hat bzw hätte, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung sehr weit ausgedehnt wird bzw würde und kaum eine staatliche Maßnahme nicht erfasst werden kann bzw könnte, entfalten doch zahlreiche Regelungen zumindest mittelbar und potenziell Rückwirkungen auf die Einfuhr von Produkten. Damit könnte eine
42 EuGH, Slg 1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 43 Ausdrücklich EuGH, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl.
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kaum eingrenzbare Zahl nationaler Vorschriften an den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, konkret an Art 28 EGV (34 AEUV), gemessen werden. Vor diesem Hintergrund hat die Rspr verschiedene Ansätze entwickelt, die die tatbestandliche Reichweite des Art 28 EGV (34 AEUV) im Vergleich zur Dassonville-Formel eingrenzen. Zu nennen sind zunächst verschiedene Urt des Gerichtshofs, in denen dieser einen hinreichend engen Bezug zum freien Warenverkehr verneinte. So lehnte der EuGH das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung in seiner Entscheidung zum deutschen Nachtbackverbot (Verbot der Auslieferung von Brötchen vor 6 Uhr morgens) mit der Begr ab, hier gehe es um eine nationale Verkaufsregelung, die keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweise und deshalb den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen könne.44 Ebensowenig erachtete der Gerichtshof Art 28 EGV (34 AEUV) in Bezug auf das belgische Verbot des Ausschanks von Alkoholika zu Nachtzeiten für einschlägig: Denn die Maßnahme stehe in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr von Waren, so dass sie schon nicht geeignet sei, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.45 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof es mit ähnlicher Begr ablehnte, Sonntagsverkaufsverbote am Maßstab des Art 28 EGV (34 AEUV) zu messen.46 Interessant sind diese Urt insb deshalb, weil bei allen fraglichen Maßnahmen letztlich eine mittelbare und potenzielle Beeinträchtigung des Einfuhrvolumens von Produkten kaum zu verneinen war, so dass allein auf der Grundlage der Dassonville-Formel der Tatbestand des Art 28 EGV (34 AEUV) hätte bejaht werden müssen. Besonders auffallend ist dies beim belgischen Nachtausschankverbot für Alkoholika: Denn dessen Sinn und Zweck besteht ja gerade darin, nachfrage- und damit auch einfuhrhemmend zu wirken. Ableiten kann man aus dieser „frühen“ – weil vor der Keck-Rspr (Rn 39) angesiedelten – Rspr 47 nur, dass gerade bei nicht (offen oder versteckt) diskriminierenden Maßnahmen potenzielle Markteinbußen und damit Auswirkungen auf das Volumen eingeführter Produkte nicht in jedem Fall ausreichen, damit der Tatbestand des Art 28 EGV (34 AEUV) eröffnet ist. Allerdings wurde nicht klar, nach welchen Kriterien genau die Tragweite der Dassonville-Formel eingeschränkt werden sollte. Insofern leitete dann das Keck-Urteil aus dem Jahr 1993 48 eine gewisse auch dogmatische Klarstellung ein. Gegenstand des Urt war das französische Verbot des Verkaufs bestimmter Waren zum Verlustpreis, das nicht am Maßstab des Art 28 EGV (34 AEUV) gemessen werden könne. Zur Begr stellte der EuGH darauf ab, dass „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV (34 AEUV) fielen, sofern sie zwei Voraussetzungen erfüllten: Erstens müssten sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und zweitens müsse der Absatz inländischer und eingeführter Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich gleich berührt sein.49 Die Keck-Rspr schränkt damit schon den Tatbestand des Art 28 EGV (34 AEUV) ein, 44 45 46 47
EuGH, Slg 1981, 1993, Rn 10 – Oebel. EuGH, Slg 1982, 1211, Rn 9 – Blesgen. EuGH, Slg 1989, 3851, Rn 14 – Torfaen Borough. Vgl neben den angeführten Fällen noch die weiteren Nachw bei Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, 132 f, unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze zu ihrer dogmatischen Einordnung; ausf zu der einschlägigen Rspr auch Hammer Handbuch zum freien Warenverkehr, 1998, 35 ff. 48 EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 49 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck.
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dies im Gegensatz zu der zeitlich vor ihr entwickelten sog Cassis-de-Dijon-Rspr, die aus dogmatischer Sicht auf der Rechtfertigungsebene anzusiedeln ist (s u Rn 53 ff u → § 7 Rn 71, 84). Jedenfalls dürfte die Keck-Rspr weniger eine „Kehrtwende“ der Rspr, denn eine teleologisch begründete Einschränkung des weiten Tatbestandes des Art 28 EGV (34 AEUV) darstellen, so dass die Auslegung dieser Bestimmung als Beschränkungsverbot nicht grds in Frage gestellt wird, sondern dessen Tragweite lediglich eingeschränkt wird. In einem jüngeren Urt 50 – in dem es um ein mitgliedstaatliches Verbot des „ambulanten“ Verkaufs von Zeitschriftenabonnementen ohne Genehmigung ging – zog der EuGH (letztlich in recht getreuer Anwendung der ursprünglichen Keck-Formel) folgendes „Prüfungsschema“ zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der Keck-Rspr heran (wobei er deren Einschlägigkeit im Ergebnis bejahte): Erstens sei die Vertriebsbezogenheit der Maßnahme zu prüfen. Zweitens müsse die betr Maßnahme ohne Unterscheidung nach der Herkunft der fraglichen Waren auf alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, anwendbar sein. Drittens schließlich dürfe die betr nationale Regelung den Absatz von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten nicht stärker beeinträchtigen als den von Erzeugnissen aus dem Inland. Eine zu unbedeutende und zufällige Wirkung sei dabei außer Betracht zu lassen, könne dadurch der Handel zwischen den Mitgliedstaaten doch nicht behindert oder gestört werden. Trotz der mit der Keck-Rspr einhergehenden dogmatischen Klarstellung der Einschränkung der Dassonville-Formel und damit der tatbestandlichen Reichweite des Art 28 EGV (34 AEUV) erlaubt die Keck-Formel allein jedoch keine (eindeutige) Antwort auf die Frage nach der tatbestandlichen Einschlägigkeit des Art 28 EGV (34 AEUV) in Bezug auf eine Reihe von Maßnahmen. So fragt es sich etwa, wie genau produkt- und vertriebsbezogene Maßnahmen voneinander abzugrenzen sind (etwa bei Verwendungsbeschränkungen oder bei die Verpackung betr Bestimmungen) und unter welchen Voraussetzungen genau eine (potenzielle) diskriminierende Wirkung in Bezug auf eingeführte Produkte anzunehmen ist. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich aber – ausgehend von der Keck-Formel – der Folgerechtsprechung entnehmen. So stellen Maßnahmen, die sich in irgendeiner Form auf die Beschaffenheit von Produkten (unter Einschluss ihrer Verpackungen, jedenfalls sofern diese untrennbar mit dem Produkt verbunden ist) selbst beziehen, keine Verkaufsmodalitäten dar, da sie nicht vertriebsbezogen sind. Daher ist das Verbot, die Verpackung eines Schokoladenriegels unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Zusatz „+ 10 %“ zu kennzeichnen, als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen und am Maßstab des Art 28 EGV (34 AEUV) zu prüfen.51 Ebensowenig ist das Verbot, bestimmte Erzeugnisse unter einer gewissen Bezeichnung zu vermarkten, als bestimmte Verkaufsmodalität iSd Keck-Formel anzusehen, so etwa das Verbot, ein kosmetisches Mittel unter dem Namen „Clinique“ zu vermarkten.52 Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem zu verkaufenden Produkt ist auch das Verbot, in Zeitschriften oder sonstigen Drucksachen Gewinnspiele anzubieten, als Maßnahme gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen anzusehen.53
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EuGH, Slg 2005, I-4133 – Burmanjer. EuGH, Slg 1995, I-1923, Rn 12 f – Mars. EuGH, Slg 1994, I-317 ff – Clinique; s auch Slg 1996, I-6039 ff – Graffione. EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 12 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1.
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Maßnahmen, die die Art und Weise der Vermarktung eines Produkts bestimmen, ohne jedoch mit diesem „verbunden“ zu sein, sind grds vertriebsbezogen. So ist das Gebot, Säuglingsnahrung nur in Apotheken zu verkaufen, als Verkaufsmodalität einzustufen.54 Ähnliches gilt für eine nationale Regelung, wonach der Vertrieb von Tabakwaren zugelassenen Einzelhändlern vorbehalten ist.55 Aber auch die Regelung der Öffnungszeiten von Tankstellen wird vom EuGH als Verkaufsmodalität angesehen.56 Bei den Grenzfällen kommt es nach der Rspr des EuGH iE darauf an, ob eine bestimmte Maßnahme bereits den Marktzugang eines Produkts verhindert oder einschränkt, also maW zur Folge hat, dass das jeweilige Produkt erst gar nicht auf den Markt des betroffenen Mitgliedstaates gelangen kann oder dies behindert wird und daher eine diesbezügliche Ungleichbehandlung einheimischer und eingeführter Produkte zu bejahen ist.57 Bei vertriebsbezogener Werbung etwa geht es nicht um den Zugang zum Markt, wird dieser doch „schrankenlos“ gewährleistet, sondern um die Art und Weise des Vermarktens des Produkts. So ist denn auch nach der Rspr des EuGH das Verbot der Fernsehwerbung für bestimmte Erzeugnisse grds als Verkaufsmodalität einzuordnen, es sei denn, ein solches Verbot entfaltet stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten.58 Allerdings könne ein vollständiges Verbot der Absatzförderung dann in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV (34 AEUV) fallen, wenn es den Marktteilnehmern die einzig wirksame Form der Absatzförderung nehme, welche den Zugang zum nationalen Markt ermöglicht.59 Weiter gehe es bei einem Erfordernis der vorherigen Einfuhrerlaubnis in Bezug auf bestimmte Produkte jedenfalls um eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung, da dieses den innergemeinschaftlichen Handel behindern und den Marktzugang von Waren erschweren könne.60 Jedenfalls ist der Tatbestand des Art 28 (34 AEUV) immer dann eröffnet (auch bei vertriebsbezogenen Regelungen), wenn eine Maßnahme unterschiedliche Wirkungen für einheimische und eingeführte Produkte entfaltet, letztere also offen oder versteckt diskriminiert. Dies sei etwa bei einer Regelung der österreichischen Gewerbeordnung der Fall, wonach nur derjenige Lebensmittel „herumziehend“ feilbieten darf, der in dem betr oder einem angrenzenden Gewerbebezirk eine ortsfeste Niederlassung unterhält, führe diese Regelung doch dazu, dass Anbietern aus dem Ausland damit der Zugang zu diesem Spektrum des österreichischen Marktes verwehrt wäre.61 Ähnlich argumentierte der EuGH in 54 EuGH, Slg 1995, I-1621, Rn 15 – Kommission/Griechenland. 55 EuGH, Slg 1995, I-4663, Rn 35 f – Banchero. 56 EuGH, Slg 1994, I-2199, Rn 13 ff – t’Heukske. Sa EuGH, Slg 1994, I-2355 – Punto casa; EuGH, Slg 1996, I-2975 – Smeraro Casa Uno. 57 In diese Richtung etwa EuGH, Slg 1995, I-1621, Rn 11 f – Kommission/Griechenland; Slg 1995, I-1141, Rn 37 – Alpine Investments; ausdrücklich EuGH, Slg 2001, I-1795, Rn 18 – Gourmet International: Nach den Ausführungen im Urt Keck „fallen nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nur dann nicht in den Anwendungsbereich des Art 28 EGV, wenn diese nicht geeignet sind, den Marktzugang für Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tun“. 58 EuGH, Slg 1995, I-179, Rn 20 ff – Leclerc; Slg 1997, I-3843, Rn 39 f – de Agostini. 59 EuGH, Slg 1997, I-3843 – de Agostini; Slg 2004, I-3025 – Karner. 60 EuGH, Slg 2006, I-9171 – Ahokainen und Leppik. 61 EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 9 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 10/00, EGV Art 28/1. Sehr krit zu diesem Urt vor dem Hintergrund der seiner Ans nach zu weiten Auslegung des Begriffs der versteckten Diskriminierung Gundel EuZW 2000, 311 f.
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Bezug auf das sehr umfassende schwedische Verbot der Werbung mit Alkohol: Eine solche Regelung führe dazu, dass der Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker behindert werde als für die ohnehin schon besser bekannten einheimischen Produkte.62 Auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln stellt nach Ansicht des EuGH keine Verkaufsmodalität dar, da es die ausländischen Apotheken (und damit die eingeführten Produkte), die als solche auf dem deutschen Markt nicht tätig sind, stärker betreffe als die inländischen; für erstere sei das Internet als Zugang zum deutschen Markt von ungleich größerer Bedeutung als für letztere.63 Insg besteht damit eine Tendenz in der Rspr, all solche Vermarktungs- und Werberegelungen mit spürbaren Auswirkungen auf den Umsatz der betr Produkte, die unmittelbar oder mittelbar den Bekanntheitsgrad von Produkten beeinflussen, nicht als Verkaufsmodalitäten anzusehen, da sie aufgrund der prinzipiell besseren Markteinführung nationaler Produkte die eingeführten Produkte stärker „belasten“. Alle Abgrenzungsprobleme sind auch mit diesen Anhaltspunkten nicht gelöst, wie etwa das Bsp eines generellen Werbeverbots für ein bestimmtes Produkt (zB Alkohol oder Tabak) zeigt: Die einschlägigen Urt des EuGH betonen, wie erwähnt, einerseits, es gehe etwa bei Fernsehwerbung um eine Verkaufsmodalität,64 weil offenbar der Zugang zum Markt selbst ja nicht eingeschränkt werde und die Möglichkeit des Verkaufs des entspr Produkts unbeschränkt möglich bleibe; im Übrigen wird eine materielle Diskriminierung zwischen eingeführten und einheimischen Produkten offenbar abgelehnt. Andererseits aber weist der EuGH darauf hin, eine Maßnahme gleicher Wirkung liege immer dann vor, wenn das (vollständige) Verbot einer Form der Absatzförderung eines Erzeugnisses in einem Mitgliedstaat nachteilige Auswirkungen auf Erzeugnisse anderer Mitgliedstaaten entfalte.65 Dies erscheint auch insofern einsichtig, als jedenfalls ein quasi generelles Werbeverbot dazu führen dürfte, dass insb neu eingeführte Produkte fast nicht lanciert werden können. Allerdings fragt es sich, ob die gewählten Vergleichsgruppen zutr gewählt wurden: Denn ein Werbeverbot wirkt sich an sich nicht für einheimische und eingeführte Produkte, sondern für schon etablierte und (noch) nicht etablierte Produkte unterschiedlich aus. Dann aber stellt sich die Frage, ob für die Feststellung einer diskriminierenden Wirkung nicht (auch) danach gefragt werden sollte, ob die Maßnahme die Neueinführung einheimischer Produkte weniger stark betrifft. Jedenfalls nähert sich ein vollständiges Werbverbot in Bezug auf seine Wirkungen einer Marktzugangsbeschränkung an, da auch neue inländische Produkte wohl nur sehr schwer in den Markt eingeführt werden können. Wo nun genau die Grenze zwischen beiden Fallgestaltungen – reine Verkaufsmodalität ohne diskriminierende Wirkung einerseits und (materiell diskriminierendes) vollständiges Verbot der Absatzförderung eines Produkts – zu ziehen ist, bleibt nach wie vor offen. Insofern hätten die Urt des EuGH in Bezug auf die nicht produktbezogene Werbung durchaus auch anders ausfallen können. Weiter fragt es sich, wie andere nicht unmittelbar
62 EuGH, Slg 2001, I-1795, Rn 20 f – Gourmet International; s auch noch sogleich die Lösung zu Fall 2. 63 EuGH, Slg 2003, I-14887 – DocMorris. Sa EuGH, Rs C-141/07, Urt v 11.9.2008 – Kommission/ Deutschland in Bezug auf die Anforderungen an Apotheken, die für die Direktbelieferung von Krankenhäusern mit Arzneimitteln zugelassen wurden. 64 EuGH, Slg 1995, I-179, Rn 20 ff – Leclerc; sa Slg 1993, I-6787, Rn 19 ff – Hünermund. 65 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 40 – de Agostini; ebenso Slg 2001, I-1795, Rn 20 f – Gourmet International.
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mit der Verpackung verbundene Werbemaßnahmen (wie z.B. die vergleichende Preiswerbung (→ aA § 7 Rn 82 ff)66 oder das sog. „Euromarketing“) zu beurteilen sind. Weiter und an diese Erwägungen anschließend erscheint die Rspr manchmal auch nicht in sich schlüssig zu sein: So bejahte der EuGH in Bezug auf die griechische Regelung, die Zulässigkeit von Verkaufsstellen für „Bake-off“-Erzeugnisse 67 von denselben Voraussetzungen abhängig zu machen, wie sie für Verkaufsstellen herkömmlicher Backwaren gelten 68 (was zur Stilllegung der Verkaufsstellen dieser Erzeugnisse in Supermärkten führte), die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 28 EGV (34 AEUV): Die Voraussetzungen der Dassonville-Formel seien erfüllt, und eine Anwendung der Keck-Rechtsprechung komme schon deshalb nicht in Betracht, weil die fraglichen nationalen Bestimmungen die Herstellungsbedingungen für Backwaren regelten, die Einfuhrhindernisse implizierten, gehe es doch um zusätzliche, das Inverkehrbringen der Backwaren erschwerende Erfordernisse. Eine Rechtfertigung aus Gründen des Verbraucher- und/oder Gesundheitsschutzes scheide mangels Erforderlichkeit der Maßnahme aus. Es fällt schwer, hier den Unterschied zu dem griechischen Gebot, Säuglingsmilch ausschließlich in Apotheken zu verkaufen (Rn 43) zu sehen, dürfte doch auch die Beschränkung der Verkaufsstellen für Babynahrung zu einer Erschwerung des Marktzugangs führen. Denn eine Beschränkung von Verkaufsstellen für bestimmte Produkte zieht regelmäßig (auch) Einfuhrhindernisse nach sich. Weiter zeigt ein Vergleich dieser beiden Urt bzw beider Ausgangsfallgestaltungen, dass die Abgrenzung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen ggf recht schwierig sein kann: Denn der EuGH geht offenbar in Bezug auf die Zulässigkeit von Verkaufsstellen für „Bake-off“-Erzeugnisse von produktbezogenen Maßnahmen aus, obwohl an sich keine Anforderungen an die Produkte, sondern an die Verkaufsstellen definiert werden, so dass gute Gründe hier – wie bei sonstigen Einschränkungen für Verkaufsstellen bestimmter Produkte – dafür sprechen, von der Vertriebsbezogenheit der Maßnahme auszugehen. Der Ansatz des EuGH kann aber auch unabhängig von derartigen Abgrenzungsproblemen bzw Inkonsistenzen in der Rspr (teilweise) hinterfragt werden: Geht man nämlich davon aus, dass der Sinn und Zweck des Art 28 EGV (34 AEUV) in erster Linie darin zu sehen ist, dass die in den verschiedenen Mitgliedstaaten produzierten Waren unabhängig von ihrer Herkunft bzw ihrem Ursprung im Unionsgebiet frei zirkulieren können, liegt es nahe, darauf abzustellen, ob ganz allgem die Rahmenbedingungen für die Vermarktung oder den Vertrieb von Produkten geregelt werden oder ob es darum geht, bestimmte Produkte in irgendeiner Weise einer besonderen Regelung zu unterwerfen. Letzteres ist aber immer dann der Fall, wenn eine nationale Vorschrift nicht alle Produkte, sondern eine eingrenzbare Produktgruppe – wie zB Säuglingsnahrung, Tabak, Alkoholika usw – betrifft. Denn jede bestimmte Produkte betr Maßnahme führt idR zumindest potentiell zu Behinderungen des Marktzugangs, den Art 28 EGV gerade garantieren will.
66 Die Rspr bejahte hier vor der Keck-Rspr die tatbestandliche Einschlägigkeit des Art 28 EGV (34 AEUV), vgl EuGH, Slg 1990, I-667 – GB-INNO; EuGH, Slg 1993, I-2361 – Yves Rocher. 67 Dies sind Backwaren, die vollständig oder teilweise vorgebacken, anschließend tiefgefroren und nach schnellem Auftauen oder Aufwärmen konsumiert werden 68 Dabei ging es insb um das Genehmigungserfordernis für den Betrieb von Bäckereien sowie die erforderlichen städtebaulichen und baurechtlichen Anforderungen für ihre Erteilung, etwa in Bezug auf Mindestgröße, Belüftungs- und Beleuchtungsbedingungen sowie die vorgeschriebenen Geräte.
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Dieser Ansatz drängt sich auch vor dem Hintergrund auf, dass – wie das Beispiel der Beschränkung des Verkaufs bestimmter Produkte auf bestimmte spezialisierte Stellen zeigt – zahlreiche an sich den Marktzugang nicht berührende und auch nicht diskriminierende Regelungen für die Wirtschaftsteilnehmer ggf recht weitgehende Markteinbußen zur Folge haben können und insofern in ihren Auswirkungen mit unmittelbar produktbezogenen Regelungen durchaus vergleichbar sind. Im Übrigen ließen sich mit dem hier vertretenen Ansatz auch problemlos die Grenzfälle lösen: So geht es bei dem erwähnten generellen Werbeverbot eben um die Reglementierung eines bestimmten abgrenzbaren Produkts oder einer Produktgruppe, so dass eine Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen ist. Geht es hingegen um Maßnahmen, die sich auf nicht eingrenzbare Produkte beziehen (wie zB eine Reihe allgem Regulierungen der Werbung, etwa das Verbot vergleichender Werbung), ist die Einschlägigkeit des Tatbestandes des Art 28 EGV (34 AEUV) zu verneinen, es sei denn, die Maßnahme wirke diskriminierend. MaW geht der hier vertretene Vorschlag dahin, das vom EuGH verwandte Kriterium der Produkt- oder Vertriebsbezogenheit durch die Frage nach dem Bezug der Regelung auf eine abgrenzbare Produktgruppe zu ersetzen. Jedenfalls kommt es nach der hier vertretenen Ansicht (aA → § 7 Rn 82 ff)69 (darüber hinaus) nicht auf eine irgendwie geartete „Spürbarkeit“ der Maßnahme oder eine „Nähebeziehung“ zwischen der Maßnahme und der beeinträchtigenden Wirkung an: Denn letztlich geht es hier um eine Art Abschwächung des Kriteriums der Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkungen entfalten zu können, deren Konturen aber denkbar unklar und kaum einer voraussehbaren Konkretisierung zugänglich sind. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die „geringe Intensität“ einer Maßnahme jedenfalls auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Allerdings ist die Rspr des EuGH hier nicht immer klar: Während der EuGH teilweise eine Art Spürbarkeit oder eine Nähebeziehung von Maßnahme und beschränkender Wirkung als notwendig anzusehen scheint,70 deuten andere Urt darauf hin, dass dies gerade nicht der Fall ist, so wenn bei der Frage des Vorliegens einer beschränkenden Wirkung einer Regelung – die zweifelhaft war – ausschließlich auf ihren rechtlichen Gehalt, nicht hingegen auf das Erfordernis einer irgendwie gearteten Spürbarkeit abgestellt wird.71 Hiervon zu unterscheiden ist jedoch das auch in der Rspr 72 zugrunde gelegte Erfordernis, dass die Geeignetheit einer Maßnahme, handelsbeschränkende Wirkung zu entfalten, hinreichend dargelegt werden muss, so dass rein hypothetische Kausalverläufe, bei denen
69 Wie hier etwa Füller Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, 2000, 111 ff; Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 15; s unter Bezugnahme auf die Rspr auch schon Epiney NVwZ 1999, 1076, 1077; ausf zum Problemkreis auch Kessler Das System der Warenverkehrsfreiheit im Gemeinschaftsrecht, 1997, 21 ff. 70 Vgl etwa EuGH, Slg 1996, I-2975, Rn 32 f – Semeraro; Slg 1993, I-5009, Rn 8 ff – CMC Motorradcenter; Slg 1994, I-3453, Rn 24 – Peralta; Slg 1999, I-6269, Rn 16 – BASF. 71 EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 25 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 10/00, EGV Art 28/1; s auch EuGH, Slg 1998, I-6197, Rn 16 ff – Kommission/Frankreich; gegen einen „Spürbarkeitstest“ wohl auch EuGH, Slg 1984, 1299, Rn 20 – Prantl; Slg 1993, I-2361, Rn 17 ff – Yves Rocher = JK 5/94, EWGV Art 30/4; Slg 1998, I-8033, Rn 22 – Bluhme; Slg 1999, I-3845 – EDSrl. 72 S etwa EuGH, Slg 1998, I-3949 – Corsica Ferries France; Slg 1999, I-6286 – BASF; in Bezug auf Art 39 EGV (45 AEUV) EuGH, Slg 2000, I-493 – Graf.
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eine solche Beeinträchtigung des Handels zu ungewiss und zu indirekt ist, nicht von Art 28 EGV (34 AEUV) erfasst werden, wobei hier letztlich schon die Einschlägigkeit der Dassonville-Formel zu verneinen ist, da die potenziellen und indirekten Auswirkungen auf das Handelsvolumen nicht hinreichend dargelegt sind. Lösung Fall 2: Ein Werbeverbot wie das zur Debatte stehende betrifft allgem Alkohol, also auch eingeführten Alkohol, so dass insofern der Anwendungsbereich der Art 28 ff EGV eröffnet ist (vgl auch Art 23 II EGV). Das ins Auge gefasste Gerichtsurt stellt eine staatliche Maßnahme dar. Weiterhin handelt es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne der Dassonville-Formel, da ein Werbeverbot dazu führen kann und sogar soll, dass der Absatz (auch) eingeführter Alkoholika zurückgeht, so dass der innergemeinschaftliche Handel behindert ist. Fraglich könnte aber sein, ob eine Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Formel vorliegt. Grds geht es bei dem zur Debatte stehenden Verbot nicht um eine produktbezogene, sondern um eine verkaufsbezogene Maßnahme, da die Art und Weise der Vermarktung geregelt wird und die Werbung auch nicht untrennbar mit dem Produkt verbunden wird. Zudem wird der Marktzugang von Alkoholika als solcher nicht berührt; die Vermarktung bleibt nach wie vor ohne Weiteres möglich. Insofern könnte die Annahme naheliegen, es handele sich um eine Verkaufsmodalität. In Anbetracht des Umstandes aber, dass das schwedische Verbot nicht nur eine Form der Förderung des Absatzes eines Erzeugnisses untersagt, sondern die Hersteller und Importeure an nahezu jeder Verbreitung von an die Verbraucher gerichteter Werbung hindert und dass gerade bei Genussmitteln wie dem Alkohol herkömmlichen gesellschaftlichen Gebräuchen bei der Auswahl der Getränke eine wichtige Rolle zukommt, entfaltet das in Frage stehende umfassende Werbeverbot stärkere Auswirkungen auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten als auf einheimische Erzeugnisse, so dass ein Hemmnis für den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten vorliegt und der Anwendungsbereich des Art 28 EGV eröffnet ist. Das Verbot könnte jedoch aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Art 30 EGV) gerechtfertigt sein, da es zum Kampf gegen den Alkoholismus beitragen soll. Aus dem Sachverhalt sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass das Verbot nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen würde; hierfür bedarf es im Übrigen der Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die das vorlegende Gericht durchzuführen hat.
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2. Mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung Gemäß Art 29 EGV (35 AEUV) sind mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung verboten. Der Verbotszweck des Art 29 EGV (35 AEUV) stimmt insofern mit demjenigen des Art 28 EGV (35 AEUV) überein, als verhindert werden soll, dass der freie Warenverkehr dadurch behindert wird, dass die Mitgliedstaaten über eine Beschränkung der Ausfuhr die Nachfrage auf dem innerstaatlichen Markt sättigen.73 Insofern kann bei der Auslegung des Art 29 EGV (35 AEUV) durchaus an die im Rahmen des Art 28 EGV (35 AEUV) entwickelten Grundsätze angeknüpft werden.74
73 Vgl zum Normzweck des Art 29 EGV Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 29 EGV Rn 1. 74 Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 29 EGV Rn 2 ff; Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 29 Rn 1 ff.
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Allerdings ist die Dassonville-Formel vor dem Hintergrund über die im Rahmen des Art 28 EGV (35 AEUV) entwickelten Ansätze einzuschränken, als ihre „vollumfängliche“ Heranziehung letztlich dazu führte, dass nahezu jede Produktions- oder Vertriebsregelung gegen Art 29 EGV (35 AEUV) verstieße, wird doch hierdurch der innergemeinschaftliche Handel regelmäßig zumindest mittelbar und potenziell betroffen, da derartige Regelungen die Herstellungskosten negativ beeinflussen. So geht denn auch der EuGH davon aus, dass Art 29 EGV (35 AEUV) nur auf solche Maßnahmen Anwendung finden könne, die „spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaates und seinen Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt“ 75. In der Folgerspr wurde dieser Ansatz bestätigt, wobei allerdings nicht mehr verlangt wurde, dass der Vorteil für den Absatz auf dem Binnenmarkt des jeweiligen Staates mit einem Nachteil der ausländischen Produktion einhergeht. Zu überzeugen vermag dieser Ansatz schon deshalb, weil nur im Falle besonderer Vorschriften für den Export bzw – in der Sprache des EuGH – bei „spezifischen Beschränkungen der Ausfuhrströme“ der Absatz auf dem Binnenmarkt bevorzugt wird und damit nur unter dieser Voraussetzung der Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen wird.76 Letztlich führt diese einschränkende Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung im Rahmen des Art 29 EGV (35 AEUV) damit dazu, dass dieser Bestimmung lediglich ein Verbot solcher Maßnahmen zu entnehmen ist, die zwischen den für den inländischen Markt bestimmten Produkten und denjenigen Waren, die ausgeführt werden sollen, unterscheiden. Von vornherein ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des Art 29 EGV (35 AEUV) sind damit allgem, auf alle Produkte anwendbare Maßnahmen. In diesem Sinn werden also nur diskriminierende Maßnahmen erfasst, wobei die Differenzierung allerdings an die Bestimmung der Waren anknüpfen muss.
III. Rechtfertigung 56
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Ist das Vorliegen einer mengenmäßigen Ein- oder Ausfuhrbeschränkung oder einer Maßnahme gleicher Wirkung zu bejahen und damit der Tatbestand des Art 28 oder 29 EGV (34, 35 AEUV) gegeben, ist die entspr Maßnahme grds verboten. Allerdings eröffnet das Gemeinschaftsrecht Rechtfertigungsmöglichkeiten, wobei zwischen ausdrücklich im Vertrag geregelten Rechtfertigungsgründen (2.) und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen (sog „zwingenden Erfordernissen“) (3.) unterschieden werden kann. Gemeinsam ist beiden Kategorien, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (4.). Im Übrigen stellen sich bei allen Rechtfertigungsgründen eine Reihe gemeinsamer Fragen, die daher bereichsübergreifend erörtert werden sollen (1.). Der Sinn und Zweck dieser Möglichkeit des Abweichens vom grds Verbot der Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) ist darin zu sehen, dass gewährleistet werden soll, dass die 75 EuGH, Slg 1979, 3409, Rn 7 – Groenveld; aus der Rspr EuGH, Slg 1999, I-3845, Rn 10 – EDSrl; Slg 2000, I-3123, Rn 36 ff – Belgien/Spanien in Bezug auf das Erfordernis, in einer Region hergestellten Wein auch dort abzufüllen, wenn die entspr Ursprungsbezeichnung verwendet werden soll. 76 Ausf Epiney in: Bieber/Epiney/Haag EU § 11 Rn 67 ff; aA etwa Füller (Fn 68), 244 ff.
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Anwendung dieser Bestimmungen nicht dazu führen soll, dass bestimmten Schutzanliegen nicht mehr Rechnung getragen werden kann. Insofern geht es also nicht um eine allgemeine Schutzklausel (zugunsten der Mitgliedstaaten) oder um ein „Herausschälen“ bestimmter gegenständlich definierter Bereiche aus dem Anwendungsbereich der Regelungen über den freien Warenverkehr, sondern ermöglicht wird nur die Verfolgung bestimmter Schutzziele und damit der Schutz bestimmter Rechtsgüter 77 unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlich determinierten Anforderungen. Aus diesen Grundsätzen folgt dann auch, dass die Schutzgüter – seien sie nun ausdrücklich im Vertrag geregelt oder aber ungeschriebener Natur – als gemeinschaftsrechtliche Begriffe nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auszulegen sind. Allerdings verweisen die verwandten Begriffe teilweise wiederum auf mitgliedstaatliche Konzepte, so insb die Konzepte der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sittlichkeit. Aber auch hier setzt das Gemeinschaftsrecht insofern Grenzen, als sich die Ausfüllung des Bedeutungsgehalts dieser Begriffe durch die Mitgliedstaaten in einer gewissen Bandbreite bewegen muss.78
1. Bereichsübergreifende Aspekte a) Keine sekundärrechtlichen Regelungen Eine Rechtfertigung kommt von vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass der entspr Bereich nicht durch das Sekundärrecht geregelt ist (→ § 7 Rn 106).79 Diese nur für mitgliedstaatliche Regelungen einschlägige Einschränkung ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der den Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit des Rückgriffs auf die Rechtfertigungsgründe des Art 30 EGV (36 AEUV) sowie die zwingenden Erfordernisse: Denn wenn das entspr Rechtsgut (schon) durch gemeinschaftliche Regelungen geschützt wird, fehlt das Bedürfnis nach einem autonomen mitgliedstaatlichen Schutz, würde doch ansonsten die bestehende gemeinschaftliche Harmonisierung unterlaufen werden. Das Gemeinschaftsrecht geht also in diesen Fällen maW davon aus, dass dem Schutz des betr Rechtsguts durch die sekundärrechtliche Regelung Rechnung getragen werden soll. Bestätigt wird diese Sicht durch die Regelungen der Art 95 IV ff EGV (114 IV ff AEUV), die eben gerade (ausnahmsweise) auch im Rahmen des Anwendungsbereichs gemeinschaftlichen Sekundärrechts den Mitgliedstaaten unter bestimmten (engen) Voraussetzungen das Anlegen eines höheren Schutzstandards erlauben. Allerdings greift diese Einschränkung der Möglichkeit der Berufung auf Art 30 EGV (36 AEUV) sowie die zwingenden Erfordernisse (selbstverständlich) nur insoweit, als tatsächlich eine abschließende Harmonisierung vorliegt,80 wobei der abschließende Cha-
77 Ausdrücklich etwa EuGH, Slg 1979, 2555, Rn 5 – Kommission/Deutschland. 78 Immerhin impliziert dieses „Bandbreitenkonzept“, dass die Inhalte etwa der öffentlichen Ordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten variieren (können), wie das Bsp der Lotterien zeigt, die in einigen Mitgliedstaaten (teilweise) verboten sind, in anderen aber nicht; vgl den Sachverhalt in EuGH, Slg 1994, I-1039 ff – Schindler; Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1. 79 EuGH, Slg 1996, I-253, Rn 18 – Hedley Lomas; Slg 1995, I-1831, Rn 42 f – Decker. 80 Vgl EuGH, Slg 1998, I-6871, Rn 26 ff – Kommission/Deutschland; Slg 1994, I-5243, Rn 14 – Ortscheit.
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rakter 81 einer gemeinschaftlichen Regelung immer dann zu verneinen ist, wenn der Schutz des entspr Rechtsguts nicht umfassend geregelt ist.82 Nach der Rspr des EuGH 83 ist das Verbot der Heranziehung der allgem primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Falle einer abschließenden sekundärrechtlichen Regelung insofern „absolut“ zu verstehen, als es auch dann eingreift, wenn die Erreichung des sekundärrechtlich angestrebten Schutzniveaus deshalb nicht möglich ist, weil andere Mitgliedstaaten die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht einhalten, und dies auch in den Fällen, in denen der einschlägige Gemeinschaftsrechtsakt kein Kontroll- oder Sanktionsverfahren vorsieht.84 Dieser Ansatz entspricht dem auch sonst vom EuGH angewandten Grundsatz, dass die Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen anderen Mitgliedstaat nichts an der eigenen Pflicht zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts ändert. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Heranziehung dieser grds zwingenden Sicht auch bei der hier diskutierten Konstellation zwingend und sachgerecht ist: Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten nach Art 30 EGV (36 AEUV) und durch die zwingenden Erfordernisse ist ja darin zu sehen, dass die entspr Rechtsgüter geschützt werden. Dieses Anliegen kann zwar dann nicht mehr greifen, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber selbst das Schutzniveau festlegt; allerdings lebt es doch immer dann wieder auf, wenn das darin zugrunde gelegte Schutzniveau nicht erreicht wird bzw werden kann. Insofern geht es dann nicht mehr um die „typische“ Konstellation, dass ein Mitgliedstaat seine Konzeption oder sein Schutzniveau an die Stelle der gemeinschaftlichen Regelungen stellen möchte oder dass ein Mitgliedstaat unter Berufung auf die Nichteinhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch einen anderen Mitgliedstaat seinen gemeinschaftsrechtlichen Pflichten ebenfalls nicht nachkommen möchte, so dass man jedenfalls bei gravierenden und eindeutigen Verletzungen der sekundärrechtlichen Normen durch andere Mitgliedstaaten das Recht auf einen Rückgriff auf Art 30 EGV (36 AEUV) oder die zwingenden Erfordernisse hätte zulassen können.85 b) Verhältnis des Art 30 EGV zu den „zwingenden Erfordernissen“, Anwendungsbereich der Rechtfertigungsgründe und dogmatische Einordnung
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Wie bereits eingangs erwähnt, sind dem Gemeinschaftsrecht sowohl ausdrückliche, im Vertrag geregelte Rechtfertigungsgründe, die in Art 30 EGV (36 AEUV) enthalten sind, als auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zu entnehmen. Letztere wurden durch den EuGH in seiner Cassis de Dijon-Rspr 86 begründet und in der Folgerspr weiterentwickelt. Damit wird die Frage nach dem Verhältnis der beiden Kategorien von Rechtfertigungsgründen, ihrem jeweiligen Anwendungsbereich sowie der dogmatischen Einordnung
81 Die Frage des abschließenden Charakters einer Regelung kann allerdings ggf schwierig zu beantworten sein; vgl hierzu Slot ELR 1996, 378 ff; umfassend Furrer Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, 1994; Schlösser Die Sperrwirkung sekundären Gemeinschaftsrechts, 2002. 82 Vgl die Beispiele aus der Rspr in EuGH, Slg 1991, I-3069, Rn 16 ff – Denkavit; Slg 1998, I-1251, Rn 26 ff – Compassion in World Farming; Slg 1994, I-5243, Rn 13 ff – Ortscheit. 83 EuGH, Slg 1996, I-2553, Rn 19 – Hedley Lomas. 84 Diese Problematik stellt sich im Wesentlichen bei der zugegebenermaßen begrenzten Situation der Ausfuhrbeschränkungen. 85 AA Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 14, 32. 86 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon.
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der zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder Rechtfertigungsgründe aufgeworfen. Die Rspr des EuGH zu diesen Fragen lässt sich durch folgende Punkte zusammenfassen: Art 30 EGV sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen, und der Aufzählung der dort genannten Rechtfertigungsgründe komme ein abschließender Charakter zu.87 Dieser Ansatz schließt es aus, sozusagen analog zu Art 30 EGV (36 AEUV), weitere Rechtfertigungsgründe zu entwickeln. Gleichwohl wurde relativ bald deutlich, dass die in Art 30 EGV (36 AEUV) aufgeführten Rechtfertigungsgründe nicht ausreichend sind, um dem Anliegen eines effektiven Schutzes wichtiger Rechtsgüter Rechnung zu tragen, stammt die in Art 30 EGV (36 AEUV) enthaltene Liste doch aus dem Jahr 1957, und im Laufe der Zeit zeigte sich die Notwendigkeit, auch andere Schutzziele zu verfolgen, wie etwa solche des Verbraucheroder Umweltschutzes. Vor diesem Hintergrund betonte der EuGH in dem diesbezüglich grundlegenden Cassis de Dijon-Urteil 88, dass auf innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruhende Handelshemmnisse immer dann hinzunehmen seien, wenn sie „notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insb den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“, mit denen ein „im allgem Interesse liegendes Ziel, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt“, gerecht wird, verfolgt wird.89 Während es zunächst noch fraglich war, in welchem Verhältnis die zwingenden Erfordernisse zu den Rechtfertigungsgründen des Art 30 EGV stehen 90, hat der EuGH inzwischen klargestellt, dass nur solche Interessen als zwingende Erfordernisse in Betracht kommen, die nicht schon durch Art 30 EGV (36 AEUV) erfasst werden.91 Nicht ganz klar ist die Rspr in Bezug auf die Frage, ob die zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe oder aber als Rechtfertigungstatbestände anzusehen sind. Die vom Gerichtshof verwandten Formulierungen dürften darauf hindeuten, dass dieser von ersterem Ansatz ausgeht.92 Dass der EuGH offenbar einen konzeptionellen Unterschied zwischen beiden Konstellationen macht, ergibt sich auch mit Blick auf die Anwendungsbereiche beider Kategorien: So sollen die Rechtfertigungsgründe des Art 30 EGV (36 AEUV) offenbar immer eingreifen können, also auch bei offenen Diskriminierungen nach der Warenherkunft, während ein Rückgriff auf die zwingenden Erfordernisse bei offenen Diskriminierungen
87 EuGH, Slg 1991, I-1361, Rn 9 – Kommission/Griechenland; Slg 1982, 2187, Rn 27 – Kommission/ Italien. 88 In dieser Rs ging es um eine deutsche Vorschrift, wonach Fruchtsaftliköre nur dann als solche vermarktet werden dürfen und damit verkehrsfähig sind, wenn sie einen Mindestalkoholgehalt von 25 % aufweisen, was bei dem französischen Likör „Cassis de Dijon“ gerade nicht der Fall war. 89 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8, 14 – Cassis de Dijon. 90 Wurde doch der Gesundheitsschutz, der schon in Art 30 EGV enthalten ist, auch als Bsp für ein zwingendes Erfordernis aufgeführt. 91 EuGH, Slg 1991, I-4151, Rn 13 – Aragonesa. 92 Vgl etwa EuGH, Slg 1991, I-4151, Rn 13 – Aragonesa; Slg 1989, 229, Rn 16 – Kommission/ Deutschland; s aber auch EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1, wo der EuGH von Rechtfertigung spricht.
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ausgeschlossen sei; 93 allerdings ist darauf hinzuweisen, dass gerade im Bereich des Umweltschutzes verschiedentlich auch unmittelbar diskriminierende Regelungen grds einer Rechtfertigung zugänglich erachtet wurden94, so dass die Rspr insoweit nicht ganz konsistent erscheint.95 Diese Rspr führt jedoch zu einigen Unstimmigkeiten – ganz abgesehen davon, dass der EuGH teilweise einen recht großen Argumentationsaufwand betreiben musste, um an sich offen diskriminierende Maßnahmen dann doch als nicht offen diskriminierend einzustufen, so dass die Rechtfertigungsmöglichkeit aus Gründen des Umweltschutzes eröffnet werden konnte: 96 So erscheint die dogmatische Einordnung der zwingenden Erfordernisse als tatbestandsausschließende Gründe insofern nicht über alle Zweifel erhaben, als diese letztlich eine parallele Funktion wie Rechtfertigungsgründe haben und sie im Übrigen auch nach den gleichen Grundsätzen geprüft werden. Ferner bleibt auch im Falle des Vorliegens zwingender Erfordernisse die einfuhrbeschränkende Wirkung aufrechterhalten, so dass der Tatbestand der Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) an sich erfüllt ist; insofern erscheint ihre Qualifizierung als Rechtfertigungsgründe näherliegend. Damit in engem Zusammenhang steht die Überlegung, dass der Ausschluss einer Rechtfertigungsmöglichkeit offener Diskriminierungen durch zwingende Erfordernisse nicht sachgerecht erscheint: Dadurch wird nämlich in gewissen Fällen ein ausreichender Schutz der betroffenen Rechtsgüter verhindert, ist es doch gerade nicht von Vornherein ausgeschlossen, dass etwa Erwägungen des Umweltschutzes auch offen diskriminierende Maßnahmen zu rechtfertigen vermögen. Etwaigen „Missbräuchen“ kann auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit begegnet werden.97 Diese Sicht trüge auch den doch parallel gelagerten Funktionen der durch Art 30 EGV (36 AEUV) und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten sowie ihrer letztlich parallelen Anwendung und Prüfung Rechnung (→ aA § 7 Rn 102).98 Wenn man diesem Ansatz folgt, entbehrt die Betonung des ab-
93 Vgl etwa EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 11 – Kommission/Irland; Slg 1983, 127, Rn 11 – Schutzverband; Slg 1992, I-4431, Rn 33 ff – Kommission/Belgien = JK 3/93, EWGV Art 30/3; wohl auch EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 45 ff – Decker; bei versteckten Diskriminierungen (und sowieso bei Beschränkungen) hingegen können darüber hinaus auch die zwingenden Erfordernisse greifen, vgl. EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 25 ff – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 10/00, EGV Art 28/1, wo es um eine versteckte Diskriminierung ging, der EuGH aber grds den Rückgriff auf das zwingende Erfordernis der Sicherstellung der Nahversorgung zugunsten ortsansässiger Unternehmen nicht ausschloss; ähnlich EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 44 f – de Agostini; s in diese Richtung auch bereits EuGH, Slg 1981, 1625, Rn 11 – Kommission/Irland; die Rspr ist hier allerdings nicht immer ganz klar, vgl etwa EuGH, Slg 1985, 305, Rn 27 ff – Cullet; EuGH, Slg 1999, I-2517, Rn 14 – Ciola = JK 3/00, EGV Art 49/1. 94 EuGH, Slg 2000, I-3743, Rn 48 – Sydhavnens; iE auch schon Slg 1992, I-4431, Rn 34 f – Kommission/Belgien = JK 3/93, EWGV Art 30/3; s auch EuGH, Slg 2001, I-2099 – Preussen Elektra, wo es um eine Differenzierung nach dem Sitz des Stromerzeugers ging, wenn auch der EuGH die Frage des Vorliegens einer offenen Diskriminierung nicht ausdrücklich ansprach. 95 Vgl ausf zu dieser Problematik Heselhaus EuZW 2001, 645 ff. 96 So im Falle des wallonischen Einfuhrverbots für Abfälle, vgl EuGH, Slg 1992, I-4431, Rn 33 ff – Kommission/Belgien = JK 3/93, EWGV Art 30/3. 97 S in diesem Zusammenhang auch Heselhaus EuZW 2001, 645, 648 f, der bei offenen Diskriminierungen für eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung plädiert. 98 Wie hier etwa Weiss EuZW 1999, 493, 497; Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 20; Hakenberg EUWirtschR, 99 f geht sogar soweit, dass sie die Rspr dahingehend auslegt, dass der EuGH nunmehr von einem einheitlichen Begriff der Beschränkung ausgehe (es also maW nicht
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schließenden Charakters des Art 30 EGV (36 AEUV) jeden Sinns, werden die dort aufgeführten Rechtfertigungsgründe doch in jedem Fall zumindest funktional durch die zwingenden Erfordernisse ergänzt. Insg dürfte also eine einheitliche Rechtfertigungsdogmatik letztlich am sinnvollsten sein: In einem ersten Schritt wird geprüft, ob der Tatbestand des Art 28 oder 29 EGV (34, 35 AEUV) erfüllt ist (was von der Bejahung des Schutzbereichs und dem Vorliegen eines Eingriffs abhängt), in einem zweiten die Einschlägigkeit eines „öffentlichen Interesses“ (entweder ein in Art 30 EGV/36 AEUV aufgeführter Grund oder ein „zwingendes Erfordernis“) geprüft, und in einem dritten Schritt ist nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu fragen. IE führt die hier vertretene Sicht aber nur bei der Frage der Anwendbarkeit der zwingenden Erfordernisse auf offene Diskriminierungen zu anderen Resultaten als die Rspr des EuGH. c) Nicht wirtschaftlicher Charakter Fall 3: (EuGH, Slg 1995, I-563 ff – Evans Medical): Diacetylmorphin ist ein Opiumderivat. Die Herstellung und Verarbeitung dieses Stoffes in Großbritannien war bislang einzig zwei in Großbritannien ansässigen Pharmaunternehmen gestattet; Dritten war die Einfuhr des Stoffes untersagt. Diese Regelung sollte sicherstellen, dass eine zuverlässige Versorgung mit dem als Schmerzmittel verwendeten Diacetylmorphin gewährleistet und der illegale Handel unterbunden wurde. Teilweise wurde aber auch vermutet, dass die Existenzfähigkeit des einzigen zugelassenen Herstellers durch diese Regelung gesichert werden sollte. Der britische Innenminister änderte diese Praxis nun unter Berufung ua auf ihren Verstoß gegen Art 28 EGV, wogegen die betroffenen Pharmaunternehmen klagen. Das zuständige Gericht legt dem EuGH ua die Frage vor, ob es tatsächlich stimme, dass die Regelung nicht mit Art 28 EGV in Einklang steht.
Eine Rechtfertigung der Beschränkung des freien Warenverkehrs kommt nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass die geltend gemachten Rechtfertigungsgründe einen nicht wirtschaftlichen Charakter aufweisen.99 Dies bedeutet letztlich eine Einschränkung derjenigen Gründe des öffentlichen Interesses, die im Rahmen des Art 30 EGV (36 AEUV) oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemacht werden können: Sobald den verfolgten Zielsetzungen ein wirtschaftlicher Charakter zukommt, kommt eine Heranziehung der zwingenden Erfordernisse oder des Art 30 EGV (36 AEUV) – in deren Rahmen etwa die öffentliche Ordnung einschlägig sein könnte – nicht in Frage. Ein wirtschaftlicher Charakter ist im Ergebnis dann anzunehmen, wenn es bei den ergriffenen Maßnahmen letztlich um Wirtschaftslenkung, die Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen oder ganz allgem die Abwendung wirtschaftlicher Nachteile geht. Wirtschaftliche Gründe liegen auch dann vor, wenn es (lediglich) um Erwägungen der verwaltungsmäßigen Vereinfachung, etwa im Hinblick auf die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, geht.100 Ebenso ist das Anliegen der Kostendeckung öffentlicher Einrichtungen allein als wirtschaftlicher Grund anzusehen, so dass etwa – bezogen auf Art 12 bzw Art 49 EGV – Vor-
mehr auf das Vorliegen einer offenen oder versteckten Diskriminierung ankomme), dann nach dem Vorliegen einer (tatbestandsausschließenden) Verkaufsmodalität frage und schließlich eine einheitliche Rechtfertigungsprüfung durchführe. 99 StRspr, s etwa EuGH, Slg 1995, I-563, Rn 36 – Evans; Slg 1984, 2727, Rn 35 f – Campus Oil; Slg 1985, 305, Rn 30 ff – Cullet; EuGH, Slg 2001, I-7915, Rn 21 – Kommission/Griechenland. 100 EuGH, Slg 1999, I-345, Rn 45 – Terhoeve.
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zugspreise für den Zutritt zu kommunalen Museen für Ortsansässige nicht damit gerechtfertigt werden können, dass diese (grundsätzlich) über ihre Steuergelder diese Einrichtungen mitfinanzieren.101 Hingegen stellen Erwägungen der Kohärenz des Steuersystems 102, des finanziellen Gleichgewichts der Systeme sozialer Sicherheit 103 oder der Sicherstellung der Nahversorgungsbedingungen in abgelegenen Gebieten104 zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigen können. Der Ausschluss solcher Gründe aus dem Anwendungsbereich des Art 30 EGV (36 AEUV) sowie der zwingenden Erfordernisse ergibt sich aus Sinn und Zweck der Art 28 ff EGV (34 ff AEUV): Die „Grundphilosophie“ dieser Bestimmungen – wie auch der anderen Grundfreiheiten – geht doch gerade dahin, dass Beschränkungen des freien Verkehrs der Produktionsfaktoren zu beseitigen sind, dies in der Annahme, dass sie wirtschaftlicher Effizienz entgegenstehen. Wenn dies aber so ist, können ja nicht Maßnahmen, die gerade über handelsbeschränkende Mittel wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgen, von Art 30 EGV (36 AEUV) oder den zwingenden Erfordernissen gedeckt werden. Ansonsten könnten die durch Art 30 EGV (36 AEUV) und die zwingenden Erfordernisse eröffneten Rechtfertigungsmöglichkeiten dazu „missbraucht“ werden, den durch die Anwendung der Art 28 f EGV (34 f AEUV) möglicherweise (momentan) entstehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu begegnen. Das Verbot der Geltendmachung wirtschaftlicher Gründe schließt aber nicht aus, dass das primäre Schutzziel einer bestimmten Regelung über wirtschaftspolitische Maßnahmen verfolgt wird. Es wird also nur die eigenständige Verfolgung wirtschaftlicher Zielsetzungen um derer selbst willen ausgeschlossen; wenn aber wirtschaftspolitische Maßnahmen nur „Mittel zum Zweck“ sind und letztlich anderen Zielsetzungen dienen, können sie grds von Art 30 EGV (36 AEUV) und den zwingenden Erfordernissen erfasst werden. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Medikamenten aus Gründen des Gesundheitsschutzes geht.105 Allerdings können solche Maßnahmen an der Verhältnismäßigkeit (Rn 88 ff) scheitern. Ausgeschlossen ist eine Berufung auf Art 30 EGV (36 AEUV) oder die zwingenden Erfordernisse aber jeweils dann, wenn es um Störungen der öffentlichen Ordnung im Gefolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten geht, wie dies etwa im Falle von Boykottmaßnahmen bei Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten der Fall sein kann. Denn es widerspricht der vertraglichen Systematik, das Funktionieren der Grundfreiheiten als Störung der öffentlichen Ordnung zu qualifizieren und somit im Ergebnis unter eine Art Vorbehalt der polizeilichen Generalklausel zu stellen. Lösung Fall 3: Die Vorlagefrage ist zulässig, obwohl die in Frage stehende Praxis bereits geändert worden ist: Denn die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen soll es dem nationalen Gericht ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die Änderung der nationalen Praxis tatsächlich geboten war, um den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen.
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EuGH, Slg 2003, I-721 – Kommission/Italien. EuGH, Slg 1998, I-2793 – Gilly. EuGH, Slg 1998, I-1931 – Kohll. EuGH, Slg 2000, I-151 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb. EuGH, Slg 1995, I-563, Rn 36 f – Evans; s a Slg 1984, 2727, Rn 34 ff – Campus Oil; Slg 1998, I-1831, Rn 39 ff – Decker.
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Diacetylmorphin ist eine Ware im Sinne des Art 23 II EGV, da es Gegenstand von Handelsgeschäften sein kann und im Hinblick auf diese grenzüberschreitend verbracht wird. Das Verbot der Einfuhr von Diacetylmorphin stellt eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art 28 EGV dar, wird doch die Einfuhr einer Ware dem Wert oder der Menge nach begrenzt bzw in diesem Fall gar verboten. Eine Rechtfertigung kommt nur für Maßnahmen nicht wirtschaftlicher Art in Betracht, dh für solche, die nicht der Wirtschaftslenkung oder der Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen dienen. Gerade solche stehen aber bei der Sicherung des Überlebens eines Unternehmens zur Debatte, so dass diese Erwägung nicht zur Rechtfertigung der Einfuhrbeschränkung herangezogen werden kann. Hingegen dient die regelmäßige Versorgung des Landes mit einem für wichtige medizinische Zwecke gebrauchten Stoff dem Gesundheitsschutz (Art 30 EGV) und vermag damit grds eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels zu rechtfertigen. Die Maßnahme muss aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Der Sachverhalt erlaubt hier keine abschließende Feststellung (die im Übrigen dem nationalen Gericht obliegt), ob hier eine mildere Maßnahme denkbar gewesen wäre.
d) Zur Frage der Notwendigkeit eines territorialen Bezugs In erster Linie sollen Art 30 EGV (36 AEUV) und die Anerkennung der zwingenden Erfordernisse natürlich sicherstellen, dass die verfolgten Schutzziele auf dem Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaates 106 verfolgt und verwirklicht werden können. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat über nationale Maßnahmen auch Zielsetzungen verfolgt, die letztlich auf dem Gebiet eines anderen Staates „angesiedelt“ sind. So kann etwa ein Einfuhrverbot für gefährdete Tierarten (nur) den Schutz der Tiere in einem anderen Staat zum Ziel haben. Fraglich ist nun, ob die Mitgliedstaaten über die Berufung auf Art 30 EGV (36 AEUV) oder die zwingenden Erfordernisse auch solche „extraterritorialen Zielsetzungen“ verfolgen dürfen oder ob dies von vornherein ausgeschlossen ist. In Anknüpfung an Sinn und Zweck der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch die in Art 30 EGV (36 AEUV) genannten und von den zwingenden Erfordernissen erfassten Rechtsgüter erscheint jedenfalls ein allgem Ausschluss einer solchen Verfolgung „extraterritorialer Schutzinteressen“ nicht sachgerecht: Denn diese Bestimmung soll es den Mitgliedstaaten doch gerade ermöglichen, die betr Rechtsgüter zu schützen, wobei die Intensität dieses Schutzes grds in ihrem Beurteilungsspielraum steht (Rn 92 ff). Dann aber ist kein Grund ersichtlich, warum nationale Maßnahmen nicht auch grds den Schutz von Rechtsgütern, die sich außerhalb ihres Territoriums befinden, zum Gegenstand haben können. Allerdings muss diese Möglichkeit immer dort eine Grenze finden, wo der Kompetenzbereich anderer (Mitglied-) Staaten beginnt; es wäre also nicht mit der Konzeption der Rechtfertigungsmöglichkeiten durch Art 30 EGV (36 AEUV) und der zwingenden Erfordernisse vereinbar, wenn ein Staat seine Vorstellungen in einem bestimmten Bereich anderen Staaten aufdrängte. MaW kommt es auf die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Regelung der entspr Belange an. Daher müssen die Mitgliedstaaten auch tatsächlich ein „eigenes“ Schutzinteresse darlegen, dessen Vorliegen aber gerade nicht in Anknüpfung
106 Oder auch der Gemeinschaft. Diese Konstellation soll aber im Folgenden außer Betracht gelassen werden. Sie wirft im Wesentlichen die Frage der Konformität entspr einseitiger Maßnahmen mit dem GATT/WTO-Recht auf. Vgl hierzu mwN Epiney DVBl 2000, 77 ff.
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an das Territorium zu bestimmen ist. Vielmehr kommt es auf eine (auch) rechtlich begründbare eigene Verantwortung für das Schutzgut an, die sich auch auf Grund internationaler Verflechtungen bzw Interdependenzen ergeben kann.107 e) Zur Bedeutung der (gemeinschaftlichen oder nationalen) Grundrechte 76
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Mitgliedstaatliche oder gemeinschaftliche Maßnahmen zum Schutz der in Art 30 EGV (36 AEUV) genannten oder durch die zwingenden Erfordernisse erfassten Rechtsgüter können auch grundrechtlich geschützte Positionen berühren, so etwa, wenn die Meinungsäußerungsfreiheit durch Maßnahmen, die die Pressevielfalt erhalten sollen, eingeschränkt wird, aber auch schon immer dann, wenn die Wirtschaftsfreiheit berührt wird. Die gemeinschaftlichen Grundrechte (→ ausf hierzu § 14) binden selbstverständlich die Gemeinschaft und ihre Organe selbst. Sie entfalten aber auch insoweit Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten, als diese Gemeinschaftsrecht anwenden oder durchführen (→ § 14 Rn 48 ff).108 Dann aber sind die gemeinschaftlichen Grundrechte auch in den Fällen, in denen es um mitgliedstaatliche Regelungen geht, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen und sich im Hinblick auf ihre Zulässigkeit auf gemeinschaftsrechtliche Begriffe – wie die in Art 30 EGV (36 AEUV) oder im Rahmen der zwingenden Erfordernisse relevanten Schutzgüter – berufen, zu beachten. Vor diesem Hintergrund ist wohl die Rspr des EuGH zu sehen, die betont, dass die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung für die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten „im Lichte der Grundrechte“ auszulegen sei.109
107 Der EuGH hat diese Frage noch nicht ausdrücklich entscheiden. Jedoch gehen seine Ausführungen in EuGH, Slg 2008, I-4475 – Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers, in die hier vertretene Richtung, bejaht der Gerichtshof doch die grds Möglichkeit der Rechtfertigung einer einfuhrbeschränkenden Maßnahme zum Schutz von außerhalb des betr Territoriums lebenden Tierarten. In der Lit gehen die Ansichten von einer grds Unzulässigkeit der Verfolgung „extraterritorialer Rechtsgüter“ (Gornig/Silagi EuZW 1992, 753, 756; wohl auch Everling NVwZ 1993, 209, 211) über eine ausnahmsweise Zulässigkeit im Falle der Existenz einer „globalen Gesamtverantwortung“ der Staaten für bestimmte Interessen (Müller-Graff in: vd Groeben/Sschwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 37 ff; ähnlich Weiher Nationaler Umweltschutz und internationaler Warenverkehr, 1997, 99 ff) bis hin zu einer Anknüpfung an „internationale Schutzinteressen“, bei deren Einschlägigkeit eine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet sei (so Kahl Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht 1993, 192 f; Middeke Nationaler Umweltschutz im Binnenmarkt, 1994, 167 f). 108 Vgl ausf zu der Frage der Bindungswirkung der gemeinschaftlichen Grundrechte Epiney (Fn 21), 125 ff; aus der Rspr insb EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 11/92, EWGV Art 30/2; Slg 1997, I-3689, Rn 27 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1. 109 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 92, EWGV Art 30/2; Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1. In der Lit wird diesem Ansatz des EuGH überwiegend gefolgt. Vgl etwa Holznagel Rundfunkrecht in Europa, 1996, 156; Becker in: Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 62; sehr krit aber Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 164; ähnlich Störmer AöR 123 (1998), 541, 567. Ausf zur Problematik Schaller Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, 79 ff; Wallrab Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, 43 ff.
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Diese grds Anwendbarkeit der gemeinschaftlichen Grundrechte entfaltet im Wesentlichen auf zwei Ebenen Rückwirkungen: Zum einen muss das im Rahmen der Heranziehung des Art 30 EGV (36 AEUV) oder der zwingenden Erfordernisse geltend gemachte Rechtsgut auch Einschränkungen des berührten Grundrechts rechtfertigen können, was in aller Regel der Fall sein wird. Zum anderen und vor allem ist auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit der Betroffenheit eines Grundrechts Rechnung zu tragen: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ieS müssen auch im Hinblick auf die Grundrechtsbeeinträchtigung geprüft werden. In aller Regel jedoch werden diese Aspekte der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der „normalen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zusammenfallen, stellt doch gerade die handelsbeschränkende Maßnahme einen Eingriff in das jeweilige Grundrecht dar (→ § 7 Rn 105). Der Schutz von Grundrechten kann aber auch sozusagen „auf der anderen Seite“ im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit der gemeinschaftlichen Warenverkehrsfreiheit (oder auch anderen Grundfreiheiten) relevant werden, nämlich in all denjenigen Fällen, in denen die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit mit dem Schutz bestimmter Grundrechte bzw ihrer Verwirklichung oder Beachtung gerechtfertigt wird oder werden kann. In dieser Konstellation stellen die Grundrechte – zB die Versammlungsfreiheit 110 oder der Schutz der Menschenwürde 111 – also letztlich zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls dar, die Eingriffe in die Grundfreiheiten rechtfertigen können. Fraglich könnte hier sein, ob es sich dabei um gemeinschaftliche oder nationale Grundrechte handelt. Angesichts des Umstandes, dass es den Mitgliedstaaten obliegt, Existenz und Reichweite der zwingenden Erfordernisse zu bestimmen, sprechen die besseren Gründe dafür, dass es hier um mitgliedstaatliche Grundrechte geht, die jedoch zwingende Erfordernisse im Sinne des Gemeinschaftsrechts darstellen müssen.
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2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe Art 30 EGV (36 AEUV) erlaubt die Anwendung von gegen Art 28, 29 EGV (34, 35 AEUV) verstoßenden Maßnahmen aus einer Reihe im Einzelnen aufgezählter Gründe. Wie erwähnt (Rn 63) geht der EuGH auf der Grundlage einer engen Auslegung der einzelnen Rechtfertigungsgründe davon aus, dass die in Art 30 EGV (36 AEUV) enthaltene Liste abschließend ist. Im Einzelnen können vier Gruppen von Ausnahmetatbeständen unterschieden werden, wobei im Folgenden – auf der Grundlage der einschlägigen Rspr – allerdings nur ein kurzer Überbl über den Aussagegehalt der einzelnen Tatbestände erfolgt.112 Die Schutzgüter öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit nehmen Bezug auf verschiedene Aspekte des ordre public: Hier geht es letztlich um die Beachtung der wesentlichen Grundregeln eines Gemeinwesens113, wobei die öffentliche Ordnung eine Art Ober-
110 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5659 – Schmidberger. 111 Vgl EuGH, Slg 2004, I-9609 – Omega. 112 Für weiterführende Hinw insb auf die einschlägige Rspr sei auf die Kommentarlit verwiesen. Aus der Monographielit Millarg Die Schranken des freien Warenverkehrs in der EG. Systematik und Zusammenwirken von Cassis-Rspr und Art 30 EG-Vertrag, 2001, 139 ff. 113 ZB die Verhinderung von Betrug im Zusammenhang mit der Gewährung von Ausfuhrbeihilfen EuGH, Slg 1994, I-2757, Rn 44 – Deutsche Milchkontor.
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begriff darstellt und die öffentliche Sicherheit114 und Sittlichkeit115 spezifische Aspekte herausgreifen.116 Der Schutz der Gesundheit des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen – dem in der Rspr des EuGH eine sehr große Bedeutung zukommt – erfasst nur solche Maßnahmen, die den Schutz von Menschen, Pflanzen oder Tieren als solchen zum Gegenstand haben; notwendig ist also – immer nach der Rspr des EuGH – ein unmittelbarer Bezug zu den genannten Schutzgütern, während im Hinblick auf die genannten Rechtsgüter nur mittelbar wirkende Maßnahmen bzw Anliegen (zB solche, die in erster Linie dem Verbraucheroder Umweltschutz dienen) von den „zwingenden Erfordernissen“ erfasst werden.117 Das Schutzgut des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert nimmt Bezug auf das Interesse der Mitgliedstaaten, dem Land bestimmte künstlerische Werke oder sonstige für die nationale Identität bedeutende Gegenstände zu erhalten. In der Rspr spielte dieses Schutzinteresse bislang keine Rolle.118 Der Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums nimmt auf solche rechtlichen Instrumente Bezug, die gewerbliche oder kommerzielle Rechtspositionen schützen sollen. Hierunter fallen nach der Rspr des EuGH in erster Linie das Patentrecht119, das Warenzeichen-120 und Urheberrecht121, aber auch Ursprungsbezeichnungen und geographische Herkunftsangaben122. Im Einzelnen wirft die Auslegung dieser Rechtsgüter allerdings einige Fragen auf, denen hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann.123
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Wie bereits erwähnt (Rn 66 ff), entwickelte der EuGH in seinem Urt Cassis de Dijon 124 den Grundsatz, dass Handelsbeschränkungen auch durch sog zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden können, wobei der EuGH davon ausgeht, dass diese nur auf versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen, nicht hingegen auf offene Diskriminierungen Anwendung finden können (Rn 66 ff).
114 Die öffentliche Sicherheit betrifft in der Sache das Schutzsystem des Staates zur Erhaltung seines Gewaltmonopols, aber auch den Schutz der Existenz des Staates sowie seiner zentralen Einrichtungen; vgl etwa EuGH, Slg 1991, I-4621, Rn 22 ff – Richardt = JK 7/92, EWGV Art 30, 36/1. 115 Die öffentliche Sittlichkeit nimmt Bezug auf Moralvorstellungen, nach denen sich das Zusammenleben der Menschen richten soll; vgl EuGH, Slg 1986, 1007, Rn 14 – Conegate; Slg 1979, 3795 ff – Henn und Darby. 116 Vgl Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 49. In diese Richtung wohl auch EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 33 – Campus Oil. 117 Vgl aus der Rspr zB EuGH, Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme; Slg 1998, I-5121 ff – van Harpegnies; Slg 1987, 1227 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 118 Vgl zu den sich stellenden Auslegungsfragen mwN Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV (2. Aufl), Art 30 EGV Rn 37. 119 EuGH, Slg 1988, 3585, Rn 14 f – Thetford. 120 EuGH, Slg 1978, 1139, Rn 7 f – Hoffmann-La-Roche. 121 EuGH, Slg 1987, 1747, Rn 11 ff – Basset. 122 EuGH, Slg 1992, I-3669, Rn 10 – Delhaize; Slg 2000, I-3123, Rn 50 – Belgien/Spanien; Slg 1992, I-5529, Rn 25 – Exportur. 123 Vgl im Einzelnen mit zahlreichen Nachw aus der Rspr Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, (2. Aufl) Art 30 EGV Rn 39 ff; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV, Rn 206 ff. 124 EuGH, Slg 1979, 649 – Cassis de Dijon.
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Der EuGH hat die ursprüngliche Cassis-Formel in zahlreichen Urt angewandt und teilweise auch weiterentwickelt125, insb durch die ausdrückliche Anerkennung weiterer zwingender Erfordernisse, wie etwa des Umweltschutzes126, der Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts von sozialen Sicherungssystemen127, kultureller Zwecke 128 oder auch der Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten129. Jedenfalls sind die zwingenden Erfordernisse nicht abschließend formuliert („insbesondere“), so dass a priori alle öffentlichen Interessen hierunter subsumiert werden können, immer unter der Voraussetzung, dass sie aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht als solche anerkannt werden können, so dass sie insb keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen dürfen (Rn 68 ff).
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4. Verhältnismäßigkeit Fall 4: (EuGH, Slg 2000, I-3123 ff – Belgien/Spanien): Nach den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben in Spanien ist die Zulässigkeit des Führens der Ursprungsbezeichnung „Rioja“ für den aus der gleichnamigen Region stammenden Wein ua davon abhängig, dass der Wein in der Anbauregion abgefüllt wird. Belgien hat Spanien wegen dieses Aspekts der Ursprungsregelung vor dem EuGH verklagt. Spanien hält das Erfordernis der Abfüllung in der Region selbst für notwendig, da nur auf diese Weise die Qualität des Weins gewährleistet werden könne, während Belgien hier eine unzulässige Beschränkung des freien Warenverkehrs geltend macht.
Liegt ein Rechtfertigungsgrund (entweder einer der in Art 30 EGV genannten oder aber ein zwingendes Erfordernis) vor, muss die jeweilige (nationale oder gemeinschaftliche) Maßnahme noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, dh die betr Maßnahme muss zur Verfolgung des angestrebten Ziels geeignet sein, das mildeste Mittel darstellen – maW dem Grundsatz der Erforderlichkeit entsprechen – sowie angemessen (verhältnismäßig ieS) sein.130 Dieser in stRspr anerkannte Grundsatz beruht letztlich auf der Heranziehung allgem Rechtsgrundsätze und ist auch vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks der Art 28, 29 EGV (36 AEUV) sowie der anerkannten Rechtfertigungsmöglich-
125 Vgl die Zusammenstellung der Rspr bei Ahlfeld Zwingende Erfordernisse im Sinne der CassisRspr des Europäischen Gerichtshofs zu Art 30 EGV, 1997, 85 ff; Millarg (Fn 118) 163 ff sowie die einschlägige Kommentarlit. 126 EuGH, Slg 1988, 4607, Rn 8 f – Kommission/Dänemark (Pfandflaschen); Slg 1992, I-4431 – Kommission/Belgien. 127 EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker. 128 EuGH, Slg 1985, 2605, Rn 21 ff – Cinéthèque; Slg 1991, I-4069, Rn 29 f – Kommission/Niederlande (Mediawet); Slg 1993, I-487, Rn 9 f – Veronica Omröp Organisatie; allerdings ist die Rspr hier auch teilweise recht zurückhaltend, vgl etwa EuGH, 1985, 1, Rn 28 ff – Leclerc, in Bezug auf Art 49 EGV. 129 EuGH, Slg 2000, I-151, Rn 34 – Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb = JK 10/00, EGV Art 28/1. 130 Wobei der EuGH eine Maßnahme allerdings nur in Ausnahmefällen an der Angemessenheit scheitern lässt. Vgl (allerdings in Bezug auf Art 12 EGV) EuGH, Slg 1997, I-1, Rn 19 ff – Pastoors. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art 28 EGV etwa EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 ff – Decker; Slg 1997, I-3689, Rn 19 ff – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1; Slg 1998, I-8033 ff – Bluhme; Slg 1988, 4607, Rn 11 ff – Kommission/Dänemark (Pfandflaschen).
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keiten zwingend, soll doch die Beschränkung des freien Warenverkehrs auf das notwendige Maß eingeschränkt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzziel stehen. Aus Art 30 S 2 EGV (36 AEUV), wonach die unter Berufung auf Art 30 EGV (36 AEUV) ergriffenen Maßnahmen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels darstellen dürfen, können keine weitergehenden Anforderungen abgeleitet werden. Vielmehr decken sich diese Erfordernisse iE mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.131 Es ist denn auch kaum vorstellbar, dass „willkürliche Diskriminierungen“ oder „verschleierte Beschränkungen“ des Handels geeignet und erforderlich sein können. Eine Rechtfertigung nach Art 30 EGV (36 AEUV) oder auf der Grundlage der Heranziehung zwingender Erfordernisse kommt allerdings von Vornherein nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass eine Gefahr für die Schutzgüter besteht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche mit einer (soweit dies überhaupt möglich ist) hundertprozentigen Sicherheit nachgewiesen werden muss. Ein gewisser Unsicherheitsfaktor kann also durchaus bestehen; notwendig ist aber eine substantiierte und nachvollziehbare Darstellung des Bestehens einer Gefährdungslage. So deuten zB Kolibakterien auf pathogene Mikroorganismen hin, die eine wirkliche Gefahr für die Gesundheit darstellen.132 Hingegen konnte nicht substantiiert glaubhaft gemacht werden, dass die in bestimmten Bieren vorhandenen Zusatzstoffe angesichts der Ernährungsgewohnheiten133 der deutschen Bevölkerung eine Gesundheitsgefahr mit sich bringen.134 Ebenso wenig vermag der geringe Nährwert eines Nahrungsmittels eine Gefährdung der Gesundheit zu begründen.135 Auch konnten die Gesundheitsgefahren eines Knoblauchpräparats nicht nachgewiesen werden.136 Weiter hielt der EuGH in einem Urt zur Vereinbarkeit des dänischen Verbots, mit bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, fest, dass es bei wissenschaftlichen Unsicherheiten in Bezug auf die mögliche schädliche Wirkung von Zusatzstoffen in Lebensmitteln den Mitgliedstaaten obliege zu entscheiden, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen. Allerdings müsse die Existenz einer Gesundheitsgefahr durch eine eingehende Prüfung des entspr Risikos gestützt werden können; ein Vermarktungsverbot könne nur erlassen werden, wenn die geltend gemachte Gefahr für die öffentliche Gesundheit auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Informationen als hinreichend nachgewiesen anzusehen ist, wobei die Beurteilung des Wahrscheinlichkeitsgrades der schädlichen Auswirkungen sowie die potenzielle Schwere zu berücksichtigen seien.137 131 In diese Richtung dürfte auch die Rspr des EuGH gehen, der diesem Erfordernis keine eigenständige Bedeutung beimessen dürfte, es aber gelegentlich als normative Grundlage für die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erwähnt, vgl etwa EuGH, Slg 1992, I-3617 – Debus. Zum Problemkreis mwN aus Lit und Rspr Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 101 ff. 132 EuGH, Slg 1984, 2367, Rn 17 – Melkunie. 133 Die durchaus grds berücksichtigt werden können. Vgl EuGH, Slg 1984, 3263, Rn 16 – Heijn; Slg 1986, 1511, Rn 20 – Muller. 134 EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 49 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier). 135 EuGH, Slg 1989, 229, Rn 10 – Kommission/Deutschland. 136 EuGH, EuZW 2008, 56 – Kommission/Deutschland. 137 EuGH, Slg 2003, I-9693 – Kommission/Dänemark; s auch EuGH, Slg 2000, I-1129 – Kommission/Frankreich, wo der EuGH betont, dass die Mitgliedstaaten das anzulegende Schutzniveau im Bereich des Gesundheitsschutzes bestimmen können.
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a) Zum Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit138 regelt eine Mittel-Zweck-Relation; die Frage geht maW dahin, ob eine bestimmte Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit beantwortet also nicht die Frage nach dem anzulegenden Schutzniveau bzw dem verfolgten Ziel, sondern setzt dessen Festlegung voraus. In Anbetracht des Umstandes, dass Art 30 EGV (36 AEUV) sowie die zwingenden Erfordernisse grds nur in denjenigen Fällen zur Anwendung kommen können, in denen gerade keine gemeinschaftliche Festlegung des Schutzniveaus besteht, obliegt es den Mitgliedstaaten zu bestimmen, welches Schutzniveau sie zugrunde legen wollen; sie können also maW entscheiden, wie weit zB der Schutz der Gesundheit oder der Verbraucherschutz reichen soll.139 Diese Kompetenz der Mitgliedstaaten bezieht sich auch auf tatbestandliche Unsicherheiten, zB über die Gefährlichkeit bestimmter Stoffe.140 Fraglich ist aber, ob sich die Befugnis der Mitgliedstaaten141 auch darauf bezieht, die jeweiligen Konzeptionen der verfolgten Schutzpolitiken festzulegen, also etwa zu bestimmen, auf der Basis welcher Grundsätze der Verbraucherschutz zu konzipieren ist. Diese Fragestellung kann durchaus – zumindest bei gewissen Politiken, wie gerade dem Verbraucherschutz – von entscheidender Bedeutung für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung und ihr Ergebnis sein: So ist zB die Erforderlichkeit einer Maßnahme unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob das Bild des „verständigen Verbrauchers“ oder dasjenige des „flüchtigen“ oder „zerstreuten“ Verbrauchers zugrunde gelegt wird. Der EuGH legt hier wenigstens in Teilbereichen das Prinzip zugrunde, dass die Konzeption der jeweiligen Politik und damit die Grundlagen für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach gemeinschaftlichen Maßstäben bestimmt werden müssen. So wird insb im Bereich des Verbraucherschutzes (in Verbindung mit dem Gesundheitsschutz) auf ein gemeinschaftliches Konzept des „mündigen“ Verbrauchers zurückgegriffen, das dann auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung dazu führt, dass grds zwingende Regelungen der Produktbeschaffenheit und ein daraus folgendes Vertriebsverbot nicht zulässig sind, da Kennzeichnungspflichten die mildere Regelung darstellen.142 Zu überzeugen vermag dieser Ansatz jedoch nicht: In den Fällen, in denen eine gemeinschaftliche Regelung fehlt (und um diese geht es hier), kommt den Mitgliedstaaten grds die Kompetenz zu, die jeweiligen Politiken zu bestimmen und die entspr Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kompetenz bezieht sich nicht nur auf das „Ob“ der Verfolgung der entspr Zielsetzungen, sondern auch auf das „Wie“, das neben der Festlegung des Schutz138 Vgl umfassend zu diesem Grundsatz im Gemeinschaftsrecht, wenn auch in Bezug auf die Rechtsetzung Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; s a Jarass EuR 2000, 705, 721 ff. 139 So iE auch die Rspr. Vgl zB EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 41 – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 1984, 2367, Rn 18 – Melkunie; Slg 2000, I-1149 – Kommission/Frankreich. Aus der Lit Ahlfeld (Fn 124) S 62 ff; s auch schon ausf zum Problemkreis Epiney/Möllers Freier Warenverkehr und nationaler Umweltschutz, 1992, 70 ff. 140 Vgl EuGH, Slg 1983, 2445, Rn 19 – Sandoz; Slg 1983, 3883, LS 6 – van Bennekom; Slg 1986, 1511, Rn 20 – Muller. 141 Für gemeinschaftliche Regelungen stellt sich das Problem in dieser Form nicht. 142 StRspr vgl nur EuGH, Slg 1987, 1227, Rn 35 ff – Kommission/Deutschland (Reinheitsgebot für Bier); Slg 1979, 649, Rn 13 – Cassis de Dijon; Slg 1994, I-3537, Rn 19 – van der Veldt; Slg 2003, I-459 – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-513 – Kommission/Italien.
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niveaus eben auch die Definition der der jeweiligen Politik zugrunde liegenden Konzeptionen erfasst. Es ist nicht ersichtlich, warum die Gemeinschaft ihre Konzeption an die Stelle derjenigen der Mitgliedstaaten setzen können soll, geht es hier doch nicht um die Definition gemeinschaftlicher Begriffe, sondern um die Festlegung politischer Akzente. Insofern erscheint die Rspr des EuGH nicht ganz unbedenklich. Immerhin konzentriert sich die einschlägige Rspr bislang auf den Bereich des Verbraucherschutzes, während in anderen Politikbereichen offenbar großzügiger verfahren wird.143 Im Übrigen nimmt der EuGH teilweise die Kontrolldichte zurück, so wenn er in Bezug auf das Verbot, eine Creme unter der Bezeichnung „Lifting“ zu verkaufen, festhält, dass eine solche Regelung dann gegen den Vertrag verstoße, wenn ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer Durchschnittsverbraucher erwarte, dass die Creme eine dem operativen Lifting vergleichbare Wirkung zeigt.144 Die Feststellung, ob dies der Fall ist oder nicht, wird dann dem nationalen Gericht überantwortet.145 b) Die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen 96 97
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Wie eingangs erwähnt, umfasst das Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Geeignet ist eine Maßnahme immer dann, wenn sie das verfolgte Ziel grds zu erreichen vermag. Ob diese Voraussetzung (wahrscheinlich146) erfüllt ist, muss ggf mittels entspr wissenschaftlicher Untersuchungen festgestellt werden. Die Geeignetheit einer Maßnahme ist zB auch dann nicht gegeben, wenn ein Mitgliedstaat eingeführte Waren einer bestimmten Qualität als Gefahr ansieht und vor dieser schützen möchte, gegenüber vergleichbaren einheimischen Waren aber keine Maßnahmen ergreift.147 Eine Maßnahme ist auch dann geeignet, wenn sie das angestrebte Ziel nicht vollständig zu erreichen vermag, hierfür jedoch einen – wenn auch nur kleinen – Beitrag zu leisten vermag, wie dies zB bei Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes häufig der Fall ist. Insg wird vor diesem Hintergrund die Geeignetheit der Maßnahme vom EuGH recht selten verneint.148 Die Erforderlichkeit einer Maßnahme ist immer dann gegeben, wenn das angestrebte Schutzziel auch durch den Warenverkehr weniger einschränkende Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Auszugehen ist bei der Prüfung der Erforderlichkeit aber immer von dem definierten Schutzziel. Die Erforderlichkeit ist etwa bei sog „Doppelkontrollen“ – so zB das Erfordernis technischer Analysen für eingeführte Produkte, die schon im Herkunftsstaat durchgeführt worden sind und deren Ergebnisse zugänglich sind – regelmäßig zu verneinen.149 Auch die mit Einfuhrkontrollen verbundenen Zielsetzungen können häu143 144 145 146
So insb im Gesundheitsschutz, vgl die Nachw in Fn 153. Was wohl nicht der Fall ist. Vgl EuGH, Slg 2000, I-117 ff – Lauder. Auch hier ist den Mitgliedstaaten bei tatbestandlichen Unsicherheiten ein gewisser Gestaltungsspielraum einzuräumen. Vgl ausf Epiney (Fn 21) S 303 ff. 147 EuGH, Slg 1985, 1007, Rn 15 – Conegate; s auch Slg 1990, I-4285, Rn 6 f – Kommission/Italien. 148 Vgl aber auch EuGH, Slg 1989, 229, Rn 10 – Kommission/Deutschland; Slg 1979, 649, Rn 11 – Cassis de Dijon; die Geeignetheit wurde etwa in folgenden Fällen bejaht: EuGH, Slg 1991, I-3069, Rn 23 – Denkavit; Slg 1991, I-4151, Rn 15 – Aragonesa. 149 EuGH, Slg 1998, I-5121 – Harpegnies; Slg 1998, I-6197, Rn 22 ff – Kommission/Frankreich; s im Übrigen die Präzisierungen in Bezug auf ein System vorheriger Genehmigungen in EuGH, Slg 2002, I-607 – Canal Satélite. In Bezug auf die Unverhältnismäßigkeit einer nationalen Produktzulassungsregelung EuGH, Slg 2007, I-4269 – Kommission/Belgien.
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fig auf andere Weise, etwa durch Vermarktungsregelungen oder sonstige Kontrollen, erreicht werden.150 Ein Werbeverbot für ein in einem Mitgliedstaat nicht zugelassene Arzneimittel, die dennoch über Einzelbestellung der Apotheker vertrieben werden dürfen, kann nach der Rspr zwar grds aus Gründen des Schutzes von Leben und Gesundheit von Menschen gerechtfertigt werden, da auf diese Weise der Ausnahmecharakter der vorgesehenen Genehmigung gestärkt werde; allerdings sei eine Erstreckung des Verbots auf die Übermittlung von Listen, aus denen sich keine Informationen über die therapeutische Wirkung von Medikamenten ergeben, nicht erforderlich, da damit nicht geworben werden könne und eine Steigerung der Einfuhren daher unwahrscheinlich sei.151 Damit die Erforderlichkeit bejaht werden kann, muss in vertretbarer Weise dargelegt werden, dass das ebenfalls in Betracht kommende mildere Mittel nicht ebenso wirksam gewesen wäre. Allerdings ist den Mitgliedstaaten auch hier bei tatbestandlichen Unsicherheiten ein gewisser Gestaltungsspielraum einzuräumen. So weist der EuGH darauf hin, dass bei Schwierigkeiten in Bezug auf die Frage der Wirksamkeit der Maßnahmen schon dann von der Erforderlichkeit der Maßnahme ausgegangen werden könne, wenn keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass die nationale Maßnahme über das hinausgehe, was zur Erreichung des Zwecks erforderlich sei.152 Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass hier – wie auch bei dem folgenden Schritt der Angemessenheitsprüfung – ggf auch die Beeinträchtigung von Grundrechten zu berücksichtigen ist. Bei der Angemessenheit einer Maßnahme geht es um die Abwägung zwischen der Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs und ggf der Einschränkung von Grundrechten einerseits und dem verfolgten Schutzinteresse andererseits. Wie bereits eingangs (Rn 89 ff) erwähnt, scheitert eine Maßnahme allenfalls in Ausnahmefällen an der Angemessenheit.153 Dem Erfordernis der Angemessenheit dürfte aber in all denjenigen Fällen, in denen eine Grundfreiheit mit einem Grundrecht kollidiert, eine gewisse Bedeutung zukommen; so stellt der EuGH hier etwa auf die Frage der Angemessenheit oder auf das Vorhandensein von Übergangsregelungen ab.154 Lösung Fall 4: Die Vertragsverletzungsklage Belgiens ist zulässig (Art 227 EGV). Die fragliche Maßnahme stellt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung (Art 29 EGV) dar: Denn zwar ist nach wie vor die Ausfuhr von nicht abgefülltem Wein unbeschränkt möglich; dieser darf aber nicht die Ursprungsbezeichnung Rioja
150 Vgl zB EuGH, Slg 1994, I-3303, Rn 25 – Kommission/Deutschland; Slg 1988, 547, Rn 15 ff – Kommission/Vereinigtes Königreich. 151 EuGH, Slg 2007, I-9623 – Ludwigs-Apotheke München. 152 EuGH, Slg 2000, I-5681, Rn 40 ff – Kemikalieinspektionen; Slg 1999, I-3599, Rn 36 ff – Heinonen; sa EuGH, Slg 2000, I-3123 – Kommission/Belgien; EuGH, Slg 2003, I-5121 – Consorzio del Prosciutto di Parma; EuGH, Slg 2003, I-5053 – Ravil/Bellon. 153 S aber auch EuGH, Slg 2002, I-607 – Canal Satélite, wo der EuGH im Zusammenhang mit einem System vorheriger Genehmigungen für die Inbetriebnahme bestimmter Geräte für die digitale Übermittlung oder den digitalen Empfang von Fernsehsignalen über Satellit auch auf der Angemessenheit zuzuordnende Erwägungen zurückgreift, so wenn er betont, dass selbst ein den Anforderungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit entspr Genehmigungsverfahren dann nicht mit Art 28 EV vereinbar sein soll, wenn es die Marktteilnehmer an der Ausübung ihrer Freiheiten hindert. 154 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5959 – Schmidberger; EuGH, Slg 2004, I-11763 – Radlberger.
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tragen. Letzteres beeinträchtigt aber seine Absatzmöglichkeiten, spielen Ursprungsbezeichnungen doch eine wichtige Rolle bei der Vermarktung von Produkten, insb von Wein. Die Voraussetzungen der Dassonville-Formel sind also gegeben. Da sich die Maßnahme nur auf ausgeführte Produkte (nicht abgefüllter Wein, der so aus der Region ausgeführt wird) bezieht, liegt auch eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme vor. Wein, der nämlich nur innerhalb der Region befördert und in zugelassenen Kellereien abgefüllt wird, kann nach wie vor die Ursprungsbezeichnung tragen. Ursprungsbezeichnungen gehören zu den gewerblichen Schutzrechten. Sie sollen den Inhaber davor schützen, dass die Bezeichnungen durch Dritte missbräuchlich benutzt werden und diese dadurch einen Vorteil erlangen. Im Übrigen sollen sie gewährleisten, dass das mit ihnen versehene Erzeugnis aus einem bestimmten geographischen Bereich stammt und bestimmte besondere Eigenschaften aufweist. Damit ist eine Rechtfertigung nach Art 30 EGV grds möglich. Fraglich ist jedoch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, insb die Erforderlichkeit: Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass der Abfüllvorgang schwierig ist und nur von Personen bzw Unternehmen mit großer Sachkenntnis durchgeführt werden sollte, will man vermeiden, dass der Wein an Qualität einbüßt und damit seine Eigenarten verliert. Gleiches gilt für die Beförderung in nicht abgefülltem Zustand. Vor diesem Hintergrund bejaht der EuGH die Erforderlichkeit: Die erwähnte Sachkenntnis sei am ehesten bei den Unternehmen der betroffenen Region vorzufinden, die eben eine größere Erfahrung im Umgang mit gerade diesem Qualitätswein hätten, so dass eine größere Wahrscheinlichkeit gegeben sei, dass die genannten Vorgänge fachgerecht durchgeführt würden. Auch seien die Kontrollen in anderen Mitgliedstaaten teilweise weniger streng als in Spanien. Schließlich reiche auch eine alleinige Kennzeichnungspflicht nicht aus, da im Falle von Qualitätseinbußen das Ansehen aller unter der Ursprungsbezeichnung „Rioja“ vermarkteten Weine geschädigt würde. Zu überzeugen vermag der grds Ansatz des EuGH allerdings nicht: So ist nicht ersichtlich, warum die Abfüllung und Beförderung von Rioja schwieriger sein soll als diejenige sonstiger Qualitätsweine, so dass man ja auch auf das Kriterium „Unternehmen aus Regionen mit Qualitätsweinen“ hätte abstellen können. Vor allem aber bestehen wohl andere Methoden zur Feststellung der Qualifikation der Unternehmen, die den freien Warenverkehr weniger stark beschränken würden, wie etwa ein Zulassungsverfahren, eine Prüfung des erforderlichen Sachwissens oder regelmäßige Kontrollen.
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§9 Arbeitnehmerfreizügigkeit Ulrich Becker Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1982, 1935 ff – Levin; Slg 1986, 2121 ff – Lawrie-Blum; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg. 2000, I-4139 – Angonese. Schrifttum: Hailbronner Ausländerrecht, Loseblattwerk, Abschn D: Recht der EG.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist traditionell gesehen der tragende Pfeiler der Personenfreizügigkeit in der EU, die wichtigste Norm, die es Unionsbürgern (Rn 28) ermöglicht, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort zu leben.1 Ihre Rechtsgrundlage ist Art 39 EGV (45 AEUV). Die Vorschrift ist ebenso wie die anderen Grundfreiheiten unmittelbar anwendbar.2 Sie gewährt das Recht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat und in diesem Zusammenhang zugleich ein Einreise- und Aufenthaltsrecht (Rn 4 ff). Allerdings folgen Freizügigkeitsrechte auch aus anderen Grundfreiheiten: Aus der Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV/49 AEUV) für Personen, die auf Dauer in einem anderen Mitgliedstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgehen wollen, und aus der Dienstleistungsfreiheit (Art 49 EGV/56 AEUV), weil die aktive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungserbringers und die passive Dienstleistungsfreiheit einen vorübergehenden Aufenthalt des Leistungsempfängers in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsstaat voraussetzen3 (zur Abgrenzung, vgl Rn 35). Freizügigkeit steht nach allen genannten Normen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung und erschien deshalb lange Zeit lediglich als Begleitrecht der Marktfreiheiten. Das hat sich geändert mit dem Mitte der achtziger Jahre verstärkt einsetzenden Bemühen um Herstellung eines Binnenmarktes und vor allem mit der Schaffung der Europäischen Union.4 Denn im Binnenmarkt sollen sich Personen frei bewegen können, ohne dass es auf den Zweck der Bewegung ankommt. Deshalb wurden durch Sekundärrecht neue Freizügigkeitsrechte geschaffen, und zwar zunächst für Rentner und Studenten, dann auch für alle übrigen Personen.5 Mit dem Maastrichter Vertrag wurde ein
1 Auch der Schutzbereich der Freizügigkeitsgarantie des Art 11 GG erfasst das Recht, Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, vgl BVerfGE 2, 266, 273 ff; daneben nach überwiegender Meinung das Recht zur Einreise in das, aber nicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet, vgl BVerfGE 6, 32, 34 ff; näher dazu Gusy in: v Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg), Bonner Grundgesetz-Kommentar Bd 1, 5. Aufl 2005, Art 11 Rn 36 ff. Zu Art 11 GG und dessen historischem Hintergrund ausf Ziekow Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997. 2 Vgl nur EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 5 ff – Van Duyn; → § 7 Rn 7. 3 Grundlegend zur passiven Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 1984, 377, Rn 16 f – Luisi und Carbone. 4 Vgl zur Entwicklung Becker EuR 1999, 522 ff. 5 Genauer: für die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, RL 90/365, ABl 1990 Nr L 180/28; für Studenten RL 93/96, ABl 1993 Nr L 317/59 (als Neuerlass der RL 90/366, ABl 1990 Nr L 180/30); für alle übrigen Personen RL 90/364, ABl 1990 Nr L 180/26. Diese Einzelrichtlinien wurden mit Wirkung vom 30.4.2006 aufgehoben und inhaltlich zusammengefasst durch die RL 2004/38, ABl 2004 Nr L 158/77 über das Recht der Unions-
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neuer Teil über die Unionsbürgerschaft in den EGV eingefügt (Art 17 ff EGV/20 AEUV) Damit erhielt das allgemeine Freizügigkeitsrecht eine (gemeinschafts-) verfassungsrechtliche Grundlage (Art 18 EGV/21 AEUV).6 Dieses Recht ist gegenüber den speziellen wirtschaftsbezogenen Freizügigkeitsrechten und damit auch gegenüber Art 39 EGV (45 AEUV) subsidiär.7 Art 18 EGV (21 AEUV) ist unmittelbar anwendbar.8 Dabei bleiben die sekundärrechtlichen Beschränkungen beachtlich.9 Im Übrigen ist die Entwicklung hin zu einem einheitlichen Freizügigkeitsrecht klar erkennbar.10
I. Schutzbereich 1. Vorbemerkung 3
Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt das sekundäre Gemeinschaftsrecht eine wichtige Rolle. Schon vor Ablauf der im EWGV vorgesehenen Übergangszeit wurden die Gemeinschaftsrechtsakte erlassen, die wegen der verschiedenen ausländerrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten erforderlich erschienen, um die grenzüberschreitende Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte zu ermöglichen.11 Bis heute von Bedeutung ist neben der bereits genannten Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38)12 die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (VO 1612/68)13.14 Diese Bestimmungen konkretisieren
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bürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten; vgl dazu Hailbronner ZAR 2004, 259 ff. Vgl auch Art 45 GRCh (ABl 2000 Nr c 364/1), der allerdings im Zusammenhang mit Art 52 II GRCh gelesen werden muss. Vgl zu Art 18 EGV (21 AEUV) auch Scheuing EuR, 2003, 744 ff; Schönberger Unionsbürgerschaft, 2005, 318 ff; Wollenschläger Freiheit ohne Markt, 2007, 126 ff, vgl auch die Beiträge in Beiheft 1/2007 zu EuR. Vgl EuGH, Slg 1999, I-11ff – Calfa. In Verbindung mit Art 12 EGV (18 AEUV) verleiht die Unionsbürgerschaft jedenfalls Rechte im Aufenthalt, vgl dazu EuGH, Slg 1998, I-2691ff – Martínez Sala; EuGH, Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1; EuGH, Slg 2004, I-7573 ff – Trojani. Den Charakter des Art 18 EGV (21 AEUV) als Grundfreiheit betonend EuGH, Slg 2000, I-9265, Rn 23 f – Yiadom. Zur Rspr auch Castro Oliveira CMLR (2002), 77, 78 ff. Vgl die Bezugnahme auf Durchführungsvorschriften in Art 18 I EGV (I-10 VVE); EuGH, Slg 2000, I-2623, Rn 30 ff – Kaba; EuGH Rs C-154/07 – Förster. Vgl RL 2004/38 (Fn 5). Vgl zur Entwicklung nur Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 40 EGV Rn 3 ff. Vgl Fn 5. Die Richtlinien über die Aufhebung von Aufenthaltsbeschränkungen (insb RL 68/360, ABl 1968 Nr L 257/13, zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, RL 73/148, ABl 1973 Nr L 172/14, zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs) und über den ordre public Vorbehalt (RL 64/221, ABl 1964 Nr 56/850, zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind) wurden mit Wirkung vom 30.4.2006 durch RL 2004/38 aufgehoben. VO 1612/68, ABl 1968 Nr L 257/2, über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, geändert durch RL 2004/38 (Fn 5). VO 1251/70, ABl 1970 Nr L 142/24, der Kommission über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben wurde nach Schaffung der RL 2004/38 durch VO 635/2006, ABl 2006 Nr L 112/9, aufgehoben.
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Arbeitnehmerfreizügigkeit
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zum Teil den Schutzbereich und die Schranken des Art 39 EGV (45 AEUV), zum Teil gehen sie über die Vertragsbestimmung inhaltlich hinaus. Sie sind ihrerseits im Lichte der Grundfreiheit auszulegen,15 und ihr enger Zusammenhang zur Arbeitnehmerfreizügigkeit legt es nahe, sie im Folgenden bei der Beschreibung von Schutzbereich und Schranken mit zu berücksichtigen.16 Zu beachten ist allerdings, dass der Anwendungsbereich des Sekundärrechts von jenem des Art 39 EGV (45 AEUV) abweichen kann; das Gemeinschaftsrecht enthält insofern unterschiedliche Arbeitnehmerbegriffe.17
2. Sachlicher Schutzbereich a) Arbeitnehmereigenschaft Fall 1: (EuGH, Slg 1989, 1621 ff – Bettray): Der deutsche Staatsangehörige B, der bereits 1980 in die Niederlande eingereist war, wurde 1983 wegen seiner Drogenabhängigkeit nach dem Gesetz über die soziale Arbeitsbeschaffung für einen unbefristeten Zeitraum in einer gemeindlichen Arbeitsorganisation gegen Entgelt zur Verrichtung bestimmter Dienste eingestellt. Die Tätigkeit diente der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und sollte B die Gelegenheit geben, unter Bedingungen zu arbeiten, die soweit wie möglich auf das abgestimmt sind, was für die Ausübung entgeltlicher Arbeit unter normalen Bedingungen üblich ist. Als B eine Aufenthaltserlaubnis beantragte, wurde dieser Antrag von den niederländischen Behörden abgelehnt. B sei nicht als Arbeitnehmer anzusehen und könne deshalb aus Art 39 EGV (45 AEUV) kein Aufenthaltsrecht ableiten. Bei seiner Tätigkeit handele es sich um eine Beschäftigung eigenen Typs mit sozialem Charakter, die Produktivität von B sei gering und die Entlohnung, die B erhalte, müsse dementsprechend zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden.
Für die Bestimmung des sachlichen (und nicht nur des persönlichen) Schutzbereichs von Art 39 EGV (45 AEUV) besitzt der Begriff des Arbeitnehmers zentrale Bedeutung.18 Nach stRspr des EuGH handelt es sich um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff, der aus sich heraus auszulegen ist. Im Grunde genommen ist das selbstverständlich, wenn man der Grundannahme folgt, dass das Gemeinschaftsrecht eine autonome Rechtsordnung darstellt. Weil aber in den nationalen Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten ebenfalls der Arbeitnehmerbegriff bekannt und die Versuchung deshalb groß ist, nationale Interpretationsansätze zu übernehmen, sah sich der EuGH immer wieder zu der Feststellung veran-
15 Vgl bereits EuGH, Slg 1976, 497, Rn 24 ff – Royer. 16 Ohne dass das Sekundärrecht den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten beschränken könnte, vgl dazu EuGH, Slg 2000, I-6623, Rn 29 f – Hocsman. Zur konkretisierenden Wirkung auch Weatherill/Beaumont EU Law, 3. Aufl 1999, 626 ff. 17 So liegt zB der Sozialrechtskoordinierung durch VO 1408/71, ABl 1971 Nr L 149/2 ein eigener, auf die nationalen Sozialleistungssysteme Bezug nehmender Arbeitnehmerbegriff zugrunde, der zum Teil weiter, zum Teil enger als Art 39 EGV (45 AEUV) ist; die mittlerweile beschlossene VO 883/2004, ABl 2004 Nr L 166/1, mit der diese VO abgelöst werden soll, wird voraussichtlich 2010 in Kraft treten. Vgl aber auch zur parallelen Auslegung, soweit keine ausdrücklichen Abweichungen bestehen, EuGH, Slg 1995, I-4741, Rn 18 ff – Mengner. 18 Vgl dazu auch Colneric FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 385 ff.
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lasst, die nationalen Behörden und Gerichte dürften bei der Anwendung des Art 39 EGV (45 AEUV) keine eigenen, zusätzlichen Voraussetzungen verlangen.19 Ein zweiter, nicht nur für den Arbeitnehmerbegriff wichtiger Auslegungsgrundsatz besagt, dass Art 39 EGV (45 AEUV) nicht einschränkend, sondern im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung der Grundfreiheit und die Vertragsziele weit auszulegen ist: 20 Nach Ansicht des EuGH kommt es darauf an, den Freizügigkeitsbestimmungen zu voller Wirksamkeit zu verhelfen 21 (effet-utile-Grundsatz). Arbeitnehmer zeichnen sich dadurch aus, dass sie (1) eine wirtschaftliche Leistung erbringen, (2) unselbständig tätig werden und (3) für ihre Tätigkeit eine Vergütung als Gegenleistung erhalten, ohne dass (4) eine Qualifizierung ihrer Tätigkeit als sittenwidrig den Schutzbereich verschließt. (1) In dem Erfordernis der wirtschaftlichen Leistung kommt der allgemeine Bezug aller Grundfreiheiten zu wirtschaftlichen Tätigkeiten zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu stehen rein soziale22, eventuell auch kulturelle und sportliche Tätigkeiten. Allerdings darf diese Begrenzung nicht so verstanden werden, dass bestimmte Sektoren als Ganze von der Anwendung der Grundfreiheiten ausgeschlossen wären. Ausnahmen bestehen vielmehr nur dann, wenn die konkrete Tätigkeit nicht in einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis erfolgt.23 So ist etwa die Beschäftigung bei einem Sozialversicherungsträger natürlich eine Arbeitnehmertätigkeit. Der Umstand, dass in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie dem Sport und der Kultur Besonderheiten bestehen oder dass bestimmte Berufe wegen ihres Gemeinwohlbezugs besonderen Regulierungen unterliegen, grenzt zudem den Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht ein, sondern kann höchstens im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen eine Rolle spielen. Dementsprechend können Profisportler 24 und für religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften Tätige 25 ebenso Arbeitnehmer sein wie Rechtsanwälte und Ärzte.26 Anderes dürfte für ehrenamtliche Tätigkeiten gelten, selbst wenn eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird. Noch offen ist die Abgrenzung bei Amateursportlern.27 Der Status, den ein Erwerbstätiger besitzt (Arbeiter oder Angestellter, Tätigkeit in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, vgl auch Rn 27) oder der Umfang der Tätigkeit und deren Produktivität (vgl auch Rn 10) spielen keine Rolle. Der EuGH verlangt nur, dass es sich um eine „tatsächliche und wirtschaftliche Tätigkeit“ handeln muss, die
19 Vgl nur EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 11 ff – Levin; Slg 1988, 3205, Rn 22 ff – Brown. 20 Vgl EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 13 ff – Kempf; Slg 1986, 2121, Rn 16 ff – Lawrie-Blum; Slg 2003, I-13187, Rn 23 ff – Ninni-Orasche. 21 EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 15 ff – Levin: „volle Wirkungskraft“. 22 Zur Sicherungsfunktion von Sozialleistungsträgern nur EuGH, Slg 2002, I-691 ff – INAIL = JK 9/02, EGV Art 81/2. 23 Der Schutz ganzer Einrichtungen wie etwa der bestehenden Sozialversicherungssysteme kann nur über eine Eingrenzung der Beschränkungsverbote oder großzügigere Rechtfertigungsanforderungen erfolgen, und selbst die nur auf einzelne Rechtsverhältnisse bezogene Herausnahme sozialer Tätigkeiten aus dem Anwendungsbereich ist nicht unumstritten. 24 Vgl EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen. 25 Vgl EuGH, Slg 1988, 6159, Rn 11 ff – Steymann. 26 Vgl sektorale Anerkennungsrichtlinie für Ärzte 93/16/EWG. 27 Vgl bezogen auf die Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 2000, I-2549 ff – Deliège.
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sich nicht als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ darstellt.28 Dafür genügt unproblematisch eine Teilzeittätigkeit und jede andere fremdnützige Betätigung; Abgrenzungsprobleme hängen in erster Linie mit den weiteren Voraussetzungen der Weisungsgebundenheit und der Entgeltlichkeit zusammen. (2) Die Tätigkeit muss unselbständig ausgeübt werden, was im Sinne einer Weisungsgebundenheit zu verstehen ist. Dieses Merkmal dient zugleich der Abgrenzung zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, die jeweils eine selbständige Erwerbstätigkeit voraussetzen (vgl auch Rn 35).29 Der EuGH hat dazu allgemein ausgeführt, die Beurteilung hänge „von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte“.30 Das bezieht sich auf die Unterscheidung von unternehmerischem Handeln, das seinerseits insbesondere durch die Übernahme des Unternehmensrisikos geprägt ist. Nach der Rechtsprechung schließt zB eine Entlohnung im Wege einer Ertragsbeteiligung die Arbeitnehmereigenschaft nicht aus,31 während es an der notwendigen „Unterordnung“ fehlt, wenn ein Geschäftsführer zugleich alleiniger Gesellschafter ist.32 Auch in anderen Konstellationen bereitet eine gelockerte Weisungsgebundenheit Schwierigkeiten. Vollkommen zu Recht hat der EuGH etwa darauf hingewiesen, bei Familienarbeitsverhältnissen komme es auf die tatsächliche Ausführung an.33 Auf die Klarstellung der entscheidenden Indizien hat er aber verzichtet, wie überhaupt seine Judikatur insgesamt gesehen hinsichtlich der Abgrenzung zwischen unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit – verglichen mit der arbeits- und sozialrechtlichen Rechtsprechung in Deutschland – spärlich ist. Da das Kriterium der Weisungsgebundenheit beiden Rechtsordnungen bekannt und für die Qualifizierung einer Tätigkeit als unselbständige von wesentlicher Relevanz ist, lässt sich – bei aller gebotenen Vorsicht (vgl Rn 4 ff) – die nationale Rechtsprechung aber in der Sache weitgehend übertragen.34 (3) Was die Entlohnung angeht, so wird nicht vorausgesetzt, dass die Gegenleistung der unselbständigen Tätigkeit zur alleinigen Deckung des Lebensunterhalts genügt. Auch muss sie weder den tariflichen Bestimmungen entsprechen noch die Höhe eines vorgesehenen Mindestlohns erreichen; in welcher Form sie gewährt wird, ist unerheblich. Im Zusammenhang mit den großzügig gehandhabten anderen Kriterien kann das aber zu Ergebnissen führen, deren Vereinbarkeit mit der wirtschaftlichen Ausrichtung der Grundfreiheiten auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint. Denn für den Arbeitnehmerstatus
28 EuGH, Slg 1982, 1035, Rn 17 ff – Levin. 29 Im nationalen Recht existieren entsprechende Notwendigkeiten der Abgrenzung, und zwar im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, vgl etwa Hanau/Adomeit Arbeitsrecht, 14. Aufl 2006, 137 ff; Igl/ Welti Sozialrecht, 8. Aufl 2007, 70 ff; Tipke/Lang Steuerrecht, 19. Aufl 2008, § 9 Rn 552. 30 EuGH, Slg 1989, 4459, Rn 36 ff – Agegate. 31 EuGH, Slg 1989, 4459, Rn 36 ff – Agegate. 32 EuGH, Slg 1996, I-3089, Rn 26 ff – Asscher. 33 EuGH, Slg 1999, I-3289, Rn 15 ff – Meeusen. 34 Das bestätigen jedenfalls die bis jetzt vom EuGH entschiedenen Fälle, wobei zu beachten ist, dass im Einzelfall auch die gerichtlichen Beurteilungen innerhalb Deutschlands durchaus voneinander abweichen können. Verfolgt man den hier befürworteten Ansatz, bereitet die oft als unklar angesehene Einstufung von leitenden Angestellten keine großen Probleme mehr.
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genügt schon eine geringfügige Tätigkeit von 12 Stunden wöchentlich oder weniger.35 Eine lediglich ganz kurze Beschäftigung gibt jedoch Anlass zu Zweifeln, ob überhaupt eine wirtschaftliche Leistung erbracht wird.36 Die Inanspruchnahme des Art 39 EGV (45 AEUV) scheitert allerdings nicht daran, dass öffentliche Mittel zur Existenzsicherung zusätzlich in Anspruch genommen werden müssen;37 bereits untergeordnete Tätigkeiten vermitteln ein Aufenthaltsrecht und einen Anspruch auf Sozialleistungen. Denn Art 39 EGV (45 AEUV) enthält keinerlei Einschränkungen, sein Anwendungsbereich würde zu sehr verkürzt, wenn der Erwerb eines ohnehin schwer bestimmbaren Existenzminimums gefordert würde. Im Übrigen entspräche dies auch nicht der Entwicklung hin zu einem allgemeinen Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 1 ff). Die Beschäftigung zur Berufsausbildung ist eine Arbeitnehmertätigkeit, ein Studium hingegen nicht.38 Fraglich ist die Situation bei Praktikanten. Sie sind Arbeitnehmer, wenn das Praktikum „unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird“; bei der Beurteilung kommt es darauf an, ob die aufgewendete Zeit genügt, um berufliche Fähigkeiten zu entwickeln.39 (4) Grundsätzlich wird die Arbeitnehmereigenschaft nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass eine Tätigkeit als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen wird, zumindest, wenn mit dieser Charakterisierung nicht ein vollständiger Ausschluss vom Arbeitsmarkt einhergeht. Daran bestanden im Falle der erwerbsmäßigen Prostitution Zweifel.40 Nachdem der EuGH zunächst lediglich implizit von einem Schutz durch die Grundfreiheiten ausgegangen war,41 hat er jüngst festgestellt, dass es sich bei der Prostitution um eine Erwerbstätigkeit handele, die in den Mitgliedstaaten zwar reglementiert, aber nicht grundsätzlich verboten ist.42 Einschränkungen bedürfen deshalb der Rechtfertigung (Rn 47). Lösung Fall 1: Arbeitnehmer sind in einem Arbeitsverhältnis stehende Personen. Nach stRspr des EuGH besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Im vorliegenden Fall hat B Leistungen erbracht und dafür eine Gegenleistung bekommen, weshalb die Annahme einer Bereichsausnahme ausscheidet. Dass es sich um eine bestimmte, gesetzlich ausgeformte Beschäftigung handelte, ist unerheblich. Allerdings verlangt der EuGH, dass auch die konkret ausgeübte Tätigkeit als „tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit“ anzusehen ist. Dagegen sprechen der Zweck der Beschäftigung und deren Durchführung. Denn dieser dient der Wiedereingliederung des B, soll B also in die Lage versetzen, später eine reguläre Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die im Rahmen des Gesetzes über die soziale Arbeitsbeschaffung eingesetzten Personen werden nicht nach ihren Fähigkeiten ausgesucht, sondern die von ihnen auszuführenden
35 Vgl EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 12 ff – Kempf; Slg 1989, 2743, Rn 13 ff – Rinner-Kühn; Slg 1995, I-4741, Rn 18 ff – Mengner. 36 Zur beschränkten Dauer von Gelegenheitsarbeiten EuGH, Slg 1992, I-1027, Rn 14 ff – Raulin. 37 EuGH, Slg 1986, 1741, Rn 14 ff – Kempf. 38 Anders bei Stipendienvertrag mit weisungsabhängiger Tätigkeit, vgl EuGH, EuZW 2008, 529, Rn 32 ff – Raccanelli m Anm Repasi. 39 EuGH, Slg 1992, I-1071, Rn 15 ff – Bernini. 40 Vgl BVerwGE 60, 284, 289 ff. 41 EuGH, Slg 1982, 1665, Rn 5 ff – Adoui. 42 EuGH, Slg 2001, I-8615 – Jany = JK 7/02, EGV Art 43/2.
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Verrichtungen vielmehr den vorhandenen Fähigkeiten angepasst. Schließlich wurde die gesamte gemeindliche Arbeitsorganisation nur zu dem Zweck geschaffen, die Arbeitsfähigkeit der beschäftigten Personen wiederherzustellen. B ist deshalb kein Arbeitnehmer iSv Art 39 EGV (45 AEUV).43
b) Zeitliche Erstreckung Arbeitnehmer ist, wer in einem Arbeitsverhältnis steht. Damit erstreckt sich der durch Art 39 EGV (45 AEUV) gewährte Schutz auf die Dauer der unselbständigen Erwerbstätigkeit. Was aber gilt, wenn ein Arbeitsverhältnis erst begründet werden soll (1), oder umgekehrt, wenn das Arbeitsverhältnis beendet worden ist (2)? (1) Art 39 III lit a EGV (45 III lit a AEUV) gewährt den Arbeitnehmern ausdrücklich das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben. Ganz offensichtlich muss also ein Arbeitsverhältnis noch nicht bestehen, sondern dessen Abschluss nur beabsichtigt sein. Garantiert wird damit der freie Zugang zu einer Beschäftigung. Das umfasst ein Einreise- und Aufenthaltsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung bei der Stellenbewerbung 44 (Rn 19 ff), ohne dass die Einreise im Hinblick auf bestimmte, bereits ausgeschriebene Stellenangebote erfolgen müsste. Dass für die Dauer von jedenfalls 3 Monaten in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit gesucht werden darf ergibt sich aus der RL 2004/38.45 Auf einen kürzeren Zeitraum müssen sich Stellensuchende nicht verweisen lassen,46 eine längere Frist ist jedoch möglich.47 Der EuGH hat die Annahme eines Mitgliedstaates, dass eine Arbeitsaufnahme nach einer vergeblichen Stellensuche über 6 Monate hin scheitert, akzeptiert.48 Entscheidend bleibt aber immer, ob im Einzelfall noch mit einem Erfolg bei der Stellensuche gerechnet werden kann. (2) Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses haben Arbeitnehmer ein Verbleiberecht gemäß Art 39 III lit d EGV (45 III lit d AEUV), das durch Art 17 RL 2004/38 näher ausgestaltet wird (vgl Rn 3). Der grundlegende Gedanke ist der, dass Beschäftigte auch nach Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben können
43 Nicht gegen eine Arbeitnehmereigenschaft spricht der Umstand, dass das Entgelt aus öffentlichen Mitteln gezahlt wird, vgl zu Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen von damals noch § 19 BSHG [§ 16 Abs. 2 SGB II] (im konkreten Fall mit einer vollen wöchentlichen Arbeitszeit und einem Nettoeinkommen, das einer vergleichbaren Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt entsprach) EuGH, Slg 1998, I-7747, Rn 25 ff – Birden. 44 Vieles spricht dann auch für einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung (dazu nachfolgend Rn 19 ff). Zur Stellensuche auch Art 5 VO 1612/68 (Fn 13). Das bedeutet aber nicht, dass nach erfolgloser Arbeitssuche bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen nicht an ein Wohnsitzerfordernis (als zur Rechtfertigung dienendes Allgemeininteresse) geknüpft werden dürften, sofern dieses die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt betrifft; damit wird ein Sozialtourismus unter dem Vorwand der Arbeitssuche ausgeschlossen; vgl EuGH, Slg 2004, I-2703, Rn 51 ff – Collins m Anm Becker ZESAR 2004, 496. 45 Nach Art 6 Abs 1 der RL steht jedem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht für die Dauer von höchstens 3 Monaten zu bzw nach Art 7 Abs 1 lit b der RL bei Vorliegen ausreichender Existenzmittel und umfassenden Krankenversicherungsschutz auch darüber hinaus. 46 Auch nach Ablauf eines 3-Monats-Zeitraums darf nicht automatisch eine Aufenthaltsbeendigung erfolgen, EuGH, Slg 1997, I-1035, Rn 18 ff – Kommission/Belgien. 47 Vgl auch Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 54. 48 EuGH, Slg 1991, I-745, Rn 21 ff – Antonissen.
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sollen. Dementsprechend knüpft das Verbleiberecht an eine Aufgabe der Beschäftigung wegen Erreichens des Rentenalters oder Eintritts einer Erwerbsunfähigkeit an und setzt eine vorangegangene Beschäftigung von einer bestimmten Dauer voraus.49 Wird ein Wanderarbeitnehmer arbeitslos, so darf er im Hinblick auf seine berufliche Wiedereingliederung nicht anders behandelt werden als inländische Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage.50 Seine Einstufung als Arbeitnehmer und insbesondere die Dauer seines weiteren Aufenthaltsrechts hängen von den Umständen ab und sind auch sekundärrechtlich nicht eindeutig geregelt.51 Wenn eine Beschäftigung aus anderen als den vorgenannten Gründen aufgegeben wird, entfällt der Arbeitnehmerstatus, die mit ihm verbundenen Rechte gehen verloren. Von diesem Grundsatz bestehen aber Ausnahmen.52 Aus dem Umstand, dass ausländische Arbeitnehmer ein Recht auf Zugang zu Berufsschulen und Umschulungseinrichtungen besitzen,53 hat der EuGH geschlossen, auch Studenten könnten ausnahmsweise die Vergünstigungen für Arbeitnehmer in Anspruch nehmen, wenn zwischen dem Studium und einer zuvor ausgeübten Berufstätigkeit ein Zusammenhang besteht.54 Das sichert, grundsätzlich unabhängig von der Dauer der Beschäftigung,55 ein Aufenthaltsrecht und ein Recht auf Förderung der Hochschulausbildung. Fall 2: (EuGH Slg 1999, I-3289 ff – Meeusen): Die belgische Staatsangehörige M lebt in Belgien, übt aber in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit aus, und zwar für eine dort ansässige Gesellschaft, deren Geschäftsführer und einziger Gesellschafter ihr Ehemann ist. Ihre Tochter T, die 18 Jahre alt ist und der M Unterhalt gewährt, lebt ebenfalls in Belgien und beginnt dort ein Studium. Sie beantragt bei den zuständigen Behörden eine Förderung durch eine niederländische Studienbeihilfe, die den Grundbedarf von Studierenden abdeckt. Die Förderung wird verweigert mit dem Hinweis darauf, ihre Voraussetzung sei entweder die niederländische Staatsangehörigkeit oder ein Wohnort in den Niederlanden.
c) Geschützte Betätigungen 19
Ganz grundsätzlich erfordert der Schutz des Art 39 EGV (45 AEUV) – wie die Inanspruchnahme aller anderen Grundfreiheiten auch – ein grenzüberschreitendes Element.
49 Vgl näher Art 17 RL 2004/38 (Fn 5), der ein Verbleiberecht auch unter bestimmten Voraussetzungen für den Fall der Verlagerung der unselbständigen Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat vorsieht. 50 Art 7 I VO 1612/68 (Fn 13). 51 Einzelheiten sind umstritten, insbesondere auch, ob zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu differenzieren ist; vgl Scheuer in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 63; näher Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 45 ff. Vgl zur aufenthaltsrechtlichen Stellung bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Art 7 III RL 2004/38 (Fn 5). 52 Insbesondere für die Aufrechterhaltung der aus dem Arbeitsverhältnis erworbenen Rechte, vgl EuGH, Slg 1997, I-6689, Rn 40 ff – Meints; Slg 1998, I-5325 Rn 41 ff – Kommission/Frankreich. 53 Art 7 III VO 1612/68 (Fn 13). 54 EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 35 ff – Lair; vgl zur Abgrenzung auch Slg 1992, I-1027 ff – Raulin. 55 Allerdings unter dem Vorbehalt, dass Missbräuche ausgeschlossen sind, EuGH, Slg 1988, 3161, Rn 43 ff – Lair; vgl auch Slg 1988, 3205 Rn 22 ff – Brown.
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Auf rein innerstaatliche Sachverhalte ist die Norm nicht anwendbar.56 Daraus folgt zugleich, dass sie Inländerdiskriminierungen nicht erfasst.57 Im Rahmen des Art 39 EGV (45 AEUV) liegt die Grenzüberschreitung darin, dass sich eine Person in einen anderen Mitgliedstaat begibt (bzw begeben will), um dort zu arbeiten. Ob dies auf Dauer geschieht, der Beschäftigte also im Beschäftigungsstaat seinen Wohnsitz nimmt, oder ob er in seinem Heimatstaat wohnen bleibt und in den Beschäftigungsstaat pendelt, dh als Grenzarbeitnehmer tätig wird,58 ist unerheblich. Zudem muss es sich nicht unbedingt um die Beschäftigung bei einem ausländischen Unternehmen handeln; insbesondere genügt auch die Aufnahme einer Tätigkeit bei einer internationalen Organisation.59 Art 39 EGV (45 AEUV) schützt sowohl vor Maßnahmen eines fremden Mitgliedstaates als auch des eigenen Heimatstaates, der seinerseits die grenzüberschreitende Beschäftigung grundsätzlich nicht behindern darf (vgl Rn 41 ff).60 Auf den ersten Blick scheint die Vorschrift differenzierte Regelungen zu enthalten, die aber zusammenspielen. Ausgehend von der allgemeinen und umfassenden Verbürgung in Abs 1, enthalten ihre Absätze 2 und 3 als Konkretisierungen verschiedene Rechte: das Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen (1), das durch einen Anspruch auf steuerliche und soziale Gleichbehandlung ergänzt wird (2), und die begleitenden Rechte auf Einreise und Aufenthalt (3). Vor dem wanderungsbedingten Verlust von Rechten der sozialen Sicherheit soll die auf der Grundlage des Art 42 EGV (48 AEUV) geschaffene Koordinierung der nationalen Sozialleistungssysteme schützen (4). (1) Bezogen auf die Beschäftigung, Entlohnung und die sonstigen Arbeitsbedingungen müssen die auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlungen abgeschafft werden (Art 39 II EGV/ 45 II AEUV). Dieses Diskriminierungsverbot, das sich auch auf Tarif- und Einzelverträge bezieht,61 umfasst jeden Aspekt der Berufstätigkeit. Verboten sind etwa eine Arbeitserlaubnispflicht für Wanderarbeitnehmer 62 und der Vorrang der Arbeitsvermittlung eigener Staatsangehöriger,63 die Schlechterstellung bei Kündigung und Wiedereingliederung,64 die Vorenthaltung von Nebenleistungen,65 die Benachteiligung bei Aufstiegsmöglichkeiten66 oder durch Befristung von Arbeitsverhältnissen67. Das Erfordernis der Gleichbehandlung bezieht sich auch auf die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte.68
56 Vgl nur EuGH, Slg 1992, I-341 ff – Steen I; Slg 1998, I-4239 ff – Kapasakalis. 57 Das ist keineswegs unstreitig, muss hier aber nicht vertieft werden; einschränkend Epiney in: Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 8. Aufl 2009, § 10 Rn 11; → näher dazu § 7 Rn 23. 58 Zum Begriff Art 1 lit b VO 1408/71, voraussichtlich ab 2010 Art 1 lit f VO 883/2004 (Fn 17). 59 Vgl EuGH, Slg 2000, I-8081 ff – Ferlini. 60 Vgl nur EuGH, Slg 1994, I-50, Rn 9 ff – Scholz. 61 Zur Nichtigkeit entgegenstehender Absprachen Art 7 IV VO 1612/68 (Fn 13); zur unmittelbaren Anwendbarkeit der günstigeren Bestimmungen EuGH, Slg 1998, I-47 ff – Schöning. 62 Vgl § 284 I SGB III. 63 Vgl zum Zugang zu Stellen näher Art 1–6 VO 1612/68 (Fn 13). 64 Vgl Art 7 I VO 1612/68 (Fn 13). 65 Ohne Unterscheidung von vorgeschriebenen und freiwilligen Leistungen, vgl EuGH, Slg 1974, 153 ff – Sotgiu. 66 EuGH, Slg 1998, I-1095 ff – Kommission/Griechenland; Slg 1998, I-47 ff – Schöning. 67 EuGH, Slg 1993, I-4309 ff – Allué II; Slg 1993, I-5185 ff – Spotti. 68 Art 8 VO 1612/68 (Fn 13); dazu etwa EuGH, Slg 1994, I-1891 ff – Kommission/Luxemburg.
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(2) Art 7 II VO 1612/68 verbürgt Arbeitnehmern, die Unionsbürger sind, ein grundlegendes soziales Recht, nämlich den Anspruch auf „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“.69 Zu den steuerlichen Vergünstigungen zählen etwa die Abzugsfähigkeit von Ausgaben,70 die Steuerrückerstattung 71 oder das Ehegattensplitting72, wobei es eine wichtige Rolle spielt, in welchem Staat die Einkünfte besteuert werden. Keineswegs ist jede Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Arbeitnehmern bei der Erhebung direkter Steuern ausgeschlossen; insb können als Folge der beschränkten Steuerpflicht auch die Möglichkeiten zur Berücksichtigung steuermindernder Tatbestände beschränkt werden.73 Die Rechtsprechung des EuGH zu den sozialen Vergünstigungen ist kaum mehr überschaubar.74 Deren Begriff wird vom Gerichtshof weit ausgelegt und erfasst „alle Vergünstigungen, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnortes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern.“ 75 Einbezogen sind damit ua Ausbildungsbeihilfen,76 Pflegegeld,77 Hilfen zum Lebensunterhalt wie die Sozialhilfe oder ein Mindesteinkommen,78 Familienbeihilfen einschließlich etwa von Fahrpreisermäßigungen79 etc. Die Vergünstigungen müssen aber keineswegs in einer Geld- oder Sachleistung, sondern können auch in der Einräumung sonstiger Positionen bestehen; so zählen zu ihnen das Recht zur Nutzung der eigenen Sprache vor Gericht80 und das Aufenthaltsrecht für nichteheliche Partner 81. Ausgenommen bleiben aber staatsbürger69 Ob der Anspruch auch für Arbeitslose und Arbeitsuchende gilt, ist nicht unumstritten, vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 159; soweit der Arbeitnehmerstatus auf diese Personen erstreckt wird, ist die Geltung aber schon zwingende Konsequenz und für eine Differenzierung kein Platz. Im Übrigen verliert die Diskussion durch das allgemeine Freizügigkeitsrecht (vgl Rn 2 ff) an Bedeutung. Zur Berechtigung der Familienangehörigen unten Rn 28 ff. Vgl ferner Cordewener Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002. 70 Vgl EuGH, Slg 1992, I-249 ff – Bachmann. 71 Vgl EuGH, Slg 1990, I-1779 ff – Biehl; Slg 1995, I-225 ff – Schumacker. 72 Vgl EuGH, Slg 2000, I-3337 ff – Zurstrassen. 73 Dazu und zu den Grenzen dieses Grundsatzes bei fehlenden nennenswerten Einkünften im Wohnsitzstaat EuGH, Slg 1995, I-225 ff – Schumacker; Slg 2002, I-11819 ff – de Groot. 74 Ausf Überblick bei Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 64 ff. 75 Vgl nur EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 25 ff – Martínez Sala; gegenüber der VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 VO 883/2004 (Fn 17) (vgl nachfolgend im Text) ist keine Abgrenzung mehr erforderlich; vgl aber auch Steinmeyer in: Fuchs (Hrsg), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 7 VO 1612/68 Rn 5 ff. 76 Vgl EuGH, Slg 1988, 5589 ff – Matteucci; vgl zu Überbrückungsbeihilfen Urt v 16.9.2004, Rs C-400/02 – Merida. 77 Vgl EuGH, Slg 2006, I-1771 Rn 20 ff – Hosse. 78 Vgl EuGH, Slg 1987, 2811 ff – Lebon. 79 EuGH, Slg 1975, 1085 ff – Cristini. 80 EuGH, Slg 1985, 2681 ff – Mutsch. 81 EuGH, Slg 1986, 1283 ff – Reed. Das muss Aufenthaltsrechte für ausländische homosexuelle Lebenspartner ohne weiteres mit einschließen, sofern diese Inländern gewährt werden. Die Mitgliedstaaten bleiben aber berechtigt, bei den Voraussetzungen für einen (auch abgeleiteten) Daueraufenthalt nach Staatsangehörigkeit bzw Aufenthaltsstatus zu differenzieren, vgl EuGH, Slg 2000, I-2623, Rn 30 ff – Kaba.
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liche und an eine besondere Vorgeschichte im Heimatstaat anknüpfende Rechte.82 Gesondert geregelt ist die Teilhabe am Wohnungsmarkt.83 (3) Gemäß Art 39 III lit b und c EGV (45 III lit b und c AEUV) haben Arbeitnehmer das Recht, sich zur Stellensuche frei in den Mitgliedstaaten zu bewegen und sich dort zur Ausübung der Beschäftigung aufzuhalten. Die Garantie des Zugangs zur Beschäftigung schließt die Ausreise aus dem Heimatstaat und den Zugang zum Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten notwendig mit ein. Näher ausgestaltet werden die Einreise- und Aufenthaltsrechte durch RL 2004/38 (vgl Rn 3); der Durchführung in Deutschland dient das Freizügigkeitsgesetz/EU 84. Danach darf die Vorlage eines Ausweises oder Passes, nicht aber ein Visum oder eine gleichartige Formalität verlangt werden.85 Zur Bestätigung des Aufenthaltsrechts wird eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt, die nur deklaratorischen Charakter hat.86 Welche Nachweise für ihre Ausstellung verlangt werden dürfen, ist sekundärrechtlich geregelt.87 Wird die Einreise oder die Erteilung bzw Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse verweigert, sind besondere verfahrensrechtliche Garantien vorgesehen.88 (4) Soziale Sicherungssysteme weisen einen engen Bezug zum staatlichen Hoheitsgebiet auf: Die Einbeziehung in die Systeme richtet sich nach einer territorialen Anknüpfung, entweder bezogen auf die Beschäftigung oder den Wohnsitz; 89 Leistungsvoraussetzungen beziehen sich in der Regel auf Vorgänge im Hoheitsgebiet, und ein Leistungsexport ist vielfach eingeschränkt, wobei allerdings die jeweiligen Bezüge von der Struktur der Systeme abhängig sind.90 Für Wanderarbeitnehmer können sich dadurch Gefährdungen ihrer sozialen Sicherheit ergeben: Möglicherweise erwerben sie in verschiedenen Beschäftigungsstaaten nur kurze Anwartschaften für die Alterssicherung, die als solche nicht für
82 Wie das Wahlrecht und die Kriegsopferfürsorge, vgl Steinmeyer in: Fuchs (Fn 75), Art 7 VO 1612/68 Rn 11 ff. 83 Art 9 VO 1612/68 (Fn 13). 84 BGBl I 2004, 1950. Von einer Umsetzung zu sprechen, wäre insofern zu kurz, als das Gesetz auch die unmittelbar aus Art 39 EGV (45 AEUV) fließenden Rechte betrifft. 85 Art 5 I RL 2004/38 (Fn 5); sichtvermerkspflichtig können aber Angehörige aus Drittstaaten sein. Die Zulässigkeit von Grenzkontrollen wird nicht durch die Freizügigkeitsbestimmungen an sich in Frage gestellt, sondern erst durch deren Ersetzung durch Außenkontrollen, vgl EuGH, Slg 1999, I-6207, Rn 39 ff – Wijsenbeek; vgl Art 61, 62 EGV (67–71, 77 AEUV) und die gestufte Einbeziehung des Schengener Abkommens in das Gemeinschaftsrecht, dazu Epiney in: Hummer (Hrsg) Die EU nach dem Vertrag von Amsterdam, 1998, 103 ff. Das FreizügigkeitsG/EU enthält in § 5 eine Meldepflicht und in § 8 eine allgemeine Verpflichtung zum Identitätsnachweis für Einreise und Aufenthalt. 86 Vgl bereits EuGH, Slg 1976, 497, Rn 30 ff – Royer. Nicht erlaubnispflichtig ist ein nur dreimonatiger Aufenthalt und der Aufenthalt der Grenzgänger und Saisonarbeitnehmer, Art 6 I RL 2004/ 38 (Fn 5). 87 Art 8 III RL 2004/38 (Fn 5). 88 Art 15 RL 2004/38 (Fn 5); vgl dazu und zur Verneinung der Frage, ob die Beendigung eines nicht erlaubten, mehrmonatigen Aufenthalts als Einreiseverweigerung anzusehen ist, EuGH, Slg 2000, I-9265, Rn 27 ff – Yiadom. 89 Wichtigste Ausnahme ist die Ausstrahlung bei vorübergehender Auslandstätigkeit, § 4 SGB IV; allerdings sieht Art 14 Nr 1 VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 12 I VO 883/2004 (Fn 17) eine zeitliche Grenze für diese Fälle der sog Entsendung vor. 90 Dort, wo Eigentumsrechte erworben werden, gehen diese durch einen Gebietswechsel nicht verloren, vgl zu Art 14 GG BVerfGE 51, 1 ff; Schutz vermittelt insofern auch die EMRK, vgl EGMR, JZ 1997, 405 ff – Gaygusuz; dazu Davy ZIAS 2001, 221 ff.
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eine Leistungsberechtigung genügen; oder es werden etwa die Familienverhältnisse im Heimatstaat nicht berücksichtigt, obwohl diese im Beschäftigungsstaat Einfluss auf die Leistungsgewährung haben etc. Um solche freizügigkeitsbedingten Nachteile zu vermeiden, sieht Art 42 EGV (48 AEUV) eine Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme vor. Die Zuständigkeit für die soziale Sicherung bleibt bei den Mitgliedstaaten, eine Harmonisierung im Sinne einer Schaffung einheitlicher Voraussetzungen oder Leistungen wird nicht bezweckt. Jedoch sollen die Systeme aufeinander abgestimmt und damit der Verlust von Rechten vermieden werden. Ihrer Bedeutung entsprechend, wurden die ersten Koordinierungsvorschriften schon sehr früh nach völkerrechtlichem Muster geschaffen.91 Heute ist Rechtsgrundlage der Koordinierung die VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2010 die VO 883/2004 92, die auch Selbständige93 und Beamte94 erfassen, also im Anwendungsbereich über Art 39 EGV (45 AEUV) hinausgehen. Sachlich gesehen beziehen sie sich auf die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,95 Invalidität, Alter und Tod, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit, das Sterbegeld sowie die Familienleistungen und -beihilfen.96 Ohne auf Einzelheiten einzugehen,97 bestimmen sie das anwendbare Recht 98 und sehen grob gesagt
91 VO Nr 3 und Durchführungs-VO Nr 4 aus dem Jahre 1958, ABl 1958, 561 und 597, nach dem Vorbild der damaligen Sozialversicherungsabkommen und des Abkommens Nr 102 der IAO über die Mindestnormen der sozialen Sicherung, BGBl II 1957, 1322. 92 → Fn 17 und die DurchführungsVO 574/72, ABl 1972 Nr L 74/1 m Änd. 93 Einbezogen auf der Rechtsgrundlage des ex-Art 235 EWGV (Art 308 EGV/ 352 und 353 AEUV) durch VO 1390/81, ABl 1981 Nr L 143/1. 94 VO Nr 1606/98, ABl 1998 Nr L 209/1. Zu dem Erfordernis der Einbeziehung EuGH, Slg 1995, I-4033 ff – Vougioukas. 95 Einschließlich der Pflegeversicherung; zur Qualifizierung der Leistungen EuGH, Slg 1998, I-843 ff – Molenaar = JK 12/98, EGV Art 48 II/1. 96 Ohne dass es darauf ankäme, wie die nationalen Systeme ausgestaltet sind; vgl zur funktionellen Äquivalenz auch EuGH, Slg 1992, I-3423, Rn 16 ff – Paletta I. Für den Anwendungsbereich haben die Mitgliedstaaten Erklärungen abgegeben (Art 5 VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 9 VO 883/2004 (Fn 17)), die allerdings nur hinsichtlich der positiven Einbeziehung, nicht aber insoweit verbindlich sind, als sie Systeme unerwähnt lassen. Leistungen der sozialen Sicherheit sind solche, die den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden, ohne dass im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung ihres persönlichen Bedarfs erfolgt, und die sich auf die in Art 4 VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 3 VO 883/2004 genannten Risiken beziehen; vgl zur Einbeziehung des deutschen Erziehungsgeldes EuGH, Slg 1996, I-4895, Rn 20 f – Hoever und Zachow. 97 Vgl für einen Überblick Becker in: Schwarze EUV, Art 42 EGV Rn 12 ff; näher Fuchs (Fn 75); Hervey European Social Law and Policy, 1998; Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999; Eichenhofer Sozialrecht der Europäischen Union, 3. Aufl 2006. Sehr vielfältig ist mittlerweile die Rspr des EuGH zu den Koordinierungsvorschriften, was durch eine sachgebietsbezogene Suche unter dem Stichwort „Freizügigkeit“ in CELEX oder der Rechtsprechungsdatenbank des EuGH leicht überprüft werden kann. Zu den Schwächen der derzeitigen Regelung Schulte/Barwig (Hrsg) Freizügigkeit und Soziale Sicherheit, 1999. 98 Für Arbeitnehmer grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsstaates, Art 13 II VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 11 III VO 883/2004 (Fn 17); nach Aufgabe des Arbeitnehmerstatus’ wird an den Wohnsitz angeknüpft, vgl dazu EuGH, Slg 1998, I-3419, Rn 40 ff – Kuusijaervi. Zum Verhältnis zum zwischenstaatlichen Sozialrecht Art 6 und 7 VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 8 VO 883/2004; zur Anwendbarkeit von Sozialversicherungsabkommen EuGH, Slg 1991, I-323 ff – Rönfeldt; Slg 1995, I-3813 ff – Thévenon; Slg 2002, I-1261 – Kaske.
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die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, die weitgehende Gleichstellung von Auslandssachverhalten99 und den Leistungsexport100 vor. Geringfügig Beschäftigte sind zwar Arbeitnehmer iSv Art 39 EGV (45 AEUV; vgl Rn 10), aber vom Anwendungsbereich der VO 1408/71 ausgenommen. Dies allein schließt eine Gewährung etwa von Familienleistungen aber nicht aus; abzustellen ist vielmehr darauf, ob eine hinreichend enge Bindung an den betreffenden Mitgliedstaat besteht. Bei fehlendem Wohnsitz (Rn 39) stellt auch ein maßgeblicher Beitrag zum Arbeitsmarkt ein ausreichendes Kriterium für die Integration in die Gesellschaft dar.101 d) Bereichsausnahmen Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) enthält – insofern ist der Wortlaut eindeutig – eine Bereichsausnahme: Für die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ gilt die Freizügigkeitsgarantie nicht (→ § 7 Rn 67 ff). Bedenkt man, wer in Deutschland, unabhängig von einem bestimmten Status, im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, so scheint in weiten Teilen der Arbeitswelt Art 39 EGV (45 AEUV) keine Anwendung zu finden. In diesem Sinne darf die Bereichsausnahme aber nicht verstanden werden. Der EuGH hat schon früh klargestellt, sie sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Von ihr seien nur die Stellen erfasst, „die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.“102 Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob ein Mitgliedstaat auf bestimmten Stellen nach nationalem Recht Beamte einsetzt103 oder der Arbeitgeber eine öffentlich-rechtliche Einrichtung ist104. Dementsprechend gilt die Freizügigkeit etwa im Schul- und Hochschuldienst.105 Anders ist die Situation bei Polizisten, Soldaten und Rich-
99 In speziellen Vorschriften und grundsätzlich vermittelt durch das Diskriminierungsverbot, vgl dazu Becker VSSR 2000, 221 ff; zur „Entterritorialisierung“ näher Willms Soziale Sicherung durch Europäische Integration, 1990, S 49 ff. 100 Vgl Art 10 und 10a VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 7 VO 883/2004 (Fn 17); der Export von Leistungen bei Arbeitslosigkeit ist auf drei Monate beschränkt, Art 69 VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2010 Art 64 VO 883/2004. Sachleistungen werden nicht exportiert; im Falle der Krankheit gibt es aber eine Sachaushilfe, dh die Leistungen werden auf Rechnung des Beschäftigungsstaats in anderen Mitgliedstaaten nach der Maßgabe der dort geltenden Bestimmungen erbracht, Art 22 VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2009 Art 17 ff VO 883/2004. Dieser Export ist nicht zu verwechseln mit der Einwirkung der Grundfreiheiten auf das sozialrechtliche Territorialitätsprinzip. 101 EuGH, Slg 2007, I-6347, Rn 19 ff – Geven; EuGH,Slg 2007, I-6303, Rn 21 ff – Hartmann m Anm Devetzi ZESAR 2008, 99. 102 EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 10 ff – Kommission/Belgien. Beide Voraussetzungen gelten kumulativ, was allerdings streitig ist, vgl näher nur Schneider/Wunderlich in: Schwarze; EUV, Art 39 EGV Rn 133; zur Kritik an der Rspr Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 105 ff. 103 Vgl § 7 I BeamtStG, wonach heute auch ausländische Unionsbürger grundsätzlich in ein Beamtenverhältnis berufen werden können. Vgl Strauß Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000, 189 ff. 104 Vgl EuGH, Slg 2003, I-10447, Rn 62 f – Anker. 105 EuGH, Slg 1986, 2121 ff – Lawrie-Blum (Studienreferendare); Slg 1991, I-5627 ff – Bleis (höheres Lehramt); Slg 1996, I-3207 ff – Kommission/Luxemburg (Grundschulen).
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tern. Immer muss darauf abgestellt werden, ob mit der konkreten Beschäftigung die Ausübung von Hoheitsrechten zugunsten der Wahrung allgemeiner Belange verbunden ist. So ist etwa nicht allgemein das Gesundheitswesen von der Anwendung des Art 39 EGV (45 AEUV) ausgenommen,106 jedoch möglicherweise die Tätigkeit in der Leistungsverwaltung.107 Auch können bestimmte Leitungsfunktionen in der Verwaltung wegen ihrer Bedeutung einen besonderen Schutz erfordern.108
3. Persönlicher Schutzbereich a) Unionsbürger und ihre Familienangehörigen 28
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Auch wenn Art 39 EGV (45 AEUV) keine entsprechende Festlegung enthält, fallen unter den persönlichen Schutzbereich der Norm, der allgemeinen Konzeption des EGV entsprechend, zunächst nur die Unionsbürger (Art 17 EGV/20 AEUV), also die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten.109 Zu beachten ist, dass sich neben den Arbeitnehmern auch Arbeitgeber gegen Eingriffe in die Arbeitnehmerfreizügigkeit wehren können.110 Ebenfalls weitgehend in den Schutz der Arbeitnehmerfreizügigkeit einbezogen sind die Familienangehörigen 111 von Arbeitnehmern. Grundlage dafür ist auch im Gemeinschaftsrecht der Schutz von Ehe und Familie,112 zumindest die nähere Ausgestaltung ist aber dem Sekundärrecht überlassen. Gegenwärtig (vgl auch Rn 1 ff) führt das zu Differenzierungen. So wird zwar nicht hinsichtlich der allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen und der Rechte auf und im Aufenthalt, aber hinsichtlich der Sichtvermerkspflicht danach unter-
106 Vgl zum Krankenpflegepersonal EuGH, Slg 1986, 1725 ff – Kommission/Frankreich. 107 Vgl Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 161. Allerdings ist diese Ausnahme sehr weit und müsste auch die Sozialversicherungsträger umfassen, obwohl vergleichbare Tätigkeiten auch von privaten Versicherungsunternehmen ausgeübt werden. 108 Vgl EuGH, Slg 1987, 2625 ff – Kommission/Italien. Vgl zum Ganzen jetzt auch Jakobs in: Nomos und Ethos, 2002, 507 ff. 109 Und zwar unabhängig von einer eventuellen Doppelstaatsangehörigkeit; allgM, vgl nur Bleckmann ER Rn 1561 ff; Oppermann ER, § 25 Rn 13; Streinz ER, Rn 786. Flüchtlinge und Staatenlose sind immerhin in den Schutz durch einige Sekundärvorschriften einbezogen; vgl zur VO 1408/71 bzw voraussichtlich ab 2010 VO 883/2004 (Fn 17) und der Voraussetzung eines grenzüberschreitenden Elements EuGH, Slg 2001, I-7413 ff – Khalil. Zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit EuGH, Slg 2001, I-1237, Rn 19 ff – Kaur. 110 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 19 ff – Clean Car, mit dem Hinweis zum einen auf die Wirksamkeit des Art 39 EGV, zum anderen auf den Umstand, dass sich auch Arbeitgeber auf Rechtfertigungsgründe stützen können. Zur Bezeichnung als „Korrelarberechtigte“ Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, vor Art 39–55 EGV Rn 39 ff. 111 Zum Begriff vgl Art 2 Nr 2 RL 2004/38 (Fn 5). Bei der für bestimmte Familienangehörige geforderten Unterhaltsgewährung kommt es auf die tatsächliche Gewährung an (vgl zu Art 1 RL 73/148 EuGH, Slg 2007 I-1 ff – Jia). 112 Ob aber die Freizügigkeit der Angehörigen damit auch unmittelbar aus Art 39 EGV (45 AEUV) ableitbar ist, erscheint fraglich; richtigerweise müsste für die Begründung eigener Rechte zumindest zusätzlich auf den Schutz durch ein Grundrecht rekurriert werden, vgl aber auch Wölker/ Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, vor Art 39–41 EGV Rn 45 ff. Angesichts der relativ großzügigen Rspr des EuGH wird die Frage praktisch kaum relevant.
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schieden, ob die Angehörigen Unionsbürger sind oder nicht.113 Bezogen auf die den Arbeitnehmern zustehenden Rechte im Aufenthalt ist immer zu klären, ob sie nur für die unmittelbar Freizügigkeitsberechtigten oder auch die Angehörigen gelten.114 In einem zentralen Punkt, dem Anspruch auf steuerliche und soziale Vergünstigungen (Art 7 II VO 1612/68, Rn 22 ff), hat der EuGH die Familienangehörigen als selbst berechtigt angesehen.115 Kindern von Arbeitnehmern ist ein Recht auf gleiche Teilnahme am allgemeinen Unterricht und an der Berufsausbildung eingeräumt.116 Damit sind etwa Zulassungsquoten für ein Studium117 oder der Ausschluss von Stipendien118 nicht vereinbar. Für die Leistung einer Ausbildungsförderung durch den Aufnahmestaat kommt es nicht darauf an, in welchem Mitgliedstaat die Ausbildung stattfindet.119 b) Drittstaatsangehörige Abgesehen von den vorstehend genannten abgeleiteten Rechten für Angehörige genießen Drittstaatsangehörige grundsätzlich kein Recht auf Freizügigkeit.120 Durch das EWRAbkommen werden aber die Angehörigen der EWR-Mitgliedstaaten den Unionsbürgern gleichgestellt, so dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit im gesamten EWR gilt. Das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz ist am 1. Juni 2002 in Kraft treten.121
113 Art 5 II RL 2004/38 (Fn 5). Zur Ehegatteneigenschaft trotz Getrenntleben EuGH, Slg 1985, 567 ff – Diatta; zur (zulässigen) Schlechterstellung von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen bei der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis EuGH, Slg 2000, I-2623 ff – Kaba, sowie Slg 2003, I-2219 ff – Kaba II. Nicht erforderlich ist, dass sich der Drittstaatsangehörigen vor der Einreise rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, EuGH, Rs C-127/08, Rn 58 – Metock. 114 So gibt etwa Art 23 RL 2004/38 (Fn 5) kein originäres Freizügigkeitsrecht des Drittstaatsangehörigen (zu Art 11 VO 1612/68 EuGH, Slg 2006, I-3145, Rn 15 ff – Mattern und Cikotic); er ist an den Mitgliedsstaat des Unionsbürgers gebunden, in dem dieser eine Tätigkeit ausübt. Bei Rückkehr des Arbeitnehmers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ohne dort einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, kommt ein Anspruch des Drittstaatsangehörigen aus einer analogen Anwendung des Art 7 RL 2004/38 in Betracht (EuGH, Slg 2007, I-10719, Rn 27 ff – Eind zu Art 10 VO 1612/68). 115 Vgl nur EuGH, Slg 1985, 1873, Rn 22 ff – Deak; Slg 1992, I-1071, Rn 28 ff – Bernini. Allerdings ist weiterhin erforderlich, dass die Vergünstigung vergleichbaren Angehörigen von einheimischen Arbeitnehmern zusteht, vgl EuGH, Slg 1992, I-4401, Rn 11 ff – Taghavi. 116 Vgl Art 12 VO 1612/68 (Fn 13); die Vorschrift verzichtet auf die Festlegung eines Nachzugsalters und begründet ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, vgl Schulz Freizügigkeit für Unionsbürger, 1997, S 210 ff; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-7091 ff – Baumbast. 117 Vgl EuGH, Slg 1988, 5445 ff – Kommission/Belgien. 118 Vgl EuGH, Slg 1974, 773 ff – Casagrande. 119 Unabhängig von dem Wohnorterfordernis in Art 12 VO 1612/68 (Fn 13), vgl EuGH, Slg 1990, I-4185, Rn 16 ff – Di Leo. 120 Vgl aber auch die Ansätze zu einem europäischen Zuwanderungskonzept, Vorschlag der Kommission vom 23.10.2007 für eine RL über ein einheitliches Antragsverfahren für eine kombinierte Erlaubnis für Drittstaatsangehörige zum Aufenthalt- und zur Arbeit im Gebiet eines Mitgliedstaates und über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten KOM(2007) 638; vgl auch Hailbronner ZAR 2002, 83, 84 ff; Hofmann Europäisches Flüchtlings- und Einwanderungsrecht, 2008. 121 Dazu und zum Text: http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/themen/schweiz_-_eu.html.
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Anderen Drittstaatsangehörigen können Rechte durch Assoziierungsabkommen eingeräumt werden.122 An dieser Stelle soll nur kurz auf die Abkommen mit der Türkei (1) und mit den westlichen Balkanländern (2) hingewiesen werden.123 In dem Vertrag über den Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vom 16.4.2003 ist geregelt, dass für Malta und Zypern die Regelungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort anzuwenden sind, für die acht anderen Beitrittsländer gilt ab dem 1.5.2004 eine Übergangszeit von bis maximal 7 Jahren.124 Eine solche Übergangsfrist gilt nach dem Beitrittsvertrag vom 25.05.2005 ab 1.1.2007 auch für Rumänien und Bulgarien.125 (1) Für die in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen ist von großer praktischer Bedeutung, dass der EuGH die auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens mit der Türkei ergangenen Beschlüsse des Assoziationsrats (ARB) für Bestandteile des Gemeinschaftsrechts erklärt hat, die unmittelbar anwendbar sind, sofern die allgemeinen Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit erfüllt sind.126 Auf diese Weise wird zwar kein erstmaliger Zugang für Arbeitnehmer, nach ordnungsgemäßer Beschäftigung werden über Art 6 ARB 1/80 aber Aufenthaltsrechte gewährt.127 Ebenfalls unmittelbar anwendbar ist das in Art 3 ARB 3/80 niedergelegte Verbot der Diskriminierung im Bereich der sozialen Sicherheit.128 (2) Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den westlichen Balkanländern129 enthalten kein Freizügigkeitsrecht für unselbständig Tätige. Unmittelbar anwend-
122 Dazu auch EuGH, Slg 2003, I-4135 ff – Kolpak; näher Weiß Die Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, 1998; Lindig/Podlesak JOR 2003, 73 ff. 123 Vgl auch Hailbronner ZAR 2002, 7, 10 ff; Fehrenbacher ZAR 2004, 22 ff. 124 S zB ABl 2003 L 236/40 iVm Nr 2 des Anhangs V: Liste nach Art 24 der Beitrittsakte: Tschechische Republik, ABl 2003 L 236/803 oder ABl 2003 L 236/40 iVm Nr 2 des Anhangs XII: Liste nach Art 24 der Beitrittsakte: Polen, ABl 2003 L 236/875 f. 125 ABl 2005 L 157/311 iVm Nr 1 des Anhangs VII: Liste nach Art 23 der Beitrittsakte: Rumänien, ABl 2005 L 157/278 iVm Nr 1 des Anhangs VI: Liste nach Art 23 der Beitrittsakte: Bulgarien. Zu der bisherigen Praxis und den Grenzen für Übergangsvorschriften Becker EU-Erweiterung und differenzierte Integration, 1999. 126 Grundlegend EuGH, Slg 1990, I-3461 ff – Sevince = JK 6/91, EWGV Art 177/1. Zu den ARB Hailbronner Ausländerrecht, Loseblatt, Abschn D 5. 127 Vgl EuGH, Slg 1992, I-6781 ff – Kus; Slg 1995, I-1475 ff – Bozkurt; Slg 2000, I-957 ff – Nazli; Slg 2002, I-10691 ff – Kurz; Slg 2004, I-8765 ff – Ayaz; zuletzt Slg 2008, I-203 ff – Payir ua. Vgl zur Familienzusammenführung Art 7 ARB 1/80; dazu EuGH, Slg 2000, I-487 ff – Ergat; Slg 2000, I-4747 ff – Eyüp. Näher dazu Scheuer in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 19 ff; Hailbronner (Fn 126) Abschn D 5; Can Das Assoziationsverhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei, 2002, S 146 ff; Breidenbach Die Auswirkungen des Assoziationsrechts EG/Türkei auf das deutsche Arbeitsgenehmigungsrecht, 2001, 151 ff. Art 10 I ARB 1/80 beinhaltet ein Diskriminierungsverbot für Arbeitsbedingungen, EuGH, Slg 2003, I-4301 ff – Wählergruppe. 128 EuGH, Slg 1999, I-2685, Rn 48 ff – Sürül; Slg 2004, I-3605, Rn 37 ff – Öztürk. 129 Mazedonien ABl 2004 Nr L 084/13 und Kroatien ABl 2005 Nr. L 026/3. Die bereits unterzeichneten Abkommen mit Albanien (12.06.2006), Montenegro (15.10.2007), Serbien (29.04.2008) und Bosnien und Herzegowina (16.06.2008) sind dagegen noch nicht in Kraft getreten. Vgl zum Ganzen http://ec.europa.eu/enlargement/enlargement_process/accession_process/how_does_a_ country_join_the_eu/sap/index_de.htm.
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bar sind aber die in ihnen vorgesehenen Diskriminierungsverbote, die eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen vorsehen.130 Lösung Fall 2: M ist Arbeitnehmerin. Dass sie mit dem Alleingesellschafter verheiratet ist, spielt keine Rolle, solange sie tatsächlich weisungsgebunden tätig wird (Rn 9). T ist zwar nicht Arbeitnehmerin, kann sich aber als Familienangehörige selbst auf Art 7 II VO 1612/68 berufen, obwohl dort die Angehörigen als Berechtigte nicht ausdrücklich genannt sind (Rn 29). Die Voraussetzungen der Angehörigeneigenschaft erfüllt sie problemlos. Ferner fällt die Studienbeihilfe unter den sehr weitgefassten Begriff der sozialen Vergünstigung (Rn 23 ff). Fraglich ist nur, ob die Leistungsgewährung deshalb ausgeschlossen ist, weil M Grenzarbeitnehmerin ist. Denn in der vorliegenden Konstellation, so wendeten die niederländischen Behörden ein, bestehe keinerlei Zusammenhang zum Zweck des Art 7 II VO 1612/68: Dieser sei es, die Mobilität der Arbeitnehmer und die Integration des Wanderarbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmeland zu erleichtern. Der EuGH ist dem nicht gefolgt: Art 7 II VO 1612/68 gelte ohne Einschränkung auch für Grenzarbeitnehmer. Sinn der Bestimmung sei es, vor Diskriminierungen zu schützen. Die Studienfinanzierung müsse deshalb den Kindern von Wanderarbeitnehmern unter denselben Voraussetzungen gewährt werden, die für Kinder inländischer Arbeitnehmer gelten. Ein zusätzliches Wohnorterfordernis verstößt deshalb gegen Gemeinschaftsrecht.
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4. Konkurrenzen Die Abgrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (→ hierzu auch § 10 Rn 19 ff; § 11 Rn 43 ff) erfolgt nach dem Kriterium der Selbständigkeit bzw Unselbständigkeit der Tätigkeit: Arbeitnehmer sind weisungsgebunden tätig (Rn 6 ff). In Einzelfällen kann die Unterscheidung schwierig sein; 131 wegen der sich stark ähnelnden Gehalte der Grundfreiheiten legt der EuGH darauf kein besonderes Gewicht.132 Eine Rolle spielt daneben durchaus auch die Dauer der Erwerbstätigkeit. Werden Arbeitnehmer vorübergehend für ihre Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat tätig, also entsandt, so stellen etwaige Erschwernisse für deren Tätigkeit Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit des Unternehmers dar, die uU auch zum Schutz der Arbeitnehmer gerechtfertigt sein können.133 In diesen Fällen zieht der EuGH die Arbeitnehmerfreizügigkeit als (zusätzlichen) Prüfungsmaßstab nicht heran, obwohl, wie insbesondere der Fall der Grenzarbeitnehmer zeigt, Eingliederung in den Beschäftigungsstaat nicht Voraussetzung der Arbeitnehmereigenschaft ist.
130 Vgl Art 44 Abs 1 SAA mit Mazedonien und 45 Abs 1 des SAA mit Kroatien. Entsprechendes war auch in den Europaabkommen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern geregelt mit der Folge (Rn 38 ff), dass die Befristung von Verträgen mit polnischen Fremdsprachenlektoren unzulässig war, vgl EuGH, Slg 2002, I-1049 – Pokrzeptowicz-Meyer. 131 Zur Verwendung der für den EGV geltenden Kriterien EuGH, Slg 2001, I-8615 – Jany = JK 7/02, EGV Art 43/2. 132 Zur Unterscheidung im Bereich der VO 1408/71 bzw der VO 883/2004 (Fn 17) EuGH, Slg 2000, I-2005 ff – Banks. 133 EuGH, Slg 1990, I-1417ff – Rush Portuguesa; Slg 1994, I-3803ff – Vander Elst; Slg 1999, I-8453 ff – Arblade; Slg 2001, I-7831 ff – Finalarte; Slg 2002, I-787 ff – Portugaia Construções = JK 8/02, EGV Art 49 ff/5.
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II. Beeinträchtigung 36
Fall 3: (EuGH, Slg 1999, I-345 ff – Terhoeve): Der niederländische Staatsangehörige T arbeitete in den ersten zehn Monaten des Jahres 1990 im Vereinigten Königreich, dann in den Niederlanden. Er war während der ganzen Zeit in der niederländischen Sozialversicherung pflichtversichert. Die dafür abzuführenden Beiträge wurden zusammen mit der Einkommenssteuer erhoben, und zwar maximal bis zu einer Höhe von 9300 Gulden. Da T in zwei Ländern gearbeitet hatte, musste er nach den geltenden Vorschriften für 1990 zweimal steuerlich veranlagt werden, wobei die sozialversicherungsrechtliche Bemessungsgrenze jeweils gesondert galt. Auf diese Weise sollte er für die Zeit seiner Berufstätigkeit im Ausland bereits 9300 Gulden, für die Zeit der Berufstätigkeit im Inland weitere 1400 Gulden an Sozialversicherungsbeiträgen zahlen. T fühlt sich durch die Erhebungsmodalitäten in seinem Recht auf Freizügigkeit verletzt. Die niederländischen Behörden entgegnen, T könne sich nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen, da er in seinem Heimatstaat wohne, dort sozialversichert sei und dort besteuert werde. Zudem würden die Veranlagungsbestimmungen für alle in den Niederlanden Sozialversicherten gleichermaßen gelten. Im Übrigen falle das Recht der sozialen Sicherheit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Diese dürften deshalb auch das Verfahren der Beitragserhebung regeln.
1. Diskriminierungen 37
a) Offene Diskriminierungen knüpfen an die Staatsangehörigkeit an. Sie stellen die stärkste Form des Eingriffs dar und können deshalb nach der überw M nur dann zulässig sein, wenn sie durch geschriebene Rechtfertigungsgründe gestattet werden (dazu Rn 47 ff und → § 7 Rn 90). Ihr Verbot wird in Art 39 II EGV (45 II AEUV) ausdrücklich normiert und ergibt sich ansonsten aus Sekundärrecht. Sie kommen mittlerweile relativ selten vor, weil die Mitgliedstaaten staatsangehörigkeitsbezogene Ungleichbehandlungen in ihren Rechtsordnungen weitgehend beseitigt haben. Dass dies eine gewisse Zeit gedauert hat und einzelne formale Diskriminierungen bis heute fortbestehen, ist angesichts der Vielfalt der relevanten Vorschriften, etwa auch des Steuer- und Sozialrechts, sowie der lange Zeit gerade im Hinblick auf das Ausländerrecht betonten nationalen Souveränität einerseits verständlich, andererseits aber angesichts des Standes der europäischen Integration und der Bemühungen um Schaffung eines Binnenmarktes auch für Personen inakzeptabel. Dass sie überhaupt noch anzutreffen sind, beruht auf verschiedenen Gründen. Zum Teil war die Anwendbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben für bestimmte Rechtspositionen nicht hinreichend geklärt134 oder es wurden bestimmte Tätigkeiten für besonders empfindlich gehalten.135 Zum Teil existieren nach wie vor einige erst auf den zweiten Blick erkennbare Diskriminierungen, die offensichtlich in Randbereichen dem Schutz der dort
134 So etwa die Anwendbarkeit der Koordinierungsvorschriften auf das deutsche Erziehungsgeld, vgl dazu Eichenhofer SGb 1997, 449 ff; Becker SGb 1998, 553 ff; Trinkl Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001. Die entsprechende Grundsatzentscheidung des EuGH (Slg 1996, I-4895, Rn 20 f – Hoever und Zachow) ist nur sehr zögerlich und erst spät in das geltende Recht eingearbeitet worden. Ähnlich die Versagung von Studienbeihilfen für das Auslandsstudium, EuGH, Slg 1990, I-4185 ff – Di Leo. 135 Vgl etwa zur Tätigkeit bei privaten Sicherheitsdiensten EuGH, Slg 1998, I-6717ff – Kommission/Spanien; zu Arbeitsplätzen in der Schifffahrt EuGH, Slg 1993, I-6295 ff – Kommission/ Belgien; zur Wählbarkeit in Berufskammern EuGH, Slg 1991, I-3507 ff – ASTI.
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Arbeitnehmerfreizügigkeit
§ 9 II 1
Tätigen dienen. So betrifft eine der letzten (in einem Vertragsverletzungsverfahren getroffenen) Entscheidungen des EuGH zu einer offenen Diskriminierung im Anwendungsbereich des Art 39 EGV (45 AEUV) eine Vorschrift, nach der die Berufsausübung von Zahnärzten eine Eintragung bei der Zahnärztekammer und diese wiederum den Wohnsitz im Kammerbezirk vorsah.136 Bei Wohnsitzverlagerung in andere Mitgliedstaaten hatten jedoch nur die eigenen Staatsangehörigen einen Anspruch auf Beibehaltung der Kammerzugehörigkeit.137 Im Ergebnis half der Beklagten auch der Einwand wenig, die Rechtslage sei mittlerweile so unklar, dass die diskriminierenden Vorschriften in der Praxis gar keine Anwendung mehr fänden.138 b) Sehr viel häufiger als offene sind versteckte Diskriminierungen in Vorschriften des Berufs-, Arbeits- oder Sozialrechts, weil diese herkömmlicherweise oft durch eine territoriale Ausrichtung geprägt sind. Dass eine Diskriminierung vorliegt, wenn eine Bestimmung zwar nicht formal, aber faktisch „im wesentlichen“, „ganz überwiegend“ oder „ihrem Wesen nach eher“ fremde Staatsangehörige betrifft und damit eigene Staatsangehörige im Ergebnis begünstigt, hat der EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bereits früh festgestellt,139 ohne in seiner Rechtsprechung den genauen Maßstab für das unterschiedliche Betroffensein zu präzisieren140 oder je nach erkennbarer Finalität zu unterscheiden.141 Versteckte Diskriminierungen können, da sie nicht unmittelbar an der Staatsangehörigkeit ansetzen, sachliche Gründe haben und deshalb nicht nur durch die geschriebenen, sondern auch die ungeschriebenen Schranken gerechtfertigt werden142 (Rn 49 ff). Im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beruhen mittelbare Diskriminierungen zumeist auf Vorschriften, die den Nachweis bestimmter beruflicher Qualifikationen143, den Nachweis von Sprachkenntnissen144 oder einen Wohnsitz im Inland 145 erfordern. Solche Anforderungen sind nur mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, wenn sie objektiv schützenswerten Rechtsgütern dienen (Rn 51 ff) und verhältnismäßig sind (Rn 54 ff). Aber auch andere Ungleichbehandlungen können überwiegend ausländische Arbeitnehmer
136 Was bereits eine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit darstellt, vgl nachfolgend. 137 EuGH, Slg 2001, I-541 ff – Kommission/Italien; vgl auch Slg 2004, I-8291 ff – Kommission/ Österreich. 138 Weil die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Schaffung einer klaren Rechtslage fordert. 139 EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 ff – Sotgiu; Slg 1978, 1489, Rn 16 ff – Kenny. 140 Vgl zu den oben wiedergegebenen Umschreibungen: EuGH, Slg 1986, 1, Rn 24 ff – Pinna; Slg 1992, I-5785, Rn 42 ff – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1996, I-2617, Rn 20 ff – O’Flynn. 141 Insbesondere werden die Begriffe der mittelbaren, verdeckten oder verschleierten Diskriminierung nebeneinander und ohne erkennbares Konzept verwendet. Sinnvollerweise ist die mittelbare Diskriminierung der Oberbegriff, Verstecken oder Verschleiern setzt ein zusätzliches finales Element voraus. Ob diese Unterscheidung von Bedeutung für die Grundfreiheitsprüfung sein sollte, ist eine andere und eher zu verneinende Frage. 142 Das ergibt sich aus der Rspr mit ausreichender Eindeutigkeit, wenn auch nicht immer ganz klar ist, welche Ausführungen sich auf die Prüfung des Eingriffs und welche sich auf jene der Rechtfertigungsgründe beziehen; → vgl § 7 Rn 90. 143 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-4773, Rn 28 ff – Fernández de Bobadilla; Slg 2001, 837, Rn 23 ff – Mac Quen. 144 Vgl nur EuGH, Slg 1989, 3967, Rn 23 ff – Groener. 145 EuGH, Slg 1998, I-47, Rn 21 ff – Schöning; Slg 1998, I-2521, Rn 30 ff – Clean Car.
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treffen.146 So sind Belastungen mit Abgaben verboten, die allgemein erhoben werden, aber (nur) für Wanderarbeitnehmer ohne Gegenleistung bleiben.147 Ein weiterer, bereits mehrfach entschiedener Beispielsfall ist die Befristung von Verträgen für Fremdsprachenlektoren, wenn Verträge für andere Universitätsbedienstete nicht ebenfalls regelmäßig nur auf Zeit abgeschlossen werden.148 Für entsprechende Sonderbehandlungen sind zumeist keinerlei Rechtfertigungsgründe ersichtlich. Der EuGH hält ferner auch ein auf soziale Vergünstigungen (Rn 23 ff) bezogenes Wohnsitzerfordernis für mittelbar diskriminierend;149 dieser Ansatz zwingt in den Fällen, in denen sich aus der Funktion der Vergünstigung kein objektiver Grund für eine territoriale Begrenzung ergibt, zu einem Leistungsexport.150 Gemäß der Rspr des EuGH führt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dazu, dass zugunsten der benachteiligten Wanderarbeitnehmer die Regelungen gelten, die für die übrigen Betroffenen vorgesehen sind; anders als im deutschen Verfassungsrecht kann die Feststellung einer Ungleichbehandlung damit im Ergebnis unmittelbar zur Gewährung von Vergünstigungen führen.151
2. Beschränkungen 41
a) Ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit wie die Warenverkehrsfreiheit ebenfalls ein Beschränkungsverbot enthält, dh alle Behinderungen unabhängig von dem Vorliegen einer Diskriminierung als Eingriffe anzusehen sind, war lange Zeit fraglich und ist auch heute nicht ganz unumstritten. Das beruht im Wesentlichen auf zwei Gründen: Zunächst auf der allgemeinen Schwierigkeit, mittelbare Diskriminierungen und Beschränkungen voneinander abzugrenzen.152 Jedoch besteht zwischen beiden Eingriffsformen zumindest theoretisch ein wesentlicher Unterschied, der eine kategoriale Unterscheidung erlaubt: Für Beschränkungen kommt es auf einen Vergleich mit der Behandlung von anderen Personen gerade nicht an. Ein weiterer, spezifisch auf Art 39 EGV (45 AEUV) bezogener Einwand ist der, dass die Vorschrift die geschützten Rechte im Einzelnen umschreibt, es eines allgemeinen Beschränkungsverbots schon deshalb nicht bedürfe. Demgegenüber ist auf die Konkretisierungsfunktion der Abs 2 und 3 und die allgemeine, umfassend zu schützende Freizügigkeitsgarantie in Abs 1 hinzuweisen (Rn 19 ff).
146 Vgl etwa zur Nichtanrechnung ausländischer Beschäftigungszeiten, Rn 19 ff; zur Erschwerung einer Anrechnung EuGH, Slg 2000, I-10497 ff – ÖGB. 147 Vgl EuGH, Slg 2000, I-4585 ff – Sehrer; Slg 2000, I-1049 ff – Kommission/Frankreich; der EuGH greift allerdings ohne nähere Prüfung auf das Beschränkungsverbot zurück; vgl in Bezug auf die steuerliche Behandlung auch Urt v 16.9.2004, Rs C-400/02, Rn 23 ff – Merida. 148 EuGH, Slg 1989, 1591 ff – Allué I; Slg 1993, I-4309 ff – Allué II; mittelbar diskriminierend sind auch andere arbeitsrechtliche Schlechterstellungen der Lektoren, vgl Slg 2001, I-4923 ff – Kommission/Italien, neuerdings auch EuGH, EuZW 2008, 375, Rn 17 ff – Delay. 149 EuGH, Slg 1997, I-6689, Rn 43 ff – Meints; vgl auch Slg 2004, I-6483 – Barth. 150 Vgl in diesem Zusammenhang zum Bestattungsgeld EuGH, Slg 1996, I-2617 ff – O’Flynn. 151 Vgl EuGH, Slg 1998, I-47, Rn 33 ff – Schöning; Slg 1999, I-345, Rn 57 ff – Terhoeve; → vgl auch § 7 Rn 27. 152 Der EuGH selbst unterscheidet – seinem allgemeinen Begründungsstil entsprechend – nicht eindeutig, greift vielmehr auf seine eigenen Ansätze für die Entwicklung eines Beschränkungsverbots des Öfteren auch dann zurück, wenn es um eine mittelbare Diskriminierung geht, vgl nur EuGH, Slg 2000, I-4585, Rn 32, 34 – Sehrer (s Fn 147).
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Arbeitnehmerfreizügigkeit
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Spätestens nach der berühmten Bosman-Entscheidung ist der Standpunkt des EuGH klar geworden, der Art 39 EGV (45 AEUV) mit allgemeinen Erwägungen als Beschränkungsverbot auslegt. Das kommt in der Formel zum Ausdruck, „dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung von beruflichen Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und solchen Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“153 b) Wie bei anderen Beschränkungsverboten bleibt das Problem, angesichts der Vielfalt möglicher Eingriffe eine Eingrenzung noch oberhalb der Rechtfertigungsebene zu versuchen. Insbesondere wenn bedacht wird, dass auch mittelbar und potentiell wirkende Maßnahmen Eingriffscharakter aufweisen können, erscheint es fraglich, ob auch jede nur entfernt mittelbar wirkende Beeinträchtigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auslösen soll.154 Einen möglichen Ansatz zur Differenzierung könnte zwar nicht die Forderung einer spürbaren Wirkung, aber eine Übertragung der sog Keck-Rechtsprechung155 auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bieten. Dabei ist allerdings eine formale Unterscheidung zwischen Berufszulassungs- und Berufsausübungsregelungen wenig weiterführend.156 Denn es muss, dem Sinn der Keck-Entscheidung entsprechend,157 entscheidend sein, ob die Maßnahme einen Zusammenhang zur grenzüberschreitenden Aufnahme und Ausübung der unselbständigen Erwerbstätigkeit, also dem Zugang zur Beschäftigung, aufweist. Der EuGH hat zwar bis jetzt keinen Versuch zu einer klaren Abgrenzung unternommen, aber in diesem Sinne betont, Beschränkungen seien dann vorbehaltlich einer Rechtfertigung verboten, wenn sie „einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen“.158 Zudem hat er – auch insoweit in Parallele zur Warenverkehrsfreiheit159 – festgestellt, dass sehr „ungewiss und indirekt“ wirkenden Beeinträchtigungen der Eingriffscharakter fehlt.160 In der Sache ging es um einen Abfertigungsanspruch (= Abfindungsanspruch) für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, der Arbeitnehmern dann nicht zustand, wenn sie selbst gekündigt hatten. Nicht nur dem Ergebnis, sondern ebenso dem auf den Zugang abstellenden Begründungsansatz ist zuzustimmen, wenn es auch eines klareren Abgrenzungskriteriums bedürfte, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.161 153 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 94 ff – Bosman; vgl zuvor bereits Slg 1993, I-1663, Rn 32ff – Kraus; vgl auch Slg 2003, I-8219, Rn 95 ff – Burbaud. 154 Das Problem ist aus der Grundrechtsdogmatik wohl bekannt, vgl nur Pieroth/Schlink Grundrechte, 24. Aufl 2008, Rn 238 ff. 155 EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 156 Vgl aber auch Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, 90 ff. 157 Näher dazu Becker EuR 1994, 162 ff. 158 EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 23 ff – Graf; zu dem Zusammenhang (bezogen auf den Verlust von Vergünstigungen der sozialen Sicherheit) bereits Slg 1991, I-1119, Rn 18 ff – Masgio. 159 Vgl nur Becker in: Schwarze, EUV, Art 28 EGV Rn 41 ff. Nicht zutreffend ist die Kritik insofern, als behauptet wird, der Ansatz stamme aus der Zeit „vor Keck“, so aber Randelzhofer/ Forsthoff in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, vor Art 39–55 EGV Rn 114 f. 160 EuGH, Slg 2000, I-493, Rn 25 ff – Graf. 161 Im Schrifttum überwiegt eher die Kritik, die insofern berechtigt ist, als mit einfachen Formeln eine klare Abgrenzung nicht gelingen kann, vgl nur Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, vor Art 39–55 EGV Rn 112 ff.
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Lösung Fall 3: Dass T Arbeitnehmer ist, unterliegt keinen Zweifeln. Fraglich ist die Anwendbarkeit des Art 39 EGV (45 AEUV) nur unter dem Gesichtspunkt des grenzüberschreitenden Sachverhalts. Dafür genügt die Grenzüberschreitung durch T, nicht aber ist erforderlich, dass der Eingriff durch einen anderen Staat als den Heimatstaat erfolgt, und ebenso wenig spielt der jetzige Wohnort des T eine Rolle. Art 39 EGV (45 AEUV) soll nach der Rspr des EuGH „den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern“ und steht deshalb Maßnahmen entgegen, „die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.“ Er umfasst auch das Recht, das Herkunftsland zu verlassen, um sich zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten. Der EuGH stellt fest: „Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden“. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, ob die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge offen oder versteckt diskriminierend geschieht. Auch spielt es keine Rolle, dass die zugrundeliegenden Vorschriften einer Materie angehören, für deren Regelung die Mitgliedstaaten zuständig sind. Denn die Zuständigkeitsverteilung schränkt den Anwendungsbereich des Art 39 EGV (45 AEUV) nicht ein. Da T nur wegen der Auslandsbeschäftigung mehr Sozialversicherungsbeiträge zahlen muss, als wenn er im ganzen Jahr im Inland geblieben wäre, dem höheren Beitrag also auch keine höheren Leistungen gegenüberstehen, liegt ein Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor. Er lässt sich im Übrigen auch nicht durch den Hinweis auf die Praktikabilität der Verwaltung rechtfertigen. Anwendbar sind auch für T die für alle anderen, ganzjährig im Inland sozialversicherten Personen geltenden Vorschriften (insofern entspricht das Ergebnis dem eines Gleichheitsverstoßes, vgl Rn 40).
3. Adressaten 45
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Die Frage, wer Adressat der Grundfreiheiten ist, also durch diese gebunden wird, gehört zur allgemeinen Grundfreiheitsdogmatik: Sie lässt sich sinnvollerweise nur für alle Grundfreiheiten einheitlich beantworten, weil das durch sie aufgeworfene Problem die Auslegung aller Freiheitsrechte berührt. Ihre Beantwortung hängt nämlich wesentlich von der Funktion dieser Rechte und deren Bedeutung für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ab. Insofern kann auf die allgemeinen Ausführungen verwiesen werden (→ § 7 Rn 48 ff). Weil aber wichtige Entscheidungen des EuGH zur Drittwirkung von Grundfreiheiten gerade zu Art 39 EGV (45 AEUV) ergangen sind,162 soll daran an dieser Stelle zumindest
162 Wobei die Relevanz des Art 39 EGV (45 AEUV) nicht aus einem angeblich gegenüber der Warenverkehrsfreiheit erhöhten Freiheitsbezug folgt: Eine solche Differenzierung nach Freiheitsgehalten ist wenig sinnvoll. Wesentliche Bedeutung haben aber Besonderheiten der von der Norm erfassten Lebenssachverhalte: Arbeitsbedingungen werden wesentlich durch Tarifverträge festgelegt, und Arbeitsverhältnisse spielen nicht zufällig in der Diskussion um die Drittwirkung von Grundrechten, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern (wie zB in Italien), eine besondere Rolle. Vgl auch Parpart Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003.
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kurz erinnert werden. Ausgehend von dem Urteil in der Rs Walrave hat der EuGH mehrfach betont, dass auch Eingriffe durch „kollektive Regelungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich“ durch Art 39 EGV (45 AEUV) verboten sein können.163 Während diese Rechtsprechung wohl noch durch die Einräumung von Regelungsmacht an Verbände und vergleichbare Einrichtungen zur Regelung von Beschäftigungsbedingungen erklärt werden kann, ist der EuGH in der Rs Angonese über diesen Ansatz klar hinausgegangen: Ein italienischer Staatsangehöriger hatte, weil er sein Studium in Österreich abschloss, eine Bescheinigung über seine Zweisprachigkeit nicht beibringen können, die von einer privaten Bank gefordert und nur in der Provinz Bozen ausgestellt wurde. Dazu hat der EuGH unter Bezugnahme auf die allgemeine Formulierung des Art 39 EGV (45 AEUV), die Bedeutung der Grundfreiheit und die möglichen Behinderungen durch Private ausgeführt, das in Art 39 EGV (45 AEUV) ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gelte auch für Privatpersonen.164 Umgekehrt können sich Private hinsichtlich vertraglich vorgesehener Eingriffe ebenfalls auf die anerkannten Rechtfertigungsgründe stützen.165
III. Rechtfertigung 1. Geschriebene Schranken Die in Art 39 III EGV (45 III AEUV) genannten Rechte können aus „Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ beschränkt werden. Ihre Stellung scheint dafür zu sprechen, diese Rechtfertigungsgründe nicht auf das Diskriminierungsverbot in Art 39 II EGV (45 II AEUV) zu erstrecken,166 insbesondere wenn berücksichtigt wird, dass nach stRspr des EuGH Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind.167 Die besseren Argumente führen jedoch zu dem anderen Ergebnis.168 Die Freizügigkeit ist eine einheitliche Grundfreiheit (Rn 19 ff), womit unterschiedliche Rechtfertigungsmöglichkeiten je nach Ausprägung nicht vereinbar sind. Zudem sind die in Art 39 III EGV (45 III AEUV) ausdrücklich genannten Gründe auf alle Grundfreiheiten anwendbar,169 und nach allgemeiner Grundfreiheitsdogmatik ist insofern nicht zwischen Beschränkungen und Diskriminierungen zu unterscheiden. Dementsprechend können Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit alle Formen von Eingriffen rechtfertigen.170 In der Praxis spielen sie aber vor allem eine Rolle, wenn es um die Beendigung des Aufenthalts,
163 EuGH, Slg 1974, 1405, Rn 16 ff – Walrave; Slg 1995, I-4921, Rn 84 ff – Bosman. 164 EuGH, Slg 2000, I-4139, Rn 30 f, 36 f – Angonese. Ob der EuGH die Drittwirkung auf das Diskriminierungsverbot beschränken wollte, bleibt fraglich. Dazu Schweitzer FS Musielak, 2004, 523 ff. 165 EuGH, Slg 1998, I-2521, Rn 24 ff – Clean Car. 166 So ua Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 92; Oppermann ER § 25 Rn 29; Wölker/Grill in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 122. 167 Vgl nur EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 21 ff – Calfa. 168 So auch Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 117 ff; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, Art 39 EGV Rn 209 f. 169 Vgl nur Streinz ER, Rn 820 ff. 170 Enger, weil die offenen Diskriminierungen für nicht rechtfertigungsfähig haltend, Schneider/ Wunderlich in: Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 117 ff.
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insbesondere die Ausweisung und Abschiebung von Arbeitnehmern und deren Angehörigen geht.171 Wie bereits erwähnt, sind die Rechtfertigungsgründe eng auszulegen. Es handelt sich um autonome Begriffe, für deren Ausfüllung den Mitgliedstaaten wegen des Bezugs auf nationale Interessen ein Einschätzungsspielraum zusteht. Für die öffentliche Ordnung wird „eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, gefordert.172 Die Bezugnahme auf die äußere oder innere Sicherheit muss dem Schutz des Mitgliedstaates bzw der für erforderlich gehaltenen Einrichtungen und wichtiger öffentlicher Dienste dienen.173 Im Anwendungsbereich der Freizügigkeit ist vor allem wichtig, dass die RL 2004/38 (Fn 5) insofern Konkretisierungen enthält,174 die man je nach Auslegung des Primärrechts auch als Schranken-Schranken ansehen könnte. Deren Art 27 I bestimmt, dass sich der ordre public-Vorbehalt nicht auf „wirtschaftliche Zwecke“ bezieht, und nach Art 27 II setzt die Berufung auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit ein Anknüpfen an das „persönliche Verhalten“ des Betroffenen voraus.175 Die Krankheiten, welche die öffentliche Gesundheit gefährden können, sind in Art 29 der Richtlinie aufgeführt.176
2. Ungeschriebene Schranken 49
Fall 4: (EuGH Slg 2000, I-2681 ff – Lehtonen) Der finnische Profi-Basketballer L, der in Finnland gespielt hatte, wurde nach Beendigung der finnischen Meisterschaft Anfang April von einem belgischen Verein verpflichtet, um die Mannschaft im Endkampf um die belgische Meisterschaft zu verstärken. Diese Verpflichtung bezog sich nur auf die Meisterschaft-Play-offs (dh die Spiele zur Ermittlung des Meisters unter den in der ersten Phase der Ligaspielen punktbesten Mannschaften) und war erst nach dem vom nationalen belgischen Basketball-Verband festgesetzten Stichtag (28.2.) für einen Transfer ausländischer Spieler aus Europa erfolgt. Für Spieler aus dem übrigen Ausland gilt ein etwas späterer Stichtag (31.3.). Deshalb wurde der Einsatz von L mit Punktabzug bestraft und der Verband drohte zusätzliche Sanktionen für den Fall an, dass L noch weitere Spiele bestreiten sollte. Sowohl der Verein als auch L halten die Bestrafung für unvereinbar mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die auch im Sport gelte. Der Verband wendet demgegenüber ein, für den Transfer innerhalb Belgiens bestünden sogar, was sachlich stimmt, strengere Transferregelungen. Zudem sei nicht die Beschäftigung bei dem Verein, sondern nur der Einsatz der zu spät verpflichteten Spieler verboten. Wenn auf Stichtagsregelungen, die auch vom internationalen Basketballverband vorgesehen seien, verzichtet würde, könnte der sportliche Wettkampf unzulässig verzerrt werden.
171 Vgl näher nur Renner Ausländerrecht in Deutschland, 1998, 199 ff. 172 EuGH, Slg 1977, 1999, Rn 33/35 – Bouchereau; Slg 1982, 1665, Rn 8 ff – Adoui; Slg 2002, I-10981 ff – Olazabal = JK 5/03, EGV Art 39/3. 173 Vgl nur EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 35 ff – Campus Oil; Slg 1991, I-4621, Rn 22 ff – Richardt = JK 7/92, EWGV Art 30, 36/1. 174 Vgl zu den verfahrensrechtlichen Mindestanforderungen oben, Rn 19 ff. 175 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung nur EuGH, Slg 1974, 1337, Rn 13 ff – van Duyn (allerdings äußerte sich der EuGH dort zu der RL 64/221, die aber dieselben Vorschriften enthält (Fn 12)). Danach genügen insbesondere strafrechtliche Verurteilungen für eine Aufenthaltsbeendigung nicht. 176 Allerdings zT unter Verweisung auf andere, änderbare Normen.
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Arbeitnehmerfreizügigkeit
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Da Art 39 EGV (45 AEUV) ebenso wie andere Grundfreiheiten vor Beschränkungen und mittelbaren Diskriminierungen schützen kann, die Schwelle für Eingriffe also relativ niedrig ist, bedarf es wegen der Vielfalt der möglicherweise berührten Rechtsgüter einer Vervollständigung der Rechtfertigungsgründe. Eine Rechtfertigung ist dementsprechend durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses möglich.177 Das gilt jedenfalls für Beschränkungen178 und für versteckte Diskriminierungen179, nicht aber nach üM für offene Diskriminierungen.180 Ebenfalls als ungeschriebene Schranken können die Grundrechte gelten.181 Auch wenn die Umschreibung „zwingend“ („imperative“, „mandatory“) anderes vermuten lässt, ist der Kreis der schützenswerten Rechtsgüter weit gefasst. Beispiele aus der Rechtsprechung beziehen sich auf den Schutz vor der missbräuchlichen Führung akademischer Grade182, den Schutz des Sports, insbesondere des sportlichen Wettbewerbs – auch unter Berücksichtigung eines Wettbewerbs unter Nationen, was im Ergebnis zu einem speziellen Schutz für Nationalmannschaften führt.183 Allgemeinere Güter sind die Aufrechterhaltung öffentlicher Einrichtungen iwS, etwa funktionierender Steuerrechtsoder Sozialleistungssysteme,184 von kollektiven Verhandlungssystemen oder Universitäten185, ebenso der Schutz der Arbeitnehmer und der Verbraucher sowie offensichtlich allgemein einer ordnungsgemäßen Berufsausübung186. Hingegen ist die Berufung auf rein wirtschaftliche Gründe, praktische Schwierigkeiten187 oder eine Verwaltungsvereinfachung188 grundsätzlich ausgeschlossen. Eine weitere Aufzählung erübrigt sich an dieser Stelle, weil sich die in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe ohnehin nicht abschließend nennen lassen.189 Zudem handelt es sich bei den zwingenden Allgemeininteressen um für alle Grundfreiheiten relevante Rechtfertigungsgründe, die nach allgemeinen und übergreifenden Kriterien zu bestimmen sind.190
177 Vgl auch § 7 Rn 101 f; die dogmatische Einordnung ist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vollkommen unbestritten. 178 Vgl nur EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. 179 Vgl nur EuGH, Slg 1996, I-2617 ff – O’Flynn. 180 S dazu auch oben Rn 37. Das dürfte immer noch dem Stand der Rspr entsprechen, wenn auch Durchbrechungen feststellbar sind (der Fall Bosman betraf etwa spezielle Ausländerklauseln) und einiges für die Gegenmeinung spricht; vgl nur Becker in: Schwarze, EUV, Art 30 EGV Rn 44 f. 181 EuGH, Slg 2003, I-5659 Rn 65 ff – Schmidberger. 182 EuGH, Slg 1993, I-1663 ff – Kraus. 183 EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. 184 Vgl etwa EuGH, Slg 1992, I-249 ff – Bachmann. 185 EuGH, Slg 1993, I-4309 ff – Allué II. 186 Zumindest in der Sache verfährt der EuGH hier offensichtlich großzügig, wenn er etwa bei Forderung bestimmter Qualifikationen das geschützte Rechtsgut nicht näher benennt, was allerdings auch daran liegen kann, dass in den entschiedenen Fällen der Eingriff zumeist ohnehin unverhältnismäßig ist, vgl nur Slg 2000, I-4139 ff – Angonese. 187 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1095 ff – Kommission/Griechenland. 188 Offengelassen, aber so angedeutet auch für die Erleichterung der Steuererhebung in EuGH, Slg 2000, I-3337, Rn 25 ff – Zurstrassen. 189 Zu fordern ist nur eine gemeinschaftsrechtliche Anerkennung, vgl Becker in: Schwarze, EUV, Art 30 EGV Rn 37 f. 190 Vgl für die Personenverkehrsfreiheiten nur EuGH, Slg 1992, I-3351 ff – Ramrath; Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard.
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3. Schranken-Schranken 52
Eine Berufung auf bestimmte Rechtsgüter als Rechtfertigungsgründe scheidet aus, wenn deren Schutz bereits abschließend gemeinschaftsrechtlich geregelt ist (a). Für alle übrigen Fälle, und das sind wohl nach wie vor die meisten, muss der Eingriff verhältnismäßig sein (b).
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a) Sieht man von der sekundärrechtlichen Konkretisierung der geschriebenen Schranken ab (Rn 47), finden sich die wichtigsten Schranken für eine mitgliedstaatliche Bestimmung des Schutzes von Rechtsgütern im Bereich der Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Für Rechtsanwälte existieren berufsbezogene Harmonisierungsvorschriften (sektorale RLen),191 zum anderen horizontale Vorschriften für die Anerkennung von Diplomen und sonstigen Befähigungsnachweisen.192 Sie beziehen sich auch auf unselbständige Tätigkeiten und sind ua auf Art 40 EGV (46 AEUV) gestützt, erfassen aber keineswegs alle Berufe.
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b) Verhältnismäßig sind Eingriffe nur dann, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen sind; insofern gelten für Art 39 EGV (45 AEUV) keine Besonderheiten (→ § 7 Rn 109). Was die Kontrolldichte angeht, ist allgemein zu berücksichtigen, dass in manchen Materien – wie der direkten Besteuerung oder der sozialen Sicherheit – nach wie vor die Regelungszuständigkeiten in erster Linie bei den Mitgliedstaaten liegen. Diesen obliegt die Bestimmung des Schutzniveaus.193 Das führt zwar nicht zu Bereichsausnahmen, sollte aber den Mitgliedstaaten erlauben, plausible Beschränkungen aufrechtzuerhalten, um die bestehenden nationalen Einrichtungen nicht zu gefährden. An dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit scheitert häufig eine Rechtfertigung von mittelbaren Diskriminierungen (Rn 38), wenn etwa im Ausland erworbene Sprachkenntnisse194 oder berufliche, durch die Harmonisierung nicht erfasste Qualifikationen195 nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. Auch Wohnsitzanforderungen sind zumeist zumindest nicht erforderlich.196 Selbst wenn ein Schutz als solcher verhältnismäßig ist, darf er nicht mit unverhältnismäßigen Sanktionen durchgesetzt werden.197 Gerade auch für ausländerrechtliche Maßnahmen wie Ausweisung und Abschiebung gilt, dass sie
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191 Vgl RL 98/5 ABl 1998 L 77/36 und RL 77/249 ABl 1977 L 78/17. Die übrigen sektoralen RL für den Bereich der medizinischen Berufe und der Architekten wurden in der RL 2005/36 (Fn 201) zusammengefasst und mit Wirkung v 20.07.2007 aufgehoben; Nachweise bei Schlag in: Schwarze, EUV, Art 47 EGV Rn 13 ff. 192 Genauer: Die RL 89/48, ABl 1989 Nr L 18/16 (Hochschuldiplome); RL 92/51; RL 92/51, ABl 1992 Nr L 209/25 (2. HochschuldiplomRL); RL 99/42, ABl 1999 Nr L 201/77 (Befähigungsnachweise). Diese Einzelrichtlinien wurden mit Wirkung vom 20.07.2007 aufgehoben und zusammengefasst durch die RL 2005/36, ABl 2005/22 (Berufsqualifikationen). 193 Das gilt allgemein, so dass unterschiedlich hohe Anforderungen in den Mitgliedstaaten nicht per se unverhältnismäßig sind, vgl EuGH, Slg 1999, I-7289, Rn 34 ff – Zenatti. 194 Vgl EuGH, Slg 1989, 3967, Rn 23 f – Groener; Slg 2000, I-4139, Rn 44 ff – Angonese. 195 Vgl EuGH, Slg 1999, I-4773, Rn 29 ff – Fernández de Bobadilla; näher zur Vergleichsprüfung, bezogen auf Art 43 EGV, Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou. 196 Vgl etwa zu Bewachungsunternehmen im Hinblick auf die Überprüfung des Personals EuGH, Slg 2000, I-1221, Rn 32 f – Kommission/Belgien; zT ungeeignet, zT nicht erforderlich für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Geschäftsführers, Slg 1998, I-2521, Rn 34 ff – Clean Car. Eine bereits in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Zulassung darf eine weitere Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat nicht ausschließen, vgl etwa Slg 1992, I-3351 ff – Ramrath. 197 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-6207, Rn 44 ff – Wijsenbeek.
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Arbeitnehmerfreizügigkeit
§ 9 III 3
in angemessenem Verhältnis zu den von den Betroffenen begangenen Verstößen stehen müssen.198 Lösung Fall 4: Über den Fall L hatte der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens zu entscheiden. Das Urteil ist schon deshalb lesenswert, weil es die Prüfung des Art 39 EGV (45 AEUV) und die dabei immer wieder auftretenden Standardprobleme beispielhaft nachvollzieht. (1) Zum Schutzbereich ist zunächst noch einmal zu wiederholen, dass für den Sport keine Bereichsausnahme besteht. Entscheidend ist nur, dass L eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, und es sich dabei auch um eine „tatsächliche und echte“ Tätigkeit handelt, „die keinen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt“. Das ist bei einem Profisportler unzweifelhaft. L ist auch im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, also weisungsgebunden und gegen Vergütung tätig geworden. Die Freizügigkeit garantiert nicht nur den Abschluss des Arbeitsvertrags, sondern auch die Ausübung der Tätigkeit; selbst wenn das Verbot nur an die Vereine gerichtet ist, betrifft es in der Sache doch die Beschäftigungsmöglichkeiten der Spieler. Der Einwand, verboten sei nur der Einsatz, geht also ins Leere. (2) Adressaten des Art 39 EGV (45 AEUV) sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Verbände, die durch kollektive Vereinbarungen die Berufstätigkeit regulieren; weitere Ausführungen zur Drittwirkung erübrigen sich. Was den Eingriff angeht, so liegt eine offene, an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Diskriminierung nicht vor. Auch eine versteckte Diskriminierung scheidet angesichts der Besserstellung von Transfers aus dem Ausland aus. Art 39 EGV (45 AEUV) verbietet aber auch nicht gerechtfertigte Beschränkungen der Freizügigkeit. Der EuGH stellte dazu fest: „Gleichwohl kann die fragliche Regelung die Freizügigkeit von Spielern, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen, dadurch einschränken, dass sie es belgischen Vereinen untersagt, Basketballspieler aus anderen Mitgliedstaaten bei Meisterschaftsspielen einzusetzen, wenn diese Spieler erst nach einem bestimmten Zeitpunkt verpflichtet wurden. Diese Regelung bildet damit ein Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.“ (3) Zu prüfen bleibt eine Rechtfertigung. Diese kann sowohl auf die geschriebenen als auch die ungeschriebenen Schranken des Art 39 EGV (45 AEUV) gestützt werden. Für eine Beeinträchtigung der ausdrücklich geschützten Rechtsgüter liegen keine Anhaltspunkte vor. Zu den schützenswerten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zählt hingegen auch die Sicherstellung des „geordneten Ablaufs sportlicher Wettkämpfe“. Der Eingriff muss aber verhältnismäßig sein. Da späte Transfers den Verlauf der Meisterschaft verzerren und die Vergleichbarkeit der zuvor erzielten Ergebnisse verhindern können, sind sie zur Herstellung gleicher Bedingungen geeignet. Ob die konkreten Transferregelungen auch erforderlich sind, blieb jedoch zweifelhaft. Die Beurteilung hängt wesentlich vom gewählten Zeitpunkt und dessen Bedeutung für den Verlauf der Meisterschaft ab. Im vorliegenden Fall ergab sich, dass der Stichtag 28.2. nur für Spieler aus der europäischen Zone galt, für im übrigen Ausland eingesetzte Spieler aber der 31.3. Diese Differenzierung legt eine Unverhältnismäßigkeit der Beschränkung für die europäische Zone nahe, sofern das nationale Gericht nicht auf sachliche (auf die Gefährdung des sportlichen Wettbewerbs bezogene) Gründe für die unterschiedlichen Stichtage stoßen sollte.
198 Es bedarf also einer Einzelfallprüfung, die auch von der RL 64/221 (Fn 12) gefordert wird, vgl dazu EuGH, Slg 1999, I-11 ff – Calfa. An die Missachtung von Förmlichkeiten dürfen keine schwerwiegenden Folgen geknüpft werden, vgl Scheuer in: Lenz/Borchardt EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 65 f.
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§ 10 Niederlassungsfreiheit Christian Tietje Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1991, I-2357 ff – Vlassopoulou; Slg 1991, I-3956 ff – Factortame = JK 6/92, EWGV Art 52/2; Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard; Slg 1997, I-3143 ff – VT4; Slg 1998, I-6717 ff – Kommission/Spanien; Slg 1999, I-1459 ff – Centros; Slg 1999, I-2835 ff – Pfeiffer; Slg 1999, I-3289 ff – Meeusen; Slg 1999, I-11 ff – Calfa; Slg 2002, I-9919 ff – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155 ff – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4; DVBl 2004, 551 – Hughes de Lasteyrie du Saillant = JK 9/04, EGV Art 43/5; EuGH, Slg 2007, I-10779 ff – Viking; EuZW 2009, 75 – Cartesio. Schrifttum: Ego Europäische Niederlassungsfreiheit der Kapitalgesellschaft und deutsches Gläubigerschutzrecht, 2007; Jestädt Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftskollisionsrecht, 2005; Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000; Leible/Hoffmann „Überseering“ und das (vermeintliche) Ende der Sitztheorie, RIW 2002, S 925 ff; Mülbert/ Schmolke Die Reichweite der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften – Anwendungsgrenzen der Art 43 ff EGV bei kollisions- und sachrechtlichen Niederlassungshindernissen, ZVglRWiss 100 (2001), S 233 ff; Nachbaur Niederlassungsfreiheit: Geltungsbereich und Reichweite des Art 52 EGV im Binnenmarkt, 1999; Pasternacki Zur Abgrenzung von Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit bei Niederlassungen mit Teilfunktion, 2000; Schnichels Reichweite der Niederlassungsfreiheit. Dargestellt am Beispiel des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts, 1995; Unzicker Niederlassungsfreiheit der Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union nach der Centros- und der Überseering-Entscheidung des EuGH, 2004; von Halen Das Gesellschaftsstatut nach der CentrosEntscheidung des EuGH: kollisionsrechtliche Tragweite, materiellrechtliche Folgen und gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, 2001.
I. Einleitung 1. Grundlegende Strukturen und Probleme der Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten 1
Der Binnenmarkt als zusammen mit dem Gemeinsamen Markt 1 zentrales Integrationsziel und -konzept der EG/EU umfasst nach Art 3 I lit c EG (26 II AEUV) „die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten“. Von der Niederlassungsfreiheit ist keine Rede. Allerdings finden sich die Vorschriften über „das Niederlassungsrecht“ dann in Titel III des EGV („Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr“). Damit gehört die Niederlassungsfreiheit systematisch als Personenverkehrsfreiheit 2 zu den Grundfreiheiten. Durch den AEUV (Dritter Teil, Titel IV, Kap 2 – „Das Niederlassungsrecht“) wird dies nun auch klar herausgestellt. Entspr der Bedeutung der Grundfreiheiten in der Gemeinschaftsrechtsordnung insg wies der EuGH daher wiederholt darauf hin, dass die Niederlassungsfreiheit einen „fundamentalen Grundsatz des Vertrages“ bzw „eines der Grund-
1 Z Verhältnis v Binnenmarkt und Gemeinsamem Markt statt vieler v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 14 EGV Rn 6 ff mwN. 2 Zur Einordnung der Niederlassungsfreiheit als Personenverkehrsfreiheit v Bogdandy in: Grabitz/ Hilf, EUV/EGV, Art 14 EGV Rn 9.
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prinzipien des Vertrages“ darstellt.3 Die fehlende Erwähnung der Niederlassungsfreiheit in Art 3 I lit c EGV hatte schon vor diesem Hintergrund keine weitere Bedeutung, was sich an der expliziten Nennung des Niederlassungsrechts in Art 49 ff AEUV nunmehr auch explizit im Vertrag bestätigt. Das materiellrechtliche Anliegen der Garantie der Niederlassungsfreiheit in Art 43 EGV (49 AEUV) erschließt sich, wenn ein Blick auf die Funktion dieser Rechtsgarantie im Integrationskonzept des EGV geworfen wird. Zentrales Anliegen des Gemeinsamen Marktes (Art 2 f EGV) und des Binnenmarktes (Art 14 EGV/26 AEUV) ist es, den Markt- bzw heute Unionsbürgern (Art 17 EGV4/20 AEUV) ökonomisch rationale Entscheidungen unter weitgehendem Ausschluss staatlicher Einflussnahme zu ermöglichen.5 Im grenzüberschreitenden, den Gemeinsamen Markt und Binnenmarkt territorial umfassenden Raum (vgl Art 299 EGV/349 AEUV), kann diese Zielsetzung nur verwirklicht werden, wenn die – weitgehende – Freiheit der wirtschaftlichen Faktormobilität gesichert ist. Ökonomisch rationale Entscheidungen sollen also darüber bestimmen, wo – im territorialen Sinne – sich die Produktionsfaktoren Arbeit bzw Organisation sowie Kapital ansiedeln. Die Wirtschaftssubjekte sollen dementsprechend nur auf der Grundlage der ihrer Ansicht nach besten Standortbedingungen ihre wirtschaftlich relevanten Marktentscheidungen treffen dürfen.6 Dabei verlangen die Grundfreiheiten iSd Binnenmarktkonzeptes nach Art 14 EGV (26 AEUV) allerdings nicht eine vollkommene Aufhebung rechtlicher Grenzen in der Gemeinschaft bzw zwischen den Mitgliedstaaten. In dem weiterhin und notwendig rechtlich segmentierten Binnenmarkt soll – abgesehen von Rechtsangleichungsmaßnahmen zB nach Art 44 EGV (50 AEUV) und 95 EGV (114 AEUV) – zunächst nur der freie Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gewährleistet sein.7 Ursprünglich erfolgte die Verwirklichung der Grundfreiheiten nur über das Bestimmungslandprinzip. Dieses im Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV/18 AEUV; → näher dazu § 13 Rn 2 ff) zum Ausdruck kommende Prinzip gewährleistet „nur“, dass Waren, Personen etc im Bestimmungsland nicht gegenüber den vergleichbaren inländischen Waren, Personen etc benachteiligt werden; es handelt sich insofern um eine Inländergleichbehandlungsgarantie, der es nicht um rechtliche Regelungen des Herkunftslandes geht. Dieses ursprüngliche Konzept änderte sich erst mit der Herausbildung des Herkunftslandprinzips.8 Es besagt in seiner durch die Dogmatik zu den Beschränkungsverboten begründeten (→ § 7 Rn 28 f) heutigen Dimension, dass Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital zwar den rechtlichen Anforderungen des Bestimmungslandes entsprechen müssen, um ihre Verkehrsfähigkeit zu begründen, es hierzu aber nicht auf die
3 EuGH, Slg 1974, 631, Rn 42 f – Reyners; Slg 1976, 1185, Rn 16 – Watson; Slg 1993, I-1663, Rn 29 – Kraus; w Nachw b Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 4. 4 Zur ursprünglichen Marktbürgerschaft und der heutigen, um das politische Moment erweiterten Unionsbürgerschaft statt vieler Hatje in: Schwarze Art 17 EGV Rn 1; Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 17 EGV Rn 19 ff. 5 IdS a v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 14 EGV Rn 10; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, 28. 6 Lackhoff (Fn 5) S 28 f; Oppermann ER, § 26 Rn 6. 7 Mülbert/Schmolke ZVglRWiss 100 (2001), 233, 238 mwN. 8 Zur Bedeutung des Herkunftslandprinzips für die Verwirklichung des Binnenmarktes bzw der Grundfreiheiten statt vieler Hatje in: Schwarze, Art 14 EGV Rn 8.
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spezifische Erfüllung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Bestimmungslandes ankommt. Vielmehr ist seit der Cassis-Entscheidung des EuGH9 anerkannt, dass Regelungen der Mitgliedstaaten, die trotz ihrer unterschiedslosen Anwendung den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen oder Kapital beschränken, einer gesonderten Rechtfertigung bedürfen. Hieraus folgt, dass zunächst die Beschaffenheit etc der genannten ausländischen ökonomischen Faktoren anzuerkennen ist. Es besteht mithin eine widerlegbare Vermutung für die Verkehrsfähigkeit, wenn die diesbezüglichen rechtlichen Voraussetzungen im Herkunftsland gegeben sind.10 Durch diesen Mechanismus, der dogmatisch, wie bereits hervorgehoben, auf die Lehre von den Beschränkungsverboten zurückzuführen ist, wurde das Bestimmungslandprinzip im Gemeinsamen Markt deutlich weiterentwickelt. Ausgehend von dieser allgem, den freiheitlichen und damit wohlfahrtssteigernden Erkenntnissen und Konsequenzen der Theorie komparativer Kostenvorteile11 folgenden Ratio der Grundfreiheiten insg, lässt sich in einem weiteren Schritt die Zielsetzung der Niederlassungsfreiheit bestimmen. Zunächst soll die Niederlassungsfreiheit allgem natürlichen und juristischen Personen die Möglichkeit eröffnen, ohne Benachteiligung (Diskriminierung) gegenüber Inländern eine Niederlassung in jedem Mitgliedstaat zu begründen. Entsprechend der grundsätzlichen Ratio der Grundfreiheiten soll so eine optimale Ressourcenallokation aufgrund freier unternehmerischer Entscheidung erreicht werden. In Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit bleibt es dabei dem Wirtschaftssubjekt überlassen, ob nur die Erbringung der einzelfallbezogenen Dienstleistung oder die teilweise oder vollständige Verlagerung der Geschäftsaktivitäten iS einer Niederlassung erfolgt.12 Zunächst wurde auch bei der Niederlassungsfreiheit historisch bedingt nur auf das Bestimmungslandprinzip abgestellt, wonach es nur darauf ankommt, dass eine ausländische natürliche oder juristische Person im Rahmen der Niederlassung nicht gegenüber entsprechenden Inländern benachteiligt wird.13 Diese ausschließliche Bezugnahme auf das Bestimmungslandprinzip hat sich aber aufgrund der Fortentwicklung der Grundfreiheiten insg als Beschränkungsverbote zwischenzeitlich relativiert; hierauf ist mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit noch zurückzukommen (Rn 53). Das damit auch bei der Niederlassungsfreiheit in den Vordergrund tretende Herkunftslandprinzip ist hier allerdings nicht unproblematisch. Wesentlich intensiver als bei den anderen Grundfreiheiten stellt sich nämlich bei der Niederlassungsfreiheit das Problem, dass die Verwirklichung der Niederlassung untrennbar mit zahlreichen, zB gesellschafts- und steuerrechtlichen Vorgaben des Bestimmungslandes verbunden ist. Die Begründung einer Niederlassung ist nicht nur ein rein ökonomischer Vorgang im Marktgeschehen, sondern regelmäßig ein komplexes rechtliches Geschehen. Die Niederlassung führt insofern zwingend zu einer Teil- oder Vollintegration des Niederlassenden in die Rechtsordnung des Bestimmungslandes. Vor diesem Hintergrund steht die unbesehene Übernahme der grundfreiheitlichen Dogmatik 9 EuGH, Slg 1979, 649 ff – Cassis de Dijon. 10 Zu diesem Konzept der gegenseitigen Anerkennung als Folge der Cassis-Rspr statt vieler Rönck Technische Normen als Gestaltungsmittel des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1995, 81 ff; Dauses in: HdBEUWirtschR, C.I. Rn 96 ff. 11 Hierzu statt vieler Tietje Normative Grundstrukturen der Behandlung nichttarifärer Handelshemmnisse in der WTO/GATT-Rechtsordnung, 1998, 76; Siebert Weltwirtschaft, 1997, 173 ff. 12 Statt vieler Lackhoff (Fn 5) S 29 f. 13 Umfassend zu dieser Dimension der Niederlassungsfreiheit Lackhoff (Fn 5) S 214 ff; im Überbl a Frenz Grundfreiheiten Rn 1848 ff.
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zu umfassenden Beschränkungsverboten vor dem Problem, dass damit eine radikale Liberalisierung der für die Niederlassung relevanten nationalen Rechtsregeln der Mitgliedstaaten verbunden wäre. Dass die Niederlassungsfreiheit gem Art 43 EGV (49 AEUV) nicht diese weitreichenden Wirkungen entfaltet und entfalten kann, wird kaum zu bezweifeln sein.14 Wo allerdings im Einzelnen die Grenze zwischen Bestimmungsland- und Herkunftslandprinzip verläuft und wie diese dogmatisch einzuordnen ist, stellt Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung vor große Probleme. Die wesentlichen rechtlichen Probleme, die sich bei der Auslegung und Anwendung der Art 43 ff EGV (49 ff AEUV) stellen, sind auf diese Grundproblematik zurückzuführen.
2. Das Zusammenspiel von gemeinschafts- und völkerrechtlicher Niederlassungsfreiheit Bevor die dogmatische Struktur der gemeinschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit näher betrachtet wird, ist es notwendig, einen Blick auf das Zusammenspiel mit entspr Rechtsverbürgungen im Völkerrecht zu werfen. Die Niederlassungsfreiheit hat in Europa bereits frühzeitig verschiedene völkervertragsrechtliche Regelungen erfahren. Das geschah zunächst durch zahlreiche bilaterale Niederlassungsverträge. Diese blieben in ihrer inhaltlichen Reichweite allerdings deutlich hinter den Rechtsverbürgungen des Art 43 EGV (49 AEUV) zurück, da sie regelmäßig mit Vorbehalten im Hinblick auf die Inländergleichbehandlung versehen waren und zudem dem Gegenseitigkeitserfordernis unterlagen.15 Auch das im Rahmen des Europarates geschlossene Europäische Niederlassungsabkommen v 13 Dezember 195516 ist mit verschiedenen Ausnahmeregelungen versehen, wodurch die Wirksamkeit seiner Rechtsgarantien deutlich beeinträchtigt wird.17 Eine bes Rechtslage ist mit Blick auf das Assoziationsabkommen der EG mit der Türkei (→ § 9 Rn 32) 18 und die auf der Grundlage dieses Abkommens ergangenen Beschlüsse des Assoziationsrates gegeben. Das Abkommen, seine ZP und die Assoziationsratsbeschlüsse sind zwar „integrierender Bestandteil des Gemeinschaftsrechts“,19 allerdings ist damit noch nicht zwingend die Möglichkeit türkischer Staatsangehöriger eröffnet, sich unmittelbar auf die entsprechenden Rechtsnormen zu berufen. Die hierzu erforderliche unmittelbare Anwendbarkeit wird vom EuGH für das Assoziationsabkommen, das ua Regelungen zur Niederlassungsfreiheit enthält (Art 13), abgelehnt.20 Bejaht wird von ihm die unmittelbare Anwendbarkeit aber für Art 41 I des ZP zu dem Abkommen, der die Einf neuer Beschränkung für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit verbietet.21 Nach dieser Rspr des EuGH kann sich für einen türkischen Staatsangehörigen, der sich bereits rechtmäßig in einem Mitgliedstaat zur Ausübung der Niederlassungsfreiheit aufhält, ein Auf-
14 Zu dem angesprochenen Spannungsverhältnis statt vieler Mülbert/Schmolke ZVglRWiss 100 (2001), 233, 238 ff. 15 Einzelheiten bei Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorbem Art 43–48 EGV Rn 28 ff. 16 BGBl II 1959, 997. 17 Hierzu statt vieler Schlag in: Schwarze, Art 43 EGV Rn 7; Fikentscher Wirtschaftsrecht, Bd I, Weltwirtschaftsrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht 1983, S 138. 18 ABl 1964 217/3685. 19 S zB EuGH, Slg 1987, 3719, Rn 7 – Demirel; Slg 1990, I-3461, Rn 9 – Sevince = JK 91, EWGV Art 177/1. 20 EuGH, Slg 1987, 3719, Rn 25 – Demirel. 21 EuGH, Slg 2000, I-2927, Rn 46 ff – Savas.
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enthaltsrecht ergeben.22 Darüber hinausgehende, das Niederlassungsrecht des Assoziationsabkommens konkretisierende Beschlüsse des Assoziationsrates liegen indes noch nicht vor; bislang wurden nur Verhandlungen zu einer fortschreitenden Liberalisierung des Dienstleistungssektors vereinbart.23 Über den territorialen Anwendungsbereich des EGV hinausgehend finden sich Rechtsverbürgungen zur Niederlassungsfreiheit auch in den sog Europa-Abkommen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL). Sie enthalten alle ua ein Verbot diskriminierender Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, dem unmittelbare Anwendbarkeit zukommt.24 Die entspr Bestimmungen, die auch ein Einreise- und Aufenthaltsrecht begründen,25 bleiben nach dem Beitritt der Staaten zur EU relevant, soweit in der Beitrittsakte für eine Übergangszeit im Freizügigkeitsbereich Abweichungen vom umfassenden Schutzniveau der Grundfreiheiten des EGV zulässig sind.26 Eine weitere Dimension des Niederlassungsrechts hat sich mit dem In-Kraft-Treten des Übk zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Allgem Übk über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) als integralem Bestandteil des WTO-Übereinkommens ergeben. Das GATS liberalisiert Dienstleistungen ua mit Blick auf die „kommerzielle Präsenz“ in einem Staat (vgl Art I:2 lit c GATS). Diese wird in Art XXVIII lit d GATS definiert als „jede Art geschäftlicher oder beruflicher Niederlassung durch – unter anderem – i) die Errichtung, den Erwerb oder die Fortführung einer juristischen Person oder ii) die Errichtung oder Fortführung einer Zweigstelle oder einer Repräsentanz im Hoheitsgebiet eines Mitglieds zum Zwecke der Erbringung einer Dienstleistung“. Die damit umfassend geregelte Niederlassungsfreiheit des GATS27 gilt allerdings nur in den Dienstleistungsbereichen, in denen die WTO-Mitglieder ausdrückliche Liberalisierungsverpflichtungen eingegangen sind (vgl Art XVI und XX GATS). Zudem besteht die Möglichkeit, ua Restriktionen im Bereich der rechtlichen Ausgestaltung von Unternehmensformen und der Kapitalbeteiligung vorzusehen (Art XVI:2 lit e und f GATS). Die EG und ihre Mitgliedstaaten haben sich in zahlreichen Dienstleistungsbereichen einer ua das Niederlassungsrecht umfassenden Liberalisierungsverpflichtung iSv Art XVI GATS unterworfen, zugleich aber auch in einzelnen Bereichen Ausnahmen festgeschrieben.28
22 Einzelheiten hierzu bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 33 mwN. 23 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 35. 24 EuGH, Slg 2001, I-6369, Rn 30 ff – Gloszczuk; Slg 2001, I-6557 – Barkoci und Malik; Slg 2001, I-8615, Rn 26 ff – Jany = JK 7/02, EGV Art 43/2. 25 Hierzu und zu den Grenzen s Schlussanträge GA Maduro, EuGH, Rs C-327/02, Rn 24 ff – Panayotova. 26 Zu Einzelheiten s die Anh V ff Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die EU begründenden Verträge, ABl EG Nr L 236 v 23.9.2003, S 803 ff. 27 Hierzu a Koehler Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, 93 f mwN. 28 Einzelheiten sind in der entspr Verpflichtungsliste der EG und ihrer Mitgliedstaaten niedergelegt, WTO Dok GATS/SC/31. Im Überb für die Mitgliedstaaten der EG Senti WTO – System und Funktionsweise der Welthandelsorganisation, 2000, Rn 1259 ff; Barth EuZW 1994, 455 ff; umfassend z GATS a Koehler (Fn 27).
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Das GATS hat damit in einem ersten, sicherlich noch ausbaufähigen Schritt eine mit nahezu universeller Wirkung versehene Liberalisierung im Niederlassungsrecht erwirkt. Die insofern gegebene völkerrechtliche Bindung der EG und ihrer Mitgliedstaaten an das GATS entfaltet allerdings nach der Rspr des EuGH keine unmittelbare Anwendbarkeit, so dass sich natürliche und juristische Personen hierauf nicht berufen können und auch eine Überprüfung sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des GATS ausscheidet.29 Da aber trotz dieser Rspr die völkerrechtliche Bindung der EG und ihrer Mitgliedstaaten an das GATS umfassend gegeben ist und überdies im Einzelfall eine Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und des Rechts der Mitgliedstaaten bestehen kann,30 ist das Niederlassungsrecht des GATS bei der Analyse der Art 43 ff EGV (49 ff AEUV) zu beachten, soweit es um Niederlassungen von natürlichen und juristischen Personen aus Drittstaaten geht. Bes relevant ist dies mit Blick auf die auch für das EG-Recht problematische Frage nach der Vereinbarkeit von Niederlassungsfreiheit und Sitztheorie; hierauf ist noch zurückzukommen (Rn 64 ff). Insg zeigt sich damit auch im Niederlassungsrecht eine zunehmende Verschränkung von Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht.31
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II. Schutzbereich Wie bei den anderen Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts ist auch bei Art 43 I EGV (49 AEUV) stets zunächst zu prüfen, ob der Schutzbereich der Vorschrift in einer konkreten Sachverhaltskonstellation eröffnet ist (→ § 7 Rn 60 ff). Dabei kann auch mit Blick auf Art 43 I EGV (49 AEUV) zwischen dem räumlichen, personellen und sachlichen Schutzbereich differenziert werden.
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1. Räumlicher Schutzbereich Der räumliche Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 AEUV) bezieht sich in erster Linie auf den territorialen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts insg (vgl Art 299 EGV/349 AEUV). Darüber hinaus kann allerdings auch dann der Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 AEUV) eröffnet sein, wenn eine Niederlassung außerhalb der EG in Frage steht und die ihr zugrunde liegenden Rechtsbeziehungen oder ihre Auswirkungen einen hinreichend engen Bezug zum Gemeinschaftsgebiet iSv Art 299 EGV (349 AEUV) aufweisen.32 Angesichts der spezifischen Besonderheiten der Niederlassung nach Art 43 I EGV (49 AEUV), die sie insb von der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit unterscheidet und die in der engen Einbindung in die Rechtsordnung eines dritten Staates ihre Wurzeln hat, handelt es sich bei dieser Möglichkeit der Ausweitung des räumlichen Schutzbereiches freilich nur um eine eher theoretische Konstruktion.
29 EuGH, Slg 1999, I-8395, Rn 47 – Portugal/Rat = JK 11/00, EGV Art 300/1; Slg 2000, I-11307, Rn 43 – Parfums Christian Dior; zur Kritik an dieser problematischen Rspr zB Berrisch/Kaman EWS 2000, 89 ff. 30 Zu den diesbezüglichen Grundsätzen mit Blick auf das WTO-Recht EuGH, Slg 1998, I-3603, Rn 28 – Hermès; EuZW 2001, 117, Rn 47 f – Parfums Christian Dior; umfassend a Tietje Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001, 577 ff mwN. 31 Im Überb hierzu allgem Hobe/Müller-Satori JuS 2002, 8 ff. 32 Zahlreiche Nachw hierzu insg für die Grundfreiheiten bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 8.
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Größere praktische Bedeutung kann allerdings der Ausdehnung des räumlichen Anwendungsbereiches auf Gebiete außerhalb des Art 299 EGV (349 AEUV) zukommen, in denen die Mitgliedstaaten der EG bzw die Gemeinschaft selbst nach völkerrechtlichen Regelungen bes Rechte ausüben dürfen. Das gilt insb für die ausschließliche Wirtschaftszone nach Art 55 ff SRÜ 33, der eine nicht unerhebliche ökonomische Bedeutung zukommt. Insb diese wirtschaftliche Dimension, um deren Effektuierung es den Grundfreiheiten allgemein und damit auch der Niederlassungsfreiheit geht, spricht für die Anerkennung der räumlichen Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit in der ausschließlichen Wirtschaftszone der betr EG-Mitgliedstaaten.34
2. Personeller Schutzbereich 15
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Der personelle Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 AEUV) umfasst zunächst natürliche Personen mit der Staatsangehörigkeit einer der Mitgliedstaaten der EU (Rn 64 ff). Das ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift. Angehörige von Drittstaaten können sich nicht unmittelbar auf Art 43 I EGV (49 AEUV) berufen, für Familienangehörige von Unionsbürgern entfaltet die Niederlassungsfreiheit jedoch eine mittelbare Rechtswirkung; 35 überdies gewährt ihnen das einschlägige Sekundärrecht gewisse Rechte.36 Im Übrigen verbleibt es mit Blick auf Drittstaatsangehörige bei den Rechten, die sich aus den genannten völkerrechtlichen Verträgen als integrierendem Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ergeben (Rn 6 f). Ein bes wichtiger Aspekt des personellen Schutzbereiches der Niederlassungsfreiheit betrifft seine Erstreckung auf juristische Personen. Die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit für juristische Personen ergibt sich aus Art 48 EGV (54 AEUV). Da sich mit Blick auf Art 48 EGV (54 AEUV) und die diesbezügliche Reichweite des Niederlassungsrechts komplexe Sonderprobleme ergeben, soll hierauf an späterer Stelle eingegangen werden (Rn 62 f).
3. Sachlicher Schutzbereich 17
Fall 1: (Vgl EuGH, Slg 1991, I-3956 ff – Factortame = JK 6/92, EWGV Art 52/2) Der spanische Betreiber von Fischereischiffen F lässt Anfang der 1980er Jahre eine große Anzahl seiner Schiffe im Vereinigten Königreich registrieren. Dadurch wollte er erreichen, auch die britischen Fischereiquoten in Anspruch nehmen zu können (sog „Quotenspringen“). Um dieser Praxis Einhalt zu gebieten, wird 1988 im Vereinigten Königreich ein Gesetz erlassen, nach dem alle unter britischer Flagge fahrenden Schiffe erneut in das Schiffsregister einzutragen sind. Die Eintragung in das Schiffsregister setzt ua voraus, dass das fragliche Schiff vom Vereinigten Königreich aus operiert und sein Einsatz von dort aus geleitet und überwacht wird. F betreibt seine Schiffe von Spanien aus. Verstößt das neue Schiffsregistergesetz des Vereinigten Königreiches gegen Art 43 I EGV (49 AEUV)?
33 Seerechtsübk der Vereinten Nationen, BGBl II 1994, 1799; zur ausschließlichen Wirtschaftzone iSd Seevölkerrechts statt vieler Graf Vitzthum in: Graf Vitzthum, VR 5. Abschn Rn 51 ff. 34 Z Problem und mit Nachw z Streitstand Lackhoff (Fn 5) S 200 f. 35 EuGH, Slg 1992, I-4265, Rn 23 – Singh; Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 30 und 50; Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 28. 36 Nachw b Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 9.
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Fall 2: (Vgl EuGH, Slg 1995, I-4165 ff – Gebhard) Der deutsche Staatsangehörige G ist seit 1977 in Stuttgart als Rechtsanwalt zugelassen. Er ist freier Mitarbeiter in einer Kanzlei; eine eigene Kanzlei unterhält er in Deutschland nicht. Nachdem G schon längere Zeit als Mitarbeiter und Sozius in einer Rechtsanwaltskanzlei in Italien gearbeitet hat, eröffnet er 1989 in Mailand eine eigene Kanzlei. Er betreibt die Kanzlei als „avvocato“, der Berufsbezeichnung für selbstständige Anwälte in Italien. Eine Genehmigung hierfür durch die zuständige Rechtsanwaltskammer liegt nicht vor. Daher wurde gegen G in Mailand von der Rechtsanwaltskammer ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das mit der Sanktion einer zeitweiligen Versagung der Ausübung der Berufstätigkeit für sechs Monate abgeschlossen wurde. Ist zu Gunsten des G der Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 AEUV) eröffnet?
Der sachliche Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 AEUV) wird im Wesentlichen durch die Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit (49 EGV/Art 56 AEUV) bestimmt. Dass eine Abgrenzung der beiden Grundfreiheiten angezeigt ist, ergibt sich bereits aus der Systematik des EGV. Überdies wurde schon darauf hingewiesen, dass die Niederlassungsfreiheit im System der Grundfreiheiten von einer eigentümlichen Spannungslage im Verhältnis von Herkunftsland- und Bestimmungslandprinzip gekennzeichnet ist. Das dem Grunde nach für die Niederlassungsfreiheit auch im Lichte der Beschränkungsdogmatik des EuGH relevante Bestimmungslandprinzip findet hingegen bei der Dienstleistungsfreiheit kaum noch Anwendung; hier wird nur darüber gestritten, ob und ggf inwieweit die Lehre von den Beschränkungsverboten auf Art 49 EGV (56 AEUV) Anwendung findet (→ § 11 Rn 59 ff).37 Bei der Niederlassungsfreiheit wird aber schon im Wortlaut des Art 43 II EGV (49 II AEUV) davon gesprochen, dass es sich um Erwerbstätigkeiten handelt, die „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates“ aufgenommen oder ausgeübt werden. Dieser Verweis auf das Bestimmungslandprinzip ist der Ansatzpunkt für die notwendige aber problematische Abgrenzung zwischen Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.
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a) Erwerbstätigkeit Der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit wird in Art 43 II EGV (49 II AEUV) umschrieben, allerdings nicht legal definiert. Von der Niederlassungsfreiheit werden danach „die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen … nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ erfasst. Diese Umschreibung lässt sich konkretisieren, wenn zunächst ein allgem (Rn 26) Blick auf die Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit geworfen wird. Nach Art 50 III EGV (57 III AEUV) kommt es für die Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat38 in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit auf eine vorübergehende Tätigkeitsausübung an. Hieraus folgt in Kombination mit der Umschreibung in Art 43 II EGV (49 II AEUV), dass als Niederlassung allgem eine „wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit“ zu verstehen ist.39
37 Einzelheiten bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 68 ff (speziell z Herkunftslandprinzip Rn 71). 38 Zu den drei Dimensionen der Dienstleistungsfreiheit statt aller Streinz ER, Rn 888. 39 EuGH, Slg 1991, I-3956, Rn 20 – Factortame = JK 6/92, EWGV Art 52/2.
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Wie bereits diese Definition andeutet, ist der Begriff der Niederlassung im Interesse der Effektivität der Grundfreiheiten (vgl Art 10 EGV/4 III EU nF) grundsätzlich weit zu verstehen.40 Gewisse Einschränkungen, die sich aus der Ratio des EGV insg sowie speziell des Art 43 EGV (49 AEUV) ergeben, sind indes zu beachten. Wie bei allen Grundfreiheiten bezieht sich auch der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit nur auf wirtschaftliche Sachverhalte, und zwar konkret nur auf eine wirtschaftliche Erwerbstätigkeit. Das folgt aus dem Wortlaut des Art 43 II EGV iVm Art 2 EGV (49 II AEUV iVm 3 III EU nF).41 Der insofern relevante Wirtschaftsbegriff ist aber ausgesprochen konturenlos, so dass strittig ist, inwiefern dieser als Konkretisierungskriterium geeignet ist.42 Deutlich wird dies mit Blick auf die Rspr des EuGH, nach der auch kulturelle,43 sportliche44 und religiöse45 Tätigkeiten in den Schutzbereich der Grundfreiheiten fallen können. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, den Begriff der Erwerbstätigkeit in Art 43 II EGV (49 II AEUV) auf alle geldwerten Güter und Leistungen, dh jede entgeltliche Tätigkeit zu beziehen.46 Gegen diese Ansicht spricht aber, dass zB private wirtschaftliche Interessenverbände überaus wichtige Aufgaben im Wirtschaftsleben wahrnehmen, ihre Tätigkeit aber nicht zwingend auf eine Entgeltlichkeit gerichtet ist. Daher geht es bei Art 43 II EGV (49 II AEUV) nicht zwingend um die Entgeltlichkeit, sondern um jede Tätigkeit, die dem wirtschaftlichen Fortkommen dient.47 Nur entgeltlose Tätigkeiten, die keinen wirtschaftlichen Bezug aufweisen, da sie zB ausschließlich aus karitativen Gründen erfolgen, unterfallen dementsprechend nicht der Niederlassungsfreiheit.48 Nicht abschließend geklärt ist im Übrigen, inwieweit eine vermeintliche „grobe Sozialschädlichkeit“ einer Tätigkeit die Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches des Art 43 I EGV (49 I AEUV) verschließt.49 Angesichts der zunehmend deutlicher werdenden freiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 28 ff) stößt eine Schutzbereichsbegrenzung aber auf prinzipielle Bedenken; aus freiheitssichernder Perspektive
40 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 25 – Gebhard; Slg 1996, I-6511, Rn 20 – Broede; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 13; Geiger EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 1; Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 43 Rn 12. 41 Zur zentralen Bedeutung v Art 2 EGV insg sowie speziell für die Interpretation der Vorschriften des EGV ausführlich v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 2 EGV Rn 13 ff. 42 Zur Diskussion mit zahlreichen Nachw Lackhoff (Fn 5) S 38 f. 43 S zB EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien. 44 S zB EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 73 – Bosman. 45 S zB EuGH, Slg 1988, 6159 ff – Steymann. 46 Lackhoff (Fn 5) S 39 f; ähnlich Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 21 f. 47 So überzeugend Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 18. 48 Ganz hM Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 59; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 20; Müller-Graff in: Streinz, EUV/ EGV, Art 43 EGV Rn 13. 49 Dafür insb Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 17 und Art 39 EGV Rn 38; hiergegen zB Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 22; ausf zur Diskussion Schnichels Reichweite der Niederlassungsfreiheit, 1995, S 29 ff; der EuGH sieht keine Probleme, die Prostitution in den Schutzbereich der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit einzubeziehen: EuGH, Slg 2001, I-8615, Rn 55 ff – Jany = JK 7/02, EGV Art 43/2; s a den Vorlagebeschluss des BVerwG v 18.9.2001, DVBl 2002, 54 f; s in diesem Zusammenhang a EuGH, DVBl 2004, 1476 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13.
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kommt insofern nur eine Lösung der Problematik auf der Rechtfertigungsebene in Betracht.50 b) Dauerhafte und stabile Eingliederung in die Volkswirtschaft Soweit eine Erwerbstätigkeit iSv Art 43 II EGV (49 II AEUV) vorliegt, kommt es in einem zweiten Schritt darauf an, diejenigen Kriterien zu bestimmen und zu prüfen, die diese Erwerbstätigkeit in Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit als Niederlassung qualifizieren bzw sie ggf ganz aus dem Schutzbereich der Grundfreiheiten ausschließen. Bei dem zuletzt genannten Punkt des prinzipiellen Schutzbereichsausschlusses handelt es sich um Missbrauchsfälle.51 Nach st, auch auf die Niederlassungsfreiheit bezogener Rspr des EuGH ist „die mißbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht … nicht gestattet“.52 Für die Niederlassungsfreiheit hat der Gerichtshof deutlich gemacht, dass es zwar in keinem Fall als Missbrauch angesehen werden kann, in dem Mitgliedstaat eine Niederlassung zu begründen, in dem die innerstaatliche Rechtsordnung „die größte Freiheit“ lässt.53 Wenn allerdings eine Berufung auf die Niederlassungsfreiheit erfolgt, ohne dass objektiv tatsächlich von einer dauerhaften und stabilen Eingliederung in die entspr Volkswirtschaft gesprochen werden kann, ist der Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 I AEUV) nicht eröffnet.54 Der EuGH begründete dies zwar mit dem Begriff der Niederlassung; im Ergebnis können entspr Fälle aber auch iSd zit Missbrauchsausschlusses begründet werden.55 Lösung Fall 1: Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit setzt zunächst voraus, dass der Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 I AEUV) eröffnet ist. Dann müsste die Registrierung der Fischereischiffe im Vereinigten Königreich eine Niederlassung iSv Art 43 EGV (49 AEUV) sein. Der grundsätzlich weit zu fassende Begriff der Niederlassung umfasst die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit. Demnach müsste die Registrierung eines Schiffes zunächst im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit stehen. Bei Fischereischiffen ist das der Fall. Die damit mögliche Eröffnung des Schutzbereiches des Art 43 I EGV (49 I AEUV) wird auch nicht dadurch verschlossen, dass mit der Registrierung eines Schiffes dessen Staatszugehörigkeit begründet wird. Grundsätzlich fällt die Regelung von Staatsangehörigkeits- und Staatszugehörigkeitsfragen zwar in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Da aber hinter einer Registrierung eines Schiffes zwingend eine natürliche oder juristische Person steht, der es nicht um eine für sie neue Staatsangehörigkeit, sondern nur um ihre wirtschaftliche Freiheitsausübung iSv Art 43 EGV (49 AEUV) geht, finden die Grundfreiheiten Anwendung. Allerdings ist zu beachten, dass nicht die zu registrierenden Schiffe selbst von Art 43 EGV (49 AEUV) geschützt werden, sondern ihre Betreiber als natürliche oder juristische Personen. Daher ist es weiterhin notwendig, dass die Registrierung von einer
50 Grundlegend hierzu aus rechtstheoretischer und grundrechtsdogmatischer Sicht Alexy Theorie der Grundrechte, 3. Aufl 1996, 278 ff. 51 Allgemein hierzu Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 122 ff. 52 EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 24 – Centros, mit zahlreichen Nachw. 53 EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 27 – Centros. 54 Vgl EuGH, Slg 1991, I-3956, Rn 34 – Factortame = JK 6/92, EWGV Art 52/2. 55 In diese Richtung a Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 21.
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Person beantragt wird, die sich selbst niederlassen will. Hieraus folgt, dass von dem Betreiber eines Schiffes, das registriert werden soll, verlangt werden kann, das Schiff vom Ort der – neuen – Niederlassung aus zumindest zu leiten und zu überwachen. Dass es von dort aus auch operieren muss, lässt sich mit dem andernfalls möglichen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit mit Blick auf das sog Quotenspringen begründen. Im Ergebnis ist der Schutzbereich des Art 43 EGV (49 AEUV) damit nicht eröffnet.
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Soweit der sachliche Schutzbereich des Art 43 EGV (Art 49 AEUV) nicht bereits aus anderen Gründen, wie zB in der oben dargelegten Fallkonstellation, ausgeschlossen ist, stellt die im Übrigen vorzunehmende Abgrenzung von Niederlassung und Dienstleistungserbringung iS der Art 43 (Art 49 AEUV) und 49, 50 EGV (Art 56, 57 AEUV) einen zentralen Punkt im Rahmen der Erörterungen zum sachlichen Schutzbereich des Art 43 EGV (Art 49 AEUV) dar. Dass eine solche Abgrenzung notwendig ist, wurde bereits ausgeführt; wie sie zu erfolgen hat, ist aber unklar. Die insofern bestehenden Schwierigkeiten ergeben sich insb aus der unstrittigen und in Art 50 III EGV (Art 57 III AEUV) zum Ausdruck kommenden Erkenntnis, dass auch die aktive Dienstleistungsfreiheit (→ § 11 Rn 37)56 geschützt ist. Da sich damit der Dienstleistende in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten darf, um seiner Geschäftstätigkeit nachzugehen, steht die Inanspruchnahme der aktiven Dienstleistungsfreiheit in offensichtlicher Nähe zur Niederlassung. Bes deutlich wird dies, wenn berücksichtigt wird, dass die Inanspruchnahme der aktiven Dienstleistungsfreiheit auch das Recht gewährt, sich am Ort der Dienstleistungserbringung mit der hierfür notwendigen Infrastruktur (Anmietung eines Büros etc) auszustatten.57 In Rspr und Lehre besteht weitgehend Einigkeit, dass nur im Rahmen einer Gesamtschau aller in einem konkreten Sachverhalt gegebenen Aspekte eine Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit vorgenommen werden kann. Dabei ist insb auf die Dauer und Kontinuität der Tätigkeit im gebietsfremden Mitgliedstaat abzustellen sowie darauf, ob die Geschäftstätigkeit durch eine feste Einrichtung im Aufnahmestaat erfolgt.58 Die Entscheidung der Abgrenzungsfrage obliegt in erster Linie dem nationalen Gericht, das mit Art 43 (Art 49 AEUV) bzw 49, 50 EGV (Art 56, 57 AEUV) im Einzelfall befasst ist.59 Auch wenn die grundsätzliche Anwendung der genannten Kriterien Anhaltspunkte für die Abgrenzung von Niederlassung und Dienstleistung erbringen kann, bleibt es doch immer bei der Notwendigkeit einer Gesamtbewertung. Weder „Dauer und Kontinuität“ noch „feste Einrichtung“ sind nämlich notwendige oder hinreichende Kriterien. Mit Blick auf die Dauerhaftigkeit zeigt sich dies daran, dass zwar in Art 50 III EGV (Art 57 III AEUV) für die Dienstleistung von einer „vorübergehenden“ Leistungserbringung die Rede ist, abhängig von der konkreten Leistung sich aber ganz unterschiedliche zeitliche
56 Hierzu zB Kluth in: Calliess/Ruffert, Art 50 EGV Rn 24 ff. 57 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 27 – Gebhard: „Der vorübergehende Charakter der Leistung schließt nicht die Möglichkeit für den Dienstleistungserbringer iSd Vertrages aus, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist“. 58 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 27 – Gebhard; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 25; Lackhoff (Fn 5) S 134 (mwN in Fn 591) und S 136 f. 59 EuGH, Slg 1996, I-6511, Rn 22 – Broede; Lackhoff (Fn 5) S 137.
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Dimensionen zeigen können. So wird der Bau einer großen Industrieanlage einige Zeit in Anspruch nehmen; eine Niederlassung iSv Art 43 I EGV (49 AEUV) wird der ausführende Unternehmer damit aber nicht zwingend begründen wollen. Ähnlich zu bewerten ist eine fortlaufende, täglich gegenüber neuen Kunden erbrachte Tätigkeit zB eines Hufschmieds in einem anderen Mitgliedstaat, ohne dass es zu einer Verlegung des Büros oder der Werkstatt kommt. Auch ein solcher Fall ist trotz der Dauerhaftigkeit der Leistungserbringung nicht zwingend als Niederlassung einzuordnen. Vor dem Hintergrund solcher und ähnlicher Fallkonstellationen wird deutlich, dass die Dauerhaftigkeit bzw Kontinuität der Leistungserbringung für sich selbst wenig aussagekräftig und somit nur eines von mehreren zu beachtenden Indizien ist.60 Auch die Begründung einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat vermag nicht abschließend darüber Auskunft geben, ob eine Niederlassung vorliegt. So sind Tätigkeiten denkbar, die gar keine „feste Einrichtung“ voraussetzen, zB der umherreisende Scherenschleifer. Überdies kann, wie bereits dargelegt, die Errichtung einer festen Einrichtung durchaus auch Bestandteil einer Dienstleistungserbringung iSv Art 49, 50 EGV (56, 57 AEUV) sein, wenn es sich insofern um für die Dienstleistung notwendige Infrastruktur handelt. Dauer und Kontinuität der Leistungserbringung und die Begründung einer festen Einrichtung sind also weder notwendige noch hinreichende Abgrenzungskriterien. Vielmehr ist im Kern danach zu fragen, ob eine Eingliederung des Leistungserbringers in die nationale Volkswirtschaft des Aufnahmestaates erfolgt.61 Dabei kommt es aber nicht darauf an, dass der Leistungserbringer bewusst seine Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringt, um sich der Rechtsordnung seines Heimatstaates und Ortes der Niederlassung zu entziehen. Der EuGH hatte in einer solchen Konstellation in früheren Urt recht unbedarft die Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit bejaht.62 Zwischenzeitlich hat er aber klargestellt, dass die insofern gegebenen Probleme auf der Rechtfertigungsebene zu lösen sind und demnach keinen Einfluss auf die Frage nach der Eröffnung des Schutzbereiches von Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit haben.63 Im Einzelnen lassen sich zur weiteren Konkretisierung der angeführten, im Rahmen einer Gesamtbewertung zu beachtenden Kriterien folgende Fallgruppen zur Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit bestimmen: 64 Die Niederlassungsfreiheit ist einschlägig und verdrängt die Dienstleistungsfreiheit, wenn durch eine Niederlassung Dienstleistungen im Aufnahmestaat erbracht werden.65 Hier ist die Niederlassung conditio sine qua non für die wirtschaftliche Tätigkeit. Schwieriger ist die Rechtslage, wenn eine Dienstleistung nicht „durch“, sondern nur „über“ eine Niederlassung erbracht wird. In dieser Konstellation dient die Niederlassung nicht der Begründung der Dienstleistung, sondern deren Vertrieb. Im Schrifttum wird im Anschluss an ein – allerdings unklares – 60 Kritisch mit Blick auf die Dauer als Abgrenzungskriterium a Lackhoff (Fn 5) S 135 f; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 26 ff. 61 GA Darmon, EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 3 – Daily Mail: „Sich niederlassen heißt, sich in eine nationale Wirtschaft integrieren“; ebenso GA Léger, EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 19 – Gebhard. 62 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 13 – van Binsbergen; Slg 1986, 3755, Rn 22 – Kommission/Deutschland. 63 EuGH, Slg 1994, I-4795, Rn 15 – TV 10; hierzu a Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 43 EGV Rn 36. 64 Hierzu a ausf Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 37 ff. 65 Vgl EuGH, Slg 1988, 6159, Rn 17 – Steymann; Slg 1997, I-3395, Rn 37 ff – Sodemare.
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Urt des EuGH66 vertreten, dass auch in seiner solchen Vertriebssituation stets die Dienstleistungsfreiheit zu Gunsten der Niederlassungsfreiheit verdrängt werde.67 Indes hat der EuGH im Jahre 1997 zu erkennen gegeben, dass die Dienstleistungsfreiheit auch dann einschlägig sein kann, wenn das betr Unternehmen in dem dienstleistungsempfangenden Mitgliedstaat ansässig ist, in dieser Konstellation also keine apriorische Vorrangigkeit der Niederlassungsfreiheit vorliegt.68 Vor dem Hintergrund dieser Feststellung wird man zentral darauf abstellen müssen, dass die Begründung der Leistungserbringung in der Hauptniederlassung erfolgt und die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat nur dem nachrangigen Vertrieb dient.69 Folgt man dieser Ansicht, ergibt sich zwingend auch die Lösung des sog Kumulierungsproblems. Hierbei handelt sich um eine Situation, in der zwar eine Niederlassung in dem Mitgliedstaat besteht, in dem eine Leistung erbracht wird, diese aber nicht in den konkreten Leistungserbringungsvorgang einbezogen ist. Auch in dieser Konstellation bleibt es bei der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit; andernfalls würde die Dienstleistungsfreiheit insb für multinationale Konzerne, die über Niederlassungen in mehreren Mitgliedstaaten verfügen, leerlaufen.70 Insg bleibt festzuhalten, dass die eindeutige Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht definitorisch festgelegt werden kann. Die zutr Differenzierung kann nur im Einzelfall anhand der angeführten Kriterien, denen je nach Sachlage ein unterschiedliches Gewicht zukommen kann, erfolgen. Der Ratio des Art 43 EGV (49 AEUV), die in der bes Rechtslage bei einer Integration eines Leistungserbringers in die nationale Volkswirtschaft eines Mitgliedstaates zu sehen ist, kommt dabei eine übergeordnete, zentrale Bedeutung zu. Hinzuweisen ist auch noch auf Probleme der Abgrenzung von Niederlassungsfreiheit und Freiheit des Kapitalverkehrs gem Art 56 I EGV (63 I AEUV). Die Kapitalverkehrsfreiheit umfasst ua grenzüberschreitende Investitionen, zB durch Unternehmsbeteiligungen. Der EuGH scheint in seiner jüngeren Rspr davon auszugehen, dass auf eine solche grenzüberschreitende Unternehmensbeteiligung immer dann ausschließlich die Niederlassungsfreiheit Anwendung findet, wenn mit ihr ein „sicherer Einfluss auf Entscheidungen der Gesellschaft“ verbunden ist.71 Diese Rspr führt im Ergebnis dazu, dass der sog erga omnes-Charakter der Kapitalverkehrsfreiheit, der nach dem Wortlaut des Art 56 I EGV (63 I AEUV) zu einer Berechtigung auch von Drittstaatsangehörigen führt, leer läuft. Über diese systematische Problematik hinausgehend, ist fraglich, ob die genannte Rspr wirklich Allgemeingültigkeit beansprucht, da sie bislang nur in steuerrechtlichen Sachverhalten zur Anwendung kam.72 In gesellschaftsrechtlichen Entscheidungen zu den sog golden shares hat der Gerichtshof indess – anders als in den angesprochenen steuerrecht-
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EuGH, Slg 1986, 3755, Rn 21 – Kommission/Deutschland. So wohl Behrens EuR 1992, 145, 151. EuGH, Slg 1997, I-3143, Rn 20 f – VT4. Differenziert, zT mit abweichendem Ergebnis hierzu ausf Pasternacki. Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 43 f; ebenso iE EuGH, Slg 1997, I-3143, Rn 20 f – VT4; Lackhoff (Fn 5) S 142 ff; Roth RabelsZ 54 (1990), 63, 108 f. 71 EuGH, Slg 2006, I-7995, Rn 31 und 33 – Cadbury Schweppes; EuGH, Slg 2007, I-2107, Rn 27 und 34 – Test Claiments in the Thin Cap Group Litigation; EuGH, Slg 2007, I-151, Rn 13 und 17. 72 Ausf hierzu Germelmann EuZW 2008, 596 ff; Haslehner IStR 2008, 565 (571 ff); Scharf Die Kapitalverkehrsfreiheit gegenüber Drittstaaten, 2008, verfügbar unter: www.jura.uni-halle.de/telc/ publikationen.html.
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lichen Entscheidungen – staatliche Sonderrechte an einer Kapitalgesellschaft vorrangig an der Kapitalverkehrsfreiheit geprüft.73 In diesen Entscheidungen ging der EuGH davon aus, dass die Niederlassungsfreiheit durch die Kapitalverkehrsfreiheit verdrängt wird.74 In seiner jüngsten Rspr hält der EuGH an der Differenzierung zwischen Steuer- und Gesellschaftsrecht aber nicht mehr uneingeschränkt fest und wendet die Niederlassungsfreiheit unter Bezugnahme seiner steuerrechtlichen Rspr neben der Kapitalverkehrsfreiheit parallel an.75 Möglicherweise ist hierin eine Abkehr von der differenzierenden Rspr zu sehen, so dass sich letztlich die zur steuerrechtlichen Rspr entwickelten Abgrenzungskriterien durchsetzen könnten.76 c) Primäre und sekundäre Niederlassung als Erscheinungsformen der sachlichen Schutzbereichsgewährleistung Wie bereits der Wortlaut von Art 43 I EGV (49 I AEUV) zeigt, werden zwei Formen der Niederlassung geschützt: die in Art 43 I 1 EGV (49 I 1 AEUV) genannte Niederlassung als solche sowie die in Art 43 I 2 EGV (49 I 2 AEUV) umschriebene „Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften“. In den beiden Sätzen des Art 43 I EGV (49 I AEUV) wird diesem Wortlaut entsprechend die Gewährleistung der sog primären (S 1) und der sekundären Niederlassung (S 2) gesehen.77 Als primäre Niederlassung kann der grenzüberschreitende Wechsel der Ansässigkeit von selbstständig erwerbstätigen natürlichen und über Art 48 EGV (54 AEUV) juristischen Personen definiert werden.78 In wiederum notwendiger Abgrenzung zur Dienstleistung iSv Art 49, 50 EGV (56, 57 AEUV) handelt es sich hierbei um die grenzüberschreitende Verlegung oder die Neubegründung der Hauptniederlassung des entsprechenden Wirtschaftssubjektes. Um zu ermitteln, wo – in Abgrenzung zur sekundären Niederlassung – der Hauptsitz des Unternehmers bzw des Unternehmens (Art 48 EGV/54 AEUV) liegt, ist in erster Linie auf den wirtschaftlichen Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen.79 Bei juristischen Personen iSv Art 48 EGV80 (54 AEUV) kommt es dabei allerdings weniger auf die tatsächlichen Umstände als vielmehr auf die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse an; entscheidend für die Niederlassung ist demnach der Sitz der gesellschaftsrechtlich herrschenden Gesellschaft.81
73 IdS zB die Urt EuGH, Slg 2002, I-4781, Rn 56 – Kommission/Frankreich; Slg 2003, I-4581, Rn 86 – Kommission/Spanien. 74 Vgl die Nachw in Fn 73. 75 EuGH, Urt v 17.07.2008, Rs C-207/07, Rn 36 ff. 76 S hierzu Germelmann EuZW 2008, 596, 597 ff. 77 Statt vieler Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 19 f; Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 21 ff. 78 Roth in: HdBEUWirtschR E.I. Rn 35; Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 19. 79 Eyles Das Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft: die Überlagerung des deutschen Gesellschaftsrechts und Unternehmenssteuerrechts durch Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1990, 41; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 49; Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 19. 80 Hierzu noch s u Rn 64 ff. 81 S EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 17 ff – Centros; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 43 EGV Rn 49.
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Die sekundäre Niederlassung zeichnet sich dadurch aus, dass ein Wirtschaftssubjekt, das im „Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist“, eine Agentur, Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gründet, wobei die Wahl der konkreten Form der Niederlassung frei ist.82 Insofern kommt es bei der Prüfung des Art 43 II EGV (49 II AEUV) auch nicht auf eine genaue Bezeichnung der konkreten Form der sekundären Niederlassung an; die in der Vorschrift genannten Formen der sekundären Niederlassung sind nur als Sammelbegriffe für sämtliche unselbstständige betriebliche Teileinheiten zu verstehen.83 Strittig ist nur, ob Art 43 II EGV (49 II AEUV) im Schutzbereich so weit zu verstehen ist, dass auch eine geschäftliche Präsenz erfasst wird, die „nicht die Form einer Zweigniederlassung oder Agentur angenommen hat, sondern lediglich durch ein Büro wahrgenommen wird, die zwar unabhängig, aber beauftragt ist, auf Dauer für dieses Unternehmen wie eine Agentur zu handeln“.84 Der EuGH hat dies in dem zit Urt zu einem Versicherungsvermittler angenommen. Dagegen wird aber eingewandt, dass neben den spezifischen und nicht generalisierbaren Merkmalen der Versicherungsbranche durch eine Ausweitung des Schutzbereiches des Art 43 II EGV (49 II AEUV) auf Vertreter und Vermittler insg ein Wertungswiderspruch im System der Grundfreiheiten auftreten würde. Soweit nämlich, wie bei Vertretern oder Vermittlern regelmäßig der Fall, ein Leistungserbringer rechtlich unabhängig tätig wird, ist die Dienstleistungsfreiheit einschlägig. Diese allgemeine, sich aus der bereits diskutierten Systematik der Art 43 und 49, 50 EGV (49 und 56, 57 AEUV) ergebende Erkenntnis muss dann auch für Vertreter und Vermittler von Dienstleistungen gelten. Andernfalls würde der Dienstleistungsvermittler unter Art 43 II EGV (49 II AEUV) fallen, während für einen Verkäufer von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat produziert werden, die Dienstleistungsfreiheit (Art 49, 50 EGV/56, 57 AEUV) gilt. Eine solche Differenzierung in der rechtlichen Bewertung von, wirtschaftlich betrachtet, vergleichbaren Sachverhalten ist nicht überzeugend zu begründen.85 Das weiterhin zu beachtende Merkmal der Ansässigkeit in Art 43 II EGV (49 II AEUV) bezieht sich nicht, wie eine unbefangene Lektüre des Wortlautes vermuten lassen könnte, auf den Mitgliedstaat, in dem die Niederlassung begründet wird. Vielmehr geht es um die Ansässigkeit in irgendeinem Mitgliedstaat der Gemeinschaft. Damit erfolgt eine Ausgrenzung von natürlichen und juristischen Personen, die bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise „nur oder nur vornehmlich in EU-fremden Volkswirtschaften integriert sind“.86 Es kommt also bei der sekundären Niederlassung nicht nur allgem auf die Unionsbürgerschaft iSv Art 17 I EGV (20 AEUV) an, sondern überdies auf die wirtschaftliche Verankerung in der Union. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass Personen, die sich im Rahmen einer – nur – sekundären Niederlassung auf Art 43 EGV (49 AEUV) berufen, mit Blick auf den Hauptsitz ihrer wirtschaftlichen Betätigung innerhalb der Gemeinschaft rechtlich kontrolliert werden können.87
82 83 84 85
EuGH, Slg 1986, 273, Rn 22 – Kommission/Frankreich; Slg 1999, I-6161, Rn 42 – Saint-Gobain. Lackhoff (Fn 5) S 173 f mwN. EuGH, Slg 1986, 3755, Rn 21 – Kommission/Deutschland. Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 59; aA Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 44 ff; Roth in: HdBEUWirtschR E.I. Rn 37; differenziert Lackhoff (Fn 5) S 174. 86 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 51. 87 Schlag in: Schwarze, EUV, Art 43 EGV Rn 29; vgl a EuGH, Slg 2000, I-11619, Rn 20 – AMID.
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d) Grenzüberschreitender Sachverhalt Als weiteres Tatbestandsmerkmal des sachlichen Schutzbereiches ist wie bei allen Grundfreiheiten auch bei Art 43 EGV (49 AEUV) erforderlich, dass ein grenzüberschreitender Bezug des fraglichen Sachverhaltes vorliegt. Wann ein solcher grenzüberschreitender Bezug vorliegt, ist im Wesentlichen anhand der für alle Grundfreiheiten geltenden Kriterien zu bestimmen und insofern ein Thema der allgemeinen Dogmatik der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 23, 29). Zur Verdeutlichung der rechtlichen und tatsächlichen Relevanz der Niederlassungsfreiheit ist nur darauf hinzuweisen, dass sich Art 43 EGV (49 AEUV) auch gegen den Herkunftsstaat richten kann. Das ist namentlich in den sog Wegzugsfällen von großer Relevanz. Es handelt sich hierbei um Fallkonstellationen, in denen die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Empfangsstaat durch Maßnahmen des Herkunftsstaates behindert wird. Diese Situation spielt insb dann eine große Rolle, wenn nationale steuerrechtliche Vorschriften dazu führen, dass eine steuerliche Benachteiligung eines Unternehmens mit Hauptsitz in einem Mitgliedstaat und Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt. Der EuGH hat für solche Konstellationen unmissverständlich klargestellt, dass die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit „auch das Verbot für den Herkunftsstaat [enthalten], die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder der nach seinem Recht gegründeten Gesellschaften, die im Übrigen die Voraussetzungen des Art 48 EGV (54 AEUV) erfüllen, in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern“.88 Diese Feststellung gilt entsprechend, wenn die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Aufnahmestaat durch eine Beschränkung der Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat beeinträchtigt wird.89 In diesen sog Rückkehrfällen kann es nach der – umstrittenen – Rspr des EuGH sogar dazu kommen, dass sich die Rechtsstellung eines Staatsangehörigen, der von der Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat, iVz den sonstigen Staatsangehörigen des Herkunftsstaates verbessert.90 Trotz der angeführten Ausweitungen des Tatbestandsmerkmales des grenzüberschreitenden Sachverhaltes bleibt aber noch zu erörtern, ob überhaupt an diesem Tatbestandsmerkmal festzuhalten ist. Bei dieser Frage geht es konkret um das Problem der sog Inländerdiskriminierung. Soweit man zwingend einen grenzüberschreitenden Bezug verlangt, wird die Schlechterstellung von Inländern gegenüber EG-Ausländern nicht von den Grundfreiheiten erfasst. Dafür scheint mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit der Wortlaut von Art 43 I EGV (49 I AEUV) zu sprechen, da in S 1 der Vorschrift von „der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats“ die Rede ist. Allerdings ist zu beachten, dass durch den Wortlaut des Art 43 I EGV (49 I AEUV) zwar der grenzüberschreitende Bezug zunächst vorausgesetzt wird, damit aber noch keine Aussage zu einem Verbot möglicher Rechtsfortbildung iS der Einbeziehung interner Sachverhalte statuiert wird.91 Von dieser Erkenntnis ausgehend lässt sich daher mit guten Gründen vertreten, dass im Lichte der grundlegenden, in Art 2 und 3 EGV (3 EU nF, 26 AEUV) niedergelegten Zielsetzung des EGV und der Grundfrei-
88 EuGH, Slg 2000, I-11619, Rn 21 mwN – AMID; DVBl 2004, 551, Rn 42 – de Lasteyrie du Saillant mit Anm Frenz = JK 9/04, EGV Art 43/5. 89 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, Art 43 EGV Rn 62. 90 EuGH, Slg 1992, I-4265, Rn 19 ff – Singh; hiergegen zB Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, Art 43 EGV Rn 62. 91 Ausf Lackhoff (Fn 5) S 73 ff mwN.
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heiten insg die Inländerdiskriminierung dem freiheitlich-liberalen Marktkonzept der Gemeinschaftsrechtsordnung (vgl auch Art 3 III EU nF) widerspricht.92 Der EuGH ist den insofern als konsequent erscheinenden Schritt hin zu einer erweiterten, nicht mehr auf den grenzüberschreitenden Bezug abstellenden Interpretation des Art 43 I EGV (49 I AEUV) freilich noch nicht gegangen. Auch im Schrifttum wird die Erfassung der Inländerdiskriminierung zumeist noch abgelehnt.93
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Lösung Fall 2: Die Eröffnung des Schutzbereiches des Art 43 I EGV (49 I AEUV) zu Gunsten von G setzt – als hier einzig problematischer Punkt – voraus, dass seine Tätigkeit in Italien als Rechtsanwalt als Niederlassung und in Abgrenzung zu Art 49, 50 EGV (56, 57 AEUV) nicht als Dienstleistung zu qualifizieren ist. Die Tätigkeit von G als Rechtsanwalt kann nur einer dieser beiden Tätigkeitsbereiche unterfallen, da Art 39 EGV (45 AEUV) als weitere Personenverkehrsfreiheit aufgrund der selbstständigen Tätigkeit des G mit Blick auf die dort notwendige Arbeitnehmereigenschaft ausscheidet. Überdies ist zu beachten, dass die Dienstleistungsfreiheit gegenüber der Niederlassungsfreiheit subsidiär ist, wie bereits der Wortlaut des Art 50 I EGV (57 I AEUV) zeigt. Ob die Tätigkeit des G in Italien als Niederlassung zu qualifizieren ist, hängt von der genaueren inhaltlichen Konkretisierung des Niederlassungsbegriffes ab. Dieser ist nach st Rspr des EuGH weit zu verstehen. Insofern ist Niederlassung die stabile und kontinuierliche Teilnahme am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates. Wie Art 43 I 2 EGV (49 I 2 AEUV) zeigt, kommt es dabei weder darauf an, ob neben der wirtschaftlichen Tätigkeit im Aufnahmestaat weitere Niederlassungen im Herkunftsstaat bestehen, noch ob die fragliche Niederlassung die Haupt- oder Zweigstelle darstellt. Ausgehend von diesem gemeinschaftsrechtlichen Maßstab zur Bestimmung des sachlichen Schutzbereiches des Art 43 I EGV (49 I AEUV) spricht für die Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit zu Gunsten des G, dass er in Mailand eine eigene Kanzlei unterhält und von dieser Kanzlei aus italienische und andere Mandanten betreut. Die Leistungserbringung des G erfolgt also vom Ort seiner in Mailand gelegenen Kanzlei aus, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern offenbar dauerhaft. Die damit eigentlich gegebene Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches des Art 43 EGV (49 AEUV) ließe sich nur noch mit dem Argument verneinen, dass G bei seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt nicht die standesrechtlichen Regelungen beachtet hat. Insofern ist zu überlegen, ob der Begriff der Niederlassung iSv Art 43 EGV (49 AEUV) voraussetzt, dass eine nach dem Recht des Aufnahmestaates legale Eingliederung in das nationale Wirtschaftsleben erfolgt. Hiergegen spricht allerdings die Systematik des Niederlassungsrechts als Grundfreiheit. Ob und ggf inwieweit bei der Ausübung der Niederlassungsfreiheit Rechtsvorschriften des Bestimmungslandes zu beachten sind, ist eine Frage der Rechtfertigung der Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 43 EGV (49 AEUV). Wollte man diese Frage bereits im Schutzbereich beantworten, hätten es die Mitgliedstaaten in der Hand, die sachliche Reichweite der Niederlassungsfreiheit autonom zu bestimmen. Da dies die gemeinschaftsrechtliche Niederlassungsgarantie leer laufen lassen würde, ist die Möglichkeit der Einschränkung der
92 Ausf Lackhoff (Fn 5) S 82 ff mwN. 93 Abl aus jüngerer Zeit Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, Art 43 EGV Rn 65 und vor Art 39–55 EGV Rn 49 ff mwN; Epiney in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 27 ff; zur Diskussion ausf Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 84 ff, 115; Lackhoff (Fn 5) S 67 ff; Frenz (Fn 13) Rn 2144 ff jew mit umfangreichen Nachw.
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Niederlassungsfreiheit aufgrund nationaler Rechtsvorschriften erst auf der Rechtfertigungsebene zu prüfen.94 Damit bleibt es im Ergebnis dabei, dass der Schutzbereich des Art 43 I EGV (49 I AEUV) zu Gunsten von G eröffnet ist.
4. Bereichsausnahmen Fall 3: (Vgl EuGH, Slg 1998, I-6717 ff – Kommission/Spanien) In Spanien wird ein Gesetz über private Sicherheitsdienste erlassen. Es sieht ua vor, dass nur solche Unternehmen Sicherheitsdienste erbringen dürfen, die die spanische Staatszugehörigkeit haben. Den Sicherheitsunternehmen sind keine Zwangsbefugnisse vom Staat verliehen, die mit denen der Polizei oder anderen staatlichen Sicherheitsorganen vergleichbar sind. Ist der Schutzbereich des Art 43 iVm 48 EGV (49 iVm 54 AEUV) mit Blick auf die spanische Regelung eröffnet?
Ebenso wie die Freizügigkeitsgarantie (Art 39 IV EGV/45 IV AEUV) kennt auch die Niederlassungsfreiheit eine Bereichsausnahme, die im Zusammenhang mit öffentlichen Funktionen im Staat steht (Art 45 EGV/51 AEUV). Auch für Art 45 EGV (51 AEUV) ist kennzeichnend, dass durch ihn schon der Schutz- bzw Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen wird. Das kommt im Wortlaut des Art 45 EGV (51 AEUV) („keine Anwendung“) deutlich zum Ausdruck und wird durch einen systematischen Blick auf Art 46 I EGV (52 I AEUV), der ausdrücklich auf Rechtfertigungsaspekte verweist („gerechtfertigt sind“), bestätigt. Auch wenn damit die dogmatische Einordnung des Art 45 EGV (51 AEUV) als Bereichsausnahme eindeutig ist, muss gleichwohl beachtet werden, dass der EuGH insofern nicht immer terminologisch klar formuliert. Der in verschiedenen Urt anzutreffende Verweis auf eine mögliche Rechtfertigung durch Art 45 EGV95 (51 AEUV) ändert freilich nichts an der dogmatischen Einordnung der Vorschrift als Bereichsausnahme.96 Inhaltlich ist zu beachten, dass sich Art 45 EGV (51 AEUV) trotz gewisser Ähnlichkeiten doch deutlich von Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) unterscheidet. Neben der in Art 45 II EGV (51 II AEUV) vorgesehenen Kompetenz zum sekundärrechtlichen Ausschluss bestimmter Tätigkeiten von den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit 97 zeigt das schon der Wortlaut der beiden Vorschriften: Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) spricht von der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“; in Art 45 I EGV (51 I
94 So der EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 20 ff – Gebhard; differenzierend Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV (49 AEUV) Rn 96 ff, die der Ansicht sind, dass nationale Vorgaben, die den allgem Rechtsrahmen für die Ausübung der Tätigkeit bestimmen, nicht v Art 43 EGV (49 AEUV) erfasst werden. Dies soll aber nicht für Qualifikationsnachw (wie im Fall Gebhard) gelten; insoweit soll es bei der Einschlägigkeit des Art 43 EGV (49 AEUV) bleiben. Zu diesen Fragen, die systematisch im Beeinträchtigungstatbestand zu diskutieren sind, noch sogleich im Text. 95 S zB EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 32 – Kommission/Spanien. 96 Ganz hM, s nur Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 45 EGV Rn 3; Lackhoff (Fn 5) S 153 mwN; → § 7 Rn 67 ff; aA aber Jarass EuR 1995, 202, 221 ff. 97 Art 45 II EGV (51 II AEUV) hat freilich bislang noch keine praktische Bedeutung erlangt, statt vieler Geiger EUV/EGV Art 45 EGV Rn 5; Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 11.
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AEUV) wird auf die „Ausübung öffentlicher Gewalt“ abgestellt. Damit geht es bei Art 39 IV EGV (45 IV AEUV) um Personen, die als Angestellte oder Beamte in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis stehen („Staatsdiener“), während Art 45 I EGV (51 I AEUV) in erster Linie auf Privatpersonen abstellt.98 Allgem Auslegungsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts folgend ist Art 45 EGV (51 AEUV) als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Der EuGH spricht insofern davon, dass die Vorschrift so auszulegen ist, dass „sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist“.99 Weiterhin ist ebenso wie im Rahmen von Art 39 IV EGV (Art 45 IV AEUV) der Begriff „öffentliche Gewalt“ in Art 45 I EGV (51 I AEUV) nach autonomen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen, da andernfalls die Mitgliedstaaten über die Anwendung des Art 45 EGV (51 AEUV) ohne gemeinschaftsrechtliche Kontrolle entscheiden könnten.100 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass das Gemeinschaftsrecht eine abschließende Festlegung zur Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art 45 I EGV (51 I AEUV) vornimmt. Es handelt sich hier vielmehr nur um einen gemeinschaftsrechtlichen „Rahmenbegriff“, dessen Anwendung im Einzelfall auch von der konkreten Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung eines Mitgliedstaates abhängt.101 Dem Rahmencharakter des Art 45 I EGV (51 I AEUV) entspricht es, dass der EuGH keine abschließende Definition des Tatbestandsmerkmales „Ausübung öffentlicher Gewalt“ vorgibt. Um im Zusammenspiel von Unionsrecht und mitgliedstaatlicher Rechtsordnung über die Anwendung des Art 45 EGV (51 AEUV) entscheiden zu können, ist vielmehr nur danach zu fragen, ob es sich um eine Tätigkeit handelt, „die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt [darstellt]“.102 Das ist nur der Fall, wenn die Tätigkeit mit der Ausübung von Zwangsbefugnissen verbunden ist 103 oder sich sonst wie durch Sonderrechte oder Hoheitsprivilegien auszeichnet.104 Eine formalistische, abstrakte Trennung zwischen der Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten und dem schlicht-hoheitlichen Handeln wird man dabei allerdings nicht anstellen können. Hiergegen spricht, dass die Effektivität des Art 43 EGV (49 AEUV) (vgl 4 III AEUV) nur gewährleistet werden kann, wenn im Einzelfall und unabhängig von rechtsterminologischen Feinheiten der Mitgliedstaaten eine Prüfung anhand der Ratio des Art 45 EGV (51 AEUV) erfolgt.105
98 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 45 EGV Rn 1. 99 EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 34 mwN – Kommission/Spanien. 100 Schlussanträge GA Lenz, EuGH, Slg 1991, I-5863, Rn 30 – Kommission/Griechenland; Roth in: HdBEU WirtschR E.I. Rn 29; Lackhoff (Fn 5) S 154 ff mwN. 101 Lackhoff (Fn 5) S 155 f. 102 EuGH, Slg 1974, 631, Rn 45 – Reyners; Slg 1993, I-4047, Rn 8 – Thijssen; Slg 1998, I-6717, Rn 35 – Kommission/Spanien. 103 EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 37 – Kommission/Spanien. 104 Schlussanträge GA Mayras, EuGH, Slg 1974, 631, 665 – Reyners; Lackhoff (Fn 5) S 156; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 45 EGV Rn 8 mwN. 105 Zur str Frage, ob Art 45 EGV a schlicht-hoheitliches Handeln erfasst, s Lackhoff (Fn 5) S 157 f; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 45 EGV Rn 8.
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Lösung Fall 3: Das Erfordernis der spanischen Staatszugehörigkeit von Unternehmen, die private Sicherheitsdienste erbringen, unterfällt prima facie dem Schutzbereich der Art 43 iVm 48 EGV (49 iVm 54 AEUV). Fraglich ist aber, ob der Schutzbereich des Art 43 EGV (49 AEUV) ausnahmsweise gem Art 45 I EGV (51 I AEUV) nicht eröffnet ist, da es sich um mitgliedstaatliche Vorschriften zu Sicherheitsunternehmen handelt. Hierfür könnte sprechen, dass private Sicherheitsdienste durch ihre Tätigkeit einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung insg leisten. Überdies ließe sich argumentieren, dass private Sicherheitsunternehmen einer strengen staatlichen Kontrolle unterliegen müssen und diese nur effektiv wahrgenommen werden könne, wenn das Unternehmen in einer bes Nähebeziehung zum Staat stehe, die sich nur durch seine Staatszugehörigkeit sichern lasse.106 Gegen die Einschlägigkeit der den Schutzbereich verschließenden Bereichsausnahme des Art 45 I EGV (51 I AEUV) spricht jedoch schon methodisch der Charakter der Vorschrift als Ausnahmeregelung, deren Anwendung angesichts der grundlegenden freiheitssichernden Bedeutung des Art 43 EGV (49 AEUV) nur restriktiv erfolgen darf. In diesem Sinne ist der Anwendungsbereich des Art 45 I EGV (51 I AEUV) auf Tätigkeiten zu beschränken, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen. Die von der spanischen Regelung erfassten Sicherheitsunternehmen arbeiten auf der Grundlage privatrechtlicher Beziehungen. Den Sicherheitsunternehmen sind keine Zwangsbefugnisse übertragen, die mit den Zwangsbefugnissen der klassischen staatlichen Sicherheitsorgane (insb der Polizei) vergleichbar sind. Überdies ist ohnehin jedermann verpflichtet, im Rahmen der Rechtsordnung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zu sorgen. Die Befugnisse und Aufgaben privater Sicherheitsdienste gehen aus staatlicher Sicht nicht über diese allgemeine bürgerliche Pflicht hinaus. Damit liegt insg keine unmittelbare und spezifische Teilnahme der privaten Sicherheitsdienste an der Ausübung öffentlicher Gewalt in Spanien vor. Mithin scheidet die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme des Art 45 I EGV (51 I AEUV) aus,107 so dass es bei der Eröffnung des Schutzbereichs der Art 43 I, 48 EGV (49, 54 AEUV) bleibt.
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III. Beeinträchtigung Fall 4: (Vgl EuGH, Slg 1999, I-2835 ff – Pfeiffer) Das deutsche Einzelhandelsunternehmen T betreibt Tochtergesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten der EG. T wirbt seit einigen Jahren für alle Geschäfte mit dem einheitlichen Logo „TPlus“. Unter dem Namen „TPlus Kaufen“ werden von einer Tochtergesellschaft von T in Österreich mehrere Einzelhandelsgeschäfte betrieben. Das österreichische Unternehmen „TPlus Leben“, das sich diesen Firmennamen schon vor langer Zeit beim österreichischen Patentamt als Wort-Bild-Marke hat schützen lassen, sieht sich durch die Aktivitäten von „TPlus Kaufen“ in ihren Rechten verletzt. Daher beantragt „TPlus Leben“ vor dem zuständigen Gericht in Österreich, dem Tochterunternehmen von T zu verbieten, unter dem Namen „TPlus Kaufen“ geschäftlich aufzutreten oder zu werben. Der Antrag wird auf § 9 I des österreichischen UWG gestützt. Danach besteht ein Anspruch auf Unterlassen der
106 So die Argumentation Spaniens im maßgeblichen Fall, s EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 26 f – Kommission/Spanien. 107 IE ebenso EuGH, Slg 1998, I-6717, Rn 34 ff – Kommission/Spanien; Slg 2000, I-1221, Rn 25 f – Kommission/Belgien = JK 11/00, EGV Art 49/3.
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Benutzung von Namen, Firmen oder bes Bezeichnungen eines Unternehmens in einer Weise, die geeignet ist, Verwechslungen mit Namen, Firmen oder bes Bezeichnungen, deren sich ein anderer befugterweise bedient, hervorzurufen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind mit Blick auf den für „TPlus Leben“ wirkenden Markenschutz gegeben. Das zuständige Gericht ist allerdings der Ansicht, dass eine Verurteilung von „TPlus Kaufen“ nicht mit der Niederlassungsfreiheit der Art 43, 48 EGV (49, 54 AEUV) vereinbar wäre. Zu Recht?
1. Diskriminierungen 49
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Im Einklang mit der zumindest historisch betrachtet herausragenden Ratio der Grundfreiheiten insg zielt auch Art 43 EGV (49 AEUV) zunächst darauf ab, Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zu verbieten. Um welche Diskriminierungen, die mit Art 43 EGV (49 AEUV) unvereinbar sind, es sich handeln kann, lässt sich beispielhaft dem „Allgemeine[n] Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit“, das auf der Grundlage von Art 44 EGV (50 AEUV) im Jahre 1962 erlassen wurde, entnehmen.108 Es zählt verschiedene diskriminierende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit wie gesonderte Genehmigungs- oder Aufenthaltserfordernisse für Ausländer auf. Der EuGH hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Allgemeine Programm „nützliche Anhaltspunkte“ für die Auslegung des Art 43 EGV (49 AEUV) biete.109 Zugleich beschränkt der EuGH das Diskriminierungsverbot des Art 43 EGV (49 AEUV) nicht nur auf unmittelbar die Niederlassungshandlung betr Sachbereiche, sondern wendet es auch auf sog Umfeldregelungen an. Hierunter fällt zB eine Regelung, nach der eine Studienfinanzierung nicht der Tochter eines Unionsbürgers gewährt wird, der unter Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit und seines Hauptwohnsitzes eine geschäftliche Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat betreibt. Auch in einer solchen diskriminierenden Regelung sieht der Gerichtshof eine „Beeinträchtigung der Ausübung selbstständiger Tätigkeiten durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten“ iS der Niederlassungsfreiheit.110 Zu beachten ist indes, dass Umfelddiskriminierungen im hier beispielhaft dargelegten Sinne seit der zunehmenden Anwendung der Art 12 und 17 EGV (18 und 20 AEUV) durch den EuGH in erster Linie von diesen Vorschriften erfasst werden. Da der Gerichtshof in jüngerer Zeit das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) effektiv zur Anwendung bringt, wenn es um Maßnahmen geht, die nicht unmittelbar von den speziellen Grundfreiheiten erfasst sind,111 besteht kein Bedürfnis mehr, diesbezüglich die spezielle Grundfreiheit zu aktivieren. Um eine sinnvolle Abgrenzung von Art 12 und 43 EGV (18 und 49 AEUV) zu gewährleisten, ist dabei auf den freiheitsbeeinträchtigenden Schwerpunkt der angegriffenen diskriminierenden Regelung abzustellen.112
108 ABl 1962 Nr 2, 36 ff. 109 S zB EuGH, Slg 1985, 1819, Rn 15 – Steinhauser; Slg 1999, I-3289, Rn 27 – Meeusen. 110 EuGH, Slg 1999, I-3289, Rn 27 – Meeusen; zahlreiche Nachw zu weiteren Urt des EuGH zu diskriminierenden Maßnahmen im Umfeld einer Niederlassung bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 72. 111 S insb EuGH, Slg 2001, I-6193 – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1. 112 Zum Abgrenzungsproblem a Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 73; Kluth in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art 18 EGV Rn 16; Hatje, in: Schwarze, EUV, Art 18 EGV Rn 18.
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Im Übrigen gilt auch für Art 43 EGV (49 AEUV), dass offene und versteckte Diskriminierungen eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Vorschrift darstellen. Wie auch bei den weiteren Grundfreiheiten ist dabei danach zu fragen, ob die fragliche Maßnahme eines Mitgliedstaates ausdrücklich eine Differenzierung zwischen In- und Ausländern vornimmt (offene Diskriminierung), oder ob Ausländer nur typischerweise stärker betroffen sind (versteckte Diskriminierung), (→ § 7 Rn 26).113 Versteckte Diskriminierungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit haben insb im Steuerrecht eine große Bedeutung. So stellte der EuGH zB ausdrücklich auf eine versteckte Diskriminierung in einem Fall ab, in dem es um eine Regelung ging, nach der eine steuerrechtliche Abzugsfähigkeit für Forschungskosten nur für Unternehmen gilt, die ihren Hauptsitz im steuererhebenden Mitgliedstaat haben. Hierdurch, so der EuGH, würden Unternehmen mit Zweigniederlassungen in dem Mitgliedstaat typischerweise benachteiligt, da Forschungsabteilungen oftmals in der Hauptniederlassung angesiedelt seien.114 Im Sinne dieser Rspr ist im Übrigen hervorzuheben, dass Art 43 EGV (49 AEUV) nicht nur die Inländergleichbehandlung ieS verbietet, sondern auch Diskriminierungen mit Blick auf die von Art 43 EGV (49 AEUV) erfassten unterschiedlichen Niederlassungsformen. Insofern sichert Art 43 EGV (49 AEUV) umfassend die Freiheit der – auch kumulativen – Wahl der Niederlassungsform.115 Ob eine versteckte Diskriminierung gem Art 43 EGV (49 AEUV) vorliegt, ist der allgem Struktur von Gleichheitssätzen folgend 116 anhand der Frage zu entscheiden, ob „unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder [ob] dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird“.117 Der EuGH nimmt diese Prüfung einstufig, zT aber auch zweitstufig vor.118 Unabhängig hiervon ist aber wichtig, dass die zentrale Frage nach der Vergleichbarkeit, die regelmäßig ein Werturteil erfordert,119 bereits auf der Tatbestands- (Schutzbereichs-)ebene zu beantworten ist. Der EuGH scheint zwar vereinzelt die Vergleichbarkeitsfrage der Rechtfertigungsebene zuzuordnen,120 dies ist rechtstheoretisch aber nicht überzeugend. Denn erst wenn vergleichbare Sachverhalte vorliegen, lässt sich überhaupt fragen, ob ihre Ungleichbehandlung auf Gesichtspunkten beruht, die rechtlich Bestand haben können. Das ist jedoch ein logisch der Vergleichbarkeitsfrage nachgeordnetes Problem der Rechtfertigung einer vorliegenden Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte.121
113 Lackhoff (Fn 5) S 227; s zB EuGH, Slg 1999, I-4809, Rn 10 – Baxter: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes … verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – was Gesellschaften angeht – des Sitzes, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“. 114 EuGH, Slg 1999, I-4809, Rn 10 – Baxter. 115 S zB EuGH, Slg 1999, I-2651, Rn 23 – Royal Bank of Scotland plc. 116 Zur Struktur von Gleichheitssätzen statt vieler Schoch DVBl 1988, 863 ff. 117 EuGH, Slg 1995, I-225, Rn 30 – Schumacker; Slg 1995, I-2493, Rn 17 – Wielockx; Slg 1996, I-3089, Rn 40 – Asscher; Slg 1999, I-2651, Rn 26 – Royal Bank of Scotland. 118 Hierzu Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 77 mwN. 119 Allgem hierzu aus rechtstheoretischer Sicht Alexy (Fn 50) S 363; Schoch DVBl 1988, 863, 873 f. 120 EuGH, Slg 1999, I-6161, Rn 44 ff – Saint-Gobain. 121 AA wohl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 77.
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2. Beschränkungen 53
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ISd einheitlichen Auslegung der Grundfreiheiten, die auch als Konvergenz der Grundfreiheiten beschrieben wird,122 statuiert Art 43 EGV (49 AEUV) nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern überdies ein allgemeines Beschränkungsverbot als freiheitsrechtliche Verbürgung des Niederlassungsrechts. Das ist dem Grunde nach zwischenzeitlich in Rspr 123 und Schrifttum anerkannt.124 Der EuGH umschreibt das so in Art 43 EGV (49 AEUV) enthaltene Beschränkungsverbot mit den folgenden Worten: „[Artikel 43 EGV] schreib[t] die Aufhebung der Beschränkungen der freien Niederlassung … vor. Als solche Beschränkungen sind alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freihei[t] unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen“.125 Weitgehend unstrittig werden dem Beschränkungsverbot aus Art 43 EGV (49 AEUV) sog spezifische Zugangsbehinderungen zugeordnet. Hierunter sind Maßnahmen von Mitgliedstaaten zu verstehen, die zwar nicht offen oder versteckt zwischen In- und Ausländern differenzieren, in ihrer tatsächlichen Wirkung aber den Zugang zu einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung und zum entspr Markt im ökonomischen Sinne mit dem Ziel der Niederlassung behindern oder sonst wie weniger attraktiv machen. Das gilt zB für ein Verbot bestimmter Tätigkeiten, die Errichtung oder Unterhaltung staatlicher Monopole, ein Verbot der mehrfachen Niederlassung und Bedürfnisregelungen, Wohnsitz-, Genehmigung-, Zulassungs- sowie Qualifikationserfordernisse.126 Weiterhin werden vom Beschränkungsverbot des Art 43 EGV (49 AEUV) auch Maßnahmen des Herkunftsmitgliedstaats erfasst, die die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindern, und zwar selbst dann, wenn es sich nur um geringfügige oder unbedeutende Beschränkungen handelt.127 Mit Blick auf die angeführten, dem Beschränkungsbegriff nach Art 43 EGV (49 AEUV) zugeordneten mitgliedstaatlichen Maßnahmen stellt sich die Frage, ob die Niederlassungsfreiheit letztlich jede hoheitliche Regelung erfasst, die sich unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell auf die Freiheit der Niederlassung auswirkt. Problematisch ist dies namentlich vor dem bereits dargestellten Hintergrund, dass die Ausübung der Niederlassung immer mit einer Eingliederung in die innerstaatliche Gesellschafts- und Rechtsordnung verbunden ist. Daher wird bezweifelt, dass jede innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Beziehung zur Niederlassung aufweist, eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 43 EGV (49 AEUV) darstellt. Die dogmatischen Konstruktionen, die zur Begründung eines insofern modifizierten bzw begrenzten Beschränkungsbegriffs iSv Art 43 EGV (49 AEUV) vertreten werden, sind zahlreich und sollen hier nicht umfas-
122 Hierzu Behrens EuR 1992, 145 ff; Hobe/Tietje JuS 1996, 486, 489 f; Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 31. 123 S aus der Rspr nur das zentrale Urt EuGH, Slg 1991, I-2357, Rn 15 – Vlassopoulou; zuletzt EuGH, Slg 2002, I-305, Rn 22 – Kommission/Italien, sowie EuGH, DVBl 2004, 551, Rn 42 – de Lasteyrie du Saillant = JK 9/04, EGV Art 43/5; ausf Darstellung der Rspr des EuGH bei Frenz (Fn 13) Rn 2118 ff und Rn 2187 ff. 124 Umfassend zur Entwicklung in Rspr und Schrifttum Lackhoff (Fn 5) S 249 ff mit zahlreichen Nachw. 125 EuGH, Slg 2002, I-305, Rn 22 – Kommission/Italien. 126 Umfangreiche Nachw hierzu bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 90 ff. 127 EuGH, DVBl 2004, 551, Rn 42 f – de Lasteyrie du Saillant = JK 9/04, EGV Art 43/5.
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send dargestellt werden.128 Sie sind alle dem Vorwurf auszusetzen, dass eine sachgegenständliche Begrenzung des Beschränkungsbegriffes einem sehr engen Marktzugangskriterium verhaftet ist. Nimmt man die Ratio der Grundfreiheiten, die sich heute in ihrer freiheitssichernden Dimension zeigt, ernst, kann es – wenn überhaupt – auf den Marktzugang nur ankommen, wenn einer spezifischen Grundfreiheit ein grenzüberschreitender Sachverhalt inhärent ist.129 Das mag für den Waren- und Dienstleistungsverkehr gelten, so dass sich hier zumindest im Ansatz eine Rechtfertigung für die Keck-Rspr des EuGH erblicken lässt.130 Art 43 I EGV (49 I AEUV) ist aber nicht darauf ausgerichtet, dass notwendigerweise ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt.131 Vielmehr dient die Vorschrift insg der wirtschaftlichen Tätigkeit durch Niederlassung. Ausgangspunkt dieser Freiheitssicherung ist dabei die in Art 4 I EGV (3 III EU nF) hervorgehobene Zielsetzung einer sozialen Marktwirtschaft.132 Einer solchen Konzeption entspricht es zwingend, dass der Staat die Notwendigkeit der Steuerung des Marktes darzulegen hat. Würde man insofern einzelne staatliche Maßnahmen aus dem Schutztatbestand des Art 43 EGV (49 AEUV) (Schutzbereich und Beeinträchtigung) ausnehmen, ginge diese prinzipielle Rechtfertigungsnotwendigkeit verloren. Sie lässt sich im Interesse möglichst spontaner – und nicht gesetzter – Marktbildung und damit Freiheitsverwirklichung133 nur erreichen, wenn es bei dem weiten Verständnis von Schutzbereich und Beeinträchtigung des Art 43 I EGV (49 I AEUV) bleibt. Dementsprechend ist der EuGH auch nicht dem Argument gefolgt, dass die weite Auslegung des Art 43 I EGV (49 I AEUV) iS eines Beschränkungsverbots nicht zur Notwendigkeit einer Rechtfertigung jeder staatlichen Maßnahme führen dürfe, die die Niederlassung weniger attraktiv mache.134 Ebenso wenig Gehör gefunden hat vor dem EuGH der Verweis darauf, dass Regelungen sog „integrierter nationaler Ordnungssysteme“,135 wozu insb die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit gehören, nicht vom Beschränkungsbegriff erfasst werden.136 Durch das dargelegte weite Verständnis der Freiheitsfunktion des Art 43 EGV (49 AEUV) kommt es im Übrigen auch nicht zu einer „Ablösung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch ein einheitliches supranationales Recht“.137 Die mitgliedstaat-
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Ausf Lackhoff (Fn 5) S 417 ff mit zahlreichen Nachw. Lackhoff (Fn 5) S 427. EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 12 ff – Keck. Lackhoff (Fn 5) S 427. Zur freilich nicht ganz klaren Bedeutung dieser Formulierung s Bandilla in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 4 EGV Rn 7 f. Hierzu v Hayek Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd I, 1980, 33 f; ders Die Verfassung der Freiheit, 1971, 194; ders Individualism and the Economic Order, 1948, 16. So Schlussanträge GA Mischo, EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 58 – Pfeiffer; der EuGH ist hierauf in seinem Urt in dieser Rs nicht eingegangen und hat die fragliche Maßnahme (Anwendung des österreichischen UWG) als Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 43 EGV gewertet, s EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 19 f – Pfeiffer; GA Mischo hat seine Ansicht nochmals im dargelegten Sinne vertreten in: Schlussanträge, EuGH, Slg 2002, I-6515, Rn 57 – Deutsche Paracelsus Schulen; der EuGH ist a in dieser Entscheidung nicht weiter auf die Argumente des Generalanwalt eingegangen und hat ohne nähere Ausführungen einen Eingriff in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit festgestellt, s EuGH, Slg 2002, I-6515, Rn 38 ff. Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 106. EuGH, Slg 2001, I-5473, Rn 51 ff – Geraets-Smits. So aber Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 92.
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lichen Rechtsordnungen behalten ihre Funktion als maßgeblicher Ordnungsrahmen für die wirtschaftliche Betätigung im jeweiligen nationalen Markt. Es ändert sich nur der Rechtfertigungsdruck, der den Mitgliedstaaten mit Blick auf die Steuerung dieses Marktes auferlegt wird. Dogmatisch entspricht dies einer Erörterung der Frage nach der Übereinstimmung des mitgliedstaatlichen Rechts mit Art 43 EGV (49 AEUV) auf der Rechtfertigungs-, nicht aber auf der Beeinträchtigungsebene. Nur dieses Konzept wird dem freiheitseffektuierenden System der Grundfreiheiten insg und damit auch des Art 43 EGV (49 AEUV) gerecht.138
3. Beeinträchtigungen durch Private 57
Die Grundfreiheiten binden grundsätzlich nur die Mitgliedstaat, dh beschränken hoheitliches Handeln, das den Mitgliedstaaten zugerechnet werden kann. Allerdings hat der EuGH einzelne Grundfreiheiten auch auf Privatrechtssubjekte zur verpflichtenden Anwendbarkeit gebracht (→ § 7 Rn 52 f). Diese – nicht unproblematische – Rspr hat der Gerichtshof zwischenzeitlich auch auf die Niederlassungsfreiheit ausgedehnt.139 Damit sind zB Streik- und Blockademaßnahmen, die von Gewerkschaften im Hinblick auf die geplante Verlegung einer Produktionsstätte eines Unternehmens in einen anderen EUMitgliedstaat organisiert werden, uU mit der Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV/ 49 AEUV) unvereinbar.140 Diese sog Drittwirkung der Grundfreiheiten stößt im Schrifttum bisweilen auf erhebliche Ablehnung.141
IV. Rechtfertigung 58
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Beeinträchtigungen des Schutzbereichs des Art 43 EGV (49 AEUV) lassen sich durch Art 46 I EGV (52 AEUV) sowie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen. Bei offenen Diskriminierungen kommt dabei nur eine Rechtfertigung nach Art 46 I EGV (52 AEUV) in Betracht. Liegt eine nichtdiskriminierende Beschränkung vor, können Art 46 I EGV (52 AEUV) und die Lehre von den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses herangezogen werden. Wie bei allen Grundfreiheiten ist allerdings str, ob der Verweis auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses auch dann greifen kann, wenn eine versteckte Diskriminierung vorliegt, oder ob es in diesen Fällen bei der ausschließlichen Anwendbarkeit des Art 46 I EGV (52 AEUV) bleibt (Einzelheiten zu dieser übergreifenden, für alle Grundfreiheiten relevanten Problematik in → § 7 Rn 102). Art 46 I EGV (52 AEUV) ist der einzige im Vertrag ausdrücklich für Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit vorgesehene Rechtfertigungsgrund. Als
138 Die Reichweite der Lehre von den Beschränkungsverboten ist der wohl strittigste Problembereich in der Dogmatik der Grundfreiheiten. Es entspricht nicht dem Konzept dieser primär didaktisch orientierten Darstellung, eine umfassende Diskussion hierzu zu führen. Zahlreiche Nachw sowie eine der hier vertretenen Ansicht deutlich kritisch-restriktiv entgegengesetzte Sicht der Dinge finden sich zB bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 87 ff; Frenz (Fn 13) Rn 2014 ff. 139 EuGH, Slg 2007, I-10779 Rn 66 – Viking. 140 Ausf hierzu Franck, Die unmittelbare horizontale Wirkung der EG-Grundfreiheiten, 2009, 13 ff, verfügbar unter: www.jura.uni-halle.de/telc/beitraegeeuvr.html. 141 Vgl zB Kluth AöR 122 (1997), 557, 566 ff; Streinz/Leible EuZW 2000, 459, 464 ff; Rennert, Jura 2003, 13 ff; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn 100 f.
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Ausnahmevorschrift ist Art 46 I EGV (52 AEUV) aber eng auszulegen.142 Der damit ohnehin schon nur begrenzte Anwendungsbereich der Vorschrift wird nochmals eingeengt, wenn die spezielle Ratio der Norm berücksichtigt wird: Art 46 I EGV (52 AEUV) verweist auf „Sonderregelungen für Ausländer“. Da die grundlegende Zielsetzung der Grundfreiheiten darin besteht, im Gemeinsamen Markt und Binnenmarkt gerade keine Sonderregelungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, zuzulassen (vgl Art 12 I EGV/18 AEUV), kann die Ausländereigenschaft selbst nicht maßgeblicher Anknüpfungspunkt des Art 46 I EGV (52 AEUV) sein. Es entspricht vielmehr der st Rspr des EuGH, dass Art 46 I EGV (52 I AEUV) den Mitgliedstaaten erlaubt, „gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten ua aus Gründen der öffentlichen Ordnung Maßnahmen zu ergreifen, die sie insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen“.143 Diese Aussage des Gerichtshofes ist vor dem verfassungsrechtlichen (Art 16 II GG) und völkerrechtlichen (Art 3 4. ZP EMRK) Verbot der Auslieferung und Ausweisung eigener Staatsangehöriger zu sehen. Aufgrund dieses Verbotes besteht trotz des Art 12 EGV (18 AEUV) im Bereich der Ausweisung bzw Auslieferung ein bedeutender Unterschied zwischen In- und Ausländern. Nur auf diesen, auch im Lichte unionsrechtlicher Regelungen weiterhin gegebenen Unterschied zielt Art 46 I EGV (52 I AEUV) ab. Daher ist anerkannt, dass die Vorschrift ihren primären Anwendungsbereich im nationalen Ausländerrecht findet.144 Die primär ausländerrechtliche Dimension des Art 46 I EGV (52 I AEUV) schlägt sich auch in dem Erfordernis nieder, dass jew auf den Einzelfall bezogen ermittelt werden muss, ob das persönliche Verhalten eines Niederlassungsberechtigten in einer bestimmten Situation eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darstellt; der isolierte Verstoß gegen eine Ordnungswidrigkeits- oder Strafbarkeitsbestimmung reicht hierfür nicht.145 Die Tatbestandsmerkmale „öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ sind dabei in Übereinstimmung mit Art 39 III EGV (45 III AEUV) auszulegen.146 Sie wurden früher durch die RL 64/221/EG 147 konkretisiert; 148 seit dem 30. April 2004 finden sich die entsprechenden Rechtskonkretisierungen in der neuen RL 2004/38/EG.149 Als Schranken-Schranke ist zudem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.150
142 EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 23 – Calfa; ausf zu Art 46 EG (Art 52 AEUV) Frenz (Fn 13) Rn 2230 ff. 143 EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 20 – Calfa. 144 Schlag in: Schwarze, EUV, Art 46 EGV Rn 3; Roth in: HdBEU WirtschR E.I., Rn 72; MüllerGraff in: Streinz, EUV/EGV, Art 46 Rn 3 f. 145 EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 25 – Calfa. 146 Hierzu ausf Schneider/Wunderlich in: Schwarze, EUV, Art 39 EGV Rn 123 ff mwN. 147 ABl 1964, 850. 148 Schlag in: Schwarze Art 46 EGV, EUV, Rn 5 mwN. 149 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änd der VO (EWG) Nr 1612/68 und zur Aufhebung der RL 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl L 158/77 v 30.4.2004. 150 EuGH, Slg 1996, I-2691, Rn 26 – Kommission/Italien; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 46 EGV Rn 21 mwN.
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Soweit eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 43 EGV (49 AEUV) aufgrund eines Beschränkungsverbotes vorliegt, kommt weiterhin eine Rechtfertigung aufgrund zwingender Allgemeininteressen in Betracht. Die Anwendung und Konkretisierung dieser ungeschriebenen Schrankenregelung folgt dabei den Grundsätzen der allgem Dogmatik der Grundfreiheiten und muss daher an dieser Stelle nicht vertiefend erörtert werden (→ § 7 Rn 101 f).151 Hinzuweisen ist nur darauf, dass in der Rspr des EuGH zwischenzeitlich eine große Anzahl von anerkannten Schutzinteressen hinsichtlich der zwingenden Allgemeininteressen herausgearbeitet wurden.152 Überdies entspricht es st Rspr des EuGH, dass eine Maßnahme aufgrund eines anerkannten zwingenden Allgemeininteresses geeignet sein muss, „die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das [hinausgehen darf], was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist“.153 Bes Probleme stellen sich bei der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen durch Privatrechtssubjekte (Rn 57). Der geschriebene Rechtfertigungsgrund des Art 46 I EGV (52 I AEUV) lässt sich nicht auf Privatrechtssubjekte anwenden, weil ausdrücklich nur staatliche Maßnahmen erfasst sind (Rn 57 f). Der EuGH hält aber eine Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Niederlassungsfreiheit durch Privatrechtssubjekte durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ grundsätzlich für möglich, soweit diese in verhältnismäßiger Weise verfolgt werden.154 Neben diesen „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ können nach dem Gerichtshof auch die Gemeinschaftsgrundrechte zur Rechtfertigung herangezogen werden.155 Die in Rn 57 erwähnte streikende Gewerkschaft kann sich daher ihrerseits auf das Gemeinschaftsgrundrecht der Koalitionsfreiheit zur Rechtfertigung der Beeinträchtigungen berufen. Die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Maßnahme eines Privaten muss damit letztlich im Rahmen einer Abwägung zwischen der jeweiligen Grundfreiheit (hier: Niederlassungsfreiheit) und den Gemeinschaftsgrundrechten erfolgen.156 Lösung Fall 4: Da das deutsche Unternehmen T in Österreich eine Zweigniederlassung betreibt, ist der Schutzbereich des Art 43 iVm 48 EGV (49 iVm 54 AEUV) eröffnet. Fraglich ist, ob auch eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit vorliegt. Eine offene Diskriminierung erfolgt durch die Anwendung des österreichischen UWG nicht, da die Regelungen dieses Gesetzes ohne Unterschied auf in- und ausländische Unternehmen angewandt werden. Eine versteckte Diskriminierung läge vor, wenn die Anwendung des § 9 UWG typischerweise zu einer Schlechterstellung von ausländischen Unternehmen wie T führt. Auch hierfür sind keine Anhaltspunkte gegeben. Damit ist es nur möglich, eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs nach der Lehre von den Beschränkungsverboten zu begründen. Hiernach liegt eine Beeinträchtigung vor, wenn die Anwendung einer mitgliedstaatlichen Vorschrift die Ausübung einer Grundfreiheit wie hier der Niederlassungsfreiheit
151 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 154 ff mwN. 152 Ausf Übersicht bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 161. 153 EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 37 – Gebhard; Slg 1999, I-2835, Rn 19 – Pfeiffer; DVBl 2004, 551, Rn 49 – de Lasteyrie du Saillant = JK 9/04, EGV Art 43/5. 154 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 75 – Viking. 155 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 77 – Viking. 156 EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 79 ff – Viking; s hierzu a Franck (Fn 140) S 20 ff.
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weniger attraktiv macht. Das Unternehmen T wählte das str Logo bewusst, um in Europa einheitlich durch eine Werbemaßnahme bekannt zu werden. Die Einheitlichkeit dieses europaweiten Werbeauftritts wird beeinträchtigt, wenn hiervon in einzelnen Mitgliedstaat abgewichen werden muss. Dies wiederum hat zwingend Auswirkungen auf das unternehmerische Interesse an einer geschäftlichen Tätigkeit in dem Mitgliedstaat, der die Anwendung des europaweiten Logos nicht gestattet. Damit liegt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vor. Diese ist auch als Beeinträchtigung des Schutzbereichs zu werten, da jedenfalls der Marktzutritt betroffen ist. Auf die str Frage, inwieweit auch sonstige Formen von Beschränkungsmaßnahmen von Art 43 EGV (49 AEUV) erfasst werden, kommt es damit nicht an. Die Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art 43 EGV (49 AEUV) könnte aber gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung nach Art 46 I EGV (52 AEUV) scheidet aus, da es sich bei der Anwendung des UWG nicht um eine ausländerrechtliche Maßnahme handelt. Damit bleibt es nur bei der Möglichkeit einer Rechtfertigung aufgrund eines zwingenden Allgemeininteresses. Der wettbewerbsrechtliche Schutz von Geschäftsbezeichnungen vor Verwechselungsgefahr stellt ein zwingendes Allgemeininteresse dar. Die Anwendung des § 9 I UWG ist vorliegend auch verhältnismäßig, da nur durch ein Verbot gewährleistet werden kann, dass die berechtigten Interessen eines Markeninhabers geschützt werden.157 Damit ist Art 43 iVm 48 EGV (49 iVm 54 AEUV) nicht verletzt.
V. Die Anwendung der Niederlassungsfreiheit auf juristische Personen gem Art 48 EGV (Art 52 AEUV) Fall 5: (EuGH, Slg 2002, I-9919 – Überseering) Das Unternehmen BV ist seit 1990 im Handelsregister von Amsterdam eingetragen. In Deutschland ist BV Eigentümerin eines Grundstücks in Düsseldorf. BV schloss mit der NCC GmbH einen Werkvertrag zu Bauarbeiten auf dem Grundstück. Am 1. Januar 1995 erwarben zwei Privatpersonen sämtliche Geschäftsanteile an der BV. Seit diesem Zeitpunkt hat die BV ihren tatsächlichen Geschäftssitz in Düsseldorf. Im Jahre 1996 klagte die BV auf Erstattung von Kosten, die durch eine Mängelbeseitigung, die NCC nicht selbst durchgeführt hatte, entstanden sind. Die Klage wurde vom OLG als unzulässig mit der Begründung abgewiesen, dass BV nicht rechts- und damit parteifähig iSv § 50 ZPO sei. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft nach dem Recht des Staates richte, in dem sie ihren Hauptverwaltungssitz habe. Dies sei Deutschland und hier sei BV nicht rechtsfähig. Verletzt die Entscheidung Art 43 iVm 48 EGV (49 iVm 52 AEUV)?
Art 48 EGV (52 AEUV) bewirkt die Anwendung der Art 43 ff EGV (49 ff AEUV) auf „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft [Union] haben“. Der dem Art 48 EGV (52 AEUV) zugrunde liegende Oberbegriff der Gesellschaft bzw juristischen Person158 ist gemeinschaftsrechtlich und nicht iS einer möglicherweise engeren mitgliedstaatlichen Rechtsdogmatik zu verstehen.
157 EuGH, Slg 1999, I-2835, Rn 22 f – Pfeiffer. 158 Wie Art 48 II EGV (54 II AEUV) verdeutlicht, besteht eine Identität der Begriffe „Gesellschaften“ und „juristische Personen“, s Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 7.
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Wie Art 48 II EGV (52 II AEUV) verdeutlicht, handelt es sich um ein weit auszulegendes Tatbestandsmerkmal. Entscheidend ist insofern, dass „eine Personenvereinigung gegenüber ihren Mitgliedern soweit verselbstständigt ist, dass sie im Rechtsverkehr unter eigenem Namen handeln kann“. Damit sind in Deutschland auch die OHG und die GbR „juristische Personen“ nach Art 48 EGV (52 AEUV).159 Das zentrale Problem des Art 48 EGV (52 AEUV), das auch hier nur interessieren soll, ist die Frage nach der genauen Bestimmung der Voraussetzungen, die eine juristische Person im beschriebenen Sinne ausmachen. Das betrifft konkret die Frage, wann eine Gesellschaft „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ gegründet ist. Da bislang noch keine einheitlichen Regelungen der Mitgliedstaaten über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften nach Art 293 EGV (vgl nun 81 II c AEUV) ausgearbeitet wurden und Art 48 II EGV (52 II AEUV) auf „die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründeten Gesellschaften“ abstellt, ist es zunächst Aufgabe des mitgliedstaatlichen Rechts, darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen der Vorschrift vorliegen. Das muss allerdings jedenfalls dann unter Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben erfolgen, wenn es um den Zuzug einer Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat gegründet wurde, in einen anderen Mitgliedstaat geht.160 Bei ausländischen juristischen Personen erfolgt deren gesellschaftsrechtliche Bewertung nach Grundsätzen des internationalen Gesellschaftsrechts der Mitgliedstaaten. In Deutschland wird insofern davon gesprochen, dass das Gesellschafts- oder Personalstatut darüber entscheidet, welches Recht auf eine Gesellschaft Anwendung findet.161 Das Gesellschaftsstatut wird im Wesentlichen durch zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte bestimmt. In einigen Staaten (zB USA, Vereinigtes Königreich) wird nach der Gründungstheorie auf das Recht des Staates abgestellt, in dem die Gesellschaft gegründet wurde. Nach der ua in Deutschland (bislang noch) vertretenen Sitztheorie162 kommt es zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts hingegen auf den effektiven Verwaltungssitz der fraglichen Gesellschaft an. Erst mit einer gegenwärtig geplanten Änd des EGBGB wird es in Deutschland zur Ablösung der Sitztheorie durch die Gründungstheorie kommen.163 Die Anwendung der Sitztheorie führt im Lichte des Art 48 EGV (52 AEUV) zu der Problematik, dass eine Gesellschaft, die im Mitgliedstaat A gegründet wurde, zwischenzeitlich aber ihren Verwaltungssitz in den Mitgliedstaat B verlegt hat, mit Blick auf ihre Rechtsfähigkeit nach dem Recht des B beurteilt wird. Sofern nun nach dem Recht von B nicht die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass die Gesellschaft als eigenständig handlungsfähig betrachtet wird, scheidet die Anwendbarkeit des Art 48 EGV (52 AEUV) aus,
159 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 7; BGH, ZIP 2001, 330 ff; ausführlich hierzu a Frenz (Fn 13) Rn 2031 ff. 160 Zur problematischen Differenzierung in der Rechtsprechnung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit siehe EuGH, EuZW 2009, 75 – Cartesio; ausführl Mörsdorf EuZW 2009, 97 ff mwN. 161 Kindler in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl 2006, IntGesR Rn 7; Großfeld in: Staudinger EGBGB/IPR/IntGesR, 13. Aufl 1998, Rn 16 ff. 162 S nur Kindler (Fn 161) Rn 5; Großfeld (Fn 161) Rn 38; Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl 2004, 572 ff. 163 S den Referentenentwurf „Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen“ vom Sommer 2008, verfügbar unter: http://www.bmj.bund.de/enid/ Gesellschaftsrecht/Internationales_Gesellschaftsrecht_1fi.html; hierzu zB Kußmaul/Richter/ Ruiner Der Betrieb 2008, 451 ff.
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obwohl die Gesellschaft ursprünglich in einem Mitgliedstaat wirksam gegründet wurde und damit Handlungsfähigkeit erlangt hatte. Diese Situation hat zu der problematischen Frage geführt, ob bzw inwieweit Art 43 iVm 48 EGV (49 iVm 52 AEUV) die Anwendung der Sitztheorie einschränken.164 Ohne hier eine umfassende Diskussion zu den angesprochenen Fragen im Verhältnis von internationalem Gesellschaftsrecht und Art 43, 48 EGV (49, 52 AEUV) zu führen, seien zumindest einige Argumente genannt, die zur Lösung der Problematik beitragen: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine unbegrenzte Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts dazu führen könnte, dass auch eine Gesellschaft aus einem außerhalb der EG liegenden Staates von Art 48 EGV (52 AEUV) erfasst sein könnte. Das wäre der Fall, wenn eine Gesellschaft in einem Drittstaat gegründet wurde und ihren Verwaltungssitz in einem Mitgliedstaat hat, der der Gründungstheorie folgt. Angesichts der bereits aufgezeigten grundlegenden Zielrichtung der Niederlassungsfreiheit, nur Personen aus den Mitgliedstaaten die Rechte des Art 43 EGV (49 AEUV) zu gewähren (Rn 6 f), erscheint diese Konsequenz nicht tragbar.165 Überdies ist zu bedenken, dass eine vom Unionsrecht unbegrenzte Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts dazu führen würde, dass derselbe Sachverhalt in einem Mitgliedstaat mit Sitztheorie anders beurteilt werden könnte als in einem Mitgliedstaat mit Gründungstheorie. Das ist mit dem Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts schlechthin nicht vereinbar.166 Schon diese Gesichtspunkte zwingen dazu, eine unbegrenzte Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts für unvereinbar mit Art 43, 48 EGV (49, 52 AEUV) anzusehen. Es gilt daher auch bei Art 48 EGV (52 AEUV) der dem Unionsrecht eigentümliche Grundsatz, dass hier zwar eine Regelungsmaterie vorliegt, die zunächst von den Mitgliedstaaten bestimmt wird, zugleich aber das Unionsrecht dabei nicht unberücksichtigt bleiben darf.167 Daraus folgt, dass die grundsätzlich zulässige Anwendung mitgliedstaatlichen internationalen Gesellschaftsrechts keine Verkürzung der freiheitlichen Rechtsgarantien des Art 43 EGV (49 AEUV) bewirken darf. Grundlage der Lösung der angesprochenen Probleme im Spannungsverhältnis von internationalem Gesellschaftsrecht und Art 48 EGV (52 AEUV) ist also die Freiheitsgarantie des Art 43 EGV (49 AEUV).168
164 Aus dem überaus umfangreichen Schrifttum s nur Behrens IPrax 1999, 323 ff; Ebke JZ 1999, 656 ff; Forsthoff EuR 2000, 167 ff; Kindler NJW 1999, 1993 ff; Meilicke GmbHR 2000, 693 ff; Roth ZGR 2000, 311 ff; Sonnenberger/Großerichter RIW 1999, 721 ff; Leible/Hoffmann RIW 2002, 925 ff; Grundmann Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, Rn 760 ff; im Überbl zur einschlägigen Rspr des EuGH a Frenz (Fn 13) Rn 2077 ff. 165 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 16; Lehmann RIW 2004, 816, 817. 166 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 17. 167 So überzeugend EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 52 ff – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3; Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 39 – Überseering; ähnlich zB Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 18. 168 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 2; iE ebenso EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 14 ff – Centros; Slg 2002, I-9919, Rn 56 ff – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155, Rn 95 ff – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4; anders wohl noch EuGH, Slg 1988, 5483, Rn 21 ff – Daily Mail; aA weiterhin zB Kindler NJW 1999, 1993, 1996 ff.
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Gegen diese Argumentation lässt sich auch nicht einwenden, dass das internationale Gesellschaftsrecht, wie Art 293 EGV zeige, jedenfalls bis zum In-Kraft-Treten des Vertrages von Lissabon nicht Regelungsgegenstand des EGV sei und überdies das Subsidiaritätsprinzip (Art 5 II EGV/5 III EU nF) die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in diesem Rechtsbereich gebiete.169 Diese beiden Begründungsstränge gehen fehl, da Art 293 EGV (vgl nun 81 II c AEUV) – wie der Vergleich zu Art 295 EGV (345 AEUV) zeigt – keinen „Gesetzesvorbehalt“ zugunsten der Mitgliedstaaten im internationalen Gesellschaftsrecht statuiert170 und das Subsidiaritätsprinzip bei der Auslegung der primärrechtlich verankerten Grundfreiheiten prinzipiell keine Rolle spielt.171 Insg ergibt sich damit, dass das internationale Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten, insb mit Blick auf die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts, von Art 48 EGV (52 AEUV) dem Grunde nach unberührt bleibt. Wenn ein Mitgliedstaat sein internationales Gesellschaftsrecht anwendet, um über die Frage zu entscheiden, ob eine Gesellschaft gem Art 48 I EGV (52 AEUV) „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ gegründet wurde bzw weiterhin rechtlich existiert, müssen aber nach allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Grundfreiheiten Beachtung finden. Soweit eine Berücksichtigung der Grundfreiheiten, insb Art 43 EGV (49 AEUV), nicht im Rahmen gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts möglich ist, bleibt es nur bei der Möglichkeit, das kollidierende mitgliedstaatliche Recht nach der Lehre von den zwingenden Allgemeininteressen zu rechtfertigen.172 Allerdings ist zu beachten, dass der EuGH diese Grundsätze nicht auf alle Fälle, in denen es um die Mobilität von Gesellschaften im Binnenmarkt geht, zur Anwendung bringt. Vielmehr ist dem Gerichtshof zufolge zu differenzieren: Wenn es um den Zuzug einer Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen anderen geht und es um die Anwendung des innerstaatlichen Rechts des letzteren geht (also des Mitgliedstaates, in den die Gesellschaft ihren Sitz verlagern will), finden die Freiheitsgarantien der Art 43, 48 EG (49, 52 AEUV) umfassend Anwendung. Steht hingegen der Wegzug einer Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat und dem ggf entgegenstehendes Recht dieses Mitgliedstaats zur Debatte, gewährt der EuGH den Mitgliedstaaten eine verbleibende Regelungsautonomie, soweit es um eine rechtsformwahrende Sitzverlegung geht; der Mitgliedstaat kann dies also verhindern.173 Wenn demgegenüber die fragliche Gesellschaft einen „nur“ grenzüberschreitenden Formwechsel (idR als Umwandlung) beabsichtigt, kann dies von dem Mitgliedstaat, in dem sie gegründet wurde, nicht verhindert werden. Diese „Zweispurigkeit“ der Niederlassungsfreiheit bei Zuzugs- und bei Wegzugskonstellationen ist dogmatisch zwar nicht konsequent und in der Begründung zu kritisieren, nunmehr aber wohl als gesicherte EuGH-Rechtsprechung anzusehen.174
169 So zB Kindler NJW 1999, 1993, 1997 f. 170 EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 54 – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3; Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 42 – Überseering. 171 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 48 EGV Rn 14. 172 EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 78 ff und 83 ff – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3; Slg 2003, I-10155, Rn 95 ff und 106 ff – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4; Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 43 – Überseering; ebenso iE bereits EuGH, Slg 1999, I-1459, Rn 14 ff – Centros. 173 EuGH, EuZW 2009, 75 – Cartesio. 174 Hierzu und zu weiteren Einzelheiten ausführlich Mörsdorf EuZW 2009, 97 ff mwN.
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Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass sich in konsequenter Fortführung der dargestellten EuGH-Rspr in den Zuzugsfällen neben dem EG-Recht aus dem Völkerrecht weit reichende Einschränkungen der innerstaatlichen Anwendbarkeit der Sitztheorie ergeben können. Das gilt zunächst mit Blick auf Bestimmungen in zahlreichen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträgen, die eine gegenseitige Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Gesellschaften verlangen. Der BGH hat diesbezüglich unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Überseering-Entscheidung des EuGH in einem Urt v 29. Januar 2003 der entspr Klausel in dem deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag von 1954 unmittelbare Anwendbarkeit zugesprochen mit der Konsequenz, dass das Personalstatut der betroffenen Gesellschaft aus Florida nach USamerikanischem Recht bestimmt werden musste.175 Dabei traf der BGH in Anlehnung an die dargestellte EuGH-Rspr die folgende zentrale Aussage: „Wenn Inländerbehandlung, Meistbegünstigung und Niederlassungsfreiheit vereinbart sind und eine Gesellschaft demgemäß sich in einem anderen Land geschäftlich betätigen darf, kann ihr dort nicht die Rechtspersönlichkeit abgesprochen werden, die ihr nach dem Recht des Staates zusteht, in dem sie errichtet worden ist. Insb die Niederlassungsfreiheit hat die volle Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit mit zum Inhalt“.176 Die zit Feststellung des BGH hat unmittelbare Konsequenzen für den wohl bedeutungsvollsten völkerrechtlichen Vertrag, der die Anwendung der Sitztheorie einschränkt, das GATS. Nach den bereits kurz dargestellten Regelungen des GATS (Rn 9 f) besteht in Dienstleistungsbereichen, für die von den WTO-Mitgliedern Liberalisierungsverpflichtungen übernommen wurden, ua das Recht von ausländischen Gesellschaften zur so genannten kommerziellen Präsenz. Kommerzielle Präsenz wird definiert als „jede Art geschäftlicher oder beruflicher Niederlassung durch – unter anderem – die Errichtung oder Fortführung einer juristischen Person“ (Art XXVIII lit d i GATS). Als juristische Person gilt dabei „eine nach geltendem Recht ordnungsgemäß gegründete oder anderweitig errichtete rechtsfähige Organisationseinheit“ (Art XXVIII lit l GATS). Aus diesen Festlegungen, die sich als Niederlassungsrecht (vgl Art XVI GATS) zusammenfassen lassen und die durch die Garantie der Inländergleichbehandlung (Art XVII GATS) und der Meistbegünstigung (Art II GATS) abgesichert werden, folgt iS des zit BGH-Urt unmittelbar, dass eine in einem WTO-Mitglied wirksam gegründete Gesellschaft zumindest in Deutschland – und nach WTO-Recht letztlich auch in jedem anderen WTO-Mitglied – in ihrer Rechtsfähigkeit anzuerkennen ist, soweit es um die Erbringung von Dienstleistungen geht. Für die Anwendung der Sitztheorie verbleibt damit kaum noch Raum.177 Lösung Fall 5: Durch die Anwendung der Sitztheorie zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts der BV kommt es zur Beurteilung ihrer Rechtsfähigkeit nach deutschem Recht. Da nach der Feststellung des OLG die BV nach deutschem Recht nicht rechtsfähig ist, konnte sie nicht parteifähig iSv § 50 ZPO sein. Damit ist für die BV eine Situation entstanden, die sie bei vorheriger Kenntnis der Rechtslage davon abgehalten hätte, ihren Verwaltungssitz nach
175 BGH, DB 2003, 818, 819. 176 BGH, DB 2003, 818, 819. 177 Ebenso Hoffmann in: Anwaltkommentar BGB, Anh zu Art 12 EGBGB, Rn 146 ff; zurückhaltender Lehmann RIW 2004, 816 ff; aA Kindler in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2006, IntGesR Rn 482.
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Deutschland zu verlegen. Insofern führt die Anwendung der Sitztheorie dazu, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit mit Blick auf die BV deutlich weniger attraktiv ist. Vor diesem Hintergrund liegt eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Art 43, 48 EGV (49, 52 AEUV) vor. Dagegen spricht auch nicht, dass nach gegenwärtigem Stand des Unionsrechts den Mitgliedstaaten dem Grunde nach die Regelungszuständigkeit für das internationale Gesellschaftsrecht verbleibt. Diese Regelungszuständigkeit entbindet nämlich nicht von der Beachtung der Grundfreiheiten. Fraglich ist damit nur, ob eine Rechtfertigung der Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Art 43, 48 EGV (49, 52 AEUV) möglich ist. Die Anwendung der Sitztheorie bezweckt ua einen Gläubiger- und Arbeitnehmerschutz.178 Allerdings ist nicht ersichtlich, warum die der Sitztheorie zugrunde liegenden Interessen dazu führen müssen, dass einer im Ausland wirksam gegründeten Gesellschaft in Deutschland die Rechts- und damit Parteifähigkeit abgesprochen wird. Eine solche Rechtsfolge stellt eine erhebliche Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit dar, da die fragliche Gesellschaft plötzlich „ihres rechtlichen Besitzstandes beraubt“ wird,179 was einer „Negierung“ der Niederlassungsfreiheit gleichkommt.180 Folglich ist die Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit unverhältnismäßig und nicht zu rechtfertigen.181
178 Zu Einzelheiten s BGH, DB 2000, 1114; Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 50 – Überseering. 179 Schlussanträge GA Colmer, EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 57 – Überseering. 180 EuGH, Slg 2002, I-9919, Rn 93 – Überseering = JK 5/03, EGV Art 43/3. 181 Zur Möglichkeit der Rechtfertigung in einer vergleichbaren Fallkonstellation ausführlich EuGH, Slg 2003, I-10155, Rn 131 ff – Inspire Art = JK 6/04, EGV Art 43/4.
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§ 11 Dienstleistungsfreiheit Eckhard Pache Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave/Union Cycliste Internationale; Slg 1976, 1333 ff – Dona/Mantero; Slg 1984, 377 ff – Luisi und Carbone; Slg 1991, I-682 ff, I-718 ff, I-735 ff – Fremdenführer; Slg 1994, I-1039 ff – Schindler; Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments; Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; Slg 1999, I-2517 ff – Ciola; Slg 2000, I-2595 ff – Deliége; Slg 2000, I-2685 ff – Lehtonen und Cators Braine; Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter; Slg 2003, I-4509 ff – Müller-Fauré; Slg 2004, I-6613 ff – Barcadi France; Slg 2005, I-2733 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2005, I-3761 ff – Kommission/Belgien; Slg 2005, I-4133 ff – Burmanjier; Slg 2005, I-7287 ff – Coname; Slg 2005, I-7723 ff – Mobistar und Belgacom Mobile; Slg 2005, I-8585 ff – Parking Brixen; Slg 2005, I-8831 ff – Kommission/Frankreich; Slg 2005, I-9315 ff – Contse ua; Slg 2006, I-885 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2006, I-963 ff – Kommission/Spanien; Slg 2006, I-2941 ff – Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti; Slg 2006, I-3303 ff – Anav; Slg 2006, I-4326 ff – Watts; Slg 2006, I-5843 ff – von de Coevering; Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina und Majcen; Slg 2006, I-9041 ff – Kommission/ Österreich; Slg 2006, I-9461 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Slg 2006, I-9521 ff – Fidium Finanz; Slg 2006, I-10653 ff – Kommission/Belgien; Slg 2006, I-11421 ff – Cipolla ua; Slg 2007, I-181 ff – ITC; Slg 2007, I-1163 ff – Kommission/Dänemark; Slg 2007, I-1425 ff – Centro Equestre da Lezivia Grande; Slg 2007, I-1891 ff – Placanica; Slg 2007, I-3185 ff – Stamatelaki; Slg 2007, I-5701 ff – Kommission/Belgien; Slg 2007, I-6957 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2007, I-9777 ff – Kommission/Irland; Slg 2007, I-11767 ff – Laval; Slg 2007, I-12231 ff – Jundt; Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. Schrifttum: Buchner Zukunft des Arbeitsrechts: Eingriff in das nationale Arbeitsrecht durch den EuGH – Missachtung des Subsidiaritätsprinzips?, BB Beilage 2008, Nr 004, 6 ff; Calliess Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie: Von der Dienstleistungsfreiheit zur Dienstleistungsrichtlinie – und wieder Retour?, DVBl 2007, 336 ff; Calliess/Ruffert Kommentar zu EUVertrag und EG-Vertrag, 3. Aufl 2007; Clausnitzer Die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit in der EG, ZAP Fach 25, 97 ff (2000); Eicker/Seiffert EuGH: Haftung des Vergütungsschuldners gemäß § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG trotz Beitreibungsrichtlinie?, BB 2007, 358 ff; Eisenmenger Der einheitliche Ansprechpartner in Deutschland: Die „Kammergemeinschaft“ als schlanker Umsetzungsvorschlag, NVwZ 2008, 1191 ff; Fischer H G Europarecht. Grundlagen des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit deutschem Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl 2001; Grabitz/Hilf Das Recht der Europäischen Union; von der Groeben/Schwarze Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl 2003; Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff Handkommentar zum EU-Vertrag; Hailbronner/Nachbauer Die Dienstleistungsfreiheit in der Rechtsprechung des EuGH, EuZW 1992, 105 ff; Hatje Die Dienstleistungsrichtlinie – Auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert, NJW 2007, 2357 ff; Hilf/Pache Das Bosman-Urteil des EuGH. Zur Geltung der EG-Grundfreiheiten für den Berufsfußball, NJW 1996, 1169 ff; Hobe/Tietje Europäische Grundrechte auch für Profisportler – EuGH, NJW 1996, 505 ff JuS 1996, 486 ff; Kokott/Henze Ist der EuGH – noch – ein Motor für die Konvergenz der Steuersysteme? BB 2007, 913 ff; Kort Schranken der Dienstleistungsfreiheit im europäischen Recht, JZ 1996, 132 ff; Korte Mitgliedstaatliche Verwaltungskooperation und private Eigenverantwortung beim Vollzug des europäischen Dienstleistungsrechts, NVwZ 2007, 501 ff; Lenz EG-Vertrag Kommentar, 3. Aufl 2003; Leible Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risken für Deutschland, 2008; Möstl Wirtschaftsüberwachung von Dienstleistungen im Binnenmarkt – Grundsätzliche Überlegungen aus Anlass der Pläne für eine Dienstleistungsrichtlinie, DÖV 2006, 281 ff; Nowak Erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für mitgliedstaatliche Beschränkungen der EGGrundfreiheiten – Genereller Rechtsprechungswandel oder Sonderweg im Bereich der sozialen Sicherheit?, EuZW 2000, 627 ff; Pache, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, Baden-Baden 2006, § 10 Grundfreiheiten, 322 ff; Ruge Einheitlicher Ansprechpartner im neuen Verwaltungsverfahrensrecht, NdsVwBl. 2008, 305 ff; Schlachter/Ohler Europäische Dienstleistungsfreiheit, Handkommentar, 2008; Schmitz/Prell Verfahren über eine einheitliche Stelle – Das Vierte Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften,
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NVwZ 2009, 1 ff; Schwarze EU-Kommentar, 2. Aufl 2008; Sedemund Die mittelbare Wirkung der Grundfreiheiten für in Drittstaaten ansässige Unternehmen nach den EuGH-Urteilen FidiumFinanz AG und Cadbury Schweppes, BB 2006, 2781 ff; Streinz Der Fall Bosman und neue Fragen, ZEuP 2005, 340 ff; Streinz EUV/EGV, 2003; Tettinger Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Bosman – Bilanz und Perspektiven, 2001; Trautwein Der praktische Fall – Europarecht mit Völkerrecht: Schwangerschaftsabbruch in Irland, JuS 1995, 908 ff; Windoffer Ein Jahr EU-Dienstleistungsrichtlinie: Zur Diskussion um den einheitlichen Ansprechpartner unter Berücksichtigung des „Kammermodells“, GewArch 2008, 97 ff.
I. Einleitung 1. Die allgemeine Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht 1
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Art 49 EGV verbietet nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen des EGV Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind. Dienstleistungen sind dabei nach Art 50 EGV selbständig und mit grenzüberschreitendem Bezug erbrachte Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit diese nicht einer anderen Grundfreiheit des EGV unterfallen. Die Dienstleistungsfreiheit zählt angesichts der stark gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung des Dienstleistungssektors in den Volkswirtschaften der Gemeinschaft heute zu den Grundpfeilern des europäischen Binnenmarktes. Die Zusammensetzung der EU-Wirtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten tief greifend verändert. Mit dem außergewöhnlichen Wachstum des Dienstleistungssektors und seinem inzwischen erheblichen Anteil an der Bruttowertschöpfung in der Gemeinschaft haben die ursprünglich nur als Auffangtatbestand zur Niederlassungsfreiheit vorgesehenen Vorschriften der Art 49 ff EGV eine erhebliche selbständige Bedeutung erlangt.1 In allen EU-Mitgliedstaaten ist der Bereich der marktbestimmten Dienstleistungen, legt man das BIP zugrunde, mittlerweile mindestens doppelt so groß wie der des verarbeitenden Gewerbes, bei Einbeziehung der Dienstleistungen im sozialen und öffentlichen Bereich sogar dreimal so groß. Der europäische Dienstleistungssektor besitzt also enorme gesamtwirtschaftliche Bedeutung und birgt ein großes Potential für Wachstum, Wettbewerb und Beschäftigung. Seine europarechtliche Öffnung ist eine der zentralen Funktionsbedingungen des europäischen Binnenmarktes. Daher besitzt die Dienstleistungsfreiheit unter den gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten eine wichtige Funktion. Sie ist im EGV direkt im Anschluss an die Niederlassungsfreiheit (Art 43 ff EGV) und vor der Kapitalverkehrsfreiheit (Art 56 ff EGV) geregelt und weist insb durch Art 55 EGV, der einige Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit für anwendbar erklärt, inhaltliche Verflechtungen zur Niederlassungsfreiheit auf. Wie die Niederlassungsfreiheit setzt auch die Dienstleistungsfreiheit eine selbständige berufliche Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat voraus und wirft daher ähnliche Probleme auf. Ebenso besitzt die Dienstleistungsfreiheit wegen ihrer produktbezogenen Aspekte wesentliche Anknüpfungspunkte zur Warenverkehrsfreiheit.
1 Vgl zum Bedeutungswandel der Dienstleistungsfreiheit Hakenberg in: Lenz, EUV/EGV, Vor Art 49–55 EGV Rn 3; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 4 f; Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vor Art 49 bis 55 EGV Rn 2 ff.
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2. Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht Die Art 49 bis 55 EGV enthalten zum einen die allgemeinen Regelungen für den freien Dienstleistungsverkehr, zum anderen aber auch Sondervorschriften wie zB Art 51 EGV. Im Mittelpunkt stehen Art 49 und Art 50 EGV: Art 49 EGV als Grundvorschrift, die grds Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs für verboten erklärt, und Art 50 EGV, der den Begriff der Dienstleistung zu definieren versucht. Art 51 I EGV weist Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs der Verkehrspolitik zu und schränkt damit den Anwendungsbereich der Art 49 ff EGV ein. Für die Liberalisierung der Dienstleistungen von Banken und Versicherungen, die mit dem Kapitalverkehr verbunden sind, ordnet Art 51 II EGV eine Abstimmungspflicht mit den sekundärrechtlichen Vorschriften des Kapitalverkehrs an.2 Art 52 EGV ermächtigt die Gemeinschaftsorgane zur Sekundärrechtsetzung.3 Die Vorschrift des Art 53 EGV, wonach die Mitgliedstaaten grds auch zu weitergehender Liberalisierung bereit sind, hat nach Ablauf der Übergangszeit ihre normative Bedeutung verloren, wobei ihr auch vorher kaum praktische Bedeutung zukam.4 Art 54 EGV verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zur Aufhebung aller Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs alle Erbringer von grenzüberschreitenden Dienstleistungen untereinander gleich zu behandeln, und war insofern als Übergangsregelung gedacht.5 Mit Art 55 EGV als Verweisungsnorm auf einige Vorschriften im Bereich der Niederlassungsfreiheit endet der Abschnitt über die Dienstleistungsfreiheit. Die negative Definition der Dienstleistung in Art 50 I EGV („soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen“) verstärkte zunächst die Auffassung, die Dienstleistungsfreiheit sei lediglich eine „Auffangfreiheit“. Obwohl die Dienstleistungsfreiheit heute gleichrangig neben den anderen Grundfreiheiten steht, halten Rspr und Lit an diesem grdsen Konzept der „Auffangfreiheit“ dennoch insofern fest, als im Einzelfall eine Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten vorzunehmen ist und bei Vorliegen der einschlägigen Voraussetzungen vorrangig die speziellere Warenverkehrsfreiheit oder Niederlassungsfreiheit zur Anwendung kommt.6 Auffallend ist, dass der Vertrag in den Art 49 ff EGV nicht ausdrücklich von der „Dienstleistungsfreiheit“ spricht, sondern ausschließlich vom „freien Dienstleistungsverkehr“. Dies könnte zu der Annahme verleiten, dass Art 49 EGV möglicherweise nicht unmittelbar anwendbar ist, da er nicht ausdrücklich ein subjektives Recht enthält. Aufgrund der Rspr des EuGH besteht heute aber kein Zweifel, dass sich der Einzelne gegenüber mitgliedstaatlichen Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs unmittelbar auf Art 49 EGV berufen kann (→ allgem zu den Grundfreiheiten § 7 Rn 7).7 Damit sind
2 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 EGV Rn 2. 3 Ausf hierzu Rn 11 ff. 4 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 53 EGV; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 53 EGV Rn 1 f. 5 Streitig ist lediglich, ob diese Vorschrift inzwischen wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art 49 EGV ihre selbständige Bedeutung verloren hat. Vgl hierzu Holoubek in: Schwarze, EUV/ EGV, Art 54 EGV Rn 1 f; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 54 EGV Rn 1 f. 6 Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 4 f. 7 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 27 – van Binsbergen; die erste bedeutende Entscheidung des EuGH im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs, in der er die Dienstleistungsfreiheit für unmittelbar anwendbar erklärte.
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auch die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden an die durch Art 49 EGV verbürgte Berechtigung des Einzelnen gebunden, so dass sie unzulässige mitgliedstaatliche Beschränkungen nicht anwenden dürfen.8 Die Art 49 ff EGV vermitteln ein Abwehrrecht, das dem Einzelnen ermöglichen soll, diskriminierende oder sonstige beschränkende mitgliedstaatliche Regelungen außer Anwendung zu setzen; aus ihnen folgt aber nicht automatisch ein individueller Zulassungsanspruch.9 Mit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit einher geht die sog Vorrangwirkung (→ Näheres zur Vorrangwirkung der Grundfreiheiten § 7 Rn 9). Dies bedeutet, dass der Dienstleistungsfreiheit als geltendem Gemeinschaftsrecht grds keine mitgliedstaatlichen Vorschriften vorgehen können, und beinhaltet zugleich das Verbot für mitgliedstaatliche Gerichte oder Behörden, eine dem EGV entgegenstehende mitgliedstaatliche Vorschrift anzuwenden.10
3. Dienstleistungsfreiheit außerhalb des EG-Vertrages 7
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Im Vertrag zur Errichtung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) sind einige Dienstleistungstatbestände besonders geregelt. Hervorzuheben ist hier zB Art 97 EAG, der ein Beschränkungsverbot für natürliche und juristische Personen enthält, die sich am Bau von Atomanlagen wissenschaftlicher oder gewerblicher Art in der Gemeinschaft beteiligen wollen. Ferner sind die Art 75, 98, 10 und 15 EAG zu nennen, die aus dem Anwendungsbereich der Art 49 ff EGV herausfallen und gesonderten Regeln unterworfen sind.11 Die sog Europaabkommen mit verschiedenen Staaten des ehemaligen Ostblocks, in denen ausdrücklich die Möglichkeit eines Beitritts zur Gemeinschaft aufgeführt war, sahen im Kern die Errichtung einer Freihandelszone vor, die zunächst stufenweise verwirklicht werden sollte. Im Ergebnis sollte diese Entwicklung dann aber zu einer vollständigen Liberalisierung des Handels mit der Gemeinschaft führen.12 Im Bereich der Freizügigkeit statuierten die Abkommen lediglich ein Diskriminierungsverbot mit beschränkten Erleichterungen beim Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt.13 Nach dem nun erfolgten Beitritt der zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten wurde der freie Dienstleistungsverkehr in vollem Umfang liberalisiert. Übergangsregelungen bestehen nur für das Baugewerbe und Teile des Handwerks, die an die sog „2 plus 3 plus 2“-Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gekoppelt sind. Diese Regelung sieht vor, dass die derzeitigen Mitgliedstaaten während einer Übergangszeit von zunächst zwei Jahren Maßnahmen treffen, um den Zugang zum Arbeitsmarkt für Staatsangehörige der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer abw von der Richtlinie über die Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb der Gemeinschaft zu regeln. Diese Maßnahmen können die Mitgliedstaaten – nach einer Überprüfung auf Basis eines Berichts der Kommission – um weitere
8 Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 10 f mwN aus der Rspr; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 50 EGV Rn 34. 9 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 38. 10 Grundl hierzu EuGH, Slg 1964, 1253 ff – Costa. 11 Näher hierzu Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vor Art 49–55 EGV Rn 33. 12 Vgl hierzu insg näher Herrnfeld in: Schwarze, EUV, Art 310 EGV Rn 10. 13 Ausf hierzu und mwN Schmalenbach in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 310 EGV Rn 38.
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drei Jahre, sowie danach im Falle schwerer Störungen des Arbeitsmarktes oder der Gefahr einer solchen Störung noch einmal um zwei Jahre verlängern.14 In ihrem räumlichen Anwendungsbereich über die Regelungen des EGV im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs hinaus gehen die Regelungen und Pflichten des OECDKodex zur „Liberalisierung laufender unsichtbarer Operationen.“ In diesem Kodex sind diverse Vorgänge des internationalen Handelsaustausches geregelt, die zum Teil dem Dienstleistungsbegriff des EGV unterfallen. Die in diesem Kodex statuierten Liberalisierungspflichten bleiben jedoch inhaltlich deutlich hinter den entspr Vorgaben des EGV zurück.15 Auf völkerrechtlicher Ebene ist ferner das General Agreement on Trade in Services (GATS) zu erwähnen, das seit 1994 einen multilateralen, rechtlich durchsetzbaren Rahmen für den internationalen Dienstleistungshandel etabliert. Zu einer Kollision mit dem Gemeinschaftsrecht kommt es im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs aber insofern nicht, als der Gewährleistungsinhalt des GATS nicht über den der Art 49 ff EGV hinausgeht.16
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4. Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht Art 52 I EGV bildet die zentrale Vorschrift im Bereich der Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs durch Sekundärrecht. Er ist zugleich Ermächtigungsnorm für die zur Liberalisierung erforderlichen Rechtsangleichungsmaßnahmen, normiert inhaltliche Vorgaben für die Rechtsangleichung und regelt schließlich partiell das dabei einzuhaltende Verfahren.17 Damit stellt das Sekundärrecht neben der Gewährleistung eines Mindeststandards im Bereich der Dienstleistungsfreiheit durch seine unmittelbare Anwendbarkeit ein weiteres wesentliches Instrument zur Verwirklichung dieser Grundfreiheit dar. Die Rechtsetzungsermächtigung des Art 52 I EGV, der dem Rat den Erlass einzelner Richtlinien erlaubt, ersetzt den früheren Art 63 I EGV, der den Rat ermächtigte, ein allgem Programm zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs in der Gemeinschaft aufzustellen.18 Sowohl auf der Grundlage des Art 52 I EGV als auch auf der Grundlage des Art 47 iVm Art 55 EGV sind inzwischen zahlreiche Richtlinien für die verschiedenen Gewerbezweige und freien Berufe erlassen worden.19 Ein Großteil dieser Richtlinien dient gleichzeitig der Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs. Als exemplarisch wichtiger Bereich sekundärrechtlicher Liberalisierung des freien Dienstleistungsverkehrs hervorzuheben ist zum einen die sog Rechtsanwaltsrichtlinie aus
14 ABl 2003 Nr L 236/803; zu den Problemen aufgrund der Liberalisierung der Dienstleistungsfreiheit insb im Baugewerbe durch die Erweiterung um die MOE-Staaten Pechstein EuZW 2004, 167. 15 Näher hierzu Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vor Art 49–55 EGV Rn 35. 16 Eine Auflistung der Pflichten aus diesem Rahmenabkommen bieten Weiß/Hermann Welthandelsrecht, 2003, 355 ff. 17 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 EGV Rn 3. 18 Näher zur historischen Entwicklung im Bereich der Dienstleistungsfreiheit und zum Wandel der Liberalisierungskonzeption Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 EGV Rn 5 ff. 19 Ein Überblick über die wichtigsten Sekundärrechtsakte der letzten Jahre findet sich bei Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 Rn 20 ff. Für einen Überblick über den neuesten Stand des Sekundärrechts empfiehlt sich die Datenbank CELEX, zu finden unter www.europa.eu.int/celex.
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dem Jahr 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung der Dienstleistungsfreiheit.20 Sie ermöglichte Anwälten aus anderen Mitgliedstaaten die Erbringung von anwaltlichen Dienstleistungen im Aufnahmestaat, gab aber explizit kein Recht zur Niederlassung dieser Anwälte im Aufnahmestaat.21 Zum anderen sei an dieser Stelle die sog Fernsehrichtlinie erwähnt, die hinsichtlich der Werbung, des Schutzes von Jugendlichen und der Verwendung in Europa hergestellter Werke Mindestanforderungen aufstellt, die von allen Mitgliedstaaten bei der Ausstrahlung von Fernsehsendungen zu beachten sind.22 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Entsenderichtlinie). Sie stellt Mindestschutzbestimmungen für Arbeitnehmer auf, die von ihrem Arbeitgeber zur Erbringung von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, unabhängig davon, welchem Recht ihr Arbeitsverhältnis unterworfen ist.23 Sie hat zum Ziel, einen fairen Wettbewerb im länderübergreifenden Dienstleistungsverkehr zu gewährleisten sowie den Arbeitnehmerschutz zu verbessern und Rechtssicherheit herbeizuführen.
5. Neue Binnenmarktstrategie der Kommission vom Januar 2001 13
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Im Januar 2001 hat die Europäische Kommission für den Bereich der Dienstleistungen eine neue Strategie vorgelegt, um die noch verbliebenen Schranken im freien Dienstleistungsverkehr zu beseitigen.24 Diese Strategie sollte insg das Funktionieren des Binnenmarktes innerhalb der EG verbessern und sicherstellen, dass Dienstleistungserbringer in der Gemeinschaft genauso einfach tätig werden können wie in einem einzelnen Mitgliedstaat. Bereits 1999 hat der Europäische Rat in Lissabon gefordert, die EU innerhalb von 10 Jahren zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Internet und andere Elemente der Informationsgesellschaft haben dem Dienstleistungssektor eine neue Dynamik verliehen, weil sie die Kosten für die Beschaffung und Übermittlung von Informationen gesenkt und die Verbreitung von Innovationen über nationale Grenzen hinweg beschleunigt haben. Dadurch hat sich das Potential für die grenzüberschreitende Nachfrage und Erbringung von Dienstleistungen im Binnenmarkt gewaltig erhöht. Nachdem die Dienstleistungen bisher auf einer sektorbezogenen Grundlage behandelt worden sind, die zu einer Überbetonung branchenspezifischer Details geführt hat, ist nun ein neuer Ansatz entwickelt worden: Statt der traditionellen Unterteilung in verschiedene Wirtschaftszweige soll künftig ein umfassender und bereichsübergreifender Ansatz verfolgt werden, gezielt Anforderungen zu harmonisieren, die mehrere Sektoren
20 RL 77/249, ABl 1977 Nr L 78/17. 21 Inzwischen hat der Rat aber eine Anwaltsniederlassungsrichtlinie erlassen, die es Rechtsanwälten ermöglicht, den Anwaltsberuf ständig in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, auszuüben; vgl RL 98/5, ABl 1998 Nr L 077/36. Neben diesen beiden Richtlinien ist eine umfangreiche Rspr des EuGH in diesem Bereich ergangen. Näher hierzu und zur Berücksichtigung der Rechte europäischer Anwälte im Rahmen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auch Clausnitzer ZAP Fach 25, 97 ff (2000). 22 RL 89/552, ABl 1989 Nr L 331/51; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 EGV Rn 42 mwN. 23 RL 96/71, ABl 1997 Nr L 18/1 ff. 24 Vgl KOM (2000) 888 endg v 29.12.2000 – Eine Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor; auch zu finden unter http://www.europa.eu.int/comm/internal_market/de/sevices.htm.
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betreffen, also zB Vorschriften über Werbe-, Vertriebs- und Verkaufstätigkeiten sowie Kundendienst. Neben einer umfassenden und systematischen Aufstellung und Untersuchung der noch bestehenden Schranken und der Aufforderung an die Mitgliedstaaten, diese Hemmnisse zu beseitigen, wird die Kommission gezielt harmonisierte Regelungen vorschlagen für Anforderungen, die mehrere Sektoren betreffen. Die neue Strategie soll so einen neuen Rahmen für die Dienstleistungspolitik liefern, der, wo erforderlich, die Einführung gemeinsamer Rechtsvorschriften ermöglicht und gleichzeitig so flexibel ist, dass sich neue, innovative Dienstleistungen im Binnenmarkt uneingeschränkt entwickeln können. Diese Strategie führte im Juli 2002 zu einem umfassenden Bericht der Kommission, der insb die in den Mitgliedstaaten noch bestehenden komplexen Regeln für den Dienstleistungssektor behandelt und die Gefahr der Verdopplung von Vorschriften und Anforderungen bemängelt. Der Bericht macht außerdem deutlich, dass der Dienstleistungsverkehr sehr viel stärker von Behinderungen des Binnenmarktes betroffen ist als der Warenhandel, da viele Dienstleistungen komplex und immateriell sind und auf der Qualifikation des Dienstleistungserbringers basieren.25 Auf der Grundlage dieses Berichtes erarbeitete die Kommission einen Richtlinienvorschlag, der im Wesentlichen die allgem Geltung des Herkunftslandprinzips fordert, weitere Bereiche wie etwa Fragen des Verbraucherschutzes harmonisieren und die Überwachungsaufgaben zwischen Herkunft- und Aufnahmestaat sinnvoll aufteilen will. Ebenso sollte durch die Ausarbeitung von Qualitätssicherungssystemen die Qualität der Dienstleistungen verbessert werden.26 Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten ist 2006 letztlich die Dienstleistungsrichtlinie erlassen worden, auf die nachfolgend noch einzugehen ist (s u Rn 100).
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II. Schutzbereich 1. Räumlicher Schutzbereich Der räumliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit umfasst nach Art 299 I EGV, der den räumlichen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts regelt, grds das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. Gem Art 299 II EGV erstreckt sich der Anwendungsbereich auch auf Algerien und die überseeischen Gebiete. Mit gewissen Vorbehalten ist die Dienstleistungsfreiheit nach dem EWR-Vertrag auch im Verhältnis der EWR-Staaten untereinander anwendbar, da sie in den Art 36 bis 39 EWR-Vertrag mit nahezu identischem Inhalt wie im EGV gewährleistet wird.27
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2. Personeller Schutzbereich Vom personellen Schutzbereich des Art 49 EGV umfasst sind zunächst Angehörige der Mitgliedstaaten, wobei der Wortlaut des Art 49 EGV ausdrücklich auf die Dienstleistungserbringer abstellt. Erfasst werden ebenso die Dienstleistungsempfänger, die sich zum Zweck der Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat be-
25 KOM (2002) 441 endg v 30.7.2002. 26 KOM (2004) 2 v 13.01.2004; vgl hierzu nun auch die Klarstellungen der Kommission über Dienstleistungen im Binnenmarkt EuZW 2002, 418. 27 Vgl hierzu Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 60.
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geben.28 Im Unterschied zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und zur Niederlassungsfreiheit ist bei der Dienstleistungsfreiheit im Rahmen des personellen Schutzbereichs nicht allein auf die Staatsangehörigkeit des Dienstleistungserbringers bzw -empfängers abzustellen, sondern zusätzlich auch auf die Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat. Dies bedeutet, dass der Schutzbereich nur dann eröffnet ist, wenn beide am Dienstleistungsaustausch beteiligten Personen in einem Mitgliedstaat ansässig sind.29 Dabei ist zu beachten, dass die beteiligten Personen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind oder ein grenzüberschreitendes Element in dem Sinne gegeben ist, dass Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger zwar im selben Mitgliedstaat ansässig sind, sich aber zur Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat treffen.30 Die Tatsache, dass beide Personen die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen, steht der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit nicht entgegen. In den Schutzbereich fallen auch die Familienangehörigen desjenigen, der sich auf die Dienstleistungsfreiheit berufen kann. Sie besitzen abgeleitete Rechte auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer der Dienstleistung in den Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird. Angesichts des allgem Aufenthaltsrechts für Unionsbürger aus Art 18 EGV und des Sekundärrechts (insb Richtlinien 90/364 EWG; 73/148 EWG) hat diese Tatsache jedoch keine praktische Bedeutung mehr. Zwei Drittstaatsangehörige, die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind, können sich grds nicht auf Art 49 EGV berufen, da keiner von ihnen Träger der Dienstleistungsfreiheit sein kann.31 Gem Art 49 II EGV hat der Rat aber die Befugnis zu beschließen, dass Art 49 EGV auch auf Erbringer von Dienstleistungen Anwendung findet, die die Staatsangehörigkeit eines dritten Landes besitzen und innerhalb der Gemeinschaft ansässig sind. Von dieser Möglichkeit wurde bisher noch nicht Gebrauch gemacht.32 Die Frage, ob der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art 49 ff EGV auch eröffnet ist, wenn ein Beteiligter des fraglichen Lebenssachverhalts Angehöriger eines Drittstaats ist, war lange Zeit strittig. Eine unproblematische Erstreckung auch auf Angehörige von Drittstaaten ergibt sich, soweit für diesen Staat ein Beschluss gem Art 49 II EGV gefasst wird. Ein solcher Beschluss ist aber bisher noch nicht gefasst worden. Ohne einen solchen Beschluss wurden hinsichtlich der Erfassung von Sachverhalten mit Beteiligung von Drittstaatsangehörigen bis vor kurzem verschiedenste Positionen vertreten. Zum Teil wurde die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit bejaht, soweit bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer Angehöriger eines Mitgliedstaats sei, bei der passiven Dienstleistungsfreiheit dann, wenn der Empfänger den drittstaatsangehörigen Erbringer aufsuche. Zum Teil wurde auch eine unbegrenzte Anwendbarkeit bejaht.33
28 Vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 15; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 54 ff. 29 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 22; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/ Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 16/18. 30 So etwa in den sog Fremdenführerfällen, vgl hierzu Fn 78. 31 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf Art 49/50 EGV Rn 16. 32 Die Kommission hat hierzu einen Richtlinienvorschlag unterbreitet, der die Dienstleistungsfreiheit auf in der Gemeinschaft ansässige Drittstaatsangehörige ausdehnen soll, vgl ABl 1999 Nr C 76/17. 33 Vgl. hierzu Calliess/Ruffert EUV/EGV, Art 49/50 Rn 34 ff mwN.
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Dieser Meinungsstreit darf nunmehr als geklärt gelten. Der EuGH hat am 03.10.2006 zwei Entscheidungen erlassen, die die Frage der Drittstaatsberechtigung weitestgehend klären.34 In der ersten Entscheidung befasste sich der EuGH mit der Frage, inwieweit die passive Dienstleistungsfreiheit anwendbar ist, wenn der Erbringer Mitglied eines Drittstaats ist. Der EuGH entschied sich gegen die Empfehlung des Generalanwalts dafür, solche Fälle nicht in den Schutzbereich der Art 49 ff EGV einzubeziehen. Der EuGH betonte zwar ausdrücklich, dass sich auch aus dem Empfang einer Dienstleistung Rechte ergeben, stellte allerdings gleichzeitig klar, dass Art 49 ff EGV nur betroffen seien, soweit die Dienstleistung innerhalb der Gemeinschaft erbracht werde und der Erbringer Angehöriger eines Mitgliedstaates sei. Die bloße Ansässigkeit innerhalb der EG sei nicht ausreichend, es müsse zwingend auch die Staatsangehörigkeit hinzukommen. In der Lit stieß diese Rspr zum Teil auf Kritik und Ablehnung. Es wird kritisiert, dass sich der EuGH auf ein zu formalistisches Kriterium zurückziehe und die tatsächliche Lage verkenne.35 Es müsse auch berücksichtigt werden, dass der Empfänger nur sehr schlecht prüfen könne, ob der Erbringer auch tatsächlich Staatsangehöriger eines der 27 Mitgliedstaaten der EG sei.36 Es könne daher nicht sein, dass die Berechtigung von der Staatsangehörigkeit abhänge, da dies Rechtssicherheit verhindere. Die zweite Entscheidung des EuGH vom 03.10.200637 behandelte die Frage, ob sich auch ein Angehöriger eines Drittstaates auf die Dienstleistungsfreiheit des EG-Vertrages berufen kann. Dies verneinte der EuGH deutlich, wenngleich auch ohne weitere Begründung.38 Diese Rechtsauffassung wurde allerdings bereits 1995 von Generalanwalt Elmer vertreten.39 Der EuGH musste sich dann allerdings in seinem Urt selbst mit dieser Frage nicht mehr auseinandersetzen, da sie nicht mehr entscheidungserheblich wurde. In der Lit wird dieses Urt soweit ersichtlich weitgehend akzeptiert. In der mitgliedstaatlichen Rspr wird das Urt rezipiert und entspr umgesetzt.40 Es wird allerdings gefordert, dass auf Grund des EWR-Vertrages Staatsangehörige der EFTA-Staaten, die diesen Vertrag ratifiziert haben (Norwegen, Liechtenstein, Island, nicht aber die Schweiz), die Rechte der Art 49 ff EGV geltend machen können. Dies folge daraus, dass nach Art 6 des EWiR-Abkommens die Regelungen des Vertrages, die substantiell identisch mit denen des EG-Vertrages sind, entspr auszulegen seien.41 Unionsbürgern gleichgestellt sind gem Art 55 iVm Art 48 EGV Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, sowie deren Beschäftigte.42
34 EuGH, Slg 2006, I-9461 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Slg 2006, I-9521 ff – Fidium Finanz. 35 Eicker/Seiffert BB 2007, 358. 36 So schon Antrag GA Léger, EuGH, Slg 2006, I-9641 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen. 37 EuGH, Slg 2006, I-9521 ff – Fidium Finanz 38 Auch der Antrag des GA in dieser Sache ist unergiebig. 39 EuGH, Slg 1995, I-3955 ff – Svensson und Gustavsson 40 Vgl nur OVG Saarland v 25.04.2007, LKRZ 2007, 323. 41 Sedemund BB 2006, 2781; Streinz ZEuP 2005, 347 f. 42 EuGH, Slg 1990, I-1417 ff – Rush Portuguesa; Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 49 Rn 56.
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3. Sachlicher Schutzbereich 27
Eine präzise Definition der Dienstleistung findet sich weder in Art 49 EGV noch in Art 50 EGV. Aufgrund der zu diesen Artikeln ergangenen Rspr des EuGH und der Auslegung der Art 50 EGV (insb Leistungsbegriff, Entgeltlichkeit, Unkörperlichkeit und vorübergehender Charakter der Dienstleistung) und Art 49 EGV (Grenzüberschreitung der Leistung) lassen sich aber bestimmte Kriterien feststellen, die für die Einordnung eines wirtschaftlichen Vorgangs als Dienstleistung iSd Dienstleistungsfreiheit relevant sind. a) Definition der Dienstleistung gem Art 50 EGV
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Merkmale der Dienstleistungsfreiheit werden in allen drei Absätzen des Art 50 EGV genannt. Abs 1 beschreibt die Dienstleistung als entgeltliche Tätigkeit und scheidet negativ all die Leistungen aus dem Dienstleistungsbegriff aus, die den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen (zur Abgrenzung s u Rn 43 ff). Abs 2 zählt als Dienstleistungen gewerbliche Tätigkeiten (zB Baugewerbe, Reiseveranstaltung, Filmwesen), kaufmännische Tätigkeiten (zB Bankund Börsenwesen, Versicherungen), handwerkliche Tätigkeiten (zB Friseure, sanitäre Dienste) und freiberufliche Tätigkeiten (zB Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte) auf, wobei diese Aufzählung nicht abschließend ist. In Abs 3 kommt weiter zum Ausdruck, dass es sich bei der Dienstleistung auch um eine nur vorübergehende Tätigkeit handeln darf. Dieser wenig aussagekräftigen Zusammenstellung kann bereits entnommen werden, dass sich aus dem EGV keine griffige Definition des Begriffes der Dienstleistung ableiten lässt.43 Erstes Charakteristikum einer Dienstleistung ist gem Art 50 I EGV ihre Entgeltlichkeit. Diese ist anzunehmen, wenn es sich um eine Leistung handelt, die „in der Regel gegen Entgelt“ erbracht wird. Entgelt ist hierbei zu verstehen als eine geldwerte Gegenleistung für die ursprünglich erbrachte Leistung. Nicht erforderlich ist, dass der Leistungsempfänger selbst die Gegenleistung erbringt, allerdings wird ein gewisses Maß an Stoffgleichheit zwischen Dienstleistung und Entgelt bzw ein gewisses Näheverhältnis zwischen Dienstleistungserbringer, -empfänger und demjenigen, der die Gegenleistung erbringt, vorausgesetzt.44 Keine Entgeltlichkeit liegt vor, wenn die Leistung im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanziert und ohne geldwerte Gegenleistung erbracht wird.45 Dass Dienstleistungen „in der Regel gegen Entgelt“ erbracht werden, bedeutet, dass die Person oder der Betrieb, der sie erbringt, damit einen Erwerbszweck verfolgt. Dies bedeutet wiederum, dass der angestrebte wirtschaftliche Erfolg ausschlaggebend ist, wobei eine auf Kostendeckung ausgerichtete Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht ausreicht.46 Zusammenfassend kann man daher sagen, dass Dienstleistungen dann vom Anwendungsbe-
43 So Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 24. 44 EuGH, Slg 1988, 2085, Rn 16 – Bond van Adverteerders, wonach ein Kabelnetzbetreiber ua den Programm-Produzenten Dienste leistet, während sein Entgelt aus den Gebühren der Teilnehmer und aus Werbeeinnahmen besteht; Slg 1998, I-1931 – Kohll, wonach auch bei Versicherungsleistungen eine Entgeltlichkeit der Leistung für den Versicherungsnehmer vorliegt; vgl auch Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/59 EGV Rn 36; Hakenberg in: Lenz, EUV/ EGV, Art 49/50 EGV Rn 13. 45 EuGH, Slg 1988, 5365, Rn 18 – Humbel. Hierzu mwN Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 20. 46 Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 49 Rn 21.
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reich des Art 50 EGV erfasst sind, wenn man sie dem Wirtschaftsleben, auf das Art 2 EGV Bezug nimmt, zurechnen kann. Hierunter können auch Tätigkeiten geringer wirtschaftlicher Bedeutung fallen, wenn gleichwohl der Hauptzweck – der Erwerbszweck – gegeben ist.47 Wenn damit der angestrebte wirtschaftliche Erfolg ausschlaggebend ist, kann der Leistungsinhalt – ob er nun wirtschaftlicher Natur oder sozialer, karitativer oder religiöser Natur ist – unbeachtet bleiben.48 Zu beachten ist ferner, dass die wirtschaftliche Tätigkeit nicht notwendigerweise den von Art 50 II EGV genannten traditionellen Kategorien der gewerblichen, kaufmännischen, handwerklichen und freiberuflichen Tätigkeit unterfallen muss. Inzwischen können viele moderne Tätigkeiten wie bspw Rundfunk- und Medientätigkeiten, Telekommunikationsdienste und Immobiliengeschäfte als Dienstleistungen eingestuft werden.49 Auch im Bereich des öffentlichen Auftragswesens ist die Dienstleistungsfreiheit anwendbar, wobei sich der EuGH hier vielfach mit der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Bevorzugung nationaler Anbieter befasst hat.50 Bietet der Staat selbst Leistungen an, ist danach zu differenzieren, ob er unternehmerähnlich am Wirtschaftsleben teilnimmt oder ob er durch öffentliche Abgaben finanzierte Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllt.51 Zur Definition der Dienstleistung gehört ferner das Kriterium der Selbständigkeit. Die Art 49 ff EGV erfassen nur jene Leistungen, die selbständig erbracht werden; das Kriterium der Selbständigkeit dient folglich der Abgrenzung gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit (näher dazu s u Rn 44). Ein weiteres wesentliches Kriterium der Dienstleistungsfreiheit liegt darin, dass es sich um eine nicht-körperliche Leistung handeln muss. Dieses Kriterium dient der Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit und wird an anderer Stelle ausf behandelt (s u Rn 46). Schließlich findet sich in Art 50 III EGV der Hinweis darauf, dass sich der Dienstleistungserbringer nur vorübergehend zwecks der Erbringung seiner Leistung in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten darf; es darf daher keine wirtschaftliche Integration in diesem Mitgliedstaat erfolgen. Durch dieses Kriterium unterscheiden sich die Dienstleistungsund die Niederlassungsfreiheit, wobei auch dieses Abgrenzungsproblem an anderer Stelle erörtert wird (s u Rn 43). Unerheblich ist dagegen die aus dem deutschen Recht bekannte Unterscheidung in Dienst- und Werkvertrag. Auch Tätigkeiten, die nach deutschem Recht nach einem Werkvertrag geschuldet werden, unterfallen der Dienstleistungsfreiheit, soweit sie die og Merkmale aufweisen.
47 EuGH, Slg 1989, 4441 ff – Corsica Ferries. 48 Als Bsp für eine Dienstleistung, die ausschließlich aus sozialen bzw politischen Motiven erbracht wird, vgl insb EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan, in dem Dritte über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen informiert hatten, ohne dass ein wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen dem Informierenden und dem die Tätigkeit durchführenden Dritten bestand. Ausf hierzu Trautwein JuS 1995, 908 ff. 49 Einen Überblick über solche von der Rspr als Dienstleistungen qualifizierte Tätigkeiten bietet Hakenberg in: Lenz, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 9 ff. 50 Im Einzelnen unterfallen dem Dienstleistungssektor in diesem Bereich verschiedene Richtlinien wie bspw die Baukoordinierungsrichtlinie. Einen Überblick hierzu gibt Hakenberg in: Lenz, EUV/EGV, Anh zu Art 43–55 EGV Rn 14. 51 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 49/50 Rn 12.
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Fall 1: (EuGH, Slg 1984, 377 ff – Luisi und Carbone): Die italienischen Staatsangehörigen Luisi und Carbone mit Wohnsitz in Italien hatten eine größere Menge nicht-italienischer Devisen erworben, um damit Auslandsreisen innerhalb der EG und medizinische Behandlungen außerhalb Italiens zu bezahlen. Insb Frau Luisi hatte sich mehrfach in Deutschland medizinischen Behandlungen unterzogen. Nach den seinerzeit geltenden italienischen Rechtsvorschriften war die Ausfuhr ausländischer Devisen aber nur bis zu einer bestimmten Höhe erlaubt. Da Luisi und Carbone bei mehreren Banken mehr als die zulässige Summe umgetauscht hatten, wurden ihnen durch Bescheide des Schatzministeriums auf der Grundlage der italienischen Rechtsvorschriften Geldbußen auferlegt. Hiergegen erhoben Luisi und Carbone Klage und machten geltend, dass die betreffenden Vorschriften ua gegen Art 49 ff EGV verstießen. Sind die italienischen Rechtsvorschriften mit dem freien Dienstleistungsverkehr vereinbar?
Der sachliche Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art 49 ff EGV ist nur dann eröffnet, wenn zusätzlich zu den oben dargestellten Kriterien des Art 50 EGV ein grenzüberschreitendes Element hinzukommt. Der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr kann sich in folgenden drei Konstellationen vollziehen: Art 49 EGV erfasst von seinem Wortlaut her zunächst den „klassischen“ Fall grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung, in dem der Dienstleistungserbringer vorübergehend die Grenze überschreitet, um in einem anderen Mitgliedstaat seine Dienstleistung zu erbringen. Typisches Beispiel ist ein Architekt, der in einem anderen Mitgliedstaat ein Projekt erstellt und hierzu die Grenzen überschreitet. Für diesen Fall enthält Art 50 III EGV die ausdrückliche Gewährleistung, dass der Dienstleister zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit unter den Voraussetzungen, die dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt, in dem Staat ausüben kann, in dem die Leistung erbracht wird. Diese Konstellation der Dienstleistungsfreiheit wird aktive Dienstleistungsfreiheit (Dienstleistungserbringungsfreiheit) genannt. Vom Zweck, nicht aber vom genauen Wortlaut der Art 49 ff EGV umfasst ist auch der Fall, dass statt des Dienstleistungserbringers der Dienstleistungsempfänger vorübergehend die Grenze überschreitet, um sich in einem anderen Mitgliedstaat die Leistung anbieten oder erbringen zu lassen. Der EuGH hat zu Recht die Dienstleistungsfreiheit rechtsfortbildend um diese passive Dienstleistungsfreiheit (Dienstleistungsempfangsfreiheit) ergänzt.52 Eine typische Fallvariante dieser Dienstleistungsfreiheit sind touristische Aufenthalte, bei denen sich der Dienstleistungsempfänger in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort touristische Leistungen wie Museumsbesuche uä zu empfangen. Anzumerken ist, dass aus der passiven Dienstleistungsfreiheit kein Recht auf unbegrenzten Aufenthalt im Aufnahmestaat abgeleitet werden kann.53 Neben diesen zwei Fallkonstellationen, in denen die beteiligten Personen im Vordergrund stehen, gibt es eine dritte Konstellation, bei der lediglich die Dienstleistung als solche die Grenze überschreitet, während die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässigen Dienstleistungsempfänger und -erbringer keine Ortsveränderung vornehmen. Diese Variante der Dienstleistungsfreiheit wird Korrespondenzdienstleistungsfreiheit genannt.
52 Vgl mwN und Bsp aus der Rspr Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 43; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 36. 53 EuGH, Slg 1988, 6159 ff – Steymann.
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Ein typisches Beispiel hierfür sind Bank- und Versicherungsdienstleistungen. Gerade diese Korrespondenzdienstleistungen treten in jüngerer Zeit zB im Zuge der Entwicklung der Telekommunikationsmöglichkeiten in den Mittelpunkt der Problematik des freien Dienstleistungsverkehrs.54 In diesem Zusammenhang ist ferner zu erwähnen, dass wegen des grenzüberschreitenden und verkehrsbezogenen Ansatzes der Dienstleistungsfreiheit auch alle Formen der Vertragsanbahnung, Werbung und Verkaufsförderung in den Anwendungsbereich des Art 49 EGV fallen. Der EuGH hat darauf hingewiesen, dass der freie Dienstleistungsverkehr illusorisch würde, wenn bspw nationale Regelungen schon das Anbieten von Dienstleistungen nach Belieben behindern könnten.55 Lösung Fall 1: Fraglich war, ob die italienischen Rechtsvorschriften mit den Art 49 ff EGV vereinbar sind. Dafür müsste zunächst der Schutzbereich des Art 49 EGV eröffnet sein. Sowohl der räumliche als auch der personelle Schutzbereich sind eröffnet, da sich der Sachverhalt in Italien und Deutschland abspielt und Frau Luisi auch in einem Mitgliedstaat, nämlich in Italien, ansässig ist. Bei den von L in Deutschland in Anspruch genommenen medizinischen Leistungen handelt es sich auch um Dienstleistungen, da sie selbständig erbracht werden und entgeltlich sind. Frau Luisi müsste aber auch Berechtigte sein. Sie begibt sich ja nicht zum Zweck der Leistungserbringung nach Deutschland, sondern zum Empfang der Dienstleistung. Obwohl der Wortlaut der Art 49 und 50 EGV nur die aktive Dienstleistungsfreiheit umfasst, hat der EuGH in diesem Urt festgestellt, dass der vorliegende Fall (wenn sich der Leistungsempfänger in einen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Leistung zu empfangen) die notwendige Ergänzung zur aktiven Dienstleistungsfreiheit darstellt, die dem Ziel entspricht, jede gegen Entgelt geleistete Tätigkeit, die nicht unter den freien Waren- und Kapitalverkehr und unter die Freizügigkeit der Personen fällt, zu liberalisieren. Daraus folge, dass der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen – auch im Hinblick auf Zahlungen – daran gehindert zu werden und dass Touristen sowie Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen, und solche, die Studien- oder Geschäftsreisen unternehmen, als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen sind.56 Für Frau Luisi bedeutet dies, dass für sie der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit in Ausprägung der passiven Dienstleistungsfreiheit eröffnet ist und sie sich daher auf die Art 49 ff EGV berufen kann.
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c) Bereichsausnahme Aufgrund der Verweisung des Art 55 EGV auf Art 45 EGV findet die Dienstleistungsfreiheit auf Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, in diesem Mitgliedstaat keine Anwendung. Art 45 EGV ist kein Rechtfertigungsgrund, sondern eine Bereichsausnahme und daher bereits im Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen. Die Tätigkeiten, die unter diese Ausnahme fallen, müssen eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung
54 Weiterführend hier Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 40 ff; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 44 ff. 55 EuGH, Slg 1995, I-1141, Rn 19 – Alpine Investments. 56 EuGH, Slg 1984, 377, Rn 16 – Luisi und Carbone.
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öffentlicher Gewalt beinhalten.57 Für den Dienstleistungsbereich ist insb von Bedeutung, dass sich dieser Vorbehalt nicht auf Tätigkeiten rein technischer Natur erstreckt, also zB nicht Planungsarbeiten, Softwareerstellung oder die Verwaltung von Datenverarbeitungssystemen für öffentliche Behörden erfasst.58 d) Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten 43
Wie bereits erwähnt, ist das Kriterium des vorübergehenden Aufenthalts für die Abgrenzung der Dienstleistungsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit ausschlaggebend. Grds ist der vorübergehende Charakter einer Tätigkeit nicht nur unter Berücksichtigung der Dauer der Leistung, sondern auch ihrer Häufigkeit, regelmäßigen Wiederkehr oder Kontinuität zu beurteilen. Wer also seine Tätigkeit in diesem Sinne nicht nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, sondern in stabiler und kontinuierlicher Weise dort einer Berufstätigkeit nachgeht, unterfällt den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit.59 Wenn sich der Dienstleistungserbringer in dem anderen Mitgliedstaat eine bestimmte Infrastruktur aufgebaut hat (zB die Anmietung von Büroräumen), spricht dies nicht zwingend gegen den vorübergehenden Charakter der Leistung, wenn sie für die Erbringung der Dienstleistung erforderlich ist. Bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Erfordernisses der Eintragung einer über mehrere Jahre in Deutschland tätigen portugiesischen Firma in die deutsche Handwerksrolle hatte der EuGH die Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit angewendet, obwohl sich die Tätigkeit über mehrere Jahre erstreckt hat und möglicherweise eine gewisse Infrastruktur vorhanden war.60 Nach der jüngeren Rspr des EuGH wurde der Begriff der Dienstleistungsfreiheit auch in zeitlicher Hinsicht noch ausgedehnt, da eine solche nunmehr auch vorliegen könne, wenn die Leistung über einen längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren erbracht wird, zB wenn es sich um Dienstleistungen handelt, die im Rahmen eines Großbauprojektes erbracht werden.61 Die Abgrenzung ist also trotz des scheinbar klaren Unterscheidungsmerkmals des zeitlichen Momentes nicht immer eindeutig, wie zB im Falle ständig wiederholter, kurzfristiger Tätigkeiten über die Grenze hinweg oder dann, wenn ein Geschäftsbetrieb von vornherein darauf ausgerichtet ist, Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung zu erbringen.62 Zudem ist bei Beginn einer Tätigkeit im Aufnahmestaat oft nicht absehbar, ob eine kontinuierliche Tätigkeit in dem anderen Mitgliedstaat im ökonomischen Sinne überhaupt möglich ist. Es ist hier daher immer auf die Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen, um zu einem nachvollziehbaren Ergebnis zu kommen (→ vgl § 10 Rn 1 ff).
57 EuGH, Slg 1989, 4035, Rn 13 – EDV-Systeme. 58 Vgl Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 44. 59 Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 26 und insb EuGH, Slg 1995, I-4165, Rn 27 – Gebhard. 60 Vgl EuGH, Slg 2003, I-14847, Rn 28 – Schnitzer. Allerdings sei es Sache des nationalen Gerichts, zu überprüfen, ob das ausländische Unternehmen in Deutschland eine solche Infrastruktur unterhalte, dass es dort als niedergelassen angesehen werden könnte (Rn 33). Insoweit ließ es der EuGH offen, welche Infrastruktur das portugiesische Unternehmen möglicherweise unterhielt. 61 Vgl dazu Lottes EuZW 2004, 112 ff. 62 Krit hinsichtlich des Kriteriums der Dauer mwN Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, 135 ff.
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Hinsichtlich der Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 39 ff EGV) kommt es darauf an, ob die Tätigkeit selbständig oder in abhängiger Beschäftigung erbracht wird. Hier erscheinen Kollisionen zunächst kaum denkbar, da sich die in diesen beiden Grundfreiheiten beteiligten Personenkreise relativ eindeutig aufgrund des Kriteriums der Selbständigkeit voneinander abgrenzen lassen. ZB ist auch eine Prostitutionstätigkeit als Dienstleistung anzusehen, wenn nachgewiesen ist, dass der Dienstleistende sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt, sondern in eigener Verantwortung gegen ein Entgelt ausübt, das ihm vollständig und unmittelbar gezahlt wird.63 Problematisch sind insoweit lediglich die Fälle, in denen sich Arbeitnehmer eines in einem bestimmten Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort für ihren Arbeitgeber Dienstleistungen zu erbringen. Geschieht dies nur vorübergehend, ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet.64 Entscheidendes Abgrenzungskriterium in diesen Fällen ist danach die Dauer der Tätigkeit im Ausland. Abgrenzungsprobleme zur Kapitalverkehrsfreiheit (Art 56 ff EGV) ergeben sich insb in Bezug auf die mit Kapitalbewegungen verbundenen Bank- und Versicherungsdienstleistungen. Dabei fallen die Tätigkeiten der Banken, die nicht an den Kapitalverkehr gekoppelt sind (bspw Vermietung von Schließfächern, Beratung bei Immobilienprojekten), grds in den Schutzbereich der Art 49 ff EGV. Umgekehrt gilt für die Tätigkeiten der Banken und Versicherungen, die über den reinen Kapitalverkehr hinausgehen und deshalb den Art 49 ff EGV unterfallen können, die Liberalisierungsvorschrift des Art 51 II EGV.65 Betreffen einzelne Etappen eines grenzüberschreitenden Wirtschaftsvorganges sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit, so ist eine Schwerpunktbildung vorzunehmen und dann die Grundfreiheit heranzuziehen, die dem Wirtschaftsvorgang seine Prägung gibt.66 Die Abgrenzung zum freien Warenverkehr (Art 23 ff EGV) kann dann notwendig werden, wenn die grenzüberschreitende Lieferung einer Ware mit Dienstleistungen verbunden ist, bzw wenn bei einer gemischten Leistung nicht eindeutig ist, welche Elemente überwiegen.67 In solchen Fällen ist nicht mehr klar, ob Gegenstand des grenzüberschreitenden Verkehrs ein körperlicher Gegenstand (dann Warenverkehrsfreiheit) oder eine unkörperliche Leistung (dann Dienstleistungsfreiheit) ist. Man könnte in solchen Fällen an eine Aufspaltung der beiden Bereiche denken oder an eine Schwerpunktsetzung, bei der es auf den bei der fraglichen Leistung im Vordergrund stehenden Inhalt ankommt. In der bisherigen Rspr des EuGH zu dieser Abgrenzungsfrage sind beide Wege im Einzelfall schon angewendet worden. In einem Fall, in dem es um die Gesamtheit von Fernsehleistungen ging und die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit auf diesen Sachverhalt fraglich war, hat der EuGH eine Aufspaltung vorgenommen: In Ermangelung ausdrücklich entgegenstehender Vertragsbestimmungen hat er Fernsehsendungen ihrer Natur nach als Dienstleistungen angesehen; den Handel mit sämtlichen
63 EuGH, Slg 2001, I-8615 ff – Jany. 64 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 31 ff mwN. S hierzu insb EuGH, Slg 1990, I-1417 ff – Rush Portuguesa. 65 Allerdings hat Art 51 II EGV inzwischen wegen der weitgehenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs durch zahlreiche Sekundärrechtsakte praktisch seine Bedeutung verloren. 66 Vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 139. 67 Hakenberg in: Lenz, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 8.
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Materialien, Tonträgern, Filmen und sonstigen Erzeugnissen, die für die Ausstrahlung von Fernsehsendungen benutzt werden, hat er aber den Bestimmungen über den freien Warenverkehr untergeordnet.68 Bei Abgrenzungsproblemen, die sich aus der Natur des Handelsgutes ergeben – wie zB bei Strom und Abfällen –, ist inzwischen eine umfangreiche Rspr des EuGH ergangen.69
III. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 47
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Fall 2: (EuGH, Slg 1999, I-2517 ff – Erich Ciola): Herr Ciola war Betreiber eines Bootshafens im zu Österreich gehörenden Teil des Bodensees. Nachdem er bei der zuständigen Behörde eine Abänderung bestimmter behördlicher Auflagen beantragt hatte, erließ diese einen Bescheid (individuelle Verwaltungsentscheidung), wonach es ihm verboten wurde, Anlegeplätze über ein bestimmtes Kontingent hinaus an Bootseigner mit Wohnsitz im Ausland zu vermieten. Begründet wurde dieses Verbot mit der Benachteiligung der einheimischen Bootseigner, die grds nicht über dieselbe Finanzkraft wie die ausländischen Bootseigner verfügten. Da Herr Ciola dennoch an zwei Bootseigner mit Wohnsitz in Deutschland bzw in Liechtenstein je einen Liegeplatz vermietet hatte, obwohl das zulässige Ausländerkontingent von maximal 60 Liegeplätzen bereits überschritten gewesen war, wurden gegen ihn von der zuständigen Behörde Geldstrafen verhängt. Dagegen erhob Herr Ciola Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof, der sich veranlasst sah, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob diese Beschränkung den Bestimmungen des freien Dienstleistungsverkehrs widerspreche. Fall 3: (EuGH, Slg 1995, I-1141 ff – Alpine Investments): Die Alpine Investments BV (AIBV) ist eine in den Niederlanden ansässige Gesellschaft und auf sog Warentermingeschäfte spezialisiert. Im Rahmen von Warenterminverträgen verpflichten sich die Parteien, eine bestimmte Menge Waren einer bestimmten Qualität zu einem Preis und Zeitpunkt, der bei Vertragsschluss festgelegt wird, zu kaufen oder zu verkaufen. Ziel dieses Geschäfts ist es ausschließlich, von Preisschwankungen zwischen dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses und der Lieferung zu profitieren. Die AIBV hat in mehreren Mitgliedstaaten Kunden. Zu Werbezwecken betrieb die AIBV das sog „cold calling“, das darin besteht, dass mit Privatleuten ohne deren vorherige schriftliche Zustimmung telefonisch Kontakt aufgenommen wird, um ihnen verschiedene Finanzdienstleistungen anzubieten. Die niederländische Regierung untersagte mit Hinweis auf die einschlägigen niederländischen Werbebestimmungen für den Wertpapierhandel diese Werbepraxis und dehnte dieses zunächst nur innerstaatlich wirkende Verbot auch auf Dienstleistungen aus, die von AIBV in anderen Mitgliedstaaten angeboten wurden. AIBV machte geltend, dass dieses Verbot gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße, soweit es potentielle Kunden betreffe, die in anderen Mitgliedstaaten als den Niederlanden ansässig seien.
Ähnlich wie beim freien Warenverkehr und bei der Niederlassungsfreiheit sind bei der Dienstleistungsfreiheit Diskriminierungen und sonstige Beschränkungen auf verschiedene Art und Weise denkbar. Bevor im Einzelnen auf diese unterschiedlichen Möglichkeiten
68 EuGH, Slg 1974, 409 ff – Sacchi. 69 Ausf hierzu und mwN aus der Rspr Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 26.
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eingegangen wird, soll zunächst der Blick auf die Adressaten bzw Verpflichteten des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots der Art 49 ff EGV gerichtet werden.
1. Adressaten Adressaten des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots sind grds die Mitgliedstaaten. Dem Mitgliedstaat zurechenbar sind sämtliche Handlungen von Trägern öffentlicher Gewalt, auch Selbstverwaltungskörperschaften mit Hoheitsbefugnissen, wie Handwerkskammern oder Kammern freier Berufe.70 Alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die es unmöglich machen oder erschweren, dass Angehörige eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat (aktiv) Dienstleistungen erbringen oder (passiv) in Anspruch nehmen, fallen unter dieses Verbot.71 Beschränkungen sind daher sowohl durch formelle und materielle Gesetze als auch durch Einzelfallentscheidungen möglich. Die Diskriminierung oder sonstige Beschränkung kann nicht nur vom „Aufnahmestaat“, sondern auch vom „Herkunftsstaat“ ausgehen.72 Auch die Gemeinschaftsorgane können Adressaten der Art 49 ff EGV sein, wobei der EuGH allerdings mehr als ein Missbrauchsverbot für den Gemeinschaftsgesetzgeber aus den Vertragsbestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit nicht abgeleitet hat. So darf der Gemeinschaftsgesetzgeber die Pflichten der Mitgliedstaaten aus den Grundfreiheiten nicht konterkarieren, in dem er zB Rechtsakte erlässt, die im Ergebnis zu einer Verfestigung oder gar Vermehrung mitgliedstaatlicher Handelshemmnisse führen.73 Bei der Frage, ob auch Private an das Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot der Art 49 ff EGV gebunden sind, stellt sich die grundsätzliche Problematik, ob die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten auch die Rechtsverhältnisse zwischen Privatpersonen untereinander regeln und damit Wirkungen zwischen Privaten entfalten können.74 Grds ist davon auszugehen, dass Art 49 EGV nur Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten, nicht aber auf privatautonomer Basis erfolgende Einschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs verbietet.75 In weiten Teilen der Lit wird jedoch dann eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten angenommen, wenn Kollektivorganisationen einseitig zwingende Regelungen erlassen haben (→ vgl a § 7 Rn 52 f).76 Der EuGH hat in einer neueren Entscheidung die Bindung einer Privatbank an die Arbeitnehmerfreizügigkeit angenommen, die eine diskriminierende Regelung in ihren Ausschreibungsbedingungen anwandte.77 Es darf indes bezweifelt werden, ob diese Entscheidung einen weiteren Schritt in Richtung unbeschränkter Drittwirkung der Grundfreiheiten darstellt (→ vgl hierzu § 7 Rn 52 f).
70 Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 49 Rn 61. 71 Vgl H G Fischer ER II, § 17 Rn 6. 72 Vgl hierzu ausf Holoubek in: Schwarze, EGV/EUV, Art 49/50 EGV Rn 63, der unter Erläuterung des sog „funktionellen Staatsbegriffs“ insb darauf eingeht, welche Maßnahmen einem Mitgliedstaat zugerechnet werden können. 73 Vgl Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 66 ff. 74 Ausf Hinw zu dieser Frage im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vor Art 39–55 EGV Rn 53 ff. 75 Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 64. 76 Vgl EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. 77 EuGH, Slg 2000, I-4139 ff – Angonese.
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2. Diskriminierung a) Offene Diskriminierung 53
Obwohl Art 49 EGV ausdrücklich nur von Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs spricht, fallen unter dieses Beschränkungsverbot zunächst alle innerstaatlichen Regelungen oder Praktiken, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder wegen des Umstandes, dass sie im Aufnahmestaat nicht dauerhaft ansässig sind, diskriminieren. Es gilt damit das Gebot der Inländergleichbehandlung des Art 50 III EGV, wonach das Merkmal der Staatsangehörigkeit nicht dazu benutzt werden darf, eigene Staatsangehörige und Angehörige aus anderen Mitgliedstaaten offensichtlich ungleich zu behandeln. Eine derartige offene Diskriminierung liegt zum Beispiel vor, wenn eine bestimmte Tätigkeit in einem Mitgliedstaat den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten wird.78 b) Versteckte Diskriminierung
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Unter den Begriff „Diskriminierung“ fallen aber nicht nur offene Diskriminierungen, sondern auch sog versteckte Diskriminierungen.79 Dabei geht es um Regelungen, die zwar formal nicht zwischen Inländern und sonstigen Normadressaten unterscheiden, bei denen aber in Anbetracht der sachlichen Umstände zu erwarten ist, dass sie für nicht ortsansässige Angehörige anderer Mitgliedstaaten mit nachteiligen Auswirkungen bzw Behinderungen verbunden sind.80 So richtete sich zB der Preis für Lotsentätigkeiten an der italienischen Küste gem staatlicher Festsetzung danach, ob die gelotsten Schiffe eine besondere Zulassung für regelmäßige Fahrten in italienischen Küstengewässern hatten; war dies der Fall, waren die Tarife niedriger. Diese speziellen Dienste in der Küstenschifffahrt wurden in der Regel nur von Schiffen italienischer Eigner durchgeführt. Das geltende Tarifsystem bevorzugte damit praktisch Schiffe italienischer Eigner und war deswegen eine versteckte Diskriminierung.81 Grds nicht entscheidend für die Beurteilung, ob eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit diskriminierend ist, ist nach der Rspr des EuGH der Umstand, dass in anderen Mitgliedstaaten die Erbringer gleicher Dienstleistungen weniger strengen Vorschriften unterworfen sind als im Heimatstaat des Dienstleistungserbringers. Das in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungsniveau wirkt sich somit nicht per se als Diskriminierung aus.82 c) Ansässigkeitserfordernisse
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Die Erbringung von Dienstleistungen kann ferner an besondere Ansässigkeitserfordernisse im Empfangsstaat geknüpft sein. Solche sog Präsenzpflichten, die das Erfordernis einer gewerblichen Niederlassung oder des privaten Wohnsitzes im Empfangsstaat für den Dienstleistungserbringer vorschreiben, sind grundsätzlich unzulässige versteckte Diskriminierungen, da Angehörige des Empfangsstaates diese Voraussetzung regelmäßig erfüllen
78 EuGH, Slg 1994, I-923 ff – Fremdenführer. 79 Eine beispielhafte Aufzählung versteckter Diskriminierungen findet sich bei Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 49 Rn 78 ff. 80 Vgl Kluth in: Calliess/Ruffert Art 49/50 EGV Rn 53. 81 EuGH, Slg 1994, I-1783 ff – Corsica Ferries. 82 Genauer hierzu Kort JZ 1996, 132, 135.
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werden.83 Eine versteckte Diskriminierung liegt bspw vor, wenn ein öffentlicher Auftrag nur an Unternehmen vergeben wird, die ihren Sitz in dem Gebiet haben, in dem der Auftrag ausgeführt werden soll.84 Ein Mitgliedstaat darf auch nicht die Erbringung von Dienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet von der Einhaltung aller Voraussetzungen abhängig machen, die für eine Niederlassung gelten. Dies würde den Bestimmungen des EGV, deren Ziel es ja gerade ist, die Dienstleistungsfreiheit zu gewährleisten, jede praktische Wirksamkeit nehmen.85 Lediglich im Rahmen der Rechtfertigung einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit kann ein solches Präsenzerfordernis dann ausschlaggebend sein. d) Abgrenzung zum allgem Diskriminierungsverbot Fraglich ist, wie das Diskriminierungsverbot der Art 49 ff EGV gegenüber dem allgem Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV abgegrenzt werden kann. Gem Art 12 EGV ist jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Dieses Verbot beansprucht umfassende Geltung im gesamten Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, der auch den freien Dienstleistungsverkehr umfasst. Der EuGH hat die Dienstleistungsfreiheit gegenüber Art 12 EGV grds als „lex specialis“ eingeordnet, die bei entspr Sachverhalt vorrangig anwendbar ist. Unsicherheiten bestehen nur, wenn Regelungen zur Überprüfung stehen, die dem Randbereich der Dienstleistungsfreiheit zuzuordnen sind. Die größere Übersichtlichkeit spricht in solchen Fällen dafür, Diskriminierungen, die schwerpunktmäßig die Berechtigten der Dienstleistungsfreiheit erleiden, auch der Dienstleistungsfreiheit und nicht Art 12 EGV zuzuordnen.86 Lösung Fall 2: Zunächst müsste für Herrn Ciola der Schutzbereich der Art 49 ff EGV eröffnet sein. Er vermietet die Bootsliegeplätze entgeltlich; eine andere Grundfreiheit wie bspw die Niederlassungsfreiheit wird nicht tangiert. Es handelt sich auch um einen grenzüberschreitenden Vorgang, da Angehörige aus anderen Mitgliedstaaten diese Bootsliegeplätze bei ihm anmieten (passive Dienstleistungsfreiheit). Der Schutzbereich des Art 49 EGV ist damit eröffnet. Fraglich ist nun, welche Art von Beeinträchtigung vorliegt. Um eine offene Diskriminierung würde es sich handeln, wenn hier offensichtlich aus Gründen der Staatsangehörigkeit zwischen ortsansässigen und ausländischen Bootseignern differenziert würde. Anknüpfungspunkt in dem Bescheid der Behörde ist aber nicht die Staatsangehörigkeit, sondern der Wohnsitz der Bootseigner. Eine offene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit scheidet also aus. Es liegt aber eine versteckte Diskriminierung vor. Das Kriterium des Wohnsitzes ist zwar an sich ein neutrales Kriterium, führt aber im vorliegenden Fall zum gleichen Ergebnis: Benachteiligt werden diejenigen, die nicht ortsansässig sind, und Gebietsfremde sind zugleich meist Ausländer. Ausländer werden daher in diesem Fall eher benachteiligt. Der EuGH hat hierzu insb ausgeführt, dass bei einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, die Gefahr, dass sie sich hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt, besonders
83 Der EuGH hatte sich schon frühzeitig mit Fällen dieser Art zu befassen und hat solche Ansässigkeitserfordernisse jeweils als ungerechtfertigte Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit beanstandet. Vgl hierzu Troberg/Tiedje in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 49 EGV Rn 36. 84 EuGH, Slg 1992, I-3401 ff – Kommission/Italien. 85 Vgl Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 80 mwN zur Rspr des EuGH. 86 Gerade in diesen Randbereichen ist die Rspr des EuGH nicht einheitlich; vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 50 und 132 f.
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groß ist, da Gebietsfremde meist Ausländer sind. Es liegt daher eine versteckte Diskriminierung vor.
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Lösung Fall 3: Zunächst müsste für AIBV der Schutzbereich der Art 49 ff EGV eröffnet sein. Die Leistungen der Gesellschaft werden gegen Entgelt erbracht und sind keinen anderen Grundfreiheiten zuzuordnen. Dem Anwendungsbereich des Art 49 EGV steht auch nicht entgegen, dass es sich bei den fraglichen Dienstleistungen um bloße Angebote handelt, da von Art 49 EGV auch alle Formen der Vertragsanbahnung, Werbung, Verkaufsförderung und damit auch des sog „cold calling“ erfasst werden. Es handelt sich hier um eine sog Korrespondenzdienstleistung, da die Dienstleistung telefonisch angeboten wird und daher im Falle der Angebotsannahme nur die Dienstleistung die Grenze überschreitet, wohingegen die AIBV die Dienstleistung ohne Ortswechsel von dem Mitgliedstaat erbringt, in dem sie ansässig ist. Der Schutzbereich des Art 49 EGV ist damit eröffnet. Es müsste weiter eine Beschränkung entweder in Form einer Diskriminierung oder in Form einer sonstigen Beschränkung vorliegen. Das vorliegende niederländische Verbot der Werbepraxis des „cold callings“ unterscheidet nicht zwischen In- und Ausländern; vielmehr ist es auf Inländer wie auf Ausländer gleich anwendbar. Eine Diskriminierung liegt daher nicht vor. Da dieses Verbot jedoch der AIBV ein schnelles und direktes Mittel der Werbung und Kontaktaufnahme mit potentiellen Kunden in anderen Mitgliedstaaten nimmt, kann es als sonstige Beschränkung des grenzüberschreitenden freien Dienstleistungsverkehrs qualifiziert werden. Wenn dieses Verbot aber nun lediglich die Art und Weise beträfe, in der die Dienstleistungen angeboten würden, und gerade nicht bezweckte oder bewirkte, dem nationalen Markt einen Vorteil gegenüber den Dienstleistungserbringern aus anderen Mitgliedstaaten zu verschaffen, könnte es eine Art „Verkaufsmodalität“ darstellen. Damit wäre das Verbot möglicherweise in Anlehnung an die Keck-Rspr dem Anwendungsbereich des Art 49 EGV entzogen. Der EuGH hielt entgegen, dass das Verbot der telefonischen Kundenwerbung mit einer Verkaufsmodalität, wie sie im Rahmen der Keck-Rspr entwickelt wurde, nicht vergleichbar sei. Der Grund für die Ausnahme von Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich des Art 28 EGV liege nämlich darin, dass die Anwendung derartiger nationaler Regelungen, die im Gebiet des Einfuhrmitgliedstaats bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, nicht geeignet sei, den Marktzugang für diese Erzeugnisse im Einfuhrmitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tue. Das Verbot im vorliegenden Fall, so der EuGH, betrifft aber nicht nur die Angebote, die AIBV den inländischen Leistungsempfängern macht, sondern betrifft auch die Angebote an Leistungsempfänger in einem anderen Mitgliedstaat und beeinflusst daher unmittelbar den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten. Mangels Vergleichbarkeit kann hier daher die Keck-Rspr nicht herangezogen werden. Das Werbeverbot in den niederländischen Regelungen stellt daher eine sonstige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar.
3. Beschränkungen a) Umfassendes Beschränkungsverbot 59
Ähnlich der Entwicklung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH schon frühzeitig entschieden, dass neben Diskriminierungen auch sonstige Beschränkungen die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigen können.87 In einem Fall, in dem ein zur Prozessver87 Zur Entwicklung der Rspr vgl Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 89 f.
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tretung beauftragter niederländischer Rechtsanwalt seinen Wohnsitz und Geschäftssitz von den Niederlanden nach Belgien verlegte und daraufhin wegen entgegenstehender Vorschriften der niederländischen Prozessordnung vom Ausgangsstaat nicht mehr als Prozessbevollmächtigter zugelassen wurde, hat sich der EuGH erstmalig mit dieser Frage befasst.88 Er entschied damals, dass „unter Beschränkungen, deren Beseitigung die Art 49 EGV und Art 50 EGV vorsehen, alle Anforderungen fallen, die an den Leistenden namentlich aus Gründen seiner Staatsangehörigkeit oder wegen des Fehlens eines ständigen Aufenthaltes in dem Staate, in dem die Leistung erbracht wird, gestellt werden und nicht für im Staatsgebiet ansässige Personen gelten oder „in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu behindern oder zu unterbinden.“ 89 Aufgrund dieser Rspr verbietet Art 49 EGV nicht nur diskriminierende Ungleichbehandlungen, sondern auch sonstige Beschränkungen, die sich aus der unterschiedslosen Behandlung von in- und ausländischen Dienstleistungserbringern ergeben.90 Diese sonstigen Beschränkungen können sowohl vom Staat des Dienstleistungsempfängers als auch vom Staat des Dienstleistungserbringers („Ausgangsbeschränkungen“) ausgehen. Im ersten Fall geht es meist um Zugangs- oder Zulassungsbeschränkungen zu einer bestimmten Tätigkeit oder deren Ausübung. Typische Beispiele sind zB das Erfordernis einer bestimmten behördlichen Erlaubnis für eine Dienstleistung, die in einem anderen Mitgliedstaat nicht erlaubnispflichtig ist,91 oder das Erfordernis einer bestimmten beruflichen Qualifikation.92 Auch vom Herkunftsstaat des Dienstleistungserbringers dürfen keine Beschränkungen ausgehen. In jüngerer Zeit hatte der EuGH auch zahlreiche Fälle aus dem Rundfunkbereich zu entscheiden, in denen es meist darum ging, Sendeanstalten, die aus einem Mitgliedstaat in einen anderen ausstrahlen, den dort geltenden Beschränkungen hinsichtlich der Sendezeiten, Werbung etc zu unterwerfen und ihnen damit eine konkurrierende Tätigkeit unmöglich zu machen. Solche Auflagen wurden in der Regel als „sonstige Beschränkungen“ iSv Art 49 EGV angesehen.93 Zusammenfassend kann man daher festhalten, dass der EuGH den Beschränkungsbegriff der Art 49 ff EGV weit gefasst hat und Art 49 EGV als ein umfassendes Beschränkungsverbot versteht: Von Art 49 EGV sind alle Beschränkungen erfasst, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaates im Ergebnis erschweren. Fall 4: (EuGH, Slg 2002, I-6279 – Carpenter = JK 12/02, EGV Art 49/6): Die mit einem Briten verheiratete philippinische Staatsanghörige Frau Carpenter lebte ohne Aufenthaltsgenehmigung in Großbritannien und wehrte sich gegen die von britischen Behörden ausgesprochene Ausweisung mit der Begründung, dass sie für die aus der ersten Ehe ihres Mannes stammenden Kinder sorge und damit dessen Berufsausübung erleichtere.
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EuGH, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen. EuGH, Slg 1974, 1299, 1309 ff – van Binsbergen. Vgl H G Fischer ER II, § 17 Rn 5. EuGH, Slg 1991, I-4221 ff – Säger. Einzelfälle zu den Zulassungserfordernissen sind aufgeführt bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 114 ff. 93 Vgl Hakenberg in: Lenz, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 23 mit zahlreichen Hinw auf die Rspr. Inzwischen haben sich diese Probleme aber durch die sog „Fernsehrichtlinie“ etwas entschärft, die eine doppelte Kontrolle einer Sendeanstalt durch zwei Mitgliedstaaten verbietet und grundsätzlich den Staat als zuständig bestimmt, dessen Rechtshoheit die Anstalt unterliegt.
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Herr Carpenter verkaufte Werbeflächen in Zeitschriften auch in anderen Mitgliedstaaten und musste aus diesem Grunde häufig zu Geschäftszwecken in die anderen Mitgliedstaaten reisen. Liegt in der Ausweisungsverfügung eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit?
b) Modifikation 63
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Die Weite des Beschränkungsbegriffs des Art 49 EGV, der entspr auch für die anderen Grundfreiheiten gilt, ist nicht unproblematisch. Die Möglichkeit einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit besteht bei sehr vielen Maßnahmen, die nur einen mittelbaren Bezug zu einer gewerblichen Tätigkeit aufweisen, wie zB Regelungen über den Grundstückserwerb oder die Kreditvergabe.94 Sie schafft zum anderen Raum für vermehrt politische Entscheidungen. Deshalb ist daran zu denken, ähnlich wie im Bereich der Warenverkehrsfreiheit eine Eingrenzung des Verbots sonstiger Beschränkungen vorzunehmen (→ vgl § 8 Rn 1 ff). Für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit hatte der EuGH nichtdiskriminierende Regelungen von Verkaufsmodalitäten nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit angesehen (Keck-Formel).95 Die Folge einer Übertragung dieser Rspr auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit wäre, dass nur solche mitgliedstaatlichen Vorschriften, die vergleichbar wie „produktbezogene Regelungen“ ausschließlich den Marktzugang der Dienstleistung betreffen, als sonstige Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit anzusehen wären. Der EuGH hat sich bisher weder für noch gegen eine Eingrenzung des Beschränkungsverbotes entspr der Keck-Formel ausgesprochen, so dass im Zweifelsfall von einer solchen Eingrenzung abgesehen werden sollte.96 Fraglich ist auch, ob für diese Eingrenzung überhaupt ein praktisches Bedürfnis besteht, da die weite Fassung des Beschränkungsverbots grds durch legitime Interessen der Mitgliedstaaten auf der Rechtfertigungsebene korrigiert werden kann. Lösung Fall 4: Fraglich ist, ob Frau Carpenter in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit fällt. Grundsätzlich können sich Familienangehörige ebenfalls auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, sie besitzen abgeleitete Rechte auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer der Dienstleistungserbringung (Art 1 I lit c RL 73/148 EWG). Ob ein Drittstaatler ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in dem Herkunftsmitgliedstaat des Ehegatten hat, ist jedoch nicht Gegenstand der Richtlinie. Auch der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit selbst ist aus dem gleichen Grund nicht eröffnet. Der EuGH prüfte daraufhin, ob die Ausweisungsverfügung eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit des Ehemannes darstellt. Der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit ist eröffnet, da Herr Carpenter in anderen Mitgliedstaaten Dienstleistungen erbringt. Es müsste weiterhin eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit vorliegen. Eine solche liegt vor, wenn ein in den Schutzbereich fallendes Verhalten behindert oder erschwert wird. Die Ausweisung der Ehefrau hätte nachteilige Auswirkungen auf die weitere berufliche Tätigkeit des Herrn Carpenter, da er möglicherweise keine ausgedehnten Auslandsreisen mehr unternehmen kann. Gerechtfertigt werden kann eine solche Beschränkung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses. Als
94 Vgl im Einzelnen Roth in: HdBEUWirtschR, Abschn E1 Rn 107. 95 EuGH, Slg 1993, I-6097 ff – Keck. 96 Einen umfangreichen Überblick über diese Problematik geben Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 91 ff.
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solcher kommt die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Betracht, da der Aufenthalt der Frau Carpenter den in Großbritannien geltenden Gesetzen widerspricht. Als Schranken-Schranken sind jedoch die Unionsgrundrechte zu beachten, die allgem Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind (Art 6 II EUV). Die Ausweisung stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Recht des Herrn Carpenter auf Achtung seines Familienlebens nach Art 8 EMRK dar, da sie nicht verhältnismäßig ist. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist dieses Recht höher zu bewerten als die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, da Frau Carpenter aufgrund ihres Verhaltens keine über den fehlenden Aufenthaltsstatus hinausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.
IV. Rechtfertigung Fall 5: (EuGH, Slg 1994, I-1039 ff – Schindler (Lotterielose)): Die Brüder Schindler übten die selbständige Tätigkeit von Bevollmächtigten der Süddeutschen Klassenlotterie aus. Ihre Tätigkeit bestand im Verkauf von Losen für diese Lotterie. In dieser Eigenschaft versandten sie von den Niederlanden aus Briefe an britische Staatsangehörige, die aus Werbematerial und Anmeldeformularen bestanden. Diese Postsendungen wurden von der britischen Zollbehörde mit der Begründung beschlagnahmt, sie seien unter Verstoß gegen das britische gesetzliche Verbot über das Abhalten von Glücksspielen und Lotterien eingeführt worden. In dem anschließenden Rechtsstreit machten die Gebrüder Schindler geltend, dass dieses Vorgehen sowie das britische Lotterieverbot gegen die Dienstleistungsfreiheit gem Art 49 EGV verstießen. Die britischen Behörden wandten dagegen ein, dass Art 49 EGV auf das in den britischen Rechtsvorschriften geregelte Einfuhrverbot keine Anwendung finde, da diese Rechtsvorschriften alle großen Lotterien unabhängig von ihrer Herkunft beträfen. Jedenfalls sei das Einfuhrverbot aus Gründen der britischen Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung, eines grundsätzlichen britischen Anliegens, gerechtfertigt. Fraglich ist damit, ob Art 49 EGV einschlägig ist und ob ggf die Beschränkung gerechtfertigt ist. Fall 6: (EuGH, Slg 1991, I-682 ff, I-718 ff, I-735 ff – Fremdenführer): In Italien, Frankreich und Griechenland existierten Rechtsvorschriften, die von ausländischen Fremdenführern, die mit ihrer eigenen geschlossenen Touristengruppe aus einem anderen Mitgliedstaat in die betroffenen Länder einreisten, eine Erlaubnis zur Berufsausübung bzw den Besitz eines Gewerbescheins verlangten. Ein solcher Gewerbeausweis setzt in der Regel eine durch Bestehen einer Prüfung nachzuweisende besondere Qualifikation voraus. Die Vorschriften galten insb für die ausländischen Fremdenführer, die die Touristen in Museen und bei Geschichtsdenkmälern führen. Die Fremdenführer machten geltend, dass diese Vorschriften sie in ihrer Dienstleistungsfreiheit beschränkten und auch nicht durch kulturpolitische Belange dieser Mitgliedstaaten zu rechtfertigen seien.
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1. Ausdrückliche (geschriebene) Schranke Gem Art 55 EGV iVm Art 46 EGV sind Beschränkungen, die eine Sonderregelung für Ausländer vorsehen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, erlaubt. Diese Vorschrift enthält ausdrücklich eine Rechtfertigung für Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit, die grds eng auszulegen ist. Die Schranke des Art 46 EGV gilt dabei für die Dienstleistungsfreiheit in all ihren Ausgestaltungen, also sowohl für die aktive und passive als auch für die Korrespondenzdienstleistungsfreiheit.
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Über diese sog Ordre-public-Klausel können vor allem ausländerrechtliche Sonderbestimmungen gerechtfertigt werden, die zu einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit führen. Art 46 EGV kommt allerdings nur dann als Rechtfertigungsnorm in Betracht, wenn die Beschränkung auf staatlichen Regelungen beruht, die nicht unterschiedslos auf alle Dienstleistungen ohne Rücksicht auf deren Herkunft anwendbar sind.97 Es können daher nur solche Beschränkungen durch Art 46 EGV gerechtfertigt sein, die offene Diskriminierungen darstellen, da nur offene Diskriminierungen nicht unterschiedslos anwendbar sind. Art 46 EGV erlaubt es den Mitgliedstaaten etwa, den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der ärztlichen und klinischen Versorgung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Niveaus der medizinischen und pflegerischen Versorgung erforderlich ist.98 Die Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sind inzwischen zum Teil durch Sekundärrecht konkretisiert und ausgelegt worden.99 Im Allgem versteht der EuGH unter „öffentlicher Sicherheit“ grundl Interessen des Staates, wie die Aufrechterhaltung wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen und das wirksame Funktionieren des Staates,100 unter „öffentliche Ordnung“ hoheitlich festgelegte Grundregeln, die wesentliche Interessen des Staates berühren101. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob auch für versteckte Diskriminierungen, deren Abgrenzung zu sonstigen Beschränkungen schwierig sein kann, Art 46 EGV als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden kann oder ob hier eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erfolgen kann (→ § 7 Rn 102).102 Lösung Fall 5: Es müsste zunächst der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet sein. Hierfür müssten die Lotterielose als Dienstleistung anzusehen sein. Obwohl es sich bei der Versendung der Briefe mit den Lotterielosen und dem Werbematerial zweifellos um Waren im körperlichen Sinne handelt, genügt dies nicht, um in der Tätigkeit der Gebrüder lediglich eine Ausfuhr oder Einfuhr zu sehen. Die Versendung der Lose kann nicht losgelöst von der Lotterie betrachtet werden, auf die sich die Lose und das Werbematerial ja beziehen. Vielmehr bezieht sich die Versendung des Werbematerials und der Anmeldeformulare nur auf die konkreten Einzelheiten der Veranstaltung bzw des Ablaufs. Die Tätigkeit der Gebrüder Schindler ist daher als Dienstleistung im Sinne des Art 49 EGV anzusehen. Die Leistungen der Gebrüder werden auch gegen Entgelt erbracht, das in dem Preis für das Los besteht. Daraus folgt, dass auch die Werbung für dieses Produkt dem Schutzbereich unterfallen muss. Die fraglichen Leistungen sind auch grenzüberschreitend, da sie hier in England angeboten werden und damit in einem anderen Mitgliedstaat als in dem, in dem der Veranstalter der Lotterie niedergelassen ist. Der Schutzbereich der Art 49 ff EGV ist damit eröffnet. Fraglich ist nun, ob die britischen Lotterieverbotsvorschriften eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen. Da sie nicht an das Vorliegen einer bestimmten Staats-
97 EuGH, Slg 1992, I-6757 ff – Kommission/Belgien. 98 Vgl Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 55 EGV Rn 4. 99 Anhaltspunkte zur Auslegung dieser Begriffe finden sich bspw in der RL 64/221/EWG, ABl 1964 Nr 56/850. Ausf hierzu Schlag in: Schwarze, EUV, Art 46 EGV Rn 5 ff; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 46 EGV Rn 14 ff. 100 Vgl EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 37– Campus Oil Ltd. 101 EuGH, Slg 1977, 1999, Rn 33 ff – Bouchereau. 102 Vgl hierzu auch die allgem Ausführungen bei Ehlers JURA 2001, 482, 487.
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angehörigkeit anknüpfen, stellt das Lotterieverbot schon keine Diskriminierung dar. Es hindert aber Lotterieveranstalter aus anderen Mitgliedstaaten ohne Ausnahme daran, in England unmittelbar oder durch selbständige Bevollmächtigte ihre Lotterien zu fördern oder Lose zu verkaufen. Das Lotterieverbot kann daher als eine sonstige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs qualifiziert werden. Damit liegt auch eine Beeinträchtigung und damit ein Eingriff in den Schutzbereich vor. Dieser Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. Da es sich bei der Beeinträchtigung nicht um eine Diskriminierung handelt, ist der gesetzliche Rechtfertigungsgrund des Art 55 EGV iVm Art 46 EGV nicht einschlägig. Der Eingriff könnte aber aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein, wenn es sich bei dem britischen Anliegen der Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung um einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses handeln würde. Die Gründe, auf denen das britische Gesetz zur Einführung der Staatlichen Lotterie beruht (zB Verhinderung von Straftaten, Sicherstellung, dass Spieler fair behandelt werden etc), beziehen sich auf den Schutz der Empfänger der Dienstleistung und der Verbraucher sowie den Schutz der Sozialordnung. Der EuGH betont ausdrücklich, dass diese Gründe zu denjenigen gehören, die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs grds rechtfertigen können. Die Besonderheiten des Lotteriespiels, so der EuGH, rechtfertigten es, dass die staatlichen Stellen über ein ausreichendes Ermessen verfügen, um festzulegen, welche Erfordernisse sich bzgl der Art und Weise der Veranstaltung von Lotterien aus dem Schutz der Spieler und nach Maßgabe der soziokulturellen Besonderheiten jedes Mitgliedstaats aus dem Schutz der Sozialordnung ergeben. Ein solches Einfuhrverbot für Lotteriedienstleistungen kann dann für den Schutz, den dieser Mitgliedstaat in seinem Gebiet im Lotteriewesen sicherstellen will, erforderlich sein, um ein bestimmtes Schutzniveau zu sichern. Die in den britischen Rechtsvorschriften enthaltenen Anliegen der Sozialpolitik und der Betrugsbekämpfung können daher als den Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit rechtfertigende zwingende Interessen des Allgemeininteresses angesehen werden. Der Eingriff in den Schutzbereich ist daher gerechtfertigt.
2. Ungeschriebene Schranken Nachdem Diskriminierungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich nur über Art 55 EGV iVm Art 46 EGV gerechtfertigt werden können, stellt sich die Frage, wie es sich mit sonstigen Beschränkungen verhält. Sie können aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.103 Die Rspr des EuGH weist hier deutliche Parallelen zur Cassis-Rspr im Bereich der Warenverkehrsfreiheit auf, in der erstmals zwingende Interessen der Allgemeinheit als Rechtfertigungsgründe anerkannt wurden (zur Entwicklung und Anwendung der Cassis-Rspr → vgl § 7 Rn 101 ff). Der Begriff des Allgemeininteresses unterliegt der gemeinschaftsrechtlichen Überprüfung, wenngleich seine Konkretisierung im Einzelfall durch die jeweiligen nationalen Behörden erfolgt.104 Da der EuGH in der Vergangenheit eine Reihe von verschiedenen öffentlichen Interessen als zwingende Gründe der Allgemeinheit hat gelten lassen, ist daraus zu schließen, dass dieser Katalog nicht abschließend ist. Für alle zwingenden Gründe muss es sich aber um Allgemeininteressen nicht wirtschaftlicher Art handeln; rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen.105 103 EuGH, Slg 1974, 1299, Rn 10/12 – van Binsbergen. 104 Hailbronner/Nachbauer EuZW 1992, 105, 110. 105 EuGH, Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 105.
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Zwingende Gründe des Allgemeininteresses im Bereich der Dienstleistungsfreiheit können ua sein: 106 die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Schutz der Verbraucher,107 die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege,108 das Ansehen der Kapitalmärkte, kulturpolitische Belange wie die Erhaltung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes,109 die Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit110 und Berufs- und Standesregelungen zum Schutz der Dienstleistungsempfänger.111 Auch Wohnsitz- bzw Niederlassungserfordernisse müssen nicht bereits per se unvereinbar sein mit dem Beschränkungsverbot des Art 49 EGV. Die Ansässigkeitspflicht des Dienstleistungserbringers ist dann hinzunehmen, wenn andernfalls durch das Allgemeininteresse gerechtfertigte Berufsregelungen nicht durchsetzbar sind.112
3. Schranken-Schranken 72
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Fall 7: (EuGH, Slg 2003, I-4509 – Müller-Fauré): Die Niederländerin Müller-Fauré unterzog sich während ihres Urlaubs in Deutschland einer Zahnbehandlung. Nach ihrer Rückkehr beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Erstattung der Behandlungskosten. Dies lehnte die Krankenkasse ab, da nach niederländischem Recht die Kostenübernahme der Versorgung durch eine Einrichtung, mit der sie keine vertragliche Vereinbarung getroffen habe, davon abhängig gemacht werde, dass die Krankenkasse vorher ihre Genehmigung erteilt. Die Kostenübernahme beruht in den Niederlanden auf einem Sachleistungssystem, nach dem die Versicherten keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten haben, sondern lediglich auf die kostenlose Vornahme der ärztlichen Leistung. Ist der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit gerechtfertigt?
Fall 8: (EuGH, EuZW 2004, 499 – Kommission/Frankreich = JK 1/05, EGV Art 49/12): In Frankreich wurde durch eine Gesetzesänderung die direkte und indirekte Fernsehwerbung für in Frankreich vertriebene alkoholische Getränke verboten, ohne andere Medien, wie etwa Zeitschriften oder den Hörfunk, in dieses Verbot mit einzubeziehen. Eine indirekte Werbung bedeutet dabei eine Werbung zB auf Werbetafeln oder Trikots der Spieler bei Sportveranstaltungen ohne eine dafür eigens ausgestrahlte Werbesendung. Die französischen Sender wurden verpflichtet, ihre Vertragspartner beim Erwerb der Übertragungsrechte von im Ausland stattfindenden Sportereignissen auf die französische Rechtslage hinzuweisen, und die Ausstrahlung der Werbung ganz zu unterlassen oder mit technischen Mitteln zu verhindern. Die Kommission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich wegen der Verletzung der Dienstleistungsfreiheit ein. Sie sah es insb als inkonsequent an, das Verbot auf die Fernsehwerbung zu begrenzen. Kann sich Frankreich zur Rechtfertigung dieses Werbeverbotes auf den Gesundheitsschutz berufen?
106 Ein Überblick über die vom EuGH anerkannten zwingenden Allgemeininteressen findet sich bei Müller-Graff in: Streinz, EUV/EGV, Art 49 Rn 106 ff. 107 EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 53 – de Agostini. 108 EuGH, Slg 1996, I-6511, Rn 31 – Reisebüro Broede. 109 EuGH, Slg 1991, I-659, Rn 17 – Fremdenführer. 110 EuGH, Slg 1998, I-1931, Rn 41 – Kohll. 111 EuGH, Slg 1979, 35, Rn 38 – van Wesemael. 112 EuGH, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen, wobei der EuGH dies allerdings im Ergebnis für den Beruf des Rechtsanwalts verneinte.
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Sog Schranken-Schranken im Gemeinschaftsrecht bezeichnen grds die Beschränkungen, die für die Mitgliedstaaten gelten, wenn sie den freien Dienstleistungsverkehr durch innerstaatliche Regelungen und Vorschriften beeinträchtigen. Als Schranken-Schranken kommen daher grds Unionsgrundrechte und Primärrechtsbestimmungen, sekundäres Gemeinschaftsrecht und vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Betracht (→ s insb § 7 Rn 90 ff). Von herausragender Bedeutung ist, dass die zur Verfolgung des Allgemeininteresses eingesetzten staatlichen Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen, dh die staatliche Regelung muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit der Regelung verfolgten Ziels auch tatsächlich zu gewährleisten und darf nicht über das zur Erreichung des Allgemeininteresses Erforderliche hinausgehen. Auffallend ist, dass der EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausdrücklich nur auf diese beiden Kriterien (Geeignetheit und Erforderlichkeit) abstellt. Fragen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) überlässt er des Öfteren im Vorabentscheidungsverfahren der Beurteilung durch das vorlegende Gericht, das die konkreten Umstände beurteilen müsse.113 Da bei Dienstleistungen als vorübergehender wirtschaftlicher Betätigung die Wirtschaft eines anderen Mitgliedstaates eher flüchtig berührt wird, fallen die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung vergleichsweise streng aus, um dem spezifischen Charakter der Dienstleistungsfreiheit Rechnung zu tragen.114 Unverhältnismäßig, weil nicht erforderlich, sind Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit immer dann, wenn dem nationalen Allgemeininteresse bereits durch Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird, denen der Dienstleistungserbringer in dem Staat unterliegt, in dem er ansässig ist. Eine im Herkunftsstaat erteilte behördliche Genehmigung ist deshalb im Mitgliedstaat der Dienstleistungserbringung anzuerkennen, soweit sie „unter Voraussetzungen erteilt worden ist, welche mit denen des Staates, in dem die Leistung erbracht wird, vergleichbar sind.“115 Unverhältnismäßig sind auch Vorschriften, nach denen Reiseführer im Besitz einer vom Aufnahmestaat erteilten Erlaubnis sein müssen, die eine bestimmte berufliche Qualifikation voraussetzt, wenn sie mit einer Gruppe von Touristen aus einem anderen Mitgliedstaat anreisen.116 Lösung Fall 6: Es müsste zunächst der Schutzbereich der Art 49 ff EGV eröffnet sein. Es handelt sich bei den Leistungen, die ein Fremdenführer erbringt, grds um entgeltliche Leistungen. Da sich in den vorliegenden Fällen die Fremdenführer mit ihrer Reisegruppe in einen anderen Mitgliedstaat begeben als den, in dem das Reisebüro seinen Sitz hat, handelt es sich hier um die ebenfalls unter Art 49 und Art 50 EGV fallende passive Dienstleistungsfreiheit. Ein grenzüberschreitender Bezug liegt vor. Es handelt sich bei der Tätigkeit der Fremdenführer hier daher um eine grenzüberschreitende Dienstleistung, die in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit fällt. Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs ist auch gegeben, da die (insb französischen) Regelungen sowohl die ausländischen Reisebüros hindert, die Dienstleistungen durch ihr eigenes Personal zu erbringen, als auch die selbständigen Fremdenführer, die ihre Dienstleistungen diesen Büros während der organisierten Reise anbieten. Sie hindern auch Touristen, die an solchen organisierten Reisen teilnehmen, diese Dienstleistun-
113 ZB EuGH, Slg 1997, I-3843, Rn 54 – de Agostini; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 49/50 EGV Rn 115 f, 120. 114 H G Fischer ER II, § 17 Rn 20. 115 EuGH, Slg 1979, 35, Rn 54 – van Wesemael; Hailbronner/Nachbauer EuZW 1992, 105, 110. 116 EuGH, Slg 1991, I-727 ff – Fremdenführer.
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gen je nach Wahl in Anspruch zu nehmen. Eine Diskriminierung liegt nicht vor, da auch die inländischen Fremdenführer einen Gewerbeschein besitzen müssen. Es liegt daher eine sonstige Beschränkung vor. Aus diesem Grund scheidet eine Rechtfertigung nach Art 55 EGV iVm Art 46 EGV aus. Die Beeinträchtigungen könnten gerechtfertigt sein, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen würden. Das allgem Interesse an der Aufwertung historischer Reichtümer und an der bestmöglichen Verbreitung von Kenntnissen über das künstlerische und kulturelle Erbe eines Landes kann ein solcher zwingender Grund sein, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt. Fraglich ist aber, ob die Regelungen auch verhältnismäßig sind oder etwa außer Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen. Die fragliche Erlaubnis ist zwar geeignet, kulturpolitische Belange zu schützen, bewirkt hier aber eine Verringerung der Zahl von Fremdenführern, die Touristen in einer geschlossenen Gruppe begleiten können, was einen Reiseveranstalter dann wieder veranlassen kann, eher auf örtliche Führer zurückzugreifen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat auch ansässig und angestellt sind. Dies kann für die Touristen den Nachteil haben, dass ihnen kein Fremdenführer zur Verfügung steht, der mit ihrer Sprache sowie mit ihren Interessen und besonderen Erwartungen vertraut ist. Das Erfordernis einer besonderen Erlaubnis bzw eines Gewerbescheins steht angesichts des Umfangs der in ihm enthaltenen Beschränkungen außer Verhältnis zum angestrebten Zweck, nämlich der Aufwertung historischer Reichtümer und der besagten Verbreitung von kulturellen Kenntnissen des Mitgliedstaates, in dem die Reise durchgeführt wird. Der Eingriff in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ist damit nicht gerechtfertigt, da die im Interesse der Allgemeinheit aus zwingenden Gründen erlassenen Vorschriften unverhältnismäßig sind.
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Lösung Fall 7: Der Schutzbereich der Art 49 ff EGV ist eröffnet, da Frau Müller-Fauré anlässlich ihrer Gesundheitsversorgung von der passiven Dienstleistungsfreiheit Gebrauch macht. Dem steht nicht entgegen, dass die Systeme der sozialen Sicherheit in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten fallen. Die Besonderheiten bestimmter Dienstleistungen können nicht dazu führen, dass das Gemeinschaftsrecht unanwendbar ist. Das Genehmigungserfordernis ist geeignet, die Dienstleistungsfreiheit zu behindern, da es ohne vorhergehende Einholung der Genehmigung keine Kostenerstattung gibt. Neben einer Beschränkung liegt darin eine mittelbare Diskriminierung, da das Genehmigungserfordernis ausschließlich Dienstleistungen aus anderen Mitgliedstaaten betrifft, ohne jedoch explizit an die Staatsangehörigkeit des Dienstleisters anzuknüpfen. Bei der Frage der Rechtfertigung prüfte der EuGH zunächst, ob die Gefahr einer Beeinträchtigung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit vorliegt (Art 46 EGV). Er räumte zwar ein, dass die Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen Versorgung eine Einschränkung rechtfertigen kann, wenn sie verhältnismäßig ist. Es wurde jedoch nicht substantiiert vorgetragen, dass die Qualität der inländischen ärztlichen Leistungen dadurch gemindert würde, dass sich zahlreiche Patienten zur medizinischen Behandlung ins Ausland begeben. Im Anschluss daran prüfte der EuGH, ob das Genehmigungserfordernis durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann. Damit weicht er von seiner bisherigen Schrankendogmatik ab, da er bei diskriminierenden Maßnahmen bisher nur die geschriebenen Rechtfertigungsgründe geprüft hat. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass auch im Bereich anderer Grundfreiheiten ein Trend zur schrankensystematischen Gleichbehandlung von mittelbaren Diskriminierungen und Beschränkungen auszumachen ist. Als Rechtfertigungsgrund kommt die Gewährleistung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme sozialer Sicherheit in Betracht. Jedoch wurde nicht vorgetragen, dass die streitige Regelung wirklich erforderlich war. Auch wenn ein Sachleistungssystem besteht, sind die finanziellen Auswirkungen bei Behandlungen im Aus-
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land nicht derart gravierend, dass die Gefährdung des Versicherungssystems zu befürchten ist. Die Mitgliedstaaten, die ein solches System vorsehen, müssen Mechanismen zur nachträglichen Erstattung der Kosten bei Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat einführen. Gerechtfertigt ist ein Genehmigungserfordernis allerdings im Bereich der stationären Gesundheitsversorgung (EuGH, Slg 2001, I-5473 – Smits und Peerbooms), da hinsichtlich der Anzahl, Ausstattung und Lage von Krankenhäusern eine sorgfältige Planung erforderlich ist.
Lösung Fall 8: Die französische Fernsehwerberegelung stellt eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, da zum einen die Eigentümer von Werbetafeln jegliche Alkoholwerbung schon dann vorsorglich ablehnen müssen, wenn die Sendung möglicherweise in Frankreich übertragen wird. Zum anderen ist die Ausstrahlung von Fernsehsendungen eine Dienstleistung, die dadurch behindert wird, dass die französischen Sender die Übertragung etwa von Sportereignissen ablehnen müssen, wenn eine Alkoholwerbung stattfindet. Ausländische Veranstalter von Sportereignissen können in diesem Fall zudem die Übertragungsrechte nicht an französische Sender verkaufen. Der freie Dienstleistungsverkehr kann jedoch in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierungsmaßnahmen durch nationale Regelungen beschränkt werden, die aus den in Art 55 iVm 46 EGV genannten Gründen oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind. Frankreich kann sich möglicherweise auf den geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Gesundheitsschutzes berufen, da das Werbeverbot zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs beitragen soll. Dabei ist es Sache der Mitgliedstaaten, auf welchem Niveau sie den Gesundheitsschutz sicherstellen wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Daher ist es rechtlich nicht relevant, dass sich Frankreich für ein ausschließliches Fernsehwerbeverbot entschlossen hat und nicht andere Medien in dieses Verbot einbezogen hat. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch bei der Berufung auf die Rechtfertigungsgründe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Die Maßnahme ist geeignet, den Gesundheitsschutz zu verwirklichen, da durch sie weniger Anreize zum Alkoholkonsum gegeben werden. Sie ist auch erforderlich, da sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist. Sie beschränkt sich auf in Frankreich vertriebene Erzeugnisse, wodurch die Beeinträchtigung des Dienstleistungsverkehrs möglichst gering gehalten wird. Angesichts der hohen Kosten für technische Mittel zur Verfremdung der Werbung ist kein milderes Mittel ersichtlich. Auch die Tatsache, dass Fernsehwerbung für Alkohol in manchen Mitgliedstaaten zulässig ist, führt nicht zu ihrer Unverhältnismäßigkeit.
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V. Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit 1. Sport im Lichte der Dienstleistungsfreiheit Fall 9: (nach EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman): Jean-Marc Bosman war belgischer Profifußballer. Von 1988 bis Ende Juni 1990 war er beim belgischen Erstligisten RCL als Profi tätig. Eine Vertragsverlängerung kam auf Grund von Differenzen über das Gehalt nicht zu Stande. Daher wurde Jean-Marc Bosman auf die Transferliste gesetzt. Der RCL legte für ihn eine vom abnehmenden Verein zu zahlende Ausbildungsentschädigung in Höhe von ca. 11,7 Millionen BFR fest. Herr Bosman nahm dann Verhandlungen mit dem französischen Klub US Dünkirchen auf, die im Ergebnis auch zu einem Vertrag führten. Hierbei wurde ein zeitweiliger Transfer vereinbart, für den der US
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Dünkirchen eine Summe von 1,2 Millionen BFR als Entschädigung an den RCL leisten sollte. Solange jedoch der erforderliche Freigabeschein des RCL nicht vorlag, war der Vertrag aufschiebend bedingt. Auf Grund von Zweifeln an der Solvenz des US Dünkirchen verweigerte der RCL die Freigabe, so dass der Wechsel platzte und Bosman für keinen Verein spielen konnte. Ist die Transferregelung mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar?
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In kaum einem anderen Bereich, in dem die Dienstleistungsfreiheit gem Art 49 ff EGV und die hierzu ergangene Rspr Wirkung entfalten, ist das öffentliche Interesse und der Bekanntheitsgrad der Entscheidungen so hoch wie im Bereich des Profisports. Hierzu sind seit 1974 eine Reihe von Entscheidungen ergangen,117 die zu teils erheblichen Umstrukturierungen innerhalb der einzelnen Sportverbände und Sportarten geführt haben. Mittlerweile ergehen die Entscheidungen zum Teil auch zum Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem Art 39 ff EGV, da der EuGH einen Teil der Sportler insb in Mannschaftssportarten als Arbeitnehmer ansieht.118 Diese haben allerdings auch auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit erhebliche Auswirkungen, da in diesen Fällen die Bestimmung der Beschränkung und der Rechtfertigung weitestgehend parallel verlaufen, wie auch die häufige Bezugnahme des EuGH auf vorangegangene Urt, unabhängig ob sie zur gerade geprüften oder zur jeweils anderen Grundfreiheit ergangen sind, zeigen. Die Rspr soll daher an dieser Stelle bereichsübergreifend dargestellt werden; soweit sie zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ergangen ist, wird darauf hingewiesen. Wie bereits erwähnt, hatte sich der EuGH zuerst im Jahr 1974 mit der Frage zu befassen, ob die EG-Grundfreiheiten auch auf den Bereich des professionellen Sports anzuwenden seien.119 In der Entscheidung ging es um zwei Motorradfahrer, die als Tempomacher in so genannten Steher-Rennen im Radsport teilnahmen. Dies sollte ihnen in der Folge nur noch für Sportler aus ihrem eigenen Heimatland möglich sein. Der EuGH hatte sich zunächst mit der Frage zu befassen, ob der Sport und die Regeln von Sportverbänden überhaupt einen gemeinschaftsrechtlichen Bezug haben und somit in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fallen. Im Urt wurde in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalanwalts festgestellt, dass nicht nur staatliche Maßnahmen, sondern auch andere kollektive Maßnahmen im Dienstleistungsbereich von der Freiheit nach Art 49 ff EGV erfasst werden. Im Übrigen seien die Grundfreiheiten betroffen, soweit die Tätigkeit einen wirtschaftlichen Bezug gem Art 2 EGV habe. Dies war hier unproblematisch gegeben. Des Weiteren wurde auch festgestellt, dass die Dienstleistungsfreiheit unmittelbar in solchen Fällen zwischen dem Verband und den Betroffenen Anwendung finde, da nur so die Durchsetzung des europäischen Rechts gewährleistet werden könne. Auch wurde bereits die Möglichkeit anerkannt, eine Beschränkung der gewährten Freiheiten auf Grund von nicht-wirtschaftlichen bzw rein sportlichen Gründen durchzuführen. Der EuGH nannte in diesem Zusammenhang insb Nationalmannschaften. Nachfolgend erging im Jahr 1976 eine weitere grundsätzliche Entscheidung für den Bereich des Sports.120 Diese bestätigte allerdings im Wesentlichen nur noch einmal die
117 EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave/Union Cycliste Internationale. 118 EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman; EuGH, Slg 2000, I-2685 ff – Lehtonen und Cators Braine; noch offen bei EuGH, Slg 1976, 1333 – Dona/Mantero. 119 EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave/Union Cycliste Internationale. 120 EuGH, Slg 1976, 1333 ff – Dona/Mantero.
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bereits im Urt Walrave aufgestellten Grundsätze. Der EuGH fasste auch Fußballprofis und Halbprofis unter den Bereich der Dienstleistungsfreiheit und betonte erneut nur die Möglichkeit, durch nicht-wirtschaftliche Gründe die Freiheit zu beschränken. Die im Jahr 1995 erfolgende Entscheidung gehört zu den berühmtesten und meist kritisierten Entscheidungen des EuGH. Es handelt sich um das Urt zur Frage der Vereinbarkeit der damals geltenden Transferbestimmungen im europäischen Fußball, ausgelöst durch eine Klage des Fußballprofis Jean-Marc Bosman.121 Zum Tatbestand und zur Lösung des Hauptteils der Entscheidung vgl Fall 9. Im Zuge dieses Urt befand der EuGH auch die damals gültigen Klauseln, dass nicht mehr als drei Ausländer in einem Ligaspiel eingesetzt werden dürften, für nichtig. Diese Entscheidung erging als erste zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, da hier der Gerichtshof zum ersten Mal anerkannte, dass ein Fußballprofi ein Arbeitnehmer sei. Dies hatte er noch in der Rechtssache Dona/Mantero122 offengelassen. Jedoch hat dies, wie gezeigt, auch Auswirkung auf den Bereich der Dienstleistungsfreiheit; die Entscheidung wäre nicht anders zu treffen gewesen, wenn Jean-Marc Bosman nicht als Arbeitnehmer angesehen worden wäre und die Entscheidung daher zur Dienstleistungsfreiheit ergangen wäre.123 Diese Entscheidung hat unzählige Kritiker auf den Plan gerufen, die dem EuGH zum Teil juristisch mangelndes Verständnis, zum Teil mangelndes Verständnis für die Bereiche des Sports, zumeist beides vorwarfen. Überdies wurden zahlreiche Horrorszenarien bis hin zum Untergang des Profifußballs in Europa beschworen.124 Wie sich heute nach 14 Jahren rückblickend zeigt, haben diese Befürchtungen sich in keiner Weise bestätigt. Im Anschluss an die Bosman-Rspr ergingen im Jahr 2000 zwei weitere bedeutende Urt des Gerichtshofes. In der ersten Entscheidung125 geht es um eine belgische Judoka, die von ihrem Verband nicht zu internationalen Turnieren gemeldet wurde. Eine solche Meldung ist jedoch unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme an solchen Wettkämpfen, da eine Selbstmeldung unzulässig ist. Der EuGH erteilte erneut dem Ansinnen einer Bereichsausnahme für den Sport eine Absage und stellte eindeutig klar, dass der Wirtschaftsbezug iSd Art 2 EGV nicht schon deshalb entfalle, weil der Wettkampf als Auswahlkriterium für eine nicht-wirtschaftliche Veranstaltung wie die olympischen Spiele herangezogen werde. Allerdings stellte der Gerichtshof fest, dass durch reine Auswahlkriterien, die zur sinnvollen Durchführung eines solchen Wettkampfes zwingend erforderlich seien, kein Eingriff begründet werde. Dass sich für einzelne Sportler durch die Festlegung der Kriterien Vor- oder Nachteile ergeben können, stellt alleine keinen Grund für die Annahme einer Beschränkung der Freiheit dar. Die zweite Entscheidung des EuGH 126 aus diesem Jahr befasst sich mit Transferfristen im Bereich des Profibasketballs. Auch hier bejahte der Gerichtshof die Stellung des Spielers als Arbeitnehmer und prüfte daher Art 39 ff EGV. Das Gericht erkannte die Möglichkeit an, dass solche Fristen grds zulässig sein können, da hierdurch die Funktion des Sportes gesichert werde und somit nicht-wirtschaftliche Gründe vorliegen können. Da hier allerdings unterschiedlich lange Fristen für einen Wechsel aus dem europäischen
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EuGH, Slg 1995, I-4921 ff – Bosman. EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina und Majcen/Kommission. Vgl Lösung Fall 8 sowie Hilf/Pache NJW 1996, 1169, 1176. Vgl die Zusammenstellungen bei Hilf/Pache NJW 1996, 1169 f; Hobe/Tietje JuS 1996, 486 f. EuGH, Slg 2000, I-2595 ff – Deliége. EuGH, Slg 2000, I-2685 ff – Lehtonen und Cators Braine.
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Raum und aus anderen Regionen der Welt galten, sah der EuGH keine Erforderlichkeit der Regel und erklärte daher, dass diese Regeln mit dem EGV unvereinbar seien. Die bisher letzte Entscheidung in dieser Reihe erging 2006127 als Rechtsmittelentscheidung zu einem EuG-Urt aus dem Jahr 2004.128 Hier war zu entscheiden, ob die AntiDoping Regeln des IOC mit den europäischen Grundfreiheiten vereinbar sind. Das EuG griff die Formel der stRspr des Gerichtshofes auf, nach der die Grundfreiheiten dann nicht betroffen sind, wenn relevante Regelungen sich als rein sportlich und somit nichtwirtschaftlich erweisen. Dies sah das EuG hier mit dem Argument, dass die Doping-Regelungen einen freien und fairen Wettbewerb gewährleisten sollen, gegeben und wies daher die Klage als unbegründet ab. Die Klageabweisung blieb zwar auch in der Rechtsmittelinstanz bestehen, allerdings stellte der EuGH fest, dass nur aus dem Grund, dass eine Regelung rein sportliche Bezugspunkte habe, sich nicht auch ihre Nicht-Wirtschaftlichkeit folgern ließe. Vielmehr müssten daher auch gerade die Anti-Doping Regeln mit den Grundfreiheiten vereinbar sein. Es sei daher zu prüfen, ob nicht das Regelwerk unsachgemäß oder überzogen sei und daher die Sportler unangemessen benachteilige. Diese Entscheidung hatte der EuGH dann aber im konkreten Fall nicht zu treffen, da er eine Prüfung aus formalen Gründen ablehnte. Somit bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass sportliche Tätigkeiten insoweit unter die EG-Grundfreiheiten zu fassen sind, als es sich bei ihnen um eine wirtschaftliche Betätigung handelt. Ausgeschlossen ist der echte Amateursport, für dessen Vorliegen aber die einseitige entspr Bezeichnung nicht ausreichend ist.129 Die Grundfreiheiten sind nur dann unanwendbar, wenn kein Entgelt gezahlt bzw tatsächlich nur eine Aufwandsentschädigung geleistet wird.130 Eine grundsätzliche Bereichsausnahme ist jedenfalls nicht anzuerkennen.131 Der Eingriffscharakter einer Maßnahme bestimmt sich nach allgem Regeln. Keine Eingriffe sind bei rein sportlichen Maßnahmen gegeben, da sie bereits nicht in den Geltungsbereich der Art 39 ff EGV und Art 49 ff EGV fallen. Hiervon sind insb die Aufstellung von Nationalmannschaften, die Auswahl von Sportlern für internationale Wettkämpfe und die Spielregeln im engeren Sinne erfasst.132 Die Rechtfertigung eines Eingriffs lässt sich nach der Rspr insb aus so genannten nicht-wirtschaftlichen Gründen herleiten. Des Weiteren ist auch eine Rechtfertigung über die aus Art 11 EMRK und den einzelnen Nationalverfassungen entwickelte Koalitionsfreiheit möglich. Dabei gesteht der EuGH den einzelnen Verbänden auch die Möglichkeit zu, die allgem Rechtfertigungsgründe, insb die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses, als Rechtfertigungsgrund heranzuziehen.133 Darüber hinaus ist festzuhalten, dass gerade im Bereich des Sports die Drittwirkung der Dienstleistungsfreiheit – unmittelbar im Verhältnis Sportler-Verband – große Bedeu-
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EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina und Majcen/Kommission. EuG, Slg 2004, II-3291 ff – Meca-Medina und Majcen/Kommission. EuGH, Slg 2000, I-2595 ff – Deliége. Streinz in: Tettinger, Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Bosman – Bilanz und Perspektiven, 37. 131 Streinz (Fn 130) S 36. 132 EuGH, Slg 2006, I-6991 ff – Meca-Medina und Majcen/Kommission. 133 Streinz (Fn 130) S 46 f.
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tung entfaltet; hier hat der EuGH ausf zur Bedeutung kollektiver Regelungen wie derjenigen der Satzungen der Sportverbände als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit Stellung genommen und erkennt in jahrzehntelanger Rspr die Bedeutung und Maßstabsfunktion der Dienstleistungsfreiheit auch gegenüber derartigen Maßnahmen an.134 Lösung Fall 8: 135 Fraglich ist, ob die Transferregelungen mit den Art 49 ff EGV unvereinbar sind. Hierfür muss zunächst der Schutzbereich des Art 49 EGV eröffnet sein. Es ist zunächst zu untersuchen, ob in diesem Fall überhaupt die EG-Grundfreiheiten Anwendung finden. Dies ist nach Art 2 EGV dann der Fall, wenn es sich um eine Tätigkeit auf wirtschaftlichem Gebiet handelt. Dies ist bei Profifußballspielern unproblematisch der Fall. Überdies ist zu entscheiden, ob die Art 39 ff EGV oder die Art 49 ff EGV einschlägig sind. Dies hängt davon ab, ob man Fußballprofis unter den Arbeitnehmerbegriff fasst oder nicht. Der EuGH hat sich in dieser Rechtssache dafür ausgesprochen, Profis unter den Arbeitnehmerbegriff zu subsumieren, da sie weisungsabhängig seien. Dem ist im Vorfeld von den betroffenen Vereinen und Verbänden entgegen getreten worden. Begründet wird dies mit den außergewöhnlich hohen Bezügen der Sportler, der geringen Einbindung in den alltäglichen Betriebsablauf des Vereins und die weitgehend selbständige Erbringung der Tätigkeit. Auch wenn einige Argumente für die Sicht des EuGH sprechen, soll hier, auch um zu zeigen, dass Art 39 EGV und Art 49 EGV in diesem Bereich parallel verlaufen, der Ans gefolgt werden, dass Profifußballer Unternehmer sind, so dass der Anwendungsbereich des Art 49 EGV eröffnet ist. Des Weiteren ist fraglich, ob möglicherweise ein Grund vorliegt, der die Anwendbarkeit dennoch ausschließt. Hierzu wurde vorgebracht, dass nach der Rspr des EuGH die Möglichkeit bestand, aus sog nicht-wirtschaftlichen Gründen den Anwendungsbereich zu verengen, und dass vorliegend sportliche Gründe die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit ausschlössen. Dem hält der Gerichtshof aber entgegen, dass zwar grds ein solcher Ausschluss der Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit aus sportlichen Gründen möglich sei, allerdings der Ausschluss nicht weiter reichen könne, als dies die nicht-wirtschaftlichen sportlichen Zwecke erfordern. Es dürfe keine generelle Bereichsausnahme dergestalt geben, dass sportliche Tätigkeiten umfassend vom Geltungsbereich des Vertrages ausgeschlossen werden. Die unmittelbare Drittwirkung der Dienstleistungsfreiheit zwischen Spieler und Verband im Bereich des Sports wurde bereits in der Walrave-Entscheidung136 anerkannt. Es bleibt zu überlegen, ob die Vereinigungsfreiheit, die aus Art 11 EMRK und den nationalen Grundrechten hergeleitet wird, die Anwendbarkeit ausschließt. Dies will der Gerichtshof allerdings nur anerkennen, wenn diese Beschränkung zwingende oder immanente Folge der Freiheit wäre. Dies ist aber bei Transferregelungen wie der vorliegenden ersichtlich nicht der Fall. Der grenzüberschreitende Vorgang ist auf Grund eines Wechsels von Belgien nach Frankreich unproblematisch zu bejahen. Somit ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet. Des Weiteren müsste eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs vorliegen. Für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit ist bereits seit langem anerkannt, dass sie nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern auch ein allgem Beschränkungsverbot enthält.137 Dies ist hier relativ einfach festzustellen, da durch die Erforderlichkeit der Zahlung einer Transfersumme selbstverständlich ein Wechsel nicht unerheblich erschwert wird.
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Vgl bereits EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave/Union Cycliste Internationale. Vgl auch die Besprechungen bei Hilf/Pache NJW 1996, 1169 ff; Hobe/Tietje JuS 1996, 486 ff. EuGH, Slg 1974, 1405 ff – Walrave/Union Cycliste Internationale. StRspr, zunächst bei EuGH, Slg 1974, 1299 ff – van Binsbergen.
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In Betracht kommt allenfalls eine Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung. Hierbei wird nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geprüft. Die von den Vereinen angegebenen Gründe, das Gleichgewicht der Vereine zu halten und die Förderung junger Spieler zu betreiben, sind legitime Zwecke. Die Maßnahmen müssten aber auch geeignet und erforderlich zur Erreichung dieser Zwecke sein. Der EuGH verneint hinsichtlich der Zielvorstellung des Gleichgewichts bereits die Geeignetheit. Auch bisher sei es gang und gäbe, dass die reichsten Vereine sich die besten Spieler leisten können und wirtschaftliche Aspekte daher auch über den sportlichen Erfolg mitentscheiden. Hinsichtlich der Förderung von jungen Spieler stellt der Gerichtshof die Überlegung an, dass es im Voraus gar nicht sicher sei, dass sich aus einem Talent ein guter Spieler entwickele, daher könnten solche Ausbildungsabgaben auch nicht wirksam zur Nachwuchsarbeit animieren. Daher sei wohl schon die Geeignetheit fraglich, jedenfalls sei die Maßnahme nicht erforderlich. Somit scheitert die Rechtfertigung. Die fragliche Regelung ist daher nicht mit Art 49 ff EGV vereinbar.
2. Weitere bedeutende Entscheidungen des EuGH 96
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Eine bedeutende und insb auch in der breiten Öffentlichkeit weit beachtete Entscheidung der letzten Jahre ist die Rechtssache Placanica ua.138 Hierin hatte der EuGH inzident anhand der Frage der Rechtmäßigkeit einer strafrechtlichen Sanktion über die Rechtmäßigkeit des italienischen Sportwettensystems zu entscheiden. Der EuGH betonte erneut, dass Konzessionserfordernisse eine Beschränkung ua der Dienstleistungsfreiheit sind. Diese Beschränkungen können nur aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden, wie zB durch Verbraucherschutz, Verhütung von Straftaten oder zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Jedenfalls nicht gerechtfertigt werden könne eine solche Konzessionsvergabe allein mit staatlichen Fiskalüberlegungen. Allerdings sei der Wunsch, durch Ausweitung der legalen Angebote an Sportwetten die Spieler aus illegalem Milieu zu lösen, ein Grund, der rechtfertigend wirken könne. Ob im zu entscheidenden Fall tatsächlich diesem Grund gedient werde, unterliege der Prüfung der nationalen Gerichte. Allerdings sei es nicht erforderlich, alle Gesellschaften, die auf reglementierten Märkten tätig würden, von der Vergabe einer Konzession auszuschließen. Überdies dürfe keine strafrechtliche Sanktionierung eines Angebotes an Sportwetten erfolgen, wenn die erforderliche Konzession für dieses Angebot unter Missachtung der vorrangigen europarechtlichen Regelungen verweigert worden sei. Darüber hinaus hat der EuGH in zwei weiteren Bereichen, nämlich im Steuerrecht und im Arbeitsrecht, grds bedeutsame weitere Entscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit erlassen. Zum Steuerrecht ergingen allein in den letzten Jahren sieben Entscheidungen,139 die nunmehr auch das nationale Steuerrecht erheblich beeinflussen. Dabei stellte der EuGH ausdrücklich klar, dass grds Steuern und Abgaben Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit darstellen,140 zeigte aber zugleich auch die Rechtfertigungsmöglichkeiten auf.
138 EuGH, Slg 2007, I-7083 ff – Placanica. 139 EuGH, Slg 2007, I-12231 ff – Jundt; Slg 2007, I-6957 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2007, I-1425 ff – Centro Equestre da Lezivia Grande; Slg 2006, I-10653 ff – Kommission/Belgien; Slg 2006, I-9461 ff – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Slg 2006, I-5843 – von de Coevering; Slg 2005, I-7723 – Mobisstar und Belgcom Mobile. 140 So ausdrücklich bereits EuGH, Slg 2005, I-7723 ff – Mobisstar und Belgcom Mobile.
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Nach den ergangenen Entscheidungen ist das Steuerrecht keine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit, solange es sich unterschiedslos auf alle Marktteilnehmer erstreckt,141 im Übrigen sind entspr zwingende Gründe des Allgemeininteresses für eine Rechtfertigung erforderlich.142 Die Entscheidungen zum Arbeitsrecht betreffen insb das Recht der Arbeitnehmerentsendung.143 Dabei wurde deutlich, dass die Mitgliedstaaten nach wie vor versuchen, ihre Arbeitsmärkte durch reglementierende Regelungen vor dem Zustrom entsandter Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten zu schützen. Hier hat der EuGH Genehmigungsverfahren,144 Beschränkungen der staatlichen Auftragsvergabe145 und nationale Streikregelungen, die ausländische Unternehmen wesentlich schlechter als ihre nationalen Mitbewerber stellen,146 als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit angesehen. Bei diesen Beschränkungen sind zur Rechtfertigung wiederum zwingende Gründe des Allgemeinwohls erforderlich, an deren Vorliegen der EuGH durchgängig hohe Anforderungen stellt.147
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3. Die Dienstleistungsrichtlinie Die Dienstleistungsrichtlinie (s o Rn 13 ff) beschäftigt bereits seit langem die Institutionen der EG, aber in den letzten Jahren verstärkt auch die Fachpresse, die Politik und die Bürger der EG. Es dauerte allein vom ersten Entw der Richtlinie bis zu ihrer endg Verabschiedung über zweieinhalb Jahre. Der erste Entw der Dienstleitungsrichtlinie wurde durch die Europäische Kommission am 25.02.2004 vorgelegt. Mit diesem Entw unternahm die Kommission den Versuch, eine Kodifikation und Weiterentwicklung der Freiheit im Dienstleistungsverkehr unter Betonung des Herkunftslandprinzips zu erzielen. Während die Fachpresse sich bereits vereinzelt mit dem Thema auseinander setzte,148 blieb der Öffentlichkeit längere Zeit die Brisanz der Richtlinie verborgen. Erst relativ kurz vor der geplanten Verabschiedung wurde der europäischen Öffentlichkeit die eigentliche Tragweite der geplanten Richtlinie bewusst, was zu schneller und ausgesprochen heftiger Ablehnung gerade bei Gewerkschaften, Sozialverbänden und Globalisierungsgegnern führte.149 Die Reaktionen in der Bevölkerung waren so heftig, dass auch die Regierungen der großen und wohlhabenden Staaten, insb Deutschlands und Frankreichs, sich genötigt sahen, gegen die Richtlinie vorzugehen. Im Ergebnis scheiterte allerdings die BolkensteinRichtlinie, wie der Vorschlag nach dem Kommissar Frits Bolkenstein benannt wurde, nicht am Veto der Regierungen, sondern fand bei der Abstimmung im Europaparlament keine Mehrheit, da er von den großen Fraktionen der EVP und der SPE abgelehnt wurde. 141 EuGH, Slg 2005, I-7723 ff – Mobisstar und Belgcom Mobile. 142 Vgl zum Steuerrecht insg Kokott/Henze BB 2007, 913. 143 EuGH, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert; Slg 2007, I-11767 ff – Laval; Slg 2007, I-181 ff – ITC; Slg 2006, I-9041 ff – Kommission/Österreich; Slg 2006, I-885 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2005, I-2733 ff – Kommission/Deutschland. 144 EuGH, Slg 2006, I-885 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2006, I-9041 ff – Kommission/Österreich. 145 EuGH, Slg 2008, I-1989 ff – Rüffert. 146 EuGH, Slg 2007, I-11767 ff – Laval. 147 Vgl zum Arbeitsrecht insg Buchner BB Beilage 2008, Nr 004, 6. 148 Vgl w Nachw b Schlachter/Ohler, Einl, Rn 31. 149 Vgl hierzu auch Calliess DVBl 2007, 336 ff; Korte NVwZ 2007, 501 ff; Schlachter/Ohler, Einl, Rn 31.
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Die Kritik entzündete sich in allererster Linie an der geplanten Umsetzung des Herkunftslandprinzips. Nach dem ursprünglichen Entw sollten die Dienstleistungserbringer, die nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen erbringen wollten, allein den Regelungen ihres Heimatstaates unterworfen sein. Überdies sollten auch die Behörden der Heimatstaaten die Einhaltung der nationalen Regeln überwachen. Es sollte also den Dienstleistungserbringern umfassend die Möglichkeit gegeben werden, ihre eigenen nationalen Regelungen bei der Dienstleistungserbringung in den anderen Mitgliedstaat mitzunehmen.150 Dies entsprach aber entgegen der Auffassung der Kommission keineswegs der bisherigen Rspr des EuGH zur Anforderung der gegenseitigen Anerkennung, sondern ging in weitem Maße darüber hinaus und dehnte die Forderungen, die der EuGH erhoben hatte, massiv aus.151 Auf diese Kritik hin änderte und überarbeitete die Kommission ihren Vorschlag am 04.04.2006. Der neue Vorschlag wurde mit kleineren Änderungen im Parlament und Rat mit Wirkung zum 12.12.2006 gebilligt und trat als RL 2006/123/EG152 in Kraft. Die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten hat gem Art 44 I bis zum 28.12.2009 zu erfolgen. Kompetenzrechtlich wird die Richtlinie über die Verweisung des Art 55 EGV auf Art 49 EGV gestützt. Allerdings werden zum Teil Zweifel erhoben, ob die Richtlinie noch von der Ermächtigung gedeckt wird, da sie insb auch einige durchaus gewichtige Veränderungen der Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten vorsieht.153 Die nunmehr verabschiedete Richtlinie sieht völlig von einer Anwendung des Herkunftslandprinzips im Bereich der vorübergehenden Erbringung von Dienstleistungen ab. Vielmehr gestattet sie grds in Art 16 die Anwendung des Rechts des Aufnahmestaates, soweit die nationalen Regeln nicht diskriminierend sind, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder dem Umwelt- und Gesundheitsschutz dienen und verhältnismäßig sind. Überdies untersagt Art 16 II verschiedene Anforderungen, die typischerweise diskriminierend wirken, wie etwa Residenz- oder Präsenzpflicht. Auch bleibt es bei der Kontrolle der Dienstleistungserbringer durch die Behörden des Aufnahmelandes.154 Die Richtlinie ist grds anwendbar auf alle Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleister in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden (Art 2 I). Es existieren allerdings zahlreiche Ausnahmen, wie zB Dienstleistungen von allgem Interesse, das Strafrecht oder das Arbeitsrecht (Art 1 II–VII, Art 2 II lit a–l, Art 3 II). Neben dieser Regelung enthält die Dienstleistungsrichtlinie in Art 21, 22 Informationspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber den Dienstleistungsempfängern und Dienstleistungserbringern.155 Überdies werden auch erhebliche Kooperationspflichten zwischen den Mitgliedstaaten begründet, die insb auf den Informationsaustausch in Bezug auf Dienstleister abzielen, um die Verbraucher in den Mitgliedstaaten zu schützen.156
150 Möstl DÖV 2006, 281 ff. 151 Eingehende Untersuchung der Rspr im Vergleich zur RL bei Calliess DVBl 2007, 336 ff; Schlachter/Ohler, Einl Rn 45 ff. 152 ABl 2006 Nr L 376/36. 153 Vgl Schlachter/Ohler, Einl Rn 24 ff. 154 Hatje, NJW 2007, 2357 ff. 155 Vgl hierzu Schlachter/Ohler, Art 21, 22 mwN. 156 Detaillierter Calliess DVBl 2007, 336 ff; Schlachter/Ohler, Art 28–36.
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Die wohl insb aus deutscher Sicht wesentlichste Änd ist die Verpflichtung zur Schaffung eines einheitlichen Ansprechpartners für Dienstleistungserbringer zum Beginn ihrer Dienstleistung im Aufnahmestaat (One-Stop-Shop-Gedanke). Dieser einheitliche Ansprechpartner soll jedem Dienstleister, der Dienstleistungen im Aufnahmestaat erbringen will, eine einzige Stelle zur Verfügung stellen, bei und mit der er alle Formalia und Verfahren, die für die Dienstleistungserbringung im Aufnahmemitgliedstaat erforderlich sind, abwickeln kann. Bisher sind die Zuständigkeiten für diese Verfahren in den Mitgliedstaaten auf teilweise recht zahlreiche unterschiedliche Behörden verteilt, ein Umstand, der sich als erhebliches zeitliches, organisatorisches und finanzielles Hindernis für die Aufnahme der Dienstleistungserbringung in anderen Mitgliedstaaten erwiesen hat.157 Der einheitliche Ansprechpartner soll dem Dienstleistungserbringer die bei Aufnahme der Dienstleistungserbringung oder bei deren Durchführung erforderlichen Verwaltungsverfahren erleichtern und ihm als einzige Stelle dienen, mit der er sich auseinanderzusetzen hat. Nicht erforderlich ist dagegen, dass der einheitliche Ansprechpartner auch die Anträge und die übrigen Erfordernisse selbst bearbeitet, es genügt die einheitliche Beratung und Entgegennahme der entspr Anträge und Unterlagen.158 Die Frage, welche Behörden oder öffentlichen Stellen in Deutschland zum einheitlichen Ansprechpartner bestimmt werden sollen, ist noch nicht abschließend geklärt. Diskutiert wird insb die Übertragung dieser Aufgabe entweder auf die Kommunen oder auf die Kammern, die als einheitlicher Ansprechpartner fungieren wollen159. Wer sich im Ergebnis im Kampf um die Stellung als einheitlicher Ansprechpartner in Deutschland durchsetzen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar.160
157 Sehr anschaulich zu den Erfordernissen Windoffer in: Leible, Dienstleistungsrichtlinie, S 26 f. 158 Schlachter/Ohler, Art 6 Rn 12, 17. 159 Zu den neuen normativen Öffnungsklauseln, die die landesrechtliche Bestimmung der Kammern zum einheitlichen Ansprechpartner ermöglichen, vgl nur Schmitz/Prell NVwZ 2009, 10 f. 160 Vgl hierzu nur Eisenmenger NVwZ 2008, 1191 f; Ruge NdsVwBl. 2008, 305 ff; Windoffer DÖV 2008, 797 ff; sowie zahlreiche Beiträge in: Leible, Dienstleistungsrichtlinie.
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§ 12 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs Peter von Wilmowsky Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1995, I-361ff – Bordessa (Genehmigungspflicht Spaniens für die Ausfuhr von Bargeld und Inhaberschecks); Slg 1999, I-3099 ff – Konle (Beschränkungen des Landes Tirol für den Grundstücksverkehr); Slg 2000, I-4071 ff – Verkooijen (Besteuerung der Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften in den Niederlanden); Slg 2002, I-4781 ff – Kommission/Frankreich (Genehmigungserfordernisse für die Beteiligung an einem privatisierten Unternehmen ElfAquitaine und für die Veräußerung von Tochtergesellschaften dieses Unternehmens); Slg 2007, I-8995 – Kommission/Deutschland (VW-Gesetz). Schrifttum: Armbrüster „Golden Shares“ und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, JuS 2003, 224 ff; Dautzenberg Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, 720 ff; Fischer Die Kapitalverkehrsfreiheit in der Rspr des EuGH, ZEuS 2000, 391 ff; Glöckner Grundverkehrsbeschränkungen und Europarecht, EuR 2000, 592 ff.
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Wie die anderen Grundfreiheiten tragen die Freiheit des Kapitalverkehrs (Art 56 I EGV/ 63 I AEUV) und die Freiheit des Zahlungsverkehrs (Art 56 II EGV/63 II AEUV) dazu bei, den gemeinsamen Binnenmarkt zu errichten (Art 3 I lit c EGV). Sie verlangen die Beseitigung sämtlicher Beschränkungen, die sich nicht durch höherrangige Belange des Allgemeinwohls rechtfertigen lassen.
I. Schutzbereich 1. Kapitalverkehr 2
Um den Geltungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit abzustecken, muss man klären, was „Kapital“ ist. Allgem werden hierunter Vermögenswerte verstanden.1 Will man dies juristisch präzisieren, so erstreckt sich der Kapitalbegriff auf alle vermögenswerten Rechte. Als Gegenstände, an denen diese Rechte bestehen können, kommen Sachen, Forderungen und sonstige Rechte in Betracht. Erfasst werden demnach Rechte an Bargeld, Grundstücken, beweglichen Sachen, Zahlungsansprüchen und anderen Leistungsansprüchen, Gesellschaftsanteilen, Wertpapieren, Immaterialgütern (wie Urheberrechten, Patenten, Gebrauchsmustern, Geschmacksmustern, Marken und Geschäftsbezeichnungen) sowie an (handelbaren) Rechten zur Emission von Schadstoffen. Kapitalverkehr ist der Verkehr mit diesen Rechten, dh sowohl deren Begr als auch deren Übertragung.2 Welche Bandbreite der Kapitalverkehr einnimmt, veranschaulichen die folgenden Transaktionen: die Verbrin-
1 Vgl zB aus der Rspr: EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 13 – Bordessa. Aus der Gesetzgebung: RL 88/361, Anhang I, vor Rubrik I, ABl 1988 Nr L 178/5. (Zur Bedeutung dieser RL s u Rn 8.) Aus dem Schrifttum: Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 1; Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 13. 2 Der EuGH beschreibt Kapitalverkehr als „Transfer von Vermögenswerten“. S etwa Slg 1995, I-361, Rn 13 – Bordessa. In den Kommentaren und Lehrbüchern wird Kapitalverkehr häufig mit „Wertübertragungen“ umschrieben. S etwa Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 32.
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gung oder die Übertragung von Bargeld; 3 Devisengeschäfte (dh der Erwerb eines Geldbetrags einer fremden Währung); die Begebung von Schecks und Wechseln; der Erwerb von Grundstücken; 4 das Vermieten oder Verpachten von Gegenständen (dh von Sachen oder Rechten); 5 die Übertragung von Gesellschaftsanteilen; Wertpapiergeschäfte (wie etwa die Ausgabe von und der Handel mit Aktien und Schuldverschreibungen); der Erwerb von Anteilen an Investmentfonds; Termingeschäfte; der Erwerb von Unternehmen durch den Erwerb der Vermögensgegenstände („asset deal“) oder der Gesellschaftsanteile („share deal“); 6 die Erbringung einer Kapitaleinlage bei der Gründung einer Gesellschaft; 7 die Gewährung von Darlehen; 8 die Einzahlung von Spareinlagen und andere Formen der Geldanlage; 9 die Versicherung von Risiken; 10 die Begr von Forderungen; 11 die Abtretung von Forderungen (und damit das Factoring); das Veranstalten von Glücksspielen; 12 die Bestellung von Sicherungsrechten; 13 die Übernahme von Bürgschaften; 14 oder der Beitritt zu fremden Verbindlichkeiten. 15 Auch im privaten Bereich finden vielfältige Kapitalbewegungen statt, wie etwa bei Schenkungen, Erbschaften und Vermächtnissen.16 Der Schutz 3 S etwa die Rs Bordessa: Herr Bordessa, ein italienischer Staatsbürger, hatte 50 Millionen spanische Peseta (heute ca 300.000 €) an verschiedenen Stellen seines Kraftfahrzeugs versteckt, um sie von Spanien nach Frankreich zu verbringen. Damit verletzte er die Genehmigungspflicht, die in Spanien für die Ausfuhr von Banknoten damals bestand. Der EuGH erklärte die Genehmigungspflicht für unvereinbar mit der Freiheit des Kapitalverkehrs. 4 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 22 – Konle; Slg 2000, I-5965, Rn 14 – Albore. 5 Anders die überwiegende Auffassung, etwa Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 50 EGV Rn 28 (Dienstleistung). 6 RL 88/361, Anhang I, Rubrik I, ABl 1988 Nr L 178/5. 7 Im Fall EuGH, Slg 1993, I-487ff – Veronica, hatte ein niederländisches Rundfunkunternehmen, welches als nichtkommerzielles Unternehmen öffentliche Fördergelder erhielt, mit diesen Mitteln in Luxemburg ein kommerzielles Rundfunkunternehmen gegründet, um dort Sendungen zu produzieren, die per Kabel in den Niederlanden verbreitet werden sollten. Gegen dieses Verhalten verhängte die zuständige Behörde der Niederlande Bußgelder und andere Sanktionen. 8 RL 88/361, Anhang I, Rubriken VII und VIII, ABl 1988 Nr L 178/5; vgl allerdings EuGH, Slg 1997, I-3899, Rn 17 – Parodi (auch Dienstleistung). 9 Roth in: HdBEUWirtschR, Kap E I Rn 110. 10 Siehe Geiger EUV/EGV, Art 51 EGV Rn 5: Die Begr des Anspruchs aus dem Versicherungsvertrag ist als Kapitalverkehr anzusehen. Die überwiegende Rechtsmeinung schätzt Versicherungen zugleich als Dienstleistungen ein; Nachweise auf die diesbzgl EuGH-Rspr bei Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 49/50 EGV Rn 38. 11 S Müller Kapitalverkehrsfreiheit in der Europäischen Union, 2000, 156. Anderer Auffassung insoweit Ohler WM 1996, 1801, 1805. 12 Anders EuGH, Slg. 1994, I-1039, Rn 30 – Schindler (Dienstleistung). 13 EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 19–24 – Trummer; RL 88/361, Anhang I, Rubrik IX, ABl 1988 Nr L 178/5; v Wilmowsky Europäisches Kreditsicherungsrecht, 1996, 77–93. Anderer Auffassung noch Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 10 – Trummer. 14 OLG Düsseldorf, WM 1995, 1993. Anderer Auffassung Mankowski WuB VII A. § 108 ZPO 1.96 (Dienstleistung). 15 Siehe EuGH, Slg 2000, I-1335 ff – Scientologie: Den Hintergrund dieses Verfahrens bildete ua der Versuch der britischen Scientology-Kirche, die gesamten Schulden der französischen Kirche zu begleichen. Nach dem damaligen französischen Recht benötigte diese ausländische Investition eine Genehmigung, die von der zuständigen französischen Behörde aber verweigert wurde. S Schlussanträge GA Saggio, EuGH, Slg 2000, I-1334, Rn 8 – Scientologie. 16 RL 88/361, Anhang I, Rubrik XI, ABl 1988 Nr L 178/5; zu fremdnützigen Vermögenstransfers als Anwendungsfall der Kapitalverkehrsfreiheit s a v Hippel EuZW 2005, 7 ff.
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der EG-Kapitalverkehrsfreiheit erstreckt sich dabei auf sämtliche Handlungen, die erforderlich sind, um die Transaktion durchzuführen.17 Aus zivilrechtlicher Sicht gehören dazu sowohl die Verpflichtungs- als auch die Verfügungsgeschäfte.
2. Verhältnis zu den anderen Grundfreiheiten 3
Die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Kapitalverkehrsfreiheit wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass auch eine andere Grundfreiheit des EGV (AEUV) Platz greift. Umgekehrt schließt die Geltung der Kapitalverkehrsfreiheit die Anwendung einer anderen Grundfreiheit ebenso wenig aus. Eine (einzelne) Transaktion kann den Schutz mehrerer Grundfreiheiten genießen. Diese kommen dann nebeneinander zur Anwendung (→ § 7 Rn 65). Dient ein Kapitaltransfer der Errichtung oder dem Betrieb einer Niederlassung, der Erbringung einer Dienstleistung oder der Ausübung einer unselbständigen Arbeitstätigkeit, greift außer der Kapitalverkehrsfreiheit auch die Gewährleistung der freien Niederlassung, der Dienstleistungsfreiheit bzw der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein.18 Diese kumulative Anwendung mehrerer Grundfreiheiten ist allerdings nicht unumstritten. Einige Autoren halten sie für falsch und meinen, dass auf eine Transaktion nur eine einzige Grundfreiheit zur Anwendung kommen könne.19 Um die Exklusivität einer Grundfreiheit herzustellen, plädieren sie dafür, den Grundfreiheitsschutz auf eine Grundfreiheit zu lenken und die anderen angesprochenen Grundfreiheiten zurücktreten zu lassen. Den Vertretern dieser Auffassung bereitet beträchtliche Schwierigkeiten, aus mehreren berührten Grundfreiheiten diejenige auszuwählen, der der Vorrang gebühren soll. Betrachten wir das Zusammentreffen mit der Niederlassungsfreiheit. Zu diesem kommt es dort, wo jemand ein Unternehmen gründet oder erwirbt, eine Zweigstelle errichtet oder eine andere selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt oder ausübt und hierfür Vermögensgegenstände (nämlich Gesellschaftsanteile, die Einfluss auf die Geschäftsleitung vermitteln, oder Produktionsmittel wie Maschinen und Grundstücke) erwirbt. Hält man mehrere Grundfreiheiten für kumulativ anwendbar, steht dieser Vermögenserwerb – man bezeichnet ihn als „Investition“, weil er unternehmerischen Zwecken dient – nicht nur unter dem Schutz der Kapitalverkehrsfreiheit, sondern auch unter dem der Niederlassungsfreiheit.20 Wer dagegen für eine Kanalisierung auf eine einzige Grundfreiheit eintritt, muss sich zwischen der Kapitalverkehrsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit entscheiden. Wenig überraschend schlagen die Vertreter der Exklusivitätsthese hierzu unterschiedliche Lösungen vor. Ein Teil von ihnen will der Kapitalverkehrsfreiheit den Vorrang einräumen und den
17 RL 88/361, Anhang I, vor Rubrik I, ABl 1988 Nr L 178/5. 18 So die vorherrschende Auffassung; aus der Rspr siehe zB EuGH, Slg 1995, 3955, Rn 10 f – Svensson (parallele Anwendung sowohl der Kapitalverkehrsfreiheit als auch der Dienstleistungsfreiheit); aus dem Schrifttum s etwa Tiedje/Troberg in: vd Groeben/Schwarze, Art 43 EGV Rn 8–31; Streinz ER, Rn 764 f; R Weber in: Lenz, Vorbem zu den Art 56–60 EGV Rn 11 f; Müller (Fn 11) S 190–197; Glaesner in: Schwarze, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 8; Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn 148; S Weber EuZW 1992, 561, 564 f; Glöckner EuR 2000, 592, 592, 594– 607; Haferkamp Die Kapitalverkehrsfreiheit im System der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, 2003, 161–206; teilw auch Ohler Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002, Art 56 Rn 95–197. 19 Freitag EWS 1997, 186, 188; Fischer ZEuS 2000, 391, 400; Ohler WM 1996, 1801, 1802 f; anders inzwischen Ohler (Fn 18) Art 56 Rn 114–117. 20 Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 43 EGV Rn 114.
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Grundfreiheitsschutz des mit einer Niederlassung einhergehenden Vermögenserwerbs allein auf Art 56 EGV (63 AEUV) stützen.21 Zur Begr beruft man sich auf den Vorbehalt, den das Niederlassungsrecht zugunsten der Bestimmungen über den Kapitalverkehr ausspricht (Art 43 II EGV/49 II AEUV). Ein anderer Teil gibt demgegenüber der Niederlassungsfreiheit den Vorzug; für Kapitalbewegungen, die im Zusammenhang mit einer Niederlassung erfolgen, gelte allein das Kap über die Niederlassungsfreiheit.22 Mit ähnlichen Problemen hat die Exklusivitätslehre in den Fällen zu kämpfen, in denen Kapitalverkehr und Arbeitnehmertätigkeit in einer Handlung zusammenfallen. Man denke zB an den Grundstückserwerb durch einen Wanderarbeitnehmer. Will man den Schutz dieser Transaktion einer einzigen Grundfreiheit exklusiv zuweisen, kommt man nicht umhin, auf die Motive des Wanderarbeitnehmers abzustellen. Nach diesem Ansatz würde die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Regelungen des freien Kapitalverkehrs dort verdrängen, wo der Arbeitnehmer die Immobilie als Wohnung zu nutzen plant. Soll sie ihm dagegen als Geldanlage dienen, wären allein die Bestimmungen über den Kapitalverkehr anzuwenden.23 Diese Differenzierung ist weder sinnvoll noch durchführbar, weil die genannten Erwerbszwecke sich nicht ausschließen, sondern gleichzeitig verfolgt werden können. Man sollte daher anerkennen, dass zB der Erwerb von Grundeigentum durch einen Wanderarbeitnehmer unter dem Schutz sowohl der Kapitalverkehrsfreiheit als auch der Arbeitnehmerfreizügigkeit stehen kann.24 Die Exklusivitätsthese verdient keine Gefolgschaft. Zuzustimmen ist vielmehr der Auffassung, dass in den Fällen, in denen eine Kapitalbewegung mit einer Niederlassung, einer Dienstleistung oder einer Arbeitsleistung einhergeht, zusätzlich zur Kapitalverkehrsfreiheit auch die jeweils andere berührte Grundfreiheit Anwendung findet.25 Zu den Konsequenzen einer kumulativen Anwendung gehört, dass sich der Schutzumfang der weiter reichenden Grundfreiheit durchsetzt. Verbietet eine Grundfreiheit lediglich Diskriminierungen (wie dies etwa zur Niederlassungsfreiheit und zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vertreten wird) (→ §§ 9 Rn 41 ff; 10 Rn 48 ff), während die parallel anwendbare Grundfreiheit (wie etwa die Freiheit des Kapitalverkehrs) auch gleichmäßig anwendbare Beschränkungen erfasst, kommt das Beschränkungsverbot zum Tragen.
3. Grenzübertritt Damit ein Kapitalverkehr den Schutz des Art 56 EGV (63 AEUV) erhält, muss er eine Staatsgrenze kreuzen; innerstaatlicher Kapitalverkehr liegt außerhalb des Schutzbereichs. Der Grenzübertritt kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Erstens kann das Kapital
21 Kimms Die Kapitalverkehrsfreiheit im Recht der Europäischen Union, 1996, 141. 22 Fischer ZEuS 2000, 391, 401 f; Freitag EWS 1997, 186, 190 f; Ohler WM 1996, 1801, 1804; anders inzwischen Ohler (Fn 18) Art 56 Rn 114–117. Vgl auch die (wenig funktionsgerechte) Differenzierung, die Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 28–31 vorschlagen. 23 So etwa Ohler WM 1996, 1801, 1803 f; Freitag EWS 1997, 186, 189. Ähnlich Schlussanträge GA Geelhoed, EuGH, Slg 2002, I-2161, Rn 59–74 – Reisch, für das Zusammentreffen von Kapitalverkehr und Dienstleistungserbringung. 24 Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl Art 9 I VO 1612/68 (VO über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft). Dort wird der Art 39 EGV (Art 45 AEUV) dahin konkretisiert, dass ausländische Arbeitnehmer hinsichtlich der Wohnung, einschließlich der Erlangung des Eigentums an ihr, alle Rechte und Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer genießen. 25 Nachw oben in Fn 17.
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(dh das Vermögensrecht) den Ort seiner Belegenheit ändern und dabei eine Grenze überqueren. Anschaulich sind die Fälle, in denen Bargeld über die Grenze gebracht wird.26 Aber auch andere Kapitalformen können ihren Lageort wechseln. Forderungen zB gelten als dort belegen, wo ihr Schuldner seinen Sitz hat.27 Zieht der Schuldner von Staat A nach Staat B, bewegt sich der Lageort der Forderung über die Grenze. Entspr gilt für GmbHGeschäftsanteile, wenn der Sitz der GmbH von A nach B verlegt wird. Bei Inhaberpapieren wie etwa Inhaberaktien ist der Ort des Papiers der Lageort. Mithin wird durch ihre grenzüberschreitende Verbringung ein grenzüberschreitender Kapitalverkehr bewirkt. Das Sicherungsrecht (wie zB Sicherungseigentum), das an einer beweglichen Sache besteht, überschreitet die Grenze, wenn die Sache in einen anderen Staat gebracht wird. Die zweite Möglichkeit liegt darin, dass der Inhaber des Kapitals wechselt. Dabei wird eine Staatsgrenze gewiss dann überschritten, wenn der Veräußerer das vermögenswerte Recht einem Erwerber überträgt, der in einem anderen Staat ansässig ist. Man denke etwa an die Übereignung eines Grundstücks zwischen Ansässigen verschiedener Staaten oder an einen grenzüberschreitenden Vermögensübergang durch Erbfolge. Die Übertragung von Kapital kann eine Ländergrenze aber auch in einer weiteren Form überschreiten. Angesprochen sind die Fälle, in denen Veräußerer und Erwerber in demselben Staat sitzen und sich der Auslandsbezug allein daraus ergibt, dass der übertragene Vermögensgegenstand in einem anderen Staat belegen ist. Als Beispiele stelle man sich vor, dass ein in Deutschland lebender Veräußerer sein in Österreich gelegenes Grundstück einem gleichfalls in Deutschland lebenden Erwerber verkauft und übereignet oder dass ein deutscher Darlehensnehmer seiner deutschen Bank anbietet, Wertpapiere, die er in einem Luxemburger Depot verwahrt, als Sicherheit zu übertragen. In dieser Konstellation bleibt der durch die Übertragung ausgelöste Kapitalverkehr insofern auf einen Staat beschränkt, als Kapital von einem Inländer auf einen anderen Inländer übergeht. Gleichwohl sollte die EG-Kapitalverkehrsfreiheit auch hier Schutz gewähren. Dafür spricht ihr Regelungszweck. Sie soll sämtlichen Vermögenswerten die Grenzen öffnen. Dazu gehört auch, dass ein Inländer über einen in einem anderen Staat belegenen Vermögensgegenstand ebenso verfügen können muss wie über einen inländischen Gegenstand. Bei der überschrittenen Grenze muss es sich um eine Grenze zwischen zwei Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat handeln (Art 56 EGV/ 63 AEUV). Die Kapitalverkehrsfreiheit ist damit die einzige Grundfreiheit, die nicht nur den innergemeinschaftlichen, sondern auch den Verkehr mit Drittstaaten vor ungerechtfertigten Einschränkungen (durch die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft) schützt. So könnte sich zB ein Russe, der von einem Amerikaner ein Grundstück in Deutschland erwirbt, gegenüber deutschen oder EG-rechtlichen Regelungen, die diese Transaktion einschränken, auf den Schutz des Art 56 I EGV (63 I AEUV) berufen. Kapitalanlegern aus Drittstaaten soll damit die Gewähr gegeben werden, ihre Anlage in der EU jederzeit wieder auflösen und die Erträge rückführen zu können.
4. Zahlungsverkehr 6
Einen bes rechtlichen Status besitzen diejenigen Kapitalübertragungen, die zur Bezahlung einer Leistung erfolgen. Der EG-Vertrag gliedert sie aus dem Kapitalverkehr aus und 26 Siehe die Sachverhalte der EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 32–35 – Bordessa, und Slg 1995, I-4821, Rn 40–48 – Sanz de Lera. 27 Vgl etwa § 23 S 2 ZPO.
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erfasst sie stattdessen als Zahlungsverkehr (Art 56 II EGV/63 II AEUV). Maßgeblich ist der Zweck der Kapitalbewegung. Wird Bargeld übereignet, eine Überweisung durchgeführt, ein Scheck ausgestellt oder ein Wechsel angenommen, um damit eine Leistung (wie etwa die Lieferung einer Sache oder eines Wertpapiers oder die Erbringung einer Dienstleistung) zu bezahlen, handelt es sich um Zahlungsverkehr.28 Zahlungen erhalten einen speziellen Grundfreiheitsschutz, der über den Schutz des Kapitalverkehrs teilweise hinausgeht. Einige Beschränkungsmöglichkeiten, die beim Kapitalverkehr bestehen, gelten nicht für den Zahlungsverkehr. Der Grund dieser Besserstellung liegt darin, dass grenzüberschreitende Zahlungen nicht selten für Leistungen erfolgen, die ihrerseits unter dem Schutz anderer Grundfreiheiten (etwa des freien Warenverkehrs oder der freien Dienstleistungserbringung) stehen und die daher nicht an Einschränkungen scheitern sollen, die der EGV (AEUV) für den Kapitalverkehr (in den Art 57 EGV/64 AEUV und 59 EGV/66 AEUV), nicht jedoch bei den anderen Grundfreiheiten erlaubt. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Grundfreiheitsschutz des Art 56 II EGV (63 II AEUV) auf Zahlungen für solche Leistungen beschränkt wäre, die unter dem Schutz einer Grundfreiheit stehen. Er gilt vielmehr für jede grenzüberschreitende Zahlung.29 Ist zB der Kaufpreis für eine Warenlieferung innerhalb Deutschlands auf das Konto des Verkäufers bei einer Bank in der Schweiz zu zahlen, greift die Gewährleistung des Art 56 II EGV (63 II AEUV) ein. Zahlungen, die die Gegenleistung zu einem grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Niederlassungs- oder Arbeitsverkehr darstellen, nehmen zum einen am Schutz der für die Hauptleistung bzw Haupttätigkeit geltenden Grundfreiheit (Art 28 f EGV/34 f AEUV, Art 49 EGV/56 AEUV, Art 56 I EGV/63 I AEUV, Art 43 EGV/49 AEUV bzw Art 39 EGV/45 AEUV) teil und werden zum anderen nach Art 56 II EGV (63 II AEUV) geschützt.30
II. Beschränkungsverbot Der EGV (AEUV) gewährleistet die Freiheit des Kapitalverkehrs und des Zahlungsverkehrs, indem er alle ungerechtfertigten Beschränkungen verbietet (Art 56 I und II EGV/63 AEUV). Dieses Verbot erfasst nicht nur diskriminierende Regelungen, die den grenzüberschreitenden Kapital- bzw Zahlungsverkehr (offen oder versteckt) stärker einengen als den innerstaatlichen. Vielmehr erstreckt es sich auf Maßnahmen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende wie innerstaatliche Kapitalbewegungen gelten und diese in gleichem Maße einschränken. Das Verbot greift ein, sobald die Maßnahme den (grenzüberschreitenden) Kapital- bzw Zahlungsverkehr „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell“ behindert (Dassonville-Formel).31 Anders als im Recht des Warenverkehrs gibt es bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit keine Regelungen, die von dem Beschränkungsverbot von vornherein befreit und damit per se zulässig wären. Das gilt zum 28 EuGH, Slg 1984, 377, Rn 21 f – Luisi: „Der Transfer von Banknoten kann … nicht als Kapitalverkehr angesehen werden, wenn diesem Transfer eine Zahlungsverpflichtung entspricht … .“; aus dem Schrifttum siehe Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 174; Ohler (Fn 18) Art 56 Rn 320. 29 BBPS Rn 842; Haferkamp (Fn 18) S 41. 30 Geiger EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 5. Anderer Auffassung zB Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 56 EGV Rn 183: Der Art 56 II EGV sei lex specialis. 31 Vgl EuGH, Slg 1974, 837, Rn 6 – Dassonville. Zur Geltung im Recht der Kapitalverkehrsfreiheit s Rohde Freier Kapitalverkehr in der Europäischen Gemeinschaft, 1999, 130 f.
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einen für ausfuhrbeschränkende Maßnahmen. Nach der Rspr des EuGH greifen Maßnahmen, die die Ausfuhr einer Ware einschränken, dann nicht in die Freiheit des Warenverkehrs ein (und bedürfen daher keiner Rechtfertigung), wenn sie gleichmäßig anwendbar sind, dh ohne Unterschied auch für den Abs im Inland gelten (→ § 8 Rn 34 ff).32 Schon beim Warenverkehr steht diese Ausnahme auf schwachen Füßen.33 Es besteht kein Grund, sie auf die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zu übertragen. Zum anderen vermag auch die pauschale Ausklammerung von Regelungen sog Verkaufsmodalitäten keine Orientierung für die Reichweite der Kapitalverkehrsfreiheit zu geben. Seit dem Keck-Urt wendet der EuGH das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit nicht mehr auf mitgliedstaatliche Absatz- und Werbebeschränkungen an, sofern diese nur gleichmäßig gelten. Sie kommen in den Genuss einer Fiktion: Unabhängig von ihren Auswirkungen auf den Warenverkehr gelten sie als nicht geeignet, den Warenverkehr zu behindern.34 Bereits für den Warenverkehr lässt sich diese Bereichsausnahme kaum begründen.35 Sie ist nicht in der Lage, die in sie gesetzte Erwartung zu erfüllen und die von den EG-Freiheiten getragene Kontrolle staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsverkehr zu vereinfachen. Ebenso wenig wie sie Eingang in die Rspr zu den anderen Grundfreiheiten gefunden hat, sollte man sie zur Auslegung der Kapitalverkehrsfreiheit heranziehen.36 Das Beschränkungsverbot des Art 56 EGV (63 AEUV) gilt unmittelbar: Die Bürger und Unternehmen können sich auf die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs von ungerechtfertigten Beschränkungen berufen, ohne dass Vollzugsakte der Mitgliedstaaten erforderlich wären oder Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft vorauszugehen hätten; die Gerichte und Behörden haben die Kapitalverkehrsfreiheit zu beachten und dürfen entgegenstehendes Recht nicht anwenden.37 In dieser Hinsicht ist die Kapitalverkehrsfreiheit ein Nachzügler. Während die anderen Grundfreiheiten mit Ablauf der für den EGV vereinbarten Übergangszeit am 1.1.1970 unmittelbar anwendbar wurden, erlangte die Kapitalverkehrsfreiheit diese Wirkung erst viel später, nämlich zum 1.7.1990. Dem Vertragsartikel, der in der ursprünglichen Fassung des EGV die Freiheit des Kapitalverkehrs verbürgte und der Ende 1993 außer Kraft trat und durch Art 56 EGV ersetzt wurde (Art 67 EGV aF), wurde keine unmittelbare Geltung zuerkannt. Anders als der heutige Art 56 EGV (63 AEUV) verbot er (ungerechtfertigte) Beschränkungen nicht bedingungslos, sondern lediglich insoweit, als diese „dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes“ zuwiderliefen. Der Gerichtshof interpretierte diesen Vorbehalt dahin, dass das Beschränkungsverbot vom Ausmaß der Integration der nationalen Kapitalverkehrsregelungen abhänge. Da sich dieser Integrationsstand fortlaufend verändere, sei der
32 Übersicht bei Oliver/Jarvis Free Movement of Goods in the European Community, 4th edition 2003, Rn 6.81–6.90. 33 Zur Kritik s v Wilmowsky EuR 1996, 362, 363–368. 34 EuGH, Slg 1993, I-6097, Rn 16 – Keck. 35 S v Wilmowsky EuR 1996, 362, 368–371. 36 Vgl EuGH, Slg 2003, I-4644, Rn 45–47 – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 2003, I-4581, Rn 58–62 – Kommission/Spanien; gegen eine Übernahme der Keck-Rspr auch Fischer ZEuS 2000, 391, 404; Kimms (Fn 21) S 183. Anderer Auffassung sind zB Glöckner EuR 2000, 592, 614–620; Rohde (Fn 31) S 131 f. Zur Vertiefung siehe Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Vorbem zu den Art 39–55 EGV Rn 86–121. 37 EuGH, Slg 1995, I-4821, Rn 40–48 – Sanz de Lera (spanische Regelung, die die Ausfuhr von Bargeld und Inhaberschecks einer Genehmigungspflicht unterwarf).
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Vorbehalt zu unbestimmt, um den Umfang der Kapitalverkehrsfreiheit bereits aus dem Primärrecht herleiten zu können.38 Es war somit zunächst dem sekundären Gemeinschaftsrecht überlassen, über das Ausmaß der Liberalisierung im Kapitalverkehr zu entscheiden. Erst die 1988 verabschiedete RL 88/361 statuierte ein Beschränkungsverbot, welches nicht mehr auf den erreichten Integrationsstand abstellte.39 Dieses Beschränkungsverbot erlangte (mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie) am 1.7.1990 unmittelbare Geltung.40 Das Primärrecht zog 1993 nach, indem es den heutigen Art 56 EGV (63 AEUV) schuf. (Da der Art 56 EGV/63 AEUV mit Art 1 der RL 88/361 weitgehend übereinstimmt, kann man zu einzelnen Fragen die RL weiterhin heranziehen, insb ihrem Anhang I – der sog Nomenklatur für den Kapitalverkehr – einige der geschützten Tätigkeiten entnehmen. Allerdings ist die RL nicht in der Lage, die Reichweite des Primärrechts festzulegen. Auch besitzt die dort vorgenommene Klassifizierung keine Bedeutung mehr.) Durch Art 56 I EGV (63 AEUV) sind ua grds verboten (und damit rechtfertigungsbedürftig): Ein- und Ausfuhrbeschränkungen für Zahlungsmittel; Beschränkungen des Erwerbs von Gesellschaftsanteilen; Behinderungen von Fremdwährungsschulden; Kanalisierung des Handels mit Wertpapieren oder Devisen auf bestimmte Rechtspersonen; Behinderungen der Aufnahme von Darlehen im Ausland (etwa durch eine Bardepotpflicht); Behinderungen der Ausgabe von Schuldverschreibungen; Benachteiligungen von Ausländern beim Erwerb von Grundstücken. Aufgrund der Zahlungsverkehrsfreiheit (Art 56 II EGV/63 II AEUV) ist es den Mitgliedstaaten zB verboten, bestimmte Zahlungsarten oder -wege vorzuschreiben.41 Das Beschränkungsverbot des Art 56 EGV (63 AEUV) ist nicht schrankenlos. Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft, die den grenzüberschreitenden Verkehr beschränken, werden durch Art 56 EGV (63 AEUV) nicht absolut verboten. Vielmehr unterliegen sie einem Rechtfertigungszwang: Sie müssen geeignet und erforderlich sein, Belange des Allgemeinwohls zu fördern, denen das primäre Gemeinschaftsrecht einen höheren Stellenwert einräumt als dem ungehinderten Kapitalverkehr. Bei den Rechtfertigungsgründen ist zu unterscheiden, ob der Kapitalverkehr innerhalb der Gemeinschaft oder im Verhältnis zu Drittstaaten eingeschränkt wird; für letztgenannte Maßnahmen sieht der EGV (AEUV) zusätzliche Gründe vor.
38 EuGH, Slg 1981, 2595, Rn 8–13 – Casati (italienische Genehmigungspflicht für die Ausfuhr von Bargeld). 39 Art 1 I 1 RL 88/361. 40 EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 32–35 – Bordessa (spanische Genehmigungspflicht für die Ausfuhr von Bargeld und Inhaberschecks). 41 Heute nicht mehr zulässig wäre die Regelung der früheren Belgisch-Luxemburgischen Währungsunion, die es den Exporteuren Belgiens und Luxemburgs verbot, Bargeld entgegenzunehmen, sondern von ihnen verlangte, sich die Verkaufspreise überweisen zu lassen; s den Sachverhalt zu EuGH, Slg 1988, I-4369 ff – Lambert.
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III. Rechtfertigung von Beschränkungen innerhalb der Gemeinschaft: Die Schutzgüter des Art 58 EGV (65 AEUV) und die zwingenden Erfordernisse 11
Für Maßnahmen, die den grenzüberschreitenden Kapital- bzw Zahlungsverkehr nicht nur gegenüber Drittstaaten, sondern auch innerhalb der Gemeinschaft einschränken, kommen Rechtfertigungsgründe aus zwei Gruppen in Betracht. Die niedergeschriebenen, dh im EGV kodifizierten, Schutzgüter finden sich in Art 58 EGV (65 AEUV). Dort sind genannt: die Steuern (auf Kapitaleinkünfte) (Abs 1 lit a), die innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Information über den Kapitalverkehr und die öffentliche Ordnung und Sicherheit (Abs 1 lit b). Dass der EGV die „innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ als eigenen Interventionsgrund nennt, erweckt den Eindruck, die Mitgliedstaaten dürften den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr beliebig einschränken, so sie ihre Maßnahmen nur in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften gießen.42 Bei diesem Verständnis wäre das Beschränkungsverbot des Art 56 EGV (63 AEUV) aus den Angeln gehoben. Da dies weder der Integrationsfunktion dieser Bestimmung noch den Intentionen der Vertragsverfasser entsprechen würde, ist vorauszusetzen, dass die betr mitgliedstaatliche Vorschrift ihrerseits materiell gerechtfertigt ist und einem zwingenden Belang des Allgemeinwohls dient.43 Die „öffentliche Ordnung“ wird durch die grundlegenden Regeln einer Gesellschaft gebildet, zu denen auch die wichtigsten Strafbestimmungen zählen.44 Unter diesem Gesichtspunkt können Einschränkungen des Kapital- oder Zahlungsverkehrs etwa zur Bekämpfung der Geldwäsche oder des Drogenhandels gerechtfertigt sein.45 Um die „öffentliche Sicherheit“, einen Teilbereich der öffentlichen Ordnung, gegen innere und äußere Bedrohungen zu verteidigen, kann zB gegen Kapitalbewegungen verfassungsfeindlicher oder terroristischer Gruppen vorgegangen werden. Kapitalbewegungen, die mit der Errichtung einer Niederlassung einhergehen, dürfen – über Art 58 I EGV (65 I AEUV) hinaus – auch aus denjenigen Gründen beschränkt werden, die zu Einschränkungen der freien Niederlassung berechtigen (Art 58 II EGV/65 II AEUV). Für Transaktionen, die sowohl einen Kapitalverkehr als auch eine Niederlassung darstellen, wird der Katalog der zulässigen Beschränkungen des Kapitalverkehrs damit um die Beschränkungsmöglichkeiten des Niederlassungsrechts ergänzt.46 42 Dieser Standpunkt wird vertreten in: Schlussanträge GA Saggio, EuGH, Slg 2000, I-1335, Rn 18 – Scientologie. Er meint, die Mitgliedstaaten verfügten beim Kapitalverkehr über einen größeren Handlungsspielraum als beim Waren- und Personenverkehr und könnten Einschränkungen des Kapitalverkehrs auf innerstaatliche Vorschriften „gleich welcher Art“ stützen. 43 Zur entspr Problematik bei der öffentlichen Ordnung vgl EuGH, Slg 1984, 1299, Rn 32 f – Prantl: Eine mitgliedstaatliche Regelung gehört nicht schon deshalb zur „öffentlichen Ordnung“, weil sie mit einer Strafsanktion bewehrt ist. 44 EuGH, Slg 1977, 1999, Rn 33–35 – Bouchereau; Slg 1982, 1665, Rn 8 – Adoui; Slg 2000, I-1335, Rn 17 – Scientologie: „Grundinteresse der Gesellschaft“; weitere Nachw bei Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 30 EGV Rn 49 f. 45 EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 21 – Bordessa. 46 Umgekehrt gilt dasselbe: Maßnahmen, die nach den Bestimmungen über den Kapitalverkehr zulässig sind, schränken auch die niederlassungsrechtliche Seite der Transaktion in zulässiger Weise ein (Art 43 II EGV/49 II AEUV). Die wechselseitigen Vorbehalte der Art 43 II EGV (49 II AEUV) und 58 II EGV (Art 65 II AEUV) erklären damit die Einschränkungsgründe des jew anderen Vertragskapitels für anwendbar. Vgl auch Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 19; S Weber EuZW 1992, 561, 565.
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Schon früh legte sich der Gerichtshof darauf fest, dass die im EGV kodifizierten Ermächtigungen zur Einschränkung von Grundfreiheiten (wie zB die Art 30 EGV/36 AEUV, Art 39 IV EGV/45 IV AEUV, Art 45 EGV/51 AEUV Art 46 EGV/52 AEUV, Art 55 EGV/62 AEUV und Art 58 EGV/65 AEUV) eng auszulegen sind und die schutzfähigen Rechtsgüter abschließend aufzählen. Um der Vielzahl solcher legitimer Interventionsinteressen Rechnung tragen zu können, die wie zB der Umweltschutz und der Verbraucherschutz in den ausdrücklichen Schranken der Grundfreiheiten keine Erwähnung gefunden haben, musste er daher eine zweite Gruppe von Rechtfertigungsgründen schaffen: die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“. Er beschreitet dabei einen induktiven Weg und entscheidet anhand einzelner Fälle, welchem staatlichen Regelungsinteresse Vorrang vor dem freien Wirtschaftsverkehr und damit Anerkennung als „zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls“ gebührt. Den Versuchen, aus dieser Rspr allgem Kriterien zu gewinnen, war bislang wenig Erfolg beschieden. An der (verbreiteten) Einschätzung, ausschließlich „nichtwirtschaftliche“ Regelungszwecke könnten ein zwingendes Erfordernis sein,47 trifft zu, dass protektionistische Maßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten einheimische Interessengruppen vor ausländischer Konkurrenz in Schutz zu nehmen suchen, nicht gerechtfertigt werden können. Der Gerichtshof umschreibt diesen Befund regelmäßig mit der Formel, dass „einem Mitgliedstaat … nicht gestattet werden [kann], sich den Wirkungen der im Vertrag vorgesehenen Maßnahmen unter Berufung auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu entziehen, die durch die Beseitigung der Behinderungen des innergemeinschaftlichen Handels entstehen.“48 Nicht jedes wirtschaftliche Interesse trifft jedoch der Protektionismusvorwurf. Im Gegenteil ist für eine Reihe „wirtschaftlicher“ Regelungsinteressen anerkannt, dass sie zu Einschränkungen der Grundfreiheiten berechtigen. Mit Skepsis sollte man auch der verbreiteten Ansicht begegnen, dass zwingende Erfordernisse – anders als die kodifizierten Rechtfertigungsgründe – allein solche Einschränkungen stützen könnten, die unterschiedslos für in- und ausländische Sachverhalte gelten; unterschiedlich anwendbare Maßnahmen könnten dagegen nicht durch ein zwingendes Erfordernis gerechtfertigt sein.49 Diese Differenzierung zwängt die Interessenabwägung in ein formales Korsett, das der Komplexität der Konflikte zwischen mitgliedstaatlicher Regelungsgewalt und Wirtschaftsintegration kaum gerecht wird. Es macht wenig Sinn, die Unterscheidung zwischen unterschiedlich und unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen aus der Tatbestandsseite zu verbannen (indem man die in den Grundfreiheiten ausgesprochenen Beschränkungsverbote auf gleichmäßig anwendbare Maßnahmen erstreckt), aber ihr auf der Rechtfertigungsseite erkenntnisleitende Funktion zuzumessen. So nimmt es denn nicht wunder, dass man immer wieder auf Urt stößt, in denen der EuGH Einschränkungen von Grundfreiheiten mit einem zwingenden Erfordernis rechtfertigt, obwohl sie unterschiedlich anwendbar waren und den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr stärker als den innerstaatlichen belasteten.50 Im Bereich des
47 Nachw ua bei Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 204; Ress/ Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 4. 48 Vgl etwa EuGH, Slg 1984, 2727, Rn 35 – Campus Oil. 49 StRspr des EuGH; Nachw ua bei Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 20. 50 S zB EuGH, Slg 1992, I-305, Rn 10–21 – Kommission/Belgien (unterschiedlich anwendbare Steuerregelung). Vgl auch die Kritik von Oliver/Jarvis (Fn 32) Rn 8.04–8.09; Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 193–197; Leible in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 28 EGV Rn 20; v Wilmowsky EuR 1992, 414, 415.
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Kapitalverkehrs kommen als zwingende Erfordernisse ua in Betracht: die Stabilität des Geldwerts, die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte sowie der Kreditwirtschaft, der Verbraucherschutz, der Umweltschutz sowie Belange der Raumordnung und Stadtplanung. In welchem Ausmaß die Mitgliedstaaten und der einfache Gemeinschaftsgesetzgeber den (grenzüberschreitenden) Kapital- bzw Zahlungsverkehr einschränken dürfen, ohne gegen das Beschränkungsverbot des Art 56 EGV (63 AEUV) zu verstoßen, erschließt sich, wenn man die einzelnen Regelungsfelder (wie zB Steuerrecht, Unternehmensrecht, Außenwirtschaftsrecht, Währungsrecht, Grundstücksrecht, Kreditsicherungsrecht) betrachtet.
IV. Einzelne Regelungsfelder 1. Steuerrecht: Besteuerung von Kapitalerträgen 14
Die Erhebung von Steuern belastet den Wirtschaftsverkehr. Soweit auch der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr belastet wird, rücken die Steuerregelungen auf den Prüfstand der Grundfreiheiten des EGV. Welche der Grundfreiheiten heranzuziehen ist, hängt von dem Gegenstand der Besteuerung ab. Die Freiheit des Kapitalverkehrs ist angesprochen, wenn die Übertragung, das Innehaben oder der Ertrag von Kapital einer Steuer unterworfen wird.51 Zu denken ist etwa an die Besteuerung des Erwerbs von Grundstücken, Wertpapieren, Gesellschaftsanteilen oder Devisen, die Besteuerung von Darlehen und die Besteuerung von Erbschaften. Hinsichtlich der Kapitalerträge sind vor allem Steuern auf Darlehenszinsen sowie auf Ausschüttungen an Gesellschafter (Dividenden) zu erwähnen. Die Rechtfertigung von Grundfreiheitseinschränkungen hängt in erster Linie davon ab, ob die Steuerregelung gleichmäßig anwendbar ist oder ob sie unterschiedliche Bedingungen für den mitgliedstaatsinternen und den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr setzt. a) Gleichmäßig wirkende Steuerregelungen
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Belastet die Steuerregelung den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr in demselben Maß wie den innerstaatlichen, bereitet ihre Rechtfertigung keine Probleme. Die Erzielung staatlicher Einnahmen durch Steuern ist als ein im Allgemeinwohl liegendes Regelungsinteresse anerkannt.52 Speziell für die Kapitalverkehrsfreiheit ergibt sich dies aus Art 58 I EGV (65 I AEUV). Indem dort einzelne Aspekte der Besteuerung, nämlich die Differenzierung von Steuern nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen und dem Anlageort des Kapitals (lit a) und die Bekämpfung der Steuerhinterziehung (lit b), als Eingriffsgründe genannt sind, bringt diese Bestimmung zum Ausdruck, dass dann auch die Erhebung von Steuern die Kapitalverkehrsfreiheit in zulässiger Weise einschränkt. (Bei den anderen Grundfreiheiten folgt dies aus dem Cassis-Urt, welches die wirksame steuerliche Kontrolle beispielhaft als „zwingendes Erfordernis“ nennt53 und damit offensichtlich auch die Erzielung von Einnahmen zu den staatlichen Regelungsinteressen zählt, die Einschränkungen des Wirtschaftsverkehrs rechtfertigen.) Folgerichtig stößt die österreichische
51 S Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 756 f; Dahlberg Direct Taxation in Relation to the Freedom of Establishment and the Free Movement of Capital, 2005, S 301 ff. 52 Sa Ohler WM 1996, 1801, 1807; Müller (Fn 11) S 332 f. 53 EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 und 14 – Rewe.
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Steuer auf Darlehen auf keine grds europarechtlichen Bedenken.54 Sie ist von jedem in Österreich ansässigen Darlehensnehmer (in Höhe von 0,8% des Darlehensbetrags) zu entrichten, wobei gleichgültig ist, ob das Darlehen bei einem inländischen oder einem ausländischen Darlehensgeber aufgenommen wird. Insoweit wird die grenzüberschreitende Darlehensaufnahme in demselben Maße wie das innerstaatliche Darlehensgeschäft belastet. Politisch aktuell ist die Frage, ob die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten den Erwerb ausländischer Währungen mit einer Umsatzsteuer (sog TobinSteuer) belasten dürften, ohne gegen Art 56 I EGV (63 I AEUV) zu verstoßen.55 Da die Besteuerung des Umsatzes von Waren und Dienstleistungen (durch die Mehrwertsteuer) und des Umsatzes von Grundstücken (durch die Grunderwerbsteuer) mit den Freiheiten des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs in Einklang steht, sollte dasselbe für die Besteuerung des Umsatzes von Devisen gelten. Stellt die Erzielung staatlicher Einnahmen ein legitimes Regelungsziel dar, können allein diskriminierende Steuerregelungen gegen die Grundfreiheiten verstoßen. b) Unterschiedlich wirkende (dh diskriminierende) Steuerregelungen Fall: (EuGH, Slg 2000, I-4071 ff – Verkooijen): Der in den Niederlanden lebende V besaß Aktien der Petrofina NV, einer belgischen Aktiengesellschaft. Auf diese Aktien wurde 1991 eine Dividende in Höhe von 2.337 Gulden (ca 1.060 €) ausgeschüttet. Ordnungsgem gab V diese Einkünfte in seiner (niederländischen) Steuererklärung an, wobei er erwartete, dass sie in Höhe des gesetzlichen Freibetrags für Einkünfte aus Kapitalvermögen (2.000 Gulden) steuerfrei bleiben würden. Nach Art 47b des niederländischen Einkommensteuergesetzes galt der Freibetrag jedoch allein für solche Dividendeneinkünfte, die von Kapitalgesellschaften mit Sitz in den Niederlanden stammten. Da die Petrofina NV ihren Sitz in Belgien hat, brachte die niederländische Finanzverwaltung den Freibetrag nicht zum Ansatz und unterwarf die Dividenden vollständig der Einkommensteuer. Hiergegen klagte V. Das höchste niederländische Gericht, der Hoge Raad, legte dem EuGH zur Vorabentscheidung ua die Frage vor, ob die Beschränkung des Freibetrags auf Dividenden inländischer Gesellschaften mit den Vorschriften des EGV über den Kapitalverkehr in Einklang stehe.
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aa) Der Steuervorbehalt des Art 58 I lit a EGV (65 I lit a AEUV) Steuerregelungen diskriminieren, wenn sie den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr stärker belasten als den mitgliedstaatsinternen Wirtschaftsverkehr.56 Für die Fälle, in denen die Steuerregelung in eine andere Grundfreiheit als die hier behandelte Kapitalverkehrsfreiheit eingreift, indem sie den innergemeinschaftlichen Warenverkehr, die Dienstleistungserbringung, die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die Niederlassungstätigkeit be-
54 S den ersten Teil des Sandoz-Urt: EuGH, Slg 1999, I-7041, Rn 17–27 – Sandoz. (Zum zweiten Teil s unten Fn 66). 55 Zu diesem Vorschlag s Tobin 1978 Eastern Economic Journal 153, 155: “The proposal is an internationally uniform tax on all spot conversions of one currency into another, proportional to the size of the transaction.”. 56 Bei den direkten Steuern bereitet die Beantwortung der Frage, wann Gebietsfremde tatsächlich benachteiligt werden, beträchtliche Schwierigkeiten; s hierzu die Analyse der EuGH-Rspr durch Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 758–761.
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lastet, hat sich als Rechtssatz herausgebildet: Diskriminierende Steuerregelungen sind unzulässig, es sei denn, sie sind sachlich gerechtfertigt.57 Beim Kapitalverkehr stellt sich die Frage, ob ungleichmäßig wirkende Steuerregelungen an einem anderen, weniger strengen Maßstab zu messen sind. Das Kap des EGV zum Kapitalverkehr enthält eine besondere Bestimmung zu diskriminierenden Steuerregelungen. In Art 58 I lit a EGV (65 I lit a AEUV) heißt es, dass die Steuerrechte der Mitgliedstaaten nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen und nach dem Ort der Kapitalanlage unterscheiden dürfen, ohne dadurch gegen die in Art 56 EGV (63 AEUV) verbürgte Kapitalverkehrsfreiheit zu verstoßen. Dem Wortlaut nach scheint diese Bestimmung steuerrechtliche Ungleichbehandlungen, die auf den Wohnort oder den Anlageort abstellen, auch dann zuzulassen, wenn diese sachlich nicht gerechtfertigt sind. Als dieser sog Steuervorbehalt mit Wirkung ab dem 1.1.1994 in den EGV aufgenommen wurde, hofften seine Initiatoren in der Tat, den Mitgliedstaaten die Beibehaltung einer Reihe diskriminierender Steuerregelungen zu ermöglichen.58 Diese Erwartungen mussten jedoch enttäuscht werden. Im Jahr 2000 entschied der EuGH, dass der Steuervorbehalt des Art 58 I lit a EGV (65 I lit a AEUV) die sachliche Rechtfertigung von Differenzierungen nach dem Wohnort des Steuerpflichtigen oder dem Anlageort des Kapitals nicht entbehrlich macht.59 Der Steuervorbehalt steht nämlich seinerseits unter dem Vorbehalt des Abs 3 des Art 58 EGV (65 III AEUV), der willkürliche, dh sachlich nicht gerechtfertigte, Differenzierungen verbietet. Folglich bedürfen auch die Differenzierungen nach den im Steuervorbehalt genannten Merkmalen (Wohnort und Anlageort) einer sachlichen Rechtfertigung. Für die ungleich wirkende Steuerregelung muss ein sachlicher Grund bestehen, der in geeigneter, erforderlicher und verhältnismäßiger Weise verfolgt wird. Der Gerichtshof schätzt den Steuervorbehalt des Art 58 I lit a EGV (65 I lit a AEUV) somit als eine deklaratorische Regelung ein, die die Anforderungen, die bei den anderen Grundfreiheiten für ungleichmäßig wirkende Einschränkungen gelten, für Belastungen des Kapitalverkehrs durch ungleich wirkende Steuerregelungen nicht verringere.60 Entgegen den Zielen der Initiatoren gestattet der Steuervorbehalt mithin keine zusätzlichen Eingriffe in den Kapitalverkehr, sondern nur solche, die auch nach den allgem Grundsätzen zu den Einschränkungen von EG-Grundfreiheiten zulässig wären.61
57 S zB EuGH, Slg 1995, I-225, Rn 39 – Schumacker (Arbeitnehmerfreizügigkeit); Slg 1995, I-2493, Rn 23–27 – Wielockx (Niederlassungsfreiheit); Überbl bei Voß in: HdBEUWirtschR, Kap J Rn 18–35. 58 Zu den Hintergründen s Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 12–14. In der Schlussakte zum Änderungsvertrag v Maastricht erklärte die Regierungskonferenz, dass der Steuervorbehalt allein für solche Regelungen gelten soll, die Ende 1993 in den Mitgliedstaaten bestanden (Erklärung Nr 7). Solche Erklärungen sind bei der Auslegung des EGV zu berücksichtigen. S aber unten Fn 61. 59 EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 43–46 – Verkooijen; ebenso Schlussanträge GA La Pergola in derselben Rs, EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 33 – Verkooijen; seitdem stRspr. 60 Für dieses Verständnis hatten sich auch ausgesprochen: Bachmann RIW 1994, 849, 850 f; Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 763–768; Dautzenberg RIW 1998, 537, 540–542; ähnlich Ohler WM 1996, 1801, 1807. 61 Daher kann auch die Erklärung Nr 7 (Fn 58) keine juristische Bedeutung entfalten; Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 768 mit dortiger Fn 113.
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bb) Rechtfertigungsgrund Man steht somit vor der Frage, welche „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“ in der Lage sind, Steuerregelungen zu rechtfertigen, die den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr stärker als den innerstaatlichen belasten. Ob es solche Rechtfertigungsgründe überhaupt geben kann, ist alles andere als geklärt. Der EuGH erachtet die „Kohärenz“ (dh den „Zusammenhang“) des nationalen Steuerrechts als ein zwingendes Erfordernis, welches Diskriminierungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs bei der Besteuerung stützen könne.62 Nicht deutlich wird allerdings, was mit „Kohärenz“ genau gemeint ist. Zum Tragen kam dieser Rechtfertigungsgrund bislang nur in einem einzigen Fall, nämlich einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien wegen einer Einkommensteuerregelung, die einen inländischen Sachverhalt besser behandelte als einen grenzüberschreitenden.63 Alle anderen Versuche von Mitgliedstaaten, ungleich wirkende Steuerregelungen mit der „Kohärenz“ ihres Steuerrechts zu verteidigen, blieben erfolglos.64 Man sollte die Kohärenz daher nicht als Rechtfertigung für steuerliche Schlechterstellungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs akzeptieren. Diskriminierende Steuerregelungen lassen sich nicht rechtfertigen.65
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cc) Folgerungen Vor der Kapitalverkehrsfreiheit konnten folgende ungleich wirkende Steuerregelungen keinen Bestand haben: die Besteuerung von Darlehen ausländischer Darlehensgeber, nicht jedoch inländischer Darlehensgeber; 66 die günstigere Besteuerung solcher Zinseinkünfte, die Steuerpflichtige von Schuldnern erhalten, die ihren Sitz oder eine Niederlassung im Inland haben;67 die Beschränkung einer steuerlichen Förderung auf die Beteiligung an inländischen Unternehmen; 68 die Beschränkung eines Steuerfreibetrags auf Dividenden inländischer Gesellschaften; 69 die Beschränkung einer Befreiung von der Grunderwerb-
62 EuGH, Slg 1992, I-305, Rn 14–21 – Kommission/Belgien; weitgehend inhaltsgleich mit EuGH, Slg 1992, I-249, Rn 21–28 – Bachmann; bestätigt ua in EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 43 – Verkooijen; aus dem Schrifttum s Dautzenberg StuB 2000, 720, 725 f. 63 Um die Kosten einer Lebensversicherung von dem zu versteuernden Einkommen abziehen zu können, verlangte die belgische Regelung, dass das Versicherungsunternehmen seinen Sitz oder eine Niederlassung in Belgien hat; s Fn 62. 64 Als Belege s zB EuGH, Slg 2000, I-7587, Rn 31 und 33–36 – Kommission/Belgien; sowie Schlussanträge GA Jacobs, EugH, Slg 2000, I-7587, Rn 51–58 – Kommission/Belgien (Verbot Belgiens, Papiere einer Auslandsanleihe zu erwerben); Slg 2001, I-1727, Rn 67–76 – Metallgesellschaft (Besteuerung von Dividenden); Slg 2002, I-10829, Rn 72 iVm Rn 52–59 – X, Y/Riksskatteverk (Besteuerung des Veräußerungsgewinns von Aktien); EWS 2004, 361 Rn 34–39 – Lenz (Besteuerung von Dividenden); EuZW 2005, 19 Rn 40–48 – Manninen (Besteuerung von Dividenden); EWS 2004, 365 Rn 20–27 – Weidert und Paulus (Steuerfreibetrag für die Beteiligung an Unternehmen); ebenso Slg 2003, I-9409, Rn 29–32 – Bosal Holding BV (Konzernbesteuerung). 65 S Ohler (Fn 18) Art 58 Rn 24. Zu den Folgen für das dt Außensteuerrecht s Dautzenberg StuB 2000, 720, 726. 66 Zweiter Teil des Sandoz-Urt EuGH, Slg 1999, I-7041, Rn 28–38 – Sandoz. 67 EuGH, EWS 2004, 190 ff – Kommission/Frankreich. 68 EuGH, EWS 2004, 365 ff – Weidert und Paulus. Vgl auch EuGH, Slg 2003, I-9409 – Bosal Holding BV (Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Tochtergesellschaften bei der Besteuerung der Muttergesellschaft; Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit). 69 EuGH, Slg 2000, I-4071 ff – Verkooijen.
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steuer auf Grundstücksveräußerungen zwischen den inländischen Gesellschaften eines Konzerns;70 ungünstigere Besteuerung des Gewinns aus einer Veräußerung von Aktien, wenn der Erwerber eine ausländische juristische Person ist.71 Gegen Art 56 EGV (63 AEUV) verstoßen auch die Ungleichbehandlungen, die bei den Anrechnungsverfahren auftreten, die in einigen Mitgliedstaaten für die Besteuerung des Dividendeneinkommens von Gesellschaftern gelten. Diese Verfahren rechnen die von der Gesellschaft gezahlte Körperschaftsteuer (anteilig) auf die Einkommensteuer an, die der Gesellschafter für den Erhalt der Dividende zu zahlen hat. Kritisch ist, dass die Anrechnung auf inländische Kapitalgesellschaften beschränkt ist: Wer sich an einer ausländischen Gesellschaft beteiligt und von ihr Dividende bezieht, kann deren im Ausland gezahlte Körperschaftsteuer nicht von seiner (inländischen) Einkommensteuerschuld abziehen. Für diese Schlechterstellung ausländischer Beteiligungen (in den körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahren) gibt es keine Rechtfertigung.72 Die Unvereinbarkeit mit den EG-Grundfreiheiten gehörte zu den Gründen, aus denen Deutschland das Anrechnungsverfahren abschaffte und durch das Halbeinkünfteverfahren ersetzte, welches die Körperschaftsteuer der Gesellschaft nicht mehr anrechnet, sondern die vom Gesellschafter empfangene Dividende zur Hälfte steuerfrei lässt.73 Dies gilt auch für Dividenden ausländischer Gesellschaften.74 Auf noch ungelöste Probleme stößt man, wenn man die Einwirkung der EG-Grundfreiheiten auf die Doppelbesteuerung von Einkünften auszuloten versucht. Erzielt zB ein Gebietsansässiger des Staats A Einkünfte in Staat B (etwa aus Anteilen, die er an einer Gesellschaft in B hält, aus der Vermietung eines Grundstücks in B oder aus einer Arbeitstätigkeit in B), kann es geschehen, dass sowohl A als auch B diese Einkünfte besteuern. In den Fällen, in denen kein bilaterales Abkommen zwischen A und B besteht, welches eine Doppelbesteuerung vermeiden würde, stellt sich die Frage, ob die EG-Grundfreiheiten eine Doppelbesteuerung verbieten. Es handelt sich um eine faktische Diskriminierung: Indem die Einkünfte ohne Rücksicht auf die Belastung durch den anderen Staat besteuert werden, unterliegen sie einer höheren Belastung als die gleichen inländischen Einkünfte eines Inländers. Für die Diskriminierung sind somit die Maßnahmen zweier Staaten verantwortlich.75 Um sie zu beseitigen, muss einer der beiden Staaten Rücksicht auf die Maßnahme des anderen Staats nehmen und die dort zu entrichtende Steuer anrechnen. Die Schwierigkeit liegt nun darin, die Rollen zu verteilen: Welchem Staat gebührt der primäre Zugriff auf das Besteuerungsgut mit der Folge, dass der andere Staat zur Anrechnung
70 Das Urt EuGH, Slg 1994, I-1137 ff – Halliburton, stützt sich zwar auf die Niederlassungsfreiheit, doch fällt der grenzüberschreitende Grundstücksverkehr auch in den Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit. 71 EuGH, Slg 2002, I-10829 – X, Y/Riksskatteverk. 72 EuGH, EuZW 2005, 19 Rn 25–55 – Manninen; vgl auch FG Köln, Beschluss v 24.6.2004, GmbHR 2004, 1091. So bereits Knobbe-Keuk FS F Klein, 1994, S 347, 351 f, 358; Rohde (Fn 31), S 168 f; vgl auch den (teilweise veralteten) Überbl von Saß DB 1993, 113, 115–117. Anderer Auffassung ist etwa Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 775 f. 73 S Pezzer StuW 2000, 144, 145 f. 74 S § 3 Nr 40 lit d iVm § 20 I Nr 1 EStG. Vgl auch das in Österreich geltende Halbsatzverfahren, welches die Dividende beim Gesellschafter mit dem halben Einkommensteuersatz besteuert. Anders als die dt Regelung galt die österreichische nur für Dividenden inländischer Gesellschaften. Insoweit stand sie in Widerspruch zur Gewährleistung des Art 56 EGV; s EuGH, EWS 2004, 361 Rn 23–49 – Lenz; vgl auch die Vorlagefrage in EuGH, Slg 2002, I-4573 – Schmid. 75 Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, 743, 761 f.
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verpflichtet ist?76 Noch schrecken viele Autoren davor zurück, aus den EG-Freiheiten eine derartige Rangfolge mitgliedstaatlicher Besteuerungszuständigkeiten herzuleiten.77 Damit kapitulieren sie vor einer gravierenden Diskriminierung. Für diese Zurückhaltung besteht kein Grund. Die Besteuerungsrangfolge, die der Einsatz des Diskriminierungsverbots durch die Gerichte hervorbringen würde, verdrängt nicht die politischen Entscheidungen, die die Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsgesetzgeber hierzu fällen können. Diesen steht es frei, in Doppelbesteuerungsabkommen bzw EG-Richtlinien die faktische Diskriminierung auf einem anderen Weg, dh durch eine andere Zuweisung der Besteuerungsgüter, zu beseitigen. Erst ein Verbot der Doppelbesteuerung durch die Grundfreiheiten wird den Druck zu einer positiven Harmonisierung (durch Verhandlungen nach Art 293 EGV) erzeugen. Lösung des Falls: Die Regelung des niederländischen Einkommensteuergesetzes, den Freibetrag für Einkünfte aus Kapitalvermögen auf Dividenden niederländischer Gesellschaften zu beschränken, könnte gegen Art 56 I EGV (63 AEUV) verstoßen. Diese Bestimmung schützt den Kapitalverkehr sowohl zwischen den EU-Staaten als auch im Verhältnis zu Drittstaaten vor ungerechtfertigten Beschränkungen. Empfangen Aktionäre Dividenden, handelt es sich um Kapitalverkehr, weil Geld übertragen wird, ohne dass hiermit eine Leistung des Empfängers (dh des Aktionärs) bezahlt würde. In den Schutzbereich des Art 56 I EGV (63 I AEUV) fallen solche Dividendenzahlungen, die eine Staatsgrenze überschreiten. Dass die Niederlande den Bezug von Dividenden auch ausländischer Gesellschaften besteuern, schränkt den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr zwar ein, ist aber durch das Interesse des Staats, Einnahmen zu erzielen, gerechtfertigt. Problematisch ist allein die Regelung, den Empfang von Dividenden inländischer Kapitalgesellschaften in einer bestimmten Höhe von der Einkommensteuer zu befreien, diesen Freibetrag Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften aber vorzuenthalten. Ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, hängt von der Auslegung des Art 58 EGV (65 AEUV) ab. Auf der einen Seite sind die Mitgliedstaaten nach Art 58 I lit a EGV (65 I lit a AEUV) berechtigt, bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften nach dem Anlageort des Kapitals zu unterscheiden. Danach scheinen die Mitgliedstaaten das Recht zu haben, Einkünfte aus Dividenden ausländischer Gesellschaften anders zu besteuern als die inländischer Gesellschaften. Andererseits macht Art 58 III EGV (65 III AEUV) deutlich, dass auch im Steuerrecht jede willkürliche Diskriminierung verboten ist. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Aussagen des Art 58 EGV (65 AEUV) wird vom Gerichtshof dahin gelöst, dass der Steuervorbehalt des Abs 1 im Licht des Diskriminierungsverbots des Abs 3 auszulegen ist. Obwohl die niederländische Steuerregelung vom Wortlaut des Art 58 I lit a EGV (65 I lit a AEUV) gedeckt erscheint, ist sie mithin nur dann zulässig, wenn sachliche Gründe bestehen, Dividendenzahlungen ausländischer Gesellschaften den Freibetrag zu verweigern. Derartige Gründe sind nicht ersichtlich.78 Der Ausschluss von Dividenden ausländischer Gesellschaften aus der Freibetragsregelung verstößt daher gegen Art 56 I EGV (63 I AEUV). Er darf von der niederländischen Finanzverwaltung nicht länger angewendet werden.
76 Diese Frage wird als der „endgültige“ Testfall des Grundfreiheitsschutzes im Steuerrecht bezeichnet; s Vanistendael CMLRev 1996, 255, 265. 77 ZB Schön GS Knobbe-Keuk, 1997, S 743, 773. 78 EuGH, Slg 2000, I-4071, Rn 47–62 – Verkooijen.
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2. Unternehmensrecht a) Privatisierungsrecht 22
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Die Privatisierung staatlicher Unternehmen wird häufig von Maßnahmen begleitet, mit denen der Staat versucht, seinen Einfluss auf das Unternehmen zu erhalten. Im Vordergrund stehen die Kontrolle der Eigentümer und die der Geschäftspolitik. Zur ersten Gruppe: Einige Privatisierungsgesetze beschränken den Erwerb von Anteilen an dem Unternehmen. Wer sich zB in Portugal, Frankreich oder Großbritannien an bestimmten privatisierten Unternehmen (wie etwa dem franz Energieunternehmen Elf-Aquitaine oder dem britischen Flughafenbetreiber BAA plc) beteiligen wollte, benötigte hierfür eine Genehmigung, wenn die Beteiligung über eine definierte Höhe (zB 10 % bzw. 15 %) hinausgehen sollte. Auf Belange des Allgemeinwohls können sich diese Beschränkungen des Kapitalverkehrs (uU auch der Niederlassungsfreiheit) nicht berufen; insb sind sie nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (Art 58 I lit b EGV/65 I lit b AEUV) zu erhöhen.79 Ebenso wenig sind gesetzliche Regelungen zu rechtfertigen, die den Anteilserwerb zwar zulassen, dem Stimmrecht aus Gesellschaftsanteilen jedoch Höchstgrenzen ziehen (wie etwa das Gesetz über die Privatisierung des Volkswagenwerks idF bis 2008, welches in seinem § 2 das Stimmrecht aus VW-Aktien auf 20 % begrenzte).80 Eine zweite Fallgruppe bilden diejenigen staatlichen Maßnahmen, die dazu dienen, die Geschäfte des privatisierten Unternehmens zu kontrollieren. So sehen einige Privatisierungsgesetze vor, dass bestimmte Geschäfte des privatisierten Unternehmens (wie der Verkauf wichtiger Anlagen und Tochtergesellschaften) der Genehmigung durch den Staat bedürfen. Gleichfalls zu dieser Gruppe gehören staatliche Regelungen, die dem Staat unabhängig von der Höhe der noch gehaltenen Gesellschaftsanteile Sitze in den Leitungsorganen der Gesellschaft reservieren.81 Dass diese Maßnahmen häufig nicht in Gesetzen und Verordnungen, sondern in dem Gesellschaftsvertrag des privatisierten Unternehmens getroffen (und damit privatrechtlich eingekleidet) werden, entzieht sie nicht dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Ihrer Wirkung nach handelt es sich um staatliche Genehmigungsvorbehalte. Die mit ihnen einhergehenden Belastungen des Verkehrs mit Anteilen an dieser Gesellschaft lassen sich allenfalls selten rechtfertigen.82 Das gilt auch für die (nach 2008 beibehaltene) Regelung des VW-Gesetzes, dass bestimmte Beschlüsse der Hauptversammlung eine Mehrheit von 80 % erfordern.83 Eine Rechtfertigung kommt lediglich dort in Betracht, wo das Unternehmen einen Beitrag zur öffentlichen Ordnung oder Sicherheit des Mitgliedstaats leistet (Art 58 I lit b EGV/65 I lit b AEUV). Denkbar
79 S im Einzelnen: EuGH, Slg 2002, I-4783, Rn 50 f – Kommission/Frankreich (Privatisierung von Elf-Aquitaine); Slg 2002, I-4731, Rn 43–53 – Kommission/Portugal (privatisierte Gesellschaften) = JK 10/02, EGV Art 56/1; Slg 2003, I-4644, Rn 11, 44–50 – Kommission/Vereinigtes Königreich (Privatisierung der British Airport Authority; Beschränkung des Erwerbs von stimmberechtigten Gesellschaftsanteilen auf 15 %). 80 EuGH, Slg 2007, I-8995, Rn 38–56 und Rn 70–81 – Kommission/Deutschland (VW-Gesetz). 81 S zB § 4 I des Gesetzes über das Volkswagenwerk in der Fassung bis 2008 (BGBl I 1960, 585, BGBl I 1970, 1149): Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen stellten, solange ihnen Aktien gehörten, je zwei Mitglieder des (zwanzigköpfigen) Aufsichtsrats der Volkswagen AG. Diese Bestimmung wurde am 11.12.2008 aufgehoben. 82 Keine Rechtfertigung für das Entsenderecht des VW-Gesetzes (Fn 84). Siehe EuGH, Slg 2007, I-8995, Rn 57–68 und Rn 70–81 – Kommission/Deutschland. 83 § 4 III des Gesetzes über das Volkswagenwerk (in der Fassung ab dem 11.12.2008).
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ist dies ua bei Unternehmen der Energieversorgung oder Telekommunikation: In deren Geschäftstätigkeit darf der Staat eingreifen, wenn und soweit dies erforderlich ist, um schwerwiegende Gefährdungen der Versorgung mit dem betr Gut abzuwenden.84 Unerheblich ist, auf welchem Weg der Staat seinen Einfluss ausübt. Seine gesetzliche Regelung kann direkt an den Anteilserwerb oder die Geschäftsführungsmaßnahme anknüpfen. Der Staat kann aber auch indirekt eingreifen, indem er bei der Privatisierung einen Gesellschaftsanteil behält und diesen mit Sonderrechten (Zustimmungsvorbehalten, Vetorechten, Organbesetzungsrechten) ausstattet. Nur auf diesen Einwirkungspfad passt die Bezeichnung „Sonderaktie“ (oder „golden share“). Dass der Staat hierbei neben öffentlich-rechtlichen auch privatrechtliche Instrumente (wie bestimmte gesetzlich festgelegte gesellschaftsrechtliche Befugnisse) einsetzt, eröffnet ihm keinen zusätzlichen Handlungsspielraum. Soweit die Maßnahme den (grenzüberschreitenden) Verkehr mit den Anteilen an der privatisierten Gesellschaft beschränkt, muss sie einen höherwertigen Belang des Allgemeinwohls fördern.
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b) Gesellschaftsrecht Satzungen von Aktiengesellschaften enthalten mitunter Regelungen, die den Verkehr mit den Aktien der Gesellschaft einschränken oder belasten. Zu nennen sind ua: das Erfordernis, dass Aktien nur mit Zustimmung der Gesellschaft übertragen werden können (vgl § 68 II AktG); die Beschränkung des Stimmrechts eines Aktionärs, dem mehrere Aktien gehören, auf einen Höchstbetrag (Höchststimmrecht, vgl § 134 I 2 AktG); die Ausstattung einzelner Aktien mit einem erhöhten Stimmrecht (Mehrstimmrecht); die Ermächtigung des Vorstands zu Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, den Erfolg eines Angebots, welches ein Bieter zum Erwerb von Aktien an der Gesellschaft öffentlich abgegeben hat (sog Übernahmeangebot), zu verhindern (vgl § 33 II WpÜG). Ob solche Satzungsklauseln der Garantie des EGV für einen freien grenzüberschreitenden Kapitalverkehr (dh Art 56 EGV/63 AEUV) zuwiderlaufen und daher der Rechtfertigung durch überragende Belange des Allgemeinwohls bedürfen, ist bislang nicht geklärt. Anders als die im vorangehenden Abschnitt behandelten Maßnahmen der Privatisierungsgesetzgebung werden die hier betrachteten Regelungen nicht vom Staat angeordnet, sondern von privaten Akteuren, nämlich den Gesellschaftern der Gesellschaft, untereinander vereinbart. Die Beschränkungsverbote und Rechtfertigungserfordernisse der Grundfreiheiten des EGV richten sich jedoch an den Staat. Wenigstens im Grundsatz sind die privaten Wirtschaftsteilnehmer (dh Bürger und Unternehmen) die Begünstigten und nicht die Verpflichteten der Grund-
84 Diesen Anforderungen entspricht zB das Widerspruchsrecht, welches der belgische Staat gegen Geschäftsentscheidungen derjenigen Unternehmen besitzt, die in Belgien die Leitungsnetze für Strom und Erdgas betreiben; s EuGH, Slg 2002, I-4809, Rn 48–55 – Kommission/Belgien. Dagegen war das Widerspruchsrecht, das sich der französische Staat gegen die Veräußerung bestimmter Tochtergesellschaften des Mineralölkonzerns Elf-Aquitaine vorbehalten hatte, nicht auf die Sicherung der Energieversorgung zugeschnitten und daher nicht von Art 58 EGV (Art 65 AEUV) gedeckt; s EuGH, Slg 2002, I-4781, Rn 52 f – Kommission/Frankreich. Gleichfalls nicht erforderlich zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit waren die Genehmigungserfordernisse, die in Spanien für Strukturmaßnahmen privatisierter öffentlicher Unternehmen und im Vereinigten Königreich für die Veräußerung von Flughäfen durch die privatisierte britische Flughafenbetreibergesellschaft galten; EuGH, Slg 2003, I-4581, Rn 71–84 – Kommission/Spanien; Slg 2003, I-4644, Rn 44–50 – Kommission/Vereinigtes Königreich.
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freiheiten. (Privatautonomes Handeln wird nicht durch die Grundfreiheiten, sondern durch die Wettbewerbsregeln der Art 81–85 EGV/101–105 AEUV gesteuert.) Orientiert man sich an diesem Grundsatz, sind Satzungen von Kapitalgesellschaften nicht am Beschränkungsverbot des Art 56 EGV (63 AEUV) zu messen. Der EuGH hat den genannten Grundsatz jedoch in einigen Fällen durchbrochen und auch privatautonomes Handeln dem Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten unterworfen (→ allgem zu einer Drittwirkung von Grundfreiheiten § 7 Rn 52 f). Inwiefern er eine derartige Drittwirkung der Grundfreiheiten auf Gesellschaftsverträge erstrecken wird, lässt sich kaum abschätzen.85
3. Außenwirtschaftsrecht: Meldepflichten 26
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Die Außenwirtschaftsrechte der EU-Staaten legen den Teilnehmern am grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr umfängliche Meldepflichten auf. Im dt Recht ergeben sich diese aus der Außenwirtschaftsverordnung und dem Bundesbankgesetz. Da Meldepflichten den grenzüberschreitenden Kapital- bzw Zahlungsverkehr zwar nicht unterbinden, wohl aber belasten, stellt sich die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit Art 56 EGV (63 AEUV). Zur Beantwortung ist Art 58 I lit b EGV (65 I lit b AEUV) heranzuziehen. Danach sind die Mitgliedstaaten berechtigt, „Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Information vorzusehen“, was nach hA auch für den Zahlungsverkehr gilt.86 Diese Bestimmung bewirkt jedoch nicht, dass jedwede Meldepflicht zulässig wäre. Es dürfen vielmehr allein solche Informationen erhoben werden, die die öffentliche Hand benötigt, um Allgemeinwohlbelange verfolgen zu können. Der Informationsbedarf muss gerechtfertigt, dh von einem legitimen Regelungsinteresse getragen sein. Diese Voraussetzung erfüllen zB solche Meldepflichten über Zahlungsvorgänge, mit denen sich Straftaten wie Steuerhinterziehung, Drogenhandel und Bildung terroristischer Vereinigungen aufdecken lassen.87 Ob die Meldepflichten, die das dt Außenwirtschaftsrecht für grenzüberschreitende Zahlungen und den grenzüberschreitenden Vermögensbestand auferlegt, von Art 58 I lit b EGV (65 I lit b AEUV) gedeckt sind, erscheint zweifelhaft. Sie greifen allein im grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr ein. Demgegenüber bezieht sich Art 58 I lit b EGV (65 I lit b AEUV) auf solche Meldeverfahren, die für „den Kapitalverkehr“, dh in gleicher Weise sowohl für den innerstaatlichen als auch den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr gelten.88 Meldepflichten, die ausschließlich grenzüberschreitende Kapitalbewegungen erfassen, können allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn gerade der Grenz-
85 Zu eventuellen Konsequenzen Grundmann/Möslein ZGR 2003, 317, 350–364. Vgl auch die Diskussion im amerikanischen Verfassungsrecht zu der Frage, ob dispositives staatliches Gesellschaftsrecht gegen die Interstate Commerce Clause der US-Verfassung, die die Freiheit des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs innerhalb der USA garantiert, verstößt, wenn es die Übertragung von Gesellschaftsanteilen und dadurch Übernahmen der Gesellschaft erschwert; siehe das Urt des Supreme Court, 481 US (United States Reports) 69 (1987) – CTS/Dynamics; sowie Buxbaum/Hopt Legal Harmonization and the Business Enterprise, 1988, 130–154; Buxbaum 75 California Law Review 29 (1987); v Wilmowsky JZ 1996, 590, 592 f, 595 f. 86 Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 21; Rohde (Fn 31) S 156 f; anderer Auffassung: Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 58 EGV Rn 33. 87 Vgl EuGH, Slg 1995, I-361, Rn 27 – Bordessa. 88 Vgl Smits FS Hahn, 1997, S 245, 253.
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übertritt legitime Informationsbedürfnisse des Staats auslöst. Nahezu jedes Land erfasst die wirtschaftlichen Transaktionen zwischen In- und Ausland in der sog Zahlungsbilanz, um Kenntnisse über seine außenwirtschaftliche Verflechtung zu gewinnen.89 In diese Bilanz fließen die Daten ein, die durch die Meldepflichten des Außenwirtschaftsrechts erhoben wurden. Die Prüfung der EG-Vereinbarkeit läuft folglich auf die Frage hinaus, welche Funktionen die Zahlungsbilanzen der einzelnen EU-Staaten in der Währungsunion noch wahrnehmen. Nach dem Eintritt in die dritte (und letzte) Stufe haben die einzelstaatlichen Zahlungsbilanzen erheblich an Bedeutung verloren.90 Da die außenwirtschaftlichen Transaktionen zwischen den Mitgliedstaaten der Währungsunion nicht mehr mit Devisentransaktionen, dh dem Umtausch inländischer in ausländische Zahlungsmittel und umgekehrt, verbunden sind, lassen sich den einzelstaatlichen Zahlungsbilanzen (insb den Devisenbilanzen, dh den Bilanzen der Devisenreserven) keine Aussagen mehr über die Änderung der Geldmenge im Währungsraum entnehmen. Nationale Zahlungsbilanzen sind in der Europäischen Währungsunion daher nicht mehr in der Lage, die geld- und währungspolitischen Entscheidungen (etwa über Wechselkurse und Währungsreserven) anzuleiten.91 Hierzu ist eine Zahlungsbilanz erforderlich (aber auch ausreichend), die aus der Perspektive der Währungsunion erstellt wird. Ob der beschriebene Funktionsverlust den nationalen Meldepflichten, die sich auf den grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten des Eurogebiets beziehen, die Rechtfertigung entzieht, müsste einmal genau untersucht werden. Diese Untersuchung hätte auch der Frage nachzugehen, ob eventuell verbliebene Funktionen nationaler Zahlungsbilanzen (etwa zur Ermittlung des einzelstaatlichen Inlands- und Sozialprodukts) ausreichen, die mit den Meldepflichten verbundenen Belastungen zu rechtfertigen. Aufschlüsse könnte auch ein Vergleich mit den dt Bundesländern ergeben, die für ihre Wirtschaftspolitiken keine Zahlungsbilanzen benötigen.
4. Währungsrecht a) Geldpolitik Einige Bereiche des Kapitalverkehrs, wie insb die Kreditvergabe durch die Kreditinstitute, werden durch geldpolitische Maßnahmen beeinflusst. Die EZB steuert die Bargeldmenge mit ihrem Monopol zur Ausgabe von Banknoten (Art 106 EGV/128 AEUV) und die Buchgeldmenge mit den geldpolitischen Instrumenten der Art 18 bis 20 ESZB-Satzung (Offenmarkt- und Kreditgeschäfte, Mindestreserven, sonstige Maßnahmen).92 Ob diese Maßnahmen die Kapitalverkehrsfreiheit des Art 56 EGV (63 AEUV) einschränken, wird kaum erörtert. Jedenfalls sind sie durch Belange des Allgemeinwohls gerechtfertigt: Indem sie die Ausweitung der Geldmenge begrenzen, tragen sie dazu bei, die Inflation zu bekämpfen und den Wert des Geldes zu erhalten (Art 4 II EGV/119 AEUV, Art 105 I EGV/127 I AEUV, Art 2 ESZB-Satzung).
89 Zur Einführung in die Außenwirtschaftsrechnung s Stobbe Volkswirtschaftliches Rechnungswesen, 8. Aufl 1994, 236–247, und von Arnim Volkswirtschaftspolitik, 6. Aufl 1998, 112–141. 90 S hierzu Rose/Sauernheimer Theorie der Außenwirtschaft, 14. Aufl 2006, 31–40. 91 Hierüber etwa Rose/Sauernheimer (Fn 94) S 16–21. 92 Überbl zu den geldpolitischen Instrumenten der EZB: European Central Bank The Single Monetary Policy in Stage Three, 2000, 4–6, 14–24; Haug in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg), Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl 2007, § 123 Rn 68–74; s a Papathanassiou, § 134 Rn 68–112.
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b) Wechselkurspolitik 29
Zur Freiheit des Kapitalverkehrs gehört, dass sich die Wechselkurse zwischen der Gemeinschaftswährung und anderen Währungen frei bilden können. Staatliche Festlegungen und andere Eingriffe in die Wechselkurse schränken den Kapitalverkehr ein und bedürfen daher der Rechtfertigung durch höherrangige Allgemeinwohlbelange.93 Dieser Rechtfertigungszwang gilt sowohl für Vereinbarungen, die die Gemeinschaft mit Drittstaaten (etwa im Rahmen des IWF) über die Wechselkurse gem Art 111 EGV (219 AEUV) trifft, als auch für die Währungskäufe und -verkäufe, mit denen die EZB gem Art 105 II EGV (127 I AEUV) und Art 23 ESZB-Satzung in den Devisenmarkt eingreift, um den Wechselkurs des Euro zu beeinflussen, und schließlich auch für die Wechselkursmaßnahmen derjenigen Mitgliedstaaten, die in der dritten Stufe der Währungsunion einer Ausnahmeregelung unterfallen (Art 124 II EGV-E). Als Rechtfertigungsgrund kommt nur die Gewährleistung der Preisstabilität in Betracht (Art 105 I 1 EGV/127 I 1 AEUV). So können zB Interventionskäufe der EZB erforderlich werden, wenn umfangreiche Kapitalexporte den Außenwert des Euro verfallen lassen und dadurch den Inflationsdruck verstärken.
5. Recht des Grundstücksverkehrs 30
Der Verkehr mit Grundstücken ist vielfältig reglementiert. Einige Beschränkungen bewirken, dass bestimmte Personengruppen beim Zugang zu Grundstücken bevorzugt sind. Gerade diese Regelungen sollten es schwer haben, dem Rechtfertigungsdruck standzuhalten, den die Gewährleistung eines freien Kapitalverkehrs durch den EGV ausübt. Den Sorgen und Ängsten, die durch eine Gleichberechtigung beim Zugang zu Grundeigentum in der Gesellschaft mitunter ausgelöst werden, konnte sich aber auch der EuGH nicht immer entziehen. a) Zweitwohnungen
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In manchen Mitgliedstaaten ist der Erwerb von Grundeigentum beschränkt oder verboten, wenn das Risiko besteht, dass die Immobilie lediglich als Zweitwohnsitz genutzt werden wird. Darunter werden Häuser und Wohnungen verstanden, die nur wenige Wochen im Jahr bewohnt werden und in der übrigen Zeit leer stehen. Zweitwohnsitze werden dort als Problem empfunden, wo sie sich in großer Zahl bilden, also in touristischen Gebieten. Um dort die Entstehung von Zweitwohnsitzen zu verhindern, werden durchaus unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. aa) Maßnahmen
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Das dt Städtebaurecht greift in die Entstehung von Eigentumswohnungen ein. Für Gebiete, die vom Fremdenverkehr geprägt sind, kann (durch kommunale Satzung) die Begr
93 Nicht nachvollziehen lässt sich die Einschätzung, dass eine staatlich angeordnete Spaltung des Devisenmarkts (in einen Teil mit festgelegten Wechselkursen und einen freien Teil) keine Einschränkung des Kapitalverkehrs bewirke, sondern lediglich eine „Anomalie“ darstelle. So aber RL 88/361, Anhang V zu entspr Maßnahmen der Wirtschaftsunion Belgiens und Luxemburgs (so Fn 41); vgl EuGH, Slg 1988, I-4369 ff – Lambert.
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und Teilung von Wohnungseigentum verboten werden (§ 22 BauGB).94 Unerheblich ist, ob das Gebäude – nach der Schaffung von Wohnungseigentum – tatsächlich als Zweitwohnsitz genutzt werden würde.95 Auch in Österreich versucht man, die Verbreitung von Zweitwohnsitzen zu verhindern, indem man den Grunderwerb einschränkt. Anders als in Deutschland erfasst man jedoch jede Form des Grunderwerbs (also nicht nur Eigentumswohnungen) und stellt auf die geplante Nutzung ab: Der Übertragung eines Grundstücks wird die erforderliche Genehmigung versagt, wenn nicht sichergestellt ist, dass der Erwerber keinen Zweitwohnsitz schaffen wird.96 Es stellt sich die Frage, ob diese Beschränkungen des Grunderwerbs (und damit des Kapitalverkehrs) von zwingenden Allgemeininteressen gerechtfertigt sind. Nur dann stünden sie mit Art 56 I EGV (63 I AEUV) in Einklang und dürften auf den Grunderwerb durch Ausländer (oder genauer: Gebietsansässige anderer Staaten) angewendet werden. bb) Förderung des Wohls der Allgemeinheit Ob die Begrenzung von Zweitwohnungen das Wohl der Allgemeinheit (und nicht nur das einzelner Interessengruppen) fördert, ist noch nicht erschöpfend untersucht worden.97 Der EuGH hält es zum einen für denkbar, dass sich durch diese Maßnahme eine „vom Tourismus unabhängige Wirtschaftstätigkeit“ erhalten, dh die Abhängigkeit vom Tourismus verringern lasse.98 Hier irrt der Gerichtshof. Wenn Touristen nicht in Zweitwohnungen urlauben können, suchen sie sich andere Unterkünfte, etwa in Hotels. Maßnahmen gegen Zweitwohnungen lenken den Tourismus lediglich in andere Kanäle, ohne ihn zu reduzieren. So hebt der dt Gesetzgeber ausdrücklich hervor, dass er mit diesen Maßnahmen das Ziel verfolgt, den Tourismus zu fördern: Sie sollen der „Sicherung der … Fremdenverkehrsfunktionen“ dienen (§ 22 I 1 BauGB); es soll eine Fremdenverkehrsstruktur erhalten werden, die darin besteht, dass „die ansässige Wohnbevölkerung in der Saison Fremdenzimmer bzw Ferienappartements vermietet“.99 Das gilt auch in Österreich: Dessen Beschränkungen für Zweitwohnsitze gelten dort nicht, wo Grundstücke kommerziell als Beherbergungsbetriebe genutzt werden sollen. Insofern dienen Begrenzungen von Zweitwohnungen dem Wirtschaftsinteresse einer einzelnen Gruppe, der Hotelbranche, und nicht dem Wohl der Allgemeinheit. Gehaltvoller ist das andere Regelungsinteresse, welches der EuGH gefördert sieht: die Erhaltung „einer dauerhaft ansässigen Bevölkerung“ und damit einer intakten Sozialstruktur.100 Je mehr sich Zweitwohnungen verbreiten, 94 Zur Erläuterung s zB Krautzberger in: Battis/Krautzberger/Löhr (Hrsg), Baugesetzbuch, 10. Aufl 2007, Kommentierung zu § 22. 95 BVerwG, ZfBR 1996, 48, 50. 96 S die Regelungen der Länder Tirol (EuGH, Slg 1999, I-3099 ff – Konle), Vorarlberg (EuGH, Slg 2003, I-4899 – Salzmann) und Salzburg (EuGH, Slg 2002, I-2157 – Reisch). 97 Zum Stand der Diskussion s ua: Fischer ZEuS 2000, 391, 411; Glöckner EuR 2000, 592 ff; Bachlechner ZEuS 1998, 519 ff; Knapp EWS 1999, 409 ff; Hammerl/Sippel RIW 1992, 883 ff. 98 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 40 – Konle (Beschränkungen des Eigentumserwerbs für Freizeitwohnsitze nach dem Tiroler Grundverkehrsgesetz); bestätigt ua in EuGH, Slg 2002, I-2157, Rn 34 – Reisch (Salzburger Grundverkehrsgesetz). 99 OVG Lüneburg, ZfBR 1983, 238, 240. 100 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 40 – Konle. Vgl außerdem die (rechtlich nicht bindende) Gemeinsame Erklärung der Mitgliedstaaten zu Zweitwohnungen, ABl 1994 Nr C 241/382 (Schlussakte zum Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden): „Keine Bestimmung des gemeinschaftlichen Besitzstands hindert die einzelnen Mitgliedstaaten, … Maßnahmen betreffend Zweit-
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desto stärker verödet das betroffene Ortsgebiet außerhalb der Urlaubszeiten. Es entstehen Stadtviertel, welche die längste Zeit im Jahr nicht bewohnt werden und kein soziales Leben ermöglichen.101 Nach überwiegender, hier nicht hinterfragter Ansicht verdient die Erhaltung dauerhaft bewohnter Stadtviertel die Anerkennung als zwingendes Erfordernis.102 Dagegen sind viele weitere Belange, die zur Rechtfertigung von Maßnahmen gegen Zweitwohnungen noch vorgebracht werden (wie zB die Reservierung knappen Baulands und Wohnraums für die einheimische Bevölkerung oder die gleichmäßige Auslastung der teuren Verkehrswege),103 kaum solche der Allgemeinheit.104 cc) Verhältnismäßigkeitsprinzip 34
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Die Mittel, die zur Eindämmung von Zweitwohnsitzen in touristisch geprägten Gebieten ergriffen werden, müssen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen. Als problematisch erweisen sich dabei solche Maßnahmen, die die Eigentumsverhältnisse an den betroffenen Liegenschaften einer präventiven Kontrolle (durch eine Genehmigungspflicht) unterwerfen. Betrachten wir zunächst die österreichischen Landesregelungen, für die Übereignung eines Grundstücks die Genehmigung einer Grundverkehrsbehörde zu verlangen. Die Genehmigung wird nur dann erteilt, wenn die Behörde zu der Einschätzung gelangt, dass der Erwerber das Grundstück als Hauptwohnsitz nutzen wird. Diese Genehmigungspflicht erachtet der EuGH für unverhältnismäßig: Der freie Kapitalverkehr werde stärker als erforderlich belastet.105 Da die Genehmigungsbehörde eine Prognose über die zukünftige Nutzung zu erstellen habe, verfüge sie über einen „weiten Beurteilungsspielraum, der einem freien Ermessen sehr nahe kommt“. Die Ausübung von Grundfreiheiten dürfe aber nicht in das Ermessen der Verwaltung gestellt werden. Ob die dt Regelung (§ 22 BauGB) einer Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit standhalten würde, muss gleichfalls bezweifelt werden. Die dort aufgestellte (unwiderlegliche) Vermutung, dass in touristischen Gebieten jede Begr von Wohnungseigentum der Verbreitung von Zweitwohnungen Vorschub leiste, erscheint gewagt. Schließlich ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass Eigentumswohnungen auch in Touristenregionen als Hauptwohnsitz genutzt werden.106 Als vertragskonforme Alternative empfiehlt der Gerichtshof, auf die tatsächliche Nutzung des Grundstücks abzustellen und Geldbußen sowie Zwangsmaßnahmen für den Fall vorzusehen, dass das Grundstück vorschriftswidrig lediglich als Zweitwohnung genutzt
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wohnungen zu treffen, sofern sie aus Gründen der Raumordnung, der Bodennutzung und des Umweltschutzes erforderlich sind und ohne direkte oder indirekte Diskriminierung von Staatsangehörigen einzelner Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit dem gemeinschaftlichen Besitzstand angewendet werden.“ Zur Verödungsgefahr sa OVG Lüneburg, ZfBR 1983, 238 (Leitsatz); sowie BVerwG, DVBl 1994, 1149, 1151 (Störung der sozialen Infrastruktur). S o Fn 99. – Zweifel könnten sich daraus speisen, dass schließlich auch Hotels und andere Beherbergungsbetriebe, zu deren Gunsten das Verbot von Zweitwohnsitzen wirkt, außerhalb der Saison leer stehen. Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 16 – Konle; OVG Lüneburg, ZfBR 1983, 238, 240; BVerwG, DVBl 1994, 1149, 1151; vgl auch Bachlechner ZEuS 1998, 519, 520. Kritisch auch Glöckner EuR 2000, 592, 619 f. EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 40–49 – Konle (Tiroler Grundverkehrsgesetz); EuGH, Slg 2002, I-2157, Rn 37–39 – Reisch (Salzburger Grundverkehrsgesetz); EuGH, Slg 2003, I-4899, Rn 45–52 – Salzmann (Vorarlberger Grundverkehrsgesetz). Vgl den Sachverhalt zu BVerwG, ZfBR 1996, 48, 48, 50.
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wird. Um solche Nutzungsbeschränkungen durchzusetzen, könnten die Mitgliedstaaten die Eigentümer zu Auskünften verpflichten und außerdem beim Eigentumserwerb die Erklärung verlangen, dass der Erwerber das Grundstück vorschriftsgem nutzen wird.107 Aufgrund dieser Rspr zeichnet sich ab, dass Mitgliedstaaten, die Zweitwohnungen verhindern wollen, entspr Nutzungsbeschränkungen verhängen sollten. Eingriffe in die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse laufen dagegen Gefahr, mangels Eignung oder mangels Erforderlichkeit gegen Art 56 I EGV (63 I AEUV) zu verstoßen. Die Eigentumsverhältnisse an einem Grundstück oder Gebäude stehen mit dessen Nutzung (als Haupt- oder Zweitwohnsitz) in keinem Zusammenhang. Wird ein Grundstück oder eine Wohnung übereignet, können Nutzungsbeschränkungen (die zB in Raumplänen angeordnet sind) ebenso gut gegen den neuen Eigentümer durchgesetzt werden.108 Umgekehrt lassen sich Zweitwohnsitze nicht nur durch Eigentumserwerb, sondern auch durch Miete schaffen. dd) Dänemark Dänemark ist aller Probleme enthoben. Dieser Mitgliedstaat ist insoweit von der Beachtung des EGV freigestellt. Gem einem Prot zum EGV darf er seine Rechtsvorschriften, die am 1.11.1993 für den Erwerb von Zweitwohnungen galten, ungeachtet ihrer Vereinbarkeit mit dem EGV auf Dauer beibehalten.109
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b) Landwirtschaftliche Grundstücke Für Grundstücke der Land- und Forstwirtschaft gelten in vielen Mitgliedstaaten besondere Verkehrsbeschränkungen. Diese kennzeichnet, dass der Grundstücksverkehr mit Anforderungen an die Struktur des einzelnen landwirtschaftlichen Betriebs oder an die Struktur des gesamten Sektors verknüpft wird. Für den erstgenannten Typ liefert das österreichische Landesrecht Bsp. Die Grundverkehrsgesetze von Tirol und Vorarlberg beschränken den Erwerb auf landwirtschaftliche Einzelunternehmer: Ein land- oder forstwirtschaftliches Grundstück darf nur erwerben, wer es selbst bewirtschaften wird und über die hierfür erforderlichen fachlichen Kenntnisse verfügt; außerdem muss er seinen st Wohnsitz auf dem Betriebsgelände nehmen; durch den Erwerb darf er schließlich die Grenze eines „mittleren und kleinen“ landwirtschaftlichen Grundbesitzes nicht überschreiten.110 Ob diese Regelung das Wohl der Allgemeinheit fördert, ist umstritten. Der EuGH bejaht dies im Grundsatz: „Die Erhaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die Wahrung einer
107 Zum Erfordernis einer vorausgehenden Erklärung des Erwerbers s EuGH, Slg 2002, I-2157, Rn 35 f – Reisch; Slg 1999, I-3099, Rn 44–48 – Konle. 108 Man vergleiche auch die Verbote, Wohnraum in Büroraum umzuwandeln. Sie richten sich an den jew Eigentümer der Immobilie und werden nicht mit Beschränkungen der Eigentumsübertragung durchzusetzen versucht. 109 S das Prot betr den Erwerb von Immobilien in Dänemark, ABl 1992 Nr C 191/68 (Vertragsänderungen v Maastricht). Ein Prot ist Bestandteil des EGV (Art 311 EGV). Auch Malta forderte in seinen Beitrittsverhandlungen mit der EU, dass seine Beschränkungen des Erwerbs von Zweitwohnungen von der Geltung der Vorschriften über den freien Kapitalverkehr auf Dauer ausgenommen würden; KOM (2001) 553 endg, 10. 110 Tirol: §§ 4, 6 I lit b und c Tiroler Grundverkehrsgesetz von 1996, LGBl 1996 Nr 61; Vorarlberg: §§ 4, 5 I lit a und II lit d Vorarlberger Grundverkehrsgesetz von 1993, LGBl 1993 Nr 61; auch wiedergegeben in EuGH, Slg 2003, I-9743 – Ospelt.
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[bestimmten] Aufteilung des Grundeigentums und die Förderung einer vernünftigen Nutzung der verfügbaren Flächen“ lägen im Allgemeininteresse.111 Allerdings müssten Ausnahmen möglich sein; nicht in jedem Fall dürfe die Eigenbewirtschaftung durch den Erwerber verlangt werden. Zu überzeugen vermag diese Einschätzung kaum. Die Interessen landwirtschaftlicher Einzelunternehmer lassen sich nicht mit dem Interesse der Allgemeinheit gleichsetzen.112 Auf den zweitgenannten Typ stößt man ua in Deutschland. Das deutsche Grundstücksverkehrsgesetz versucht, mit Hilfe einer Genehmigungspflicht auf eine bestimmte (wenn auch nicht näher beschriebene) Struktur des betroffenen landwirtschaftlichen Sektors hinzuwirken. Die Genehmigung zur Veräußerung eines land- oder forstwirtschaftlichen Grundstücks darf ua dann verweigert werden, wenn die beabsichtigte Veräußerung den Grund und Boden „ungesund“ verteilen würde.113 Auch bei dieser Regelung bestehen Zweifel, ob sie das Allgemeinwohl erhöht. Es ist nicht ersichtlich, warum staatliche Lenkung eher als der freie Markt in der Lage sein sollte, leistungsfähige Wirtschaftsstrukturen in der Landwirtschaft hervorzubringen. Dementspr erscheint auch das Vorkaufsrecht nach dem deutschen Reichssiedlungsgesetz von keinen zwingenden Gemeinwohlbelangen getragen. (Gerechtfertigt sind hingegen Pläne, die bestimmte Nutzungen – etwa zur Landwirtschaft – für die überplanten Flächen festlegen.) c) Grundstücke in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung 38
Einige Mitgliedstaaten beschränken den Erwerb von Grundeigentum in Grenzgebieten und Gebieten von militärischer Bedeutung.114 Zu den Gründen, aus denen der (grenzüberschreitende) Kapitalverkehr eingeschränkt werden darf, gehört auch die äußere Sicherheit (Art 58 I lit b EGV/65 I lit b AEUV). Voraussetzung ist, dass die ergriffene Maßnahme zur Landesverteidigung geeignet und erforderlich ist. Dieser Anforderung werden Regelungen, die nach der Staatsangehörigkeit des Grundstückserwerbers unterscheiden und nur Ausländern den Grunderwerb erschweren oder untersagen, nicht gerecht. Der Übergang des Eigentums an einem Grundstück wirkt sich auf die Fähigkeiten zur Landesverteidigung nicht aus. Den Mitgliedstaaten stehen Möglichkeiten zur Verfügung, zur Landesverteidigung benötigte Grundstücke zu nutzen, unabhängig davon, wer deren Eigentümer ist.115
111 EuGH, Slg 2003, I-9743, Rn 38–54 – Ospelt; ebenso ein Teil des Schrifttums, etwa Schneider ZfV 2000, 16, 24. 112 Ebenso Bachlechner ZEuS 1998, 519, 532 f. 113 § 2 I 1, § 9 I Ziff 1, § 9 II Gesetz über Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur und zur Sicherung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (Grundstücksverkehrsgesetz). Einen Überbl zu diesem Gesetz geben Baur/Stürner Sachenrecht, 17. Aufl 1999, § 27 II 1. Zum hiermit verbundenen Vorkaufsrecht der Siedlungsunternehmen s Stürner in: Soergel (Hrsg), BGB, 13. Aufl, Bd 16, 2001, Vor § 1094 Rn 22–24. 114 Hinw finden sich bei Knapp EWS 1999, 409 ff. 115 Vgl EuGH, Slg 2000, I-5965, Rn 22 – Albore: „Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn … dargetan werden könnte, dass eine nichtdiskriminierende Behandlung der Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten reale, konkrete und schwere Gefahren für die militärischen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats mit sich brächte, denen nicht auf eine weniger einschneidende Weise begegnet werden könnte.“ Dass eine Gleichbehandlung von Ausländern Gefahren dieser Art heraufbeschwören wird, erscheint äußerst unwahrscheinlich.
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§ 12 IV 6
6. Kreditsicherungsrecht a) Grundsätze Sicherungsrechte (wie Pfandrechte, Sicherungseigentum, Sicherungsabtretung) sind eine Form von Kapital. Obwohl die Kapitalverkehrsfreiheit (Art 56 I EGV/63 I AEUV) sowohl die grenzüberschreitende Bestellung als auch die grenzüberschreitende Mobilität von Sicherungsrechten schützt, ist ein gemeinsamer Markt für Sicherungsrechte bislang nicht Wirklichkeit geworden. Man stelle sich nur vor, dass Sicherungsgut (dh eine mit einem Sicherungsrecht belastete Sache) von einem Mitgliedstaat in einen anderen verbracht wird. Der Grenzübertritt kann wie ein Fallbeil wirken: Das Sicherungsrecht geht entweder völlig unter, oder es wird von der neuen Rechtsordnung in einen eigenen Rechtstyp umgewandelt, womit Rechtsverluste oder -gewinne einhergehen können. Hierfür verantwortlich sind zwingende Regelungen, die die nationalen Zivilrechte auf zwei Ebenen treffen.116 Das Sachrecht (dh das sachentscheidende Recht) beschränkt häufig die Zulassung dinglicher Sicherungsrechte. So lassen viele Mitgliedstaaten es zB nicht zu, den Eigentumsvorbehalt eines Warenverkäufers auf die Gegenstände zu verlängern, die nach einer Verarbeitung oder einer Weiterveräußerung an die Stelle der Kaufsache treten werden. Als weitere Zulassungsschranke wird häufig das Erfordernis eingesetzt, dass der Sicherungsgeber das Sicherungsgut nicht in Besitz behalten darf, sondern dem Sicherungsnehmer übergeben muss.117 Schließlich beschränken viele Staaten die Gegenstände, die belastet werden können, die Personen, die Sicherungsgeber oder Sicherungsnehmer sein dürfen, oder die Forderungen, deren Erfüllung gesichert werden kann.118 Auf der Ebene des Kollisionsrechts (dh derjenigen Regeln, welche die in internationalen Sachverhalten anzuwendende nationale Rechtsordnung bestimmen) werden Bestellung und Mobilität von Sicherungsrechten durch die zwingende Anknüpfung an den Lageort (sog Situsdoktrin) eingeschränkt. Danach sind die Rechtsverhältnisse an Sachen nach der Rechtsordnung desjenigen Staats zu beurteilen, in dem sich die Sache physisch befindet. Wird eine Sache über eine Grenze gebracht, wechselt automatisch das anzuwendende Zivilrecht. Außerdem wird den Parteien des Sicherungsgeschäfts dadurch verwehrt, das anzuwendende Recht selbst zu wählen. Die erwähnten hoheitlichen Eingriffe bedürfen der Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse, sollen sie auf Transaktionen angewendet werden, die unter dem Schutz einer EG-Grundfreiheit stehen. Diese Überprüfung legt eine Neuorientierung der mitgliedstaatlichen Kreditsicherungsrechte nahe.119 Nicht zu rechtfertigen sind zwingende Vorgaben für den Kern des Sicherungsrechts, der aus Verteilungsvorrecht und Verwertungsbefugnis besteht. Insoweit sollten im Sachrecht Privatautonomie (Gestaltungsfreiheit) und im Kollisionsrecht Parteiautonomie (Rechtswahlfreiheit) Platz greifen. Dem Allgemeinwohl dienen jedoch einzelne Anforderungen an das Sicherungsrecht. Es sind dies die Herstellung von Publizität, der Schutz bestimmter Gläubigergruppen (nämlich solcher Gläubiger, die dem Wettbewerb um Sicherungsrechte nicht ausgesetzt sein sollten), die Funktionsfähigkeit von Insolvenzverfahren, der Verkehrs-
116 Im Einzelnen s v Wilmowsky (Fn 13) S 122–133, 94–122. 117 Im dt Recht siehe §§ 1205 f BGB. 118 Zu den sachrechtlichen Beschränkungen gehören außerdem Vorgaben zur Währung, in der die Höhe eines Sicherungsrechts festgelegt werden kann; s das Bsp des folgenden Abschnitts. 119 S v Wilmowsky (Fn 13) S 149–374.
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schutz durch gutgläubigen Erwerb sowie der Verbraucherschutz.120 Um diesen Kranz legitimer Anliegen zu verfolgen, können Privat- und Parteiautonomie eingeschränkt werden. b) Beispiel: Sicherungsrechte in fremder Währung 40
Den EuGH hat bislang erst eine Frage zum Kreditsicherungsrecht erreicht: Stehen Regelungen, die Sicherungsrechte nur in der inländischen Währung oder in bestimmten, abschließend aufgeführten Währungen zulassen, mit Art 56 I EGV (63 I AEUV) in Einklang? 121 Solche Anforderungen werden vor allem zu Sicherungsrechten an Grundstücken gestellt. Soll etwa in Deutschland eine Grundschuld oder eine Hypothek bestellt werden, muss deren Höhe in Euro, in einer anderen Währung eines EU-Staats, in Schweizer Franken oder in US-Dollar festgelegt werden; anderenfalls entsteht kein Grundpfandrecht.122 Ähnliche Vorgaben machen die Zivilrechte anderer Mitgliedstaaten, wobei der Kreis der zugelassenen Währungen zum Teil enger (auf allein die Inlandswährung), zum Teil weiter (auf die Währungen aller OECD- oder IWF-Staaten) gezogen wird. Der dadurch bewirkte Ausschluss anderer Währungen kann den Kapitalverkehr belasten.123 Man denke an den Fall, dass eine Forderung gesichert werden soll, die auf eine andere Währung lautet. Wegen der Begrenzung der zugelassenen Währungen ist es dann nicht möglich, das Grundpfandrecht in derselben Währung wie die der gesicherten Forderung zu bestellen. Eine währungskongruente und damit vollständige Sicherung wird dadurch zumindest erschwert.124 Stimmen Forderung und Sicherungsrecht währungsmäßig nicht überein, trägt der Sicherungsnehmer das Risiko, dass seine Sicherung infolge späterer Wechselkursänderungen hinter die zu sichernde Forderung zurückfällt. Zwingende Gründe des Gemeinwohls, die diese Beschränkung des Kapitalverkehrs rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich.125 Die Kapitalverkehrsfreiheit des EGV steht daher zivilrechtlichen Regelungen entgegen, die die Währungen begrenzen, in denen ein Sicherungsrecht bestellt werden kann. Auf Sicherungsrechtsbestellungen, die unter dem Schutz des Art 56 I EGV (63 I
120 Die Publizität von Sicherungsrechten hat der EuGH als zwingendes Erfordernis anerkannt; s EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 30 – Trummer. 121 EuGH, Slg 1999, I-1661 ff – Trummer (Klage auf Eintragung einer Hypothek in Deutscher Mark an einem Grundstück in Österreich); Slg 2001, I-173 ff – Westdeutsche Landesbank (Schadensersatzklage der Westdeutschen Landesbank gegen einen österreichischen Notar, der – noch vor dem EG-Beitritt seines Landes – eine Hypothek in Deutscher Mark in ein österreichisches Grundbuch hatte eintragen lassen; diese Hypothek war unwirksam). 122 § 28 S 2 GBO iVm § 1 Verordnung v 30.10.1997 über Grundpfandrechte in ausländischer Währung (BGBl I 1997, 2683). 123 Schefold in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Fn 92) § 115 Rn 318–333; Grothe Fremdwährungsverbindlichkeiten, 1999, 437, 445–449. 124 EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 25 f – Trummer; Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 12 – Trummer. 125 EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 29–31 – Trummer; Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 13–17 – Trummer; Schlussanträge GA Leger, EuGH, Slg 2001, I-173, Rn 31–33 – Westdeutsche Landesbank; Grothe (Fn 123) S 437, 445–449. AA zB Rohde (Fn 31) S 172 f (Rechtfertigung durch „den Gesetzeszweck, der insb in der Gläubigersicherung durch Grund und Boden liegt“ – was immer das heißen soll). Ob der Verbraucherschutz Einschränkungen der Währung des Sicherungsrechts erfordert, ist eine Frage, die sich nur im Verhältnis zu Verbrauchern stellen kann.
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§ 12 V 1
AEUV) erfolgen, können solche Regelungen nicht angewendet werden. Insoweit müssen alle Währungen zugelassen werden.126
V. Zusätzliche Beschränkungen gegenüber Drittstaaten Da der Kapital- und Zahlungsverkehr (anders als der sonstige Wirtschaftsverkehr) auch an den Außengrenzen der EU den Schutz der Grundfreiheit genießt (Art 56 EGV/63 AEUV), darf er nur eingeschränkt werden, wenn der EGV hierfür eine geschriebene oder ungeschriebene Rechtfertigung vorsieht. Die bislang behandelten Rechtfertigungsgründe (Art 58 EGV/65 AEUV und die zwingenden Erfordernisse) gelten für Maßnahmen, die den Kapital- bzw Zahlungsverkehr sowohl innerhalb der Gemeinschaft als auch im Verhältnis zu Drittländern einschränken. Darüber hinaus räumt der EGV der Gemeinschaft, teilweise auch den Mitgliedstaaten, verschiedene Möglichkeiten ein, den Kapitalverkehr mit Drittländern stärker einzuschränken als den innergemeinschaftlichen Kapital- bzw Zahlungsverkehr. Im Rahmen der Art 57 EGV (64 AEUV), Art 59 EGV (66 AEUV) und Art 60 EGV (Art 75 AEUV) können die Außengrenzen der Gemeinschaft ganz oder teilweise geschlossen werden. Diese Beschränkungsmöglichkeiten bestehen nur im Verhältnis zu Drittstaaten, nicht für den Kapital- bzw Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Außerdem kommt in Betracht, dass die in Art 58 EGV (65 AEUV) genannten Eingriffsgründe und die in Ergänzung hierzu entwickelten zwingenden Erfordernisse im Verhältnis zu Drittstaaten anders ausgelegt werden und auf diese Weise zusätzliche Beschränkungsmöglichkeiten gegenüber Drittstaaten eröffnen.
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1. Begründungsfreie Beschränkungen nach Art 57 EGV (64 AEUV) Die Tür, die der Art 56 I EGV (63 I AEUV) dem Kapitalverkehr mit Drittländern im Grundsatz öffnet, kann nach Maßgabe des Art 57 EGV (64 AEUV) verschlossen gehalten (Abs 1) oder wieder geschlossen werden (Abs 2). Betroffen sind die wesentlichen Bereiche des Kapitalverkehrs: die sog Direktinvestitionen, zu denen langfristige Unternehmensbeteiligungen und Gesellschafterdarlehen zählen,127 die Investitionen in Grundstücke, der Kapitalerwerb für eine Niederlassung oder für die Erbringung von Finanzdienstleistungen und die Ausgabe von Wertpapieren (wie Aktien und Schuldverschreibungen). Die übrigen Formen des Kapitalverkehrs (wie zB die grenzüberschreitende Verbringung von Bargeld) liegen außerhalb des Geltungsbereichs. In den erfassten Bereichen erlaubt der Art 57 EGV (64 AEUV) zum einen, dass die Gemeinschaft und die einzelnen Mitgliedstaaten diejenigen Beschränkungen weiter anwenden, die am 31.12.1993 im Verhältnis zu
126 Schlussanträge GA La Pergola, EuGH, Slg 1999, I-1661, Rn 16 – Trummer; Schlussanträge GA Leger, EuGH, Slg 2001, I-173, Rn 30 – Westdeutsche Landesbank; ebenso Fischer ZEuS 2000, 391, 414. 127 Den Ausdruck „Direktinvestitionen“ hat der EGV aus dem volkswirtschaftlichen Rechnungswesen übernommen. Die Direktinvestitionen bilden einen Posten der Kapitalbilanz, eines Teils der Zahlungsbilanz eines Landes. Um sie von ihrem Gegenstück, den Portfolioinvestitionen, abzugrenzen, orientiert man sich an den Richtlinien, die der IWF für die Außenwirtschaftsrechnung seiner Mitgliedsländer erstellt; s International Monetary Fund Balance of Payments Manual, 5th edition 1993; sowie die „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ in RL 88/361, Anhang I; Erläuterungen: Rohde (Fn 31) S 183–190; Stichwort „Kapitalbewegungen, internationale II“ in: Albers (Hrsg), HdWW (Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft), 1988.
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Drittstaaten in Kraft waren (Abs 1). Damit wird durchaus fragwürdigen protektionistischen Regelungen, die Bürgern und Unternehmen aus Drittstaaten zB eine maßgebliche Beteiligung an Banken, Versicherungen, Medienhäusern, Fluggesellschaften und Schifffahrtsunternehmen in der EU verwehren, Bestandsschutz verliehen.128 Zum anderen wird die Gemeinschaft (nicht auch ein einzelner Mitgliedstaat!) ermächtigt, den Kapitalverkehr mit Drittstaaten in den genannten Bereichen nach Belieben einzuschränken (Abs 2). Hierzu muss Einstimmigkeit im Rat erzielt werden (Art 57 II 2 EGV/64 II 2 AEUV). Im Gegensatz zu allen anderen Möglichkeiten der Einschränkung von EG-Grundfreiheiten sind die beiden Ermächtigungen des Art 57 EGV (64 AEUV) an keine inhaltlichen Voraussetzungen gebunden. Weder die beibehaltenen noch die neu verhängten Beschränkungen müssen Allgemeinwohlbelange fördern.129 Dahinter steht das Bestreben, der Gemeinschaft für Verhandlungen mit Drittstaaten über den Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen den Rücken zu stärken: Könnte die Gemeinschaft die durch Art 56 EGV (63 AEUV) bewirkte einseitige Öffnung nicht zurückhalten oder zurücknehmen, fehlte ihr die Verhandlungsmacht, um Drittstaaten zu reziproken Grenzöffnungen zu bewegen.130
2. Befristete Beschränkungen nach Art 59 EGV (66 AEUV) 43
Zu lediglich befristeten Beschränkungen gegenüber Drittstaaten wird der Gemeinschaftsgesetzgeber durch Art 59 EGV (66 AEUV) ermächtigt. Anders als bei Art 57 EGV (64 AEUV) kann jede Form des Kapitalverkehrs (einschließlich des Zahlungsverkehrs) eingeschränkt werden. Maßnahmen nach Art 59 EGV (66 AEUV) setzen voraus, dass die Wirtschafts- und Währungsunion schwerwiegend gestört ist oder gestört zu werden droht und hierfür außergewöhnlich umfangreiche Kapitalbewegungen nach oder aus Drittstaaten verantwortlich sind. Schutzgut sind sämtliche Komponenten der Wirtschafts- und Währungsunion. Auf der Seite der Wirtschaftsunion, die sich auf eine „enge“ Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken beschränkt (Art 4 I EGV/119 AEUV, Art 99 EGV/121 AEUV), sind etwa die Konjunktur-, Ordnungs- und Strukturpolitik zu nennen. Zur Währungsunion gehören vor allem die Geldpolitik und die Wechselkurspolitik, die – nach Maßgabe der Art 4 II EGV (119 AEUV) und Art 105 bis 124 EGV – von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übergegangen sind. Die Ziele sowohl der Wirtschafts- als auch der Währungsunion sind stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen, gesunde monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz (Art 4 III EGV/119 AEUV). Fließt Kapital aus der Gemeinschaft in Drittstaaten oder aus Drittstaaten in die Gemeinschaft, wirkt sich dies auf verschiedene Komponenten der Wirtschafts- und Währungsunion (wie zB den Wechselkurs oder das Zinsniveau) aus.
128 Zu den beibehaltenen Maßnahmen s Kiemel in: vd Greoben/Schwarze, EUV/EGV, Art 57 EGV Rn 9–15; Honrath Umfang und Grenzen der Freiheit des Kapitalverkehrs, 1998, 131 f. 129 Zu beachten sind jedoch die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus OECD-Vereinbarungen, WTO-Regelungen und dem EWR-Abkommen. 130 Man könnte daran denken, die Ermächtigungen des Art 57 EGV an den mit ihnen verfolgten Zweck zu binden und auf solche Maßnahmen zu begrenzen, die geeignet, erforderlich und angemessen sind, Drittstaaten zu weiterer Liberalisierung ihrer Seite des Kapitalverkehrs zu veranlassen. Ansätze hierzu finden sich etwa bei Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 57 EGV Rn 12; und Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 57 EGV Rn 20; skeptisch jedoch Honrath (Fn 128) S 139.
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Diese Einflüsse sind erwünscht: Sie spiegeln den Zweck der Kapitalverkehrsfreiheit wieder, für eine optimale Allokation von Kapital nicht nur innerhalb der Gemeinschaft, sondern auch im Verhältnis zu dritten Ländern zu sorgen. Folglich können sie keine Einschränkungen des Kapital- oder Zahlungsverkehrs gegenüber Drittländern rechtfertigen. Erst wenn sie zu einer schwerwiegenden Störung werden, sind Eingriffe zulässig. Dem Art 59 EGV (66 AEUV) liegt die Vorstellung zugrunde, dass die wohlfahrtssteigernden Wirkungen eines auch an den Außengrenzen der Gemeinschaft liberalisierten Kapitalverkehrs in Störungen umschlagen können. Wenig geklärt ist, wann dieser Punkt erreicht wird. Da von der Ermächtigung des Art 59 EGV (66 AEUV) noch kein Gebrauch gemacht wurde, fehlt jedes Anschauungsmaterial. Das juristische Schrifttum sucht Zuflucht in Szenarien, die wie „unerwünschte Zinsentwicklungen“, „Währungsturbulenzen“, „starke Devisenspekulationen“, „extreme Ungleichgewichte der Zahlungsbilanz“ und „überhitztes Wachstum“131 notgedrungen recht diffus sind und die Antwort auf die Frage, wann die Ergebnisse von Marktprozessen nicht mehr hinzunehmen seien, letztlich schuldig bleiben. Als konkrete Störung ist immerhin denkbar, dass sich die Devisenreserven des ESZB erschöpfen.132 Solange sich die Wechselkurse des Euro frei bilden können (und daher keine Interventionspflichten des ESZB bestehen), sind derartige Defizite in der Devisenbilanz aber nicht zu befürchten.133 Sollte die in Art 59 EGV (66 AEUV) beschriebene Situation einmal eintreten, darf der Gemeinschaftsgesetzgeber den Kapital- bzw Zahlungsverkehr mit dem Drittstaat höchstens sechs Monate lang einschränken. Bei einem Devisenmangel kommt zB ein Moratorium in Betracht, das es den Währungsinländern untersagt, Fremdwährungsverbindlichkeiten zu erfüllen.134 Dabei hat die Gemeinschaft die Verpflichtungen zu beachten, die sie in internationalen Abkommen der OECD, der WTO und über den IWF eingegangen ist.135
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3. Wirtschaftssanktionen nach Art 60 EGV (75 AEUV) Der Kapital- und Zahlungsverkehr darf ferner eingeschränkt werden, um ein Wirtschaftsembargo gegen einen bestimmten Drittstaat zu bewirken (Art 60 EGV/75 AEUV).136 Zuständig ist die Gemeinschaft, für die der Rat (regelmäßig in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister) mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Art 301 EGV). Sie muss hierbei mit einer anderen Säule der EU, nämlich der GASP, zusammenarbeiten. Bevor sie ein Kapital- bzw Zahlungsverkehrsembargo nach Art 60 EGV verhängen darf, muss zuvor die GASP (durch den Rat der Außenminister) beschlossen haben, die Wirtschaftsbeziehungen zu dem betr Drittstaat aus politischen Gründen auszusetzen, einzuschränken oder vollständig einzustellen (Art 11 bis 28 EUV). Dies geschieht entweder durch einen (konzeptionellen) „Gemeinsamen Standpunkt“ (Art 15 EUV) oder eine (operative) „Gemeinsame Aktion“ (Art 14 EUV), die idR Einstimmigkeit erfordern (Art 23
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S Honrath (Fn 128) S 224, 227. Vgl Krämer in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 119 EGV Rn 8. S Rose/Sauernheimer (Fn 90) S 16, 20 f. Schefold in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Fn 92) § 117 Rn 35. Zu diesen Schranken s Kiemel in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 59 EGV Rn 15 f; Glaesner in: Schwarze, EUV/EGV, Art 59 EGV Rn 6–8. 136 Art 60 EGV ist lex specialis zu Art 301 EGV.
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EUV).137 Solange die Union keine Maßnahmen ergriffen hat, darf jeder Mitgliedstaat (bei Dringlichkeit und schwerwiegenden politischen Umständen) autonom gegen den Drittstaat vorgehen (Art 60 II UAbs 1 EGV). Der Gemeinschaft steht es aber frei, die einzelstaatlichen Maßnahmen zu überprüfen und ggf abzuändern oder aufzuheben (Art 60 II UAbs 2 EGV).
4. Weiter reichende Auslegung des Art 58 EGV (65 AEUV) und der zwingenden Erfordernisse 46
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Die zwingenden Erfordernisse und die in Art 58 EGV (65 AEUV) kodifizierten Gemeinwohlbelange können Beschränkungen sowohl des innergemeinschaftlichen Kapitalund Zahlungsverkehrs als auch des Kapital- und Zahlungsverkehrs mit Drittstaaten rechtfertigen. Denkbar ist aber, dass die Tragweite eines Rechtfertigungsgrunds davon abhängt, ob das Verhältnis innerhalb der Gemeinschaft oder das Verhältnis zu Drittländern angesprochen ist. Im Außenverhältnis der Gemeinschaft kann die rechtfertigende Kraft eines staatlichen Eingriffsinteresses weiter reichen als im Innenverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten.138 Als Bsp mögen die Anforderungen dienen, die das dt Zivilrecht an eine Bürgschaft stellt, wenn diese als Sicherheitsleistung (zB in einem Zivilprozess, § 108 ZPO) dienen soll. Hierfür lässt das BGB allein solche Bürgen zu, die in Deutschland ansässig sind (§§ 232 II, 239 I BGB). Dass diese gesetzliche Voraussetzung gegenüber Bürgen aus anderen EU-Staaten mangels Rechtfertigung nicht mehr angewendet werden darf, ist bereits gerichtlich entschieden worden.139 Die Beschränkung auf inländische Bürgen kann sich nicht auf den Schutz der öffentlichen Ordnung (Art 58 I lit b EGV/65 I lit b AEUV) berufen, weil aufgrund des EuGVÜ in den anderen EU-Staaten wie im Inland vollstreckt werden kann. Im Verhältnis zu Drittländern wird anders zu entscheiden sein, stößt die Vollstreckung des Anspruchs aus der Bürgschaft dort doch auf größere Schwierigkeiten. Man kann mithin Unterschiede, die das Verhältnis zu Drittstaaten (im Vergleich zum Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten) prägen, bei der Auslegung der Rechtfertigungsgründe berücksichtigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass (außerhalb von Art 57 EGV/64 AEUV) auf eine Rechtfertigung verzichtet werden könnte. An dem Rechtfertigungserfordernis (nach Art 58 EGV/65 AEUV) droht das Verbot zu scheitern, das nach dem dt AWG gegenüber dem Erwerb von Anteilen an dt Gesellschaften ausgesprochen werden kann. Erwirbt eine in einem Drittstaat ansässige Person 25 % oder mehr der Stimmrechte, kann das Bundesministerium für Wirtschaft den Erwerb verbieten, vorausgesetzt, der Erwerb gefährdet „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“.140 Zwar werden dadurch die Eingriffsvoraussetzungen des Art 58 I lit b EGV (65 I lit b AEUV) wortgleich wiederholt. Für eine Rechtfertigung reicht dies gleichwohl nicht aus. Um diese zu erreichen, muss das eingreifende Gesetz die Umstände konkretisieren, unter denen die nationale öffentliche Ordnung und Sicherheit durch einen EG-ausländischen Gesellschaf137 Über ergriffene Finanzsanktionen berichtet Schäfer BKR 2002, 1–3. 138 Ähnlich Usher The Law of Money and Financial Services in the European Community, 2nd edition 2000, 235. 139 OLG Düsseldorf, WM 1995, 1993; vgl auch EuGH, Slg 2002, I-1425, Rn 36–40 – Kommission/ Italien (italienische Vorschrift, dass eine erforderliche Sicherheitsleistung nur durch ein Kreditinstitut mit Sitz oder Niederlassung in Italien erbracht werden dürfe). 140 S § 7 II Nr 6 und § 28 II Nr 3 AWG (Entwurf) idF des Regierungsentwurfs v 20.8.2008.
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ter beeinträchtigt wird. Diese Konkretisierung der Verwaltungsbehörde zu überlassen, lässt die Wirtschaftsteilnehmer die Reichweite des Eingriffs nicht vorhersehen und könnte zu Willkür führen.141 Allerdings steht in Zweifel, ob die genannte Maßnahme überhaupt in die Freiheit des Kapitalverkehrs eingreift oder ob angesichts der Mindesthöhe des Anteilserwerbs (25 %) nicht vielmehr ausschließlich die Niederlassungsfreiheit angesprochen ist, die im Verhältnis zu Drittstaaten nicht gilt.
VI. Schluss Die Befreiung des Kapitalverkehrs von ungerechtfertigten Beschränkungen (negative Harmonisierung) bildet den ersten Schritt, die Aufteilung in nationale Märkte zu überwinden und EU-weite Kapitalmärkte zu entwickeln. Will man die Integration darüber hinaus vertiefen, muss man die verbleibenden, gerechtfertigten Beschränkungen einander angleichen (positive Harmonisierung)142. Von integrierten Kapitalmärkten verspricht man sich eine Steigerung der wirtschaftlichen Wohlfahrt: Indem den Anbietern von und den Nachfragern nach Kapital die günstigsten Abschlüsse ermöglicht werden, kann das Kapital die Verwendung erhalten, welche den größten Nutzen stiftet.
141 Vgl Bundesregierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2007/2008, Rn 608–622. 142 Über die Maßnahmen zur Vereinheitlichung der für den Kapitalverkehr geltenden Regelungen berichten zB Ress/Ukrow in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 110–170; und Kiemel in: vd Groeben/ Schwarze, EUV/EGV, Art 56 EGV Rn 59–78. – Für den Zahlungsverkehr ist die RL 2007/64/EG über Zahlungsdienste hervorzuheben (ABl 2007 Nr L 319/1). Sie schafft ein einheitliches (ziviles) Vertragsrecht für weite Bereiche des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, indem sie den „Zahlungsdienstvertrag“ als neuen (Schuld-) Vertragstyp einführt.
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§ 13 Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit Thorsten Kingreen Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1985, 593 ff – Gravier; Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala; Slg 1998, I-7637 ff – Bickel; Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1. Schrifttum: Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995; Ettl Der praktische Fall – Europarecht: Augen auf im Straßenverkehr, JuS 2003, S 151 ff; Frenz HbER I, 2004, Rn 2899–2953; Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997; Jarass GR, § 25 Rn 25–42; Odendahl in: Heselhaus/Nowak GR, § 45 Rn 1–41; Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003; Rossi Das Diskriminierungsverbot nach Art 12 EG-Vertrag, EuR 2000, S 197 ff; Sachs in: Tettinger/ Stern, GRCh, Art 21 Rn 26–35; Schweitzer Art 12 EGV – Auf dem Weg zum „allgemeinen“ Gleichheitssatz in: FS Rudolf, 2001, S 189 ff; Aktuelle Kommentierungen zu Art 12 EGV: von Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV; Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV; Holoubek in: Schwarze, EUV; Streinz in: Streinz, EGV/EUV.
1
Fall (nach EuGH, Slg 1997, I-1711 ff – Hayes) Der britische Staatsangehörige Hayes (H) verklagt die Firma Kronenberger (K) vor dem Landgericht Saarbrücken auf Zahlung des Restkaufpreises aus der Lieferung von Funktionsteilen für Aufbereitungs- und Recyclinganlagen. K verlangt, dass H ihr gemäß § 110 ZPO aF Sicherheit zu leisten habe. Nach § 110 ZPO aF haben Ausländer, die als Kläger vor deutschen Gerichten auftreten, wegen der Prozesskosten Sicherheit zu leisten. Das gilt nicht, wenn der Staat, dem der Kläger angehört, von einem Deutschen im gleichen Falle keine Sicherheit verlangt. Diese Voraussetzung sah das Landgericht Saarbrücken als erfüllt an und gab der Klage statt. Das aufgrund der Berufung der K befasste Oberlandesgericht Saarbrücken legt dem EuGH die Frage vor, ob § 110 ZPO aF gegen Art 12 I EGV verstößt.
I. Rechtsquellen und systematische Einordnung 2
Das Unionsrecht enthält in Art 12 I EGV (18 I AEUV) ein Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit. Es zielt auf die Überwindung des Fremdenstatus 1 und die Behandlung der Unionsbürger in jedem Mitgliedstaat als Inländer. Art 12 I EGV (18 I AEUV) ist ein besonderer Gleichheitssatz, weil er Ungleichbehandlungen nur aufgrund eines Differenzierungskriteriums, nämlich der Staatsangehörigkeit, verbietet und nicht in allen Lebensbereichen, sondern nur im Anwendungsbereich des Vertrages gilt.2 Die tatbestandliche Einschränkung, dass Art 12 I EGV (18 I AEUV) nur „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages“ zum Zuge kommt, kennzeichnet seine Nachrangigkeit gegenüber spezielleren Diskriminierungsverboten. Weil „unbeschadet“ vorbehaltlich meint,3 darf Art 12 I EGV (18 I AEUV) „autonom nur in durch das Gemeinschaftsrecht geregelten Fällen angewendet werden, für die der Vertrag keine besondere Regelung der
1 v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 1. 2 Von daher ist die häufig zu lesende Bezeichnung „allgemeines Diskriminierungsverbot“ irreführend; zutreffend Rossi EuR 2000, 197. 3 EuGH, Slg 1977, 1495, Rn 11 – Sagulo; Slg 1996, I-161, Rn 11 – Perfili.
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Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit
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Nichtdiskriminierung vorsieht“.4 Art 12 I EGV (18 I AEUV) tritt daher gegenüber allen Bestimmungen zurück, die das Kriterium der Staatsangehörigkeit aufgreifen,5 insb also den Grundfreiheiten (→ §§ 8, 9, 10, 11, 12),6 nicht aber etwa gegenüber Art 141 I EGV (Art 157 I AEUV), der auf das Geschlecht als verbotenes Differenzierungskriterium abstellt.7 Mit dem Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit reagiert Art 12 I EGV (18 I AEUV) auf föderale Gefährdungslagen, die daraus resultieren, dass Gliedstaaten in einem föderalen Gemeinwesen tendenziell dazu neigen, ihre Bürger gegenüber Bürgern aus anderen Gliedstaaten zu bevorzugen. Art 12 I EGV (18 I AEUV) erklärt die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat für die Behandlung durch einen anderen Mitgliedstaat für irrelevant; er ist daher eine transnationale Integrationsnorm (→ § 17 Rn 2). Das unterscheidet ihn funktional von den Gleichheitsgrundrechten, die der (supra-)nationalen Legitimation von Hoheitsgewalt dienen.8 Insofern ist die nochmalige Erwähnung des Diskriminierungsverbotes im Grundrechtsteil (Art 21 II GRCh) überflüssig und angesichts unterschiedlicher Adressaten und Schranken auch nicht ganz unproblematisch.9
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II. Prüfungsaufbau 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich Art 12 I EGV (18 I AEUV) schützt alle natürlichen Personen, die die Unionsbürgerschaft (Art 17 EGV/20 AEUV) besitzen. Bei juristischen Personen bemisst sich der persönliche Schutzbereich nach Art 48 EGV (54 AEUV).10 Unsicher ist, ob und ggf inwieweit Drittstaatsangehörige geschützt sind. Dafür sprechen zwar im Umkehrschluss Art 39 II (45 II AEUV) und Art 43 I EGV (49 I AEUV), die ausdrücklich auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten beschränkt sind; eine solche Einschränkung fehlt bei Art 12 I EGV (18 I AEUV). Gegen eine Berechtigung spricht allerdings die spezifisch auf den Binnenmarkt bezogene Funktion des Art 12 I EGV (18 I AEUV). Anders als die – grds auch für Drittstaatsangehörige geltenden (→ § 14 Rn 42) – Unionsgrundrechte hat Art 12 I EGV (18 I AEUV) keine supranationale Integrationsfunktion, soll also nicht an die Stelle der nationalen Grundrechte treten, die, soweit Hoheitsrechte auf die Union übertragen wurden, nicht mehr anwendbar sind.11 Er soll
4 EuGH, Slg 1996, I-929, Rn 20 – Skanavi. 5 Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 6. 6 Vgl EuGH, Slg 1989, 195, Rn 14 – Cowan; Frenz HbER I, Rn 2909; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 12 EGV Rn 9; für Idealkonkurrenz hingegen wohl Schweitzer FS Rudolf, S 189 f. 7 v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 58. 8 Zur Unterscheidung zwischen transnationalen Integrations- und supranationalen Legitimationsnormen vgl ferner Pache in: Heselhaus/Nowak, GR § 4 Rn 56 ff; Rossi EuR 2000, 197, 209. – Für die Grundrechtsqualität von Art 12 I EGV hingegen Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 25 ff. 9 Vgl Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 567 f; Kingreen EuGRZ 2004, 570, 571 ff. 10 v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 29; krit: Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 17: Art 183 Nr 4 EGV (Art 199 Nr 4 AEUV). 11 Zur supranationalen Integrationsfunktion Rn 1 f.
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vielmehr, wie alle Binnenmarktvorschriften, die transnationale Integration fördern und den Unionsbürgern in jedem Mitgliedstaat eine gegenüber Drittstaatlern qualifizierte Zugehörigkeit vermitteln. Diese hervorgehobene Stellung, die auch in der Unionsbürgerschaft (Art 17 EGV/20 AEUV) zum Ausdruck kommt, würde eingeebnet, wenn Drittstaatler durch den Vertrag die gleichen Rechte eingeräumt bekämen.12 Im Einzelfall kann allerdings anderes gelten, wenn sich aus dem konkreten Sachgebiet, insb aus sekundärrechtlichen Regelungen, ergibt, dass insoweit auch Drittstaatler qualifizierten Schutz vor Ungleichbehandlungen wegen der Staatsangehörigkeit genießen sollen.13 6
Beispiele: Weil Art 12 I EGV (18 I AEUV) Drittstaatsangehörige nicht berechtigt, ist eine irische Regelung nicht zu beanstanden, die für die Besatzung auf Schiffen einen Mindestanteil von Angehörigen der Gemeinschaft fordert.14 Art 11 RL 2003/19/EG15 erstreckt hingegen den Anspruch auf Gleichbehandlung auch auf langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige.
b) Sachlicher Schutzbereich 7
Sachlich ist Art 12 I EGV (18 I AEUV) auf den „Anwendungsbereich des Vertrages“ beschränkt. Das setzt nach Ansicht des EuGH voraus, dass eine „gemeinschaftsrechtlich geregelte Situation“16 vorliegt bzw der Fall „Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte“ aufweist, „auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt“ 17. Dabei ist allerdings der „gegenwärtige Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts“18 zu berücksichtigen.
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Beispiele: In den Anwendungsbereich des Vertrages fallen etwa Vorschriften, die für die Gründung einer Vereinigung eine Mindestzahl von Mitgliedern mit der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates verlangen.19 Gleiches gilt für Vorschriften, die den Zugang zum Universitätsstudium regeln (insb Einschreibe- und Studiengebühren20).
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Hingegen fiel noch 1988 die finanzielle Förderung der Studierenden (BAföG) nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages, weil Bildungs- und Sozialpolitik als Sache der Mitgliedstaaten galt.
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Beispiel: Frau Lair, eine französische Staatsangehörige, hatte in Deutschland zunächst 2 1/2 Jahre als Bankangestellte gearbeitet und war in den folgenden drei Jahren überwiegend arbeitslos oder befand sich in einer Umschulung; dazwischen lagen kurze Beschäftigungszeiten. Seit dem 1. Oktober 1984 studierte sie an der Universität Hannover Romanistik und Germanistik und beantragte Ausbildungsförderung nach dem BAföG. Nach § 8 BAföG wurde aber Aus-
12 Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 12 EGV Rn 27 ff; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 45 Rn 18; Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 12 Rn 35; differenzierend v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 12 Rn 31 ff. 13 Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 12 Rn 36. 14 EuGH, Slg 1988, 83 Rn 20 f – Pesca Valentia. 15 Richtlinie 2003/109/EG vom 25. November 2003 betr die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl 2003 L 16/44. 16 EuGH, Slg 1989, 195 Rn 10 – Cowan. 17 EuGH, Slg 1982, 3723 Rn 16 – Morson. 18 EuGH, Slg 1988, 3161 Rn 15 – Lair; Slg 1988, 3295 Rn 18 – Brown. 19 EuGH, Slg 1999, I-3999 Rn 12 – Kommission/Belgien. 20 EuGH, Slg 1985, 593 Rn 31 – Gravier.
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bildungsförderung Ausländern nur geleistet, wenn sie sich vor Beginn des förderungsfähigen Teils der Ausbildung insg fünf Jahre im Geltungsbereich des Gesetzes aufgehalten haben und rechtmäßig erwerbstätig gewesen sind. Deutsche brauchen demgegenüber keine vorherige Erwerbstätigkeit nachzuweisen. Das war an sich eine eindeutige, nach Art 12 I EGV (18 I AEUV) verbotene Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit. Der EuGH hat indes entschieden, dass „beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts eine Förderung, die Studenten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung gewährt wird, grds außerhalb des Anwendungsbereichs des EWG-Vertrags iSv dessen Artikel 7 liegt. Sie fällt nämlich zum einen in den Bereich der Bildungspolitik, die als solche nicht der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane unterstellt worden ist […] und zum anderen in den der Sozialpolitik, die zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gehört, soweit sie nicht Gegenstand besonderer Vorschriften des EWG-Vertrags ist“ 21.
Der EuGH sieht diese an den Kompetenzbestimmungen ansetzende Rspr mittlerweile als überholt an, obwohl sich die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht grds verändert hat.
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Beispiel: Der französische Staatsangehörige Grzelczyk finanzierte sein Studium in Belgien in den ersten drei Studienjahren zunächst selbst. In seinem vierten Studienjahr war das wegen der zeitlichen Belastung nicht mehr möglich, er beantragte deshalb Sozialhilfe. Wäre Herr Grzelczyk belgischer Staatsangehöriger gewesen, wäre dieser Anspruch unproblematisch zu bejahen gewesen. Fraglich war, ob es als ungerechtfertigte Diskriminierung anzusehen war, dass ihm nur wegen seiner französischen Staatsangehörigkeit keine Sozialhilfe gewährt wurde. Nach der bis dahin geltenden Rspr (Rn 10) wäre dies zu verneinen gewesen. Nunmehr soll aber auch die finanzielle Förderung ausländischer Studierender, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen.22 Der EuGH begründet dies ua damit, dass durch den Vertrag über die Europäische Union ein Kapitel über die allgem und berufliche Bildung sowie die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen worden seien.23
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Die Anknüpfung an Kompetenzbestimmungen zur Interpretation der Wendung „im Anwendungsbereich des Vertrages“ überzeugt nicht: Aufgaben- und Befugnisnormen der Gemeinschaft besagen nichts darüber, welche Diskriminierungen durch die Mitgliedstaaten, die ja Ausübung mitgliedstaatlicher Kompetenzen sind, in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen. Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit gehen nur von den Mitgliedstaaten aus und treten daher auch nur dort auf, wo die Gemeinschaft gerade keine Kompetenzen hat. Deshalb fallen auch nach Meinung des EuGH Diskriminierungen bei der Sozialhilfe,24 im Zivilprozessrecht25 und im Straf(prozess-)recht26 in den Anwendungsbereich des Vertrages, obwohl hier keine Anknüpfung an Kompetenzen der Gemeinschaft möglich ist. Weiterführend als ein kompetentieller ist daher ein materiellrechtlicher Interpretationsansatz. Der „Anwendungsbereich des Vertrages“ ist durch Auslegung der subjektiv-öffentlichen Rechte zu ermitteln, die das Diskriminierungsverbot
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EuGH, Slg 1988, 3161 Rn 14 – Lair; vgl ferner EuGH, Slg 1988, 3295 Rn 17 – Brown. EuGH, Slg 2001, I-6193 Rn 35 – Grzelczyk. EuGH, Slg 2001, I-6193 Rn 35 – Grzelczyk. EuGH, Slg 2004, I-7573 Rn 42 – Trojani. Vgl dementsprechend ohne Erörterung der Kompetenzproblematik EuGH, Slg 1997, I-1711, Rn 17 – Hayes. 26 EuGH, Slg 1998, I-7637, Rn 16 – Bickel.
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konkretisieren.27 Der „Anwendungsbereich des Vertrages“ wird dann durch diese Normen nicht nur begründet, sondern auch begrenzt. 14
Beispiele: Der Umkehrschluss aus Art 19 I EGV (22 I AEUV) ergibt, dass Wahlen auf regionaler und nationaler Ebene nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen. Das auf die eigenen Staatsangehörigen beschränkte Wahlrecht verstößt daher auch nicht gegen Art 12 Abs 1 EGV (18 I AEUV). – Art 18 I EGV (21 I AEUV) gewährleistet das Recht auf Freizügigkeit nur vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Er begründet damit nur ein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, das durch die Freizügigkeits-Richtlinie RL 2004/38/EG 28 näher ausgestaltet und beschränkt wird, insb für den Fall, dass der Betreffende sozial bedürftig wird. Entscheidend ist nun, dass der so verstandene Art 18 I EGV (21 I AEUV) auch den „Anwendungsbereich des Vertrages“ iSv Art 12 I EGV (18 I AEUV) eröffnet, dies aber nur so weit, wie er selbst reicht.29 Das durch Art 12 I EGV (18 I AEUV) vermittelte Recht im Aufenthalt wird also durch das aus Art 18 I EGV (21 I AEUV) folgende Recht auf Aufenthalt zwar begründet, aber auch begrenzt, weshalb etwa an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Ungleichbehandlungen beim Bezug von Sozialhilfe oder von Studienstipendien zulässig sind (vgl auch Art 24 RL 2004/38/EG).
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Nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages fällt aus vertragssystematischen Gründen auch die sog Inländerdiskriminierung.30 Diese entsteht, wenn im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates für vergleichbare Sachverhalte unterschiedliche Regelungen gelten, weil der Mitgliedstaat aufgrund von Vorgaben des Gemeinschaftsrechts (meist der Grundfreiheiten) für inländische Sachverhalte andere Regelungen erlässt oder aufrechterhält als für Sachverhalte mit Auslandsbezug.31 Würde man darin, wie das insb von einigen Generalanwälten vertreten wird,32 einen Anwendungsfall des Art 12 I EGV (18 I AEUV) sehen, so würde die zutreffende und auch vom EuGH geteilte Beschränkung der Grundfreiheiten auf Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug33 überspielt: Was die Grundfreiheiten für den transnationalen Sachverhalt bewirken würden, würde Art 12 I EGV (18 I AEUV) für den nationalen gleichsam nachvollziehen.34 Dem steht entgegen, dass die Grundfreiheiten leges speciales zu Art 12 I EGV (18 I AEUV) und daher insoweit abschließend sind. Dem Problem der Inländerdiskriminierung ist daher nur über das nationale Verfassungsrecht (Art 3 I, 12 I GG) beizukommen.35
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Beispiel: Eine brandenburgische Brauerei braut unter Hinzufügung von Invertzuckersirup ein untergäriges Schwarzbier. Das verstößt gegen das deutsche Reinheitsgebot, das vorsieht,
27 Vgl bereits EuGH, Slg 1999, I-3999 Rn 12 – Kommission/Belgien. 28 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl Nr L 158/77. 29 Kingreen EuR 2007/Beiheft 1, 43, 60 f; ebenso Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 12 Rn 14. 30 EuGH, Slg 1986, 29 Rn 56 – Hurd; ebenso etwa Jarass GR, § 25 Rn 30; Odendahl: in Heselhaus/ Nowak, GR, § 45 Rn 23; Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 12 Rn 58. 31 Lackhoff/Raczinski EWS 1997, 109, 110; ausf: Epiney Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 17 ff. 32 GA Maduro, Schlussantrag zu EuGH, Slg I-2004, 8027 Rn 44 ff. – Carbonati Apuani; vgl bereits GA Tesauro, Schlussantrag zu EuGH, Slg 1994, I-3957 Rn 28 – Lancry u a. 33 Dazu näher Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 84 ff. 34 Vgl Hammerl Inländerdiskriminierung, 1997, 151 ff; Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 12 Rn 58 ff. 35 Vgl ÖstVerfGH, EuZW 2001, 219.
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dass zur Bereitung von Bier ausschließlich Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser verwendet werden dürfen. Andere Zusatzstoffe sind verboten. Das zuständige Ministerium lehnte es daher ab, der Brauerei eine Genehmigung für das Herstellen und Inverkehrbringen unter der Bezeichnung Bier zu erteilen; erlaubt wurde lediglich die Herstellung des Biers für den Export. Die Brauerei sieht darin einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit und gegen den allgem Gleichheitssatz, weil Brauereien aus anderen Mitgliedstaaten bereits seit dem EuGH-Urt zum deutschen Reinheitsgebot aus dem Jahre 1987 Bier auch ohne Beachtung des Reinheitsgebots in Deutschland vertreiben dürfen. Das Bundesverwaltungsgericht sieht in der Genehmigungsverweigerung einen Verstoß gegen Art 12 I GG und mahnt großzügigere Ausnahmen vom Reinheitsgebot an.36
2. Beeinträchtigung Beeinträchtigung ist jede Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit.
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a) Normadressaten Normadressaten sind die Union und die Mitgliedstaaten.37 Ob Art 12 I EGV (18 I AEUV) Drittwirkung entfaltet, ist hingegen umstritten.38 Der EuGH hat zu dieser Frage noch nicht Stellung bezogen; für die Personenverkehrsfreiheiten nimmt er aber jedenfalls im Bereich der privatautonomen Rechtsetzung eine unmittelbare Drittwirkung an (→ vgl § 7 Rn 52 f). Dagegen spricht, dass so das Recht des Einzelnen auf Nichtdiskriminierung gegenüber der öffentlichen Gewalt zu einer Pflicht gegenüber allen Mitbürgern wird. Näherliegender ist es, die Fälle privaten Machtmissbrauchs entweder über das Kartellrecht (Art 81 f EGV/101 f AEUV) oder über Schutzpflichten der Mitgliedstaaten zu verarbeiten.39
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b) Arten der Beeinträchtigung Art 12 I EGV (18 I AEUV) verbietet „nicht nur offensichtliche [unmittelbare] 40 Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten [mittelbaren] 41 Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“ 42.
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Unmittelbare Diskriminierungen zeichnen sich durch eine tatbestandliche Anknüpfung an das verbotene Unterscheidungskriterium der Staatsangehörigkeit aus.
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Beispiele: Eine unmittelbare Diskriminierung stellt es dar, wenn staatliche Museen den eigenen Staatsangehörigen niedrigere Eintrittspreise abverlangen als anderen Unionsbürgern43 und
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36 BVerwGE 123, 82 (85 f); dazu Riese/Noll, NVwZ 2007, 516 ff. 37 Vgl nur Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 12 EGV Rn 30 ff. 38 Für eine Drittwirkung v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 27 und, wenn auch vorsichtig, Rossi EuR 2000, 197, 216 f; dagegen Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 12 EGV Rn 35 f und Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 12 Rn 39. 39 Näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 111 ff. 40 Anm d Autors. 41 Anm d Autors. 42 EuGH, Slg 1980, 3427, Rn 9 – Boussac; Slg 2002, I-2965, Rn 15 – Kommission/Italien. 43 EuGH, Slg 1994, I-911, Rn 10 – Kommission/Spanien.
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wenn Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten an staatlichen Universitäten zusätzliche Einschreibe- und Studiengebühren entrichten müssen.44
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Die Prüfung, ob eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, bereitet wegen der schwierigen Abgrenzung zu sonstigen, nicht diskriminierenden Beschränkungen oftmals Probleme.45 Der EuGH stellt in einer Entscheidung darauf ab, ob „die große Mehrzahl“ der von der Norm geregelten Fälle Angehörige anderer Mitgliedstaaten trifft.46 Das spricht dafür, dass es – wie bei Art 141 EGV (157 AEUV) und bei den Grundfreiheiten47 – primär auf die tatsächlichen Auswirkungen einer Maßnahme ankommt, darauf also, ob eine besonders große Zahl der vor Diskriminierung geschützten Gruppe betroffen ist. Doch können – möglicherweise zufällige – tatsächliche Auswirkungen allein keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit begründen. Art 12 I EGV (18 I AEUV) will nämlich nicht generell Schlechterstellungen von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten verbieten, sondern nur solche aufgrund der Staatsangehörigkeit. Entscheidend ist daher der materielle Regelungsgehalt der möglicherweise mittelbar diskriminierenden Anforderung: Es kommt darauf an, ob die angegriffene Maßnahme Anforderungen enthält, die typischerweise nur oder zumindest leichter von In- als von Ausländern erfüllt werden können, ob sie also spezifisch auf die unterschiedliche Ausgangsposition von In- und Ausländern zugeschnitten ist. Der Normadressat muss maW in der Lage sein, die gestellte Anforderung mit anderen Gründen als mit dem der Staatsangehörigkeit zu begründen. Gelingt diese Begründung, so hat sie vor Art 12 I EGV (18 I AEUV) selbst dann Bestand, wenn faktisch mehr Aus- als Inländer betroffen sind.48
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Beispiele: Mittelbar diskriminierend wirken etwa alle Regelungen, die an den Wohnsitz oder ein Niederlassungserfordernis anknüpfen, weil diese Voraussetzungen für Ausländer regelmäßig schwerer zu erfüllen sind als für Inländer.49 Eine mittelbare Diskriminierung ist etwa auch das Erfordernis eines im Inland zugelassenen Kraftfahrzeuges als Voraussetzung für eine straßenverkehrsrechtliche Bevorzugung.50 Entspr gilt, wenn ein Mitgliedstaat die Gewährung von Sozialleistungen von einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig macht, während Inländer lediglich ihren Wohnsitz oder tatsächlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben müssen.51
c) Rechtfertigung 24
Obwohl Art 12 I EGV (18 I AEUV) keine ausdrücklichen Schrankenbestimmungen enthält, ist anerkannt, dass jedenfalls mittelbare Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit gerechtfertigt werden können. Dabei wird auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aktiviert: Zu prüfen ist, ob die mittelbar diskriminierende Maßnahme durch
44 EuGH, Slg 1994, I-1593, Rn 19 – Kommission/Belgien. 45 Vgl die ausführliche Analyse bei Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, 114 ff. 46 EuGH, Slg 1994, I-117, Rn 16 – Owens Bank. 47 Vgl etwa EuGH, Slg 1989, 1591, Rn 12 – Allué I. 48 Zu diesem Verständnis der besonderen Gleichheitssätze als Begründungsverbote Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 24. Aufl 2008, Rn 447 ff, für die Grundfreiheiten Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 28–30 EGV Rn 73. 49 EuGH, Slg 1974, 153, Rn 11 – Sotgiu; Slg 1993, I-817, Rn 10 – Kommission/Luxemburg. 50 EuGH, Slg 2002, I-2965, Rn 18 – Kommission/Italien. 51 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 65 – Martínez Sala.
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„objektive Umstände gerechtfertigt ist“ 52 und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit ihr verfolgt wird.53 Ungeklärt ist hingegen, ob auch unmittelbare Diskriminierungen gerechtfertigt werden können. In der Literatur wird Art 12 I EGV (18 I AEUV) insoweit teilweise als absolutes Diskriminierungsverbot verstanden, das einer Rechtfertigung nicht zugänglich sei. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut „jede Diskriminierung“ und dem systematischen Umstand, dass bei den Grundfreiheiten Rechtfertigungstatbestände vorhanden sind, die bei Art 12 I EGV (18 I AEUV) fehlen.54 Doch sind dies jeweils Argumente, die auch gegen die Rechtfertigungsmöglichkeiten bei mittelbaren Diskriminierungen sprechen müssten. Denn auch eine mittelbare Diskriminierung ist ja „Diskriminierung“ im Sinne von Art 12 I EGV (18 I AEUV). Die Rspr des EuGH ist alles andere als einheitlich,55 scheint aber darauf hinaus zu laufen, dass unmittelbare Diskriminierungen zwar zu rechtfertigen, aber insoweit erhöhten Anforderungen ausgesetzt sind. In einer gewissen Parallelität zu der allerdings ihrerseits inkohärenten Rspr zu den Grundfreiheiten56 sollen unmittelbare Diskriminierungen lediglich aufgrund im Verfassungstext kodifizierter Rechtfertigungsgründe zu rechtfertigen sein, während bei mittelbaren Diskriminierungen auch sonstige Allgemeinwohlerwägungen zum Tragen kommen.57 Die Parallelität mit den Grundfreiheiten leuchtet grds ein.58 Allerdings ist nicht einsichtig, warum unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen unterschiedlich behandelt werden sollten59 (→ § 17 Rn 49). Die Differenzierung des EuGH fördert den versteckten Protektionismus, der Benachteiligungen wegen der Staatsangehörigkeit nur geschickt verschleiert, statt sie offen zu legen. Und für den benachteiligten Ausländer kann es ohnehin keinen Unterschied machen, ob er durch eine unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Maßnahme oder durch eine sonstige Maßnahme diskriminiert wird, die im Ergebnis wie eine Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit wirkt. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen sollten daher auch im Hinblick auf die Rechtfertigungsmöglichkeiten gleich behandelt werden.
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d) Rechtsfolgen eines Verstoßes Bei einem Verstoß gegen Art 12 I EGV (18 I AEUV) ist es Sache des Mitgliedstaates, ob er die bislang benachteiligte Person so behandelt wie die bislang bevorzugte, die belastende Regelung auch auf Letztere erstreckt oder beide auf eine dritte Art und Weise behandelt.60
52 Vgl etwa EuGH, Slg 1994, I-467, Rn 17 – Mund & Fester. 53 EuGH, Slg 1998, I-7637, Rn 28 – Bickel. 54 So etwa v Bogdandy in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 23; Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 12 EGV Rn 58. 55 Vgl Plötscher Der Begriff der Diskriminierung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 131 f. 56 Gundel Jura 2001, 79 ff; Kingreen in: v Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 631, 670 ff. 57 EuGH, Slg 2003, I-721, Rn 19, 21 – Kommission/Italien = JK 8/03, EGV Art 49/7. 58 Rossi EuR 2000, 197, 212 f. 59 So auch Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 EGV Rn 40; Frenz HbER I, Rn 2951; Rossi EuR 2000, 197, 213 f. 60 Wie hier jetzt auch Sachs in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 22 Rn 35.
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Lösung: § 110 ZPO könnte gegen Art 12 I EGV (18 I AEUV) verstoßen. (1) Fraglich ist, ob § 110 ZPO aF in den „Anwendungsbereich des Vertrages“ im Sinne von Art 12 I EGV (18 I AEUV) fällt. Zwar ist es mangels einer Zuständigkeit der Union Sache der Mitgliedstaaten, das Zivilprozessrecht zu regeln. Doch besteht diese Zuständigkeit nicht schrankenlos. Insb verbietet Art 12 I EGV (18 I AEUV) Diskriminierungen, die im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung stehen. Obwohl § 110 ZPO aF als solcher nicht dazu bestimmt ist, eine kaufmännische Tätigkeit zu regeln, bewirkt er, dass ausländische Wirtschaftsteilnehmer weniger leichten Zugang zu den Gerichten dieses Staates haben als dessen eigene Staatsangehörige. Da das Unionsrecht diesen Wirtschaftsteilnehmern den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Gemeinsamen Markt garantiert, muss ihnen auch der Zugang zu den Gerichten eines Mitgliedstaates bei Rechtsstreitigkeiten, die sich aus ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ergeben, unter denselben Bedingungen eröffnet sein wie den Staatsangehörigen dieses Staates (EuGH, Slg 1997, I-1711, Rn 14 – Hayes). Der Schutzbereich ist damit berührt. (2) Der Schutzbereich muss beeinträchtigt sein. Weil Deutschland von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten eine Sicherheitsleistung fordert, die es von den eigenen Staatsangehörigen nicht verlangt, liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor. (3) Fraglich ist, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Aus den og Gründen (vgl Rn 25) können auch unmittelbare Diskriminierungen gerechtfertigt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass § 110 ZPO aF ein billigenswertes Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist. Es ist schon zweifelhaft, ob § 110 ZPO aF geeignet ist, weil die Sicherheitsleistung von einem deutschen Kläger, der im Ausland ansässig ist, nicht verlangt wird, obwohl insoweit ebenfalls ein Vollstreckungsrisiko besteht. Im Übrigen steht sie in keinem Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, weil sie auch nichtdeutsche Kläger, die in Deutschland ansässig sind, zur Sicherheitsleistung verpflichtet (EuGH, Slg 1997, I-1711, Rn 24 – Hayes). Die Beeinträchtigung kann daher nicht gerechtfertigt werden. § 110 ZPO aF verstößt gegen Art 12 I EGV (18 I AEUV).
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4. Teil: Die Grundrechte der Europäischen Union § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte Dirk Ehlers Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1963, 3 ff – van Gend & Loos; Slg 1964, 1251 ff – Costa; Slg 1969, 419 ff – Stauder; Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1974, 491 ff – Nold; Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1; Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1; Slg 2003, I-5659 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3; Slg 2004, I-09609 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13; BVerfGE 73, 339 ff – Solange II; 102, 147 ff – Bananenmarkt. Schrifttum: Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 39 ff; Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005; Frenz GR, 2009; Heselhaus/ Nowak GR, 2006; Jarass GR, 2005; Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, S 583 ff; Meyer GRCh, 2006; Pernice/Mayer in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art 6 EUV; Rengeling/Szczekalla GR, 2004; Schmittmann Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2006; Tettinger/Stern GRCh, 2006; Tridimas The general principles of EC law, 2007. Vgl ferner die Kommentierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Kommentaren von Streinz EUV/EGV; Calliess/Ruffert EUV/EGV und Schwarze EUV.
I. Eigenart und Stellung der Unionsgrundrechte im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts 1. Begriff der Grundrechte Eine allgemein verbindliche oder auch nur gebräuchliche Definition von Grundrechten gibt es nicht. Im Folgenden werden unter Grundrechten Rechte des Individuums (und anderer Privatpersonen) gegen Hoheitsträger verstanden, die kraft des internationalen Rechts gelten oder auf der höchsten innerstaatlichen Normstufe garantiert werden, dem Einzelnen eine grundlegende Rechtsposition gegenüber den Hoheitsträgern einräumen und diesen im Falle der Zulässigkeit einer Beschränkung eine Rechtfertigung abverlangen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Grundrechte der Europäischen Union. Diese betreffen nicht nur die Europäischen Gemeinschaften (dh die Europäische Gemeinschaft sowie die Europäische Atomgemeinschaft), sondern auch die Europäische Union (also nach derzeitigem Recht das völkerrechtliche Dach für die beiden Europäischen Gemeinschaften) sowie die Mitgliedstaaten, soweit sie Gemeinschaftsrecht respektive Unionsrecht durchführen. Tritt der Vertrag von Lissabon1 in Kraft, wird es ohnehin nur noch ein supranationales Rechtssubjekt – nämlich die Europäische Union – geben. Daher wird im Folgenden von Unions- statt von Gemeinschaftsgrundrechten gesprochen. Die Darstellung orientiert sich am geltenden Recht. Doch kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Vertrag über die Europäische Union (EUV) in der Fassung des Vertrages von Lissabon (EUV-E) verbindlich auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union2 (GRCh) verweist und diese mit dem gleichen Rang wie den EUV und den Vertrag 1 Vertrag v 13.12.2007, ABl EG Nr C 306/1 v 17.12.2007. 2 In der Fassung der Proklamierung von Nizza, abgedruckt in Sart I Nr 1002 und Sart II Nr 146.
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über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausstattet.3 Da die Charta bereits jetzt die Grundrechtsentwicklung beeinflusst (Rn 24) und da sie nach Inkrafttreten des Vertrages die maßgebliche Rechtsquelle sein wird, bezieht sie die Darstellung ergänzend zum geltenden Recht mit ein.
2. Notwendigkeit der Gewährleistung von Grundrechten auf Unionsebene 3
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Die Gemeinschaftsverträge kennen bislang keinen geschriebenen Grundrechtskatalog mit Verbindlichkeit, sondern nur einzelne grundrechtliche Garantien. Ein Grundrechtskatalog wurde beim Abschluss der Verträge nicht für notwendig erachtet, weil man die Gemeinschaftsverträge zunächst als traditionelle völkerrechtliche Verträge eingestuft hat. Es zeigte sich jedoch alsbald, dass diese Wertung nicht zutraf. Zum einen wenden sich die Gemeinschaftsverträge nicht nur an die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften, sondern auch unmittelbar an Privatpersonen. Zum anderen ist den Gemeinschaften in einem sehr weiten Umfang die Kompetenz eingeräumt worden, für und gegen jedermann verbindliches Recht zu setzen. An der Begrenzung der Gemeinschaftsgewalt durch die die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen schützenden Grundrechte führt deshalb kein Weg vorbei. Wesentliche Grundrechtsanstöße kamen aus den Mitgliedstaaten. Sie zielten darauf ab, das Handeln der Gemeinschaften an den nationalen Grundrechten zu messen. Darauf aufbauend haben der italienische Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale) 4, das BVerfG 5 und weitere Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten6 in Grundsatzentscheidungen für sich das Recht in Anspruch genommen, sekundäres Gemeinschaftsrecht im Inland für unanwendbar zu erklären, wenn und soweit es (in qualifizierter Weise) mit den nationalen Grundrechten kollidiert (Rn 18). Der EuGH hat sich dem von Anfang an widersetzt, weil eine Bindung des Gemeinschaftsrechts an nationales (Verfassungs-)Recht nicht mit dem von ihm postulierten und ohne jede Einschränkung vertretenen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist.7 Die Lösung konnte daher nur darin liegen, einen umfassenden und effektiven Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene zu garantieren. Da es zu diesbezüglichen Vertragsänderungen (bisher) nicht gekommen ist,8 hat der EuGH gestützt auf seine Kompetenz zur Wahrung des Rechts (Art 220 S 1 EGV/19 I 2 EUV-E) grundrechtliche Verbürgungen in Gestalt ungeschriebener Rechtsgrundsätze entwickelt (→ § 1 Rn 25 ff). Nachdem in der Rechtssache van Gend & Loos (1963) herausgearbeitet worden war, dass der Einzelne auch ohne ausdrückliche Anordnung in den Gemeinschaftsrechtsverträgen Inhaber eines Gemeinschaftsrechts sein kann,9 ist in dem Fall Stauder 10 (1969) erstmals von „Grundrechte(n) der Person“ gesprochen worden. Zum Durchbruch gelangt ist die Anerkennung von Unionsgrundrechten in den Entscheidun-
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Vgl Art 6 I 1 EUV-E. Corte Costituzionale, EuR 1974, 255, 262. BVerfGE 37, 271, 277 ff – Solange I. Vgl zum heutigen Stand Streinz FS Steinberger, 2002, S 1437, 1456 ff; Grabenwarter in: v Bogdandy, Europ VfR, 283, 286 ff; Französischer Conseil constitutionnel, JZ 2004, 969. Grundl EuGH, Slg 1964, 1253, 1270 f – Costa. Im Englischen wird in diesem Zusammenhang der Begriff supremacy verwendet, vgl dazu Craig/de Búrca EU, 344 ff. Vgl aber die Aufnahme von Unionsbürgerrechten in den EGV (hierzu Rn 37 und → § 19). EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos. EuGH, Slg 1969, 419, 425 – Stauder.
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gen Internationale Handelsgesellschaft 11 (1970) und Nold 12 (1974). Auf der Basis dieser Rspr sind in der Folgezeit – nicht zuletzt befördert durch die kritische Rspr des BVerfG 13 – die Unionsgrundrechte bereichsspezifisch ausgeformt und gefestigt worden. Gleichwohl spielen die Unionsgrundrechte in der Rspr des EuGH und des EuG eine ungleich geringere Rolle als die Grundfreiheiten (Rn 13). Insbesondere sind Maßnahmen des Gemeinschaftsgesetzgebers – anders als Vollzugsakte der EG-Kommission – bislang nur selten wegen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte für ungültig erklärt worden14 (wohingegen in Deutschland Parlamentsgesetze nicht selten vom BVerfG wegen eines Grundrechtsverstoßes für nichtig oder nicht vereinbar mit den Grundrechten erklärt werden).
3. Geltungsgrund der Unionsgrundrechte Da der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Rn 24 ff) noch keine Verbindlichkeit zukommt, beruhen die Unionsgrundrechte bislang nur teilweise auf geschriebenem Vertragsrecht, im Übrigen sind sie als allgemeine Rechtsgrundsätze auf der Grundlage des Art 220 S 1 EGV (Art 19 I 2 EUV-E) vom EuGH im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt worden. Die geschriebenen Rechte haben – abgesehen von den Grundfreiheiten (Rn 13) – punktuellen Charakter und betreffen insb das Gleichheitsgebot, die Unionsbürgerrechte (Art 18 ff, 255 EGV/21 ff, 15 AEUV) und Verfahrensrechte.15 Die geschriebenen Gleichheitsrechte verbürgen nicht allgem einen Anspruch auf Gleichbehandlung, sondern verbieten in bes Fällen (zB Art 31, 72, 90, 294 EGV/37, 92, 110, 55 AEUV) oder allgem (Art 12 EGV/18 AEUV) eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus wenden sie sich gelegentlich auch gegen andere Ungleichbehandlungen. So garantiert Art 141 EGV (Art 157 AEUV) Männern und Frauen mit unmittelbarer Wirkung16 ein gleiches Entgelt bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit.17 Soweit geschriebene Rechte bestehen, gehen diese den ungeschriebenen vor. Fehlt es an geschriebenen Gewährleistungen, basiert die Anerkennung der Unionsgrundrechte auf dem Richterrecht des EuGH (und des EuG). Der Gerichtshof leitet die Unionsgrundrechte im Wesentlichen aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten18 sowie aus den völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte19 her. In letzterer Hinsicht stützt er sich maßgeblich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die zu ihrer Auslegung ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).20 Zur EMRK sind neben
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EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. Vgl BVerfG 37, 271 ff – Solange I. So auch Craig/de Búrca EU, 389 ff. Vgl EuGH, Slg 2005, I-10432 – ABNA Ltd ua; DVBl 2009, 175 ff – Kadi (Fall 2). Vgl aber auch Art 17 AEUV (Achtung der korporierten Religionsfreiheit). EuGH, Slg 1976, 455, Rn 4 ff – Defrenne II. Vgl auch Art 34 II 2 EGV (Art 40 II 2 AEUV). Erstmalig EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. Vgl Craig/de Búrca EU, 346 ff; Tridimas The general principles of EC law, 2. Aufl, 2007, 301 ff. Erstmalig EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold. Vgl etwa die Übersicht bei Stumpf in: Schwarze, EUV, Art 6 EUV Rn 15 ff.
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den Gewährleistungen der Art 1 bis 14 EMRK auch die Garantien der Zusatzprotokolle zu rechnen, jedenfalls soweit diese von den Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.21 Die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK stellen keine Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts dar, sondern fungieren als Rechtserkenntnisquellen, aus denen der EuGH auf der Grundlage einer wertenden Rechtsvergleichung 22 die Unionsgrundrechte gewinnt. Dies lässt dem Gerichtshof einen erheblichen Gestaltungsspielraum. So kommt es für die Feststellung gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen nicht darauf an, was die Mehrheit der Mitgliedstaaten übereinstimmend anordnet. Auch ist weder der maximale 23 noch gar der minimale Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten entscheidend.24 Vielmehr soll gelten, „was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach der rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt“.25 Tritt die Charta der Grundrechte der EU in Kraft und knüpft diese an einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten an (Rn 60, 66), ist diesen allerdings in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Art 52 VI GRCh). Im Zweifel orientiert sich der EuGH an der EMRK26 (auch weil es nicht ganz einfach sein dürfte, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu ermitteln 27, in Gestalt der EMRK ein einheitlicher Normtext zur Verfügung steht, alle Mitgliedstaaten der EG die EMRK unterzeichnet und ratifiziert haben und an die Rspr des EGMR angeknüpft werden kann). Doch spielt die – die Verzahnung von Unionsgrundrechten und nationalen Grundrechten zum Ausdruck bringende – Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen vor allem dann eine Rolle, wenn die EMRK ein bestimmtes Grundrecht – zB die Berufsfreiheit28 – nicht garantiert.29 Nachdem das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission der Gemeinschaft bereits im Jahre 1977 eine Gemeinsame Erklärung über die Geltung von Grundrechten abgegeben haben30 und von dem Europäischen Parlament in den Jahren 1989 und 1994 Vorschläge für Grundrechtskataloge vorgelegt worden waren31, ist in den Vertrag von Maastricht (Art 5 II EUV aF) eine Bestimmung aufgenommen worden, wonach die Union (dh die Europäischen Gemeinschaften, die GASP und die PJZS als die drei Säulen 21 Näher dazu Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290, 328 f. 22 Vgl Pernice NJW 1990, 2409, 2414; Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 63. 23 Vgl aber auch EuGH, Slg 1974, 491, Rn 13 – Nold, wonach der Gerichtshof „keine Maßnahmen als Rechtens anerkennen (kann), die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten“. Vgl auch EuGH, Slg 1982, 1575, Rn 18 – AM; Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst. 24 Ausf hierzu Tridimas (Fn 18) S 311 ff. 25 So bereits Zweigert RabelsZ 28 (1964), 601, 611. Vgl auch Streinz ER, Rn 762 ff. 26 Vgl EuGH, Slg 2007, I-5305, Rn 29 – Ordre des barreaux francophones; DVBl 2009, 175 ff, Rn 283 – Kadi (Fall 2). 27 Näher dazu die Beiträge in: Tettinger/Stern, GRCh. 28 Zu einer Teilgewährleistung – Verbot der Zwangsarbeit – vgl Art 4 II EMRK (Art 5 II GRCh). 29 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, passim. 30 ABl EG 1977 Nr C 103/1. 31 Vgl ABl EG 1989 Nr C 120/51; ABl EG 1994 Nr C 91/155. Alle genannten Erklärungen haben vorwiegend politischen Charakter. Rechtliche Bedeutung könnte ihnen insofern zukommen, als sie zur Entstehung von Gewohnheitsrecht iSv Art 31 III lit b WVK beizutragen vermögen. Vgl aber auch EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 15 – Hauer; Slg 1996, I-1759, Rn 32 – Gutachten 2/94.
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der Union32) die Grundrechte achtet, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgem Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Seit dem Vertrag von Amsterdam findet sich die Normierung – ergänzt um eine Zuständigkeitsregelung zugunsten des EuGH (Art 46 lit d EUV) – in Art 6 II EUV. Damit ist eine Grundrechtsbindung der gesamten Union ausdrücklich fixiert worden. Die Folgen für die EG halten sich indessen in Grenzen. Zunächst ist die Bestimmung des Art 6 II EUV nicht Bestandteil der Gemeinschaftsverträge geworden, wirkt also nur kraft einfachen Völkerrechts.33 Des Weiteren ändert sich nichts an dem Charakter der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK als bloße Rechtserkenntnisquellen für das Gemeinschaftsrecht. Eine unmittelbare Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die EMRK scheidet ohnehin aus, solange die EMRK bisher nur für Mitglieder des Europarats 34 (und damit für Staaten 35) zur Unterzeichnung aufliegt und den Gemeinschaften (noch) die Zuständigkeit fehlt, der EMRK förmlich beizutreten 36 (zu den rechtspolitischen Bestrebungen vgl → § 2 Rn 18). Auch eine einseitige strikte Bindung an die EMRK (und die dazu ergangene Rspr des EGMR) lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen (weil sich eine solche nicht mit der Verpflichtung zur bloßen „Achtung“ der Menschenrechte sowie der gleichzeitigen Bindung an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verträgt; → § 2 Rn 18). Schließlich sind die Kompetenzen des EuGH in Bezug auf die Grundrechtsbindung der Gemeinschaften nicht verändert worden (wie neben Art 46 lit d auch Art 47 EUV zeigt). Nach wie vor ist die materielle Herleitung der Unionsgrundrechte daher (noch) dem EuGH (und dem EuG) auf der Grundlage des Art 220 S 1 EGV (Art 19 I 2 EUV-E) aufgetragen.37 Anders wird sich die Rechtslage darstellen, wenn der Vertrag von Lissabon (Rn 2) in Kraft tritt, weil die EMRK und gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten dann als allgem Grundsätze „Teil des Unionsrechts“ werden (Art 6 III EUV-E), die Union der EMRK beitritt (Art 6 II EUV-E) und zudem (und vor allem) mit der Charta der Grundrechte (Rn 24 ff) auf einen verbindlichen Grundrechtskatalog festgelegt wird.
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4. Verhältnis der Unionsgrundrechte zu anderen grundrechtlichen Gewährleistungen Die Unionsbürger werden nicht nur durch die Unionsgrundrechte, sondern auch durch die Grundfreiheiten des EGV, die Verbürgungen der EMRK und die nationalen Grundrechte geschützt. Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Garantien zueinander stehen.
32 Vgl Art 1 III, Art 11 ff, 29 ff EUV (Art 20 ff AEUV). 33 Str, aA Cirkel Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, 27; Pechstein/Koenig EU, Rn 117. 34 Art 59 I 1 EMRK. Vgl aber auch Art 17 14. ZP EMRK v 13.5.2004 (noch nicht ratifiziert), wonach Art 59 EMRK um ein Beitrittsrecht der EU ergänzt wird. 35 Vgl Art 4 der Satzung des Europarates v 5.5.1949 (BGBl I 1950, 263 ff). 36 Vgl EuGH, Slg 1996, I-1759, Rn 36 – Gutachten 2/94; vgl aber auch Art 6 II EUV-E, wonach die Union der EMRK beitritt. 37 Im Ergebnis ebenso Herrnfeld in: Schwarze, EUV, Art 46 EUV Rn 13 ff.
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a) Verhältnis zu den Grundfreiheiten 13
Die primärrechtlich garantierten Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts (→ § 7) stellen nach hM sowohl Diskriminierungs- als auch Beschränkungsverbote dar (→ § 7 Rn 22 ff). Man kann sie daher als bes Formen des grundrechtlichen Gleichbehandlungsgebots und der grundrechtlichen Freiheitsrechte ansehen (Unionsgrundrechte iwS). Eigengearteten Charakter haben die Grundfreiheiten deshalb, weil sie sich in mehrfacher Hinsicht von den Unionsgrundrechten unterscheiden. So geht es ihnen – anders als den Unionsgrundrechten – in erster Linie um die Schaffung eines Binnenmarktes (Art 3 I lit c, Art 14 II EGV/26 II AEUV) und nicht so sehr um die Gewährleistung individueller Freiheit. Ferner wenden sie sich primär an die Mitgliedstaaten, während die Unionsgrundrechte auch und gerade die EU im Blick haben (vgl Art 51 I GRCh). Zudem ist der Kreis der Berechtigten und Verpflichteten nicht identisch. So gehören zu den Trägern der Grundfreiheiten auch staatliche Einrichtungen, zu den Verpflichtungsadressaten auch Private (→ § 7 Rn 42, 52). Beides trifft auf die Unionsgrundrechte nicht zu (Rn 44, 54). Vor allem aber kommen die Grundfreiheiten anders als die Unionsgrundrechte nur bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zur Anwendung (→ § 7 Rn 23 ff, 29). Ob die Kategorie der Grundfreiheiten irgendwann einmal als „eine Art Eierschale der EU-Evolution“ abgelegt werden kann,38 bleibt abzuwarten. Auf absehbare Zeit ist damit nicht zu rechnen. Auch bedürfte es dann weiterer Bestimmungen der Grundrechte über deren Anwendungsbereich und Schranken in den Fallgestaltungen, die bisher von den Grundfreiheiten erfasst werden. Keineswegs kann das in den Grundfreiheiten enthaltene Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts ersatzlos zugunsten einer Bindung aller Maßnahmen der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte aufgegeben werden, weil die Unionsgrundrechte ansonsten auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschafts- bzw Unionsrechts gelten und den nationalen Grundrechtsschutz weitgehend verdrängen würden. Den Wegfall der Grundfreiheiten bei gleichzeitiger Aufnahme ihres Regelungsgehalts in die Unionsgrundrechte hätte nur formale, nicht inhaltliche Bedeutung. Die Unionsgrundrechte und die Grundfreiheiten haben als primärrechtliche Verbürgungen gleichen Rang. Soweit die Unionsgrundrechte und die Grundfreiheiten ein gleiches Gut schützen, gehen Letztere als speziellere und ausdrücklich in die Verträge aufgenommene Gewährleistungen den Unionsgrundrechten vor (→ § 7 Rn 18).39 Art 15 II GRCh enthält für bestimmte Grundfreiheiten de lege ferenda eine grundrechtliche Doppelung. Doch sind auch insoweit die Grundfreiheiten entscheidend. Insbesondere gelten deren Schranken (Art 52 II GRCh).40 Die Spezialität der Grundfreiheiten schließt nicht aus, dass der Schutzgehalt der verschiedenen Gewährleistungen konkurrierend zur Anwendung gelangt. Dies ist der Fall, wenn ein Verhalten in den Schutzbereich der Grundfreiheiten fällt und sich die an sich zulässige Beschränkung der Grundfreiheiten an den Unionsgrundrechten messen lassen muss, weil die Schranken „im Lichte der (Unions-)Grundrechte auszulegen
38 So Dreier in: ders (Hrsg), GG, Bd I, 2. Aufl 2004, Vorb Rn 49. Für eine klare Trennung von Grundfreiheiten und Grundrechten Gebauer Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, 346 ff. 39 Vgl aA Kingreen EuGRZ 2004, 570, 575, der davon ausgeht, dass Grundfreiheiten und Grundrechte aufgrund der funktionalen Unterschiede keine Schnittmenge haben. 40 Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 15 Rn 20; krit Kingreen EuGRZ 2004, 570, 574.
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sind“.41 Die Unionsgrundrechte verstärken dann in ihrer Funktion als SchrankenSchranke bzw als Auslegungsregeln für die Interpretation der Schrankenregelungen die durch die Grundfreiheiten selbst gewährten Garantien und entfalten eine den Binnenmarkt fördernde integrationsfreundliche Wirkung (→ § 7 Rn 105). Andererseits können Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten auch in ein Spannungsverhältnis (bzw in Kollision) zueinander geraten. Dies ist der Fall, wenn und soweit sie unterschiedliche Rechtsgüter schützen. Eine solche Konstellation ist gegeben, wenn eine durch die Grundfreiheiten geschützte Betätigung im Einzelfall dem Wertgehalt eines Unionsgrundrechts nicht gerecht wird: zB die Freiheit des Warenverkehrs dazu benutzt wird, persönlichkeitsverletzende Schriften über die Grenze zu verbringen. Es bedarf dann einer verhältnismäßigen Zuordnung der freiheitsrechtlich geschützten unterschiedlichen Rechtsgüter im Rahmen einer Interpretation der Schrankenregelungen. Da sich aus den Unionsgrundrechten eine Schutzpflicht ergeben kann (Rn 35), ist ein Mitgliedstaat zur Wahrnehmung dieser Schutzpflicht uU sogar gehalten, die Ausübung einer Grundfreiheit zu beschränken.42 In der Rspr des EuGH ist diese Dimension lange Zeit nicht entfaltet worden. Einer ausgereiften Prüfung der Unionsgrundrechte als Schranken-Schranke der Grundfreiheiten stand eine unterentwickelte Prüfung der Unionsgrundrechte als Schranke der Grundfreiheiten gegenüber.43 So hat der EuGH in seiner Bosman-Entscheidung44, in der es um die Zulässigkeit des europäischen Transfer-Systems im Profi-Fußball ging, der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 39 EGV/45 AEUV) unmittelbare Drittwirkung gegenüber den (privaten) Fußball-Verbänden zuerkannt (→ krit § 7 Rn 53; → vgl auch § 9 Rn 46), ohne zu einer Abwägung mit der in Art 11 EMRK/12 GRCh geschützten Vereinigungsfreiheit vorzudringen. In der neueren Zeit hat der EuGH aber mehrfach anerkannt, dass die Unionsgrundrechte die Grundfreiheiten beschränken können. So wurde in der Schmidberger-Entscheidung das staatliche Nichteinschreiten gegen eine Blockade der Brenner-Autobahn trotz der damit verbundenen Einschränkung der Freiheit des Warenverkehrs für zulässig erachtet, weil die Demonstranten von der durch Art 10 und 11 EMRK (sowie durch die österreichische Verfassung 45) gewährleisteten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben.46 Ebenso hat der EuGH in seiner Omega-Entscheidung das die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigende Verbot von sog Laserdromes wegen der (von den deutschen Gerichten angenommenen) Verletzung der Menschenwürde als gerechtfertigt eingestuft.47 b) Verhältnis zu den Grundrechten der EMRK Ist die EMRK derzeit noch keine Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts, sondern nur eine Rechtserkenntnisquelle für die Gewinnung von Unionsgrundrechten (Rn 8, 10), vermag sie keine unmittelbaren Bindungswirkungen im Gemeinschaftsrecht zu erzeugen. Der
41 Vgl EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Slg 1997, I-3689, Rn 24 – Familiapress = JK 2/98, EGV Art 30/1 = Fall 4 (Rn 46). 42 Vgl EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 23 – Stichting. 43 Schindler Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001, 125 ff. 44 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 92 ff – Bosman. 45 Zum Verhältnis von Unionsgrundrechten und nationalen Grundrechten in diesem Falle vgl Kadelbach/Petersen EuGRZ 2002, 213 ff; Schorkopf ZaöRV 2004, 125, 133 ff. 46 EuGH, Slg 2003, I-5694 Rn 77 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3 (→ § 8 Rn 16). 47 Vgl EuGH, Slg 2004, I-9609 Rn 40 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13 (→ § 7 Rn 107).
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EuGH scheint gleichwohl bereit zu sein, die Führungsrolle des EGMR in Grundrechtsfragen zu akzeptieren.48 Kommt es auf die Grundrechte an, die auch in der EMRK verbürgt sind, und liegt hierzu eine Rspr des EGMR vor, orientiert sich der EuGH an dieser.49 Im Zweifel wird den Unionsgrundrechten damit ein Inhalt beigemessen, der mit den in der EMRK eingegangenen (älteren50) Verpflichtungen der Mitgliedstaaten vereinbar ist.51 Umgekehrt sieht der EGMR den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Schutz der Grundrechte als prinzipiell gleichwertig mit der EMRK an und leitet daraus die (im Einzelfall widerlegbaren) Vermutungen ab, dass sich ein Konventionsstaat seiner Bindung an die EMRK nicht entzieht, wenn er lediglich den rechtlichen Verpflichtungen nachkommt, die sich für ihn aus seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft ergeben (→ § 2 Rn 45). Zudem wirkt auch das Gemeinschaftsrecht auf die EMRK ein. ZB ist der Ausländerbegriff des Art 16 EMRK wegen der Unionsbürgerschaft bei der Ausübung der Rechte nach den Art 10, 11 und 14 EMRK im Zusammenhang mit Wahlen zum Europäischen Parlament (Art 190 EGV/14 EUV-E) bzw zur kommunalen Volksvertretung (Art 19 EGV/22 AEUV) auf Drittstaatsangehörige zu reduzieren.52 Ferner sind die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsbehelfe als „innerstaatlich“ iSd Art 35 I EMRK anzusehen.53 Trotz dieser Konvergenzbestrebungen lassen sich unterschiedliche Grundrechtsverständnisse nicht ausschließen (zumal, wenn es um Einzelfallbeurteilungen geht oder noch keine Entscheidung des EGMR vorliegt). Anders wird sich die Rechtslage darstellen, wenn der Vertrag von Lissabon (Rn 2) in Kraft tritt. So weist nicht nur die Präambel der Charta der Grundrechte der EU auf die EMRK hin. Vielmehr bestimmt Art 52 III GRCh, dass die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen und die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Welche Unionsgrundrechte den EMRK-Rechten entsprechen, ist in den Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents (Rn 27) aufgelistet worden. Danach entsprechen sich die Unionsgrundrechte der Art 2/Art 2 EMRK, Art 4/Art 3 EMRK, Art 5 I, II/Art 4 EMRK, Art 6/Art 5 EMRK, Art 7/Art 8 EMRK, Art 10 I/Art 9 EMRK, Art 11/Art 10 EMRK54, Art 17/Art 1. ZP EMRK, Art 19 I/Art 4 4. ZP EMRK, Art 19 II/Art 3 EMRK, Art 48/Art 6 II, III EMRK und Art 49 I55, II/Art 7 EMRK. Andere Rechte der Charta entsprechen zum Teil der EMRK (Rn 33). Das Präsidium nennt die Art 9/Art 12 EMRK, Art 12 I/Art 11 EMRK, Art 14/Art 2 1. ZP EMRK, Art 28/Art 11 EMRK, Art 47 I/ Art 13 I EMRK, Art 47 II/Art 6 I EMRK und Art 50/Art 4 7. ZP EMRK. In der Literatur wird vielfach davon ausgegangen, dass die Transfer- respektive Konkurrenz- oder Kohärenzregelungen des Art 52 III GRCh nichts an dem bloßen Rechtserkenntnisquellen-
48 Tridimas (Fn 18) S 343. 49 Vgl zB EuGH, Slg 1996, I-2143, Rn 16 – P./S.; Slg 2003, I-5659, Rn 79 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3 (→ § 8 Rn 16); Slg 2006, I-5769, Rn 54 ff – Parlament/Rat; Jarass GR, § 2 Rn 22; Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 2 Rn 23. 50 Vgl Art 307 I EGV (Art 351 AEUV). 51 Vgl Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290, 331. 52 Grabenwarter VVDStRL 60 (2000), 290, 333. 53 EGMR, Application Nr 13539/88 – Dufay. 54 Unbeschadet der Einschränkungen, mit denen das Unionsrecht das Recht der Mitgliedstaaten auf Einführung der in Art 10 I S 3 EMRK genannten Genehmigungsverfahren eingrenzen kann. 55 Mit Ausnahme des letzten Satzes.
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charakter der EMRK für die Unionsgrundrechte ändere.56 Dem könnte aber entgegenstehen, dass die Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, nach Art 6 III EUV-E als allgem Grundsätze „Teil des Unionsrechts“ sind. Jedenfalls wenn die EU der EMRK beitritt (Art 6 II EUV-E), wird Letztere unmittelbar Bestandteil des Unionsrechts. Eine Gleichsetzung der sich entsprechenden Unions- und EMRK-Rechte ist auch dann nicht angebracht. Zum einen wird ein weitergehender Schutz der (sich auch aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten speisenden) Unionsgrundrechte ausdrücklich nicht ausgeschlossen (Art 52 III 2 GRCh), während keine Bestimmung der Charta als eine Einschränkung oder Verletzung der EMRK-Rechte ausgelegt werden darf (Art 53 GRCh). Somit bildet der Standard der EMRK nur, zugleich aber auch immer, die Untergrenze.57 Zum anderen ist es Sache des EuGH (dh des Gerichtshofs, des Gerichts und der Fachgerichte58), selbstständig über die Auslegung und Anwendung der Unionsgrundrechte zu entscheiden, solange die Rspr des EGMR bei der Bestimmung des sich aus der EMRK ergebenden Mindestgehalts berücksichtigt wird.59 Tritt die EU der EMRK mit konventionsverbindlicher Wirkung bei 60, hat dies zur Folge, dass gegen Entscheidungen des EuGH Beschwerde beim EGMR gegen Verletzungen der EMRK eingelegt werden kann. Der Verweis der Charta der Grundrechte der EU auf die EMRK dürfte nicht statisch (EMRK-Recht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung), sondern dynamisch gemeint sein (Einbeziehung auch der künftigen Veränderungen).61 So spricht Art 52 III GRCh davon, dass die der EMRK entsprechenden Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention „verliehen wird“ (nicht verliehen worden sind). Auch im Völkerrecht stoßen dynamische Verweisungen zwar auf Bedenken, weil die Bindungswirkungen nicht vorhersehbar sind.62 Doch kann dies in Kauf genommen werden, wenn und soweit man davon ausgeht, dass sich die Verweisung nur auf künftige Konventionsrechte bezieht, an deren Begründung alle Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind.63 Unbedenklich ist eine dynamische Verweisung, wenn man in der EMRK auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nur eine Rechtserkenntnisquelle sieht.
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c) Verhältnis zu den Grundrechten des Grundgesetzes Fall 1: (BVerfGE 102, 147) Auf der Grundlage einer Bananenmarkt-VO der EG ist die Einfuhr von Bananen aus Drittstaaten in die Gemeinschaft drastisch reduziert worden. Ein deutscher Importeur von Bananen aus solchen Staaten erhob gegen einen auf der Grundlage dieser VO erlassenen Kontingentierungsbescheid Klage vor einem deutschen VG. Der vom VG im Wege einer Vorab-
56 57 58 59 60 61 62 63
Vgl Jarass GR, § 2 Rn 20; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 GRCh Rn 19 ff. Vgl auch Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 566; Craig/de Búrca EU, 385 f. Art 19 I EUV-E. Näher dazu Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 52 GRCh Rn 3; Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 52 Rn 37; v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 58. Vgl Rn 10; → § 2 Rn 18. Vgl auch Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 52 Rn 37. Allg zu dynamischen Verweisungen BVerfGE 47, 285, 311 ff; Clemens AöR 111 (1986), 63, 100 ff. Vgl bereits zum geltenden Recht auch EuGH, Slg 2002, I-9011, Rn 23 – Roquette Frères.
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entscheidung angerufene EuGH hat entschieden, dass keine Bedenken gegen die Gültigkeit der VO bestehen (Slg 1995, I-3799 ff – Atlanta). Daraufhin hat das VG dem BVerfG gemäß Art 100 I GG die Frage vorgelegt, ob die VO mit Art 14 I, 12 I und 3 I GG vereinbar ist.
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Gemeinschaftsrecht kann grds nicht am Maßstab des nationalen Rechts gemessen werden. So liegt es nicht im Rahmen der deutschen Gerichtsgewalt, über die Gültigkeit von Handlungen der EG-Organe zu befinden.64 Streitig ist, ob dies auch für die Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht im nationalen Rechtskreis gilt. Dies hängt davon ab, ob der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht uneingeschränkt gilt. Der EuGH bejaht dies in stRspr (Rn 4), weil ansonsten die Geltung und Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung in Frage gestellt wäre. Gemeinschaftsakte können danach nur an den Unionsgrundrechten, nicht aber an den nationalen Grundrechten gemessen werden. Die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten sehen dies vielfach anders. So darf die Bundesrepublik Deutschland nach der Solange-Rspr des BVerfG65 nur innerhalb bestimmter Grenzen, die (heute) in Art 23 I GG umschrieben sind, Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Nehmen die Gemeinschaften Kompetenzen wahr, die ihnen nicht übertragen worden sind (Grenze des Nichtübertragenen), oder verletzt das Gemeinschaftsrecht den nach Art 23 I 1, 3 GG iVm Art 79 II und III GG unabdingbaren Standard des Grundgesetzes (Grenze des Nichtübertragbaren), ist das Gemeinschaftsrecht bei Zugrundelegung der Rspr des BVerfG in der Bundesrepublik Deutschland nicht anwendbar. Vielfach wird hierfür das Bild einer Brücke nach Europa bemüht, auf der das BVerfG als Wächter steht, um die Einhaltung der genannten Anforderungen zu garantieren. Zum unabdingbaren, die Identität der geltenden Verfassungsordnung ausmachenden Standard des Grundgesetzes gehört ein ausreichender Grundrechtsschutz. Während das BVerfG in seiner Solange I-Entscheidung einen solchen Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene noch vermisst hat, anerkennt es seit seiner Solange II-Entscheidung, dass im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen sei, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei. Deshalb werde das Gericht erst und nur dann im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht generell nicht mehr gewährleistet sei.66 Auch Art 23 I 1 GG verlangt nur einen „im Wesentlichen vergleichbaren“ Grundrechtsschutz. Diese Hürde ist so hoch angesetzt, dass mit einer Überprüfung des (sekundären oder gar primären) Gemeinschaftsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte
64 Vgl BVerfGE 22, 293, 295 ff; 37, 271, 281 f, wonach Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Gemeinschaftsrecht unzulässig sind. Demgegenüber aber BVerfGE 89, 155, 175; BVerfG-K, DVBl 2001, 1130 f, wonach das BVerfG nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen, sondern Grundrechtsschutz in Deutschland zu gewährleisten hat (dh wenn ein Akt Rechtswirkungen in Deutschland entfaltet). Näher zum Ganzen Dörr Der europäische Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, 176 ff; Walter AöR 129 (2004), 39 ff. 65 Vgl BVerfGE 37, 271, 277 ff – Solange I; 73, 339, 375 f, 387 – Solange II = JK 9/87, GG Art 24 I/1. 66 Vgl auch BVerfGE 89, 155, 174 f – Maastricht = JK 5/94, GG Art 23/1; 102, 147, 162 ff – Bananenmarkt; 118, 79, 95 – Treibhausgas-Immissionsberechtigungen = JK 1/08, ZuG § 12/1. Näher zu der Rspr Nettesheim Jura 2001, 686 ff.
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kaum noch gerechnet werden kann. Das BVerfG spielt die Rolle eines „Reservisten“ ohne ernsthafte Aussicht auf Spieleintritt.67 Dagegen sind die deutschen Umsetzungs- oder Vollzugsakte von Gemeinschaftsrecht an den deutschen Grundrechten zu messen.68 Dies ist allerdings nur bedeutsam, wenn ein Spielraum besteht. Soweit die Umsetzungs- oder Vollzugsakte auf zwingendes Gemeinschaftsrecht zurückgehen, greift – jedenfalls in den Grenzen der Solange-Rspr des BVerfG – der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit der Folge ein, dass kollidierendes nationales Recht, einschließlich der Grundrechte, nicht angewendet werden darf.69 Bestehen bleibt die Bindung der Gemeinschaftsrechtsakte an die Unionsgrundrechte. Lösung Fall 1: Tauglicher Gegenstand einer Vorlage nach Art 100 I GG können grundsätzlich nur deutsche Gesetze sein. Doch sind Vorlagen zur Prüfung, ob sekundäres Gemeinschaftsrecht in Deutschland angewendet werden darf, dann „entsprechend Art 100 I GG“ zulässig, wenn ihre Begründung im Einzelnen darlegt, dass die gegenwärtige Rechtsentwicklung zum Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, insb die Rspr des EuGH, den jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet. Das BVerfG verweist hierbei auf seine Solange II-Entscheidung, an der die Maastricht-Entscheidung nichts geändert habe. Auch Art 23 I 1 GG verlange keinen deckungsgleichen Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des GG durch das Gemeinschaftsrecht, sondern begnüge sich mit einem dem GG im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz. Dem VG sei es nicht gelungen darzulegen, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rspr des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung generell unter den als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz abgesunken sei. Daher ist die Vorlage als unzulässig zurückgewiesen worden.
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5. Verhältnis der Unionsgrundrechte zu den internationalen Verpflichtungen Fall 2: (EuGH, DVBl 2009, 175 ff – Kadi = JK 6/09, EGV Art 301). Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mehrere Resolutionen auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta verabschiedet. Darin ist ua vorgesehen, dass die Staaten verpflichtet sind, Gelder und andere wirtschaftliche Ressourcen von Unterstützern des Terrorismus „einzufrieren“. Der Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen hat die natürlichen und juristischen Personen sowie Einrichtungen, die als Unterstützer gelten, namentlich benannt. Daraufhin hat der Europäische Rat (Art 4 EUV) eine VO erlassen, welche die Einfrierung der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen unter Nennung der als Unterstützer angesehenen Personen und Organisationen anordnet. Der in der Liste aufgeführte K hat Nichtigkeitsklage gegen die VO erhoben und sich ua auf eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie seines Eigentumsgrundrechts berufen. Nach Abweisung der Klage durch das EuG (Slg 2005, II-3649) wendet sich K mit einer Rechtsmittelbeschwerde an den EuGH.
67 So der (frühere) Bundesverfassungsrichter Steiner FS Maurer, 2001, S 1005, 1013 mit Fn 43. 68 BVerfG, DVBl 2009, 178, 179. 69 BVerfGE 118, 79, 95 f. Zur Nichtanwendbarkeit (statt Ungültigkeit) des mit Gemeinschaftsrecht kollidierenden nationalen Rechts vgl EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 19 – Nimz; BVerfGE 75, 223, 244; 85, 191, 204.
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Zunehmend übernimmt die EG aufgrund einer internationalen Übereinkunft Verpflichtungen und setzt diese in eigene Rechtsakte um. Wie die sonstigen Maßnahmen der Gemeinschaft oder Union sind solche Akte nur gültig, wenn sie mit den Unionsgrundrechten vereinbar sind.70 Umstr war, ob dies auch auf die Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (zB zur Verhängung eines Embargos71 oder zum Einfrieren von Geldern und sonstigen finanziellen Vermögenswerten zwecks Bekämpfung des Terrorismus 72) zutrifft. Das EuG hat angenommen, dass eine EU-VO zur Einfrierung von Finanzmitteln betr die Taliban von Afghanistan dann nicht von der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit am Maßstab der Unionsgrundrechte überprüft werden darf, wenn die VO eine Resolution des Sicherheitsrates umsetzt und diese eine Liste der betroffenen Personen und Organisationen enthält. Zulässig sei nur die Überprüfung zwingenden Völkerrechts (ius cogens).73 Der EuGH ist dieser Betrachtungsweise zu Recht nicht gefolgt, weil die Gemeinschaftsgerichte eine „grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Gemeinschaft im Hinblick auf die Grundrechte als Bestandteil der allgem Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gewährleisten müssen“ 74 (Fall 2). Lösung Fall 2: Die Nichtigkeitsklage ist zulässig, weil die angegriffene VO der EG K unmittelbar und individuell betrifft (Art 230 IV EGV/263 IV AEUV). Der Ansicht des EuG, dass Gemeinschaftsrechtsakte, die die Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit Namenslisten75 umsetzen wegen der völkerrechtlichen Bindungswirkung einer gerichtlichen Kontrolle der Gemeinschaftsgerichte nur insoweit unterliegen, als es um die Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen Normen des ius cogens geht, ist der EuGH zu Recht nicht gefolgt. Grundrechte sind integraler Bestandteil der allgem Rechtsgrundsätze (Art 6 II EUV/6 III EUV-E), deren Wahrung die Gemeinschaftsgerichte zu sichern haben. Das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts schließt Rechtsschutz nicht aus, zumal dem UN-Recht dieses Erfordernis nicht entnommen werden kann. Die Möglichkeit, vom Gemeinschaftsrecht zugunsten völkerrechtlicher Verpflichtungen abzuweichen (Art 297, 301 EGV/347, 215 AEUV) entbindet nicht von der Beachtung der Unionsgrundrechte. Würde man die Verpflichtungen aus der UN-Charta in die Normenhierarchie der Gemeinschaftsrechtsordnung einfügen, hätten sie zwar Vorrang vor dem Sekundär-, nicht aber vor dem Primärrecht (Art 300 VII EGV). Der Rechtsschutz durch die Vereinten Nationen selbst genügt nicht den Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes. Er ist im Wesen diplomatischer Natur. Da K nicht in der Lage war, sich gegen die Aufnahme in die Liste der VO zu wehren, verletzt diese sowohl seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz als auch das Recht auf Achtung des Eigentums (vgl Art 1 1. ZP EMRK/ 17 GRCh).
70 Wie sich aus Art 300 VI 2, VII EGV (218 XI 2, 216 II AEUV) ergibt, sind die von der EG abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge zwar Bestandteile des Gemeinschaftsrechts, gehen aber nicht dem Primärrecht (und damit auch nicht den Unionsgrundrechten) der Gemeinschaft vor. 71 Vgl dazu Streinz ER, Rn 723 ff. 72 Sog „smart sanctions“ oder „targeted sanctions“ (vgl Fall 2). 73 Vgl EuG, Slg 2005, II-3649, Rn 221 ff – Kadi; Slg 2005, II-3533, Rn 272 ff – Yusuf. Vgl dazu v Danwitz, DVBl 2008, 537 ff. Allg zum ius cogens Stein/v Buttlar VR, Rn 147 ff. 74 EuGH, DVBl 2009, 175 ff, Rn 326 – Kadi. 75 Anders dürfte das EuG entschieden haben, falls die Resolution den Gemeinschaftsorganen einen Umsetzungsspielraum gibt, vgl EuG, Slg 2005, II-3649, Rn 258 – Kadi; Slg 2005, II-3533, Rn 328 – Yusuf.
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6. Charta der Grundrechte der Europäischen Union Der Umstand, dass es keinen geschriebenen Katalog von Unionsgrundrechten gibt und der EuGH die Grundrechte im Einzelfall 76 idR erst ausformen muss, ist weithin auf Kritik gestoßen. Gefordert wurde die Schaffung eines Grundrechtskatalogs (→ § 1 Rn 34).77 Der Europäische Rat (Art 4 II EUV) hat deshalb im Jahre 1999 einen Konvent aus Repräsentanten der Staats- und Regierungschefs, des Kommissionspräsidenten, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente (unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundes- und Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Herzog) damit beauftragt, einen entsprechenden Katalog auszuarbeiten. Auf seinem Treffen in Nizza hat er am 7.12.2000 die vorgelegte Charta der Grundrechte der Europäischen Union78 proklamiert. Rechtliche Verbindlichkeit kam der Proklamation nicht zu. In Laeken wurde mit Erklärung vom 15.12.2001 ein Verfassungskonvent unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing eingesetzt und mit dem Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa beauftragt. Der Verfassungsvertrag, der die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ohne nähere Diskussion in seinem Teil II nahezu unverändert übernommen hat, ist zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten unterzeichnet worden, aber nicht in Kraft getreten, nachdem sich Frankreich und die Niederlande in Volksabstimmungen aus Gründen, welche nicht die Charta betrafen, dagegen ausgesprochen haben (und die Ratifizierung in einigen weiteren Staaten unsicher erschien). Der an die Stelle des Vertrages über eine Verfassung für Europa getretene Vertrag von Lissabon (Rn 2) hat die Charta durch Bezugnahme auf sie erneut verbindlich in das Vertragsrecht (Primärrecht) der EU inkorporiert (Rn 2), ist aber ebenfalls bisher nicht in Kraft getreten. Dennoch entfaltet die Charta der Grundrechte bereits jetzt Vorwirkungen, weil sie den in den Mitgliedstaaten gewachsenen grundrechtlichen acquis communautaire zusammenfasst und daher als Konzentrat der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie als Ausdruck ihrer völkerrechtlichen Bindung an die EMRK angesehen werden kann. Dementsprechend pflegen sich sowohl das EuG 79 als auch die Generalanwälte 80 auf die Charta zu berufen. Auch der EuGH rekurriert auf die Charta (nicht iSe Rechtserkenntnisquelle, sondern iSe Bekräftigung der anerkannten Grundrechte 81). Nimmt das Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft auf die Charta Bezug,82 können sich hieraus Bindungswirkungen ergeben. Sonderregelungen über die Anwendung der Charta der Grundrechte sieht ein diesbezügliches (zum Primärrecht gehörendes) Protokoll zum Vertrag von Lissabon in Bezug auf Polen und das Vereinigte Königreich (VK) vor, dass umgangssprachlich (also juristisch
76 Vgl dazu Borchardt EU, Rn 183. 77 Andererseits ist der jetzige Zustand flexibler und zukunftsoffener (Zuleeg EuGRZ 2000, 511 ff). Auch lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, dass ein geschriebener Grundrechtskatalog (ungeachtet von Normen nach Art des Art 51 II GRCh) kompetenzerweiternde und unitarisierende Wirkungen haben wird. 78 ABl EG 2000 Nr C 364/1. 79 Vgl zB EuG, Slg 2002, II-313, Rn 57 – max.mobil. 80 Vgl zB GA Alber, Slg 2001 I-4109, Rn 94 – TNT; GA Mischo, Slg 2001, I-4319, Rn 97 – Schweden/Rat; GA Jakobs, Slg 2001, I-7079 Rn 197, 210 – Niederlande/Parlament. Vgl ferner die Nachw bei Triebel JURA 2003, 525 ff. 81 Szczekalla NVwZ 2006, 1019, 1020; Calliess JZ 2009, 113. 82 Vgl EuGH, Slg 2006, I-5769 = JK 1/07, EUV Art 6 II/1.
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nicht korrekt) vielfach als opt-out-Protokoll bezeichnet wird. Danach bewirkt die Charta keine Ausweitung der Befugnis des EuGH oder eines Gerichts Polens oder des VK zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des VKs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen (Art 1 I). Insbesondere werden mit Titel IV der Charta (Solidarität) keine für Polen oder das VK geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw das VK solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat (Art 1 II). Wird in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen, findet diese Bestimmung auf Polen und das VK nur in dem Maße Anwendung, indem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw des VK anerkannt sind (Art 2). Mit dem Protokoll sollte Bedenken Rechnung getragen werden, die sich im VK vor allem gegen die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte richteten, während Polen in erster Linie einen grundrechtlichen Schutz von Abtreibungsregelungen, homosexuellen Partnerschaften und Gebietsansprüchen deutscher Staatsbürger abwehren wollte.83 Die rechtliche Bedeutung des Protokolls dürfte gering sein.84 Zum einen will die Charta ohnehin nur die vom EuGH in Form allgem Rechtsgrundsätze anerkannten, alle Mitgliedstaaten bindenden Rechte „besser sichtbar“ machen, aber keine „neuen Rechte oder Grundsätze“ schaffen.85 Des Weiteren bestimmt Art 6 III EUV-E, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, auch unabhängig von der Charta als allgem Grundsätze (für die Mitgliedstaaten verbindlicher) Teil des Unionsrechts sind (Rn 11). Schließlich bezieht sich die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta nur auf die Durchführung des (vorrangig geltenden) Rechts der Union (Rn 53).86 Dieses Recht muss aber in jedem Falle mit den Unionsgrundrechten übereinstimmen. Die Auslegung der Charta-Rechte bestimmt sich nach den allgem gemeinschaftsspezifischen Auslegungsmethoden.87 Zusätzlich bestimmt Art 52 VII GRCh, dass die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta (vom Präsidium der Konvente, Rn 15) verfasst wurden, von den Gerichten der Union und den Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen sind.88 Wie sich auch aus dem Vorspann der Erläuterungen ergibt, haben diese „keinen rechtlichen Status, stellen jedoch eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen“. Soweit die Charta auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Bezug nimmt, ist diesen gem Art 52 VI GRCh in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Inhaltlich gliedert sich die 54 Artikel umfassende Charta in sieben Titel, die mit Würde des Menschen (Art 1–5 GRCh), Freiheiten (Art 6–19 GRCh), Gleichheit (Art 20–26 GRCh), Solidarität (Art 27–38 GRCh), Bürgerrechte (Art 39–46 GRCh), Justizielle Rechte (Art 47–50 GRCh) und Allgemeine Bestimmungen (Art 51–54 GRCh) umschrieben worden sind (zu den Einzelheiten vgl → §§ 15 ff). Die gewährten Rechtspositionen lehnen
83 Vgl Mehde EuGRZ 2008, 269, 271. 84 Ebenso Mehde EuGRZ 2008, 269, 271 ff. 85 6. Erwägung des Protokolls über die Anwendung der EuGRCh auf Polen und das Vereinigte Königreich. 86 Art 51 I 1 GRCh. 87 Vgl Borchardt EU, Rn 368 ff m w Nachw. 88 Abgedruckt in ABl EG 2007 C 303/17.
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sich den Garantien an, wie sie sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der EMRK (Rn 15) und den Grundfreiheiten, aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rspr des EuGH und des EGMR ergeben (Präambel der Charta). Stellt man auf die Gesamtheit der Rechtsquellen ab, kreiert die Charta nicht neue Grundrechte, sondern macht sie nur sichtbar und systematisiert sie. Vergleicht man die Gewährleistungen dagegen mit den Verbürgungen einzelner Rechtsquellen (zB nur der EMRK oder nur des GG), gehen sie zu einem nicht unerheblichen Teil darüber hinaus (zB Verbot des reproduktiven Klonens gem Art 3 II lit d GRCh, Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst gem Art 29 GRCh, Anspruch auf Elternurlaub gem Art 33 II GRCh). Zugleich wirft die Charta neue Fragen auf. So wird zwischen Rechten und Freiheiten einerseits (Art 52 I GRCh) und Grundsätzen (Art 51 I 2 GRCh sowie Präambel) andererseits unterschieden. Die Differenzierung zwischen Rechten und Freiheiten geht auf französische Traditionen zurück. Im Sinne der Charta stellen Freiheiten nur einen Unterfall der Rechte dar.89 Der Begriff des Rechts entspricht dem in Deutschland gebräuchlichen Terminus „subjektives Recht“. Darunter versteht die herrschende Schutznormlehre eine Verhaltenspflicht, die nicht ausschließlich der Verwirklichung von öffentlichen Interessen, sondern zumindest auch dem Schutz Einzelner dient und den Betroffenen die Rechtsmacht einräumt, die normengeschützten Interessen gegenüber dem Verpflichteten durchzusetzen.90 Die Bestimmung des Schutzzwecks richtet sich nach unionsrechtlichen, nicht nationalen Maßstäben.91 Im Gegensatz zu den zu beachtenden Rechten vermitteln die Grundsätze keine Ansprüche (insbesondere nicht auf Erlass positiver Maßnahmen), sondern enthalten lediglich objektiv-rechtliche Berücksichtigungspflichten.92 Die Grundsätze sind verbindliches Recht (und nicht nur politische Programmsätze). Sie können durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden (Art 52 V 1 GRCh). Die Berücksichtigungspflicht kann zum Erlass solcher Akte zwingen (Rn 32).93 Umsetzungsakte sind alle Handlungen, die den normativen Gehalt eines Grundsatzes berühren, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet worden sind.94 Gem Art 52 V 2 GRCh können die Grundsätze bei der Auslegung der Unionsakte oder mitgliedstaatlichen Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Das Können ist im Sinne eines Müssens zu verstehen. Mitgliedstaatliche Normen, die der Verwirklichung der Grundsätze entgegenstehen, sind von den nationalen Gerichten aufzuheben. Welche Bestimmungen der Charta nur Grundsätze verkörpern, ist nicht geregelt worden. Die Erläuterungen zur Charta (Art 52 VII GRCh) nennen „beispielsweise“ die Art 25 (Rechte älterer Menschen), 26 (Integration von
89 Jarass GR, § 40 Rn 6. 90 Vgl zum deutschen Recht Scherzberg in: Erichsen/Ehlers (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl 2005, § 11 Rn 9 ff (zugleich mit Darstellung der Entwicklungstendenzen). 91 Zum Unterschied vgl Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozesses, 1999, 56 ff. 92 Art 51 I 1 GRCh spricht von Einhaltung. Näher zum Ganzen Schmittmann Recht und Grundsätze in der Grundrechtecharta 2006, 44 ff. 93 Jarass GR, § 7 Rn 32. 94 Vgl Schmittmann (Fn 92) S 45 ff.
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Menschen mit Behinderung) und 37 GRCh (Umweltschutz). Doch dürfte – zumindest teilweise – ähnliches für die Art 24, 27, 30, 31, 35, 36 und 38 GRCh anzunehmen sein. Die Differenzierung zwischen Rechten und Grundsätzen bestimmt sich nach dem Wortlaut, der Systematik, der Entstehungsgeschichte, der Bezugsperson, der Bestimmtheit der Norm, der möglichen finanziellen Belastung, der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte sowie dem Inhalt der jeweiligen Grundrechtsnorm.95 Nicht ausgeschlossen ist es, dass die Gewährleistungen der Charta gleichermaßen Rechte vermitteln und Grundsatzcharakter haben. Dies soll nach den Erläuterungen „bespielsweise“ auf die Art 23 (Gleichheit von Männern und Frauen), 33 (Familien- und Berufsleben) und 34 GRCh (soziale Sicherheit und soziale Unterstützung) zutreffen. Wenn und soweit ein Recht vorliegt, scheidet ein bloßer Grundsatzcharakter aus.96 Soweit die Charta Achtungsklauseln enthält – zB Art 22 GRCh: Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen –, bedeutet dies zumeist, dass dem Rechtsgut in Abwägung mit anderen Zielsetzungen der gebührende Platz einzuräumen ist. Die Charta bringt zudem Parallelitäten, Verdoppelungen oder ggf sogar Verdreifachungen im Grundrechtsbestand mit sich.97 So wird etwa die Freizügigkeit (Art 16 AEUV; 8 GRCh), der Schutz personenbezogener Daten (Art 16 AEUV; 8 GRCh), der Zugang zu Dokumenten (Art 15 AEUV; 42 GRCh) oder das aktive und passive Wahlrecht (Art 22 AEUV; 40 GRCh) an mehreren Stellen der Verfassung garantiert. Abgrenzungsprobleme können sich ferner nicht nur im Verhältnis zu den Grundfreiheiten (Rn 13) und den EMRK-Garantien (Rn 14) ergeben, sondern auch deshalb, weil nach wie vor die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten für maßgeblich erachtet werden (Art 6 III EUV-E; 52 IV, 53 GRCh). Wie sich aus dem Passus „in dem jeweiligen Anwendungsbereich“ entnehmen lässt, kann aus der Erwähnung der Verfassungen der Mitgliedstaaten in Art 53 GRCh nicht eine Durchbrechung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) hergeleitet werden.98 Sollte der EuGH den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ein neues Grundrecht entnehmen, dürfen jedenfalls die für die bestehenden Gewährleistungen formulierten Schrankenregelungen nicht gleichfalls modifiziert werden.99 Im Übrigen ist stets Art 52 II GRCh zu beachten, wonach die Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte, die in anderen Teilen der Verfassung geregelt sind, im Rahmen der in diesen einschlägigen Teilen festgelegten „Bedingungen und Grenzen“ erfolgt. Zudem lassen sich aus der Charta weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben der Union herleiten (Art 51 II GRCh). Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Charta nicht selten Rechtspositionen garantiert, die von der EU mangels Zuständigkeit nicht beeinträchtigt werden können – zB Verbot der Todesstrafe (Art 2 GRCh) oder Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) – und die daher als Vorratsgrundrechte derzeit nur Symbolwirkung entfalten.100
95 96 97 98 99 100
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So Schmittmann (Fn 92) S 90 ff, 156. Vgl zur Problemstellung auch Jarass GR, § 7 Rn 28. Vgl Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 567. Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 53 Rn 5; Everling EuZW 2003, 225; aA Seidel EuZW 2003, 97. Vgl Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 569. Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 51 Rn 42 f.
Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte
§ 14 III 1
7. Begleitender Grundrechtsschutz durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Die Einhaltung der Unionsgrundrechte durch die Verpflichtungsadressaten (Rn 47 ff) wird in erster Linie durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Europäische Union), also den EuGH – einschließlich des Gerichts 1. Instanz (Art 224 EGV/254 AEUV: Gericht) und ggf den gerichtlichen Kammern (Art 225a EGV/257 AEUV: Fachgerichte) – sichergestellt. Daneben hat die EG auch eine Agentur der Europäischen Union für Grundrechte errichtet.101 Ziel der Agentur soll es sein, den relevanten Organen, Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf die Grundrechte Unterstützung zu gewähren und ihnen Fachkenntnisse bereitzustellen, um ihnen die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen.102 Dabei kann es wegen der Mehrfachzuständigkeiten für den europäischen Grundrechtsschutz (auch der mit den Unionsgrundrechten weitgehend identischen EMRK-Rechte) zu Überschneidungen mit der Arbeit des Europarates und des Europäischen Rates (Art 6 I, Art 7 EUV/Art 6 I, Art 7 I EUV-E) kommen.
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II. Funktionen der grundrechtlichen Grundsatznormen Soweit die (geschriebenen oder ungeschriebenen) Normierungen der Unionsgrundrechte nicht unmittelbar einklagbare subjektive Rechte enthalten, sondern nur Grundsatzcharakter haben (Rn 29), ergeben sich aus ihnen Prinzipien103 für die Gesetzgebung, Beurteilungsmaßstäbe für die Rechtsanwendung und Vollzugsschranken. Bei der Umsetzung der mit anderen Belangen abzuwägenden Prinzipien kommt den Gesetzgebungsorganen ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, der sich erst dann zu einer bestimmten Handlungspflicht verdichtet, wenn andernfalls das sich aus den Grundsätzen ergebende Untermaßverbot104 verletzt wird. Letzteres ist nur in seltenen Ausnahmefällen anzunehmen. Die Beurteilungsmaßstäbe sind bei der Auslegung des anwendbaren Rechts zum Tragen zu bringen. Eine Vollzugsschranke errichten die Grundsätze, wenn der Vollzug das in ihnen enthaltene Untermaßverbot verletzen würde.
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III. Funktionen der Unionsgrundrechte 1. Gewährung von Freiheitsrechten Ebenso wie die Grundrechte der EMRK (→ vgl § 2 Rn 22) sollen die Unionsgrundrechte – im engeren Sinne (dh iS unmittelbar einklagbarer subjektiver Rechte) – dem Einzelnen in erster Linie eine bestimmte Freiheitssphäre garantieren und ihm einen Anspruch auf Unterlassung nicht gerechtfertigter hoheitlicher Eingriffe in diese und auf Beseitigung
101 VO (EG) Nr 168/2007; vgl dazu Härtel EuR 2008, 489 ff. 102 Art 2 VO (EG) Nr 168/2007. 103 Zur Wirkungsweise von Prinzipien vgl Dworkin Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, 54 ff; Alexy Theorie der Grundrechte, 3. Aufl 1996, 71 ff; Schmidt-Aßmann in: Hoffmann-Riehm/ders/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2006, § 5 Rn 7 ff. 104 Vgl auch Frenz GR, Rn 684 ff.
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bereits vollzogener, aber noch rückgängig zu machender rechtswidriger Eingriffe vermitteln. Freiheitsrechte stellen somit Abwehrrechte dar. Geschützt wird idR sowohl die positive als auch negative Freiheit.105 Die vom EuGH anerkannten Freiheitsrechte sind heute weitestgehend in der Charta der Grundrechte der EU positiviert worden. Unter Freiheitsrechten sind allerdings nicht nur die Gewährleistungen des Titels II der Charta zu verstehen. Vielmehr verkörpern weitere Bestimmungen der Charta (zB die Art 2 ff) Freiheitsrechte. Die Verbürgungen reichen über diejenigen der EMRK hinaus (Rn 15). So enthält die Charta weitere Gewährleistungen und Präzisierungen: zB das Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) oder Regelungen, welche die Einschränkbarkeit des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit im Hinblick auf medizinische und biologische Maßnahmen ausformen (Art 3 II GRCh). ZT wird bewusst vom Text der EMRK abgewichen. ZB wird das Recht auf Eingehung einer Ehe und Gründung einer Familie (Art 9 GRCh) anders als nach Art 12 EMRK nicht nur auf Männer und Frauen bezogen. Neben Garantien zB nach Art der Art 8 GRCh (Schutz personenbezogener Daten) oder 13 GRCh (Freiheit der Kunst und Wissenschaft) wird über die EMRK hinausgehend auch die Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) und unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) geschützt. Der Kanon der Freiheitsrechte entspricht im Großen und Ganzen demjenigen des Grundgesetzes im nationalen Rechtskreis. Doch gibt es auch insoweit keine vollständige Deckung. Bspw kennt das Grundgesetz kein ausdrückliches Recht auf Sicherheit (Art 6 GRCh). Andererseits kennt die Charta anders als das Grundgesetz kein Auffanggrundrecht der allgem Handlungsfreiheit.106 Doch hat der EuGH bereits der Sache nach ein Grundrecht der allgem Handlungsfreiheit als allgem Rechtsgrundsatz anerkannt.107 Näher zu den Einzelheiten → §§ 15 ff.
2. Gewährung von Gleichheitsrechten 34
Neben den geschriebenen Gleichheitsrechten (Rn 6) und dem Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten lässt sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung auch ein allgemeiner Gleichheitssatz herleiten (→ § 17 Rn 4, 11 ff).108 Der Gleichheitssatz hat nicht nur abwehrrechtliche Bedeutung, sondern gewährt dem Einzelnen auch einen Anspruch darauf, von einer Begünstigung nicht gleichheitswidrig ausgeschlossen zu werden.109 Insofern kann er ein – abgeleitetes – Recht auf Teilhabe an gewährten Leistungen verbürgen. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert im Titel III neben dem allgem Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) und den bes Diskriminierungsverboten (Art 21, 23 GRCh) – systematisch wenig gelungen – auch soziale Rechte oder Grundsätze (Art 24 bis 26 GRCh). Ausführlich zu den Gleichheitsrechten → §§ 17, 18. 105 Zur Frage, ob der negative Freiheitsschutz auch für das Recht auf Leben (Art 2 GRCh) gilt und ob sich aus diesem Recht auch ein Recht auf Sterbehilfe ergibt, vgl → § 2 Fn 74 sowie → § 15 Rn 17 ff. Bejahend Höfling in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 2 Rn 47 f. 106 Zur Frage, ob Art 6 I GRCh (Recht auf Freiheit) idS interpretiert werden kann, vgl → § 16.1 Rn 4 ff. 107 Vgl EuGH, Slg 1987, 2289, Rn 15 ff – Rau; s a EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst; Slg 1989, 3165, Rn 16 – Dow. Anders wird die Rspr eingestuft von Jarass GR, § 2 Rn 16. Vgl auch Rengeling/Szczekalla GR, Rn 632 ff. 108 EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Slg 1982, 2745, Rn 11 – Edeka; Slg 2000, I-2737, Rn 39 – Karlsson 109 Zu den in Betracht kommenden Möglichkeiten, auf rechtswidrige Begünstigungsausschlüsse zu reagieren, vgl → § 7 Rn 34.
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3. Gewährung von Leistungsrechten Aus den Unionsgrundrechten kann sich ferner – ebenso wie aus den deutschen Grundrechten 110 – ein Anspruch auf Gewährung hoheitlichen Schutzes ergeben.111 Einerseits geht es um Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater, andererseits um hoheitliche Bereitstellungs- und Förderungspflichten. Letztere haben vielfach nur Grundsatz- (Rn 29) respektive objektiv-rechtlichen Charakter (Rn 39), korrespondieren also nicht mit einem unmittelbar einklagbaren subjektiven Recht. Eine ausgeformte Rspr des EuGH zu den grundrechtlichen Schutzpflichten gibt es bisher nicht. Doch lassen sich einzelne Entscheidungen des EuGH iS einer grundrechtlichen Begründung von (jedenfalls mitgliedstaatlichen) Schutzverpflichtungen deuten.112 Ferner werden auch aus den Grundfreiheiten sowie vor allen Dingen aus den Vorschriften der EMRK Schutzpflichten abgeleitet (→ § 2 Rn 25; § 7 Rn 35). Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine grundrechtliche Schutzpflicht kein Kompetenztitel ist, sondern einen solchen voraussetzt (Grundsatz der Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz).113 Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu einem hoheitlichen Handeln kann daher nur bestehen, wenn der Gemeinschaft eine entsprechende Kompetenz eingeräumt worden ist oder es den Mitgliedstaaten um die Begrenzung der Grundfreiheiten geht (Rn 13). Grundsätzlich kommt nur eine Pflicht zur Ergreifung effektiver Maßnahmen, nicht aber zur Durchführung bestimmter Handlungen in Betracht.114 Die Hoheitsträger haben somit erheblichen Gestaltungsspielraum. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union normiert ausdrücklich Schutzpflichten (Art 1 S 2, 24 I S 1). Vielfach dürfte es sich jedenfalls idR wiederum um Grundsätze (Rn 29) respektive objektiv-rechtliche Verpflichtungen (Rn 39) handeln (zB Art 30, 33 GRCh). Doch bezieht Art 51 I S 2 GRCh die Förderungspflichten ausdrücklich nicht nur auf die Grundsätze, sondern auch auf die „Rechte“.115 Die Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz muss auch insoweit beachtet werden. Kommen Schutzmaßnahmen der Gemeinschaft (Union) in Frage, muss das Subsidiaritätsprinzip (Art 5 II EGV/ 5 III EUV-E) sowie der Grundsatz der kompetenziellen Verhältnismäßigkeit (Art 5 III EGV/5 IV EUV-E) beachtet werden. Klammert man die Verfahrensrechte aus (Rn 38), ließ sich in der Vergangenheit aus den Unionsgrundrechten kaum ein Anspruch auf originäre Leistungen – dh auf Schaffung noch nicht vorhandener Einrichtungen oder erstmaliger Leistungen – herleiten. Hieran hat die Charta im Grundsatz nichts geändert. Doch lässt sie erkennen, dass in Ausnahmefällen anderes anzunehmen sein kann. Wenn zB Art 29 GRCh jedem Menschen das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst garantiert, schließt dies die Berechtigung ein, das Vorhandensein eines entsprechenden Dienstes verlangen zu können. Leistungsgehalte weist auch das Recht auf Bildung (Art 14 GRCh) und eine gute
110 Vgl die Rspr-Nachw bei Sachs in: ders (Hrsg), Grundgesetz, 5. Aufl 2009, Vor Art 1 Rn 35. 111 Krit Ruffert Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, 59. 112 Vgl EuGH, Slg 2003, I-5694 Rn 74 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3 (→ § 8 Rn 16); Slg 2004, I-9609, Rn 35 – Omega = JK 6/05, EGV Art 49/13 (→ § 7 Rn 107); ausf dazu Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, 459 ff. 113 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 22, 26; Lindner DÖV 2000, 543, 549; Pernice DVBl 2000, 847, 852; Schmitz JZ 2001, 833, 840. 114 Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 603. 115 Vgl Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 17.
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Verwaltung116 (Art 41 GRCh) auf. Auch kann sich aus Art 47 S 4 GRCh ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe ergeben.117 Generell kommt ein Anspruch auf Leistung in Betracht, wenn die Vorenthaltung der Leistung dieselbe Wirkung wie ein Grundrechtseingriff hat.
4. Gewährung von Unionsbürgerrechten 37
Bei den Unionsbürgerrechten (→ § 19) handelt es sich teils um Leistungs-, teils um Abwehrrechte besonderer Art, teils um Verfahrensrechte (Rn 38). Unionsbürgerrechte – insb das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit sowie das Petitionsrecht – ergeben sich aus den Art 18 ff EGV (20 ff AEUV, 39 ff GRCh). Gem Art 255 EGV (15 AEUV; 42 GRCh) haben die Unionsbürger (und weitere Personen) ein Recht auf Zugang zu den Dokumenten. Der EuGH tendiert dazu, aus der Unionsbürgerschaft eine grds Inländergleichbehandlung beim Zugang zu sozialen Leistungen abzuleiten (→ §§ 7 Rn 14; 19 Rn 86 ff).
5. Gewährung von Verfahrensrechten 38
Verfahrensrechte (→ ausf hierzu § 20) haben in der Gemeinschaftsrechtsordnung eine bes große Bedeutung. Der EuGH hat in stRspr zahlreiche Verfahrensrechte anerkannt wie etwa die Grundrechte auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes118 und auf rechtliches Gehör (nicht nur vor Gericht, sondern auch im Verwaltungsverfahren119) oder das Grundrecht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden120 (ne bis in idem). Teilweise sind die Verfahrensrechte ausdrücklich im Vertrag kodifiziert worden, teilweise überschneiden sie sich mit den staatsbürgerlichen Rechten (zB Art 21, 255 EGV; 24, 15 AEUV; 44, 42 GRCh). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthält Verfahrensrechte insbesondere in den Titeln V (Bürgerrechte) und VI (Justizielle Rechte). Auch aus den materiellen Grundrechten können sich verfahrensrechtliche Konsequenzen ergeben (vgl auch → § 7 Rn 38). Dienen die Verfahrensrechte nur der Abmilderung von Grundrechtseingriffen – wie dies zB auf Eingriffe in das Recht auf Freiheit (Art 6 GRCh) zutreffen kann, weil solche Eingriffe nur rechtmäßig sind, wenn bestimmte verfahrensrechtliche Anforderungen eingehalten werden (→ §§ 16.1 Rn 6, 20) – richten sie sich nicht auf positive Leistungen, sondern dienen nur der grundrechtlichen Abwehrfunktion.121 Inhaltlich gehen die Verfahrensrechte des Gemeinschaftsrechts
116 EuGH, Slg 1992, I-2253, Rn 12 – Burban. Vgl auch EuG, Slg 1995, II-2589, Rn 89 – Nölle; → § 20 Rn 5. 117 Nach Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 5 Rn 30 handelt es sich bei der Prozesskostenhilfe nicht um eine leistungsrechtliche Wohltat, sondern um die Kompensation eines Grundrechtseingriffs. 118 Grds EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 17 ff – Johnston; Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens. Zu den Konsequenzen für den vorläufigen Rechtsschutz vgl statt vieler Ehlers Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, 125 ff. 119 EuGH, Slg 1979, 461, Rn 9 – Hoffmann; Slg 1983, 3461, Rn 17 – Michelin. 120 Vgl zB EuGH, Slg 1966, 154, 178 – Gutmann; EuG, Slg 1999, II-931, Rn 95 f – Limburgse. Siehe auch Art 4 des 7. ZP EMRK (von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifiziert) und Art 1 des EG-ne bis in idem-Übereinkommens v 25.5.1987 (BR-Drs 283/97 S 10), welches mangels Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten noch nicht in Kraft getreten ist. 121 Vgl auch Jarass GR, § 5 Rn 17.
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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte
§ 14 IV
(Unionsrechts) noch über die Verfahrensrechte der EMRK hinaus. So gilt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art 47 S 1 GRCh) entgegen Art 6 I 1 EMRK (→ § 2 Rn 27) nicht nur für Streitigkeiten im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen oder strafrechtlichen Anklagen.122
6. Unionsgrundrechte als Elemente objektiver Ordnung Ebenso wie den EMRK-Rechten (→ § 2 Rn 29) und den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 39) kommt den Unionsgrundrechten schließlich eine objektiv-rechtliche Bedeutung zu.123 Dies versteht sich von selbst für die Grundsätze (Rn 29), gilt aber auch dann, wenn die Unionsgrundrechte unmittelbar einklagbare subjektive Rechte enthalten. So muss der Gehalt der Unionsgrundrechte bei der Setzung und dem Vollzug von sekundärem Gemeinschaftsrecht beachtet werden. Ferner ist das Gemeinschaftsrecht und nationale Recht unionsgrundrechtskonform auszulegen.124 Wiederum ist zu berücksichtigen, dass die Unionsgrundrechte die Kompetenzen der Gemeinschaft nicht zu erweitern vermögen (vgl auch Art 51 II GRCh).
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7. Rechtsfolgen von Grundrechtsverstößen Verstoßen die EG respektive EU oder Mitgliedstaaten gegen die Unionsgrundrechte, führt dies zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme, bei offensichtlichem und schwerwiegendem Rechtsverstoß zur rechtlichen Inexistenz, dh zur Nichtigkeit.125 Rechtswidrigkeit oder Nichtigkeit können nach Maßgabe der Rechtsschutzbestimmungen gerichtlich geltend gemacht werden (Rn 76 ff). Ist ein Schaden entstanden, müssen die EG (EU) gem Art 288 II EGV (340 II AEUV), die Mitgliedstaaten nach den Grundsätzen der Haftung wegen Verletzung des Gemeinschaftsechts126 Schadensersatz leisten.
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IV. Berechtigte der Unionsgrundrechte Fall 3: (EuGH, Slg 2007, I-2749 – AGM). Das italienische Unternehmen AGM stellt Fahrzeug-Hebebühnen her und vertreibt sie innerhalb des Binnenmarktes. Im Zusammenhang mit einer Überprüfung durch das finnische Sozial- und Gesundheitsministerium erklärt der eingeschaltete verbeamtete Sachverständige L während des noch laufenden Verfahrens bei mehreren Gelegenheiten öffentlich und in den Medien, dass von den Hebebühnen Gefahren ausgingen. AGM verklagte den finnischen Staat und L wegen der eingetretenen Umsatzeinbußen zur gesamtschuldnerischen Zahlung von Schadensersatz. Das angerufene finnische Gericht möchte wissen, ob die Äußerung von L eine Behinderung des freien Warenverkehrs darstellt und ggf die Behinderung durch die Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt werden kann. 122 Vgl EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts. 123 Vgl auch Rengeling Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, 205 ff; Gersdorf AöR 119 (1994), 400, 402 ff. 124 Nach BGH, NJW 2009, 427 ff soll eine gemeinschaftsrechtskonforme (richtlinienkonforme) Auslegung auch über die Wortlautgrenze hinaus zulässig sein. Das nationale Recht müsse, wo dies nötig und möglich ist, gemeinschaftskonform (richtlinienkonform) fortgebildet werden. Diese Ansicht erscheint problematisch. Zust aber Pfeiffer NJW 2009, 412 f. 125 Zur Unterscheidung des Gemeinschaftsrechts zwischen Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit vgl Ehlers in: ders/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 8 Rn 10. 126 EuGH, Slg 1991, I-5357 – Francovich; Slg 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur.
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1. Natürliche Personen 42
Wie sich aus der Rechtserkenntnisquelle des Art 1 EMRK (1 GRCh), den allgem menschenrechtlichen Wurzeln der Grundrechte und der Notwendigkeit ergibt, bei der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Gemeinschaft keine grundrechtsfreien Zonen entstehen zu lassen, sind grds nicht nur die Unionsbürger (Art 17 I 2 EGV/9 EUV-E), sondern alle Menschen (uU auch der nasciturus sowie ein Verstorbener 127) unabhängig von Alter und Geschäftsfähigkeit128 Träger der unmittelbar einklagbaren129 Unionsgrundrechte.130 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union bringt dies durch Wendungen wie „Jeder Mensch“ (Art 2 I GRCh) oder „Niemand darf“ (Art 2 II GRCh) zum Ausdruck. Anderes kann sich aus den Gemeinschaftsverträgen (Unionsvertrag) sowie aus den Rechtserkenntnisquellen ergeben. So kommen die Unionsbürgerrechte (Art 17 ff EGV/ 20 ff AEUV/39 ff GRCh) teilweise nur den Unionsbürgerinnen und -bürgern zugute. Dagegen schützen einzelne Rechte wie das Recht auf eine gute Verwaltung (Art 41 GRCh), auf Zugang zu Dokumenten (Art 42 GRCh), auf Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art 43 GRCh), auf Einreichung von Petitionen (Art 44 GRCh) und auf Freizügigkeit sowie auf Aufenthalt (Art 45 GRCh) auch bestimmte Drittstaatsangehörige oder gar alle Personen. Gewährt die EMRK keinen Grundrechtsschutz (wie dies für die Berufsfreiheit zutrifft) und berechtigen die Mehrzahl der mitgliedstaatlichen Verfassungen nur die eigenen Bürger (für die Berufsfreiheit in Deutschland vgl etwa Art 12 I GG131), heißt dies wegen des Gebotes einer wertenden Rechtsvergleichung (Rn 8) noch nicht, dass der Grundrechtsschutz den Unionsbürgern vorbehalten ist. Dementsprechend gesteht Art 15 GRCh die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten neben den Unionsbürgerinnen und -bürgern in differenzierender Ausgestaltung auch den Staatsangehörigen dritter Länder und damit allen Personen zu.
2. Juristische Personen und Personenmehrheiten 43
Ähnlich wie im deutschen Recht (Art 19 III GG) ist eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen und (nicht rechtsfähiger oder teilrechtsfähige) Personenmehrheiten (respektive Organisationen wie zB Stiftungen) im Gemeinschaftsrecht zu bejahen, wenn die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind.132 Der Gerichtshof geht kasuistisch vor, hat aber in vielen Entscheidungen eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen anerkannt.133 Diese ist für private Organisationen und Personengruppen anzunehmen, sofern es sich nicht um höchstpersönliche Verbürgungen (etwa das Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit) handelt. Von den Fällen des Art 48 II EGV (iVm Art 55 EGV) abgesehen (Art 54 II iVm Art 62 AEUV), muss kein Erwerbszweck verfolgt 127 Str, vgl zur EMRK-Diskussion → § 2 Rn 33. 128 Das Alter und die Geschäftsfähigkeit sind nur für die Frage bedeutsam, wer berechtigt ist, die Unionsgrundrechte geltend zu machen. 129 Handelt es sich um Grundsätze, gibt es keine Berechtigten (Träger), sondern allenfalls Begünstigte, vgl Jarass GR, § 4 Rn 21. 130 Vgl Borchardt EU, Rn 185; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 344. 131 Krit dazu mit Recht Wernsmann Jura 2000, 657 ff mwN. 132 In der Rspr des EuGH findet sich diese Formulierung nicht. Wie hier Rengeling/Szczekalla GR, Rn 390. 133 Vgl etwa EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 ff – Internationale Handelsgesellschaft; Slg 1980, 2033, Rn 17 ff – National Panasonic; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder.
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werden. Auch die Charta der Grundrechte erwähnt die juristischen Personen nur gelegentlich (Art 42, 43, 44 GRCh). Dies ist der Fall, wenn der Schutz an weiteren Voraussetzungen geknüpft ist. Hieraus kann indessen gerade nicht gefolgert werden, dass den juristischen Personen in anderen Fällen die Grundrechtsberechtigung abzusprechen ist.134 Ein Anhaltspunkt für die Anwendbarkeit der Grundrechte ergibt sich aus der Unterscheidung von Menschen und Personen.135 Wird von einem Mensch als Träger der Grundrechte gesprochen, scheidet eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen oder Personenvereinigungen aus. Umgekehrt bedeutet die Anknüpfung an eine Person noch nicht, dass auch juristische Personen und Personenmehrheiten einbezogen sind.136 Aus der Transferrespektive Kohärenz- oder Konkurrenzklausel des Art 52 III GRCh folgt, dass in jedem Falle dann von Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen oder Personenmehrheiten auszugehen ist, wenn die EMRK eine solche anerkennt (→ § 2 Rn 34 f). Grundsätzlich keinen Schutz genießen die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EG oder EU (einschließlich der verselbständigten Rechtsträger) sowie die staatlichen Organisationen und Personengruppen137, selbst wenn sich der Staat privatrechtlicher Organisations- oder Handlungsformen bedient (→ § 2 Rn 35). Dagegen können die Grundfreiheiten auch staatlichen Rechtsträgern zugute kommen (wie Art 48 II EGV/ 54 II AEUV zeigt). Ferner dürfen sich die Rechtsträger auf die Verfahrensgrundrechte (Prozessgrundrechte) berufen.138 Handelt es sich um gemischt zusammengesetzte Organisationen, tendiert das Gemeinschaftsrecht dazu, auf die Beherrschungsverhältnisse abzustellen.139 Das spricht für die Annahme, dass staatlich beherrschte Gesellschaften mit privater Beteiligung – anders als dies vielfach im deutschen Recht angenommen wird140 – an die Unionsgrundrechte gebunden sind, nicht aber durch diese geschützt werden. Ungeklärt ist, ob staatliche Rechtssubjekte (wie die Universitäten oder Hochschulinstitute141) vereinzelt dem unmittelbar durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet werden können. Die Frage dürfte zu bejahen sein.142 Nicht oder nicht primär dem staatlichen Bereich zuzuordnen sind Verbände nach Art der öffentlich-rechtlich korporierten
134 Ebenso Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, 146; aA Knecht Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005, 213. 135 Vgl auch Jarass GR, § 4 Rn 30. 136 So steht das jeder Person zugestandene Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 7 GRCh) naturgemäß nicht juristischen Personen zu. 137 Ebenso Rengeling/Szczekalla GR, Rn 392; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union, 2006, 106 ff. 138 Vgl auch EuGH, Slg 1992, I-565, Rn 40 ff – Niederlande/Kommission; Winkler (Fn 137) S 107; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 GRCh Rn 54; Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 23. 139 Zum Begriff der öffentlichen Unternehmen vgl Art 2 S 1 der Transparenzrichtlinie 80/723/EWG. 140 Vgl Dreier in: ders (Hrsg), GG, Bd I, 2. Aufl 2004, Art 1 III Rn 70; Höfling in: Sachs, (Fn 110) Art 1 Rn 104; Ehlers in: Wurzel/Schraml/Becker, Rechtspraxis der kommunalen Unternehmen, 2005, B 41. AA aber BVerfG-K, NJW 1990, 1783. 141 Zum Europäischen Hochschulinstitut in Florenz vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 395. 142 Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 24. AA Fink EuGRZ 2001, 193, 199 f, unter Hinweis auf die Hoechst-Entscheidung des EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 17 – Hoechst (die aber nicht verallgemeinert werden darf).
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Religionsgemeinschaften143 oder der Rundfunkanstalten144. Ihnen kann der Grundrechtsschutz daher nicht vorenthalten werden.
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Lösung Fall 3 Nach Art 4 der hier einschlägigen, Art 28 EGV (34 AEUV) verdrängenden RL 98/37/EG dürfen Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Maschinen, die den Bestimmungen dieser RL entsprechen, nicht verbieten, beschränken oder behindern. Eine Behinderung des Warenverkehrs setzt voraus, dass die Äußerungen von L dem finnischen Staat zuzurechnen sind. Um Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechnen zu können, kommt es entscheidend darauf an, ob die Empfänger der Äußerung den Umständen nach annehmen dürfen, dass der Beamte die Äußerungen mit Amtsautorität macht oder ob es sich um eine private Meinung des Beamten handelt. Nimmt man Ersteres an, können sich weder der finnische Staat noch L auf die auch im Gemeinschaftsrecht garantierte Meinungsfreiheit (vgl auch Art 10 EMRK; 11 GRCh) berufen, weil diese die Freiheit von Privaten, nicht den Staat oder die Repräsentanten des Staates schützt.
V. Verpflichtete der Unionsgrundrechte 46
Fall 4: (EuGH, Slg 1997, I-3689 ff – Familiapress = JK 2/98, EGV, Art 30/1) Der in Deutschland ansässige Bauer-Verlag gibt eine auch in Österreich vertriebene Zeitschrift heraus, in der Kreuzworträtsel enthalten sind. Die Leser, welche die richtige Lösung einsenden, können an einer Verlosung teilnehmen und Geldpreise gewinnen. Anders als nach deutschem, ist nach österreichischem Wettbewerbsrecht eine solche Praxis verboten, um die Konkurrenzfähigkeit kleinerer Verlage gegenüber den Marktführern sicher zu stellen und die Medienvielfalt aufrecht zu erhalten. Ein kleiner österreichischer Verlag hat gestützt auf die österreichischen Wettbewerbsvorschriften gegen den Bauer-Verlag Klage erhoben, den Verkauf von Zeitschriften, die den Lesern die Möglichkeit der Teilnahme an Gewinnspielen einräumen, zu unterlassen. Das mit der Sache befasste österreichische Gericht hat dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art 28 EGV (34 AEUV) dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats A entgegensteht, die es einem im Mitgliedstaat B ansässigen Unternehmen untersagen, eine dort hergestellte periodisch erscheinende Zeitschrift auch im Mitgliedstaat A zu vertreiben, wenn darin Preisrätsel enthalten sind, die im Mitgliedstaat B rechtmäßig veranstaltet werden.
1. Europäische Union und Europäische Gemeinschaften 47
Da die Hauptfunktion der Unionsgrundrechte die Begrenzung der Unions- respektive Gemeinschaftsgewalt ist, sind deren Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen, auch wenn sie rechtlich verselbstständigt wurden, Verpflichtungsadressaten der Unionsgrundrechte (vgl auch Art 51 I 1 GRCh). Während die Bindung der EG seit langem anerkannt ist, gibt es zur Bindung der EU bisher wenig Rspr.145 Dies ändert nichts daran, dass auch die Union die Grundrechte zu achten hat (Art 6 II EUV). Tritt der Vertrag von Lissabon
143 Vgl Ehlers in: Sachs, (Fn 110) Art 140 GG/Art 137 WRV Rn 25. 144 Vgl Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 612. Zum Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten vgl Holznagel Rundfunkrecht in Europa, 1996, 132 ff. 145 Vgl aber EuGH, Slg 2005, I-05285, Rn 59 – Pupino.
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(Rn 2) in Kraft, tritt die Union ohnehin an die Stelle der EG.146 Der Begriff „Organ“ ist in den Verträgen festgelegt.147 Der Ausdruck „Einrichtungen und sonstige Stellen“ wird in den Verträgen als Bezeichnung für die durch die Verträge oder sekundären Rechtsakte geschaffenen Einrichtungen verwendet.148 Die Bindung betrifft sämtliches Handeln der EG bzw EU und ihrer Untergliederungen unabhängig von dem Rechtscharakter der Handlung, so dass ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet wird.149 Selbst wenn die Gemeinschaftsverträge ausdrücklich nur eine Bindung der Mitgliedstaaten vorsehen (Rn 48 ff), kann für die Gemeinschaften nichts anderes gelten, weil es widersprüchlich wäre, wenn die Gemeinschaften den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegen dürften, die für sie selbst nicht gelten. Tatsächlich wird das Sekundärrecht in Gestalt von VO oder RL bisher nur äußerst selten vom EuGH oder EuG an den Unionsgrundrechten gemessen (vgl Rn 4).
2. Mitgliedstaaten der Europäischen Union Die meisten geschriebenen Unionsgrundrechte (iwS) – wie etwa das Entgeltgleichheitsgebot des Art 141 I EGV (Art 157 I AEUV), die Unionsbürgerrechte oder die Grundfreiheiten – wenden sich ausdrücklich oder implizit an die Mitgliedstaaten und nehmen diese verpflichtend in Anspruch. Nach stRspr des EuGH bezieht sich die Bindung der Mitgliedstaaten aber darüber hinausgehend auf sämtliches Handeln im „Anwendungsbereich“ des Gemeinschaftsrechts.150 Von einem solchen Handeln lässt sich sprechen, wenn die mitgliedstaatlichen Rechtsakte durch das Gemeinschaftsrecht vorbestimmt oder determiniert werden. Die Grundrechtsbindung setzt somit eine Zuständigkeit der EG (EU) voraus, von der primärrechtlich oder sekundärrechtlich Gebrauch gemacht wurde. Nicht ausreichend ist, dass ein Sachverhalt gemeinschaftsrechtlich geregelt werden könnte151 oder eine wie auch immer geartete Nähe zum Gemeinschaftsrecht aufweist152. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Unionsgrundrechte keine Anwendung auf rein innerstaatliche Maßnahmen finden. Zu den Mitgliedstaaten sind sämtliche Träger von Staatsgewalt, einschließlich aller Untergliederungen, unabhängig von der Organisationsform zu rechnen (Rn 44). Unerheblich ist, welche Staatsgewalt tätig wird (Legislative, Exekutive oder Judikative). Besteht eine public private partnership, dürfte es auf die Beherrschungsverhältnisse ankommen (Rn 44). Im Einzelnen gilt Folgendes: Hinsichtlich der Art der mitgliedstaatlichen Bindung an die Unionsgrundrechte wird gelegentlich zwischen mittelbarer und unmittelbarer Bindung unterschieden.153 Eine mittelbare Bindung würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nicht selbst Verpflichtungsadressaten der Unionsgrundrechte sind, sich die Gültigkeit und Auslegung des sie ver-
146 147 148 149 150
Vgl Art 1 III 3 EUV-E. Vgl Fünfter Teil des EGV; Art 13 EUV-E; Sechster Teil, Titel 1, Kapitel 1 AEUV. Vgl Erläuterungen (Rn 15, 27) zu Art 51 GRCh (mit Hinweis auf die Art 15, 16 AEUV). Vgl Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 51 Rn 21; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 51 GRCh Rn 12. EuGH, Slg 1985, 2605, Rn 26 – Cinéthèque; Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT; Slg 1997, I-2629, Rn 15 – Kremzow; Slg 2003, I-3735, Rn 70 – Steffensen. Vgl EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf; Slg 2000, I-2737, Rn 37 – Karlsson. 151 EuGH, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 287; Winkler (Fn 137) S 127 f. 152 Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 25. 153 Vgl etwa Cirkel (Fn 33) S 237 f. Vgl auch Fall 4.
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pflichtenden Gemeinschaftsrechts aber (auch) nach den Unionsgrundrechten richtet. Wenn und soweit die Mitgliedstaaten die Unionsgrundrechte zu beachten haben, ist die Bindung jedoch stets eine unmittelbare. Inhaltlich kommt eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte in Betracht, wenn die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht in nationales Recht umsetzen, Gemeinschaftsrecht vollziehen oder wenn sie die Grundfreiheiten durch nationale Maßnahmen beschränken.154 Ist eine Richtlinie oder eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidung in nationales Recht umzusetzen, muss der den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehende normative Spielraum unionsgrundrechtskonform ausgelegt werden.155 Besteht kein Spielraum, verstößt das sekundäre Gemeinschaftsrecht aber gegen ein Unionsgrundrecht, ist es nichtig. Zur Nichtigkeit ist nur der Gerichtshof (EuGH oder Gericht erster Instanz) berufen,156 so dass Nichtigkeitsklage (Art 230 EGV/263 AEUV) erhoben werden kann bzw muss. UU kann der Gerichtshof Wirkungen der nichtigen Handlung fortgeltend lassen.157 Vollziehen die mitgliedstaatlichen Behörden eine Verordnung oder eine unmittelbar anwendbare Richtlinie bzw Entscheidung (administrative Durchführung), dürfen sie keine Maßnahmen treffen, welche die Gemeinschaften wegen der Bindung an die Unionsgrundrechte nicht selbst vornehmen dürften (agency-situation).158 So sind sie nach der Rspr des EuGH159 dazu verpflichtet, ihr Ermessen bei der Durchführung einer EG-VO unter Berücksichtigung der Unionsgrundrechte auszuüben. Auch wenn Richtlinien und Entscheidungen nicht unmittelbar anwendbar sind, weil sie in nationales Recht umgesetzt wurden, müssen sich die Vollzugsakte der Mitgliedstaaten im Rahmen des Gemeinschaftsrechts und damit zugleich der Unionsgrundrechte halten. Lässt das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten keinen selbstständig auszuführenden Gestaltungsspielraum, sind die Unionsgrundrechte in den Grenzen der Solange-Rspr des BVerfG (Rn 18) alleiniger grundrechtlicher Prüfungsmaßstab. Besteht dagegen ein Spielraum, kommt es zu einer doppelten Grundrechtsbindung. Die Unionsgrundrechte legen dann den zu beachtenden Mindeststandard fest.160 Im Übrigen bestimmt sich die Vereinbarkeit des mitgliedstaatlichen Rechtsaktes mit den Grundrechten nur nach den nationalen Grundrechten.161 Nach stRspr des EuGH binden die Unionsgrundrechte ferner die Mitgliedstaaten im Falle einer Beschränkung der Grundfreiheiten162, obwohl die Mitgliedstaaten insoweit nicht
154 Tridimas (Fn 18) S 319 ff; Brosius-Gersdorf Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, 13 ff; dies JA 2007, 873 ff. Zu den beiden zuerst genannten Konstellationen vgl bereits Weiler in: Neuwahl ua (Hrsg), The European Union and Human Rights, 1995, 51, 67 ff (agency situation). 155 EuGH, Slg 2006, I-5769, Rn 104 f – Parlament/Rat. Ebenso Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 608 f; Jarass GR, § 4 Rn 13. AA Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 10, 12. 156 Grundl EuGH, Slg 1987, 4199, Rn 15 ff – Foto Frost. 157 Vgl Art 231 II EGV (264 II AEUV). Die Vorschrift wird entsprechend auch auf Richtlinien und Entscheidungen angewandt, vgl Ehlers JURA 2009, 31, 39. 158 Vgl grundl EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf. 159 EuGH, Slg 1994, I-955, Rn 16 – Bostock; Slg 1996, I-569, Rn 29 – Duff. 160 Str, wie hier Nowak in: Heselhaus/ders, GR, § 6 Rn 35, 38 m w Nachw. AA zB Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 12; Papier DVBl 2009, 473, 480. 161 Vgl auch BVerfG, DVBl 2009, 178, 179. 162 Grundl EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT. Krit Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh, Rn 15 ff.
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im Auftrag der EG, sondern zum Schutz eigener Interessen tätig werden163. Die Unionsgrundrechte wirken dann als Schranken-Schranke der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 105). Die Bindung lässt sich damit begründen, dass der Schutzbereich der Grundfreiheiten eröffnet ist und die Schranken der Grundfreiheiten ua zwecks einheitlicher Anwendung auch im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen sind.164 Nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union soll diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich „bei der Durchführung des Rechts der Union“ (implementing Union law/mettent en œuvre le droit de l’Union) gelten (Art 51 I 1 GRCh). In der Literatur ist die Ansicht vertreten worden, dass die Durchführung nicht nationale Maßnahmen zur Beschränkung der Grundfreiheiten erfasst.165 Mache ein Mitgliedstaat in berechtigter Weise von der Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten Gebrauch, werde gerade kein Unionsrecht durchgeführt. Vielmehr sei der Mitgliedstaat im Gegenteil aus dem Anwendungsbereich desselben entlassen. Sprachlich ist es indessen nicht ausgeschlossen, von Durchführung zu sprechen, wenn ein Mitgliedstaat im Anwendungsbereich des Unionsrechts – die Grundfreiheiten beschränkend – tätig wird. Die Entstehungsgeschichte der Norm gibt zwar kein eindeutiges Bild.166 Ihr kann aber nicht die Absicht einer Korrektur der Rspr entnommen werden. Auch die Erläuterung zur Grundrechtecharta (Art 52 VII GRCh) verweisen ausdrücklich auf die herkömmliche Rspr des EuGH. Hierauf deutet schließlich Art 6 III EUV-E hin.167 Daher ist iE anzunehmen, dass sich an der Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte im Falle eines Inkrafttretens der Charta nichts ändern wird.168
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3. Privatpersonen Während der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten angenommen hat (→ § 7 Rn 52), liegt für die Unionsgrundrechte bislang keine dementsprechende Rspr vor. Eine unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte ist vorbehaltlich abw Regelung nach Art des Art 141 I EGV (157 I AEUV) abzulehnen.169 Eine unmittelbare Drittwirkung würde die Rechte des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt zu Pflichten gegenüber allen Mitbürgern verkehren und damit zu einer weitgehenden Beschränkung der Privatautonomie führen. Ist ein Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die Unionsgrundrechte geboten, muss dem durch Anerkennung eines Anspruchs gegen die EG (EU) oder den Mitgliedstaat auf Gewährung von 163 Vgl auch Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 27. 164 Vgl auch Cirkel (Fn 33) S 141 ff; Wallrab Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2002, 90 ff; Schaller Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, 50 f. 165 Cremer NVwZ 2003, 1452 ff; Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 51 Rn 29; Kingreen EuGRZ 2004, 570, 576; ders in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 16 f. 166 Der Terminus Anwendungsbereich wurde als zu schwammig bewusst abgelehnt. Vgl Ladenburger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 51 Rn 22. 167 Frenz GR, Rn 276. 168 Ebenso Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 564 f; Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 116; Nowak/Heselhaus in: Heselhaus/Nowak, GR, § 6 Rn 48; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 51 GRCh Rn 18. Für eine Fortentwicklung der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Maßnahmen zu den Grundfreiheiten Brosius-Gerstdorf (Fn 154) S 71 ff. 169 Vgl auch Jarass GR, § 4 Rn 19. Zweifelnd Hatje in: Schwarze, EUV, Art 51 GRCh Rn 20.
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Schutz Rechnung getragen werden (Rn 35). Auch die EMRK nimmt die Privaten nicht als Grundrechtsadressaten in die Pflicht (→ § 2 Rn 48). Die Rspr zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten sollte auch deshalb nicht auf Unionsgrundrechte übertragen werden, weil es nicht um die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes geht. Für die Charta der Grundrechte der EU gilt nichts anderes, weil Art 51 I 1 GRCh die Privaten als Verpflichtungsadressaten der Unionsgrundrechte gerade nicht erwähnt. Allerdings sind einige Normierungen der Grundrechtecharta so gefasst, dass eine unmittelbare Drittwirkung beabsichtigt sein könnte (zB Verbot des Menschenhandels, Art 5 III GRCh, oder Verbot der Kinderarbeit, Art 32 I 1 GRCh).
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Lösung Fall 4: Gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens gem Art 234 I lit a EGV (267 I lit a AEUV) bestehen keine Bedenken. Der grenzüberschreitende Vertrieb der Zeitschrift durch den Bauer-Verlag wird durch Art 28 EGV (34 AEUV) geschützt. Bei den unterschiedslos geltenden österreichischen Wettbewerbsvorschriften, die den Verkauf der Zeitschrift untersagen, handelt es sich um produktbezogene Regelungen und nicht um Anforderungen an Verkaufsmodalitäten iSd Keck-Rspr. Die Regelungen stellen daher Maßnahmen gleicher Wirkung gem Art 28 EGV (34 AEUV) dar und beschränken die Warenverkehrsfreiheit. Unterschiedslos geltende nationale Regelungen, welche die Grundfreiheiten beschränken, können durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt werden. Hierzu rechnet der EuGH die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt. Andererseits müssen sich Beschränkungen der Grundfreiheiten ihrerseits „im Lichte der allgem Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte“ beurteilen lassen. Die Mitgliedstaaten sind nach Auffassung des EuGH folglich bei der Beschränkung der Grundfreiheiten an die Unionsgrundrechte gebunden. Daher müsse der vorliegend durch das Verbot des Zeitschriftenvertriebs gleichzeitig bewirkte Eingriff in das ua in Art 10 EMRK (11 GRCh) geschützte und von Gemeinschafts wegen anerkannte Grundrecht der freien Meinungsäußerung des Bauer-Verlages ebenfalls gerechtfertigt werden können. Dies im Einzelnen zu entscheiden, sei Sache des nationalen Gerichts. Jedenfalls stelle ein umfassendes Vertriebsverbot einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit dar, weil es zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt mildere, gleich effektive Mittel gebe, wie etwa den Hinweis darauf, dass die Gewinnchance Lesern der Zeitschrift in Österreich nicht offen stehe. Bei Zugrundelegung dieser Ansicht verstößt ein umfassendes Vertriebsverbot sowohl gegen die Freiheit des Warenverkehrs als auch gegen das Unionsgrundrecht der Meinungsfreiheit.
VI. Räumlicher und zeitlicher Geltungsbereich der Unionsgrundrechte 56
In räumlicher und zeitlicher Hinsicht bestimmt sich der Geltungsbereich der Unionsgrundrechte nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl auch → § 7 Rn 56 f). Wie die Rechte der EMRK (→ § 2 Rn 51) entfalten auch die Unionsgrundrechte extraterritoriale Wirkungen, weil die Grundrechtsadressaten ihren grundrechtlichen Pflichten auch im Ausland nachkommen müssen. Treten neue Staaten der Union bei, gelten die Unionsgrundrechte ab dem Zeitpunkt des Beitritts, falls nichts anderes vereinbart worden ist. Übergangsfristen sind nur für die Geltung der Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 7, 57), nicht für die Unionsgrundrechte vorgesehen worden. Die Hinnahme einer verspäteten Geltung der Unionsgrundrechte wäre auch kaum mit der Festlegung der EU auf Fundamentalprinzipien (Art 6 EGV/6 AEUV) vereinbar. Sollte die Charta der Grundrechte entgegen ihrem Anliegen, die Grundrechte nur sichtbarer zu machen (Rn 26, 28), doch neue Grundrechtsgewährleistungen erhalten, die sich nicht auf die EMRK oder die Verfassungsüberlieferungen der
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Mitgliedstaaten zurückführen lassen, wären sie erst mit Inkrafttreten der Charta verbindlich.
VII. Gewährleistungen, Beeinträchtigungen und Schranken der Unionsgrundrechte Fall 5: (EuGH, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 6/90, EWGV Art 173/2). Die Hoechst AG hat gem Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) Nichtigkeitsklage gegen eine von der Kommission auf Art 14 III EWG-KartVO (Sartorius II Nr 165) – heute Art 20 KartellverfO – gestützte Nachprüfungsentscheidung erhoben, auf deren Grundlage wegen des Verdachts von Kartellabsprachen die Geschäftsräume der Hoechst AG durchsucht werden sollten.
Die Unionsgrundrechte kommen nur zum Zuge, wenn sie anwendbar sind. Da sich die Anwendbarkeit insbesondere auf das Handeln der Mitgliedstaaten nicht von selbst versteht, empfiehlt es sich, diese Frage vorab zu prüfen. Sodann ist auf das konkret in Betracht kommende Grundrecht einzugehen. Handelt es sich bei dem Grundrecht um ein subjektives Freiheitsrecht und nicht nur um einen Grundsatz (Rn 29), lässt sich ebenso wie bei den EMRK-Grundrechten (→ § 2 Rn 57 ff) und den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 60 ff) idR danach unterscheiden, ob der Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) berührt ist (Rn 60 ff), eine Beeinträchtigung vorliegt (Rn 64) und die Beeinträchtigung nach den maßgeblichen Schrankenregelungen gerechtfertigt ist (Rn 65 ff).170 Geht es um Gleichheits-, Verfahrens-, Unionsbürger- oder (sonstige) Leistungsrechte, dürfte sich eine andere Prüfungsreihenfolge empfehlen. So dürften Gleichheitsverbürgungen wegen ihres bloß modalen Charakters überhaupt keinen Schutzbereich haben. Daher dürfte es regelmäßig angezeigt sein, zweistufig vorzugehen und nur zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und sich diese ggf rechtfertigen lässt. Bei Grundrechten, die auf eine Verfahrensgestaltung – wie zB Recht auf Akteneinsicht (Art 41 II lit b GRCh) –, auf Rechtsschutz (Art 47 GRCh) oder auf eine Leistung gerichtet sind – zB Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 255 EGV/15 AEUV; 42 GRCh) –, dürfte es zumeist zweckmäßig sein, zugleich nach den Anspruchsvoraussetzungen zu fragen (statt zu untersuchen, ob das Unterlassen eine nichtgerechtfertigte Beeinträchtigung darstellt).
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1. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte Die Unionsgrundrechte sind nur anwendbar, wenn es um das Handeln eines Verpflichtungsadressaten der Grundrechte geht (Rn 47 ff) und der räumliche und zeitliche Geltungsbereich der Grundrechte gegeben ist. Soweit eine Überprüfung von Maßnahmen der Mitgliedstaaten am Maßstab des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) in Rede steht, bedarf es keiner Heranziehung der Unionsgrundrechte, wenn zwingendes Primärrecht oder zwingendes primärrechtkonformes Sekundärrecht vorliegt. Jedoch muss das Sekundärrecht selbst stets mit den Unionsgrundrechten vereinbar sein.
170 Ebenso Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 614 ff; Rengeling/Szczekalla GR, § 7 Rn 506.
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2. Schutzbereich der Unionsgrundrechte a) Sachlicher Schutzbereich 60
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Der sachliche Schutzbereich beschreibt den grundrechtlich geschützten Lebensbereich (also zB Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, freie und friedliche Versammlung usw). Dieser ist nach den unionsrechtlichen Maßstäben (Rn 27) zu ermitteln. Soweit sich der EuGH auf ungeschriebene Unionsgrundrechte beruft, fehlt es oftmals an einer genauen Umschreibung des Schutzbereichs. Stattdessen wendet sich der EuGH sogleich der Rechtfertigungsprüfung zu.171 Wird dagegen an die EMRK angeknüpft – was heute idR der Fall ist, wenn diese entsprechende Garantien enthält (Rn 8) – finden sich zumeist auch Ausführungen zum grundrechtlichen Schutzgut. Künftig dürfte auch schon vor Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der EU (Rn 25) stärker an diese angeknüpft werden. Soweit die Charta auf die Maßgaben des Unionsrechts und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweist 172, handelt es sich um Ausgestaltungsvorbehalte 173, wenn die Maßgaben die Grundrechtsschranken betreffen, um diesbezügliche Auslegungsgesichtspunkte. Den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ist nach Art 52 VI GRCh in vollem Umfang Rechnung zu tragen.174 Neue einzelstaatliche Ausgestaltungen müssen sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Der Wesensgehalt der Rechte (Art 52 I 1 GRCh) und der Mindeststandard der EMRK (Art 52 III GRCh) dürfen aber in keinem Falle unterschritten werden. Zudem darf das durch das Recht der Union, der Mitgliedstaaten und das Völkerrecht in seinem jeweiligen Anwendungsbereich gegenwärtig gewährleistete Schutzniveau nicht verkürzt werden (Art 53 GRCh). Schließlich sind die Erläuterungen zur Charta zu berücksichten (Art 52 VII GRCh). Tritt die Charta der Grundrechte der EU in Kraft und überschneiden sich die in ihr anerkannten Rechte mit denjenigen, die in den Verträgen geregelt sind, folgt die Ausübung gem Art 52 II GRCh im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen. Dabei meint Bedingungen die den Schutzbereich definierenden Regelungen, Grenzen, die für den jeweiligen, aus den Verträgen folgenden Rechte vorgesehenen Schranken.175 Falls es zu Kollisionen kommt, gelten die vertraglichen Regelungen vorrangig. Im Übrigen besteht grds Idealkonkurrenz. Dies gilt auch zwischen den aus der EMRK oder den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entnommenen Grundrechten sowie zwischen den Grundrechten innerhalb der Charta. Anderes ist anzunehmen, wenn sich eine grundrechtich Gewährleistung als spezieller erweist (so das Verbot der Folter gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Verbot der Zwangsarbeit gegenüber der negativen Berufsfreiheit176). In seltenen Fällen kann ein Grundrecht den Schutzbereich eines anderen Grundrechts begrenzen. Bspw ist einem Berufsverbrecher oder einem Rauschgifthändler jedenfalls deshalb die Berufung auf das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit (Art 15 GRCh) verschlossen, weil die Tätigkeit schlechthin der Garantie der Men-
171 Krit zu Recht Nettesheim EuZW 1995, 106 f; Huber Integration, 103. 172 Art 9, 10 II, 14 III, 16, 28, 30, 34 I, II, III, 35 GRCh. Teilweise beziehen sich die Vorbehalte nur auf Grundsätze (im Gegensatz zu Rechten). 173 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 GRCh Rn 49. 174 Nach den Erläuterungen zu Art 52 VI GRCh (Rn 27) dient die Vorschrift der Subsidiarität. 175 Becker in: Schwarze, EUV, Art 52 Rn 12. 176 Frenz GR, Rn 488.
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schenwürde (Art 1 GRCh) zuwider läuft. Kollidiert der Grundrechtsgebrauch des einen Grundrechtsinhabers mit dem Grundrechtsgebrauch eines anderen (wie zB im Falle der Kollision des Rechts auf Achtung des Privatlebens mit der Kunstfreiheit), sind die gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen im Rahmen der Schrankenregelungen (nicht des Schutzbereichs) gem dem Prinzip der praktischen Konkordanz miteinander zum Ausgleich zu bringen.177 Bspw ist zu fragen, ob die Einschränkung des Rechts auf Achtung des Privatlebens durch das kollidierende Grundrecht der Kunstfreiheit gerechtfertigt werden kann. Dementsprechend bestimmt Art 52 I 2 GRCh, dass der Schutz „der Rechte und Freiheiten anderer“ ein legitimer Grund für die Einschränkung von Grundrechten sein kann. Ebenso wie die Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 66) dürfen auch die Unionsgrundrechte nicht missbräuchlich in Anspruch genommen werden. So schreibt Art 54 GRCh vor, dass keine Bestimmung der Charta so auszulegen ist, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken als dies in der Charta vorgesehen ist. Das Missbrauchsverbot soll dem Schutz von Rechtsstaat und Demokratie dienen. Art 54 GRCh bezieht sich in erster Linie auf die Grundrechtsberechtigten (Rn 42 ff). Handeln diese missbräuchlich, ist der Schutzbereich der einschlägigen Grundrechtsverbürgung (mangels Rechtsbegründung) nicht eröffnet. Wie die Anknüpfung an Art 17 EMRK und den dort auch als Adressaten des Missbrauchsverbots genannten Staat sowie die Handlungsmodalitäten „abschaffen und einschränken“ zeigen, werden aber auch die Hoheitsträger (EU, Mitgliedstaat) durch die Vorschrift in die Pflicht genommen.178 Insoweit wirkt das Missbrauchsverbot nicht als Schutzbereichsbegrenzung, sondern als Schranken-Schranke. Sie untersagt den Hoheitsträgern, die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkung (Beeinträchtigung) zu missbrauchen. Die praktische Bedeutung des Missbrauchsverbots ist gering. An das Vorliegen eines Missbrauchs sind strenge Anforderungen zu stellen, so dass nur in krassen Ausnahmefällen von einem Missbrauch ausgegangen werden kann. Anders als dies in der Lit vertreten wird179, kann ein Missbrauch nicht von vornherein im Hinblick auf bestimmte Grundrechtsgewährleistungen (wie den Justizgrundrechten) ausgeschlossen werden.180 Ist missbräuchliches Handeln anzunehmen, führt dieses entgegen der Regelung des Art 18 GG nicht zur Grundrechtsverwirkung, sondern nur zu einer Versagung des Grundrechtsschutzes im Einzelfall. Für die Hoheitsträger dürfte das Missbrauchsverbot wegen der Schrankenregelungen des Art 52 I 2 GRCh kaum Bedeutung haben.
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b) Persönlicher Schutzbereich In personeller Hinsicht ist der Schutzbereich der Unionsbrundrechte berührt, wenn eine Grundrechtsberechtigung (Grundrechtsträgerschaft) der das Grundrecht in Anspruch
177 Vgl auch Jarass GR, § 5 Rn 33 f. 178 AA Kingreen in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art 54 GRCh Rn 2 (mit Hinweis darauf, dass Grundrechtsverpflichtete Befugnisse, aber keine Rechte haben); Hatje in: Schwarze, EUV, Art 54 GRCh Rn 3. 179 Rengeling/Szczekalla GR, Rn 504; Jarass GR, § 6 Rn 67. Vgl auch Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 54 Rn 10. 180 ZB fehlt beim Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs das Rechtsschutzbedürfnis für die Einlegung eines Rechtsbehelfs.
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nehmenden Person vorliegt (Rn 42 ff). Abzustellen ist auf das jeweils einschlägige Grundrecht, nicht nur darauf, wer überhaupt Grundrechtsberechtigter sein kann. So wird der Schutzbereich eines Unionsgrundrechts bspw nicht tangiert, wenn sich eine juristische Person auf ein höchstpersönliches Grundrecht beruft.
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 64
Eine grundrechtlich geschützte Freiheit kann nur verletzt werden, wenn die Freiheit beeinträchtigt wird. Statt von Beeinträchtigung kann auch von einer Einschränkung (limitation; Art 52 I 1 GRCh) oder von einem Eingriff gesprochen werden. Eine nähere Rspr des EuGH zur Eingriffsdogmatik gibt es bisher nicht. In Deutschland wird im Hinblick auf die nationalen Grundrechte zwischen klassischen und mittelbaren Eingriffen unterschieden. Während sich die klassischen Eingriffe handlungsbezogen durch die Merkmale Rechtsakt, Finalität des Handelns, Unmittelbarkeit der Bewirkung und/oder Handeln durch Befehl oder Zwang auszeichnen, wird bei den mittelbaren Eingriffen wirkungsbezogen auf den Erfolg abgestellt. Ausreichend soll sein, ob ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, wobei sich die mittelbare Eingriffsschwelle nur schwer bestimmen lässt (und letztlich nicht ohne Heranziehung eines gewissen Erheblichkeitskriteriums auskommt).181 Ähnliche Probleme stellen sich auch im Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht). Dass klassische Eingriffe die Unionsgrundrechte beeinträchtigen, unterliegt keinem Zweifel. Auf die Erheblichkeit der Nachtteilszufügung kommt es insoweit nicht an. Da der Gerichtshof ähnlich wie der EGMR (→ § 2 Rn 60) von einem weiten Eingriffsverständnis (etwa iSe Gleichsetzung mit Belastung) ausgeht, werden aber auch mittelbare Auswirkungen hoheitlicher Maßnahmen auf die grundrechtlich geschützten Güter erfasst.182 Doch muss insoweit ebenso wie bei den Grundfreiheiten (→ § 7 Rn 79) eine gewisse Nähebeziehung zwischen Maßnahme und beeinträchtigender Wirkung gegeben sein. Auch dürften mittelbare Grundrechtseinwirkungen eine gewisse Spürbarkeitsgrenze überschreiten müssen.183 Eingriffscharakter haben auch Sekundärrechtsakte der Gemeinschaften, die noch der Umsetzung bedürfen, sofern die Umsetzungspflicht die Grundrechte beeinträchtigt (mögen die Berechtigten eine Grundrechtsverletzung auch erst nach Umsetzung oder unmittelbarer Anwendung der sekundärrechtlichen Bestimmungen geltend machen können). Ungeklärt ist bislang, ob ein Grundrechtseingriff auch dann in Frage kommen kann, wenn nur eine von mehreren vorgegebenen Umsetzungsoptionen die Unionsgrundrechte berührt.184 An einem Grundrechtseingriff fehlt es ferner, wenn der Grundrechtsträger in zulässiger Weise in die Beeinträchtigung eingewilligt bzw auf seinen Grundrechtsschutz verzichtet hat. Unzulässig sind Einwilligung oder Verzicht, wenn ihnen Unionsinteressen von erheblichem Gewicht entgegenstehen.185 Insb kann auf die Menschenwürde (Art 1 GRCh) niemals verzichtet werden. Unterliegen die Grundrechte der Ausgestaltung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Rn 60), kann ebenso wie im Falle einer Anwendung der EMRK (→ § 2 Rn 59) von einem Eingriff ausgegangen werden, wenn das
181 Näher zum Ganzen Pieroth/Schlink Grundrechte, Staatsrecht II, 24. Aufl 2008, Rn 238 ff. 182 Vgl EuGH, Slg 1996, I-3953, Rn 22 f – Bosphorus; v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 32. 183 AA Szczekalla (Fn 117) S 300 ff; Rengeling/Szczekalla GR, § 7 Rn 517. 184 Vgl dazu Kühling in: v Bogdandy, Europ VfR, 583, 615. 185 Vgl auch Jarass GR, § 6 Rn 23.
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Untermaßverbot missachtet oder in eine nach bisherigem Recht bestehende grundrechtlich geschützte Position eingegriffen wurde.
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Unionsgrundrechte Unionsgrundrechte können nach der Rspr des EuGH grds „keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen“.186 Vorbehaltslos zu gewährleisten sind aber zB die Würde des Menschen (Art 1 GRCh), das Verbot der Folter und der Sklaverei (Art 3, 4 I EMRK/45 I GRCh) oder der Schutz vor bestimmten Ausweisungen (Art 4 ZP Nr 4 zur EMRK/19 GRCh). In solchen Fällen kann es jedenfalls idR höchstens zu einer Begrenzung des Grundrechtschutzes auf der Tatbestandsebene kommen (etwa wenn und soweit sich die Grundrechtsnormierungen uU in Abwägung mit anderem Unionsrecht einengend interpretieren lassen; vgl auch → § 2 Rn 60). Ob kollidierendes Unionsrecht die vorbehaltslos gewährleisteten Grundrechte einzuschränken vermag187, ist in der Rspr bisher nicht geklärt. Ohnehin könnte es sich nur um äußerst seltene Ausnahmefälle handeln. Soweit die Unionsgrundrechte der EMRK entnommen werden und die EMRK-Rechte Schrankenregelungen vorsehen, ist eine Orientierung an diesen geboten. Im Falle einer Herleitung der Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, kommt es auf die – vom EuGH zu bewertenden – Schrankenregelungen dieser Verfassungsüberlieferungen an. Im Ergebnis dürften ebenfalls die in Art 52 I GRCh positivierten Vorgaben zu beachten sein, weil sie nur wiedergeben, was sich ohnehin aus den allgem Rechtsgrundsätzen ergibt. Auch die Charta der Grundrechte gestattet grds Einschränkungen, was die Anerkennung vorbehaltslos gewährleisteter Grundrechte in der Charta nicht ausschließt. Statt für jedes einzelne Grundrecht Schranken zu formulieren, wurde in Gestalt des Art 52 I GRCh eine allgemeine (horizontale) Schrankenregelung getroffen.188 Danach muss jede Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt der Rechte und Freiheiten achten, dem Gemeinwohl dienen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Teilweise enthalten die einzelnen Unionsgrundrechte ergänzende Schrankenregelungen.189 Nicht hinreichend geklärt ist die Zuordnung der in Art 52 II, III und IV GRCh getroffenen speziellen Regelungen zu der allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCh. Wohl überwiegend wird angenommen, dass die Schrankenbestimmungen der in den Verträgen (außerhalb der Charta) geregelten Rechte sowie die Schrankenbestimmungen der EMRK leges speciales mit Art 52 I GRCh (sowie IV und VI) verdrängende Wirkung darstellen.190 Nach anderer Auffassung wird Art 52 I GRCh nur modifiziert.191 Die unterschiedliche dogmati-
186 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat; Slg 2000, I-2737 Rn 45 – Karlsson. 187 Zur Rechtsfigur des kollidierenden Verfassungsrechts als immanenter Grundrechtschranken der deutschen Grundrechte vgl Pieroth/Schlink (Fn 181) Rn 325 ff. 188 Ausf zur Schrankendogmatik Kober Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 2009, 192 ff. 189 So zB Art 8 II 1, 17 I 2 GRCh. 190 Vgl Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 52 GRCh Rn 8; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 463, 473; Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 52 Rn 13, 24, 29. 191 Vgl insb v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 30 f; ferner Magiera in: Scheuing (Hrsg), Europäische Verfassungsordnung, 2003, 117, 125 f; Beutler in: vd Groeben/Schwarze,
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sche Einstufung dürfte sich idR nicht auswirken. Nach der hier vertretenen Auffassung gelten Art 52 II, III 1 EMRK vorrangig.192 Eine Notwendigkeit, zusätzlich auf Art 52 I EMRK zu rekurrieren, besteht nicht, weil die dort genannten Anforderungen im Unionsund EMRK-Recht ohnehin nicht unterschritten werden dürfen. Art 52 I GRCh kann aber eine Klarstellungsfunktion zugesprochen werden. Die Bestimmung des Art 52 IV GRCh formuliert nur eine Auslegungsregel. Soweit die Charta hinsichtlich der Ausgestaltung der Unionsgrundrechte auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweist, wird prinzipiell nur der Schutzbereich betroffen (Rn 60). Sollten die genannten Rechtsquellen ausnahmsweise auch Anhaltspunkte für die Beschränkung der Unionsgrundrechte enthalten, kann es sich wiederum nur um Auslegungsgesichtspunkte handeln. Im Folgenden kann es nur darum gehen, die allgem Schrankenregelungen der Unionsgerichte zu verdeutlichen. Beachtet werden müssen sowohl die formellen (Rn 67) und materiellen (Rn 68) Erfordernisse als auch die SchrankenSchrankenregelungen (Rn 69 ff). a) Gesetzesvorbehalt 67
In seiner Hoechst-Entscheidung (Fall 5) hat der EuGH davon gesprochen, dass in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder natürlichen oder juristischen Person einer „Rechtsgrundlage“ bedürfen und „aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen“ gerechtfertigt sein müssen. Das Erfordernis eines solchen Schutzes sei als allgem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen.193 Ebenso schreibt Art 52 I 1 GRCh ausdrücklich vor, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss (provided for by law/prévue par la loi). Eine Beeinträchtigung der Unionsgrundrechte ist somit nur durch oder aufgrund Gesetzes zulässig. Welche Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt zu stellen sind, ist bisher noch nicht höchstrichterlich abschließend geklärt.194 Greifen die Gemeinschaften (oder die Union) selbst in die Unionsgrundrechte ein, ist eine Ermächtigungsgrundlage in einer EG-VO (Art 249 II EGV/288 II AEUV), einer Richtlinie195 (Art 249 III EGV/288 III AEUV) oder – wenn solche Akte nicht erlassen werden können – eine sich unmittelbar aus dem Vertragsrecht selbst ergebende Befugnis zur Einschränkung von Grundrechten zu fordern. Einzelfallentscheidungen (249 IV EGV/288 IV AEUV: Beschlüsse) reichen ebenso wenig aus wie unverbindliche Empfehlungen und Stellungnahmen (Art 249 V EGV/288 V AEUV).196 Im Hinblick auf die demokratische und rechtsstaatliche Wurzel des Gesetzesvorbehalts genü-
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EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 119; Molthagen Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, 2003, 170 ff; Jarass GR, § 6 Rn 27, 34; Becker in: Schwarze, EUV, Art 52 Rn 3. So auch v Danwitz/Röder in: Stern/Tettinger, Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, 58. EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst. Für die Grundfreiheiten gilt entsprechendes (→ § 7 Rn 92). Näher zum Ganzen Rieckhoff Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, 67 ff; Röder Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, 2007. Entfaltet die RL nicht unmittelbare Wirkung, kommt erst der innerstaatliche Umsetzungsakt als Eingriffsgrundlage in Betracht. Vgl auch v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 33.
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gen ferner bloße Durchführungsbestimmungen der Kommission197 (übertragene Gesetzgebungsbefugnisse198), die sich nicht oder nicht hinreichend auf einen die Grundrechtsbeeinträchtigung legitimierenden Basisrechtsakt des Rates zurückführen lassen, nicht den Anforderungen.199 Teilweise wird weitergehend verlangt, dass das Parlament – im Wege der Mitentscheidung (Art 251 EGV/294 AEUV), der Zusammenarbeit (Art 252 EGV), der Zustimmung (zB Art 105 VI EGV) oder jedenfalls der Anhörung (zB Art 172 I EGV/188 I AEUV) – an den Gesetzgebungsverfahren beteiligt gewesen sein muss.200 Eine soweit gehende Vorgabe lässt sich jedoch weder aus dem geltenden Recht noch aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union herleiten. Wohl aber ist anzunehmen, dass je gravierender die Grundrechtsbeeinträchtigung ist, desto eher das Parlament beteiligt gewesen und desto qualifizierter die Beteiligung und die Regelungsdichte ausgefallen sein muss.201 Insofern lässt sich von einer gemeinschaftsrechtlichen (unionsrechtlichen) Wesentlichkeitslehre sprechen, die an die Wesentlichkeitsrspr des BVerfG zum Verhältnis von Parlamentsrecht und administrativen Gesetzesrecht202 erinnert. Mitgliedstaatliche Beschränkungen der Unionsgrundrechte benötigen ebenfalls eine Ermächtigung durch oder aufgrund Gesetzes. Die EMRK überlässt es in einem gewissen Ausmaße den Staaten, darüber zu entscheiden, was unter einem Gesetz zu verstehen ist. So soll in dem Common-Law-Rechtskreis uU ungeschriebenes Recht ausreichen (→ § 2 Rn 63). Ob dies auch für das Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) gilt, ist nicht zweifelsfrei, im Ergebnis aber gleichwohl anzunehmen.203 Verlangt wird nicht ein Gesetz im formellen Sinn (Parlamentsgesetz), sondern im materiellen Sinn (dh regelmäßig eine abstrakt-generelle Regelung). Stets müssen die Schrankenregelungen aus rechtsstaatlichen Gründen aber im innerstaatlichen Rechtskreis als (Außen-)Rechtsnorm angesehen werden,204 allgem zugänglich und so hinreichend bestimmt und vorhersehbar sein, dass die Bürger ihr Verhalten danach einrichten können (→ § 2 Rn 63). Darüber hinaus dürften die im jeweiligen innerstaatlichen Recht für Freiheitsbeschränkungen geltenden Maßstäbe (zB im Hinblick darauf, ob es eines Parlamentsgesetzes bedarf oder ob eine VO oder eine Satzung ausreicht) auch auf die Unionsgrundrechte anzuwenden sein. b) Verfolgung zulässiger Ziele Unionsgrundrechte dürfen nur aus Gründen beschränkt werden, welche sich auf die „dem Gemeinwohl dienenden Ziele der Gemeinschaft“ 205 (EU) oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer zurückführen lassen (vgl auch Art 52 I GRCh). Die Inbezugnahme auf die Zielsetzung der Gemeinschaft (EU) bedeutet nicht, dass nur Aufgaben respektive Ziele iSd Art 2 EGV/3 EUV-E verfolgt werden dürfen. Viel-
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Art 202 UA 3, 211 UA 4 EGV. Art 290 AEUV. Im Ergebnis ebenso Jarass GR, § 6 Rn 37. Näher dazu Rieckhoff (Fn 194) S 93 ff; Röder (Fn 194) S 27 f. Vgl auch Borowsky in: Meyer, ChGR, Art 52 Rn 20a; Frenz GR, Rn 523, 526. Vgl zB BVerfGE 40, 237, 249 f; 49, 89, 126; 83, 130, 142, 151 f; 95, 267, 307 f; 98, 218, 251 f; 108, 282, 311. 203 Hierfür spricht auch die Transfer- bwz Kohärenz- oder Konkurrenzklausel des Art 52 III 1 GRCh. Im Ergebnis ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 GRCh Rn 63. 204 Vgl auch EGMR, EuGRZ 1984, 147, Rn 86 – Silver. 205 Vgl EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 2000, I-2737, Rn 45 – Karlsson.
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mehr kann es sich um sonstige Gemeinwohlinteressen handeln, die durch andere Vertragsbestimmungen geschützt werden.206 Soweit die EG (EU) tätig wird, darf sie aber nur die ihr übertragenen Aufgaben wahrnehmen.207 Von Bedeutung sind ferner die in den Schrankentatbeständen der EMRK genannten Schutzgüter. Bestimmt sich der Grundrechtsschutz nach den Regeln der EMRK, dürfen Einschränkungen nur zu den in den Schrankenbestimmungen vorgesehenen Zwecken erfolgen (Art 18 EMRK). Legitime Ziele für die Einschränkung der Unionsgrundrechte können sich ferner auch schon vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta aus den in ihr positivierten Grundsätzen (Art 52 V GRCh) ergeben. So dürfen Wirtschaftsgrundrechte etwa aus Gründen eines wirksamen Verbraucherschutz208 und eines funktionierenden Wettbewerbs209 eingeschränkt werden. Die Mitgliedstaaten müssen sich ebenfalls auf die vom Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) anerkannten Gemeinwohlgründe und Rechte sowie Rechte und Freiheiten anderer berufen können, sind aber in diesem Rahmen befugt, selbstständig ihre Interessen zu bestimmen.210 c) Schranken-Schranken 69
Dürfen die Unionsgrundrechte beschränkt werden, unterliegen die Schranken ihrerseits Gegenschranken. Als solche kommen die Wesensgehaltsgarantie, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundfreiheiten und sonstigen Primärrechtsbestimmungen in Betracht. aa) Wesensgehaltsgarantie
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Nach der Rspr des EuGH dürfen die Beschränkungen der Unionsgrundrechte diese nicht in ihrem Wesensgehalt antasten.211 Eine entsprechende Bestimmung enthält auch die Grundrechtecharta (Art 52 I 1). Ob dadurch nur ein generell-absoluter Grundrechtskern oder ein individueller (auf den einzelnen Grundrechtsinhaber bezogener) und relativer (im Einzelfall zu ermittelnder) geschützt werden soll, ist unklar geblieben. Vielfach wird Ersteres angenommen.212 Gewahrt ist die Wesensgehaltsgarantie bei Zugrundelegung dieses Verständnisses bereits dann, wenn die Grundrechtsnorm allgem im Wesentlichen erhalten bleibt. Der Wesensgehaltsgarantie kommt in diesem Falle – ähnlich wie im deutschen Recht – nur noch geringe Bedeutung (neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) zu. Vollständig ihre eigenständige Funktion wegen des Aufgehens in die Verhältnismäßigkeitsprüfung verliert sie, wenn man in ihr lediglich eine individuell im Einzelfall zu ermittelnde Kerngehaltsschranke sieht.
206 207 208 209 210
Vgl Erläuterungen zu Art 52 GRCh (Art 52 VII GRCh). Vgl Art 6 II EUV-E; v Danwitz in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 Rn 37. EuGH, Slg 1986, 2897, Rn 14 f – Keller. EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 25 – Hoechst. Vgl näher zum Ganzen Bühler Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta 2005, 235 ff. 211 Vgl zB EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 1989, 2237 Rn 15 – Schräder; Slg 2000, I-2737, Rn 58 – Karlsson. 212 Vgl Rengeling/Szczekalla § 7 Rn 445 ff; Szczekalla in: Heselhaus/Nowak, GR, § 7 Rn 49 ff.
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bb) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Eine Grundrechtsbeeinträchtigung ist nach stRspr des EuGH ferner nur gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig ist.213 Verhältnismäßig (im weiteren Sinne) ist ein Grundrechtseingriff, wenn ein als solches zulässiges Mittel eingesetzt wird und dieses geeignet, erforderlich und angemessen für die Verwirklichung des mit ihm zulässigerweise angestrebten Zwecks ist (näher zu den einzelnen Merkmalen → § 7 Rn 109). Die Art 5 III EGV, 5 IV EUV-E, 52 I 2 GRCh nennen zwar ausdrücklich nur die Erforderlichkeit. Doch setzt diese geeignete Maßnahmen voraus. Auch entspricht eine Einschränkung der Grundrechte nur dann „tatsächlich“ (Art 52 I 2 GRCh) der verfolgten Zielsetzung, wenn sie sich zur Verwirklichung dieser Zielsetzung eignet. Des Weiteren erwähnen die Protokolle über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ebenfalls die Angemessenheit (wenn auch nur unter einem speziellen Gesichtspunkt).214 Vor allem aber kann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auf eine Abwägung der Nachteile zu dem erstrebten Erfolg nicht verzichten. Dies wird im Grundsatz auch vom EuGH anerkannt.215 Dessen ungeachtet prüft der EuGH oftmals nicht alle genannten Komponenten der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere wird zur Angemessenheit vielfach keine Stellung genommen. Wenn dies doch geschieht, wird nicht selten nur eine objektive Proportionalitätsprüfung anstelle einer Abwägung zwischen den Allgemein- und Individualinteressen unter Einbeziehung der individuellen Zumutbarkeit vorgenommen.216 Des Weiteren ist die Kontrolldichte (margin of appreciation) im Vergleich zur Verhältnismäßigkeitsprüfung im deutschen Recht gering, weil weite Einschätzungsprärogativen anerkannt werden.217 So begnügt sich der Gerichtshof nicht nur gelegentlich mit der Feststellung der Legitimität des mit dem Grundrechtseingriff verfolgten Ziels und der nicht offensichtlichen Ungeeignetheit der hierzu ergriffenen Maßnahmen.218 Auch auf eine Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung darf indessen nicht verzichtet werden. Ferner reicht es nicht aus, nur auf offensichtliche Fehler abzustellen. Andererseits ist es nicht zu beanstanden, wenn im Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) nicht die (zT überaus) strengen Maßstäbe der in Deutschland gängigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde gelegt werden, weil die Gestaltungsspielräume des europäischen (aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehenden) Gesetzgebers und der Verwaltung nicht über Gebühr verkürzt werden dürfen (vgl auch → § 7 Rn 110).
213 Vgl etwa EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 18 – Wachauf; Slg 1994, I-4973, Rn 90 ff – Deutschland/ Rat; Slg 2000, I-2737, Rn 45 – Karlsson. Näher zum Verhältnismäßigkeitsprinzip des Gemeinschaftsrechts und zur Rspr des EuGHs Tridimas (Fn 18) S 141 f; Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; Koch Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003. 214 Vgl Nr 7 des Protokolls von 1997 und Art 5 des gleichnamigen Protokolls zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. 215 Vgl EuGH, Slg 1989, 2237 Rn 21 – Schräder. 216 Vgl Emmerich-Fritsche (Fn 213) S 216. 217 Krit dazu Nettesheim EuZW 1995, 106 f; Huber EuZW 1997, 517, 521; Stein EuZW 1998, 261, 262; Pache EuR 2001, 475, 488 f; v Danwitz EWS 2003, 393, 394 ff; ders in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 52 GRCh Rn 19 f, 29, 43; Frenz GR, Rn 627 ff. Vgl demgegenüber aber auch Kischel EuR 2000, 380, 398 ff; v Bogdandy JZ 2001, 157, 161 ff. 218 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 20 ff – Schräder; Slg 1990, I-4023, Rn 13 ff – Fedesa.
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Besonders zurückhaltend ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH, wenn es um die Beurteilung der Vereinbarkeit von VO oder RL der Gemeinschaften mit den Unionsgrundrechten geht. Dies lässt sich am Beispiel der ersten Entscheidung des EuGH zur Bananenmarkt-VO verdeutlichen.219 Die Bananenmarkt-VO hat die Einführung von Bananen aus Drittstaaten in die Gemeinschaft drastisch reduziert (vgl Fall 1). Dies könnte die Unionsgrundrechte des Eigentums und der Berufsfreiheit der Einführer von Drittlandbananen verletzen. Einen Eingriff in das Eigentumsrecht verneint der EuGH, weil kein Wirtschaftsteilnehmer ein Eigentumsrecht an einem Marktanteil geltend machen kann.220 Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit diene Gemeinwohlzielen221 und sei deshalb verhältnismäßig, weil die Maßnahme zur Erreichung der agrarpolitischen Zielsetzung nicht offensichtlich ungeeignet sei. Zwar lasse sich nicht ausschließen, dass das verfolgte Ziel durch weniger einschneidende Maßnahmen hätte erreicht werden können. Der Gerichtshof könne jedoch nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch eine eigene Beurteilung ersetzen, wenn nicht der Beweis erbracht werde, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet seien. Der Nachweis einer „offensichtlich irrige(n) Beurteilung“ des Gemeinschaftsgesetzgebers sei dem Kl nicht gelungen. Daher greife die Rüge einer Verletzung des Rechts auf freie Berufsausübung und der Nichteinhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht durch. cc) Grundfreiheiten und sonstige Primärrechtsbestimmungen
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Wegen der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung können die Unionsgrundrechte ferner nur dann wirksam eingeschränkt werden, wenn die Maßnahmen auch mit dem sonstigen primären Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten, vereinbar sind. Lösung Fall 5: Bedenken gegen die Zulässigkeit der von der Hoechst AG gem Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) erhobenen Nichtigkeitsklage bestehen nicht. Begründet ist die Nichtigkeitsklage, wenn die Entscheidung der Kommission rechtswidrig (vernichtbar) ist. Das ist der Fall, wenn sie einer wirksamen Rechtsgrundlage entbehrt (1.) oder die wirksame Rechtsgrundlage rechtswidrig angewendet worden ist (2.). 1. Die Entscheidung der Kommission beruht hier auf Art 14 EWG-KartVO, der die Kommission auch zur Durchführung von Durchsuchungen ermächtigt. Eine Überprüfung der VO am Maßstab des Unionsgrundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung lehnt der EuGH mit der nicht überzeugenden Begründung ab, dass dieses Unionsgrundrecht nicht Geschäftsräume schützt 222 (für einen Schutz der Geschäftsräume durch Art 8 EMRK dagegen die spätere Entscheidung des EGMR, NJW 1993, 718, Rn 29 ff – Niemitz). Jedoch sollen wegen entsprechender mitgliedstaatlicher Verfassungsüberlieferungen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, die Schutz vor willkürlichen oder unver-
219 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 90 ff – Deutschland/Rat. 220 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat; vgl aber auch EuGH, Slg 1996, I-6065, Rn 43 – T Port, wonach Härtefälle zu berücksichtigen sind. 221 Was im Hinblick auf die Nichtvereinbarkeit der Bananenmarkt-VO mit der WTO fraglich ist, vgl WTO-Panel, EuZW 1999, 431 ff. 222 Zum Wohnungsbegriff iSd Art 7 GRCh vgl → § 16.1 Rn 21.
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hältnismäßigen Eingriffen bieten muss. Dies läuft auf die Anerkennung einer allgem Handlungsfreiheit hinaus. Die EWG-KartVO genügte nach Ansicht des EuGH diesen Anforderungen. 2. Da die Kommission Art 14 EWG-KartVO auch grundrechtskonform angewendet hat, wurde die Nichtigkeitsklage zurückgewiesen.
5. Schematische Zusammenfassung Schematisch zusammengefasst sollten die Unionsgrundrechte im Regelfall wie folgt geprüft werden: I. Herleitung der Unionsgrundrechte 1. Geschriebenes Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) 2. Art 6 II EUV (Rechtserkenntnisquellen) a) EMRK b) Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 3. Bei Inkrafttreten: Charta der Grundrechte der EU II. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte 1. Handeln der EG (EU) 2. Durchführung des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) durch die Mitgliedstaaten (Handeln im Anwendungsbereich) 3. Handeln im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Unionsgrundrechte III. Schutzbereich der Unionsgrundrechte 1. Sachlicher Schutzbereich a) Vorliegen eines grundrechtlich geschützten Lebensbereichs (bei Freiheitsrechten) Ggf Abgrenzung der Grundrechte b) Vorliegen einer Ungleichbehandlung, eines Verfahrensverstoßes oder der grundrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen (bei Gleichheits-, Verfahrens-, Unionsbürger- und Leistungsgrundrechten) c) Bei Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der EU: Beachtung der Art 52 II – VII GRCh d) Keine missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundrechte 2. Persönlicher Schutzbereich Grundrechtsberechtigung 3. Räumlicher Schutzbereich Extraterritoriale Wirkung der Unionsgrundrechte 4. Zeitlicher Schutzbereich Fällt zusammen mit der Begründung der Mitgliedschaft in der Union IV. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 1. Im Falle von Freiheitsrechten: a) Unmittelbare Eingriffe b) Mittelbare Eingriffe (1) Hinreichende Nähe (2) Spürbarkeit (str) 2. Im Fall von Gleichheits-, Verfahrens-, Unionsbürger- und Leistungsrechten: entbehrlich V. Rechtfertigung 1. Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage a) Im Falle eines Handelns der EG (EU):
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(1) VO oder RL des Rates (nicht der Kommission) (2) Ggf Beteiligung des Parlaments (3) Hinreichender Regelungsdichte b) Im Falle eines Handelns der Mitgliedstaaten: (1) Gesetzliche Grundlage (2) Außenrechtsnormen, hinreichende Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit 2. Verfolgung zulässiger Ziele Gemeinwohlziele sowie Schutz der Rechte und Freiheiten anderer a) Allgem Zielbestimmungen des EG-Rechts (EU-Rechts) b) Schrankenbestimmungen der EMRK c) Grundsatzzielbestimmungen d) Zielbestimmung des sonstigen Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) e) Gemeinwohlziele der Mitgliedstaaten und Schutz der Rechte und Freiheiten anderer im Rahmen des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) 3. Schranken-Schranken a) Beachtung der Wesensgehaltsgarantie b) Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (1) Allgem Zulässigkeit des eingesetzten Mittels (2) Geeignetheit des Mittels (3) Erforderlichkeit des Mittels (4) Angemessenheit des Mittels c) Beachtung der Grundfreiheiten und der sonstigen Primärrechtsbestimmungen
VIII. Rechtsschutz 1. Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen 76
Gem Art 46 lit d EUV ist dem EuGH die Kompetenz übertragen worden, die Einhaltung der Grundrechte in Bezug auf die Handlung der Organe zu kontrollieren, sofern der Gerichtshof nach dem EGV oder EUV zuständig ist. Das Handeln der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) wird vor allem über die Vertragsverletzungsklage (Art 226, 227 EGV/258, 259 AEUV) und mittelbar auch über das Vorabentscheidungsverfahren (vgl vor allen Dingen Art 234 EGV/267 AEUV) kontrolliert. Im Einzelnen ergeben sich die Zuständigkeiten des Gerichtshofs für die EG, EU und Mitgliedstaaten aus den Art 35 EUV, 226 ff EGV (258 ff AEUV). Eine Verfassungsoder Grundrechtsbeschwerde kennt das Unionsrecht nicht. Die Justiziabilität gegenüber den Gemeinschaftsorganen (Unionsorganen) ist daher nur gegeben, wenn das Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) eine Rechtsschutzform zur Verfügung stellt (und die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben sind). Rügt der Einzelne, dass eine Maßnahme der Gemeinschaft (EU) die Unionsgrundrechte verletzt, kommt eine Nichtigkeitsklage gem Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) in Betracht. Voraussetzung ist, dass eine an den Betroffenen gerichtete Entscheidung oder eine Entscheidung vorliegt, die, obwohl sie als VO oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist, den Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft. Im Falle des unionsgrundrechtswidrigen Untätigbleibens der Gemeinschaft (etwa Missachtung einer grundrechtlichen Schutzpflicht) kann eine Untätigkeitsklage nach Art 232 EGV (265 AEUV) zulässig sein. Dagegen kennt das Gemeinschaftsrecht bisher keinen allgem Individualrechtsschutz gegen Nor-
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Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte
§ 14 VIII 1
men223 (oder auf Erlass von Normen) sowie keine individuellen Leistungs- und Feststellungsklagen.224 Diese Rechtslage ist insofern problematisch, als die Unionsgrundrechte zB unmittelbar durch Sekundärrecht verletzt werden können, von einem Grundrecht iS eines subjektiven Rechts aber nur dann gesprochen werden kann, wenn die geschützten Interessen gerichtlich geltend gemacht werden können. Als Ausweg verweist der EuGH auf den Rechtsschutz der mitgliedstaatlichen Gerichte. Zwar ist es den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht gestattet, über die Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht zu befinden. Eine Nichtigkeitsklage vor einem deutschen Gericht wäre bereits mangels Unterworfensein unter die deutsche Gerichtsbarkeit unzulässig. In Betracht kommt aber eine auf Nichtanwendbarkeit des Sekundärrechtsaktes in Deutschland gerichtete verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage. Hält das Verwaltungsgericht den Sekundärrechtsakt für primärrechtswidrig, kann und muss es gem Art 234 EGV (267 AEUV) den EuGH anrufen. Künftig soll der Rechtsschutz gegen Normen verbessert werden. Art 263 IV AEUV sieht vor, dass natürliche oder juristische Personen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben können. Der Darlegung einer individuellen Betroffenheit bedarf es dann nicht mehr. Doch werden nur VO iSd Art 290 AEUV erfasst.225 Beruft sich der Einzelne darauf, dass mitgliedstaatliche Maßnahmen die Unionsgrundrechte verletzen, ist von den nationalen Gerichten Rechtsschutz zu gewähren. Die Unionsgrundrechte dürften als öffentlich-rechtliche Normen iSd § 40 I 1 VwGO anzusehen oder solchen Normen zumindest gleichzustellen sein,226 so dass idR regelmäßig der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Anderes gilt bei Zugrundelgung der deutschen Rspr227 aber, wenn das Rechtsverhältnis, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird, privatrechtlicher Natur ist. So sollen die ordentlichen Gerichte befugt und verpflichtet sein, im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach § 13 GVG über die öffentlich-rechtlichen Bindungen eines privatrechtlichen Verwaltungshandelns mitzuentscheiden.228 Geht man von den Wertungen der Costanzo-Rspr des EuGH229 aus, kommt nicht nur den Verwaltungsbehörden, sondern auch den Fachgerichten die Befugnis zu, formelle Gesetze des nationalen Rechtskreises wegen Unvereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten unangewendet zu lassen, ohne dass das BVerfG gem Art 100 I GG angerufen werden muss. Geht es um die Auslegung der Unionsgrundrechte, muss das letztinstanzliche Gericht gem Art 234 III EGV (267 III AEUV) – grundsätzlich – den EuGH anrufen. Ansonsten liegt ein Verstoß gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (Art 101 I 2 GG) vor.230 Das BVerfG geht davon aus, dass der Rechtsschutzsuchende das Rechtsmittelgericht darauf hinweisen muss, dass im konkreten Fall eventuell eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH besteht. Ist dies unterblieben, soll eine Verfassungsbeschwerde wegen Missachtung des Grundsatzes der Sub-
223 EuGH, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores = JK 1/03, EGV Art 230 IV/2; EuGH, Slg 2004, I-3425 – Jégo-Quéré = JK 12/04, EGV Art 230 IV/3. 224 Näher dazu Ehlers in: ders/Schoch (Fn 125) § 6 Rn 26. 225 Vgl Ehlers in: ders/Schoch (Fn 125) § 8 Rn 25 ff. 226 Zu den Grundfreiheiten vgl → § 7 Rn 115. 227 Vgl zB GmS-OGB BGHZ 97, 312, 313 f; GmS-OGB BGHZ 108, 284, 286. 228 Vgl BVerwG NVwZ 2007, 820 ff = JK 11/07, VwGO § 40 I/37. Näher zum Streitstand Ehlers in: Schoch (Fn 125) § 21 Rn 66 ff. 229 EuGH, Slg 1989, 1839, Rn 32 f – Costanzo. 230 Vgl BVerfG-K, DVBl 2001, 720 f; Hoffmann-Riem EuGRZ 2002, 473, 477; Ehlers in: ders/Schoch (Fn 125) § 6 Rn 18.
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sidiarität unzulässig sein, weil der Rechtsschutzsuchende nicht alle Möglichkeiten ergriffen hat, um der Rechtsverletzung abzuhelfen.231 Im Übrigen prüft das BVerfG nur, ob die in Art 234 III EGV zum Ausdruck kommenden Zuständigkeitsregeln in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt wurden (Willkürprüfung).232 Unmittelbar auf die Verletzung von Unionsgrundrechten kann eine Verfassungsbeschwerde nicht gestützt werden, weil diese einen Verstoß gegen nationale Grundrechte voraussetzt.
2. Rechtsschutzmöglichkeiten der Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten 78
Widerspricht das Gemeinschaftsrecht den Unionsgrundrechten, können die Gemeinschaftsorgane (Unionsorgane) und Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Art 230 II EGV (263 II AEUV) Nichtigkeitsklage erheben. Ferner kann die EG-Kommission im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 226 EGV (258 AEUV) die Beachtung der Unionsgrundrechte durch die Mitgliedstaaten durchsetzen. Dieselbe Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten gem Art 227 EGV (259 AEUV) zu, wenn sie der Auffassung sind, dass andere Mitgliedstaaten gegen Unionsgrundrechte verstoßen haben.
IX. Weitere Formen des Schutzes von Grundrechten in der Europäischen Union 79
Neben dem Grundrechtsschutz gegenüber den Gemeinschaften (EU) und den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung, der Vollziehung und der Beschränkung von Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) sowie den begleitenden Grundrechtsschutz durch die Agentur für Grundrechte (Rn 31) gibt es in der Europäischen Union weitere Formen und Ebenen des Grundrechtsschutzes.233 Bereits erwähnt wurde, dass Art 6 II EUV nicht nur die Gemeinschaften, sondern die gesamte Union an die Grundrechte bindet (Rn 9). Künftig soll diese Funktion der Charta der Grundrechte der EU zukommen. Sodann dienen das Homogenitätsgebot des Art 6 I EUV (2 EUV-E) und seine verfahrensrechtliche Absicherung in Art 7 EUV (7 EUV-E) auch dazu, einen effektiven Grundrechtsschutz in allen Mitgliedstaaten der Union zu garantieren.234 Schließlich entspricht es dem Charakter der Europäischen Union als einer Wertegemeinschaft, wenn im Rahmen der EU-Außenpolitik, insb von Assoziierungsabkommen,235 die Zusammenarbeit von der Einhaltung bestimmter grundrechtlicher Mindeststandards abhängig gemacht wird.236
231 BVerfG-K, EuR 2008, 558; krit Terhechte EuR 2008, 567 ff. 232 Vgl BVerfGE 73, 339, 366 ff; 82, 159, 192; NJW 2001, 1267, 1268; NVwZ 2005, 572, 574. Krit m w Nachw Ehlers JURA 2007, 505, 509. 233 Vgl zu den unterschiedlichen Standards v Bogdandy JZ 2001, 157, 162 ff, 170. 234 Vgl dazu Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union – Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art 6 I und Art 7 EUV, 2000, 92 f. 235 Vgl dazu Hoffmeister Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1998. 236 Vgl die Zielbestimmung des Art 11 I 5. Spstr EUV (21, 23 EUV-E).
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§ 15 Würde des Menschen Frank Schorkopf Der Schutz der Würde des Menschen steht exemplarisch für die Eigentümlichkeiten in der dogmatischen Entwicklung und Differenzierung des europäischen gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes. Die Würde des Menschen, zu der die Europäische Grundrechtecharta systematisch auch die Rechte auf Leben und Unversehrtheit sowie die Verbote der Todesstrafe, der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit zählt (Art 1–5 GRCh), ist als Rechtssatz erst in neuerer Zeit – befördert durch die Ausarbeitung der Charta – im EURecht berücksichtigt worden. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass insb Rechtsakte verstärkt auf die Menschenwürde auch als Tatbestandsmerkmal Bezug nehmen. Als Bezugspunkt für die häufig beschworene europäische Wertegemeinschaft 1 ist die Menschenwürde seit längerem Grundstein der Rechtsgemeinschaft „Europäische Union“. Nach dem Vertrag von Lissabon steht die „Achtung der Menschenwürde“ ausdrücklich an erster Stelle der Werte, auf die sich die Union gründet (Art 2 EUV-E), mit der Folge, dass sich auch die Ziele der Union an deren Förderung maßgeblich ausrichten sollen (Art 3 I EUV-E). Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union folgt weiterhin primär den Sachverhaltsgestaltungen, die der EuGH zu entscheiden hat. Dementsprechend ist der grundrechtliche Gewährleistungsumfang fallbezogen. Die Fortentwicklung und Ausdifferenzierung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes bedarf entsprechender grundrechtsrelevanter Sachverhalte. In den Bereichen, die die Charta im ersten Kapitel zusammenfasst, hatte der Gerichtshof bislang nur wenige Gelegenheiten, sich zu den Gewährleistungen zu äußern. Dabei scheint sich wegen der konkreten Bezugnahmen auf die entsprechenden Vorschriften der EMRK und die Rechtsprechungspraxis des EGMR die These zu bestätigen, dass eine grundsätzliche Konkordanz zwischen dem jeweiligen Schutzbereichsumfang in beiden Grundrechtsordnungen besteht. In einem fallorientierten, auf Leitentscheidungen beruhenden System, in dem es auch bewusste Differenzierungen zur Konventionspraxis gibt,2 bleibt es prinzipiell schwierig, sich bei der Darstellung der geltenden Grundrechtsstandards vom Einzelfall zu lösen. Wenn diese Unsicherheit in Bezug auf den geltenden Gewährleistungsumfang durch die Aufwertung der Grundrechtecharta zu einem rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog beseitigt werden kann (s Art 53 GRCh), dann sicherlich in dem Abschnitt des europäischen Grundrechtekanons, der mit der „Würde des Menschen“ überschrieben ist.
1 Herdegen FS Scholz, 2007, S 139 ff; Calliess JZ 2004, 1033 ff jew mwN. 2 Deutlich erkennbare Unterschiede im Gewährleistungsumfang der Grundrechte bestehen beim Schutz vor Selbstbelastung, vgl dazu einerseits EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 29 ff – Orkem; Slg 2002, I-8375, Rn 274 f – Limburgse Vinyl Maatschappij NV ua, andererseits EGMR Series A, Vol 256-A – Funke; RJD 1996-VI, 2044 – Saunders; RJD 2001-III – J. B. v Schweiz, sowie beim Schutz der Wohnung, vgl dazu § 16 Rn 2, 21 ff.
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I. Menschenwürde Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan; Slg 2001, I-7079 ff – Niederlande/Parlament und Rat; Slg 2004, I-9609 ff – Omega = JK 06/05, EGV Art 49/13. Schrifttum: Gröschner/Lembcke (Hrsg), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, Walter Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: Bahr/Heinig (Hrsg), Menschenwürde in der sekularen Verfassungsordnung, 2006, 127 ff; Ackermann Case C-36/02, Omega Spielhallenund Automatenaufstellungs-GmbH v Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, CMLR 42 (2005), 1107 ff; Kersten Das Klonen von Menschen, 2004, 87 ff; Mastronardi Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, in: Marauhn (Hrsg), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, 2003, 55 ff; Frowein Human Dignity in International Law, in: Kretzmer/E Klein (Hrsg), The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, 2002, 121 ff; Rau/Schorkopf Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448 f; L V Schmidt Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 2002, 631 ff; Frahm/Gebauer Patent auf Leben? – Der Luxemburger Gerichtshof und die Biopatent-Richtlinie, EuR 2002, 78 ff; Zimmermann Verbreitung von Informationen über Schwangerschaftsunterbrechungen und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 1993, 2966 ff. Rechtsakte: RL 2007/65/EG zur Änderung der RL 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl 2007 L 332/27; VO (EG) 2006/562 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl 2006 L 105/1; Empfehlung über den Schutz Minderjähriger und den Schutz der Menschenwürde und über das Recht auf Gegendarstellung im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Industriezweiges der audiovisuellen Dienste und Online-Informationsdienste, ABl 2006 L 378/72; Rahmenbeschluss 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl 2001 L 82/1.
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Fall 1: (EuGH, Slg 2001, I-7079 – Niederlande/Parlament und Rat): Das Europäische Parlament und der Rat erlassen eine Richtlinie, die die Mitgliedstaaten zum Schutz biotechnologischer Erfindungen durch ihr nationales Patentrecht verpflichtet. Die Richtlinie legt insb fest, welche Bestandteile von Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen, Tiere oder der menschliche Körper sein können, patentierbar sind und welche nicht. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen die Patentierbarkeit von gewerblich anwendbaren Erfindungen zur Herstellung, Bearbeitung oder Verwendung von biologischem Material vorzusehen. Die Niederlande sind der Ansicht, dass diese mitgliedstaatliche Verpflichtung zur Erteilung von Patenten auf Tiere, Pflanzen oder menschliche biologische Materie gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße. Sie beantragen deshalb beim EuGH, den Rechtsakt für nichtig zu erklären. In ihrer Klageschrift tragen die Niederlande ua vor, dass die Richtlinie die Menschenwürde und das Grundrecht der Unversehrtheit der Person verletze. Der menschliche Körper sei Vermittler der Menschenwürde. Die Erteilung von Patenten für isolierte lebende Bestandteile des menschlichen Körpers mache diese zu Objekten. Ferner enthalte die Richtlinie keine Bestimmungen, die unbeeinflusste Zustimmung des Spenders und des Empfängers menschlichen Materials sicherzustellen (vgl RL 98/44/EG v 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen).
Der Schutz der Menschenwürde ist zunächst der unausgesprochene Bezugspunkt der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene. Seit dem Jahr 2000 hat diese Rechtsprechung eine Verbindungslinie zur Grundrechtecharta, die in Art 1 formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Mit diesen Sätzen wird auch die der Europäischen Union übertragene Hoheitsgewalt in den
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Dienst des Menschen gestellt, bekennt sich die Union als politischer Herrschaftsverband zur Selbstzweckhaftigkeit des Menschen.3 Wenngleich die direkten Eingriffsbefugnisse der Union gegenüber dem Bürger in Zahl und Umfang (noch) überschaubar sind, ist die ausdrückliche Indienstnahme der überstaatlichen europäischen Gewalt für das Wohl des Einzelnen mit Blick auf das integrative, auf stetige Verdichtung der Lebensbeziehungen angelegte Konzept der Union (Art 1 II EUV/1 II EUV-E) nicht gering zu schätzen. Die Entstehungsgeschichte, der das Grundgesetz zitierende Wortlaut und die Systematik der Vorschrift führen auch auf der europäischen Ebene zu zahlreichen Fragen, die aus dem staatsrechtlichen Kontext vertraut sind. Der Wechsel vom einzelfall- zum normgeleiteten Erkenntnisansatz, für den die Grundrechtskodifikation durch die Charta auch steht, führt aber gleichwohl nicht dazu, dass nunmehr aus Art 1 GRCh Maßstäbe für europäische Rechtssachverhalte deduziert werden könnten. Die Rechtsprechung bleibt erster Ansatzpunkt für die Sichtung konkreter Gewährleistungsinhalte. Als eigenständiges Schutzgut eines selbständigen Grundrechts hat die Menschenwürde in den Entscheidungen des Gerichtshofs bis in die jüngere Zeit kaum eine Rolle gespielt. Bereits die Entscheidung in der Rechtssache Stauder ist insoweit beispielhaft. Herr Stauder, der Kläger im Ausgangsverfahren, hatte die Ansicht vertreten, dass die Ausgestaltung des Bezugsrechts für verbilligte Butter zugunsten von Sozialhilfeempfängern die Menschenwürde verletze.4 Der Gerichtshof legte – ohne jedoch die Würde in den Gründen ausdrücklich zu erwähnen – die streitige Vorschrift unter Hinweis auf die „Grundrechte der Person“ dahingehend aus, dass die namentliche Bezeichnung des Bezugsberechtigten nicht ausdrücklich vorgeschrieben sei. In der Folgezeit erwähnte der EuGH die Menschenwürde in seiner Rechtsprechung fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der VO 68/1612. Die fünfte Begründungserwägung dieses Rechtsaktes lautet: „Damit das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann, muß sich die Gleichbehandlung tatsächlich und rechtlich auf alles erstrecken, was mit der eigentlichen Ausübung einer Tätigkeit im Lohn – oder Gehaltsverhältnis und mit der Beschaffung einer Wohnung im Zusammenhang steht.“ 5 Nach stRspr des Gerichtshofs soll die VO 68/1612 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sicherstellen, deren „Ausübung in Freiheit und Menschenwürde“ es erfordere, dass die bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des EG-Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat geschaffen werden.6 Insoweit müssten alle Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellten, insb in Bezug auf das Recht des Arbeitnehmers, seine Familie nachkommen zu lassen, sowie auf die Bedingun-
3 Zur Abkehr vom Kantschen Begriff der Würde durch Politik und Recht vgl v d Pfordten Zur Würde des Menschen bei Kant, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14, 2006, 501, 514 ff. 4 EuGH, Slg 1969, 419 ff – Stauder, insb 421. Die erste ausdrückliche Bezugnahme enthält eine EuGH-Entscheidung aus Anlass der Entlassung einer transsexuellen Person, vgl EuGH, Slg 1996, I-2143 Rn 22 – P gegen S und Cornwall County Council: „Würde eine solche Diskriminierung toleriert, so liefe dies darauf hinaus, daß gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstossen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muß.“ 5 VO (EWG) 68/1612 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, zuletzt geändert durch RL 2004/38/EG. 6 EuGH, Slg 1990, I-4185, Rn 13 – Di Leo; Slg 2000, I-2623, Rn 20 – Kaba.
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gen für die Integration seiner Familie im Aufnahmeland. Dem Arbeitnehmer und seinen Familienangehörigen stünden deshalb die gleichen sozialen Vergünstigungen zu, wie sie der Aufnahmestaat seinen eigenen Staatsangehörigen gewähre. Die Freizügigkeits-Richtlinie aus dem Jahr 2004 nimmt auf diesen normativen Anspruch der Rspr ausdrücklich Bezug.7 Dass die Menschenwürde in der Vergangenheit auch in gemeinschaftlichen Rechtsakten – ausgenommen in der VO 68/1612 und Art 12 der Fernseh-Richtlinie 8 aus dem Jahr 1989 – kaum erwähnt wurde, könnte seine Ursache darin haben, dass die Menschenwürde als Rechtsprinzip nicht allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist. Da die Menschenwürde auf Gemeinschaftsebene ihren sichtbaren Ausdruck vor allem in den bereits anerkannten Grundrechten auf Unversehrtheit der Person und Achtung des Privatlebens findet, könnte eine Anerkennung als eigenständiges Grundrecht – oder wenigstens als Rechtsgrundsatz – durch den EuGH von nur geringem zusätzlichem Erkenntniswert gewesen sein. Mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Niederlande gegen Parlament und Rat hat sich diese Konzeption jedoch grundlegend verändert. In den Gründen der genannten Entscheidung heißt es: „Es obliegt dem Gerichtshof, im Rahmen der Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person sicherzustellen.“ 9 Der EuGH ordnet beide Normen als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ein.10 Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof in der Rechtssache Omega fortentwickelt. In diesem Vorabentscheidungsverfahren aus Deutschland hatte der Gerichtshof zu klären, inwieweit nationale Gerichte sich auf Wertungen ihres nationalen Verfassungsrechts stützen können, um Maßnahmen zu treffen, die zwar zum Schutze der öffentlichen Ordnung im jeweiligen Mitgliedstaat beitragen, aber zugleich auch Grundfreiheiten beeinträchtigen. Dem Ausgangsverfahren lag eine Verfügung der Stadt Bonn zugrunde, durch welche simulierte Tötungshandlungen im Rahmen eines Spiels mit der Begründung untersagt wurden, das geplante Geschäftsmodell verstoße gegen die öffentliche Ordnung, zu deren Schutzgütern auch die Menschenwürde zähle. Die Generalanwältin Stix-Hackl hat in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Omega vorgeschlagen, zum einen die in Rede stehende nationale Maßnahme anhand des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen und zum
7 RL 2004/38/EG, 5. Erwägungsgrund: „Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden.“ 8 RL 89/552/EWG, berichtigt durch ABl 1989 L 331/51: „Die Fernsehwerbung darf nicht die Menschenwürde verletzen“; zur neuen Rechtslage s RL 2007/65/EG zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl 2007 L 332/27. 9 EuGH, Slg 2001, I-7079, Rn 70 – Niederlande/Parlament und Rat, Hervorhebung hinzugefügt. 10 Mit der Differenzierung zwischen „Beachtung der Menschenwürde“ und „Grundrecht auf Unversehrtheit“ wird keine rechtsdogmatische Unterscheidung eingeführt. Vielmehr zeigen die anderen Sprachfassungen des Urteils und insb die niederländische Verfahrenssprache, dass der Gerichtshof die Menschenwürde als Grundrecht einordnet. So ausdrücklich unter Hinweis auf Rau/ Schorkopf NJW 2002, 2448 und unter Bezugnahme auf die Differenzierung in der deutschen Sprachfassung GA’in Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen, EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 90 – Omega, ausdrücklich EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 94 – Laval.
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anderen den vom Mitgliedstaat herangezogenen Rechtfertigungstatbestand der öffentlichen Ordnung entsprechend der Bedeutung und der Tragweite der Menschenwürde in der Gemeinschaftsrechtsordnung auszulegen.11 Der Gerichtshof ist dieser Konzeption in seinem schlanken Urteil gefolgt und sah die Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs durch die Verbotsverfügung als gerechtfertigt an. Die Reichweite des Begriffes der öffentlichen Ordnung dürfe nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig bestimmt werden. Gleichwohl hätten die Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum in Bezug auf die konkreten Umstände, unter denen sie sich zulässigerweise auch auf die öffentliche Ordnung berufen könnten. Die Gemeinschaftsrechtsordnung ziele unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ab. Allerdings sei es nicht unerlässlich, dass die nationale Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspreche, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen sei.12 Seitdem die Menschenwürde durch die Europarechtspraxis entdeckt wurde, hat die Zahl der Bezugnahmen insb in Rechtsakten deutlich zugenommen, so dass sie auch zu einem Bezugspunkt für die rechtssetzenden Organe geworden ist. Dabei lassen sich einerseits Vorschriften nennen, in denen die Menschenwürde eine unmittelbar regelnde Funktion hat, wie beispielsweise das Gebot an die Grenzschutzbeamten der Mitgliedstaaten, „ihre Aufgaben unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenwürde“ durchzuführen13 oder die Pflicht der Mitgliedstaaten, das Opfer einer Straftat im nationalen Verfahren „mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde“ zu behandeln.14 Andererseits lassen sich Rechtsakte anführen, in denen die Menschenwürde – als Höchstwert der Union – durch Rechtssätze konkretisiert wird. Ein wichtiges Beispiel ist die Asyl-Richtlinie aus dem Jahr 2003, deren ausdrückliches Ziel es ist, „die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1 und 18“ der Charta zu fördern.15
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2. Beeinträchtigung Die Menschenwürde und die ihr nahestehenden Gewährleistungen werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch die Gemeinschaftsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet. „Wie der Gerichtshof […] entschieden hat, ist, wenn ein Mitgliedstaat sich auf die Vertragsbestimmungen beruft, um eine nationale Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung einer vom Vertrag garantierten Freiheit zu
11 Schlussanträge GA’in Stix-Hackl, EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 67 ff – Omega. 12 EuGH, Slg 2004, I-9609 – Omega = JK 06/05, EGV Art 49/13. 13 Art 6 I der VO (EG) Nr 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl 2006 L 105/1: „Die Grenzschutzbeamten führen ihre Aufgaben unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenwürde durch. Die zur Durchführung ihrer Aufgaben getroffenen Maßnahmen müssen – gemessen an den damit verfolgten Zielen – verhältnismäßig sein.“ 14 Art 2 I des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl 2001 L 82/1. 15 5. Erwägungsgrund der RL 2003/9/EG zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, ABl 2003 L 31/18.
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behindern, diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insb der Grundrechte auszulegen.“16 Der EuGH ist nicht zuständig für die Überprüfung einer grundrechtsrelevanten Handlung, wenn der Prüfungsgegenstand eine nationale Regelung ist, die nicht in den Bereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Der Begriff „Bereich des Gemeinschaftsrechts“ wird vom Gerichtshof allerdings zuweilen so weit ausgelegt, dass für den Beobachter in Fällen, in denen der EuGH seine Zuständigkeit annimmt, der Bezug eines Sachverhalts zum Gemeinschaftsrecht kaum noch erkennbar ist.17
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Die Menschenwürde kann auch nach der gemeinschaftsrechtlichen Konzeption grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, dh etwaige Beeinträchtigungen führen stets zu einer Verletzung dieses Rechts. Obwohl die Schranken-Klausel in Art 52 GRCh sich nach dem Wortlaut unterschiedslos auf alle Rechte und Freiheiten – und damit auch auf Art 1 GRCh – erstreckt, wird die Hervorhebung der Menschenwürde auch nach einem Inkrafttreten der Charta auf der Grundlage einer entsprechenden Auslegung Bestand haben („unantastbar“). Dieser prinzipielle „Automatismus“ führt bei Vorabentscheidungsverfahren zu heiklen Problemen, weil das gemeinschaftsrechtliche Prüfungsprogramm je nach Prüfungsgegenstand unterscheiden muss und auf diesem Umweg eine Differenzierungsmöglichkeit einführt: Verstößt ein Akt der Gemeinschaftsorgane gegen die Menschenwürde, so folgt daraus die Nichtigkeit der in Rede stehenden Handlung. Wird hingegen ein mitgliedstaatlicher Akt am Maßstab der Menschenwürde gemessen, etwa im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, so würde eine binäre Lösung nach dem Muster von Bestandskraft/ Nichtigkeit den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde unionsweit unitarisieren. Das gilt nicht für den ethischen Kern des Rechts, sondern für dessen „kleineres Münzgewicht“ im Rechtsalltag. Das Problem spiegelt in aller Deutlichkeit die Rechtssache Omega (Rn 9). Aus der Perspektive deutscher Behörden und Gerichte verstößt das geplante Geschäftsmodell gegen die Menschenwürde; in Großbritannien war das Tötungsspiel zum Zeitpunkt der Untersagung nicht nur in der Praxis erprobt, sondern über Franchiseverträge und patentierte Technologie sogar exportfähig. Wie kann in dieser Konstellation ein Wertungswiderspruch vermieden werden, wenn das deutsche Verbot am Maßstab des EU-weiten Gemeinschaftsrechts Bestand hat und gleichzeitig dasselbe „menschenwürdefeindliche“ Geschäftsmodell in Großbritannien erfolgreich praktiziert wird? Müsste eine gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung der Menschenwürde nicht in allen EU-Mitgliedstaaten denselben Schutz gewähren? In der genannten Rechtssache hat die Generalanwältin zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen, den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde in die jeweils betroffene Grundfreiheit und den Abwägungsprozess im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hineinzulesen.18 Dadurch wird die Zweck-Mittel-Relation derart zugunsten der Menschenwürde verschoben, dass die beschränkenden Maßnahmen des betroffenen Mitglied16 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland unter Hinweis auf Slg 1991, I-2925, Rn 43 – ERT. 17 S etwa EuGH, Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter = JK. 12/02, EGV Art 49/6 und Slg 2003, I-4989 ff – Österreichischer Rundfunk ua; im Einzelnen § 16.1 Rn 39 ff. 18 Vgl Schlussanträge GA’in Stix-Hackl, EuGH, Slg 2004, I-9609, Rn 103 ff – Omega.
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staats kaum je unverhältnismäßig sein werden. Der unitarisierende Zug dieser rechtsdogmatischen Konstruktion bleibt allerdings ebenso bestehen wie der Umstand, dass ein Geschäftsmodell in einem Mitgliedstaat gegen die Menschenwürde verstoßen kann und in einem anderen am Markt erfolgreich ist. Deshalb wäre es vorzugswürdig, in den seltenen Einzelfällen einer Kollision des Rechts auf Schutz der Menschenwürde und einer Grundfreiheit die gemeinschaftsrechtliche Prüfungskompetenz auf eine Missbrauchskontrolle zu beschränken und den nationalen identitätsstiftenden Merkmalen einer Rechtsordnung (Art 6 III EUV/4 II 1 EUV-E) einen Platz in der Unionsrechtsordnung einzuräumen. Dass die Menschenwürde als Grundrecht nicht eingeschränkt werden kann, ist eine Aussage, die die derzeitige Rspr so nicht trägt. So hat die Große Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Laval unter anderem die Omega-Entscheidung dahingehend ausgelegt, dass die Ausübung des Grundrechts der Menschenwürde „mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen [muss].“ 19 Auch die Menschenwürde wird dadurch zu einem Abwägungsgegenstand im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Diese Konzeption würde es einerseits ermöglichen, kollidierende Rechte auf Menschenwürde – etwa im Bereich der Biomedizin (Rn 25) – auszugleichen und in größtmöglichem Umfang, wenngleich in der Substanz verringert, zur Geltung zu bringen. Andererseits ginge mit dem Abwägungskonzept eine Relativierung des Rechts einher, die der Idee der Menschenwürde widerspricht. Die Rspr des Gerichtshofs steht in diesem Bereich noch nicht auf einer gesicherten dogmatischen Grundlage. Sie muss sich erst noch anhand weiterer Sachverhalte festigen. In jedem Fall sollten die genannten Entwicklungen nachdenklich machen, ob die Anreicherung des Wertes „Menschenwürde“ zu einem im Einzelfall abwägungsresistenten Grundrecht nicht zu einem unauflösbaren Dilemma führt, weil das Recht nur noch binäre Antworten geben kann, abhängig von der gerade maßgebenden Perspektive des jeweils fragenden Rechtsgutsträgers. Eine befriedigendere Antwort ließe sich mit der Annahme finden, dass die Menschenwürde durch die (Spezial-)Grundrechte rationalisiert wird, die dann in abwägungsfähige Beziehungen zueinander gesetzt werden können.20
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II. Recht auf Leben und Unversehrtheit Schrifttum: Müller-Terpitz Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007; H Jung Status und Schutz des Embryos, FS Schroeder, 2006, S 809 ff.
1. Schutzbereiche a) Das Recht auf Leben und das Verbot der Todesstrafe (Art 2 GRCh) sind bislang in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht verankert, was seinen Grund in dem Fehlen grundrechtsrelevanter europäischer Sachverhalte hat (Rn 2). Mit der Grundrechtecharta sind beide Gewährleistungen aus der EMRK in das EU-Recht inhaltsgleich übernommen worden: Nach Art 2 I 1 EMRK ist das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich zu schützen, die Todesstrafe ist nach Art 1 6. ZP EMRK abgeschafft, was nach Inkrafttreten des
19 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 94 – Laval unter Hinweis auf die Rechtssachen Schmidberger und Omega. 20 Vgl Di Fabio JZ 2004, 1, 5.
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13. ZP ausnahmslos auch in Kriegszeiten und bei unmittelbarer Kriegsgefahr gilt.21 Das Präsidium des Konvents hat in seinen Erläuterungen ausdrücklich die Verbindung zur EMRK hergestellt, konnte dabei allerdings noch nicht das 13. ZP aus dem Jahr 2002 berücksichtigen. Da das Protokoll bislang nicht für alle EU-Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist, ist fraglich, ob es insoweit den einheitlich geltenden Schutzstandard auf EU-Ebene wiedergibt.22 Die Verzahnung mit der EMRK hat zur Folge, dass in der Praxis die Rechtsprechung des EGMR die Rechte konkretisiert. Das Recht auf Leben (Art 2 I GRCh) schützt die physische Existenz des Menschen. Es verpflichtet die Union und die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des EU-Rechts, den Tod eines Menschen nicht „absichtlich“ herbeizuführen und die zum Schutz des Lebens von Personen unter ihrer Hoheitsgewalt notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.23 Mit anderen Worten umfasst der Gewährleistungsinhalt auch eine Schutzpflicht zugunsten des menschlichen Lebens.24 Durch diese Schutzpflichtdimension werden mittelbar auch Privatpersonen zu Grundrechtsverpflichteten. Damit ist das Problem aufgeworfen, wie sich das EU-Recht zum Schutz des ungeborenen Lebens verhält. Der EGMR hat dazu festgestellt, dass es unter den Konventionsstaaten weder einen Konsens über den Zeitpunkt des Lebensbeginns, noch über die Rechtsstellung des Embryos oder des Fötus gäbe. Er stellte deshalb im Jahr 2001 fest, dass „es zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder wünschenswert noch möglich [ist], abstrakt die Frage zu beantworten, ob das ungeborene Kind ein „Mensch“ iSv Art 2 EMRK ist.“ 25 Wegen der dogmatischen Verzahnung von Konvention und Charta gibt die Aussage – bis zu einer Entscheidung des EuGH – auch die gegenwärtige Grundrechtslage in der Union wieder. Dieser Lebensbereich war in der Rechtssache Grogan bereits Gegenstand einer Entscheidung des EuGH, so dass eine Antwort auf die Frage nach dem Schutz auch des ungeborenen Lebens für das EU-Recht durchaus von Bedeutung ist.26 In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es um die Veröffentlichungen einer irischen Studentenvereinigung, die Informationen über rechtmäßige Abtreibungsmöglichkeiten im Vereinigten Königreich enthielten. Irland untersagte die Verbreitung der Informationen mit dem Hinweis, 21 Prot Nr 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bezüglich der Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen, SEV-Nr 187, das Protokoll ist am 1.7.2003 in Kraft getreten und für die EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Lettland, Spanien und Polen verbindlich (Stand: 13.7.2009). 22 So aber Höfling in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 2 Rn 2, wohl auch Borowsky in: Meyer, GRCh, Art 2 Rn 4. 23 EGMR, NJW 2005, 727 Rn 88 – Vo/Frankreich; Slg 1998-III, S 1403 Rn 36 – L.C.B./Vereinigtes Königreich. 24 Vgl EuG, Slg 1995, II-3051 – Danielsson ua, in dem Eilverfahren ging es um die Aussetzung des Vollzugs einer Entscheidung der Kommission betreffend französische Atomtests. Der Antrag wurde unter anderem mit dem Argument begründet, dass die Kommission das Recht auf Leben der Antragsteller beeinträchtigt habe, indem sie sie nicht angemessen gegen die Gefahren für ihre Gesundheit durch eine mögliche Strahlenbelastung und für ihr Leben durch mögliche Flutwellen geschützt habe. 25 EGMR, NJW 2005, 727, Rn 85 – Vo/Frankreich; zur gegenseitigen Beobachtung und Abstimmung von Verfassungsgerichten s Tomuschat FS 50 Jahre BVerfG, Bd 1, 2001, S 245 (276 ff). 26 EuGH, Slg 1991, I-4685 ff – Grogan, zur Bedeutung des Sachverhalts im Zusammenhang mit dem irischen Referendum zum Vertrag von Lissabon s Kommission Flash Eurobaromter 245, Post-referendum Survey in Ireland, Juni 2008, 19, 26 f, 56 und Europäischer Rat, Schlussfolgerungen v 19.6.2009, Ziff 4 f, Anlage 1.
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dass die irische Verfassung eine solche Unterstützung schwangerer Frauen beim geplanten Schwangerschaftsabbruch untersage. Der Gerichtshof fand einen Weg, der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte, zum einen dem Recht auf Leben, so wie es von einem Mitgliedstaat definiert und für auf ungeborenes Leben anwendbar erklärt wurde, zum anderen der Freiheit der Meinungsäußerung, auszuweichen. Zwar handele es sich beim rechtmäßigen ärztlichen Schwangerschaftsabbruch um eine Dienstleistung iSd Art 50 EGV (57 AEUV). Nicht als eine Dienstleistung sei hingegen die Verbreitung von Informationen über eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen, „wenn diese Informationen nicht im Auftrag eines Wirtschaftsteilnehmers verbreitet werden, sondern lediglich eine Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit darstellen.“ 27 Die Beschränkung der Meinungsfreiheit falle nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und sei deshalb am Maßstab des nationalen Rechts zu beurteilen. Der Gerichtshof hat damit im Ergebnis die mitgliedstaatliche Regelung respektiert, die das ungeborene Leben in den Schutzbereich des Rechts auf Leben einbezieht, gleichwohl hat er über den Schutzbereich des korrespondierenden europäischen Grundrechts nicht entschieden. Die europäische Rechtslage spiegelt nicht nur den fehlenden Konsens, sondern auch das Konfliktpotential wieder, das mit diesen Sachverhalten einhergeht. Die Auffassung des EGMR, der ausdrücklich von einer Entscheidung zum Tatbestandsmerkmal „Mensch“ bei Art 2 EMRK abgesehen hat, ist sicherlich pragmatisch. Der nachvollziehbare Dissens zwischen den 47 Konventionsstaaten ist jedoch in die Grundrechtecharta der Union übertragen worden, die – mit ihrer späteren Rechtsverbindlichkeit – am Anwendungsvorrang des EU-Rechts teilhaben und die nationalen Gewährleistungen teilweise ersetzen wird. Die Frage, ob ein ungeborenes Kind ein Mensch im Sinne des Art 2 I GRCh ist – wohlgemerkt auf der Prüfungsebene des Schutzbereichs –, zeigt deshalb auch die sichtbaren Grenzen der europäischen Wertegemeinschaft auf. An der Frage lässt sich ablesen, dass mit der Grundrechtecharta nicht bloß ein weiterer, das Schutzniveau anhebender Menschenrechtskatalog geschaffen wurde, sondern bestehende Gewährleistungen in ihrer Substanz auch verändert werden können. Der Schutzbereich des Rechts auf Leben verdeutlicht, dass das Verbot der Todesstrafe, das auch die Verurteilung zu dieser Strafe untersagt (Art 2 II GRCh), keinen eigenständigen Gewährleistungsinhalt hat, sondern eine besondere Schranke für die Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung ist. Es gehört zu den politischen Axiomen, auf die die Europäische Union ihr Selbstverständnis gründet. Die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ist ihr erklärtes Politikziel.28 Es erlangt in der Europarechtspraxis Bedeutung im Zusammenhang mit den allgemeinen Außenbeziehungen und der Gemeinsamen Handelspolitik. So hat die Gemeinschaft im Jahr 2005 eine Verordnung erlassen, die die Ein- und Ausfuhr von Ausrüstungsgegenständen grundsätzlich untersagt, die außer zur Vollstreckung der Todesstrafe oder zum Zwecke der Folter und anderer grausamer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe praktisch nicht zu verwenden sind.29 27 EuGH, Slg 1991, I-4685, Rn 26 f – Grogan. 28 S dazu die Leitlinien des Rates für eine Unionspolitik gegenüber Drittländern betreffend die „Todesstrafe“ vom 29. Juni 1998 sowie den Jahresbericht 2007 des Rates zur Menschenrechtslage, 2007, 31 ff. 29 VO (EG) 2005/1236 betreffend den Handel mit bestimmten Gütern, die zur Vollstreckung der Todesstrafe, zu Folter oder zu anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe verwendet werden könnten, ABl 2005 L 200/1, zuletzt geändert durch VO (EG) 2008/675, ABl 2008 L 189/14.
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Eine weitere erwähnenswerte Konkretisierung ist im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl enthalten. Der Rahmenbeschluss bekräftigt die mitgliedstaatliche Pflicht zur Einhaltung der Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze iSd Art 6 EUV (Art 1 III EUV-E), richtet darüber hinaus jedoch nur eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten, Personen nicht in Staaten abzuschieben oder auszuliefern, in denen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe droht (13. Begründungserwägung).30 22
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b) Das Recht auf Unversehrtheit der Person (Art 3 GRCh) erfasst die Integrität des Menschen im Sinne der körperlichen Gesundheit und des geistigen Wohlbefindens (Art 3 I GRCh). Die EMRK enthält keine Parallelvorschrift, die Unversehrtheit wird durch die Teilgewährleistungen in Art 2 und 8 EMRK garantiert. Der Konvent hat sich bei diesem Grundrecht gleichwohl auch als Schrittmacher verstanden, der moderne Entwicklungen in der Medizin in den Schutzbereich einfangen wollte,31 ohne dass die rechtlichen Lösungen bereits einen bestehenden Konsens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufnehmen würden (Rn 25). Eine Reihe grundrechtsrelevanter Sachverhalte in der Europarechtspraxis betreffen Verfahren von Bediensteten der Gemeinschaft wegen Ersatzes der Schäden aus Dienstunfällen.32 Die Rspr hat in diesem Zusammenhang auch den Ersatz immaterieller Schäden, die aus Handlungen der Gemeinschaftsorgane entstanden sind, anerkannt.33 Nicht ausdrücklich genannt wird das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in der Entscheidung der Rechtssache Cowan.34 Da der EuGH jedoch ein mitgliedstaatliches Verhalten, das dieses Grundrecht verletzt, für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärte, ist diese Entscheidung für die behandelte Fragestellung dennoch relevant. Der Fall betraf die Rechtmäßigkeit von Diskriminierungen bei der Gewährung staatlicher Entschädigung für Opfer von Körperverletzungsdelikten. Nach Auffassung des EuGH ist es zwingende Folge der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Freizügigkeit, dass Leib und Leben einer Person, die sich in einem Mitgliedstaat aufhält, in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Mitgliedstaat wohnhaften Personen der Fall ist. Daraus folge ein Diskriminierungsverbot gegenüber Dienstleistungsempfängern, soweit es um den Schutz vor Gewalttaten und um den im nationalen Recht vorgesehenen Opferentschädigungsanspruch gehe.35 Im Bereich der Medizin und der Biologie umfasst der Schutzbereich – nach der Rspr – das Recht eines Spenders oder Empfängers menschlicher Bestandteile auf unbeeinflusste Willensentscheidung in voller Kenntnis der Sachlage.36 Die kodifizierte Fassung des Grundrechts in Art 3 II GRCh erweitert diese Thematik, indem für die Lebensbereiche 30 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1. 31 Borowsky in: Meyer, GRCh, Art 3 Rn 1. 32 Vgl etwa EuGH, Slg 1999, I-5251 – Lucaccioni; Slg 1996, I-5501 ff – Royale belge SA; Slg 1987, 4923 ff – Jänsch; EuG, Slg 1992, II-469 ff – Colmant. 33 EuGH, Slg 1990, I-225, Rn 26 – Culin. 34 EuGH, Slg 1989, 195 ff – Cowan. 35 EuGH, Slg 1989, 195 Rn 17 – Cowan. Vgl dazu das Grünbuch der Kommission: Entschädigung für Opfer von Straftaten, KOM (2001) 536 endgültig. Die Entschädigungsfrage ist auch Gegenstand des Europäischen Übereinkommens über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten v 24.11.1983, ETS Nr 116, in Kraft getreten am 1.2.1988. 36 EuGH, Slg 2001, I-7079, Rn 78 – Niederlande/Parlament und Rat.
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Medizin und Biologie eine Pflicht zur Achtung von spezifischen exemplarisch genannten Ge- und Verboten eingeführt wird: Zum einen darf in die Integrität des Menschen in Anlehnung an die Biomedizin-Konvention des Europarates37 nur nach freiwilliger Einwilligung auf der Grundlage vorheriger Aufklärung eingeriffen werden (Art 3 II lit a GRCh); zum anderen werden die Verbote „eugenischer Praktiken“ mit dem Ziel der Selektion von Menschen, der komerziellen Verwertung des menschlichen Körpers und des reproduktiven Klonens genannt (Art 3 II lit a–d GRCh). Die Verbote der Eugenik und des reprodutiven Klonens legen die Schlussfolgerung nahe, dass der Schutzbereich des Grundrechts auch ungeborenes Leben einbezieht, worüber im Konvent jedoch keine Einigkeit bestand (Rn 18 ff).38 Die europäische Wertegemeinschaft, die an dieser Stelle einen weißen Fleck in ihrem Kanon hat, überlässt eine Antwort den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und vertraut auf ein klärendes Wort des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
2. Beeinträchtigung Die Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Vollzugshandlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet – es gelten die allgemeinen Lehren (→ § 14 Rn 47 ff). Eingriffe in die Rechte sind die Tötung eines Menschen und die körperliche oder seelische Schädigung durch Handlungen, die den Grundrechtsverpflichteten zugerechnet werden können. Der Aufzählung in Art 3 II GRCh lässt sich entnehmen, dass der ärztliche Heileingriff ohne Einwilligung, der kommerzielle Organhandel, reprodutives Klonen und „eugenische Praktiken“ in das Recht auf Unversehrtheit eingreifen.
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3. Rechtfertigung Für die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung gelten grundsätzlich die allgemeinen Lehren (→ § 14 Rn 65 ff). Für das Recht auf Leben ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Übernahme des Gewährleistungsinhalts der EMRK auch die entsprechenden Schranken der Konvention in die Charta einbezieht (Art 52 III GRCh). Zwar hat der Gerichtshof in der Rechtssache Schmidberger am Rande bemerkt, dass das Recht jedes Menschen auf Leben oder das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe keinerlei Beschränkung unterlägen,39 diese Auffassung ist jedoch schon nach der Schrankenregelung der Charta nicht nachzuvollziehen. Ausdrücklich bezieht das Präsidium des Konvents sich in den Erläuterungen zu Art 2 GRCh auch auf die korrespondiere Schrankenregelung in Art 2 II EMRK. Danach ist eine Tötung gerechtfertigt, wenn sie für die Grundrechtsverpflichteten unbedingt erforderlich ist, um (i) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen (Notwehr und Nothilfe), (ii) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder einen Gefangenen
37 Vgl Art 5 des Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin, SEV-Nr 164, dazu Taupitz (Hrsg), Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates, 2002; die Erläuterungen des Konvents-Präsidiums verweisen zusätzlich auf Art 7 I des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. 38 Vgl Borowsky in: Meyer, GRCh, Art 2 Rn 8 ff, 30 ff. 39 EuGH, Slg 2003, I-5669 Rn 80 – Schmidberger.
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an der Flucht zu hindern oder (iii) eine Aufruhr oder einen Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen (Art 2 II lit a–c EMRK). Darüber hinaus kann hoheitliche Gewalt rechtmäßig tödliche Folgen haben, wenn sie auf der Grundlage von Art 15 EMRK im Kriegs- oder Notstandsfall im Rahmen des humanitären Völkerrechts ausgeübt wird. Es werden demnach Tatbestandsmerkmale definiert, die im Zusammenwirken mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eng begrenzte Ausnahmen vom Tötungsverbot zulassen. Das Verbot der Todesstrafe steht unter dem Vorbehalt des Art 2 6. ZP EMRK, wonach ein Staat diese Strafe für Taten vorsehen kann, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen wurden. Diese Rechtfertigungsmöglichkeit besteht noch so lange, bis das 13. ZP zur EMRK für alle EU-Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist (Rn 17). Beeinträchtigungen des Rechts auf Unversehrtheit sind auf der Grundlage der allgemeinen Schrankenklausel Art 52 I GRCh rechtfertigbar. Sie müssen eine gesetzliche Grundlage haben, den Wesensgehalt des Grundrechts und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Den Wesensgehalt verletzen könnten die drei Verbote, die Art 3 II lit b–d GRCh für den biomedizinischen Bereich ausspricht: Das Verbot eugenischer Praktiken, das Verbot der Gewinnerzielung aus menschlichem Gewebe und das Verbot des reproduktiven Klonens wären dogmatisch insoweit als Schranken-Schranke einzuordnen. Der Wortlaut des Art 3 GRCh ist jedoch nicht eindeutig. So spricht Abs 2 davon, dass im Bereich der Medizin und Biologie die Verbote zu beachten seien. Als Auslegungsvariante wäre zudem denkbar, dass es sich bei den Verboten teilweise auch um Tatbestandsausnahmen handelt, die dann allerdings auch für die thematisch einschlägige Berufs- und Wissenschaftsfreiheit gelten müssten – eine Überlegung, die sich wiederum nicht mit der Systematik vereinbaren lässt.40 Für eine Begrenzung der Rechtfertigungmöglichkeit spricht hingegen der Blick in die Biomedizin-Konvention des Europarates, die dem Konvent in besonderer Weise als Bezugspunkt für Art 3 II GRCh diente und die die Einschränkbarkeit insbesondere des Verbots der Gewinnerzielung für unzulässig erklärt.41 Zu beachten ist in jedem Fall, dass insbesondere das therapeutische Klonen von Art 3 II lit c GRCh nicht erfasst wird. Weniger strikt in der Diktion ist das Gebot der Einwilligung (Art 3 II lit a GRCh), das der näheren Ausgestaltung durch die jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überantwortet wird. Die Delegation erlaubt es, unterschiedliche Regelungen für den Umgang mit einwilligungsunfähigen Personen und für Forschungsvorhaben zuzulassen. Lösung Fall 1: Im Rahmen der niederländischen Nichtigkeitsklage nach Art 230 EGV (263 AEUV) obliegt es dem EuGH, die Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts wie der Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts der Unversehrtheit der Person sicherzustellen. Die Achtung der Menschenwürde wird grundsätzlich durch die Bestimmung der RL gewährleistet, wonach der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung keine patentierbare Erfindung darstellen kann (Art 5 I RL). Bestandteile des menschlichen Körpers sind als solche nicht patentierbar und ihre Entdeckung kann nicht geschützt werden. Gegenstand einer Patentanmeldung können nur Erfindungen sein, die
40 Zur Kritik an der Vorschrift s Rixen in: Heselhaus/Nowak, GR, § 11 Rn 29 f; Grabenwarter DVBl 2001, 1, 3. 41 Art 26 II Biomedizin-Konvention (Fn 37).
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einen natürlichen Bestandteil mit einem technischen Verfahren verknüpfen, durch das dieser im Hinblick auf eine gewerbliche Anwendung isoliert oder reproduziert werden kann. Nach Verabschiedung der Charta lässt sich für diese Rechtsposition auch Art 3 II lit c GRCh anführen. Das Ergebnis von Arbeiten an Sequenzen oder Teilsequenzen menschlicher Gene kann nur dann zur Erteilung eines Patents führen, wenn die Anmeldung eine Beschreibung zum einen der neuen Methode der Sequenzierung, die zu der Erfindung geführt hat, und zum anderen der gewerblichen Anwendung umfasst, die das Ziel der Arbeiten ist. Ohne eine solche Anwendung hätte man es nicht mit einer Erfindung zu tun, sondern mit der Entdeckung einer DNA-Sequenz, die als solche nicht patentierbar wäre. Die RL schützt somit nur das Ergebnis einer wissenschaftlichen oder technischen erfinderischen Tätigkeit. Beim Menschen natürlich vorkommende biologische Daten werden nur erfasst, soweit sie für die Durchführung und Verwertung einer besonderen gewerblichen Anwendung erforderlich sind. Schließlich werden Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen, Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens und die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (Art 6 RL). Die RL fasst das Patentrecht in Bezug auf lebende Materie menschlichen Ursprungs demnach so streng, dass der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibt und somit die Menschenwürde gewahrt wird. Das Grundrecht auf Unversehrtheit der Person kann nicht gegen eine RL angeführt werden, die sich nur mit der Erteilung von Patenten befasst und deren Anwendungsbereich sich daher nicht auf Vorgänge vor und nach dieser Erteilung – sei es die Forschung oder die Verwendung der patentierten Erzeugnisse – erstreckt. Rechtliche Einschränkungen oder Verbote, die für die Entwicklung patentierbarer Erzeugnisse oder die Verwertung patentierter Erzeugnisse gelten, werden von der Erteilung eines Patents nicht berührt (14. Begründungserwägung). Die RL soll restriktive Bestimmungen nicht ersetzen, die jenseits ihres Anwendungsbereichs die Achtung bestimmter ethischer Normen garantieren sollen. Dazu gehört auch das Recht des Menschen, durch Zustimmung in voller Kenntnis der Sachlage über sich selbst zu verfügen. Die Frage, ob das Recht auf Unversehrtheit der Person, das im Bereich der Medizin und der Biologie die unbeeinflusste Zustimmung des Spenders und des Empfängers von Bestandteilen menschlichen Ursprungs in voller Kenntnis der Sachlage umfasst (vgl Art 3 II lit a GRCh), stellt sich in der Regel im Zusammenhang mit der Verwendung menschlicher Bestandteile wie zB Transplantaten. Antworten auf die damit einhergehenden Probleme sind deshalb nicht im Patentrecht eines speziellen Sektors zu suchen.
III. Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit Schrifttum: Frenz Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit nach dem Urteil Siliadin, NZA 2007, 734 ff; Renzikowski Die Reform der Straftatbestände gegen den Menschenhandel, JZ 2005, 879 ff; Herz Menschenhandel, 2005. Rechtsakte: Anhang II der RL 2005/85 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl 2005 L 326/13; Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1.
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a) Das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art 4 GRCh) entspricht der gleichlautenden Garantie in Art 3 EMRK. Unter „Folter“ versteht das EU-Recht jede Handlung, durch die einem Menschen vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um den Willen des Opfers oder eines Dritten zu beeinflussen. Eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ ist jede Handlung, durch die einem Menschen erhebliche körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. In beiden Fällen müssen die Handlungen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis vorgenommen werden. Ausgenommen sind Schmerzen oder Leiden, die sich aus gesetzlich zulässigen Strafen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.42 Die Definitionen verdeutlichen, dass die beiden Tatbestandsvarianten in einem Steigerungsverhältnis zueinander stehen. Die Definitionen folgen der Art 3 EMRK konkretisierenden Rechtsprechung des EGMR, die sich wiederum an Art 1 der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1984 anlehnt.43 Die Parallelisierung des Grundrechts mit der EMRK hat auch in diesem Fall zur Folge, dass Veränderungen des Schutzbereichs durch den EGMR auf die Union zu übertragen sind (vgl Art 52 III S 1 GRCh). Das Grundrecht steht in demselben politischen Kontext wie die Menschenwürde (Rn 1); zahlreiche Rechtsakte der Union, gerade im Bereich der Außenbeziehungen, enthalten spezielle Regelungen zu dieser Thematik. Exemplarisch zu nennen ist an dieser Stelle die Flüchtlings-Richtlinie der Gemeinschaft aus dem Jahr 2005, die die Anerkennung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat unter anderem davon abhängig macht, dass dort generell und durchgängig keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu befürchten sind.44 Die weitere politische Entwicklung der Europäischen Union könnte dazu führen, dass das Grundrecht möglicherweise auch direkt zu einem Maßstab für das Handeln von Unionsorganen wird, etwa im Bereich operativer Maßnahmen europäischer Polizei- und Grenzschutzbehörden oder europäischer Militärverbände. b) Das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit aus Art 5 I und II GRCh ist im Wortlaut identisch aus Art 4 I und II EMRK übernommen worden. Die bewusste Übernahme führt wiederum zum Transfer der korrespondierenden Gewährleisungsinhalte der EMRK in der jeweiligen Auslegung durch den EGMR (Art 52 III S 1 GRCh). Sklaverei ist der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrecht verbundenen einzelnen oder mehreren Befugnisse ausgeübt werden.45 Die Leibeigenschaft ist eine sklavenähnliche Praktik und wird in einem frühen völkerrechtlichen Übereinkommen beschrieben als „die Stellung einer Person, die durch Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Ver-
42 Vgl die Legaldefinitionen in Art 2 lit a und b VO (EG) 2005/1236 (Fn 29). 43 EGMR, NJW 2001, 56, 59 – Selmouni. 44 Anhang II der RL 2005/85/EG über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl 2005 L 326/13. 45 Vgl Art 1 I des Übereinkommens über die Sklaverei vom 25. September 1926, RGBl 1929 II, 63 = League of Nations Treaty Series, Bd 60, 253; zu weiteren völkerrechtlichen Gewährleistungen Marauhn in: Grote/ders, KK, Kap 12 Rn 3.
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einbarung verpflichtet ist, auf einem einer anderen Person gehörenden Grundstück zu leben und zu arbeiten und dieser Person bestimmte entgeltliche oder unentgeltliche Dienste zu leisten, ohne seine Stellung selbständig ändern zu können.“ 46 Nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums, die auf die zitierten und weiteren völkerrechtlichen Instrumente Bezug nehmen, sind unter den Begriff „Leibeigenschaft“ weitere Handlungen, wie insbesondere Schuldknechtschaft, Frauenkauf und bestimmte Formen der Arbeit von Minderjährigen zu fassen. Diese Auslegung wird mit dem Hinweis begründet, dass die EMRK in der englischsprachigen Originalfassung den Begriff „servitude“ gebrauche, anstatt des engeren Begriffs „serfdom“, der in dem Zusatzabkommen zum Sklaverei-Übereinkommen aus dem Jahr 1956 verwendet werde. Das Vorbild der EMRK für das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit (Art 4 II, III EMRK) ist das Übereinkommen Nr 29 der ILO über Zwangs- oder Pflichtarbeit aus dem Jahr 1930. Art 2 I des Übereinkommens definiert als Zwangs- oder Pflichtarbeit „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ Vom Schutzbereich der Zwangs- oder Pflichtarbeit werden bestimmte Formen der Arbeit und Dienstleistungen ausgenommen, die Art 4 III GRCh aus dem Parallelrecht der EMRK übernommen hat, die ihrerseits dem ILO-Übereinkommen (Art 2 II) folgt. Ausgenommen sind danach die Arbeitspflicht von Strafgefangenen und bedingt Entlassenen (lit a), der Wehrund Ersatzdienst (lit b), Dienstleistungen bei Notständen und Katastrophenfällen (lit c) sowie übliche Bürgerpflichten (lit d), von denen Feuerwehr- und Deichdienste, aber auch die Inanspruchnahme privater Arbeitgeber für die Steuererhebung praktische Bedeutung haben.47 Mit dem Verbot des Menschenhandels in Art 4 III GRCh soll modernen Kriminalitätsformen Rechnung getragen werden, die für die Opfer im Ergebnis gleichbedeutend mit der Versklavung oder der Leibeigenschaft sind. Die Europol-Konvention defniert „Menschenhandel“ als tatsächliche und rechtswidrige Unterwerfung einer Person unter den Willen anderer Personen mittels Gewalt, Drohung oder Täuschung oder unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses insb mit dem Ziel der Ausbeutung zur Prostitution, der Ausbeutung von Minderjährigen, sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen oder des Handels im Zusammenhang mit dem Verlassen von Kindern.48 Die in Art 5 GRCh gewährleisteten Rechte sind in der Europarechtspraxis insbesondere in den Außenbeziehungen von Bedeutung. Die Kooperationsabkommen der Gemeinschaft mit Drittstaaten enthalten Menschenrechtsklauseln, die die Achtung der Menschenrechte zum wesentlichen Bestandteil des betreffenden völkerrechtlichen Vertrages macht. Dazu zählen etwa die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Zwangs- und Kinderarbeit. Die Menschenrechtsklauseln erlauben es der Union, Bedenken gegenüber den Vertragspartnern zu äußern und – nach einem entsprechenden Ver-
46 Art 1 lit b des Zusatzübereinkommens über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7. September 1956, BGBl 1958 II, 203. 47 Vgl EGMR, Sèrie A, Vol 291-B Rn 23 – Karlheinz Schmidt (Feuerwehrabgabe). 48 Anhang betreffend Art 2 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts – Europol-Übereinkommen, ABl 1995 C 316/2.
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fahren – das Kooperationsabkommen mit seinen Handelsvorteilen und Zuwendungen im Ergebnis zu suspendieren.49
2. Beeinträchtigung 38
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Das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe, der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Vollzugshandlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet – auch hier gelten die allgemeinen Lehren (→ § 14 Rn 47 ff). Eingriffe in die Rechte sind Handlungen, die in den Schutzbereich fallen und den Grundrechtsverpflichteten zugerechnet werden können.
3. Rechtfertigung 40
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Die EMRK gewährleistet das Folterverbot in Art 3 und das Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft in Art 4 I ohne die Möglichkeit der Beschränkung. Das Verbot ist aus Bürgersicht ein schrankenloses, „notstandsfestes“ Grundrecht, das heißt, von Art 3 und Art 4 I darf auch im Kriegs- und Notstandsfall nicht abgewichen werden (Art 15 II EMRK). Die vier Sachlagen in Art 4 III EMRK sind rechtsdogmatsich als Tatbestandsausnahmen konstruiert. Dagegen können Beeinträchtigungen des Verbots der Zwangsoder Pflichtarbeit in den von Art 15 II EMRK genannten Ausnahmefällen gerechtfertigt sein. Auf das Verbot des Menschenhandels in Art 5 III GRCh, dem keine Garantie in der EMRK entspricht, ist grundsätzlich die allgemeine Schranke der Charta anzuwenden (Art 52 I GRCh). Der Hinweis in den Erläuterungen des Konvents, der von der Literatur bestätigt wird, dass das Grundrecht wegen seiner Nähe zur Menschenwürde schrankenlos gewährleistet sei, lässt sich mit Wortlaut und Sytematik der Charta nicht vereinbaren und trifft zudem auf das ungeklärte Problem der möglichen Beschränkbarkeit auch der Menschenwürde (Rn 13 ff). Die in der Sache berechtigte Aussage lässt sich dogmatisch besser dadurch absichern, dass jede Beeinträchtigung des Verbots des Menschenhandels bereits den Wesensgehalt dieses Rechts berührt. Eine Rechtfertigung, die in der Praxis ohnehin nicht denkbar erscheint, wäre nicht möglich.
IV. Recht auf Asyl und Schutz des Aufenthalts Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1999, I-11 – Calfa. Schrifttum: Peek Die zukünftige Entwicklung des europäischen Einwanderungs- und Asylrechts, ZAR 2008, 258 ff; Schorkopf (Hrsg) Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006; Kluth Reichweite und Folgen der Europäisierung des Ausländer- und Asylrechts, ZAR 2006, 1 ff; Groß Einwanderungs- und Asylrecht in der Europäischen Union, Europarecht Beiheft 1 2005, 33 ff; M Wollenschläger Das Asyl- und Einwanderungsrecht der EU, EuGRZ 2001, 354 ff. Rechtsakte: VO (EG) 2003/343, ABl 2003 L 50/1; RL 2003/9/EG über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, ABl 2003 L 31/18; RL 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
49 Hoffmeister Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Weiß Die Bedeutung von Menschenrechtsklauseln für die Außenbeziehungen und Entwicklungshilfeabkommen der EG/EU, 2000.
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Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2004 L 304/12; RL 2005/85/EG über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl 2005 L 326/13.
Die Charta gewährleistet im zweiten Teil unter der Überschrift „Freiheiten“ zwei Grundrechte, die aus systematischen Gründen in diesem Kapitel behandelt werden. Es handelt sich um das Recht auf Asyl (Art 18 GRCh) und das Recht auf Schutz vor Ausweisung, Abschiebung und Auslieferung (Art 19 GRCh). Diese Rechte haben eine besondere Nähe zu der Garantie der Menschenwürde und ihren Konkretisierungen in den Art 2–5 GRCh, weshalb sie besser zu den Gewährleistungen des ersten Teils der Charta wie auch den korrespondierenden Rechten der EMRK passen. Dabei wird der Ausweisungs-, Abschiebungs- und Auslieferungsschutz als Recht auf Schutz des Aufenthalts zusammengefasst. Fall 2: (EuGH, Slg 1999, I-11 – Calfa): Frau C, italienische Staatsangehörige, wird während ihres Kreta-Urlaubes wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz von der Polizei verhaftet. Sie soll sich Rauschgift zum Eigengebrauch beschafft und es dann verwendet haben. Das Strafgericht verurteilt sie zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe und zur Ausweisung aus Griechenland auf Lebenszeit. Da kein wichtiger, insbesondere familiärer Grund für den Verbleib in Griechenland vorliegt, macht die Strafe es C unmöglich – vorbehaltlich der nach Ablauf von drei Jahren möglichen Gestattung durch Ermessensentscheidung des Justizministers – das Land wieder zu betreten. C möchte gegen diese Entscheidung auch mit den Mitteln des Europarechts vorgehen. Einem griechischen Staatsangehörigen, der demselben Tatvorwurf ausgesetzt ist, droht dagegen nur ein fakultatives Aufenthaltsverbot in bestimmten Teilen des griechischen Hoheitsgebiets und auch das nur, wenn der Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist. In der Rechtsmittelinstanz macht C unter anderem geltend, dass es nach den Vorschriften des EG-Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr nicht zulässig sei, einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats pauschal auf Lebenszeit auszuweisen, weil Entsprechendes für griechische Staatsangehörige nicht vorgesehen sei.
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1. Schutzbereiche a) Das Asylrecht, das heißt das Recht eines Menschen, bei einem (Mitglied-)Staat, der nicht sein eigener ist, um internationalen Schutz vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu bitten, steht bereits nach dem Wortlaut von Art 18 GRCh unter einem Konkretisierungsvorbehalt. Es wird nach Maßgabe zum einen der Genfer Flüchtlingskonvention50 mit ihrem Zusatzprotokoll 51 und zum anderen des EU-Vertrages und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährleistet. Die Bindung der Union an das Völkerrecht wiederholt die bereits geltende einseitige Verpflichtung der Gemeinschaft auf die beiden Verträge, die Art 63 EGV (78 AEUV) als Maßstab für das Entwicklungsgebot einer gemeinsamen Asylpolitik benennt. Der Vorbehalt zugunsten der primärrechtlichen Verträge irritiert dagegen, denn eine bloße „Ge-
50 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl 1953 II, 559 = UNTS, Bd 189, 137. 51 Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.1.1967, BGBl 1969 II, 1293 = UNTS, Bd 606, 267.
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währleistung nach Maßgabe“ widerspricht der Funktion eines Grundrechts, Maßstab für und nicht Ausdruck des Handelns von Trägern hoheitlicher Gewalt zu sein. Der Primärrechtsvorbehalt des Asylrechts erfüllt mehrere Funktionen. Zunächst ist das Protokoll zum Vertrag von Amsterdam über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union52 zu nennen, das die Asylgewährung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats durch andere Mitgliedstaaten grundsätzlich aussschließt. Die Mitgliedstaaten gelten untereinander als sichere Herkunftsstaaten. Eine Ausnahme besteht unter anderem für den Fall, dass der Vorschlag eines Sanktionsbeschlusses gegen einen Mitgliedstaat (Art 7 EUV/ 7 EUV-E) unterbreitet wurde. Der im Rahmen der Regierungskonferenz unternommene Versuch, das Asylrecht innerhalb der Union insgesamt aufzuheben, scheiterte wegen Zweifeln an der Vereinbarkeit eines solchen Schritts mit den völkerrechtlichen Pflichten der Genfer Flüchtlingskonvention.53 Zwei weitere Protokolle zum Vertrag von Amsterdam behalten dem Vereinigten Königreich, Irland und Dänemark bestimmte Rechte in diesem Bereich vor, die die übrigen Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen haben.54 Für die drei genannten Mitgliedstaaten ist deshalb stets zu prüfen, in welchem Umfang das Unionsrecht angewendet wird. Dieser Zustand differenzierter Integration des Politikbereichs „Asyl“ und das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, mit entsprechender rechtlicher Ausgestaltung, führten zu der Entscheidung, das Asylrecht lediglich in dieser dogmatischen Konstruktion zu gewährleisten. Auch ein Ausweichen auf die EMRK kam in diesem Fall nicht in Betracht, weil die Konvention das Asylrecht de iure nicht kennt, sondern einzelne Schutzaspekte über Art 3 und 8 EMRK – im Ergebnis durchaus wirkungsvoll – garantiert.55 Der Wortlaut der Vorschrift („Das Asylrecht wird […] gewährleistet.“) hat Anlass gegeben, den Status der Vorschrift als subjektives Recht in Frage zu stellen. Der Meinungsstreit knüpft daran an, dass auf die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Zusatzprotokoll über das Zurückweisungsverbot (non-refoulement) verwiesen wird, die nach der verbreiteten Staatenpraxis und einer starken, wenn auch nicht unbestrittenen Literaturmeinung nur ein objektiv-rechtliches Gebot enthalten.56 Ausgenommen ist lediglich das Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot (Art 33 Genfer Flüchtlingskonvention). Gegen diese Ansicht spricht der Sinn und Zweck der Charta, mit der individualschützende Rechte sichtbar gemacht und – wenn notwendig – geschaffen werden sollten; allerdings ist für den Wortlaut von Art 18 GRCh eine zurückhaltende Formulierung gewählt worden, die dem Entwicklungsprozess dieses Sachthemas und wohl auch Meinungsverschiedenheiten im Konvent Rechnung trägt. Dies spricht dafür, dass es in der Europäischen Union derzeit kein Grundrecht auf Asyl im Sinne eines subjektiven Rechts gibt. In der Europarechtspraxis wird das Asylrecht durch eine Reihe von Sekundärrechtsakten konkretisiert, die der Blaupause des justiz- und innenpolitischen Haager Programms des Rates folgen, nach dem es bis spätestens zum Jahr 2010 eine Gemeinsame
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ABl 1997 C 340/103 f. Schorkopf Homogenität in der Europäischen Union, 2000, Ziff 261. ABl 1997 C 340/99 und 101. Zimmermann in: Grote/Marauhn, KK, Kap 27 Rn 34 ff. M Wollenschläger in: Heselhaus/Nowak, GR, § 16 Rn 32.
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Europäische Asylpolitik geben soll.57 Nachdem sich alle zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1990 auf einen völkerrechtlichen Vertrag geeinigt hatten, in dem sie den zuständigen Staat für die Prüfung eines in einem EG-Mitgliedstaat gestellten Asylantrages bestimmten,58 sollten gleichwertige Verfahren für die Prüfung von Asylanträgen eingeführt werden. Dies gelang im Jahr 1995 mit der Entschließung des Rates über Mindestgarantien für Asylverfahren.59 Seit dem Jahr 2000 wird mit einer Reihe von Sekundärrechtsakten eine Mindestharmonisierung der mitgliedstaatlichen Gesetzgebungen und eine Koordinierung der nationalen Asylregelungen angestrebt. Zu den wichtigsten Rechtsakten gehören die Richtlinien über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms,60 über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern,61 über Mindestgarantien für die Asylverfahren62 und über Mindestnormen für die Verfahren der Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft.63 Über eine Verordnung werden die Kriterien und Verfahren festgelegt, nach denen der Mitgliedstaat bestimmt wird, der für die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist.64 Mit der erstrebten Vergemeinschaftung dieser Thematik sollte das Asylrecht als subjektives Recht erstarken, was allerdings vor dem Hintergrund einer in dieser Hinsicht fehlenden gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten nicht selbstverständlich ist. Der Wortlaut der Charta, der bislang gegen den Status als subjektives Recht angeführt wird, ändert seinen Aussagewert nicht dadurch, dass die Union rechtspolitisch einen Entwicklungsschritt macht. b) Der Schutzbereich des Rechts auf Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 19 GRCh) besteht im Grunde in dem Recht auf Leben und Unversehrtheit des Menschen. Da diese Rechte in eigenständigen Grundrechten (Art 2–4 GRCh, Rn 17 ff) gewährleistet sind, wird deutlich, dass im Mittelpunkt von Art 19 GRCh bestimmte Modalitäten stehen, unter denen diese Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Der Staat oder ein anderer verantwortlicher Träger hoheitlicher Gewalt greift in das Recht ein, indem er einen Menschen zur Ausreise aus dem Staatsgebiet auffordert (Ausweisung), dieses Ausreisegebot zwangsweise durchsetzt (Abschiebung) oder die Person auf Ersuchen zwangsweise aus dem Bereich inländischer Hoheitsgewalt entfernt und an eine ausländische Hoheitsgewalt überstellt (Auslieferung). Da der Europäische Haftbefehl – aus Perspektive der Union – die zwischenstaatliche Auslieferung durch das neues Rechtsinstitut der Über-
57 Rat, Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl 2005 C 53/1, Ziff 1.3, dazu die Bewertung der Kommission KOM (2009) 263 endgültig; Kommission, Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem, KOM (2007) 301 endgültig; dazu Kugelmann Asylagenda 2010 – Dimensionen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, ZAR 2007, 81 ff. 58 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (Dubliner Übereinkommen) vom 15.6.1990, BGBl 1994 II, 791. 59 Entschließung des Rates über Mindestgarantien für Asylverfahren, ABl 1996 C 274/13. 60 RL 2001/55/EG, ABl 2001 L 212/12. 61 RL 2003/9/EG, ABl 2003 L 31/18. 62 RL 2005/85/EG, ABl 2005 L 326/13; die Art 29 I und 36 III der Richtlinie hat der EuGH für nichtig erklärt, Slg 2008, I-3189, Rn 43 ff – Parlament/Rat. 63 RL 2004/83/EG, ABl 2004 L 304/12. 64 VO (EG) 2003/343, ABl 2003 L 50/1, so genannte „Dublin-II-Verordnung“, weil der Rechtsakt das Dubliner Übereinkommen aus dem Jahr 1990 (Fn 58) ersetzt.
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gabe einer Person zwischen der den Haftbefehl ausstellenden und der ihn vollstreckenden Justizbehörde ersetzt hat,65 fallen die Handlungen nach dem entsprechenden Rahmenschluss nicht in den Anwendungsbereich des Grundrechts. Bei diesen Handlungen ist es dem Träger hoheitlicher Gewalt untersagt, einerseits Kollektivausweisungen im Sinne abstrakt-genereller Massenausweisungen auf Grund der Staatsangehörigkeit vorzunehmen (Art 19 I GRCh), womit die parallele Gewährleistung aus Art 4 4. ZP EMRK in das Unionsrecht einbezogen wird. Andererseits darf niemand in einen Staat ausgewiesen, abgeschoben oder ausgeliefert werden, in dem speziell für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder ähnlicher Behandlung droht (Art 19 II GRCh). Bei dieser Rechtslage wird deutlich, dass das Grundrecht sich in der gegenwärtigen Europarechtspraxis auf die Außenbeziehungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten beschränkt. Das Protokoll über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten (Rn 45) entfaltet auch in diesem Fall seine Wirkung, denn bereits nach den Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft – wie auch für den Verbleib in der Union – sind mitgliedstaatliche Zustände, wie sie Art 19 GRCh voraussetzt, ausgeschlossen.
2. Beeinträchtigung 51
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Der Schutzbereich des Asylrechts wird beeinträchtigt, wenn ein Asylsuchender aus dem Staat, in dem er Schutz vor Verfolgung sucht, ausgewiesen, oder bereits an der Grenze zurückgewiesen wird, mit der Folge, dass der Betroffene wieder in seinen Herkunftsstaat gebracht wird. Der Schutzbereich von Art 19 GRCh wird durch eine Ausweisung, Abschiebung oder Auslieferung beeinträchtigt (Rn 48 ff).
3. Rechtfertigung 53
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Auf das Asylrecht (Art 18 GRCh) und die Rechte auf Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 19 II GRCh), denen keine Garantien in der EMRK entsprechen, ist grundsätzlich die allgemeine Schranke der Charta anzuwenden (Art 52 I GRCh). Der Hinweis in den Erläuterungen des Konvents, der auch in diesem Fall von der Literatur bestätigt wird (Rn 43 ff), dass die Grundrechte wegen ihrer Nähe zur Menschenwürde schrankenlos gewährleistet seien, lässt sich mit Wortlaut und Systematik der Charta nicht vereinbaren. Die in der Sache berechtigte Aussage lässt sich dogmatisch besser dadurch absichern, dass jede Beeinträchtigung der Rechte bereits deren Wesensgehalt berührt. Das Verbot der Kollektivausweisung (Art 19 I GRCh) zählt zu den schrankenlosen Gewährleistungen der EMRK, die allerdings nicht von der absoluten Schranke des Art 15 EMRK erfasst wird. Die kollektive Ausweisung wäre demnach in Kriegs- und Notstandszeiten möglich, soweit eine solche Maßnahme überhaupt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllen kann.
65 S die 5. Begründungserwägung und Art 9 ff des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (Fn 30); zu der Konzeption Vogel JZ 2001, 937 ff.
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Lösung Fall 2: Der EuGH sah in der griechischen Rechtslage einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und die einschlägige Vorschrift der RL 64/221/EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern. Die Ausweisung eines Unionsbürgers kann nur dann aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein, wenn er nicht nur gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hat, sondern sein persönliches Verhalten darüber hinaus eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Der EuGH war der Ansicht, dass das nicht der Fall sei, wenn die Ausweisung auf Lebenszeit aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt werde, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt werde. In dieser Entscheidung kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Unionsbürgern und Staatsangehörigen bestimmter assoziierter Staaten wie der Türkei zwar prinzipiell möglich sind, dass diese aber nicht schlechter behandelt werden dürfen als die eigenen Staatsangehörigen des Aufnahmestaates. Eine Ausweisung ist konkret nur dann möglich, wenn Behörden und Gerichte den Einzelfall geprüft haben – pauschalierte Rechtsfolgen, die schematisch auf eine bestimmte Strafe folgen, sind ausgeschlossen. Der Fall zeigt, dass der in der Charta verbürgte Ausweisungsschutz (Art 19 GRCh) in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation nicht einschlägig ist, dass das Unionsrecht im Ergebnis aber dennoch über das Binnenmarktrecht und das Diskriminierungsverbot auf Grund der Staatsangehörigkeit einen „Ausweisungsschutz“ bewirkt. Der Schutzbereich des EU-Grundrechts auf Ausweisungsschutz wäre nur dann betroffen, wenn dem Ausgewiesenen im Herkunftsstaat eine Gefahr für Leib und Leben drohte.
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Den Schutz der Person erfassen die GRCh und die Rspr des Europäischen Gerichtshofs in mehreren selbständigen Gewährleistungen. Dazu gehören die bereits von der Rspr entwickelten Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf Schutz der Wohnung, der Kommunikation und personenbezogener Daten sowie – in Ansätzen – die Religionsfreiheit. Mit der Entscheidung für die Kodifikation der europäischen Grundrechte sind diese Ansätze der Rspr aufgenommen, mit den Gewährleistungen der EMRK verzahnt und in die Systematik des zweiten Titels der GRCh unter der Überschrift „Freiheiten“ umgesetzt worden. In diesem Kap werden die in dieser Weise entstandenen Gewährleistungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (I., Rn 3 ff), des Schutzes der Privatsphäre (II., Rn 14 ff), des Schutzes personenbezogener Daten (III., Rn 38 ff), des Rechts auf Eheschließung und Familiengründung (IV., Rn 53 ff) und die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (V., Rn 61 ff) ausgeleuchtet. Die weiteren Grundrechte, die zu diesem zweiten Teil der Charta zählen, werden in eigenständigen Kap behandelt (→ § 16.2– 4); das Asylrecht sowie das Recht auf Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art 18 u 19 GRCh) werden wegen der besonderen Nähe zur Menschenwürde an systematisch geeigneterem Ort, im Rahmen des vorangegangenen Kap (→ § 15) diskutiert. Mit der bevorstehenden Umstellung des Grundrechtsschutzes von der kasuistischen Methode der Rspr auf die systematische Katalogisierung im Rahmen der Charta, kann aus dem Blickfeld geraten, dass zahlreiche Gewährleistungen der Charta – zu denen auch einige der nachfolgend angesprochenen Rechte gehören – weiterhin keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich auf europäischer Ebene haben. Hinzu kommt, dass die inhaltliche Ausrichtung der Charta an der EMRK vor allem auch die Konventionspraxis in Form der Rspr des EGMR in das EU-Recht überträgt. Um Doppelungen in der Darstellung des Lehrbuchs gering zu halten und die unionsspezifische Bedeutung einzelner Grundrechte für die Tätigkeitsfelder der Union herauszustellen, orientiert sich die nachfolgende Beschreibung des geltenden Rechts an den – soweit vorhanden – Leitentscheidungen des EuGH zu den einzelnen Gewährleistungen.
I. Freiheit und Sicherheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2005, I-5285 – Pupino. Schrifttum: Böse Die strafrechtliche Zusammenarbeit in Europa: Stand und Perspektiven, 2008; Amelung Die Entstehung des Grundrechtsschutzes gegen willkürliche Verhaftung, Jura 2005, 447 ff; Calliess Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, DVBl 2003, 1096ff; Riedel Die Habeas-Corpus-Akte, EuGRZ 1980, 192 ff.
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Fall 1: Handelsvertreter H ist dt Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner Familie in Köln und arbeitet seit vielen Jahren für ein Unternehmen, das seine Produkte auch an Gewerbebetriebe in Frankreich und den BENELUX-Staaten vertreibt. Bei einer Vertriebsreise nach Frankreich wird H von der Polizei verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, an einem groß angelegten Betrug
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seines Arbeitgebers zum Nachteil französischer Kunden beteiligt zu sein. H beteuert seine Unschuld, wird aber wegen Fluchtgefahr dennoch in Untersuchungshaft genommen. Der franz Verteidiger, der von Hs Arbeitgeber beauftragt wird, verweist darauf, dass die Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei und gegen die europ Grundrechte verstoße. Zwar bestehe die Möglichkeit, dass H nach seiner Freilassung nach Deutschland zurückkehre und sich damit vorübergehend der französischen Strafverfolgung entziehe. In Anbetracht der Möglichkeit, gegen H einen Europäischen Haftbefehl zu erwirken, der in Deutschland vollstreckt werden müsste, könnte H wieder nach Frankreich ausgeliefert werden. In Deutschland bestehe keine Fluchtgefahr, weil H einen festen Wohnsitz habe und in gesicherten Verhältnissen lebe. Dagegen verweisen die französischen Behörden auf das noch nicht abgeschlossene Ermittlungsverfahren und die Notwendigkeit, H für weitere Befragungen vor Ort zu haben.
1. Schutzbereich Das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art 6 GRCh), das am Beginn des zweiten Kap der GRCh über die höchstpersönlichen Freiheitsrechte steht, ist ein Grundrecht, dessen Inhalt sich aus Wortlaut und Systematik nicht erschließt. Der Satz „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“ könnte das Kernrecht der Persönlichkeit umschreiben, eine umfassende allgem Handlungsfreiheit, die möglicherweise sogar den höchst aktuellen Zusammenhang im Blick hat, in welchem Maß von einer Gesellschaft Risiken und Gefahren ferngehalten werden müssen, damit individuelle Freiheit sich dauerhaft entfalten kann.1 Erst der Entstehungszusammenhang weist den Weg in Richtung auf die körperliche Bewegungsfreiheit und Integrität im Zusammenhang mit willkürlichen Freiheitsentziehungen durch hoheitliche, insb staatliche Gewalt. Art 6 GRCh übernimmt – inhaltsgleich – die entspr Garantie aus Art 5 EMRK, die häufig mit Bezug zu ihrem historischen Kontext auch als Recht auf habeas corpus bezeichnet wird, womit der Schutzbereich jedoch nur in seinem Kern beschrieben ist. Die Charta hat den ersten Satz des Art 5 II 1 EMRK übernommen, die Erläuterungen des Konvents verweisen darauf, dass das Grundrecht sowohl im Hinblick auf den Schutzbereich als auch auf die Schranken der EMRK entspricht. Der Schutzbereich umfasst zwei Gewährleistungen: Zum einen hat jeder Mensch das Recht, dass ihm nur auf gesetzlicher Grundlage und nur in den von Art 5 I lit a bis f EMRK (vgl Art 52 III iVm 6 GRCh) genannten Haftgründen die individuelle Bewegungsfreiheit entzogen wird. Zum anderen hat jeder Mensch, der festgenommen oder in Haft gehalten wird, einen akzessorischen Anspruch auf die in Art 5 II bis V EMRK genannten Garantien, die die Integrität des Betroffenen in hoheitlichem Gewahrsam sichern sollen.2 Der Wesensgehalt des Grundrechts liegt in dem Schutz des Einzelnen vor der Willkür staatlicher Gewalt mit Bezug zur körperlichen Bewegungsfreiheit. Darüber hinaus verweist Art 5 I EMRK nach der Rspr des EGMR aber auf das innerstaatliche Recht. Er verpflichtet die Konventionsstaaten, ihre jeweiligen materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften einzuhalten.3
1 Di Fabio Sicherheit in Freiheit, NJW 2008, 421 ff; Isensee Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983. 2 EGMR, NJW 1989, 647, Rn 40 – Weeks; NJW 2005, 2207, Rn 170 f – Assanidzé. 3 EGMR, NJW 2004, 2209 Rn 43 – Herz mwN.
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Die mit dem Sicherheitsbegriff angesprochene Schutzfunktion des Grundrechts umfasst das Recht des Betroffenen, in einer ihm verständlichen Sprache unverzüglich zu erfahren, was der Grund der Freiheitsentziehung ist und welche Beschuldigungen erhoben werden (Art 5 II EMRK); das Recht eines Untersuchungshäftlings, einem Richter vorgeführt zu werden und, bei fortdauernder Freiheitsentziehung, auf Durchführung eines abschließenden Verfahrens in angemessener Frist (Art 5 III EMRK) sowie das Recht, die Freiheitsentziehung von einem Gericht, das die Entlassung anordnen kann, überprüfen zu lassen (Art 5 IV). Im Fall einer konventionswidrigen Haft hat der Betroffene einen Entschädigungsanspruch (Art 5 V EMRK). Diese besonderen Rechte überschneiden sich teilweise mit den justiziellen Grundrechten (Art 47 ff GRCh → § 20), was auf die eigenwillige dogmatische Konstruktion der Charta zurückzuführen ist. Art 6 GRCh wäre aus systematischen Gründen besser Kap I der Charta zugeordnet worden. Überschneidungen ließen sich dadurch vermeiden, dass für die ein Straf- oder Disziplinarurteil vorbereitenden, freiheitsentziehenden Verfahren Art 6 GRCh (Art 5 EMRK) als lex specialis gegenüber den justiziellen Grundrechten eingeordnet wird. Da die Union über keine Zuständigkeiten verfügt, die Bewegungsfreiheit der Menschen unmittelbar einzuschränken, hat die Verweisung der EMRK auf die primäre (staatliche) Rechtsordnungsebene auf der Ebene des EU-Rechts kein Gegenstück. Dies kann sich durch weitere Kompetenzübertragungen auf die EU oder Rechtsentwicklung auf Grundlage der geltenden Verträge in Zukunft ändern – insoweit ist Art 6 GRCh ein „Merkposten“ für die Begrenztheit europäischer Hoheitsgewalt. Bis zu diesem Moment steht die Vorschrift exemplarisch für den politisch-symbolischen Wirkanspruch der Charta. Mittelbar wird der Schutzbereich des Art 6 GRCh bereits durch die gegenwärtige Rechtslage berührt. Art 1 I des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl 4 verpflichtet die Mitgliedstaaten, jeden Europäischen Haftbefehl nach den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und den Vorgaben des Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rs Pupino gilt der Grundsatz konformer Auslegung auch für Rahmenbeschlüsse, dh die Mitgliedstaaten haben ihr nationales Recht soweit wie möglich nach Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszulegen. Diese Verpflichtung der nationalen Behörden und Gerichte wird durch die allgem Rechtsgrundsätze begrenzt.5 Der Rahmenbeschluss stellt insoweit klar, dass die Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Mitgliedstaaten nicht davon freistellt, die Grundrechte iSd Art 6 EUV zu achten. Damit wird deutlich, dass die Anwendbarkeit eines Rahmenbeschlusses – vergleichbar mit dem supranationalen Gemeinschaftsrecht – die Anwendbarkeit der nationalen Grundrechte verdrängt. Es kommt bei entspr Sachverhalten in der Praxis zu Überschneidungen mit der EMRK, denn alle EUMitgliedstaaten sind Vertragsstaaten der Konvention und müssen insb den hier einschlägigen Art 5 EMRK ohnehin in ihrem nationalen Recht umsetzen. Art 6 GRCh hat insoweit die Funktion, die rechtsetzenden Organe der EU an die Gewährleistungen zu binden und für die legislative Konkretisierung Vorgaben zu machen.
4 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl 2002 L 190/1. 5 EuGH, Slg 2005, I-5285 Rn 42 ff – Pupino; dieser, aus der Rspr zu EG-Richtlinien entlehnte Grundsatz gilt, obwohl der Rahmenbeschluss ein Rechtsakt der intergouvernementalen Dritten Säule ist, vgl Giegerich ZaöRV 2007, 351, 371 ff.
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2. Beeinträchtigung Die „Freiheitsentziehung“ ist der zentrale Begriff für die Frage, ob das Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit beeinträchtigt ist. Der EGMR definiert ihn als Unterbringung einer Person an einem räumlich begrenzten Ort auf eine nicht unerhebliche Zeit, wobei der Betroffene in die Unterbringung nicht wirksam eingewilligt haben darf.6 An das zweitgenannte Kriterium der Einwilligung sind strenge Voraussetzungen zu stellen, es reicht nicht aus, dass sich der Betroffene in die Freiheitsentziehung, etwa in die Einlieferung in ein psychiatrisches Krankenhaus fügt. Die Beeinträchtigung des durch Art 5 II–V EMRK konkretisierten Schutzbereiches ergibt sich aus der Umkehrung der beschriebenen Schutzfunktionen. Mit Blick auf den Schutz der Freizügigkeit durch Art 45 GRCh, der in Art 2 ZP 4 EMRK seine Entsprechung in der Konvention findet, ist zwischen dem Entzug und der einfachen Beschränkung der Bewegungsfreiheit zu unterscheiden. Die Unterscheidungslinie verläuft entlang des Grades und der Intensität des Eingriffs, die Freizügigkeit bezieht sich dabei auf die räumliche Bewegungsfreiheit im Geltungsbereich der Rechtsordnung, während das habeas corpus-Recht vor der zwangsweisen Verbringung an einen bestimmten Ort schützt. Die Abgrenzung erfolgt nach dem konkreten Sachverhalt und berücksichtigt Umstände wie Art, Dauer, Auswirkungen und Umstände des Falles.7
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3. Rechtfertigung Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs ist unter drei Voraussetzungen gerechtfertigt: Die Freiheitsentziehung ist rechtmäßig, wenn (i) sie auf gesetzlich vorgeschriebenem Wege erfolgte, (ii) die materiellen und prozessualen Vorschriften des nationalen Rechts eingehalten wurden und (iii) ein Haftgrund vorlag. Die Haftgründe werden in Art 5 I lit a bis f definiert. Zulässig sind danach Freiheitsentziehungen auf Grund gerichtlicher Verurteilung (lit a), im Falle der Nichtbefolgung von Gerichtsentscheidungen oder einer gesetzlichen Handlungspflicht (lit b), zwecks Untersuchungshaft bei hinreichendem Tatverdacht, Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr (lit c), bei Minderjährigen zur Durchsetzung von Maßnahmen der Fürsorge oder von Jugendstrafe (lit d), zum Schutz der Allgemeinheit vor Krankheiten oder zum Eigenschutz von Sucht- und psychisch Kranken (lit e) oder um das unberechtigte Eindringen in das Staatsgebiet zu verhindern oder um Abschiebungen und Auslieferungen durchzusetzen (lit f). Die Freiheitsentziehung muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Prüfung orientiert sich an dem Ziel des Grundrechts, das Individuum gegen Willkür bei freiheitsentziehenden Maßnahmen zu schützen.8 Lösung Fall 1: Die Rechtsgrundlage für Hs Freiheitsentziehung ist das französische Strafverfahrensrecht. Es regelt ohne Vorgaben des EU-Rechts, unter welchen Voraussetzungen ein Beschuldigter in Untersuchungshaft genommen werden kann. Das französische Recht muss den Vorgaben des Art 5 EMRK entsprechen, dh es bedarf einer gesetzlichen Grundlage, eines Haftgrundes (Art 5 I lit c EMRK) und der Einhaltung der materiellen und prozessualen Vorschriften.
6 EGMR, NJW-RR 2006, 308, Rn 74 – Storck, in der dt Übersetzung von Meyer-Ladewig. 7 EGMR, NVwZ 1997, 1102, Rn 42 – Amuur. 8 EGMR, Series A, Vol 33, Rn 58 – Winterwerp.
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Zwar liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor – H nimmt die Dienstleistungsfreiheit (Art 49 ff EGV = Art 56 ff AEUV) in Anspruch –, es existiert jedoch kein EU-Rechtsakt, der auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar wäre. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten zielt auf eine andere Sachverhaltskonstellation. Die zwischenzeitliche Überstellung von Frankreich nach Deutschland mit der Aussicht auf Rücküberstellung wäre zwar möglich, würde jedoch nicht die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllen. Als milderes Mittel wäre dieses Vorgehen nicht ebenso effektiv, das Ziel der Strafverfolgung zu erreichen. Hinzu kommt, dass Deutschland die Auslieferung Hs insb dann verweigern könnte, wenn gegen H in Deutschland strafrechtlich ermittelt werden würde. Der Fall berührt das Problem, dass Unionsbürger, die einer Straftat im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verdächtigt werden, in dem sie nicht wohnhaft sind, in der Regel wegen Fluchtgefahr und fehlender Bindung zu dem betreffenden Mitgliedstaat in Untersuchungshaft genommen werden. Ein Beschuldigter, der in dem Mitgliedstaat wohnhaft ist, in dem er einer Straftat beschuldigt wird, würde in einer vergleichbaren Situation allerdings häufig einer weniger einschneidenden Überwachungsmaßnahme unterworfen. Solche Maßnahmen, wie etwa eine Meldeauflage, sind jedoch nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts nicht möglich. Entspr behördliche oder gerichtliche Anordnungen werden von den staatlichen Organen anderer Mitgliedstaaten nicht vollzogen (vgl den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über die Europäische Überwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren innerhalb der Europäischen Union, KOM (2006) 468).
II. Schutz der Privatsphäre Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2006, I-3449 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2004, I-5257 ff – Orfanopoulos ua und Oliveri; Slg 2002, I-6279 ff – Carpenter; Slg 2002, I-9011 ff – Roquette Frères; Slg 1994, I-4737 ff – X/Kommission; Slg 1992, I-2575 ff – Kommission/Deutschland; Slg 1989, 2859 ff – Hoechst; Slg 1989, 3137 – Dow Chemical; Slg 1989, 195 ff – Cowan; Slg 1980, 2033 ff – National Panasonic; Slg 1982, 1575 ff – AM & S; Slg 1989, 1263 ff – Kommission/Deutschland. Schrifttum: Tettinger/Geerlings Ehe und Familie in der europäischen Grundrechtsordnung, EuR 2005, 419 ff; Siemen Grundrechtsschutz durch Richtlinien / Die Fälle Österreichischer Rundfunk ua und Lindqvist, EuR 2004, 306 ff; Meyer/Kuhn Befugnisse und Grenzen kartellrechtlicher Durchsuchungen nach VO Nr. 1/2003 und nationalem Recht, WuW 2004, 880 ff; Breitenmoser Der Schutz der Privatsphäre gemäß Art 8 EMRK, 1986.
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Das Recht auf Schutz der Privatsphäre (Art 7 GRCh) ist ein Grundrecht, das in der Rspr des EuGH unter Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und Art 8 EMRK seit längerem fest verankert ist.9 Es ist nunmehr durch Art 7 GRCh verbürgt, der die Gewährleistung der Konvention nahezu wortgleich in die Charta übertragen hat. Die Prägefunktion von Art 8 EMRK entfaltet sich bei diesem Grundrecht vor allem in der Unterteilung des Schutzbereichs in Teilaspekte des Gewährleistungsgehalts: Geschützt werden das Privatleben, zu dem der EuGH ausdrücklich das Recht auf Schutz des Arztgeheimnisses zählt,10 und das Familienleben, ein Recht, das in der Rspr
9 Vgl EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 11/92, EWGV Art 30/2, unter Hinweis auf EuGH, Slg 1980, 2033 ff – National Panasonic; Slg 1994, I-4737, Rn 17 – X/Kommission; EuG, Slg 1994, II-179, Rn 48 – A/Kommission. 10 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/Deutschland = JK 11/92, EWGV Art 30/2.
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zur Ausweisung von Unionsbürgern erheblich an Bedeutung zugenommen hat.11 Weitere Teilaspekte sind die in Art 7 GRCh ausdrücklich erwähnte Unverletzlichkeit der Wohnung12 und der Schutz der Kommunikation, der in Form der Vertraulichkeit des anwaltlichen Schriftverkehrs ein praktisches Anwendungsgebiet hat.13 Bei systematischer Betrachtung ist auch das Recht auf Schutz personenbezogener Daten eine Ausprägung der Achtung des Privatlebens – es wird in der Charta durch ein eigenständiges Grundrecht geschützt (Art 8 GRCh → § 16 Rn 38). Von einem allgem Persönlichkeitsrecht auf Unionsebene kann hingegen nicht gesprochen werden. Der EuGH bedient sich in seiner Rspr einer anderen Terminologie, die auf die Dogmatik der EMRK gegründet ist. Die in der Leitscheidung in der Rs Stauder verwendete Formulierung von den „Grundrechten der Person“ gibt für einen solchen Rückgriff auf das Begriffssystem des Grundgesetzes keinen Anlass. Der EuGH hat diese Formulierung in seinen nachfolgenden Entscheidungen nicht wieder aufgegriffen und die einzelnen Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre im Wesentlichen unter dem „Dach“ des Art 8 EMRK entwickelt. Fall 2: (EuG, Slg 1992, II-2195 und EuGH, Slg 1994, I-4737ff – X/Kommission): X wurde zu einem Auswahlverfahren für Schreibkräfte der Kommission zugelassen. Obwohl er die schriftliche Prüfung nicht bestanden hatte, forderte ihn die Generaldirektion Personal und Verwaltung auf, sich im Hinblick auf eine mögliche Einstellung als Bediensteter auf Zeit für einen Zeitraum von sechs Monaten gemäß den Beschäftigungsbedingungen einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. X ließ sich daraufhin von dem Vertrauensarzt der Kommission untersuchen. Es wurden klinische Untersuchungen und Laboruntersuchungen vorgenommen, den Vorschlag des ärztlichen Dienstes einen HIV-Test durchzuführen, lehnte X hingegen ab. Der Vertrauensarzt teilte X kurze Zeit später mit, dass er seine Einstellung aus ärztlicher Sicht nicht befürworten werde. Gleichzeitig forderte er X auf, ihm den Namen seines behandelnden Arztes mitzuteilen, damit er diesem den von ihm festgestellten Befund mitteilen könne. Die Generaldirektion Personal und Verwaltung teilte dem X mit, dass sie aufgrund der fehlenden körperlichen Eignung von seiner Einstellung Abstand nehme. Die Auswertung des medizinischen Befundes durch den behandelnden Arzt des X macht deutlich, dass der Vertrauensarzt der Kommission eine opportunistische Infektion, die das Endstadium von Aids (‚full blown Aids‘) anzeige, bei X diagnostiziert hatte. Die weitere verwaltungsinterne Untersuchung ergab, dass X zwar keinem verdeckten AidsTest, dafür aber einer Laboruntersuchung zur Bestimmung der Lymphozyten T4/T8 unterzogen worden war. Eine solche Untersuchung ist zur Beurteilung des Zustands des Immunsystems des Patienten und nicht speziell zur Auffindung einer viralen oder bakteriellen Erkrankung bestimmt. Gleichwohl lässt sich durch den Test der Verdacht eines Vorliegens des Aids-Virus begründen. Die von X gegen die ablehnende Entscheidung der Kommission und mit dem Antrag auf Ersatz des immateriellen Schadens erhobene Klage vor dem Gericht erster Instanz blieb ohne Erfolg. X legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel vor dem EuGH ein.
11 EuGH, Slg 2006, I-3449 ff – Kommission/Deutschland; Slg 2004, I-5257 ff – Orfanopoulos ua und Oliveri. 12 EuGH, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 6/90, EWGV § 173/2; Slg 1989, 3137 ff und 3165 ff – Dow Chemical; Slg 2002, I-9011, Rn 27 ff – Roquette Frères. 13 EuGH, Slg 1982, 1575 ff – AM & S.
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a) Der Anspruch auf Achtung des Privatlebens schützt die Identität und Entwicklung der Person sowie das Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu pflegen.14 Nach der Rspr des EGMR ist der Begriff „Privatleben“ umfassend zu verstehen und einer abschließenden Definition nicht zugänglich.15 Demzufolge unterliegt das Grundrecht der kasuistischen Konkretisierung, die von Fragen der Geschlechtsidentifikation, des Namens und der sexuellen Orientierung, über die Kenntnis der Abstammung bis hin zur öffentlichen Aufzeichnung von Bewegungsdaten und der Veröffentlichung von Bildern über Menschen reicht (vgl → § 3 Rn 3 ff).16 In der Praxis des Gemeinschaftsrechts hat diese Teilgewährleistung des Grundrechts bislang Bedeutung im Zusammenhang mit der Datenerhebung erlangt. Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens gehört ebenfalls zu den Grundrechten des EU-Rechts, die der EuGH vor der Verabschiedung der Charta anerkannt hat. Es nimmt den Kernbereich des Privatlebens auf, primär das Miteinander von Eheleuten und Kindern (Art 9 GRCh), darüber hinaus aber auch weitere de facto familiäre Lebensgemeinschaften; nach der Rspr des EGMR ist entscheidend, ob enge persönliche Bindungen wirklich und tatsächlich vorhanden sind17 (→ § 3 Rn 9 ff). Der Gerichtshof hat das Grundrecht im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art 8 EMRK entwickelt.18 Der Sachverhalt der Leitentscheidung betraf Art 10 III VO 1612/68.19 Die Vorschrift macht das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen davon abhängig, dass der Arbeitnehmer über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen genügt. Dieser Regelung stand eine dt Rechtsvorschrift (§ 7 AufenthG/EWG aF) entgegen, die die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern davon abhängig machte, dass die Familien während der gesamten Dauer ihres Aufenthalts, und nicht nur zum Zeitpunkt der Wohnungsnahme, in angemessenen Wohnverhältnissen lebten. Auf Grund dieser Regelung hatte Deutschland nach Ansicht des Gerichtshofs gegen die Verpflichtung aus der Verordnung verstoßen. Das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens hat mittlerweile eine bedeutende Rolle bei der Auslegung der Grundfreiheiten und des sekundären Rechts erlangt. Das zeigt exemplarisch – wie die zitierte Leitentscheidung – die Rs Carpenter. In diesem Fall ging es um die Vereinbarkeit der Ausweisung der philippinischen Ehefrau eines britischen Staatsangehörigen, der im weiteren Sinn grenzüberschreitende Dienstleistungen erbrachte, mit dem Gemeinschaftsrecht.20 Der Gerichtshof kam in dem Vorabentscheidungsverfahren zu dem Ergebnis, dass Art 49 EGV (56 AEUV) im Lichte des Grundrechts auf
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EGMR, NJW 2003, 2145 Rn 29 – Odièvre. EGMR, Series A, Vol 91, 11, Rn 22 – X u Y/Niederlande; NJW 2002, 2851 Rn 61 – Pretty. EGMR, NJW 2004, 2647 Rn 57 – Caroline. EGMR, NJW 2003, 809, Rn 150 – K und T/Finnland. EuGH, Slg 1989, 1263 ff – Kommission/Deutschland, dazu die Besprechung von Watson ELRev 1989, 417 ff. 19 VO (EWG) 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl 1968 L 257/2. 20 EuGH, Slg 2002, I-6279, Rn 41 ff – Carpenter = JK 12/02, EGV Art 49/6, dazu die Besprechung v Mager JZ 2003, 204 ff.
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Achtung des Familienlebens auszulegen sei. Deshalb dürfe der Ehegatte eines Dienstleistungserbringers aus dem Herkunftsmitgliedstaat grundsätzlich nicht ausgewiesen werden. Die Verweigerung der Einreise in das oder die Entfernung einer ausländischen Person aus dem Land, in dem ihre nahen Verwandten lebten, sieht der Gerichtshof als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens.21 Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, wird in einem eigenständigen Grundrecht geschützt (Art 9 GRCh → § 16 Rn 54 ff). b) Der EuGH hat in seiner Rspr auch ein Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung anerkannt, was durch den Wortlaut des Art 7 GRCh nunmehr sichtbar geworden ist – von der Warte der EMRK fällt dieses Recht in die weit verstandene Privatsphäre des Menschen. Der Schutzbereich umfasst in jedem Fall die Privatwohnungen natürlicher Personen; eine Ausdehnung des Schutzbereichs auf die Geschäftsräume von Unternehmen ist eine der interessanten Fragen im europäischen System des Grundrechtsschutzes. Der EuGH lehnte es lange Zeit ab, die Geschäftsräume in den Schutzbereich einzubeziehen,22 was deshalb bemerkenswert ist, weil diese Thematik gerade den wirtschaftsrechtlichen Bezug aufweist, dessen häufiges Fehlen im Übrigen die Entwicklung eines umfassenden Grundrechtskanons der Union erschwerte. Der EuGH begründet seine Auffassung damit, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen nicht unerhebliche Unterschiede aufwiesen. Eine Ausdehnung des Grundrechts auf Geschäftsräume lasse sich auch nicht aus Art 8 EMRK herleiten. Der Schutzbereich dieses Artikels erfasse lediglich den „Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs“ und diene lediglich der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Zudem liege zu dieser Fragestellung keine einschlägige Rspr des EGMR vor.23 Das Motiv für diese Auffassung liegt jedoch zugleich in dem Umstand, dass die Durchsuchung von Geschäftsräumen im europäischen Wettbewerbsrecht eine große Bedeutung hat und das Grundrecht deshalb eine Schranke für die effektive Anwendung des Kartellverfahrensrechts seitens der Kommission ist (Rn 23). Nachdem der EGMR Geschäftsräume in den Schutzbereich ausdrücklich einbezogen hat, ist die Abweichung offensichtlich geworden: Hatte der EGMR in dem Fall Niemitz die Räumlichkeiten einer Anwaltskanzlei in den Schutzbereich des Art 8 EMRK einbezogen,24 stellte er in seinem Urt im Fall Stes Colas Est ausdrücklich fest, dass der Schutzbereich von Art 8 EMRK unter bestimmten Umständen auch auf die Geschäftsräume, Niederlassungen und sonstigen Betriebsgrundstücke von Unternehmen zu erstrecken sei.25 Der EuGH hat die letztgenannte Entscheidung des EGMR zum Anlass genommen, die Kritik an der Divergenz der Schutzbereiche aufzunehmen und in seiner eigenen Rspr zu beantworten. In der Entscheidung in der Rs Roquette Frerès wird unter Hinweis auf die EGMR-Rspr anerkannt, dass „der Schutz der Wohnung, um den es in Art 8 EMRK geht,
21 EuGH, Slg 2004, I-5257 Rn 97 f – Orfanopoulos ua und Oliveri; Urt v 10.7.2008, Rn 107 ff – Jipa. 22 EuGH, Slg 1989, 2859 ff – Hoechst = JK 11/92, EWGV Art 30/2; Slg 1989, 3137 ff und 3165 ff – Dow Chemical. 23 Vgl EuGH, Slg 1989, 3137, Rn 28 f – Dow Chemical und EuGH, Slg 1980, 2033, Rn 19 f – National Panasonic. 24 EGMR, EuGRZ 1993, 65, 66 – Niemitz/Deutschland = JK 8/93, EMRK Art 8/1. 25 EGMR, ECHR 2002-III, Rn 41 – Stes Colas Est.
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unter bestimmten Umständen auf Geschäftsräume ausgedehnt werden kann“. Zugleich wahrt der Gerichtshof aber auch seine Position, indem er darauf hinweist, dass „der Eingriffsvorbehalt nach Art 8 II EMRK bei beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten oder Räumen sehr wohl weiter gehen könnte als in anderen Fällen.“26 Diese Aussage bezieht der EuGH auf den in seiner bisherigen Leitentscheidung in der Rs Hoechst anerkannten allgem Rechtsgrundsatz des Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person.27 Der Bezug auf Art 8 EMRK und die EGMR-Rspr zeigen, dass hiermit das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre angesprochen ist. Die Rechtsprechungslinien von EGMR und EuGH sind ein herausgehobenes Beispiel für die Kommunikation oberster Gerichtshöfe im Mehrebenensystem. Sie belegen aber auch die Prägefunktion der EMRK, die durch die institutionelle Verschränkung des EU-Grundrechtsschutzes mit der Konvention nunmehr auch mit ihren Einzelheiten bis in die Union hineinwirkt. Es bestehen jedoch weiterhin Unterschiede im Niveau des Grundrechtsschutzes, die sich auf die Ebene der Rechtfertigung einer Schutzbereichsbeeinträchtigung verschoben haben (Rn 30 ff). c) Als vierte Teilgewährleistung bezieht das Recht auf Schutz der Privatsphäre die Kommunikation in den Schutzbereich ein. Der Begriff der „Kommunikation“ ersetzt mit Blick auf die technische Entwicklung den in Art 8 EMRK verwendeten Begriff der „Korrespondenz“. Das Grundrecht will in erster Linie das Vertrauen des Bürgers in die Übertragungswege von Informationen schützen, um den zwischenmenschlichen Austausch auch über die Distanz zu fördern. Im Zusammenhang mit einem Verwaltungsverfahren der Kommission nach der KartellVO hat der EuGH den speziellen Grundsatz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandanten entwickelt.28 Der Grundsatz, den der EuGH aus einem Vergleich der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften herleitet, kann geltend gemacht werden, wenn der Schriftwechsel im Rahmen und im Interesse des Mandantenrechts auf Verteidigung geführt wird und von unabhängigen Rechtsanwälten ausgeht, die nicht durch einen allgem Geschäftsbesorgungsvertrag an ihren Mandanten gebunden sind.29 Weiterhin ungeklärt ist die Frage, ob dieser Schutz auch auf die Korrespondenz zwischen der Unternehmensleitung und der – etwa mit Syndikusanwälten besetzten – Rechtsabteilung zu erstrecken ist. Einen weiter reichenden grundrechtlichen Bezug hat der EuGH in seiner Entscheidung bislang nicht hergestellt. Die Vertraulichkeit der Kommunikation ist allerdings ein wichtiger Leitgedanke der Rechtssetzung im Bereich Datenschutz geworden. So verpflichtet Art 5 der RL 97/66/EG (Rn 40) die Mitgliedstaaten, die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Telekommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Telekommunikationsdiensten erfolgenden Kommunikation sicherzustellen, insb das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Kommunikation grundsätzlich zu untersagen.
26 EuGH, Slg 2002, I-9011, Rn 29 – Roquette Frères. 27 EuGH, Slg 1989, 2859 ff Rn 19 – Hoechst. 28 EuGH, Slg 1982, 1575 ff – AM & S, zur Entstehung und Ratio der Entscheidung s Temple Lang in: Hoskins/Robinson (Hrsg), Essays for Judge David Edwards, 2004, 153 ff. 29 EuGH, Slg 1982, 1575, LS 3 und Rn 21; EuG, Slg 1990, II-163, Rn 13 – Hilti.
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2. Beeinträchtigung Das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre wird sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts gewährleistet – es gelten die allgem Regeln (Rn 11, → § 14 Rn 46 ff). Ergänzend ist im Zusammenhang mit dem Teilschutzbereich der Achtung des Privatlebens auf die EGMR-Rspr hinzuweisen, nach der Art 8 EMRK nicht nur darauf zielt, den Einzelnen gegen direkte Eingriffe des Staates – oder eines Trägers hoheitlicher Gewalt wie der Union – zu schützen, sondern auch Schutz im Verhältnis von Privatpersonen untereinander gewähren soll. Aus Art 8 EMRK wird deshalb in besonderem Maße auch eine positive Verpflichtung herausgelesen, die Hoheitsträgern ein Handeln, insbes durch formelle Rechtsakte auferlegt (→ § 14 Rn 35).30
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3. Rechtfertigung Die inhaltsgleiche Übernahme von Art 8 EMRK führt dazu, dass eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs nach Art 52 III GRCh gerechtfertigt werden kann. Ein Eingriff in das Grundrecht ist nach der bisherigen Rspr des EuGH unter zwei Voraussetzungen gerechtfertigt: Erstens muss die Beschränkung tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen; zweitens darf sie „nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“ 31 Der EuGH hat bislang einen regelmäßigen und generalisierenden Bezug auf die Schranken des Art 8 II EMRK und die dort aufgezählten zulässigen Ziele einer Grundrechtsbeschränkung (nationale oder öffentliche Sicherheit, wirtschaftliches Wohl des Landes, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten, Schutz der Gesundheit, der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer) vermieden. Stattdessen wendete er die zitierte allgem Rechtfertigungsformel an, ohne dabei allerdings die materiellen Schrankenvorbehalte der EMRK aus den Augen zu verlieren. So entschied der EuGH, dass zu den Zielen, die eine Beschränkung des Rechts auf Achtung des Privatlebens rechtfertigen könnten, der Schutz der öffentlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens gehören. Aus diesem Grund ist es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates erlaubt, im Interesse des Schutzes der öffentlichen Gesundheit die Einfuhr von Arzneimitteln, die im Einfuhrmitgliedstaat verschreibungspflichtig sind, zu kontrollieren. Diese Kontrollen müssen allerdings so ausgestaltet sein, dass sie den Erfordernissen, die sich aus dem Schutz der Grundrechte ergeben, entsprechen.32 Lösung Fall 2: Ein Bediensteter auf Zeit wird gemäß Art 13 der Beschäftigungsbedingungen vor der Einstellung durch einen Vertrauensarzt des Gemeinschaftsorgans untersucht, damit die Anstellungsbehörde die Gewissheit erhält, dass der Bewerber die Einstellungsvoraussetzungen erfüllt. Die Beschäftigungsbedingungen sehen vor (Art 12 II lit d), dass als Bediensteter auf Zeit nur eingestellt werden kann, wer die für die Ausübung seines Amtes erforderliche körperliche Eignung besitzt. 30 EGMR, NJW 2004, 2649, Rn 57 – Caroline von Hannover. 31 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 23 – Kommission/ Deutschland. 32 EuGH, Slg 1992, I-2575, Rn 24 – Kommission/Deutschland.
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Die Einstellungsuntersuchung dient einem legitimen Interesse der Gemeinschaftsorgane: Sie müssen in der Lage sein, ihre Aufgaben zu erfüllen. Dieses Interesse rechtfertigt jedoch nicht, dass eine Untersuchung gegen den Willen des Betroffenen vorgenommen wird. Verweigert der Betroffene, nachdem er aufgeklärt worden ist, seine Zustimmung zu einer Untersuchung, die nach Auffassung des Vertrauensarztes erforderlich für die Beurteilung der gesundheitlichen Eignung ist, sind die Gemeinschaftsorgane nicht verpflichtet, das mit seiner Einstellung verbundene Risiko einzugehen. Allerdings erfordert – nach Auffassung des EuGH – das Recht auf Achtung des Privatlebens, dass die Weigerung des Betroffenen umfassend berücksichtigt wird. Da es X ausdrücklich abgelehnt hatte, sich einem Aids-Test zu unterziehen, stand dieses Recht der Vornahme jedes Tests durch die Verwaltung entgegen, der zur Feststellung oder zum Verdacht eines Vorliegens dieser Krankheit – deren Aufdeckung X abgelehnt hatte – führen konnte. Der fragliche Lymphozytentest bot dem Vertrauensarzt jedoch ausreichende Anhaltspunkte, um auf eine mögliche Infektion mit dem Aids-Virus bei X zu schließen. Der EuGH hat das angefochtene Urt deshalb aufgehoben. Da die Sache entscheidungsreif iSv Art 54 I der Satzung des Gerichtshofs war, wurde die ablehnende Entscheidung, die dem X durch den Generaldirektor für Personal und Verwaltung mitgeteilt wurde, ebenfalls aufgehoben.
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Eine größere Aufmerksamkeit in Bezug auf Einzelheiten verdienen die Voraussetzungen, unter denen der Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gerechtfertigt werden kann. Ausgangspunkt der in der Europarechtspraxis einschlägigen Sachverhalte kartellrechtlich veranlasster Durchsuchungen von Geschäftsräumen ist, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein muss und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Der EuGH hat diese Voraussetzungen bereits in seinen Entscheidungen zu Art 17 VO 17/62 – der ersten Kartellverordnung – konkretisiert.33 Die im Jahr 2003 novellierte Kartellverfahrensordnung (VO 1/2003)34 nimmt diesen grundrechtlichen Maßstab auf und versucht, ihn weiter zu konkretisieren. Art 20 VO 1/2003 ermächtigt die Kommission, bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vorzunehmen, um die Aufgabe, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln des Gemeinsamen Marktes zu wachen, zu erfüllen. Die Bediensteten der Kommission haben die Befugnis, (i) alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel zu betreten, (ii) die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen zu prüfen, (iii) Kopien oder Auszüge aus diesen Büchern und Geschäftsunterlagen anzufertigen, (iv) betriebliche Räumlichkeiten und Bücher oder Unterlagen zu versiegeln und (v) mündliche Erklärungen an Ort und Stelle anzufordern. Die Kommission verfügt demnach über weit reichende Durchsuchungsrechte, um Beweismaterial für Verstöße gegen die europäischen Wettbewerbsregeln zu sammeln. Die Kartellverfahrensordnung enthält deshalb zahlreiche Vorgaben und Verfahrensregelungen – etwa einen Richtervorbehalt für die Durch-
33 EuGH, Slg 1980, 2033, Rn 19 – National Panasonic, zuletzt Slg 2002, I-9011, Rn 22 ff – Roquette Frerès. 34 VO (EG) (EG) 1/2003 zur Durchführung der in den Art 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln. Diese Ermittlungsbefugnisse der Kommission gelten auch im Fusionskontrollverfahren, VO (EG) (EG) 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, dazu Staebe/Denzel EWS 2004, 194, 198; vgl ferner Art 18 VO (EWG) 4056/86 über die Einzelheiten der Anwendung der Art 85 und 86 des Vertrages auf den Seeverkehr, ABl 1986 L 378/4, berichtigt durch ABl 1988 L 117/34.
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suchung (Art 21 III) und Anhörungsrechte (Art 27) –, um die Rechte der Betroffenen zu gewährleisten. So ist die Kommission zur Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung verpflichtet, damit das betroffene Unternehmen in der Lage ist, den Umfang seiner Mitwirkungspflichten zu erkennen und zugleich seine Verteidigungsrechte zu wahren. Die Bedingungen für die Ausübung der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission hängen ferner von dem gewählten Verfahren, der Haltung des betroffenen Unternehmens und der Beteiligung der nationalen Behörden ab. Erfolgt die Nachprüfung unter Mitwirkung der betroffenen Unternehmen, haben die Bediensteten der Kommission ua das Recht, sich die von ihnen angeforderten Unterlagen vorlegen zu lassen, die von ihnen bezeichneten Räume zu betreten und sich den Inhalt der Möbel zeigen zu lassen. Dagegen können sie sich nicht gewaltsam Zugang zu Räumen oder Einrichtungsgegenständen verschaffen oder die Beschäftigten des Unternehmens zwingen, ihnen den Zugang hierzu zu gewähren. Durchsuchungen können auch nicht ohne die Einwilligung der Verantwortlichen des Unternehmens vorgenommen werden. Widersetzt sich das betroffene Unternehmen einer Nachprüfung, können die Bediensteten der Kommission auf der Grundlage von Art 17 VI VO 1/2003 ohne Mitwirkung der Unternehmen nach allen für die Nachprüfung notwendigen Informationsquellen suchen. Zu diesem Zweck sind die nationalen Behörden einzuschalten, die der Kommission die erforderliche Unterstützung zu gewähren haben. Diese Unterstützung ist für den Fall vorgeschrieben, dass sich das Unternehmen ausdrücklich widersetzt, sie kann jedoch auch vorsorglich angefordert werden. Es ist insoweit Sache des einzelnen Mitgliedstaats, die Bedingungen zu regeln, unter denen die nationalen Stellen die Kommission unterstützen. Die für die Gewährleistung der Rechte der Unternehmen geeigneten Verfahrensmodalitäten bestimmen sich nach den Grenzen des nationalen Rechts, dh die Kommission hat die im nationalen Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien zu beachten. Die nationalen Behörden und Gerichte (!) sind allerdings nach der Konzeption des Unionsrechts nicht befugt, die Notwendigkeit der angeordneten Nachprüfungen durch die Kommission zu beurteilen und die Übermittlung der in den Kommissionsakten enthaltenen Informationen zu verlangen. Dadurch soll die Ermittlungsprärogative der Kommission geschützt werden und – so ist wohl zu vermuten – ein kollusives Zusammenwirken der nationalen Behörden und Gerichte verhindert werden. Ein mitgliedstaatliches Gericht, das eingeschaltet wird um etwa einen Durchsuchungsbefehl auszustellen, hat jedoch das Recht und die Pflicht festzustellen, ob die Zwangsmaßnahme nicht willkürlich und unverhältnismäßig ist. Der EuGH hat in der Rs Roquette Frerès nun ausdrücklich unter Hinweis auf die EGMR-Rspr (Rn 23) darauf hingewiesen, dass diese Pflicht zur eigenständigen Vergewisserung in jedem Einzelfall bestehe. Die damit verbundene Problematik, dass die Kommission dem mitgliedstaatlichen Gericht nur widerwillig ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt hat, ist durch eine Klarstellung des Gerichthofs gemildert worden. Das mitgliedstaatliche Gericht müsse sich vergewissern, dass ernsthafte Indizien vorliegen, die für den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln durch das betroffene Unternehmen ausreichen. Die Kommission müsse folglich Erläuterungen geben, in denen substanziiert dargelegt werde, dass sie in ihren Akten über ernsthafte Informationen und Hinweise verfüge, die den Verdacht von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln durch das betroffene Unternehmen begründeten. Ein Aktenvorlagepflicht der Kommission bestehe hingegen nicht. Zudem sei das Gericht über die wesentlichen Merkmale der behaupteten Zuwiderhandlung zu informieren, um ihm zu ermöglichen, deren Schwere zu beurteilen. Diese Informationspflicht der Kommis-
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sion umfasst die Ansicht zum relevanten Markt, die Natur der behaupteten Wettbewerbsbeschränkungen und das Ausmaß der vermuteten Verwicklung des betroffenen Unternehmens.35 Die Sach- und Rechtserwägungen der Kommission unterliegen dagegen der Rechtmäßigkeitskontrolle ex post ausschließlich durch das Gericht erster Instanz und den EuGH (Art 20 VIII, Art 21 III 2 VO 1/2003). Die Rechtsgrundlage für Ermittlungsmaßnahmen in anderen Räumlichkeiten als den Geschäftsräumen, dh insb in Privatwohnungen, modifiziert die Tatbestandsvoraussetzungen – jedenfalls nach dem Wortlaut – dahingehend, dass eine Durchsuchungsanordnung nur mit der vorherigen Genehmigung des einzelstaatlichen Gerichts des betreffenden Mitgliedstaats vollzogen werden kann (Art 21 III VO 1/2003).
III. Schutz personenbezogener Daten Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2008, I-271 – Promusicae; Slg 2007, I-5305 – Ordre des barreaux francophones et germanophone ua; Slg 2003, I-4989 – Österreichischer Rundfunk ua; Slg 2003, I-12971– Lindqvist. Schrifttum: Frenz Europäischer Datenschutz und Terrorabwehr, EuZW 2009, 6 ff: Britz Die Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes, EuGRZ 2009, 1 ff; Westphal Die neue EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, EuZW 2006, 555 ff; Siemen Grundrechtsschutz durch Richtlinien/Die Fälle Österreichischer Rundfunk ua und Lindqvist, EuR 2004, 306 ff; Trute Der Schutz personenbezogener Informationen in der Informationsgesellschaft, JZ 1998, 822 ff. Rechtsakte: RL 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl 1995 L 281/31; RL 97/66/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre im Bereich der Telekommunikation, ABl 1998 L 24/1; VO 45/2001 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl 2001 L 8/1; RL 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), ABl 2002 L 201/37; RL 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation, ABl 2002 L 201/37; RL 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58/EG, ABl 2006 L 105/54; Rahmenbeschluss 2008/977/JI über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Stafsachen verarbeitet werden, ABl 2008 L 350/60.
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Fall 3: (EuGH, Slg 2003, I-4989 – Österreichischer Rundfunk ua): Frau N und Herr L, zwei leitende Angestellte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ORF, wendeten sich an österreichische Gerichte, um ihrem Arbeitgeber die Übermittlung von Daten über ihre Einkommen an den Rechnungshof untersagen zu lassen. Nach österreichischem Recht sind die der Kontrolle des Rechnungshofs unterliegenden Rechtsträger verpflichtet, diesem die gezahlten Bezüge und Ruhebezüge mitzuteilen, soweit sie einen im Jahr 2000 auf etwa 82.400,– Euro festgelegten Betrag überschritten. Zwar ist die Offenlegung der Namen der Betroffenen nach dem österreichischen Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen, jedoch hat sich der Rechnungshof der Lehrmeinung angeschlossen, die diesen Schritt für erforderlich hält. Der Rechnungshof nimmt die Einkommensdaten in seinen Jah35 EuGH, Slg 2002, I-9011, Rn 54 ff – Roquette Frerès, mit Anm v Feddersen EuZW 2003, 22 f, der auf den Zusammenhang mit der EGMR-Entscheidung in dem Fall Stes Cola Est hinweist.
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resbericht auf, der dem Nationalrat, dem Bundesrat und den Landtagen übermittelt und auch der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. In den unteren Instanzen hatten N und L zunächst keinen Erfolg, in der Revisionsverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof drangen sie jedoch mit ihrer Argumentation durch, dass die österreichische Verwaltungspraxis gegen die unmittelbar anwendbare Datenschutzrichtlinie RL 95/46/EG verstoße. Der Oberste Gerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Fragen vor, ob die österreichische Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht, insb der RL 95/46/EG vereinbar sei und ob deren Vorschriften idS unmittelbar anwendbar seien, dass sich die Parteien auf sie berufen könnten, um die Anwendung zwingender Vorschriften des nationalen Rechts zu verhindern.
In der wegweisenden Entscheidung Stauder aus dem Jahr 1969 hat der EuGH die Individualisierung eines sozialhilfeberechtigten Bürgers mit den „Grundrechten der Person“ in Verbindung gebracht.36 In späteren Entscheidungen hat er festgestellt, dass die Gemeinschaftsorgane Informationen, die ihnen freiwillig, aber mit der Bitte um Wahrung ihrer Anonymität gegeben wurden, vertraulich zu behandeln haben. Bei dieser Pflicht handelt es sich um einen allgem Grundsatz, der mit einem Teilaspekt in Art 286 EGV (Art 16 AEUV) primärrechtlich verankert ist.37 Die zwei Beispiele zeigen, dass der Schutz personenbezogener Daten keineswegs ein Gedanke ist, der erst in jüngerer Zeit, im Zuge der technischen Entwicklung und der entspr Nachführung des Grundrechtsschutzes, vom Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurde. Dass es sich bei dem Schutz personenbezogener Daten mittlerweile um ein Unionsgrundrecht mit einem spezifischen Gewährleistungsumfang handelt, zeigt – neben Art 8 GRCh (Rn 43) – in erster Linie die umfangreiche Sekundärrechtssetzung auf europäischer Ebene. Nach der RL 95/46/EG38 haben die Mitgliedstaaten das Recht der natürlichen Personen auf die Wahrung der Privatsphäre bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzustellen. Die Richtlinie präzisiert den entspr Gewährleistungsgehalt von Art 8 I EMRK und des Europarats-ÜbK zum Schutz des Menschen bei der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten v 28. Januar 1981, das von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.39 Die RL 2002/58/EG 40 präzisiert und ergänzt den vorgenannten Rechtsakt im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der Kommunikation mit elektronischen Medien. Die Gemeinschaft sowie ihre Organe und Einrichtungen werden über Art 286 EGV (Art 16 AEUV) in die Verpflichtung zum Datenschutz nach Maßgabe der beiden Richtlinien einbezogen. Mit der VO 45/200141 wird als unabhängige Kontrollbehörde ein „Europäischer Datenschutzbeauftragter“ geschaffen, der die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf die Gemeinschaft
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EuGH, Slg 1969, 419 ff – Stauder, insb Rn 7. EuGH, Slg 1985, 3539 Rn 34 – Adams. Ausführlich die Kommentierung von Brühann in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Rn 30. Vgl a EuGH, Slg 2000, I-6751, Rn 33 f – Fisher, wonach die RL 95/46/EG auf Gemeinschaftsebene allgem Grundsätze übernahm, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bereits anerkannt waren. Die Datenschutzrichtlinie wird ergänzt durch die RL 97/66/EG, die sich auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der Telekommunikation bezieht. 40 RL 2002/58/EG Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 7 und Art 8 GRCh im zweiten Erwägungsgrund. 41 ABl 2001 L 8/1.
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überwachen soll.42 In Art 1 VO heißt es: „[Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft] gewährleisten nach den Bestimmungen dieser Verordnung den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insb den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten […].“ Die materiellen Regelungen dieser VO sind teilweise geeignet, den Schutzbereich des Grundrechts zu konkretisieren. Personenbezogene Daten dürfen rechtmäßig nur verarbeitet werden, wenn (i) die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die aufgrund des Primär- oder Sekundärrechts im öffentlichen Interesse oder in legitimer Ausübung öffentlicher Gewalt ausgeführt wird, oder (ii) die Verarbeitung für die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung des Datenverarbeitenden erforderlich ist, oder (iii) die Verarbeitung für die Erfüllung eines Vertrags erforderlich ist, oder (iv) die betroffene Person ohne jeden Zweifel ihre Einwilligung gegeben hat oder schließlich (v) die Verarbeitung für die Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person erforderlich ist. Generell untersagt ist die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen sowie die Verarbeitung von Daten über die Gesundheit oder das Sexualleben. Ferner hat die betroffene Person das Recht, nicht einer Entscheidung unterworfen zu werden, die für sie rechtliche Folgen nach sich zieht oder sie erheblich beeinträchtigt und die ausschließlich aufgrund einer automatisierten Verarbeitung von Daten zum Zwecke der Bewertung einzelner Aspekte ihrer Person ergeht. Eine betroffene Person verfügt ua auch über Auskunftsrechte, mit einem Anspruch auf Berichtigung fehlerhafter Daten sowie das Recht, unter bestimmten Bedingungen die Sperrung und Löschung der Daten zu verlangen. Die neuere Rspr des Gerichtshofs legt ferner den symbiotischen Zusammenhang zwischen dem unionsrechtlichen Datenschutzrecht und Art 8 EMRK offen. So sind nach der Leitentscheidung in der Rs Österreichischer Rundfunk die in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Vorschriften der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG im Lichte der Grundrechte, insb des Rechts auf Achtung des Privatlebens auszulegen.43 Eine nationale Regelung über die Verarbeitung personenbezogener Daten ist somit – nach Ansicht des Gerichtshofs – an den grundrechtlich aufgeladenen Vorschriften des Sekundärrechtsaktes zu messen, so dass es iE zu einer Art Grundrechtsschutz durch Richtlinien kommt.44 Mit der Charta ist das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten in Art 8 GRCh durch eine eigenständige Vorschrift hervorgehoben worden. Das Grundrecht benennt zusätzlich eine Reihe von datenschutzrechtlichen Grundsätzen, zu denen die Zweckbindung der Datenverarbeitung (Art 8 II S 1 GRCh) sowie ein Auskunfts- und Korrekturrecht betreffend die eigenen Daten gehört (Art 8 II S 2 GRCh). Die Einhaltung des Grundrechts soll durch eine unabhängige Stelle überwacht werden (Art 8 III GRCh), eine organisationsrechtliche Garantie, die durch Art 28f der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG angeregt wurde und auch konkretisiert wird.
42 S dazu den Beschluss Nr 1247/2002/EG des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission v 1.7.2002 über die Regelungen und allgem Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Europäischen Datenschutzbeauftragten, ABl 2002 L 183/1. 43 EuGH, Slg 2003, I-4989, Rn 68 – Österreichischer Rundfunk ua. 44 Vgl dazu Siemen EuR 2004, 306, 316, dagegen krit Ruffert EuGRZ 2004, 466, 469 f.
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2. Beeinträchtigung Der Schutz personenbezogener Daten wird durch jede Form der „Verarbeitung“ beeinträchtigt. Dieser Begriff wird von der Datenschutzrichtlinie definiert (Art 2 lit b RL 95/46/EG). Er bezieht jeden Vorgang im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten ein, wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, die Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten solcher Daten. Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs scheidet aus, wenn der Betroffene in die Datenverarbeitung einwilligt (Art 8 II S 1 GRCh). Dies setzt allerdings eine entspr Information über die Sachzusammmenhänge voraus.45 Eine bemerkenswerte Beeinträchtigung des Grundrechts durch die Union selbst ist die RL 2006/24/EG, die die Mitgliedstaaten unter anderem verpflichtet, Verkehrsdaten im Internetverkehr auf Vorrat zu speichern.46 Die Vorratsdaten dürfen nach Maßgabe mitgliedstaatlicher Regelungen an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden. „Jeder Mitgliedstaat legt in seinem innerstaatlichen Recht unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen des Rechts der Europäischen Union oder des Völkerrechts, insb der EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Verfahren und die Bedingungen fest, die für den Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten gemäß den Anforderungen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind“ (Art 4 RL 2006/24/EG).
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3. Rechtfertigung Beschränkungen des Schutzbereichs sind gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt unangetastet lassen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (Art 52 I GRCh); dass Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke verarbeitet werden dürfen, ist eine zusätzliche Schranke, die das Grundrecht in Abs 2 S 1 GRCh selbst vorsieht. Die Zweckbindung soll die Datenverarbeitung für den Bürger vorhersehbar machen, so dass er sein Verhalten danach ausrichten kann. Die Datenschutzrichtlinie 95/46/EG enthält in Art 7 bis 9 und Art 13 zahlreiche Tatbestände, die legitime Zwecke für die Beschränkung des Schutzbereiches enthalten: Genannt werden unter anderem die Verarbeitung zwecks Vertragserfüllung und anderer rechtlicher Pflichten, zur Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person sowie für die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, die Wahrung eines wichtigen wirtschaftlichen oder finanziellen Interesses eines Mitgliedstaats oder der Gemeinschaft und die nationale und die öffentliche Sicherheit sowie die Verteidigung der Mitgliedstaaten. Diese sekundärrechtlichen Konkretisierungen können auf Grund ihres Ranges in der Normenhierarchie allerdings den Gewährleistungsumfang des Grundrechts nicht verbindlich definieren, sie sind Anhaltspunkte für dessen Auslegung.47 Auf der Rechtfertigungsebene stellt sich in besonderem Maße die Frage, wie mit Grundrechtskollisionen umgegangen wird. Das Problem wird bereits von der Datenschutz45 EuGH, Slg 2003, I-4989, Rn 74 – Österreichischer Rundfunk ua. 46 RL 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung v Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58/EG, ABl 2006 L 105/54. 47 Vgl Jarass GR, § 13 Rn 9.
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richtlinie angesprochen. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Ausnahmen vom Regelungsinhalt der Richtlinie, „die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgen“, nur insofern vorzusehen, „als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen“ (RL 95/46/EG). Der Gerichtshof hat sich in der Rs Lindqvist mit dieser Sachverhaltskonstellation befasst.48 In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es um das schwedische Strafverfahren gegen Frau Lindqvist, der vorgeworfen wurde, gegen die schwedischen Datenschutzbestimmungen verstoßen zu haben, indem sie auf ihrer Internetseite personenbezogene Daten über Personen veröffentlicht habe, die wie sie ehrenamtlich in einer Kirchengemeinde tätig seien. Der EuGH hatte unter anderem die Frage zu beantworten, ob die Datenschutzrichtlinie eine Regelung enthalte, die im Widerspruch zu den EU-Grundrechten steht. Zunächst stellte der Gerichtshof fest, dass die Datenschutz-Richtlinien der Gemeinschaft verhältnismäßig allgem gehalten seien, da sie auf unterschiedliche Situationen in allen Mitgliedstaaten Anwendung fänden. Deshalb enthielten sie Regelungen, die den Mitgliedstaaten den erforderlichen Beurteilungsspielraum beim Erlass der Umsetzungsmaßnahmen ließen. Es sei daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützten, die es ihnen erlaube, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. „Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgem Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert.“ 49 In der neueren Entscheidung in der Rs Promusicae, in der es um den Ausgleich des Schutzes personenbezogener Daten mit dem Recht auf Schutz des geistigen Eigentums und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ging, setzt der Gerichtshof diese Rechtsprechungslinie fort. Der Gerichtshof stellt in der Entscheidung fest, dass die Mitgliedstaaten aus dem Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet seien, das Urheberrecht in einem Zivilprozess dadurch effektiv zu schützen, dass sie die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem Kläger im nationalen Recht vorsehen. Das Gemeinschaftsrecht verpflichte die Mitgliedstaaten allerdings, die einschlägigen Richtlinien in einer Art und Weise in das nationale Recht umzusetzen, dass in einem zivilrechtlichen Prozess zwischen Rechteinhaber und Schädiger ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden europäischen Grundrechten geschaffen werden kann.50 Im Ergebnis wird es demnach für die Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten entscheidend auf eine Gesamtabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ankommen, die grundsätzlich von den Wertungen der Behörden und Gerichte auf der mitgliedstaaten Ebene geprägt wird.51 Die Aufforderung des 48 EuGH, Slg 2003, I-12971– Lindqvist. 49 EuGH, Slg 2003, I-12971 Rn 87 – Lindqvist, sa EuGH, Slg 2007, I-5305 Rn 28 – Ordre des barreaux francophones et germanophone ua. 50 EuGH, Slg 2008, I-271 Rn 70 – Promusicae. 51 Vgl die Schlussanträge v GA Kokott v 8. Mai 2008, Rs C-73/07, Rn 50 – Tietosuojavaltuutettu: „Eine Konkretisierung kollidierender Grundrechte obliegt den Gemeinschaftsgerichten vor allem, wenn grenzüberschreitende Aktivitäten im Vordergrund stehen.“.
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Gerichtshofs zu „praktischer Konkordanz“ im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis betont die Funktion der Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht anwenden, und sie steht für einen Verzicht auf unitarisierende Lösungen aus Luxemburg, weil unterschiedliche Abwägungsergebnisse in den Rechtsordnungen und damit ein Stück weit eine uneinheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts hingenommen werden. Lösung Fall 3: Die Aufnahme von Einkommensdaten in Verbindung mit den Namen der Empfänger in einen Jahresbericht erfüllt nach Ansicht des Gerichtshofs den Tatbestand der „Verarbeitung personenbezogener Daten“ iSd RL 95/46/EG. Die Weitergabe solcher Daten durch den Arbeitgeber an Dritte stellt einen Eingriff in die Privatsphäre iSv Art 8 EMRK dar, der nur gerechtfertigt werden könne, wenn er gesetzlich vorgesehen sei, eines der in diesem Artikel genannten berechtigten Ziele verfolge und in einer demokratischen Gesellschaft für die Erreichung dieses Zieles notwendig sei. Da die Offenlegung der Namen in dem nationalen Gesetz nicht vorgesehen sei, hätten die österreichischen Gerichte zunächst zu prüfen, ob dieses Vorgehen dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit entspreche. Die Voraussetzung eines berechtigten Zwecks sei hingegen klar erfüllt, weil die Offenlegung die sparsame und sachgerechte Verwendung öffentlicher Mittel durch die Verwaltung sicherstellen solle und damit auf das „wirtschaftliche Wohl des Landes“ abstelle. Im Hinblick auf die Erforderlichkeit hätten die nationalen Gerichte zu prüfen, ob die Veröffentlichung der Namen in Verbindung mit deren Einkünften notwendig sei und ob es nicht ausreichen würde, die Öffentlichkeit nur über die vertraglich vereinbarten Bezüge und andere geldwerte Vorteile zu unterrichten. Sollte der Oberste Gerichtshof die österreichische Regelung für unvereinbar mit der EMRK (!) halten, so könne sie auch nicht mit der RL in Einklang stehen. Sollte das Gericht dagegen zu dem Ergebnis gelangen, dass die Regelung im Hinblick auf das mit ihr verfolgte, im Allgemeininteresse liegende Ziel sowohl notwendig als auch angemessen sei, so hätte es weiter zu prüfen, ob das bereits erwähnte Erfordernis der Vorhersehbarkeit erfüllt sei. Zu der Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit der RL stellte der Gerichtshof fest, dass deren Vorschriften so genau seien, dass sich ein Einzelner vor den nationalen Gerichten auf sie berufen könne, um die Anwendung entgegenstehender Vorschriften des internen Rechts zu verhindern.
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IV. Recht auf Ehe und Familie Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1998, I-621 – Grant; Slg 2001, I-4319 – D und Schweden gegen Rat; Slg 2004, I-541 – KB/NHS Pensions Agency; Slg 2008, I-1757 – Maruko. Schrifttum: Bruns Die Maruko-Entscheidung im Spannungsfeld zwischen europäischer und nationaler Auslegung, NJW 2008, 1929 ff; Tettinger/Geerlings Ehe und Familie in der europäischen Grundrechtsordnung, EuR 2005, 419 ff; H A Wolff Ehe und Familie in Europa, EuR 2005, 721 ff; Thym Europäischer Grundrechtsschutz und Familienzusammenführung, NJW 2006, 3249 ff; Jakob Die eingetragene Lebenspartnerschaft im Europarecht, FamRZ 2002, 501 ff; Herzog Europäischer Grundrechtsschutz für Ehe und Familie, Bitburger Gespräche 2001, 7 ff.
Fall 4: (EuGH, Slg 2004, I-541 – KB/NHS Pensions Agency): Frau K arbeitet seit 20 Jahren als Krankenschwester für den britischen National Health Service (NHS). Während dieser Zeit hat sie Beiträge in die Rentenversicherung des NHS geleistet, die unter anderem zugunsten des Ehegatten, der das verheiratete Mitglied überlebt, eine Hinterbliebenenrente gewährt. Frau K lebt seit mehreren Jahren in nichtehelicher Gemeinschaft mit Herrn R, den sie als Begünstigten einer Witwerrente benennen möchte. Herr
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R hatte jedoch eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen, die seine geschlechtliche Zuordnung von weiblich zu männlich veränderte. Da das britische Recht eine Ehe als Verbindung ausschließlich zwischen Mann und Frau vorsieht, ein Transsexueller seine Geburtsurkunde mit dem ursprünglichen Geschlecht aber nicht anpassen kann, konnten Frau K und Herr R entgegen ihrem Willen nicht heiraten. Die Rentenversicherung des NHS verweigerte folglich Rs Begünstigung. Frau K klagte daraufhin vor den britischen Gerichten mit dem Argument, dass sie sich in Bezug auf ihr Arbeitsentgelt (vgl Art 141 EG = Art 157 AEUV) wegen des Geschlechts diskriminiert fühle. Der Court of Appeal als Berufungsgericht legte dem EuGH die Frage vor, ob der Ausschluss eines transsexuellen – ursprünglich weiblichen – Partners eines weiblichen Mitglieds des NHS-Rentensystems, wonach nur der Witwer des Mitglieds Ansprüche als berücksichtigungsfähiger Angehöriger hat, eine Diskriminierung auf Grund des Geschlechts darstelle.
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Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Art 9 GRCh), ist Art 12 EMRK nachgebildet; es weicht von dieser Gewährleistung aber auch entscheidend ab, so dass ein eigenständiges EU-Grundrecht entstanden ist. Die Menschenrechtskonvention benennt „Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter“ als Grundrechtsträger und folgt damit der klassischen Vorstellung, dass eine Ehe die dauerhafte Verbindung zwischen Menschen mit verschiedenem biologischem Geschlecht, zwischen Mann und Frau ist.52 Der Wortlaut des Charta-Grundrechts wurde nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums modernisiert, um Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, die die feste Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts der Ehe teilweise oder vollständig gleichgestellt haben.53 Wie der Wortlaut des Grundrechts ausdrücklich feststellt, werden das Recht auf Eheschließung und Familiengründung nach der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung geschützt. Damit wird anerkannt, dass – wie auch der Gerichtshof in der Rs Maruko noch einmal betont hat – „die Gemeinschaft keine Zuständigkeit für den Familienstand“ hat.54 Lediglich die Entscheidung des EuGH in der Rs Grant 55 enthält eine mittelbare Begriffsdefinition der Ehe (Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts).56 Es handelt sich bei Art 9 GRCh deshalb um eine Institutsgarantie, die die Ehe, dh jedenfalls die unbefristete, von der Rechtsordnung anerkannte Verbindung zwischen zwei Menschen, und die Familie, dh das Recht Kinder zu zeugen, zu adoptieren und anzunehmen gewährleistet. Diese Form des Bekenntnisses der Unionsrechtsordnung zu Ehe und Familie ist als Bekenntnis zu einem freiheitlichen Gemeinwesen zu sehen, das sich gegen jede Form personaler Kollektivismen wendet (vgl Art 6 I EUV = Art 2 AEUV). Weitergehende Handlungen im Zusammenhang mit Ehe und Familie, wie beispielsweise die Möglichkeit zur Scheidung oder das Miteinander in der oder mit Bezug zur Familie (Rn 18 ff) fallen in den Schutzbereich insb von Art 7 GRCh, ergänzend auch von Art 14 III, 24 und 33 GRCh. 52 EGMR, Series A 1986, Vol 106, Rn 49 – Rees; Series A 1990, Vol 184, Rn 43 – Cossey. 53 S dazu EuGH, Slg 2001, I-4319 Rn 34 – D und Schweden gegen Rat: „Es steht jedoch fest, dass der Begriff Ehe nach in allen Mitgliedstaaten geltender Definition eine Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts bezeichnet.“ 54 EuGH, Slg 2008, I-1757, Rn 77 – Maruko. 55 EuGH, Slg 1998, I-621 ff – Grant, dazu die Besprechung von Giegerich JZ 1998, 726 ff. 56 EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 32 – Grant.
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Der Kompetenzvorbehalt für Personenstandsfragen zugunsten der Mitgliedstaaten darf allerdings nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass das Unionsrecht sich auf diesen Sachbereich nicht auswirkt. Die Konkretisierung des Familienstands durch das mitgliedstaatliche Recht wird vielmehr mittelbar beeinflusst. Dabei ist die Entscheidung in der Rs Eyüp, in der es um den Status der Lebenspartnerin eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen als Familienangehörige ging, eine Ausnahme am Maßstab der Billigkeit (ex aequo et bono) geblieben.57 Der Gerichtshof hat mit ihr nicht die Gleichstellung einer festen Beziehung zwischen nicht verheirateten Personen mit einer Ehe anerkannt.58 Grundlage der mittelbaren Einflussnahme ist in erster Linie das Verbot der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts (Art 13 EG/19 AEUV), das durch Richtlinien und im Bereich des Arbeitsentgeltes durch Art 141 EG/157 AEUV konkretisiert wird. Unterscheidungen nach dem Kriterium des Geschlechts sind grundsätzlich unzulässig. Dies hat zur Folge, dass das europäische Recht hinsichtlich der Ehe, des Ledigen-, des Verwitwetenstandes und der übrigen Aspekte des „Familienstandes“ die Konzeption des jeweiligen Mitgliedstaates zwar übernimmt. Allerdings müssen diese innerstaatlichen Zuständigkeiten so ausgeübt werden, dass dabei nicht gegen die Rechtsordnung der Gemeinschaft verstoßen wird.59 Bei der Würdigung dieser Aussage müssen wir uns bewusst machen, dass mit der Akzeptanz von Instituten wie „Ehe“ und „Familie“ den Eheleuten und Familienangehörigen nicht lediglich ein Status iS eines Etiketts verliehen, sondern per definitionem die Möglichkeit zu rechtlichen Differenzierungen geschaffen wird. Die Rechtsordnung unterscheidet zwischen Verheirateten und Nichtverheirateten, zwischen Familien und Alleinstehenden. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat beispielsweise aus gesellschaftspolitischen Gründen oder auf Grund verfassungsrechtlichen Auftrages für eine Förderung von Familien, wird einem bestimmten Personenkreis ein Vorteil gewährt, der einem anderen verweigert wird. Das Unionsrecht neigt dazu, eine solche rechtfertigbare Ungleichbehandlung als Diskriminierung einzustufen, mit der Folge, dass die mitgliedstaatliche Rechtsordnung unter Druck gerät, den Vorteil entweder überhaupt nicht mehr zu gewähren oder auf alle Personen zu erstrecken. Im Ergebnis kommt es deshalb im Grunde entscheidend darauf an, welche Zuständigkeiten die Union im Übrigen besitzt, denn diese sachlichen Zuständigkeiten liefern die Sachverhalte für den mittelbaren Einfluss auf das nationale Ehe- und Familienrecht. Der unmittelbaren Einf einer „Europäischen Ehe“, die beispielsweise für zwei Unionsbürger aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten denkbar wäre, steht der Wortlaut von Art 9 GRCh entgegen, der zudem noch einmal sichtbar macht, dass die Union über keine entspr Zuständigkeit verfügt.60 Das BVerfG hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon v 30. Juni 2009 die mitgliedstaatlichen Vorbehalte in diesem Bereich ausdrücklich herausgestellt.
57 EuGH, Slg 2000, I-4747, Rn 36 – Eyüp. 58 Das Urt des Gerichtshofs ist eine singuläre Entscheidung geblieben und wurde im Hinblick auf seine familienrechtlichen Ausführungen nicht wieder zitiert; ausdrücklich für eine Einordnung als Billigkeitslösung Generalanwalt Colomer in seinen Schlußanträgen, Slg 2004, I-541, Rn 60 – K.B./ National Health Service. 59 EuGH, Slg 2008, I-1757, Rn 77 – Maruko. 60 Dazu Dethloff Europäische Vereinheitlichung des Familienrechts, AcP 2004, 544 ff; dies Familienund Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität – Perspektiven für die Forschung, Zeitschrift für europäisches Privatrecht 2007, 992 ff.
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2. Beeinträchtigung 58
Der Schutzbereich wird beeinträchtigt, wenn die Eheschließung und die Familiengründung verhindert, erschwert oder faktisch unmöglich gemacht werden. Bei Heiratsverboten ist es mit Blick auf das Problem der Zwangsehen denkbar, dass das Unionsrecht bei der Regelung von Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylfragen einen eigenständigen Anwendungsbereich für das Grundrecht hat.
3. Rechtfertigung 59
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Die Rechtfertigung von Schutzbereichsbeeinträchtigungen ist nach Art 52 I GRCh zu beurteilen. Es bedarf einer gesetzlichen Grundlage und der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ( § 14 Rn 65 ff). Art 9 GRCh verweist ausdrücklich auf die mitgliedstaatlichen Gesetze, die etwa vorsehen können, dass die Eheschließung ein Mindestalter der Heiratswilligen voraussetzt. Die besondere Eigenschaft von Art 9 GRCh als Institutsgarantie betont das Gebot, den Wesensgehalt des Grundrechts zu achten (Art 52 I S 1 GRCh). Er wäre etwa überschritten, wenn das EU-Recht unmittelbar oder mittelbar dazu führen würde, dass in der Union die Ehe zwischen mehr als zwei Personen (Mehrehe) anerkannt würde. Da die Definitionshoheit über die Begriffe „Ehe“ und „Familie“ bei den Mitgliedstaaten liegt, konkretisieren diese über die jeweilige Ausgestaltung ihrer Rechtsordnungen den Kern der beiden Rechtsinstitute. Diese Prägefunktion ist von den EU-Organen bislang akzeptiert worden.61 Lösung Fall 4: Der EuGH erklärte in seiner Entscheidung zunächst das Gemeinschaftsrecht für anwendbar, weil die in einem Betriebsrentensystem vorgesehene Hinterbliebenenrente, die von Leistungen eines Beschäftigten aus dem Arbeitsverhältnis abhänge, vom Tatbestand des Art 141 EG erfasst werde. Eine solche Leistung sei eine Vergütung, die ihren Ursprung in der Zugehörigkeit des Ehegatten des Hinterbliebenen zu dem Rentensystem habe. Dass bestimmte Vorteile, wie eine Hinterbliebenenrente, nur verheirateten Personen vorbehalten würden, sei eine Sache des nationalen Gesetzgebers oder folge aus der Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch den nationalen Richter. Das Gemeinschaftsrecht sehe darin keine verbotene Diskriminierung auf Grund des Geschlechts. Der Gerichtshof setzt für seine weiteren Überlegungen bei der Ungleichbehandlung an, die darin liege, dass Frau K und Herr R rechtlich nicht in der Lage seien, miteinander die Ehe einzugehen. Sie könnten im Vereinigten Königreich unter keinen Umständen die Voraussetzungen der Ehe erfüllen. Darin sieht der Gerichtshof einen Umstand, der mit den Anforderungen des Art 141 EG unvereinbar sei. Ausdrücklich zitiert der EuGH die einschlägige Entscheidung des EGMR aus dem Jahr 2004, nach der die britische Rechtslage für Personen, die sich in einer Lage wie Herr R befinden, das Recht auf Eheschließung aus Art 12 EMRK verletze (vgl EGMR, NJW-RR 2004, 289 Rn 97–104 – Christine Goodwin). Ohne die Schlussfolgerung ausdrücklich zu ziehen, überträgt der Gerichtshof elegant diese Entscheidung in das Gemeinschaftsrecht, indem er sich bei der Auslegung von Art 141 EG von der Straßburger Rspr leiten lässt.
61 Vgl EuGH, Slg 2001, I-4319, Rn 33 ff – D und Schweden gegen Rat.
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V. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 1337 ff – van Duyn; Slg 1976, 1589 ff – Prais. Schrifttum: Ottenberg Der Schutz der Religionsfreiheit im internationalen Recht, 2009, 68 ff; Walter Religionsverfassungsrecht 2006, 403 ff; Heinig Die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der europäischen Rechtsordnung, in: Müller-Graff (Hrsg), Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union, 2003, 125 ff; Hobe Die Verbürgung der Religionsfreiheit in der EUGrundrechtecharta, FS W Rüffner, 2003, S 317 ff; Waldhoff Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, 978 ff; Weber Die individuelle und kollektive Religionsfreiheit im europäischen Recht, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2002, 265 ff; Mückl Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002.
1. Schutzbereich Die Charta gewährleistet in Art 10 das klassische Grundrecht der Gedanken-, Gewissensund vor allem der Religlionsfreiheit, das wortgleich aus der EMRK übernommen wurde (Art 10 I GRCh). Das Grundrecht wird als einheitliches Recht verstanden, in dessen Mittelpunkt die Religions- und Weltanschauungsfreiheit steht, ergänzt durch Gedanken- und Gewissensfreiheit, die sich jedoch erheblich mit der Meinungsfreiheit sowie den Rechten auf geistige Unversehrtheit und Privatsphäre überschneiden. Zusätzlich ist in die Charta das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufgenommen worden (Art 10 II GRCh), das in der Konvention nicht enthalten ist.
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a) Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art 10 I GRCh) Obgleich sich in der Rspr des EuGH eine Reihe von Fällen nachweisen lassen,62 die einen Bezug zu „Religion oder einer anderen Form von Weltanschauung“ haben, werden die entscheidungserheblichen Fragestellungen jew im Zusammenhang mit den Regelungen über die Grundfreiheiten und das allgem Diskriminierungsverbot beantwortet, so dass es bislang nur in einer Entscheidung des Gerichtshofs einen Bezug zu dem Grundrecht auf Religionsfreiheit gibt.63 In der Rs Prais 64 hatte der EuGH über die Klage einer Engländerin jüdischen Glaubens zu entscheiden, die zu einem Auswahlverfahren für eine Stelle als Übersetzerin beim Rat eingeladen war, den konkreten Termin der schriftlichen Prüfung jedoch aufgrund religiöser Überzeugungen nicht wahrnehmen konnte. Die Teilnahme an einem späteren Prüfungstermin wurde ihr nicht gestattet. Die Parteien stritten darüber, ob ein neuer Termin für die Prüfung anzuberaumen gewesen wäre. Der EuGH stellte im Hinblick auf das Handeln des Rates fest: „wird ihm [dem Arbeitgeber] das durch die Konfes62 EuGH, Slg 1974, 1337 ff – van Duyn (Einreiseverweigerung einer Anhängerin der ScientologySekte); Slg 1986, 3097 ff – van Roosmalen (Sozialversicherungsschutz eines Missionars); Slg 1988, 6159 ff – Steymann (wirtschaftliche Betätigung oder Dienstleistung als Ausdruck religiöser Lebensgemeinschaft) und Slg 1989, 3851 ff – Torfaen Borough Council (Verkaufsverbot an Sonntagen). 63 Vgl ausführlich Heinig Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, 380 ff und mit Anwendungsbeispielen S 468 ff. S a EuGH, Slg 1988, I-6159 Rn 9 – Steymann: „(A)ngesichts der Ziele der Gemeinschaft (fällt) die Teilnahme an einer auf Religion oder einer anderen Form der Weltanschauung beruhenden Vereinigung nur insoweit in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts (…), als sie als Teil des Wirtschaftslebens iSv Art 2 EWG-Vertrag angesehen werden kann.“ 64 EuGH, Slg 1976, 1589 ff – Prais. Dazu die Besprechungen v Pernice JZ 1977, 777 ff, Rengeling DÖV 1977, 409 f und Hartley ELRev 1977, 45 ff.
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sion bedingte Hindernis rechtzeitig mitgeteilt, [so ist er verpflichtet,] alle sachgerechten Maßnahmen zu treffen …, um zu vermeiden, dass die Prüfungen an einem Tag veranstaltet werden, an dem ein Bewerber wegen seiner religiösen Überzeugungen nicht erscheinen kann […].“ Allerdings sei nicht davon auszugehen, dass das Beamtenstatut oder die erwähnten Grundrechte die Anstellungsbehörde verpflichten, einen Konflikt mit einer religiösen Forderung zu vermeiden, von deren Existenz sie nicht unterrichtet wurde.65 Religion und Weltanschauung sind zudem Schutzgüter der Antidiskriminierungspolitik der Union. Das bestehende Sekundärrecht untersagt die Diskriminierung unter anderem aus Gründen der Religion oder Weltanschauung in Beschäftigung, Beruf und Berufsausbildung.66 Die Kommission hat im Juli 2008 einen Richtlinienvorschlag veröffentlicht, der dieses Verbot auf den Sozialschutz einschließlich der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, den Bildungssektor und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen und zu denen auch Wohnraum zählt, ausdehnt.67 Außerhalb dieser überschaubaren Praxis auf der EU-Ebene wird der Schutzbereich durch die EMRK und die Rspr des EGMR geprägt. Das Grundrecht schützt das Recht, „eine Religion zu haben oder nicht“; sie beinhaltet die Freiheit, die eigene Religion einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich und im Kreis derer zu bekennen, die demselben Glauben anhängen. Der Wortlaut nennt mit Gottesdienst und Unterricht sowie mit dem Praktizieren von Bräuchen und Riten verschiedene Formen, in denen eine Religion oder eine Weltanschauung bekannt werden können.68 Dagegen werden politische Überzeugungen oder kommerzielle Werbung, die religiös motiviert oder begründet sind, nicht in den Schutzbereich einbezogen. Das Grundrecht gewährleistet zugleich, die Religion zu wechseln, dh der Bürger wird vor der Mitgliedschaft in Zwangsgemeinschaften geschützt, die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft soll auf individueller Überzeugung beruhen. Zwar mag die Entstehungsgeschichte des Art 10 GRCh die Auffassung unterstützen, dass der Schutzbereich keine Garantie der korporativen Religionsfreiheit enthält,69 dh des Rechts von Kirchen und Religionsgemeinschaften, sich zu bilden und selbstbestimmt zu handeln. Der Wortlaut von Abs 1 hat jedoch mit dem Hinweis auf die kollektive Religionsfreiheit, die öffentlich etwa in Form des Gottesdienstes ausgeübt wird, durchaus Anknüpfungspunkte für die Existenz dieses Rechts, das im Übrigen auch von Art 9 EMRK bestätigt wird.70 Nach Art 17 AEUV achtet die Union ausdrücklich den Status
65 EuGH, Slg 1976, 1589, Rn 12/19 – Prais. 66 RL 2000/43/EG v 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl Nr L 180/22; RL 2000/78/EG v 27. November 2000 zur Festlegung eines allgem Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl Nr L 303/16. 67 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, KOM (2008) 426; bemerkenswert in diesem Zusammenhang die Ausnahme in Art 3 II des RL-Entwurfs: „Einzelstaatliche Gesetze über den Ehe- oder Familienstand einschließlich der reproduktiven Rechte bleiben von dieser Richtlinie unberührt.“ 68 EGMR, NVwZ 2003, 1489, Rn 92 – Refah. 69 Vgl Mückl in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 10 Rn 26 ff; Bernsdorff in: Meyer, GRCh, Art 10 Rn 13 f. 70 EGMR, ECHR 2001-XII Rn 118, 123 – Metropolitanische Kirche von Bessarabien ua; NJW 2008, 495 Rn 72 – Scientology.
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von „Kirchen und von religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften“ sowie von weltanschaulichen Gemeinschaften, wie er in den Mitgliedstaaten besteht. Die Vorschrift überträgt die Erklärung aus dem Jahr 1997 zum Vertrag von Amsterdam über den Status von Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften in das Primärrecht.71 Wie der EGMR in seiner Rspr betont, ist die Religionsfreiheit – in ihrer sekularen Ausformung als Weltanschauungsfreiheit – auch ein „wichtiges Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige.“72 Das Recht der Eltern, ihre Kinder nach den eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen und unterrichten zu lassen, wird durch Art 14 III GRCh garantiert.
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b) Gedanken- und Gewissensfreiheit Die Gedankenfreiheit erfasst die Ergebnisse von Denkprozessen, dh von psychischen Vorgängen im Menschen, die noch nicht in sprachlicher Form ihren Ausdruck gefunden haben. Der Schutzbereich erfasst demnach alle Handlungen, die darauf gerichtet sind, diese Denkprozesse zu unterbinden und von außen zu determinieren. Das häufig erwähnte Anwendungsbeispiel der Manipulation des Menschen für einen bestimmten Zweck (Indoktrination) kann rasch die Schwelle zur Beeinträchtigung der geistigen Unversehrtheit überschreiten, so dass Art 3 I GRCh als spezielleres Grundrecht anwendbar wäre. Die Gewissensfreiheit schützt die menschliche Bewußtseinsinstanz, die Handlungen nach moralisch-ethischen Maßstäben, nach den Kategorien von „gut und böse“ beurteilt. Dieser innere Vorgang soll von äußerem Zwang freigehalten werden, was zu dem Problem führt, dass jedwede Rechtpflicht mit dem Hinweis auf das Gewissen abgewendet werden kann. Dieses Problem wird dadurch verringert, dass eine Gewissensentscheidung häufig nur dann akzeptiert wird, wenn der Betroffene den internen Vorgang substantiiert darlegt und glaubhaft macht.
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c) Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) Eine besondere Ausformung der Gewissensfreiheit ist das Recht auf Wehrdienstverweigerung. Es wird in der jeweiligen mitgliedstaatlichen Konkretisierung anerkannt, auf Unionsebene ist es in den Kompetenzen nicht rückgebunden. Bemerkenswert ist, dass sich die Charta mit diesem Recht vom Kanon der EMRK-Gewährleistungen entfernt (vgl Art 4 III lit b EMRK).
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2. Beeinträchtigung Die Grundrechte zum Schutz der Persönlichkeit werden sowohl gegenüber Beeinträchtigungen durch Unionsorgane als auch gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten gewährleistet – es gelten die allgem Regeln (Rn 11, → § 14 Rn 46 ff).
71 Hölscheidt/Mundt Religionen und Kirchen im europäischen Verfassungsverbund, EuR 2003, 1083, 196 ff. 72 EGMR, NJW 2001, 2871 – Dahlab.
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3. Rechtfertigung 71
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Beim Maßstab für die Rechtfertigung von Schutzbereichsbeeinträchtigungen ist zwischen den beiden Absätzen zu unterscheiden. Die inhaltsgleiche Übernahme von Art 9 EMRK führt dazu, dass Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art 52 II S 1 GRCh gerechtfertigt sein können. Art 9 II EMRK sieht insoweit vor, dass die „Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, […] nur Einschränkungen unterworfen werden [darf], die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Der EGMR konkretisiert diese Schranke mit dem Hinweis, dass es in einer demokratischen Gesellschaft, in der mehrere Religionen innerhalb ein und derselben Bevölkerung nebeneinander bestehen, notwendig sein kann, Beschränkungen für diese Freiheit vorzusehen, die geeignet sind, die Interessen der unterschiedlichen Gruppen zu versöhnen und die Achtung der Überzeugung eines Jeden sicherzustellen.73 Der Staat muss sich neutral und unparteiisch verhalten, woraus die weitere Pflicht folgt, über die Legitimität religiöser Glaubensüberzeugungen nicht zu entscheiden. Der Staat muss aber auch sicherstellen, dass sich Gruppen mit gegensätzlicher Auffassung gegenseitig tolerieren.74 Die erwähnte EuGH-Entscheidung in der Rs Prais (Rn 62) ist ein Beispiel für die auch hier wiederum zentrale Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Für das Recht auf Wehrdienstverweigerung (Art 10 II GRCh) gilt hingegen die Schrankenregelung des Art 52 I GRCh. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs sind gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt unangetastet lassen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (→ § 14 Rn 65 ff).
73 EGMR, Series A, Vol 260, Rn 33 – Kokkinakis. 74 EGMR, NVwZ 2003, 1489, Rn 91 – Refah unter Hinweis auf EGMR, ECHR 2001-XII Rn 123 – Metropolitanische Kirche v Bessarabien ua.
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§ 16.2 Kommunikationsgrundrechte Hermann Pünder I. Bedeutung, Rechtsgrundlagen und Funktion der europäischen Kommunikationsgrundrechte Der Mensch ist als „zoon politikon“ auf ein Leben mit anderen angelegt.1 Für das Zusammenleben ist Kommunikation existenziell. Deshalb erstaunt es nicht, dass in Art 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken als „un des droits les plus précieux de l’homme“ bezeichnet wird.2 Als Mittel zur „Wahrheitsfindung“ auf dem „marketplace of ideas“ 3 ist der Kampf der Meinungen auch für die polis wichtig, denn „er zeigt sich“ – so Hegel –, „dass es ein anderes ist, was sich jemand zu Hause bei seiner Frau oder seinen Freunden einbildet, und wieder ein anderes, was in einer großen Versammlung geschieht, wo eine Gescheitheit die andere trifft“.4 Die Freiheit der Meinungsäußerung ist „eines der wesentlichen Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und eine der wichtigsten Voraussetzungen für deren Fortschritt und für die Verwirklichung jedes einzelnen Individuums“.5 Die Bedeutung der geistigen Auseinandersetzung für den Einzelnen und die Gesellschaft hat sich auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh → § 14 Rn 24 ff) niedergeschlagen. Die Union ist eben nicht nur auf die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes mit freien Waren- und Dienstleistungsverkehr ausgerichtet, sondern auch auf kulturellen Austausch und politische Verbindung. Die Meinungs- und Informationsfreiheit wird einschließlich der Medienfreiheit und -pluralität in Art 11 GRCh geschützt (→ dazu II.). Als kollektiv ausgeübte Fortsetzung der individuellen Freiheiten erfasst Art 12 GRCh die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (→ III.). Spezifische Formen der Meinungsäußerung schützt – schließlich – die durch Art 13 GRCh garantierte Freiheit der Kunst und der Wissenschaft (→ IV.). Wie zu zeigen sein wird, finden sich Kommunikationsgrundrechte auch als dem Primärrecht zuzuordnende ungeschriebene „allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ in der Rspr des Europäischen Gerichtshofs. Gestützt auf die Kompetenz zur Wahrung des Rechts (Art 220 EG), greift das Gericht für die Herleitung und Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte im Wege der Rechtsfortbildung auf – wie es mittlerweile Art 6 II EUV ausdrücklich verlangt (→ § 14 Rn 10 f) 6 – die Gewährleistungen in 1 Vgl Aristoteles, Politik, Buch I, 2; Buch III, 6. 2 Vgl auch BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth. Zur Bedeutung der Kommunikationsfreiheit im Überbl etwa Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europ Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, 86 ff mwN. 3 Diese vor allem in den USA vorbebrachte Einschätzung geht auf die dissenting opinion des Supreme Court Justice Holmes in Abrams v. United States, 250 U.S., 616, 630 (1919) zurück: „… the ultimate good desired is better reached by free trade in ideas – that the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market“. 4 Hegel, Philosophie des Rechts, 1821, § 315. Sa Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798/1800, 395, 535 f (Verstand der anderen als „Probierstein“ der eigenen Ansichten). Zum Ganzen Wegener Der geheime Staat, 2006, 140 f. 5 EuGH, Slg 2001, I-01611 (erster Leitsatz) – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1. 6 Für die Aufhebung der Vorschrift nach Inkrafttreten der GRCh (weil sonst ein „lawyers paradise“ entstünde) Engel ZUM 2000, 975, 1002.
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der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art 10 ff EMRK, → § 4) und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auf Grundlage einer „wertenden Rechtsvergleichung“7 zurück (→ § 14 Rn 5 ff). Da die Grundrechtecharta trotz ihrer derzeit noch fehlenden Rechtsverbindlichkeit zunehmend als Rechtserkenntnisquelle für den in den Mitgliedstaaten gewachsenen grundrechtlichen Acquis communautaire dient und damit eine gewisse Vorwirkung hat,8 sollen deren Gewährleistungen im Folgenden Ausgangspunkt der Analyse sein. Kommunikationsgrundrechte sind einerseits ein Rechtmäßigkeitsmaßstab für das Handeln der – wie es in Art 51 I GRCh heißt – „Organe und Einrichtungen der Union“ (in ihren drei Säulen: Europäische Gemeinschaften, GASP und PJZS) und der Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“.9 Allerdings ist die Formulierung „Durchführung des Rechts der Union“ missverständlich. Die Grundrechtscharta erfasst nicht nur den indirekten Vollzug und die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht, sondern alle mitgliedstaatlichen Maßnahmen im Anwendungsbereich des Unionsrechts (→ § 14 Rn 48 ff).10 Insb sind die Gewährleistungen nach der Rspr auch „Schranken-Schranken“ (→ § 7 Rn 104), wenn sich Mitgliedstaaten zur Beschränkung der Grundfreiheiten auf EG-vertraglich vorgesehene Rechtfertigungsgründe (Art 30, 46, und 55 EGV) oder „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ (im Sinne der Cassisde-Dijon-Rspr → § 7 Rn 71, 8411) berufen.12 Insofern werden die Grundfreiheiten, die die Kommunikationsgrundrechte im wirtschaftlichen Bereich ohnehin parallel schützten13, verstärkt. Andererseits können Kommunikationsgrundrechte als „Schranken“ (→ § 7 Rn 98) eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten rechtfertigen.14 Dies trägt dem Umstand Rechnung,
7 Grundl Zweigert RabelsZ 1964, 601, 610 f. Aufgabe der Rechtsvergleichung ist es danach nicht nur, die verschiedenen Lösungen des nationalen Rechts zusammenzustellen, sondern auch die „beste Lösung“ zu ermitteln. Zur Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode vgl etwa Häberle in: Berka/Häberle/Heuer/Lerche, Kunst u Recht im In- u Ausland, 1994, 37, 49 f. 8 Vgl EuGH Rs C-244/06, Rn 41 – Dynamic Medien; EuGH, Slg 2006, I-5769, Rn 38 – Parlament/ Rat. Nachw für Bezugnahmen in Schlussanträgen der Generalanwaltschaft bei Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 6 II EUV Rn 41; Schwarze AfP 2003, 209 ff. 9 Vgl für die EG-Verwaltung EuGH, Slg 2001, I-10269 – Cwik (Rn 12); EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 37 ff – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1 (Rn 4); EuGH, Slg 1990, I-00095, Rn 12 ff – Maurissen (Rn 42); EuGH, Slg 1989, 4285, Rn 16 – Oyowe u Traore; für legislative Tätigkeiten EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 153 ff – Deutschland/Parlament u Rat (Rn 5); EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 60 ff – Laserdisken (Rn 27); EuGH, Slg 1992, I-05485, Rn 34 ff – Ter Voort (Rn 20); EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 67 ff – RTL Television. 10 Vgl zu der angreifbaren Akten aus Sicht der Kommunikationsgrundrechte etwa Engel ZUM 2000, 975, 990 f; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006, 108 ff; Kühling EuGRZ 1997, 296, 297 ff. 11 Grundl EuGH, Slg 1979, 649, Rn 8 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. 12 Vgl EuGH, Slg 1997, I-03689, Rn 24 – Familiapress = JK 02/98 EGV Art 30/1 (Rn 18); EuGH, Slg 1991, I-02925, Rn 43 – ERT; EuGH, Slg 2002, I-06279, Rn 40 – Carpenter; EuGH, Slg 2004, I-05257, Rn 97 – Orfanopoulos u Oliveri, z Recht auf Achtung des Familienlebens; EuGH, Slg 2006, I-03449, Rn 107 f – Kommission/Deutschland. 13 Vgl im Überbl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 24 Rn 9; sowie V Schmitz Die kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt im Lichte der neueren Rspr zur Warenverkehrsfreiheit, 2000, 89 ff; Schwarze, ZUM 2000, 779, 782 ff. 14 Vgl EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 74 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3 (Rn 38);
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Kommunikationsgrundrechte
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dass die zu den allgem Rechtsgrundsätzen zählenden ungeschriebenen Grundrechte den gleichen Rang genießen wie die ausdrücklich normierten Grundfreiheiten.15 Es ist eine Art „praktische Konkordanz“ herzustellen; die Grundfreiheiten genießen keinen Vorrang.16 Schließlich kommt den Kommunikationsgrundrechten eine objektiv-rechtliche Bedeutung zu (→ § 14 Rn 39). Das Gemeinschafts- und das darauf beruhende nationale Recht müssen stets so ausgelegt werden, dass sie mit den Gewährleistungen der Kommunikationsgrundrechte im Einklang stehen.17 Eine Pflicht zum Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte hat der EuGH – anders als hinsichtlich der Grundfreiheiten (→ § 1 Rn 51) – bislang noch nicht anerkannt.18 Dass für die Union nicht unmittelbar auf die Unionsgrundrechte zurückgegriffen werden kann, macht Art 51 I GRCh deutlich.19 Nötig ist ein anderswo verankerter Kompetenztitel (→ § 14 Rn 35).20 Dann aber können Kommunikationsgrundrechte Schutzpflichten begründen. Bei deren Wahrnehmung kann die Rspr des Bundesverfassungsgerichts und des Straßburger Gerichtshofs Anregungen bieten.21
II. Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2003, I-12489 – RTL Television; Slg 2001, I-1611 – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1; Slg 2001, I-10269 – Cwik; Slg 1999, I-8877 – Wirtschafts- und Sozialausschuss/E; Slg 1999, I-7599 – ARD; Slg 1997, I-3689 – Familiapress = JK 02/98 EGV Art 30/1; Slg 1994, I-4795 – TV 10; Slg 1993, I-487 – Veronica Omroep Organisatie; Slg 1992, I-5485 – Ter Voort;
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EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 45 – International Transport Workers’ Federation (→ Rn 43); EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 93 – Laval (→ Rn 52); EuGH, Slg 1991, I-04069, Rn 30 – Kommission/Niederlande (→ Rn 18); EuGH, Slg 1991, I-04007, Rn 22, 23 – Stichting Collectieve (→ Rn 17); EuGH, Slg 1993, I-00487, Rn 9 f – Veronica Omroep (→ Rn 18); EuGH Rs C-244/06, Rn 42 – Dynamic Medien. Vgl etwa Kadelbach/Petersen EuGRZ 2003, 693, 696. Vgl etwa Gramlich DÖV 1996, 801, 808 ff; Preedy Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten, 2005, 177 f; Schulenberg in: Kämmerer/Wyrzykowski, Verfassungsgebung für Europa, 2005, 287, 299 ff; anders Groß in: Vieweg, Perspektiven des Sportrechts, 2005, 37, 58 f; Vieweg/Röthel ZHR 166 (2002), 6, 26 ff. EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 87 – Lindqvist (→ Rn 13, 20); EuGH, Slg 1999, I-08877, Rn 14 ff – Wirtschafts- und Sozialausschuss/E; EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 47 ff, 129 f, 147 f – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1 (→ Rn 4); EuGH, Slg 2007, I-05305, Rn 28 – Ordre des barreaux francophones et germanophone; EuGH, Slg 2006, I-2397, Rn 32–35 – Werhof. Allenfalls lassen sich einige Entscheidungen – wie etwa das Urt in der Rs Schmidberger (EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 74 ff = JK 11/03, EGV Art 28/3) – iS einer grundrechtlichen Begründung v Schutzverpflichtungen deuten. Vgl Feise (Fn 10) S 127 ff. Vgl zum rechtspolitischen Hintergrund Engel ZUM 2000, 975, 984 ff. Näher etwa Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 23 f sowie ausf Szczekalla Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen u europäischem Recht, 2002, 549 ff. In gewissen Umfang Schutzpflichten befürwortend Suerbaum EuR 2003, 390, 405 ff. Im Hinbl auf die Kommunikationsgrundrecht der Versammlungsfreiheit Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125, 131, zur Medienfreiheit Engel ZUM 2000, 975, 996 f; Feise (Fn 10) S 123 ff. Zur Kompetenzverteilung im Medienbereich und zu Reformvorschlägen Schwarze AfP 2003, 209, 213 ff. Allgm etwa Dietlein Die Lehre von der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, und Classen JÖR 36 (1987), 29 ff.
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Slg 1991, I-2925 – Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT); Slg 1991, I-4007 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda; Slg 1991, I-4069 – Kommission/Niederlande; Slg 1989, 4285 – Oyowe und Traore; Slg 1985, 2605 – Cinétèque; Slg 1984, 19. – VBVB und VBB („flämische Bücher“); Slg 2007, I-2749 – A.G.M.; Slg 1991, I-4685 – Grogan; Slg 2004, II-1477 – Herbert Meister; Slg 2003, I-12971 – Lindqvist; Slg 2004, I-3025 – Karner; Slg 2006, I-11573 – Deutschland/Parlament und Rat; Slg 2003, I-5659 – Schmidberger = JK 11/03 EGV Art 28/3; Slg 2006 I-8089 – Laserdisken. Schrifttum: Dörr Der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Kontext des neuen EU-Verfassungsvertrages, FS Kiefer, 2005, 90 ff; Engel Die Europäische Grundrechtscharta und die Presse, ZUM 2000, 975 ff; Feise Medienfreiheit und Medienvielfalt gemäß Art 11 II der Europäischen Grundrechtscharta, 2006; Institut für Europäisches Medienrecht Nizza, die Grundrechte-Charta und ihre Bedeutung für die Medien in Europa, 2001; Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999; ders Grundrechtekontrolle durch den EuGH: Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1997, 296 ff; ders Kommunikationsfreiheit, Medienfreiheit in Heselhaus/Nowak, GR, § 23, § 24; Schmittmann/Luedtke Die Medienfreiheit in der Europäischen Grundrechtscharta, AFP 2000, 533 ff; Schwarze Medienfreiheit und Medienvielfalt im Europäischen Gemeinschaftsrecht, ZUM 2000, 779 ff; ders Die Medien in der europäischen Verfassungsreform, AfP 2003, 209 ff; Selmer Die Medien- und Informationsfreiheit in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, FS Nicolaysen, EUR 2002 (Beiheft 3), 29 ff; Sporn Das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit in einer Europäischen Grundrechtscharta, ZUM 2000, 537 ff; Stock Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000; ders Eine Grundrechtscharta für die Europäische Union: Wie sollte die Medienfreiheit darin ausgestaltet werden?; ZUM 2000, 533 ff; ders Medienfreiheit in der EU nur „geachtet“ (Art 11 Grundrechtecharta) – Ein Plädoyer für Nachbesserungen im Verfassungskonvent, EuR 2002, 566 ff.
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Fall 1 (angelehnt an EuGH, Slg 2001, I-1611 ff – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1): C, der Leiter des Kommissionsreferats für nationale und gemeinschaftliche Währungspolitik, veröffentlichte während eines längeren Urlaubs ein Buch, das unter dem Titel „The rotten heart of Europe. The dirty war for Europe’s money“ die Währungspolitik der EG und auch einzelne Kommissionsmitglieder heftig kritisierte. Da C die nach § 17 II des Beamtenstatuts erforderliche Zustimmung nicht beantragt hatte, wurde er von der Kommission ohne Aberkennung seines Ruhegehaltsanspruchs aus dem Dienst entfernt. C meint, dass die Entscheidung ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Nachdem das EuG die Klage gegen die Disziplinarstrafe abgewiesen hatte, wandte sich C an den EuGH.
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Fall 2 (angelehnt an EuGH, Slg 2006, I-11573 ff – Deutschland/Parlament und Rat): Die RL 2003/33 EG verbietet – von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen – vollständig die Werbung für Tabakerzeugnisse in den Bereichen der Presse und des Rundfunks. Zudem wird Tabakunternehmen das Sponsoring für Veranstaltungen, die eine grenzüberschreitende Wirkung haben, untersagt. Deutschland hält die Richtlinie unter anderem wegen eines Verstoßes gegen die Presse- und Meinungsfreiheit für gemeinschaftsrechtswidrig.
1. Die Normierung des Art 11 GRCh im Überblick 6
Nach Art 11 I 1 GRCh hat „jeder Mensch das Recht auf freie Meinungsäußerung“. S 2 betont, dass dieses Recht „die Meinungsfreiheit und die Freiheit (einschließt), Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben“. Schließlich erklärt Abs 2, dass „die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet“ werden. In den als Anleitung für die Auslegung der Charta verfassten (allerdings nicht verbindlichen) Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents wird hervorgehoben, dass sich die Gewährleistung der Meinungsfreiheit bewusst
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an Art 10 EMRK orientiert.22 Da dies gem Art 52 III GRCh zur Folge hat, dass die Freiheiten in beiden Kodifikationen „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, kommt der Rspr des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der im Interesse von Pluralismus und Toleranz den Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte weit fasst und Eingriffe nur unter engen Voraussetzungen als gerechtfertigt anerkennt (→ § 4), eine bes Bedeutung als Auslegungshilfe zu. Die Freiheit der Medien und die Achtung ihrer Pluralität werden in Art 10 EMRK nicht ausdrücklich erwähnt, sondern als Bestandteil der allgem Meinungs- und Informationsfreiheit geschützt (→ § 4 Rn 17). Obwohl diese Konzeption auch der EuGH-Rspr 23 und der Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments 24 zugrunde liegt, setzte sich im Laufe der Verhandlungen zur Grundrechtecharta die Einschätzung durch, dass die Medienfreiheit vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Demokratie eigenständig zu regeln ist.25 Dass es nicht bloß um die Übernahme der Rspr des EGMR geht, wird auch dadurch deutlich, dass das Präsidium des Konvents auf die Rspr des EuGH bezüglich des Fernsehens26, das Prot über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten27 und die der Förderung eines freien Informationsflusses und des Meinungsaustausches in der Gemeinschaft dienende Fernsehrichtlinie 28 verweist.29 Die in Art 11 GRCh gewährleisteten Kommunikationsgrundrechte gehören zur „gemeinsamen Verfassungstradition“ der Mitgliedstaaten, auf die die Präambel zur Grundrechtecharta in Abs 5 verweist. Die Informationsfreiheit wird in den Mitgliedstaaten zumeist als Bestandteil der Meinungsfreiheit angesehen; für die Medienfreiheit, namentlich für die Rundfunkfreiheit, gibt es in allen Mitgliedstaaten verfassungsrechtliche und/oder einfachgesetzliche Konkretisierungen.30 Schließlich sind für die Interpretation von Art 11 GRCh die in der Präambel hervorgehobenen „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ von Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die EMRK. Zu denken ist auch an Art 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Art 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) und ggf an den „free flow of information“ als allgem Grundsatz des Völkerrechts.31 22 Vgl Nr 1 der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7. 2003. 23 Vgl etwa EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18 – Familiapress = JK 02/98, EGV Art 30/1. Dazu Kühling EuGRZ 1997, 296, 301 ff. 24 Europ Parlament Erklärung der Grundrechte u Grundfreiheiten v 12.4.1989, ABl EG 1989 Nr C, 51 (Art 5). Dazu Kühling (Fn 10) S 355 ff. 25 Vgl zur Entstehungsgeschichte Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 8 f; Feise (Fn 10) S 32 ff; Selmer FS Nicolaysen, EUR 2002 (Beiheft 3), 29, 34 ff; Sporn ZUM 2000, 537 ff; Stern, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 11 Rn 4 f; Stock EuR 2002, 566 ff, 571 f. 26 Verwiesen wird auf EuGH, Slg 1991, I-4007 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua. 27 ABl EG 1997 Nr C 340, 109. Dazu etwa Feise (Fn 10) S 67 ff; Hochhuth Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, 213 ff; Schwarze ZUM 2000, 779, 796 ff; Selmer (Fn 25) S 33 ff. 28 RL 89/552/EWG des Rates v. 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- u Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl 1989 L, 23. Vgl Feise (Fn 10) S 70 ff; Schwarze ZUM 2000, 779, 793 ff. 29 Nr 2 der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Vgl dazu etwa Feise (Fn 10) S 48 ff. 30 Vgl für Nachw Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 2. Ausf Kühling (Fn 10) S 207 ff. 31 Vgl Bernsdorf in: Meyer ChGr, Art 11 Rn 3 mwN.
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2. Schutzbereich 9
Auf die Meinungs- und Informationsfreiheit kann sich „jeder Mensch“ (Art 11 I 1 GRCh), also auch Angehörige von Staaten, die nicht Mitglied der Union sind, berufen.32 Berechtigt sind auch juristische Personen (allgm → § 14 Rn 43).33 Dies gilt vor allem für Medienunternehmen. Der Staat selbst ist kein Träger von Grundrechten. Er kann sich auch nicht auf die Meinungsfreiheit seiner Bediensteten berufen, sofern diese für ihn handeln.34 Öffentlich-rechtlich korporierte Religionsgemeinschaften sind dem staatlichen Bereich von vornherein nicht zuzuordnen. Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die in einer „dualen Rundfunkordnung“ einen Auftrag zur „Grundversorgung“ haben35, kommt die Medienfreiheit zu, soweit sie staatsfern sind und somit gegen hoheitliche Übergriffe geschützt werden müssen.36 a) Meinungs- und Informationsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechte-Charta
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In sachlicher Hinsicht schützt Art 11 I 1 GRCh zunächst die Meinungsäußerungsfreiheit, zu der selbstverständlich auch die Freiheit gehört, seine Meinung nicht zu äußern.37 Schutz genießt grds jede Äußerung ohne Rücksicht auf Qualität und Thematik.38 Ausdrücklich betont der EGMR, dass im Interesse einer offenen pluralen geistigen Auseinandersetzung auch „verletzende, schockierende oder beunruhigende“ Meinungsäußerungen in den Schutzbereich fallen.39 Für rassistische Äußerungen soll das nicht gelten.40 Damit werden freilich die Grenzen zwischen dem Schutzbereich und den Schranken der in Art 11 GRCh gewährleisteten Rechte verwischt.41 Auch die in Art 1 S 1 GRCh hervorgehobene Menschenwürde führt nicht zu einer tatbestandlichen Einschränkung. Es besteht kein Anlass von dem herkömmlichen dreistufigen Aufbau der Grundrechtsprüfung abzuweichen. Allerdings folgt aus Art 1 S 2 GRCh, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist, eine Schutzpflicht der Grundrechtsadressaten (→ § 15 Rn 4). Im Übrigen beschränkt sich der Schutz nicht auf den politischen Bereich, sondern erfasst etwa auch – der Straßburger Spruchpraxis (→ § 4 Rn 8) 42 und der Judikatur des UN-Menschenrechts32 Vgl Kühling in: Heselhaus/Nowak, GR, § 23 Rn 30. Implizit auch EuGH, Slg 1989, 4285, Rn 15 f – Oyowe u Traore. 33 Für eine Anwendung der Wertung des Art 19 III GG Hochhuth (Fn 27) S 251. 34 EuGH, Slg 2007, I-2749, Rn 72 – A.G.M. 35 Vgl BVerfGE 83, 238, 296 ff – 6. Rundfunkurteil. 36 S Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 21; Feise (Fn 10) S 106 f; Kühling (Fn 13) Rn 27; ders (Fn 10) S 377 ff; sowie etwa Dörr Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa, 1997. 37 Vgl z negativen Kommunikationsfreiheit Kühling (Fn 32) Rn 23 f. 38 S z Rspr d EuGH § 4 Rn 4 ff sowie zusammenfassend mit Blick auf Art 11 GRCh etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 12 f; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 4 ff; Vgl a BVerfGE 61, 7, 7 – Wahlkampf. 39 Grundl EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside. S a EGMR, EuGRZ 1991, 216, Rn 57 ff – Oberschlick. 40 Vgl EGMR, Nr 36/1993/431/510, Series A Nr 298, Rn 35 – Jersild/Dänemark. 41 Vgl Grabenwarter EMRK, § 23 Rn 4. 42 S EGMR, EuGRZ 2002, 589, Rn 38 ff – Stambuck; EGMR, EuGRZ 1996, 302, Rn 26 – markt intern Verlag GmbH u Klaus Beermann; EGMR, EuGRZ 1990, 255, Rn 55 – Groppera Radio AG; EGMR, HRLJ 1994, 184, Rn 35 f – Casado Coca/Spanien (Werbeverbot für Anwälte); EGMR, ECHR 2001-VI, 243 – VGT Verein gegen Tierfabriken.
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ausschusses 43 entspr – kommerzielle Äußerungen.44 Zur sog commercial speech gehören alle Formen der Werbung, des Direktmarketings, Sponsoring, der Verkaufsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit.45 Allerdings sind kritische Äußerungen zu politischen Fragen und Stellungnahmen von Politikern besonders geschützt (Rn 23, 44 ff). Auf die Art der Meinungsäußerung kommt es nicht an. Geschützt werden alle denkbaren Kommunikationsformen, also auch Realhandlungen, die einen kommunikativen Gehalt haben (→ § 4 Rn 9).46 Für künstlerische Ausdrucksmittel ist die Kunstfreiheit nach Art 13 GRCh (Rn 56 ff) lex specialis. Dass sich die Gewährleistungen nicht auf das sog forum externum beschränken, macht Art 11 I 2 GRCh deutlich, wonach die Meinungsäußerungsfreiheit die Meinungsfreiheit einschließt. Gemeint ist der – auch von der Gedankenfreiheit in Art 10 GRCh gewährleistete (→ § 16.1 Rn 68) – innere Prozess der Meinungsbildung im sog forum internum.47 Dies bietet einen Schutz vor gezielter Indoktrination durch die öffentliche Hand.48 Meinungen sind Werturteile.49 Allerdings werden auch Tatsachenäußerungen geschützt. Art 11 I 2 GRCh spricht insofern von „Informationen“. Da der Schutzbereich des Art 11 I GRCh „Informationen und Ideen“ umfasst, braucht – anders als im dt Recht 50 – auf der Ebene des Schutzbereichs grds nicht zwischen Meinungen und Tatsachenmitteilungen unterschieden zu werden (→ § 4 Rn 5).51 Sieht man von „bewusst oder erwiesen unwahren Tatsachenbehauptungen“ ab, wird erst auf der Schrankenebene der Wahrheitsgehalt von Informationen relevant; unwahre Äußerungen verdienen weniger Schutz.52 Dies ist vor allem für das Gegendarstellungsrecht von Bedeutung, wenn es um den „Schutz des guten Rufes“ geht (Rn 22). Ausdrücklich werden nur der Empfang und die Weitergabe von Informationen und Ideen geschützt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die aktive Informa-
43 MRA v 31.3.1993, Communications Nr 359/1989 und 385/1989, U.N.Doc CCPR/C/47/D/359/ 1989 u 385/1989/Rev 1 (1993), Rn 11.3–11.4 – Ballantyne, Davidson u McIntyre. 44 Vgl zur Wirtschaftswerbung Kühling (Fn 13) S 464 ff; Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 708 ff, 724. Zur dt Verfassungslage BVerfGE 102, 347, 359 f – Benetton Schockwerbung, sowie etwa Hochhuth (Fn 27) S 311 ff. 45 Vgl das Grünbuch der Kommission, Kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt, KOM (96), 192 endg, und das Nachfolgedokument KOM (98), 121 endg. Zum betriebs- und gesamtwirtschaftlichen Kontext V. Schmitz (Fn 13) S 29 ff. 46 Zu den geschützten Kommunikationsmitteln Kühling (Fn 2) S 388 ff. 47 Vgl nur Bernsdorf in: Meyer ChGr, Art 11 Rn 12. 48 Vgl EGMR, EuGRZ 1976, 478, Rn 53 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen (Indoktrinierungsverbot in Schulen); EGMR, EuGRZ 1994, 549, Rn 38 – Informationsverein Lentia; sowie etwa Astheimer, Rundfunkfreiheit – ein europ Grundrecht, 1990, 53. 49 Vgl BVerfGE 61, 7, 7 – Wahlkampf. 50 Vgl z Frage, ob und inwieweit a Tatsachenbehauptungen unter die Meinungsfreiheit nach Art 5 GG fallen, BVerfGE 61, 1, 7 – Wahlkampf („Die Mitteilung einer Tatsache ist im strengen Sinne keine Äußerung einer Meinung … Durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt ist sie, weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung einer Meinung ist“); sowie Hochhuth (Fn 27) S 344 ff; Pieroth/Schlink GR, Rn 552 ff. 51 Vgl Hochhuth (Fn 27) S 253 („kein Raum für die deutsche Merkwürdigkeit“). 52 Vgl etwa BVerfGE 90, 241, 247 f – Auschwitzlüge; 99, 185, 197 – Scientology. Vgl zur Rspr des BVerfG und des EGMR, Kühling (Fn 2) S 148 f, 215 f.
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tionsbeschaffung keinen Schutz genießt, denn diese ist eine grundl Voraussetzung für Meinungsbildung, Meinungsäußerung und Informationsverbreitung (→ § 4 Rn 12). Die Informationsfreiheit umfasst den gesamten Informationsprozess, also auch die Aufbereitung und Speicherung von Informationen bis hin zur Beschaffung und Nutzung von Anlagen, die den Empfang von an die Allgemeinheit gerichteten Informationen ermöglichen.53 Eine dem Informationsrecht korrespondierende behördliche Pflicht zur Information hat der EGMR abgelehnt.54 Der Schutzbereich wurde – wie im dt Recht (Art 5 I 1 GG) 55 – auf den Empfang allgem zugänglicher Informationen beschränkt (→ krit § 4 Rn 10 f).56 Ein Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission wird in Art 42 GRCh normiert.57 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 12
In der naturgemäß kasuistischen Rspr des EuGH werden der Schutzbereich und die Grenzen der Meinungs- und Informationsfreiheit wenig klar bestimmt. Regelmäßig stellt der EuGH nur in knappen Worten die Betroffenheit des Grundrechts fest, um dann dessen Beschränkung zu bejahen. Erst im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs setzt sich das Gericht mit den Umständen des Falls auseinander. Nichtsdestotrotz lassen sich den Urt einige genauere Aussagen zum Schutzbereich der Meinungs- und Informationsfreiheit entnehmen. Wichtige Entscheidungen betrafen das Dienstrecht der Gemeinschaft.58 In der Rs Oyowe und Traore hatte es die Kommission abgelehnt, die Kläger zu Kommissionsbeamten zu ernennen, weil sie gleichzeitig Redakteure des „AKP-Kurier“ waren. Diese Tätigkeit sei mit der Treuepflicht eines Beamten nicht vereinbar. Der EuGH verwarf diese Argumentation. Die Treuepflicht dürfe nicht so ausgelegt werden, dass sie im Widerspruch zur Freiheit der Meinungsäußerung stehe. Diese sei ein Grundrecht, „dessen Wahrung der Gerichtshof innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung zu sichern hat und das besonders wichtig ist, wenn es sich (…) um Journalisten handelt, deren wichtigste Aufgabe es ist, völlig unabhängig (…) zu schreiben.“ 59 In weiteren Entscheidungen ging es um die Konkretisierung der allgem Treuepflicht in Art 17 II des Beamtenstatuts, wonach es Kommissionsbediensteten verboten ist, Texte, die sich auf die Tätigkeit der Gemeinschaft beziehen, ohne Zustimmung der Anstellungsbehörde zu veröffentlichen. In der Rs Connolly (→ Rn 4, Fall 1) machte das Gericht deutlich, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit auch eröffnet ist, wenn Gemeinschaftsbedienstete „mündlich oder schriftlich Ansichten äußern, die sich von denjenigen unterscheiden, die das Gemeinschaftsorgan, bei dem sie beschäftigt sind, vertritt, oder die diesen gegenüber Minderheitsmeinungen darstel-
53 EGMR, EuGRZ 1990, 261, Rn 47 – Autronic AG/Schweiz; EGMR, EuGRZ 1992, 484, Rn 55 – Open Door and Dublin Well Woman (vgl dazu EuGH, Slg 1991, I-4685 Rn 25 u 31 f – Grogan). 54 EGMR, NVwZ 1999, 57, Rn 53 ff – Guerra ua/Italien. 55 Vgl etwa BVerfGE 90, 27, 32 f. – Parabolantenne; 103, 44 60 f – Gerichtsfernsehen. 56 EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 41 – Lingens. Ausf Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 713 ff, 725. Kritisch Sporn ZUM 2000, 537, 540 f. 57 Vgl a Nowak DVBl 2004, 272 ff. Umfassend zur „Arkantradition“ und dem Informationsfreiheitsrecht; Wegener (Fn 4), insb S 396 ff (zur Informationsfreiheit im Recht der EU). 58 S zum Folgenden bereits Schorkopf in der Voraufl § 15 Rn 61 ff. Vgl im Übrigen Kühling (Fn 32) Rn 72 ff; dens (Fn 10) S 428 ff. 59 EuGH, Slg 1989, 4285, Rn 16 – Oyowe u Traore.
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len.“ 60 In der Rs Cwik ging es um einen ähnlichen Fall: Der Kläger hatte mit Zustimmung seiner Vorgesetzten einen Vortrag über die „wirtschaftspolitische Feinsteuerung“ in der WWU gehalten. Die Veröffentlichung des Manuskripts wurde ihm mit der Begründung verboten, dass die Auffassungen nicht der Kommissionslinie entsprächen. Dem trat der EuGH unter Berufung auf die Meinungsfreiheit entgegen (Rn 30).61 Dass grds auch die Kritik an Vorgesetzten geschützt ist, selbst wenn sie einen aggressiven und unsachlichen Ton hat, hob der Gerichtshof in der Rs Wirtschafts- und Sozialausschuss/E hervor (Rn 30).62 Schließlich entschied der Gerichtshof in der Rs Herbert Meister, dass die Meinungsfreiheit grds auch die Kritik an geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb einer Dienststelle erfasst.63 Die Bsp zeigen, dass die Meinungsfreiheit in der Gemeinschaft weitreichend geschützt ist. Allgem formulierte der Gerichtshof in der Rs Connolly unter Rückgriff auf die Rspr des EGMR, dass die Gewährleistung nicht nur „für Informationen und Ideen (gilt), die Zustimmung erfahren oder die als harmlos oder unerheblich betrachtet werden, sondern auch für sämtliche Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Bereich der Bevölkerung beleidigen, aus der Fassung bringen oder stören. Dies erfordern nämlich die pluralistische Gesellschaft, die Toleranz und die Weite des Geistes, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht zu haben ist“.64 Abseits von Fällen zu den Dienstverhältnissen der Gemeinschaft hat sich der EuGH nur vereinzelt zur Meinungsfreiheit geäußert. Der Entscheidung in der Rs Lindqvist, in der es um ein schwedisches Strafverfahren ging, lässt sich entnehmen, dass grds auch die Verbreitung personenbezogener Daten im Internet in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt (→ § 16.1 Rn 49).65 In der Rs Ter Voort wurde die Versendung von Informationen über die therapeutische Wirkung von eingeführten Kräutertees als Ausübung der Meinungsfreiheit angesehen (Rn 20).66 Dass auch kommerzielle Meinungsäußerungen von der Meinungsfreiheit geschützt sind, veranschaulicht die Rs Karner, in der es um das österreichische Verbot ging, beim Verkauf von Waren aus einer Konkursmasse auf die Herkunft hinzuweisen, wenn die Waren zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht mehr zum Bestand der Konkursmasse gehören. Mit dieser Regelung im Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb sollen Verbraucher vor dem Irrtum geschützt werden, dass die Waren wegen der Auflösung der Konkursmasse besonders günstig sind. Der EuGH lehnte eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit ab, indem er die Werbebeschränkungen als Verkaufsmodalität iSd „Keck“-Rspr (→ § 7 Rn 84 ff; § 8 Rn 39 ff) 67 bezeichnete. Stattdessen wurde eine Verletzung der „Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ untersucht.68 Um den 60 EuGH, Slg 2001, I-1611, Rn 43 – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1. 61 EuGH, Slg 2001, I-10269, Rn 14 ff u 23 ff – Cwik. Vgl auch schon EuG, Slg ÖD 2000, I-A-155 u II-713, Rn 66 ff – Cwik. 62 EuGH, Slg 1999, I-8877, Rn 14 f – Wirtschafts- u Sozialausschuss/E. 63 EuGH, Slg 2004, II-1477, Rn 157 ff – Herbert Meister. 64 EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 39 – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1. 65 EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 73, 86 ff – Lindqvist. 66 EuGH, Slg 1992, I-05485, Rn 33, 36–38 – Ter Voort. 67 EuGH, Slg 1993, I-6097 – Keck. 68 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 51 – Karner. Indirekt können auch die Urt EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 37, 68 – RTL Television, u EuGH, Slg 2006, I-11573 – Deutschland/Parlament u Rat, als Bestätigung für die Einbeziehung von Werbung in den Schutzbereich herangezogen werden, da die Kläger in diesen Fällen, in denen es um Vorgaben an die Werbung in den Medien ging, die Werbung als kommerzielle Form der Meinungsäußerung geltend machten und der EuGH nur ganz pauschal eine Beschränkung der Meinungsfreiheit annahm.
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Umfang des grundrechtlichen Schutzes kommerzieller Kommunikation ging es auch in dem von Deutschland ua unter Berufung auf die Meinungsfreiheit angestrengten Verfahren über die Rechtmäßigkeit der sog Tabakwerbe-RL 98/43/EG, die jede Form von Werbung für Tabakerzeugnisse in der Gemeinschaft verbot (Rs Deutschland/Parlament und Rat). In den Schlussanträgen betonte GA Fennelly unter Berufung auf den EGMR69, dass Informationen wirtschaftlicher Natur zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinungen in einer liberalen Gesellschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele beitragen. Die Grundrechte würden jedoch nicht nur wegen ihrer instrumentalen, gesellschaftlichen Funktion anerkannt, sondern auch deswegen, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung erforderlich seien. Die Freiheit der Bürger, ihre wirtschaftliche Betätigung durch Äußerungen zu fördern, flösse daher nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und im Gemeinschaftskontext aus der allgem Verpflichtung auf eine auf den freien Wettbewerb gestützte Marktwirtschaft, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität der Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen, auszudrücken und zu empfangen.70 Zu einer Stellungnahme des EuGH kam es nicht, weil der Gerichtshof die Richtlinie bereits wegen einer ungeeigneten Rechtsgrundlage für nichtig erklärte und die weiteren Klagegründe nicht mehr prüfte.71 In dem zweiten Tabakwerbeurt, das die nach dem ersten Urt revidierte RL 2003/33/EG zum Gegenstand hatte (Rn 5, Fall 2), betonte der EuGH, dass die Presse- und Meinungsfreiheit mit den Zielen des Gesundheitsschutzes abgewogen werden müsse. Dabei komme den zuständigen Stellen ein Beurteilungsspielraum zu, der je nach Art der Tätigkeit, um die es geht und je nach den verfolgten Zielen unterschiedlich sei. Im Ergebnis wurde das Werbeverbot als gerechtfertigt angesehen, da es nur die kommerzielle Freiheit der Meinungsäußerung im Geschäftsverkehr betrifft und zudem die inhaltlichen Beiträge der Journalisten von dem Verbot nicht berührt werden.72 Fragen der negativen Meinungsfreiheit warf eigentlich die Tabakprodukt-RL 2001/37/EG auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht zu entscheiden, ob bei den Warnhinweisen die Behörde genannt wird, von der die Warnung stammt. In dem dazu ergangenen Urt sprach der Gerichtshof die Meinungsfreiheit allerdings mit keinem Wort an.73 Dass die Meinungsfreiheit bei einer gemeinschaftlichen Ausübung nicht gegenüber der Versammlungsfreiheit zurücktritt, macht die Entscheidung in der Rs Schmidberger deutlich, in der es um eine Versammlung ging, die die Brennerautobahn für mehrere Stunden lahm legte, um auf die Gefahren für den Lebensraum und die Gesundheit der Bevölkerung durch den Transitverkehr hinzuweisen (Rn 38).74
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EGMR, EuGRZ 1977, 38, Rn 49 – Handyside. Schlussanträge GA Fennelly, EuGH Slg 2000, I-8423, Rn 153. EuGH, Slg 2000, I-8498 – Deutschland/Parlament und Rat. EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 155 f. – Deutschland/Parlament u Rat. EuGH, Slg 2002, I-11453 – The Queen gegen Secretary of State for Health, ex parte British American Tobacco (Investments) Ltd u Imperial Tobacco Ltd. Ausf Koenig/Kühling EWS 2002, 12 ff. Vgl z dt Umsetzungsakt gegen die vorherige Etikettierungsrichtlinie 89/662/EWG, geänd durch RL 92/41/EWG, BVerfGE 95, 173, 181 ff = JK 11/97, GG Art 12 I/45. 74 EuGH, Slg 2003, I-5659, Rn 69 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. Vgl zum Verhältnis den beiden Unionsgrundrechte a Kühling (Fn 32) Rn 90.
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Die Informationsfreiheit hat in der Rspr bislang ein stiefmütterliches Dasein gefristet. Der Gerichtshof hatte zwar in der Rs Grogan die Gelegenheit, sich zur Reichweite dieses Grundrechts zu äußern. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war das irische Verbot, Informationen über Kliniken zu verbreiten, die Schwangerschaftsabbrüche in anderen Mitgliedstaaten vornehmen. GA van Gerven betonte in seinen Schlussanträgen, dass aus der Dienstleistungsfreiheit in Übereinstimmung mit Art 10 EMRK das Recht folge, sich im eigenen Mitgliedstaat ungehindert Informationen über in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Erbringer von Dienstleistungen zu beschaffen.75 Der Gerichtshof ging der Beantwortung der Frage nach einer Verletzung der Informationsfreiheit allerdings mit der (zweifelhaften) Begründung aus dem Weg, dass das Verhalten der Studenten, die entgegen dem Verbot solche Informationen veröffentlicht hatten, mit den ärztlichen Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten „zu lose“ verbunden seien, um in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit zu fallen. Da es nicht um die Anwendung von Gemeinschaftsrecht gehe, sei der Gerichtshof für die Prüfung mit den Grundrechten der Gemeinschaft nicht zuständig.76 Betroffen war die Informationsfreiheit dann aber in der Rs Laserdisken. Streitgegenstand war eine aus der Umsetzung von Sekundärrecht entstandene dänische Vorschrift, wonach sich das Recht der Urheber, über eine Verbreitung ihrer Werke in der EG zu entscheiden, nur dann erschöpft, wenn der Erstverkauf in der Gemeinschaft mit Zustimmung der Rechteinhaber erfolgt ist. Die Firma Laserdisken sah sich in ihrem Geschäftsmodell bedroht, weil sie Vervielfältigungsstücke von Filmen aus Drittstaaten an Privatkunden verkaufte. Um die Regelung zu Fall zu bringen, berief sich die Firma auf die Meinungsfreiheit der Unionsbürger. Der EuGH erkannte grds an, dass die „Freiheit, Informationen zu empfangen“, in der Gemeinschaft geschützt ist, ließ die Informationsfreiheit allerdings im Ergebnis hinter dem Recht am geistigen Eigentum zurück treten.77
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b) Freiheit und Pluralität der Medien aa) Schutz in der Grundrechte-Charta Art 11 II GRCh enthält ein ausdrückliches Gebot zur Achtung der Freiheit und Pluralität der Medien und unterscheidet sich damit von Art 10 EMRK, der die Freiheit der Medien – wie erwähnt (Rn 7) – nur implizit als Ausdrucksform der Meinungsäußerungsfreiheit garantiert. Der Oberbegriff „Medien“ umfasst nicht nur Presse, Rundfunk und Film,78 sondern auch die neuen Medien der Massenkommunikation (Versenden und Empfang elektronischer Nachrichten, Präsentation von Informationen und Meinungen auf Internetseiten, interaktive Diskussionsforen) und ist damit offen für mediale Weiterentwicklungen.79 In den Schutzbereich von Art 11 II GRCh fallen in Anlehnung an die Rspr des EGMR
75 Schlussanträge GA van Gerven, EuGH Slg 1991, I-4685, Rn 19 – Grogan. 76 EuGH, Slg 1991, I-4685 Rn 31 f – Grogan. Vgl dazu die Entscheidung des EGMR, EuGRZ 1992, 484 – Open Door and Dublin Well Woman. Aus der Lit etwa Kühling (Fn 2) S 124 ff. 77 EuGH, Slg 2006 I-8089, Rn 64 f – Laserdisken. 78 Vgl dazu etwa Dörr (Fn 36); dens FS Kiefer, 2005, 90 ff; Kühling (Fn 13) Rn 18 ff. Zum Fernsehen als „psychologischer Sonderfall“ Hochhuth (Fn 27) S 302 f. 79 S nur Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 14. Zur Abgrenzung z Telekommunikation, die sich auf die bloß technischen Aspekte der Kommunikationsübertragung beschränkt, Kühling (Fn 13) Rn 14 f.
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alle Tätigkeiten, die mit der Medienarbeit in Zusammenhang stehen. Vor allem sind Journalisten nicht gehalten, Angaben zu ihren Quellen zu machen.80 Auf Art 12 II GRCh können sich – wie erwähnt (Rn 9) – auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten berufen. Selbstverständlich schützt die Medienfreiheit nicht nur die reine Informationsvermittlung, sondern auch wertende Stellungnahmen.81 Andernfalls könnten die Medien ihre Rolle als „public watchdog“ nicht erfüllen.82 In den Schutzbereich fallen allerdings auch unterhaltenden Beiträge. Die Medienfreiheit hat – entgegen der Rspr des Bundesverfassungsgerichts83 – nicht nur eine „dienende“ Funktion für die Meinungsbildung. Wie bei der Meinungsfreiheit (Rn 4 ff) und bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Rn 33 ff) kommt es auf den Zweck der Medientätigkeit nicht an. Zu Recht hat das BVerfG im Hinblick auf die Berichterstattung über Caroline von Monaco aber erkannt, dass es erst bei der Abwägung mit kollidierenden Persönlichkeitsrechten darauf ankommt, „ob Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen, ernsthaft und sachbezogen erörtert oder lediglich private Angelegenheiten, die nur die Neugier befriedigen, ausgebreitet werden.“ 84 Art 11 II GRCh verlangt, dass die „Pluralität“ der Medien geachtet wird, und macht damit den – auch schon vom EuGH anerkannten (Rn 18) – objektiv-rechtlichen Gehalt des Unionsgrundrechts als Instrument zur Sicherung der Meinungsvielfalt deutlich. Der Pluralismus ist ein „medienrechtliches Leitmotive“ in Europa.85 Ohne Medienvielfalt ist eine freiheitliche Demokratie nicht denkbar. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität sind dem Wortlaut nach bloß zu „achten“ („shall be respected“, „sont respectés“). Ursprünglich war von „Gewährleistung“ die Rede. Die Änderung, die vor allem auf den Druck der deutschen Bundesländer zurückzuführen ist,86 darf nicht als Minderung des Schutzes der Medienfreiheit interpretiert werden.87 Vor allem ändert die Formulierung nichts an der subjektiv-rechtlichen Qualität der Medienfreiheit. Es sollte nur dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Schutz der Medienpluralität vor Verflechtungs- und Konzentrationsprozessen eine Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt.88 Die geänd Begrifflichkeit hat nur eine klarstellende Funktion, da schon Art 51 II GRCh betont, dass
80 Vgl EGMR, Nr 16/1994/463/544, Rep 1996-II, Rn 39 – Goodwin/Vereinigtes Königreich. Aus dt Sicht etwa BVerfGE 20, 162, 176, 187 – Spiegel; 66, 116, 134 – Wallraff/Bild. 81 S etwa Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 22. 82 Vgl EGMR, EuGRZ 1979, 386, Rn 23, 50 – Sunday Times/Großbritannien; EGMR, HRLJ 1992, 440, Rn 63 – Thorgeirson/Island; EGMR, EuGRZ 1995, 16, Rn 59 – Observer u Guardian; EGMR, NJW 2004, 2647, 2650 – Caroline v Monaco. Zur Bedeutung der Presse in historischer Perspektive Wegener (Fn 4) S 258 ff. 83 Vgl z Rundfunkfreiheit BVerfGE 83, 238, 295 f. – 6. Rundfunkurteil. 84 BVerfGE 101, 361, 389 ff – Caroline v Monaco II. Dazu EGMR, NJW 2004, 2647 ff. 85 Dörr (Fn 32) S 38 ff. Ebenso Rengeling/Szczekalla, GR Rn 731. Vgl auch Kühling (Fn 13) Rn 37 ff; dens (Fn 2) S 363 ff; Schellenberg Rundfunk-Konzentrationsbekämpfung zur Sicherung des Pluralismus im Rechtsvergleich, 1997. Aus dt Sicht zur „institutionellen Garantie“ der Pressefreiheit bereits BVerfGE 20, 162, 176 – Spiegel. 86 S Stock EuR 2002, 566, 575 f. 87 AA Schmittmann/Luedtke AFP 2000, 533, 534. Vgl zu solchen Befürchtungen auch HoffmannRiem EuGRZ 2002, 473, 481; Selmer (Fn 25) S 36 ff; Stock EuR 2002, 566, 577. Wie hier etwa Feise (Fn 10) S 120 ff; Schwarze AfP 2003, 209, 210 f; Selmer (Fn 25) Rn 37; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 15. 88 Nach Art 151 II EGV darf nur die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in diesem Sektor gefördert werden. Vgl im Zusammenhang mit Art 11 II GRCh etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 19.
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die Charta weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und die Union begründet und die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben nicht ändert.89 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH orientiert sich bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Medienfreiheit an den wirtschaftlichen Grundfreiheiten.90 Daraus den Schluss zu ziehen, dass es nur um den Schutz kommerzieller Interessen geht, ist verfehlt. Die Medienfreiheit ist keine reine Unternehmerfreiheit, sondern ein umfassendes Kommunikationsgrundrecht.91 Um die vom EuGH sog Veröffentlichungsfreiheit ging es in der Rs Flämische Bücher. Verlegerund Buchhändlervereinigungen hatten eine vertikale Preisbindung und Alleinvertriebsrechte vereinbart. Dies wurde von der Kommission als mit dem Kartellverbot unvereinbar erklärt.92 Die Klägerinnen machten geltend, dass ihre Vereinbarung die Vielfalt der veröffentlichten Titel fördere, indem sie die Veröffentlichung schwer verkäuflicher Titel sicherstelle. Der EuGH wies diese Argumentation zwar zurück, machte aber deutlich, dass die Veröffentlichungsfreiheit grds sowohl Verleger als auch Vertriebsunternehmen schützt.93 In der Rs Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT) stritt man um die Frage, inwiefern das Fernsehmonopol in Griechenland mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Der Gerichtshof entschied, dass die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit an der in Art 10 EMRK verbürgten Meinungsfreiheit zu messen ist.94 Um die in der Fernsehrrichtlinie vorgesehenen Maßnahmen gegen übermäßige Werbung ging es in der Rs RTL Television. Der EuGH erkannte an, dass die Ausstrahlung von Fernsehfilmen von der Meinungsfreiheit geschützt ist. Die Begrenzung der Werbeblöcke wurde allerdings als verhältnismäßig erachtet (Rn 28).95 Schon vorher hatte der Gerichtshof in den Rs Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda 96 und ARD 97 entschieden, dass der Schutz der Verbraucher vor einem Übermaß an kommerzieller Werbung und die Erhaltung einer bestimmten Programmqualität im Rahmen der Kulturpolitik Ziele seien, die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen können. Um Werbung ging es schließlich auch in der Rs Deutschland/Parlament und Rat, in der das Verbot zur Werbung für Tabakwaren in Rundfunk und
89 Insofern kritisch gegenüber der Änderung des Wortlauts Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 26. 90 Vgl EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 23 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua; EuGH, Slg 1993, I-487, Rn 9 ff – Veronica Omroep Organisatie; EuGH, Slg 1997, I-3689, Rn 18, 26 f – Familiapress = JK 02/98 EGV Art 30/1. 91 S etwa Bernsdorf in: Meyer ChGr, Art 11 Rn 16; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 14; sowie Stock Medienfreiheit in der EU-Grundrechtscharta: Art 10 EMRK ergänzen und modernisieren!, 2000, 21 ff. 92 Die Kommission entschied auf Grundlage der alten KartellVO 17. Die Regelung des Art 81 I EGV galt damals noch als Art 85 EGV. 93 EuGH, Slg 1984, 19, Rn 34 – VBVB und VBB („flämische Bücher“). Dazu etwa Hochhuth (Fn 27) S 238. 94 EuGH, Slg 1991, I-2925, Rn 42 ff – Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT). 95 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 70 ff – RTL Television. 96 EuGH, Slg 1991, I-4007, Rn 27 – Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ua. Ein Verweis auf die Entscheidung ist a in der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003 (Nr 2) enthalten. 97 EuGH, Slg 1999, I-7599, Rn 50 – ARD. Dazu etwa Hochhuth (Fn 27) S 233 ff.
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Presse in Frage stand (Rn 5, Fall 2). Indem der Gerichtshof die „Freiheit zur journalistischen Meinungsäußerung“ prüfte, erkannte er indirekt an, dass die Medienfreiheit zugleich auch die Finanzierung der Presse- und Rundfunkerzeugnisse schützt.98 Dass in der Gemeinschaft nicht nur die individuellen Rechte geschützt sind, sondern auch ein pluralistisches Mediensystem, in dem sich die verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und geistigen Strömungen entfalten, zeigen Urt, in denen es um Anforderungen an Rundfunkbetreiber in den Niederlanden ging (Rs Stichting Collectieve, Kommission/Niederlande und Veronica Omroep).99 Der EuGH betonte, dass die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch eine auf ein pluralistisches Rundfunksystem ausgerichtete Kulturpolitik gerechtfertigt werden könne, weil das System „in einem Zusammenhang mit der durch Art 10 (EMRK) garantierten Meinungsfreiheit“ stehe. Die Pluralität der Presse rückte in der Rs Familiapress in den Vordergrund. Der Gerichtshof erklärte, dass Verbot von Preissausschreiben in Presseerzeugnissen einen Verdrängungswettbewerb unter den Verlagen verhindern und damit die Medienvielfalt garantieren sowie die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs unter Umständen rechtfertigen könne.100
3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 19
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Beim Grundrechtseingriff gelten keine Besonderheiten. Die Kommunikationsgrundrechte schützen – wie es in Art 51 I GRCH heißt – vor Beeinträchtigungen durch die Organe und Einrichtungen der Union und vor mitgliedstaatlichen Maßnahmen, wenn es um die „Durchführung“ von Unionsrecht“ (Rn 2) geht. Vor allem können die Grundfreiheiten nur im Einklang mit der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit beschränkt werden. Während der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten angenommen hat (→ § 7 Rn 52 f), kann dies für die Kommunikationsgrundrechte nicht gelten. In Art 51 I GRCh wird der Kreis der Grundrechtsverpflichteten abschließend bestimmt. Eine unmittelbare Drittwirkung gibt es grds nicht (→ § 14 Rn 54).101 Ist ein Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater in die Kommunikationsgrundrechte geboten, muss dem durch Schutzpflichten Rechnung getragen werden (→ § 14 Rn 35), was allerdings eine anderweitig begründete Kompetenz der Normadressaten voraussetzt (Rn 3). Als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe sind nicht nur präventiv wirkende Verbote und nachträgliche Sanktionen zu werten, sondern jegliche Behinderungen der Kommunikation.102 Nur so kann sichergestellt werden, dass die Anforderungen an den Schutz der in Art 11 GRCh garantierten Kommunikationsgrundrechte nicht umgangen werden. Allgem formulierte der EuGH unter Rückgriff auf Art 10 II EMRK in der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1), dass die Freiheit zur Meinungsäußerung „mit Pflichten und Verantwortung“ ver-
98 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 153, 156 – Deutschland/Parlament u Rat. 99 EuGH, Slg 1991, I-04007, Rn 22, 23 – Stichting Collectieve; EuGH, Slg 1991, I-04069, Rn 29 ff – Kommission/Niederlande; bestätigt des EuGH, Slg 1993, I-00487, Rn 9 f – Veronica Omroep. 100 EuGH, Slg 1997, I-03689, Rn 27 f – Familiapress = JK 02/98, EGV Art 30/1. Ausf dazu Kühling EuGRZ 1997, 296 ff. 101 Anderes gilt, wenn Private wie etwa Berufsverbände eine staatsähnliche (etwa monopolartige) Stellung haben und die Verpflichtung staatlicher Instanzen keine angemessene Abhilfe schaffen kann. Vgl Feise (Fn 10) S 114 ff; Kühling (Fn 13) S 377 ff. 102 Vgl Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 27; Engel ZUM 2000, 975, 992; Feise (Fn 10) S 144 ff; Kühling (Fn 13) S 162 f, 392 f.
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bunden ist und daher „Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen“ unterworfen werden kann.103 Dass der Beschränkungsbegriff weit zu fassen ist, verdeutlicht das Urt in der Rs Ter Voort, in der es um eine Richtlinie ging, die die Zulassungsanforderungen für Arzneimittel regelt. Da die Bezeichnung des Produkts als Arznei zur Folge hat, dass die Ware nur unter erschwerten Bedingungen auf den Markt gebracht werden kann, prüfte der Gerichtshof das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Rn 13) und machte damit deutlich, dass die Gewährleistung grds auch vor mittelbaren Beeinträchtigungen (→ § 14 Rn 64) schützt.104 Ansonsten lassen sich der Rspr nur wenige Aussagen über das eine Grundrechtsprüfung auslösende Ausmaß der Beeinträchtigung entnehmen. Häufig wird das Vorliegen einer Beschränkung unterstellt oder nur kurz angeprüft.105 Der Schwerpunkt der Untersuchung verlagert sich damit auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Rechtfertigungsebene. Dass es bei Rechtsakten, die selbst Mechanismen zur Abwägung der widerstreitenden Interessen und Rechte vorsehen, von vornherein an einer Beeinträchtigung fehlt, macht die Entscheidung in der Rs Lindqvist deutlich, in der es um den Schutz vor der Verarbeitung und Verbreitung personenbezogener Daten ging. Der Gerichtshof hob hervor, dass die einschlägige Richtlinie viele Ausnahmen zulässt und zudem die Mitgliedstaaten zu Ausnahmeregelungen ermächtigt. Die Mitgliedsstaaten müssten bei der Umsetzung der Richtlinie zwar darauf achten, dass die Grundrechte im konkreten Fall gewahrt werden, „die Bestimmungen der Richtlinie als solche“ würden jedoch „keine Beschränkung“ enthalten.106
4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechte-Charta Art 11 GRCh enthält – anders als Art 10 II EMRK – keine ausdrückliche Normierung von Schranken. Daher ist Art 52 GRCh heranzuziehen. Allerdings ist für Beeinträchtigungen der in Art 11 I GRCh geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit nicht die allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCH einschlägig, sondern als lex specialis Art 52 III GRCh.107 Da Art 11 I GRCh – wie erwähnt (Rn 6) – Rechte gewährleistet, die Art 10 I EMRK entsprechen und damit „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, finden die speziell auf das Sachgebiet abgestimmten Rechtfertigungsanforderungen des Art 10 II EMRK Anwendung.108 In den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents wird ausdrücklich betont, dass die Einschränkungen der Unionsgrundrechte nicht über die in Art 10 II EMRK vorgesehenen Einschränkungen hinausgehen dürfen.109 Dem entspricht Art 53 GRCh. Allerdings stellt Art 52 III 2 GRCh klar, dass ein weitergehender Schutz prinzipiell möglich ist.
103 EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 40 – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1. 104 EuGH, Slg 1992, I-05485, Rn 36 ff – Ter Voort. 105 Vgl nur EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 68 – RTL Television. 106 EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 84 f, 87, 90 – Lindqvist. 107 Vgl etwa Bernsdorf in: Meyer ChGr, Art 11 Rn 14; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 28; Selmer (Fn 25) S 38; Streinz in: Steinz, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 12. 108 Vgl für eine rechtspolitische Perspektive Engel ZUM 2000, 975, 993 ff. 109 Nr 1 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003.
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Nach Art 10 II EMRK ist „die Ausübung diese Freiheiten mit Pflichten und Verantwortung verbunden“ und „kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafandrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind.“ Dabei gilt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt. Als legitime Eingriffszwecke werden die „nationale Sicherheit“, „territoriale Unversehrtheit“ und „öffentliche Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, die „Verhütung von Straftaten“, der „Schutz der Gesundheit oder der Moral“ und der „Schutz des guten Rufs“ (was für Schutzeingriffe durch Gegendarstellungsrechte von Bedeutung ist 110) und der „Schutz der Rechte anderer“ (was sich in der Straßburger Spruchpraxis zunehmend als eine Art Generalklausel darstellt → § 4 Rn 34 f) 111 sowie die „Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen“ und „Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“ genannt.112 Allerdings ist die EMRK auf staatliche Maßnahmen gerichtet. Bei Eingriffsmaßnahmen der Union muss der Eingriffszweck gemeinschaftsrechtrechtlich legitim sein, dh im Gemeinschaftsrecht wurzeln oder zumindest angelegt sein.113 Geht es um Einschränkungsziele, die von Art 10 II EMRK nicht vorgesehen sind, ist freilich ein erhöhter Argumentationsaufwand zu fordern.114 Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig – dh in den Worten von Art 10 II EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ – sein.115 Zu prüfen sind die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Grundrechtseingriffs (→ § 14 Rn 71). Insofern sind die Güter der Meinungsfreiheit und des verfolgten legitimen Zwecks gegeneinander abzuwägen, wobei eine Vermutung für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung spricht (→ § 4 Rn 41). Der Verweis auf das in einer demokratischen Gesellschaft Notwendige hebt die politische Bedeutung der Meinungsfreiheit hervor. Politische Kommunikation wird privilegiert.116 Kommerzielle Äußerungen können – der Straßburger Spruchpraxis folgend (→ § 4 Rn 46 f) – weitergehenden Beschränkungen unterworfen werden. Dass – wie es in Art 20 IPbürgR heißt – das „Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt angestachelt wird“, zum Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen genommen werden darf, ist selbstverständlich und wird durch den Verweis auf die „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ in der Präambel der GRCh bestärkt. Sicherzustellen ist auch, dass die nach Art 1 GRCh „unantastbare Menschenwürde“ nicht durch Meinungsäußerungen verletzt wird.117 Die Schutzpflicht der Grundrechtsadressaten lässt sich – soweit eine Kompetenznorm gegeben ist (Rn 19) – auf Art 1
110 Vgl z negativen Meinungsfreiheit bereits oben → Rn 13; zum Gegendarstellungsrecht als „Schutzeingriff im Online-Zeitalter“ und z den internationalprivatrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse („Rom II“) Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 728 ff. Zu Konflikten zwischen der Meinungsfreiheit und dem Ehrschutz aus dt Sicht etwa BVerfGE 90, 241, 248 – Auschwitzlüge. 111 Vgl z den Konflikten der Pressefreiheit mit anderen Grundrechten Engel ZUM 2000, 975, 1000 ff. 112 Vgl im Zusammenhang mit dem Unionsgrundrecht Kühling (Fn 32) Rn 59 ff. 113 S etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 14; Kühling (Fn 13) S 399 ff. 114 Kühling (Fn 32) Rn 46. 115 Ausf Kühling (Fn 32) Rn 47 ff; Kühling (Fn 13) S 400 ff. 116 Vgl EGMR, EuGRZ 1986, 424, Rn 42 – Lingens; EGMR, Nr 2/1991/254/325, Series A/236, Rn 42 – Castells/Spanien, sowie Kühling (Fn 32) Rn 51 ff. 117 Vgl zur Abwehr rassistischer und neonazistischer Aussagen und zum Schutz der Menschenwürde Kühling (Fn 32) Rn 69 ff.
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S 2 GRCh stützen, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist. Dass unwahre Äußerungen weniger Schutz verdienen, wurde bereits gezeigt (Rn 11). Was die in Art 11 II GRCh verankerte „Achtung der Freiheit der Medien und ihrer Pluralität“ angeht, fehlt es – wie erwähnt (Rn 15) – an einer wörtlichen Entsprechung in Art 10 EMRK. Die für Art 11 I GRCh einschlägige Schrankenregelung des Art 10 II EMRK könnte als spezielle Grundrechtsschranke iSv Art 52 III 1 GRCh nur zu Anwendung kommen, wenn man die Medienfreiheit als Teil der Meinungsäußerungsfreiheit ansieht.118 Dies würde freilich der Intention des Konvents, die Medienfreiheit gerade in Abgrenzung zu Art 10 EMRK als eigenständiges Grundrecht zu garantieren (Rn 6), nicht gerecht. Art 10 II EMRK, der ohnehin mit Blick auf die neuen Medien als „rückständig“ angesehen wird,119 ist damit nicht der richtige Maßstab für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Medien. Vielmehr bestimmen sich die Voraussetzungen und Grenzen eines Grundrechtseingriffs nach den allgem Schrankenregelungen des Art 52 I GRCh.120 Dies bedeutet, dass die zulässigen Eingriffszwecke nicht iSd Art 10 II EMRK beschränkt sind. Die Gründe müssen nur „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen“ (→ § 14 Rn 68).121 Bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als „Schranken-Schranke“ sind ggf die Wertungen des Prot über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten und der Fernsehrichtlinie einzubeziehen (Rn 17). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die freie politische Medientätigkeit – wie das BVerfG zur Presse erklärt hat122 – „für die moderne Demokratie unentbehrlich ist“. In der oft nur schwierig durchschaubaren europäischen Politik haben die Medien „als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern“ eine noch größere Bedeutung als auf nationaler Ebene. Ohne die Medien ist eine europäische Integration nicht zu haben. Bei der Herleitung einer Schutzpflichten zur PluralismusSicherung ist Vorsicht geboten. Die Gewährleistung in Art 11 II GRCh kann die politischen Ermessensspielräume der Gesetzgeber in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten nicht aushebeln.123
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b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof betont, dass die Kommunikationsgrundrechte „bestimmten durch Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigten Beschränkungen unterworfen werden (können), sofern diese gesetzlich vorgesehen sind, einem oder mehreren der nach Art 10 (EMRK) legitimen Zielen entsprechen und in einer demokratischen Gesellschaft notwen-
118 Für die Anwendung v Art 52 III S 1 GRCh Feise (Fn 10) S 156 ff; Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 702. 119 Vgl Stock ZUM 2000, 533, 534; dens (Fn 86) S 77 ff. Dem folgend Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 31. 120 So a etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 20; Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 11 GRCh Rn 31. 121 Vgl zu den verschiedenen legitimen Zielen im Überbl Kühling (Fn 13) Rn 68 ff. 122 BVerfGE 20, 162, 174 f – Spiegel. 123 Näher etwa Kühling (Fn 13) Rn 50 ff.
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dig sind, dh durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt sind und insb in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.“124 aa) Gesetzliche Grundlage zur Verfolgung eines legitimen Ziels 26
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Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage wurde in der Rspr bisher kaum problematisiert. Lediglich in der Rs Connolly, in der es – wie erwähnt (Rn 4) – um dienstrechtliche Einschränkungen die Meinungsfreiheit von EG-Bediensteten ging, mahnte der EuGH die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots an und betonte, dass nur solche Einschränkungen rechtmäßig seien, „die so genau formuliert sind, dass die Betroffenen ihr Verhalten, gegebenenfalls nach Einholung sachkundigen Rates, einrichten können“.125 Dass nur ansonsten rechtmäßige Rechtsakte der Union und der Mitgliedstaaten die Grundrechte beschränken können, verdeutlicht das erste Urt zum Verbot der Werbung mit Tabakerzeugnissen (Rs Deutschland/Rat und Parlament). Die Prüfung einer Verletzung der Meinungsfreiheit hielt der EuGH für überflüssig, nachdem er festgestellt hatte, dass der EG in diesem Fall die Kompetenz für den Erlass des Verbots fehlt.126 Als legitime Eingriffsziele erkannte der Gerichtshof den Verbraucherschutz (Rs RTL 127, Karner 128 und Stichting Collective 129), das Interesse der Zuschauer an Zugang zu Programmen guter Qualität (RTL130) und die Lauterkeit des Handels (Karner 131) an. Zudem können andere Unionsgrundrechte eine Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit rechtfertigen. Hier sind aus der Rspr insb das Recht am geistigen Eigentum (Laserdisken132), Persönlichkeitsrechte (Lindqvist 133) und der Gesundheitsschutz (Tabakurt in der Rs Deutschland/Rat und Parlament134) zu nennen. Schließlich wurden als gemeinschaftsrechtlich legitime Eingriffszwecke die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Schmidberger 135), beamtenrechtlicher Treuepflichten (Oyowe und Traore, Rn 12,136 Connolly, Rn 4,137 Cwik, Rn 12,138 Wirtschafts- und Sozialausschuss, Rn 12139) und vor allem die Aufrechterhaltung der Meinungsvielfalt (Familiapress 140) angesehen.
124 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 50 – Karner; ebenso EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 79 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3; EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 154 – Deutschland/ Parlament und Rat. 125 EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 42 – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1. Allgm zu den formellen Anforderungen Kühling (Fn 13) S 398 ff. 126 EuGH, Slg 2000, I-08498, Rn 118 – Deutschland/Rat und Parlament. 127 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 70 – RTL Television. 128 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 129 EuGH, Slg 1991, I-04007, Rn 27 – Stichting Collective. 130 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 71 – RTL Television. 131 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 132 EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 65 – Laserdisken. 133 EuGH, Slg 2003, I-12971, Rn 79 ff – Lindqvist. 134 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 155 f – Deutschland/Parlament u Rat. 135 EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 78 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. 136 EuGH, Slg 1989, 4285 – Oyowe u Traore. 137 EuGH, Slg 2001, I-1611 – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1. 138 EuGH, Slg 2001, I-10269 – Cwik. 139 EuGH, Slg 1999, I-8877, Rn 15 – Wirtschafts- u Sozialausschuss/E. 140 EuGH, Slg 1997, I-03689, Rn 24 ff – Familiapress = JK 02/98 EGV Art 30/1.
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bb) Abwägung Nach der Rspr muss die getroffene Regelung „in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel stehen.“ 141 Betont wird, dass die Meinungsfreiheit in ihrem „Wesensgehalt“ nicht „angetastet“ werden darf (→ vgl dazu § 14 Rn 70).142 Hier wird eine „Schranken-Schranke“ deutlich, die in der Rspr bisher freilich noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie sie das deutsche Recht kennt, führt der Gerichtshof leider nicht durch.143 Es sind Ansätze erkennbar.144 Meistens begnügt sich der EuGH damit, „die bestehenden Interessen abzuwägen“ und „anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls“ festzustellen, ob das „rechte Gleichgewicht“ zwischen den widerstreitenden Interessen gewahrt worden ist.145 Maßgeblich ist für den EuGH die Intensität der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit. So wurde in der Rs RTL die Begrenzung der Werbepausen als geringfügig angesehen, weil die Anforderungen nicht den Inhalt der Werbung beträfen und der Sender den Zeitpunkt der Werbung selbst bestimmen könne.146 Ähnlich argumentierte das Gericht in der Rs Deutschland/Rat und Parlament (Rn 5, Fall 2). Das Werbeverbot für Tabakprodukte wurde als ein geringer Eingriff in die Meinungsfreiheit angesehen, weil der Inhalt der journalistischen Beiträge nicht berührt sei.147 Grds erkennt der EuGH einen Entscheidungsspielraum der zuständigen Stellen bei der Abwägung an.148 In der Rspr endet die Rechtfertigungsprüfung häufig mit der Bestimmung des den Eingriff legitimierenden Ziels und der Feststellung, dass die dazu ergriffenen Maßnahmen nicht offensichtlich ungeeignet waren. Diese bloße Evidenzkontrolle, die auf eine sorgfältige Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung verzichtet, wird zu Recht kritisiert. Allerdings hängt die Intensität der Gerichtskontrolle für den EuGH von den Umständen ab, in denen die Meinungsfreiheit ausgeübt wird. Der Gerichtshof betont, dass der Entscheidungsspielraum „je nach dem Ziel, das eine Beschränkung dieses Rechts rechtfertigt, und je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht“, unterschiedlich sei. Wenn die Ausübung der Meinungsfreiheit nichts zu einer „Debatte von allgemeinem Interesse“ beitrage, beschränke sich die Kontrolle auf die Prüfung, ob der Eingriff in einem
141 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 50 – Karner; ebenso EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 79 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3; EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 64 – Laserdisken; EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament und Rat; ähnlich EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 49 – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1. 142 EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 80 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. Im Zusammenhang mit den Kommunikationsgrundrechten Kühling (Fn 32) Rn 84 ff. 143 Kritisch zu dieser Vorgehensweise etwa Classen EuR 2008, 627 ff; Nettesheim EuZW 1995, 106 ff; Schulenberg (Fn 16) S 290 ff. Relativierend Kischel EuR 2000, 380 ff. 144 Vgl EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television (hier spricht der EuGH v „Verhältnismäßigkeit“); EuGH, Slg 1997, I-03689, Rn 27 – Familiapress = JK 02/98, EGV Art 30/1 (Erforderlichkeitserwägungen). 145 EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 81 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3; ähnlich EuG, Slg 2004, II-1477, Rn 157 ff – Herbert Meister; EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 48 – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1. 146 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television. 147 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament u Rat. 148 EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 49 – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1; Slg 2001, I-10269, Rn 19 – Cwik.
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angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht.149 Vor allem wenn es um die „Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr“ geht, widmet der Gerichtshof der Abwägung mit den widerstreitenden Interessen des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes unter Hinw auf den Entscheidungsspielraum der zuständigen Stellen nur wenige Worte. Dies zeigen die Entscheidungen in den Rs RTL (Werbebeschränkung)150, Karner (Verbot missverständlicher Werbung) 151 und Deutschland/Rat (Verbot von Tabakwerbung, Rn 12, Fall 2) 152, in denen eine Verletzung der Meinungsfreiheit jeweils verneint wurde. Im Fall Laserdisken wurde eine Verletzung der Informationsfreiheit mit den knappen Begründung abgelehnt, dass die Beschränkung der Informationsfreiheit „durch die Notwendigkeit gerechtfertigt (ist), die Rechte des geistigen Eigentums wie das Urheberrecht zu schützen…“ 153 In der Rs Ter Voort sah sich der EuGH nicht einmal mehr genötigt, die widerstreitenden Interessen miteinander abzuwägen. Er beließ es dabei, die Schranke des Art 10 II EMRK zu nennen und dabei als legitimes Ziel den Schutz der Gesundheit hervorzuheben.154 Zu einer umfassenden Abwägung unter dezidierter Betrachtung der Umstände des Einzelfalls kam es demgegenüber in Entscheidungen zur Meinungsfreiheit der EG-Beamten. In der Rs Connolly (Rn 4, Fall 1) betonte der Gerichtshof, dass die Ermächtigung der Organe, die Zustimmung für Veröffentlichungen zu versagen, die Rechtsgrundlage für einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung schaffe. Da die Meinungsäußerungsfreiheit „eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft“ darstelle, dürfe die Zustimmung nur versagt werden, wenn die Veröffentlichung geeignet sei, „den Interessen der Gemeinschaften einen schweren Schaden zuzufügen“.155 Dass dieses Kriterium eng ausgelegt und den Gemeinschaftsorganen nur ein sehr eingeschränkter Beurteilungsspielraum zugestanden wird, zeigt die Entscheidung in der Rs Cwik. Klargestellt wurde, dass der Schutz der Gemeinschaftseinrichtungen nur dann die Verweigerung der Zustimmung zur Veröffentlichung des Beamten rechtfertigen kann, wenn eine „konkrete anhand objektiver Umstände dargelegte tatsächliche Gefahr einer schweren Beeinträchtigung der Interessen der Gemeinschaft“ vorliegt. Der Gerichtshof verneinte dies im Fall, weil der Kläger keine Leitungsverantwortung getragen, sich mit seinem Manuskript an ein Fachpublikum gerichtet und sich die Kommission zu dem in Rede stehenden Zeitpunkt bereits öffentlich auf einen Standpunkt festgelegt habe.156 In der Rs Wirtschafts- und Sozialausschuss/E entschied das Gericht, dass die Meinungsfreiheit die Pflicht des Beamten zur Zurückhaltung nur dann nicht überwiege, wenn bei den Anmerkungen zu der Beurteilung des Vorgesetzten „grob beleidigende oder solche Ausdrücke verwendet werden, die den dem Beurteilenden geschuldeten Respekt in erheblichen Maße vermissen lassen.“157 Eine umfassende Interessenabwägung nimmt der Gerichtshof 149 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 51 – Karner; vgl auch EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 71 – RTL Television; EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 155 – Deutschland/Parlament u Rat. 150 EuGH, Slg 2003, I-12489, Rn 72 – RTL Television. 151 EuGH, Slg 2004, I-3025, Rn 52 – Karner. 152 EuGH, Slg 2006, I-11573, Rn 156 – Deutschland/Parlament und Rat. 153 EuGH, Slg 2006, I-8089, Rn 65 – Laserdisken. 154 EuGH, Slg 1992, I-05485, Rn 38 – Ter Voort. 155 EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 53 – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1. 156 EuGH, Slg 2001, I-10269, Rn 23 – Cwik (vgl auch schon EuG, Slg ÖD 2000, I-A-155 u II-713, Rn 66 ff – Cwik). Ähnlich EuGH, Slg 2001, I-01611, Rn 62 – Connolly = JK 12/01, EGV Art 220/1. 157 EuGH, Slg 1999, I-08877, Rn 15 – Wirtschafts- u Sozialausschuss/E.
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schließlich auch vor, wenn sich Grundfreiheiten und Grundrechte gegenüberstehen. Dies zeigt etwa – worauf später unter dem Gesichtspunkt der Versammlungsfreiheit näher einzugehen ist (Rn 37 f) – die Entscheidung in der Rs Schmidberger. Lösung Fall 1: Die Disziplinarmaßnahme der Kommission greift in den Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung ein. Zu Recht stellt der Gerichtshof in der dem Fall zugrundeliegenden Rs Conolly fest, dass die Beamten und Bediensteten der EG diese Freiheit „auch auf den Gebieten (genießen), die von der Tätigkeit der Organe der Gemeinschaft erfasst werden“. Sie dürften daher „mündlich oder schriftlich Ansichten äußern, die sich von denjenigen unterscheiden, die das Gemeinschaftsorgan, bei dem sie beschäftigt sind, vertritt“. Allerdings kann die Meinungsäußerungsfreiheit iSd Art 10 II EMRK durch und aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das einen zulässigen Zweck verfolgt und verhältnismäßig ist. Gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff ist Art 17 II des als Verordnung (Art 249 II EG) erlassenen Beamtenstatuts. Danach ist für die Veröffentlichung von Texten, die sich auf die Tätigkeit der Gemeinschaft beziehen, eine Zustimmung erforderlich, die nur versagt werden darf, wenn die geplante Veröffentlichung geeignet ist, die Interessen der Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Die Regelung dient der Funktionsfähigkeit der Institutionen der EG und damit dem Schutz „der Rechte Anderer“ iSv Art 10 II EMRK. Der EuGH betont, dass die Vorschrift eng auszulegen ist, weil sie „die Möglichkeit eines schwerwiegenden Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung schafft, die eines der wesentlichen Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt“. Die Zustimmung dürfe nur versagt werden, wenn die Veröffentlichung geeignet ist, den Interessen der Gemeinschaft einen „schweren Schaden“ zuzufügen. Zu untersuchen bleibt, ob die Kommission Art 17 II des Beamtenstatuts im konkreten Fall grundrechtskonform angewendet hat. Der EuGH erklärt, dass die Kommission die Meinungsfreiheit und die widerstreitenden Interessen „gegeneinander abwägen und dabei insb den Grad der Beeinträchtigung der Interessen der Gemeinschaften berücksichtigen muss“. Wegen der besonderen Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung kann allein darin, dass C die vorherige Zustimmung zur Veröffentlichung nicht beantragt oder eine abweichende Auffassung zum Ausdruck gebracht hat, kein schwerer Schaden für die Interessen der EG gesehen werden. Allerdings stellt der Gerichtshof darauf ab, dass C Mitglieder der Kommission „heftig kritisiert oder sogar beleidigt“ und „die grundlegenden Leitlinien der Politik der Gemeinschaft, … zu deren Umsetzung loyal beizutragen er von der Kommission gerade beauftragt worden war, in Frage gestellt“ habe. C habe „in nicht wiedergutzumachender Weise das Vertrauen zerstört, dass die Kommission in ihre Beamten setzen darf, und somit die Aufrechterhaltung jeder Arbeitsbeziehung zu dem Organ unmöglich gemacht“. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof die Entfernung aus dem Dienst als verhältnismäßig angesehen. Folglich war der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit gerechtfertigt. Da die Nichtigkeitsklage unbegründet war, ist das Rechtsmittel abgewiesen worden.
Lösung Fall 2: Das Verbot der Tabakwerbung und des Sponsoring beeinträchtigt die Finanzierung der Unternehmen und greift damit in den Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit ein. Nach st Rspr können diese Freiheiten aber unter den Voraussetzungen des Art 10 II EMRK aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das einen legitimen Zweck verfolgt und verhältnismäßig ist. Das Werbeverbot für Tabak dient zum einem dem legitimen Ziel des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung der Europäischen Union, indem es den Anreiz zum übermäßigen Rau-
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chen verhindert. Zum anderen soll das einheitliche Verbot der Werbung den grenzüberschreitenden Verkehr von Presse- und Rundfunkerzeugnissen sicherstellen. Indem die RL die unterschiedlichen nationalen Vorschriften über die Zulässigkeit von Tabakwerbung vereinheitlicht und dabei von einem hohen Schutzniveau hinsichtlich der Gesundheit ausgeht, ist sie geeignet, die legitimen Ziele zu verfolgen. Bei der Frage der Erforderlichkeit der Regelung und bei der Abwägung der legitimen Ziele mit dem Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit kommt dem Parlament und dem Rat ein Entscheidungsspielraum zu. In der dem Fall zugrundeliegenden Rs Deutschland/Parlament und Rat betont der Gerichtshof, dass dieser „je nach dem Ziel“, das mit der Regelung verfolgt wird, und „je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht“, unterschiedlich ist. Ein Ermessensspielraum bestehe gerade „für den Gebrauch der Freiheit der Meinungsäußerung im Geschäftsverkehr, in einem Bereich, der so komplex und wandelbar ist, wie die Werbung.“ Mit dem Schutz der Gesundheit verfolgen das Europäische Parlament und der Europäische Rat ein Ziel von hohem Rang. Der Gerichtshof erklärt, das der Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit gering sei, da „die Freiheit der journalistischen Meinungsäußerung als solche unberührt“ bleibe und redaktionelle Beiträge der Journalisten nicht betroffen seien. Zudem werde nur eine bestimmte – wenn auch bedeutende – Art von Werbung verboten und nicht die Werbung an sich, so dass die Finanzierung der Unternehmen nicht gefährdet sei. Die RL verstößt damit nicht gegen die Presse- und Meinungsfreiheit.
III. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Leitentscheidungen: EuGH, Slg 2003, I-5659 – Schmidberger = JK 11/03 EGV Art 28/3; Slg 1999, I-4539 – Montecatini; Slg 1995, I-4921 – Bosman; Slg 1990, I-0095 – Maurissen und Gewerkschaftsbund; Slg 1974, 933 – Allgemeine Gewerkschaft; Slg 1974, 917 – Gewerkschaftsbund; EuG, Slg 2001, II-2823 – Martinez/Parlament; EuGH, Slg 1997, I-6959 – Kommission/Frankreich; Slg 2000, I-02549 – Deliège; Slg 2006, I-6991 – Meca-Medina; Slg 2002, I-1577 – Wouters; Slg 1999, I-05751 – Albany; Slg 2007, I-10779 – International Transport Worker’s Federation; Slg 2006, I-2397 – Werhof; Slg 2007, I-11767 – Laval; Slg 1990, I-00599 – Hecq; Slg 2000, I-02681 – Lethonen. Schrifttum: Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG-Recht, in: FS Peter Hanau, 1999, 489 ff; Hatje Parteiverbote und Europarecht, DVBl 2005, 261 ff; Huber Die politischen Parteien als Partizipationsinstrument auf Unionsebene, EuR 1999, 579 ff; Kadelbach/Petersen Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten – Anmerkung zum EuGH-Urt in der Rs Schmidberger/Republik Österreich (Brennerblockade), EuGRZ 2003, 693 ff; Lange/Schütz Grundstrukturen des Rechts der europäischen politischen Parteien iSd Art 138a EGV, EuGRZ 1996, 299 ff; Mann Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27, § 28; ders/Ripke Überlegungen zur Existenz und Reichweite eines Gemeinschaftsgrundrechts der Versammlungsfreiheit, EuGRZ 2004, 125 ff; Neßler Deutsche und europäische Parteien, EuGRZ 1998, 191 ff; Piepenschneider Die Rolle der europäischen Parteien, in: Franzius/Preuß, Europäische Öffentlichkeit, 2004, 237 ff; Tsatsos Europäische politische Parteien? – Erste Überlegungen zur Auslegung des Parteienartikels des Maastrichter Vertrages – Art 138a EGV, EuGRZ 2004, 45 ff
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Fall 3 (angelehnt an EuGH, Slg 2006, I-2397 – Werhof): E hat ein Unternehmen gekauft. Der Arbeitsvertrag des dort tätigen Arbeitnehmers W verweist im Hinblick auf die Rechte und Pflichten in der Arbeitsbeziehung auf die Bestimmungen über den zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrag. E ist nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Nach Art 3 der RL 77/187/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen gehen jedoch „die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs …
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bestehenden Arbeitsvertrag … auf den Erwerber über“. Als der Arbeitgeberverband der Branche und die Gewerkschaft nach dem Unternehmenskauf eine Änderung des Tarifvertrages vereinbaren, die den betroffenen Arbeitnehmern einen erheblichen Lohnanstieg beschert, will W davon profitieren. Er meint, dass die Richtlinie „dynamisch“ ausgelegt werden müsse. Demgegenüber ist E der Überzeugung, dass eine solche Auslegung gegen seine negative Koalitionsfreiheit verstößt. Fall 4 (angelehnt an EuGH, Slg 1995, I-4921 – Bosman): Der belgische Berufsfußballspieler B möchte zu einem Verein in der französischen Liga wechseln. Die durch die Sportverbände aufgestellten Regelungen sehen allerdings vor, dass der aufnehmende Verein in einem solchen Fall dem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung zahlen muss. Angesichts der hohen Ablöseforderung möchte der ursprünglich an der Beschäftigung von B interessierte französische Verein den Wechsel nicht mehr durchführen. B meint, dass ihn die Regelungen der Sportverbände in seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigen. Demgegenüber pochen die Sportverbände auf die ihnen aus der grundrechtlichen Vereinigungsfreiheit zukommende Autonomie. Zudem betonen sie, dass die Transferregeln durch das Bestreben gerechtfertigt seien, das finanzielle und sportliche Gleichgewicht zwischen den Vereinen aufrecht zu erhalten und die Suche nach Talenten sowie die Ausbildung junger Spieler zu unterstützen. Die Cour d’appel Lüttich legt dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gem Art 234 I lit 1 EG die Frage vor, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Transferregelung der Sportverbände entgegensteht.
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1. Die Normierung des Art 12 GRCh im Überblick Art 12 GRCh garantiert die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Formen einer kollektiv ausgeübten Meinungsäußerungsfreiheit. Nach Abs 1 hat „jede Person das Recht, sich insb im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen“. Hervorgehoben wird, dass dies „das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Die Normierung orientiert sich an Art 11 EMRK. Das Präsidium des Grundrechtekonvents betont, dass beide Bestimmungen „die gleiche Bedeutung“ haben.158 Hinsichtlich der Koalitionsfreiheit wird auch auf Art 11 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer verwiesen.159 Art 12 II GRCh erklärt, dass „politische Parteien auf der Ebene der Union“ dazu beitragen, „den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen“. Insofern wird vom Präsidium des Grundrechtekonvents auf Art 191 EGV (Rn 45) Bezug genommen.160 Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gehört iSd Präambel der Grundrechte-Charta zur „gemeinsamen Verfassungstradition“ der Mitgliedstaaten. Zum Teil wird im nationalen Recht nicht nur die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sondern auch die Koalitionsfreiheit ausdrücklich geschützt und der Mitwirkungsauftrag der politischen Parteien geregelt.161 Im Übri-
158 159 160 161
Nr 1 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Nr 2 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Nr 3 d Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONV 828/1/03 REV 1, 14 f v 18.7.2003. Vgl für Nachw etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 3.
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gen spiegeln die Gewährleistungen des Art 12 GRCh die in der Präambel erwähnten „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ wider. Dies gilt nicht nur für Art 11 EMRK, sondern auch für Art 20 und Art 23 Nr 4 AEMR, Art 21 und 22 IPbürgR sowie hinsichtlich der Koalitionsfreiheit für Art 8 I lit a des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR).
2. Schutzbereich 36
Da auch die in Art 12 GRCh erwähnten Kommunikationsgrundrechte „jeder Person“ garantiert werden, können sich auch Drittstaatsangehörige darauf berufen. Für die Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs kann auf die Rspr des EGMR (→ § 4 Rn 59 ff) zurückgegriffen werden, weil Art 12 I GRCh die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie Art 11 EMRK haben soll. a) Versammlungsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechte-Charta
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Die in Art 12 I GRCh garantierte Versammlungsfreiheit erfasst die Vorbereitung und Durchführung privater wie öffentlicher Zusammenkünfte mehrerer Menschen.162 Bloße Ansammlungen werden freilich nicht geschützt.163 Die Zusammenkommenden müssen einen gemeinsamen Zweck haben. Es werden ortsfeste Versammlungen geschützt oder auch Umzüge, vor allem Demonstrationen. Die Zusammenkunft muss nicht organisiert sein. Auch Spontanversammlungen genießen Schutz.164 Im Unterschied zu Art 11 EMRK betont Art 12 GRCh ausdrücklich, dass die Versammlungsfreiheit „im politischen Bereich“ garantiert ist. Dies ist freilich selbstverständlich; denn Versammlungen sichern die Demokratie im Vorfeld der institutionellen politischen Entscheidungen (→ § 4 Rn 59).165 Weiter werden der – später unter dem Aspekt der Koalitionsfreiheit zu diskutierende – „gewerkschaftliche“ und schließlich noch der „zivilgesellschaftliche Bereich“ genannt. Dieser derzeit modische Begriff macht deutlich, dass es nicht um gesellschaftlich wichtige Fragen gehen muss. Versammlungen können – wie es in der Kommentarliteratur heißt – wirtschaftliche, wissenschaftliche, kulturelle, soziale „oder andere Angelegenheiten“ zum Gegenstand haben.166 Deutlich wird, dass die Grundrechtscharta von einem weiten Versammlungsbegriff ausgeht.167 Genauso wie bei der oben erörterten Meinungsfreiheit (Rn 10) kommt es auf die Qualität und Thematik der Versammlung nicht an. Obwohl die Versammlungsfreiheit zu den Kommunikationsgrundrechten zählt, ist es – anders als viele meinen (→ § 4 Rn 61, mit Verweis auf EGMR, EuGRZ 1989, 522 Rn 12 – Plattform „Ärzte für das Leben“)168 – auch unerheblich, ob die Zusammenkommenden untereinander oder gegenüber Dritten Meinungen mitteilen, diskutieren oder symbolisch Ausdruck verleihen wollen. Wie bei der Vereinigungsfreiheit (Rn 39) genügt es, dass irgendein
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EGMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 6 – Rassemblement jurassien u Unité jurassienne. Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 5. S Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125 ff. Vgl z Art 11 EMKR EGMR, EuGRZ 1981, 559, Rn 57 – Young, James u Webster. Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 16. Ebenso Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 737. S etwa Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 5.
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gemeinsamer Zweck verfolgt wird.169 Die Versammlungsfreiheit erfasst damit auch rein gesellschaftliche Zusammenkünfte. Auch einem gemeinsamen Happening – wie etwa der Love-Parade – darf der Grundrechtsschutz nicht versagt werden.170 Schutz genießen auch provozierende Versammlungen (→ § 4 Rn 60, 73 → Fall 5).171 Allerdings darf die Zusammenkunft nicht gewalttätigen Zielen dienen oder einen gewalttätigen Verlauf nehmen, da nur „friedliche“ Versammlungen geschützt sind.172 Unfriedliche Ereignisse am Rand einer Demonstration oder Versuche von Extremisten, Versammlungen zu unterlaufen, reichen freilich nicht aus, um der Versammlung den Schutz zu entziehen.173 Im Gegenteil ist für den Schutz von Demonstrationen vor gewaltsamen Gegendemonstrationen zu sorgen.174 Insofern ist freilich zu beachten, dass eine unionsgrundrechtliche Schutzpflicht einen anderweitig begründeten Kompetenztitel voraussetzt (Rn 19). Schließlich muss das Treffen „frei“ sein. Staatlich angeordnete Versammlungen werden nicht geschützt. Im Übrigen umfasst Art 12 I GRCh die sog negative Versammlungsfreiheit, also das Recht, sich nicht mit anderen zu versammeln.175 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof hat die Versammlungsfreiheit recht ausf in der Rs Schmidberger behandelt. Ein Transportunternehmer hatte vom Staat Österreich Ersatz für Schäden verlangt, die ihm dadurch entstanden waren, dass er die Brennerautobahn aufgrund einer genehmigten Demonstration für knapp 30 Stunden nicht nutzen konnte. Der Gerichtshof sah in dem Umstand, dass Österreich die Versammlung nicht verhindert hatte, eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs in der Gemeinschaft und nahm eine Abwägung mit der Versammlungsfreiheit der Demonstranten vor (Rn 13).176 Konkrete Aussagen zum Umfang des Schutzbereiches fehlen zwar. Deutlich wird immerhin, dass Versammlungen besonders geschützt sind, bei denen es um für das öffentliche Leben Wichtiges – im konkreten Fall: um die Folgen des zunehmenden Transitverkehrs für die Gesundheit und die Umwelt – geht. Dass grds auch Versammlungen mit ökonomische Interessen geschützt sind, zeigt die Rs Montecatini, in der eine Geldstrafe der Kommission für Unternehmen aus dem Bereich der Polypropylen Herstellung in Streit stand. Der Gerichtshof hob freilich hervor, dass Versammlungsfreiheit ihre Grenze findet, wenn Zusammenkünfte einen Zweck verfolgen, der mit dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft nicht vereinbar ist.177 Auf der anderen Seite lässt sich der Entscheidung in der Rs Kommission/ 169 Vgl Mann Versammlungsfreiheit in: Heselhaus/Nowak, GR, § 27 Rn 10. 170 Kritisch gegenüber dem engen Versammlungsbegriff d BVerfG (etwa E 104, 92, 104 – Sitzblockade III) zB Pieroth/Schlink Grundrechte, Rn 689 ff. 171 EGMR, Urt v 02.10.2001, Nr 29221/95 und 29225/95, Rn 86 – Stankow. 172 Vgl dazu Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125, 129 f; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 8. 173 Vgl EGMR, HRLJ 1991, 185, Rn 39 ff – Ezelin; EGMR, EuGRZ 1981, 216, Rn 4 – Christians against Racism and Facism. 174 EGMR, EuGRZ 1989, 522, Rn 32 – Plattform „Ärzte für das Leben“. Zu Art 12 GRCh Rixen in: Tettinger/Stern, ChGR, Art 12 Rn 13. Gegen eine Schutzpflicht Mann (Fn 169) Rn 20. 175 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 18; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 3. 176 EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 64, 72 ff, 78 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. 177 EuGH, Slg 1999, I-04539, Rn 137 f – Montecatini; diese Entscheidung bestätigt insoweit EuG, Slg 1992 II-01155 Rn 319 f – Montedipe, welches ausdrücklich die Versammlungsfreiheit für einschlägig hält, obwohl die Vereinigungsfreiheit ebenfalls ein möglicher Rechtmäßigkeitsmaßstab hätte sein können. Der EuGH stellt in seinem Urt konsequent auf beide Grundrechte ab.
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Frankreich entnehmen, dass Versammlungen, die vor allem den innergemeinschaftlichen Handel stören wollen, nicht in der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen sollen. Obwohl festgestellt wurde, dass Frankreich den innergemeinschaftlichen Handel dadurch beeinträchtigt hat, dass es die dauerhaften Attacken französischer Bauern auf Lebensmitteltransporte aus Spanien nicht verhinderte,178 wurde eine mögliche Rechtfertigung über die Versammlungsfreiheit vom Gerichtshof noch nicht einmal angesprochen. Dogmatisch überzeugend ist dies nicht. b) Vereinigungsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechte-Charta 39
Die in Art 12 I GRCh garantierte Vereinigungsfreiheit schützt – im Unterschied zur Versammlungsfreiheit – jeden freiwilligen Zusammenschluss in Organisationen von gewisser Stabilität und einiger Dauer. Dies gilt selbstverständlich auch für wirtschaftliche Vereinigungen. Auf den Zweck des Zusammenschlusses kommt es nicht an. Gewährleistet ist nicht nur die Freiheit der Einzelnen, eine Vereinigung zu gründen. Vielmehr liegt ein Doppelgrundrecht vor, das auch die sog kollektive Vereinigungsfreiheit – dh die Tätigkeit der Vereinigung selbst – garantiert, soweit keine speziellen Grundrechtsnormen eingreifen.179 Dass dies auch dann gilt, wenn es nicht um Konkretisierungen der Koalitionsfreiheit geht 180, ergibt sich schon daraus, dass in Art 12 I GRCh der „gewerkschaftliche Bereich“ neben dem „politischen“ und „zivilgesellschaftlichen Bereich“ genannt wird. Zudem macht die Formulierung deutlich, dass die Vereinigungsfreiheit zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip steht 181, aber etwa auch bloß wirtschaftliche Zusammenschlüsse schützt. Da die Vereinigung „frei“ sein muss, werden öffentlich-rechtliche Zwangsvereinigungen nicht geschützt.182 Obwohl die sog negative Vereinigungsfreiheit in Art 12 I GRCh wie auch in Art 11 I EMRK nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben, Bestandteil der Vereinigungsfreiheit.183 In Art 20 II AMER wird ausdrücklich betont, dass niemand gezwungen werden darf, einer Vereinigung anzugehören. Allerdings soll die Freiheit, öffentlich-rechtlichen Korporationen fernzubleiben, wie im deutschen Recht nicht vom Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit umfasst sein.184
178 EuGH, Slg 1997, I-06959 – Kommission/Frankreich. 179 S etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 15; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 28 Rn 10; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 GRCh Rn 11. 180 Missverständlich insofern → § 4 Rn 77 mit Hinw auf EGMR, EuGRZ 1975, 562, Rn 38 f – Nationale Belgische Polizeigewerkschaft. 181 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 GRCh Rn 10. 182 Bernsdorf in: Meyer ChGr, Art 12 Rn 15. Differenzierend Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 11. 183 EGMR, Nr 24/1992/369/443, Rn 35 – Sigurdur Sigurjónsson; EGMR, NJW 1999, 3695, Rn 103 – Chassagnou; EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere. 184 Vgl Mann (Fn 179) Rn 12; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, 2006, Art 12 Rn 11. Zur EMRK s EGMR, EuGRZ 1981, 551, Rn 65 – Le Compte, Van Leuven and De Meyere.
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bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Zur Vereinigungsfreiheit gibt es eine vielfältige Judikatur. Dies liegt vor allem daran, dass der EuGH den Grundfreiheiten eine sog Drittwirkung zuspricht (→ § 7 Rn 52 f). Weil sozial mächtige Vereinigungen – in der Rspr ging es vor allem um Sportverbände, aber auch um Berufsvereinigungen und Gewerkschaften – an die Grundfreiheiten gebunden sind, stellt sich die Frage, ob Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten unter Berufung auf die Vereinigungsfreiheit gerechtfertigt werden können. In der Rs Bosman ging es um die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Profisportlern (Rn 34, Fall 4). Man stritt man um Verbandsregelungen, die den Vereinswechsel im Fußball von der Zahlung einer Ablösesumme abhängig machten, und um das Verbot, mehr als drei Ausländer pro Mannschaft in einem Spiel einzusetzen. Der EuGH betonte, dass sich der Sportverband auf die Vereinigungsfreiheit berufen kann. Allerdings seien die in Streit stehenden Verbandsregeln weder „erforderlich […], um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände […] zu gewährleisten“, noch stellten sie „eine unausweichliche Folge dieser Freiheit“ dar.185 In der Rs Deliège ging es um Regeln, die die Auswahl von Sportlern zu einem internationalen Turnieren festlegen. Hier erkannte der EuGH die Verbandsautonomie an, ohne freilich – was eigentlich nahe lag – die Vereinigungsfreiheit anzusprechen. Die Grundfreiheiten der klagenden Sportlerin seien nicht beeinträchtigt, weil es die „natürliche Aufgabe der betroffenen Stellen“ sei, „geeignete Regeln aufzustellen und in Anwendung dieser Regeln eine Auswahl zu treffen.“186 In der Rs Meca-Medina wurden die Anti-Doping Regelungen des internationalen olympischen Komitees am Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft gemessen. Auch hier sprach der Gerichtshof die Vereinigungsfreiheit allerdings nicht ausdrücklich an. Das Interesse der Verbände an einem fairen Ablauf der Wettkämpfe und am Schutz der Gesundheit der Sportler wurde aber herangezogen, um eine Ausnahme vom Kartellverbot zu begründen.187 Dass bei der Anwendung von Art 81 I EG der Gesamtzusammenhang und die Zielsetzung von Verbandsregeln gewürdigt werden müssen, hatte der der Gerichtshof bereits in der Rs Wouters erkannt, wo es um eine Verordnung der niederländischen Rechtsanwaltskammer ging, die gemeinsame Sozietäten von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern verbot. Die Verordnung wurde trotz ihrer wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen nicht dem Kartellverbot unterworfen, da die Regelung für das legitime Ziel der ordnungsgemäßen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als erforderlich angesehen wurde.188
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c) Koalitionsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechte-Charta Die Koalitionsfreiheit wird in Art 12 I GRCh, soweit es um die Arbeitnehmerseite geht, gleich zweimal angesprochen. Betont wird, dass die Vereinigungsfreiheit auch für den „gewerkschaftlichen Bereich“ gilt und „das Recht jeder Person (umfasst), zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Die Hervorhebungen bedeuten nicht, dass die Gegenseite schutzlos ist. Vielmehr fällt die Bildung und
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EuGH, Slg 1995, I-04921, Rn 79, 80 – Bosman. EuGH, Slg 2000, I-02549, Rn 67 – Deliège. EuGH, Slg 2006, I-6991, Rn 42 ff – Meca-Medina. EuGH, Slg 2002, I-1577, Rn 97 ff – Wouters.
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Betätigung von Arbeitgebervereinigungen in den Schutzbereich der allgem Vereinigungsfreiheit.189 Aus Gründen der „Waffengleichheit“ ist insofern eine einheitliche Auslegung geboten. Auch Art 28 GRCh setzt die Freiheit der Bildung von Arbeitgebervereinigungen voraus. Die Koalitionsfreiheit ist wie die allgem Vereinigungsfreiheit ein Doppelgrundrecht. Sie umfasst einerseits das individuelle Recht, sich in Koalitionen zusammenzuschließen und sich entsprechend zu betätigen, sowie das Recht, Koalitionen fernzubleiben (Rn 33, Fall 3, oben § 4 Rn 84, 95). Andererseits wird das Recht der Gewerkschaften selbst geschützt, über ihre Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte nach innen und außen selbst zu bestimmen (→ § 4 Rn 88 ff).190 Die kollektive Koalitionsfreiheit beinhaltet vor allem die Tarifautonomie, die aber in Art 28 GRCh spezieller geschützt ist, wonach „die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht (haben), Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen, sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen“. bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 42
Den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit hat der Europäische Gerichtshof bereits in den Rs Gewerkschaftsbund und Allgemeine Gewerkschaft bestimmt. Betont wurde, dass die Vereinigungsfreiheit das Recht der EG-Beamten umfasst, „frei Vereinigungen ihrer Wahl zu gründen“, und dass sich die Vereinigungen „zur Verteidigung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder jeder erlaubten Tätigkeit widmen“ dürfen. Die Möglichkeit der Gewerkschaften, Rechte ihrer Mitglieder vor Gericht einzuklagen, wurde bes hervorgehoben.191 Deutlich wird, dass auch die Koalitionsfreiheit ein Doppelgrundrecht ist. Konkrete Ausführungen zum Schutzumfang der Koalitionsfreiheit enthält die Entscheidung in der Rs Maurissen. Der Gerichtshof erklärte, „dass die Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen ihren Beamten weder verbieten können, Mitglied einer Gewerkschaft oder eines Berufsverbandes zu werden und an der Gewerkschaftsarbeit teilzunehmen, noch sie in irgendeiner Form wegen dieser Mitgliedschaft oder dieser Arbeit benachteiligen dürfen.“ Insb dürfe der durch die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Tätigkeit entstehende Ausfall an Dienstzeit nicht negativ bei einer Bewertung des Beamten wirken. Gemeinschaftsorgane müssten grds hinnehmen, dass Gewerkschaftsangehörige „die ihnen zustehende Aufgabe wahrnehmen, nämlich unter anderem Aktionen zur Unterrichtung der Beamten und sonstigen Bediensteten durchführen, diese bei den Organen und Einrichtungen vertreten und an der Konzertierung mit diesen Organen und Einrichtungen in allen das Personal interessierenden Bereichen teilnehmen.“ Entscheidend sind freilich die Umstände des Einzelfalls. So entschied das Gericht, dass die Vereinigungsfreiheit noch nicht betroffen ist, wenn einem Beamten die Nutzung des internen Botendienstes zur Verbreitung von Gewerkschaftsinformationen untersagt wird. Auf der anderen Seite erklärte der Gerichtshof,
189 S nur Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 17; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 GRCh, Rn 15. 190 Vgl Däubler FS Peter Hanau, 1999, S 489, 495. 191 EuGH, Slg 1974, 00917, Rn 14, 17 – Gewerkschaftsbund; EuGH, Slg 1974, 00933, Rn 10, 13 – Allgemeine Gewerkschaft.
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dass die Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt wird, wenn die Beamten zu wichtigen Gewerkschaftsversammlungen keine Dienstbefreiung erhalten.192 Die besondere Stellung der Koalitionsfreiheit wird auch in der Rs Albany deutlich, wo der Gerichtshof entschied, dass Vereinbarungen, die zwischen den Sozialpartner im Rahmen von Tarifverhandlungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen geschlossen worden sind, nicht unter die Bestimmungen des Wettbewerbsrechts fallen. Anlass war die Klage eines Textilunternehmens, das sich gegen den Antrag der Tarifparteien wandte, wonach der Staat die Mitgliedschaft in einem von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ins Leben gerufenen Betriebsrentenfonds für alle Unternehmen im Textilgewerbe verbindlich erklären sollte. Der Gerichtshof berief sich zwar nicht ausdrücklich auf die Koalitionsfreiheit, um Tarifverträge von dem Wettbewerbsrecht freizustellen, betonte aber, dass der EG-Vertrag den Dialog zwischen den Sozialpartnern (vgl Art 136 ff EG) und „ein hohes Maß an sozialem Schutz“ fördern wolle.193 In der Rs Werhof ging es um eine Richtlinie zur Fortgeltung von Kollektivverträgen bei einem Betriebsübergang (→ Rn 33, Fall 3). Der Gerichtshof erklärte unter Berufung auf die negative Vereinigungsfreiheit des Betriebserwerbers, dass dieser die nach dem Betriebsübergang erfolgten Veränderungen des Tarifvertrages nicht beachten müsse.194 In den Rs Laval und International Transport Worker’s Federation standen schließlich kollektive Maßnahmen von gewerkschaftlichen Organisationen in Streit, die ergriffen wurden, um Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrages zu zwingen. Unter expliziter Berufung auf Art 28 der GRCh (Rn 41) betonte der Gerichtshof in beiden Fällen, dass „das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht der Gemeinschaft anzuerkennen“ sei.195 Im Ergebnis waren die konkreten Maßnahmen aber nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, da sie die Grundfreiheiten der betroffenen Unternehmen unverhältnismäßig beschränkten (Rn 53).
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d) Politische Parteien aa) Schutz in der Grundrechte-Charta Indem Art 12 I GRCh hervorhebt, dass das Recht, sich zu versammeln und mit anderen zusammenzuschließen, u.a. „insbesondere im politischen Bereich“ geschützt ist, vollzieht die Grundrechtecharta eine Entwicklung nach, die der EGMR bereits vorgezeichnet hatte (→ § 4 Rn 81). Art 12 II GRCh betont darüber hinaus die bes Bedeutung „politischer Parteien auf der Ebene der Union“, da diese „den politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zum Ausdruck bringen.“ Der von der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ohnehin vermittelte Grundrechtsschutz der Parteien wird dadurch verstärkt.196 Weil die Vorschrift politischen Parteien im zusammenwachsenden Europa einen
192 EuGH, Slg 1990, I-00095, Rn 14, 15, 21, 30 ff – Maurissen; bestätigt durch EuG, Slg 1992 II-02377, Rn 13 – Maurissen. 193 EuGH, Slg 1999, I-05751, Rn 54 ff, 64 ff – Albany. Eine pauschale Übertragung dieser Rspr auf die Grundfreiheiten lehnte der Gerichtshof jedoch ab, vgl EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 49 ff – International Transport Worker’s Federation. 194 EuGH, Slg 2006, I-2397, Rn 33 ff – Werhof. 195 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 91 – Laval; EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 44 – International Transport Worker’s Federation. 196 Vgl Rengeling/Szczekalla, GR, § 18 Rn 747. Anders Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 21; Knecht in: Schwarze, EUV, Art 12 GRCh Rn 9; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 12 GRCh Rn 12 („geringer rechtlicher Gehalt“).
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hohen Stellenwert einräumt, sind Eingriffe und insb Parteienverbote nur unter strengen Voraussetzungen möglich.197 Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass von den Parteien ein erheblicher Beitrag zum Ausgleich des „demokratischen Defizits“ der Union zu erwarten ist, das nicht nur, aber vor allem in einer mangelhaften politischen Kommunikation auf europäischer Ebene seine Ursache hat.198 Um der Vielfalt politischer Interessenzusammenschlüsse in Europa und der Funktion der Parteien „als Faktor der Integration in der Union“ und ihrem Beitrag zur Herausbildung „eines europäischen Bewusstseins“ (Art 191 EG) gerecht zu werden199, muss der Begriff der politischen Partei weit gefasst werden.200 Allerdings geht es in Art 12 II GRCh nur um die – bislang in der Bevölkerung noch wenig profilierten – „Parteien auf der Ebene der Union“. Zu denken ist etwa an die „Europäische Volkspartei (EVP)“, die „Sozialdemokratische Partei Europas (SPE)“, die „Europäischen Liberalen und Demokratische Partei (ELDR)“ und an die „Europäischen Grünen“.201 Bei der Begriffsbestimmung liegt die Berücksichtigung der Definition in Art 2 und 3 der VO Nr 2004/2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung nahe.202 Allerdings ist die sekundärrechtliche Beschränkung auf Parteien, die in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten durch EP-Mitglieder oder in nationalen oder regionalen Vertretungskörperschaften repräsentiert sind oder dort mindestens 3 % bei der Europawahl erhalten haben (Art 3 lit b VO Nr 2004/2003), schon im Hinbl auf die Finanzierung aus dem Unionshaushalt (Art 4 ff VO Nr 2004/2003) bedenklich.203 Für den grundrechtlichen Schutz kann es darauf nicht ankommen. Auch Parteien, die nur in einem einzigen Mitgliedstaat aktiv sind, müssen geschützt sein, wenn sie an Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen. Dasselbe muss für integrationskritische Parteien gelten (vgl dazu Art 3 lit c VO Nr 2004/2003); denn das Demokratieprinzip fordert eine inhaltliche Neutralität in der politischen Auseinandersetzung um das richtige Ausmaß der europäischen Einigung. Nicht von Art 12 II GRCh erfasst werden freilich Parteien, die sich nicht an den Wahlen zum EP beteiligen, sondern ausschließlich auf nationaler Ebene tätig sind. Angesichts des eindeutigen Wortlauts („Parteien auf der Ebene der Union“) steht dem nicht entgegen, dass auch rein nationale Parteien auf die europ Politik einen mittelbaren Einfluss haben, da sie über die nationalen Parlamente ihre Regierungen kontrollieren, die im Ministerrat und im Europ Rat die Geschicke der Union maßgebend bestimmen.204 Bloße Interessenverbände können sich nur auf die allgem Vereinigungsfreiheit, nicht aber auf den besonderen Schutz als „politische Parteien“ berufen, da sie den „politischen Willen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ nicht umfassend, sondern nur im Hinbl auf Sonderinteressen zum Ausdruck bringen wollen.205
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Ebenso Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 GRCh, Rn 17. Vgl zu diesen Fragen etwa Neßler EuGRZ 1998, 191, 195 ff. Vgl zur Bedeutung dieser Vorschrift Huber EuR 1999, 579 ff; Neßler EuGRZ 1998, 191, 192 ff. Vgl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 21a; Hatje DVBl 2005, 261 ff; Huber EuR 1999, 579, 591; Lange/Schütz EuGRZ 1996, 299, 300; Tsatsos EuGRZ 2004, 45 ff. Zu den Funktionen der Parteien Piepenschneider in: Franzius/Preuß, Europäische Öffentlichkeit, 2004, S 237, 240 ff. Zur Entwicklung d europ Parteien etwa Neßler EuGRZ 1998, 191 ff. VO des Europ Parlaments u des Rates v 4.11.2003, ABl 2003 Nr 297/1. Vgl etwa Ruffert in: Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art I-46 Rn 13 ff. S Hatje, DVBl 2005, 261, 263. Vgl Lange/Schütz EuGRZ 1996, 299, 302.
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bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH hat sich mit der Anwendung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit auf politische Parteien bislang nicht befasst.206 Allerdings stand in der Rs Martinez die Frage in Streit, ob sich Parlamentarier auch dann zu Fraktionen zusammenschließen können, wenn sie keine politische Zusammengehörigkeit aufweisen. Der EuGH bestätigte die Entscheidung des EuG, wonach das Interesse an einem funktionsfähigen Parlament die Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit rechtfertigen kann.207 Dem ist zuzustimmen, wenn man bedenkt, dass es Hauptaufgabe der Fraktionen ist, die unterschiedlichen nationalen Interessen in den transnationalen Parteienbünden zu bündeln und mit den europ Interessen in Einklang zu bringen.208
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3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs Hinsichtlich der eine Grundrechtsprüfung auslösenden Beeinträchtigungen kann auf die Erörterungen zur Meinungsfreiheit verwiesen werden (Rn 19 f). Wie sich Art 51 I GRCH entnehmen lässt, kann es um Beeinträchtigungen durch die Organe und Einrichtungen der Union (einschließlich der EG) und um mitgliedsstaatlichen Maßnahmen bei der „Durchführung“ von Unionsrecht gehen. Der Kreis der Normadressaten ist damit abschließend bestimmt. Eine unmittelbare Drittwirkung gibt es nicht, auch nicht – anders als im dt Recht (Art 9 III GG) – für die Koalitionsfreiheit. Allerdings können sich aus den in Art 12 GRCh gewährleisteten Rechten – unter den oben erwähnten Voraussetzungen (Rn 3) – Schutzpflichten für die Grundrechtsverpflichteten ergeben. Störungen der Versammlungsfreiheit sind zu verhindern. Entspr gilt für Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit (→ § 4 Rn 85 mwN).209 Freilich werden in Art 137 V EG ohnehin wichtige Bereiche – das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht – dem Einfluss der in Titel XI EG geregelten europ Sozialpolitik entzogen.210 Dass der EuGH wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten von einem weiten Eingriffsbegriff ausgeht, zeigt sich daran, dass er in seiner Rspr die Grundrechtsbeschränkung sehr kurz prüft oder sogar überhaupt nicht explizit anspricht. Der Schwerpunkt der gerichtlichen Untersuchung liegt bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Rechtfertigungsebene. Die in Art 12 gewährleisteten Rechte gewähren Schutz vor unmittelbaren und mittelbaren Beeinträchtigungen. Die Darlegungslast für das Vorliegen einer Grundrechtsbeeinträchtigung trägt allerdings der Kläger. So wies EuGH in der Rs Hecq die Klage eines Beamter der EG gegen seine Umsetzung nach Luxemburg ua mit dem Argument ab, dass der Kläger nichts vorgetragen habe, was zu der Annahme berechtigen würde, dass die Umsetzung seine Gewerkschaftsarbeit in Brüssel beeinträchtigen
206 Vgl aber zur Verteilung von Mitteln für Informationskampagnen des EP EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 20 ff – Parti ecologiste „Les Verts“/Europ Parlament. 207 EuGH, Slg 2003, I-13355, Rn 78 ff – Martinez; EuG, Slg 2001, II-02823, Rn 145 ff, 230 ff – Martinez. Vgl zum Problemkreis auch Rengeling/Szczekalla GR, Rn 750. 208 Zur Funktion und Rechtsstellung der Fraktionen Neßler EuR 1997, 311 ff. 209 Vgl EGMR, EuGRZ 1981, 559 Rn 55 f – Young, James u Webster. Zu Art 12 GRCh Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 13. 210 Zu den Regelungsbefugnissen der Gemeinschaft Däubler FS Peter Hanau, 1999, S 489, 498 ff.
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und ihn damit in seiner Koalitionsfreiheit verletzen würde.211 Die Versammlungsfreiheit kann durch Aus- und Einreiseverbote beeinträchtigt werden.212 Manche meinen, dass dies nicht für Genehmigungserfordernisse gilt (→ § 4 Rn 65).213 Die Abkehr vom sonst gültigen weiten Eingriffsbegriff ist allerdings unnötig, denn Vorkehrungen für einen störungsfreien Ablauf der Zusammenkunft lassen sich ohne weiteres rechtfertigen.214 In die Vereinigungsfreiheit wird mittelbar eingegriffen, wenn an die Mitgliedschaft Nachteile geknüpft werden.215 Dies gilt vor allem für Gewerkschaften und Parteien.216 Gemeinschaftsrechtliche Grenzen gibt es auch für nationale Parteiverbote und sonstige Beschränkungen, wenn es um die Teilnahme an Wahlen zum Europäischen Parlament geht. In dem später eingestellten Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (vgl Art 21 II GG), hatte die NPD beantragt, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das Verbot mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar wäre. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Entscheidung darüber, welche Parteien sich an der Wahl beteiligten dürfen, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle.217 Tatsächlich bestimmt sich gem Art 7 des „Direktwahlaktes“ das Wahlverfahren zum EP nach den „innerstaatlichen Vorschriften“. Dabei müssen die Mitgliedstaaten jedoch den Grundsatz der Loyalität gem Art 10 EG beachten, der die praktische Wirksamkeit des europ Wahlrechts, die Repräsentationsfähigkeit des EP und damit auch die „politischen Parteien auf der Ebene der Europäischen Union“ vor nicht vertragslegitimen und unverhältnismäßigen Einschränkungen schützt.218 Auf der anderen Seite kann sich aus dem Loyalitätsgebot sogar eine – nach Art 7 EUV zu sanktionierende – Pflicht der Mitgliedstaaten ergeben, iS einer „streitbaren Demokratie“ gegen Parteien einzuschreiten219, die die in Art 6 I EUV genannten Werte nicht achten.220 Gemeint sind die „Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit dem Begriff „Grundfreiheiten“ nicht die Grundfreiheiten des EG-Vertrages (Art 23 ff, 39 ff, 43 ff, 49 ff, 56 ff EG) gemeint sind. Die Formulierung lehnt sich an die Europäische Konvention „zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (EMRK) an.221 Dies ist insofern von Bedeutung, als Parteien, die der europ Integration – ggf auch den gemeinschaftsrechtlich verbürgen „Grundfreiheiten“ – kritisch gegenüber stehen, deswegen allein nicht verboten werden dürfen. Damit besteht erst recht keine mitgliedstaatliche Pflicht zum Einschreiten.
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EuGH, Slg 1990, I-599, Rn 30 – Hecq. Näher Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 740 ff. S mit Hinw auf EGMR, EuGRZ 1980, 36, Rn 3 – Rassemblement jurassien u Unité jurassienne. Vgl Mann (Fn 169) Rn 28. Vgl Mann (Fn 179) Rn 15. Zu möglichen Konflikten mit der Koalitionsfreiheit im Gemeinschaftsrecht Däubler in: FS Hanau, 1999, 489 ff. BVerfGE 104, 214, 218 ff. Ausf Hatje, DVBl 2005, 261, 263 ff. Zu der möglichen Maßnahmen zur Umsetzung des Konzepts einer streitbaren Demokratie Schorkopf Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich, 2001, 125 ff. Hatje DVBl 2005, 261, 266 f; Schorkopf (Fn 219) S 131. Nicht so weitgehend Lange/Schütz EuGRZ 1996, 299, 301. S nur Schorkopf Homogenität in der Europ Union – Ausgestaltung und Gewährleistung der Art 6 I und Art 7 EUV, 2000, 92.
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4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen a) Rechtfertigung auf Grundlage der Grundrechte-Charta Für die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist – wie bei Art 11 GRCh (Rn 21) – nicht die allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCH maßgeblich, sondern als lex specialis Art 52 III GRCh.222 Da Art 12 I GRCh Rechte gewährleistet, die Art 11 I EMRK entsprechen und damit „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben,223 finden die Rechtfertigungsanforderungen des Art 11 II EMRK Anwendung. Wie bei den in Art 10 GRCh gewährleisteten Rechten gilt ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt. Legitime Eingriffszwecke sind nach Art 11 II 1 EMRK die „nationale und öffentliche Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“, die „Verhütung von Straftaten“, der „Schutz der Gesundheit oder Moral“ sowie der „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Geht es nicht um mitgliedstaatliche Maßnahmen, sondern um Beeinträchtigungen durch Einrichtungen der EG muss der Eingriffszweck gemeinschaftsrechtsrechtlich legitim sein, dh im Gemeinschaftsrecht wurzeln oder zumindest angelegt sein.224 Zudem muss die Maßnahme verhältnismäßig sein (Rn 23 f). Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für Angehörige der Polizei, Streitkräfte und Staatsverwaltung sind nach Art 11 II 2 EMRK – der Straßburger Spruchspraxis folgend (→ § 4 Rn 81, 92 ff) – unter weniger strengen Voraussetzungen möglich. Der sog Beamtenvorbehalt gilt auch für Unionsmitarbeiter. Allerdings ist angesichts der Bedeutung der Grundrechte prinzipiell eine restriktive Auslegung angebracht. Zudem müssen Beschränkungen eine gesetzliche Grundlage haben und verhältnismäßig sein. Für Beschränkungen der politischer Parteien auf der Ebene der Union gelten – wie erwähnt (Rn 44 ff) – wegen der Normierung in Art 12 II GRCh bes strenge Anforderungen. In den Mitgliedstaaten können vor allem solche Parteien verboten werden, die gegen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte kämpfen, insb wenn sie rassistische, nationalsozialistische bzw faschistische Ziele verfolgen.225 Dagegen ist aus Sicht des Unionsrechts (vgl Art 6 I EUV) grds nichts einzuwenden.226 Eine Verletzung des Loyalitätsprinzips (Rn 49) kommt erst in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat sein Ermessen offenkundig und schwerwiegend überschreitet.227 Eine gemeinschaftsrechtliche Verbotsregelung könnte sich auf Art 191 II EG stützen.228 Maßgeblich müssten die in Art 6 I EUV genannten Grundsätze sein. Der Umstand, dass Parteien die europ Integration nicht oder nur in einem geringeren Umfang anstreben, genügt vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips für sich genommen zur Begründung eines Parteiverbots nicht (Rn 49).229
222 Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 12 Rn 19; Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 15; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 12 GRCh Rn 8, 12; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 12 GRCh Rn 11. 223 Dies wird teilweise mit der Folge anders gesehen, dass dort, wo die GRCh und die EMRK nicht deckungsgleich sind, die allgm Schrankenregelung der Art 52 I GRCh greift. Vgl Bernsdorf in: Meyer, ChGr, Art 11 Rn 19. 224 Ähnlich Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 15; Bernsdorf in: Meyer ChGr, Art 12 Rn 19. 225 Vgl Hatje DVBl 2005, 263, 266; Schorkopf (Fn 219) S 124 ff (mwN). 226 Zur Rspr des EGMR Schorkopf (Fn 219) S 128 f. 227 So Hatje DVBl 2005, 263, 266. 228 Vgl Schorkopf (Fn 219) S 131 ff; AA Rixen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 12 Rn 15. 229 Anders Hatje DVBl 2005, 268.
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b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 52
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Als „dem Gemeinwohl dienende Ziele der Gemeinschaft“ wurden die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Rs Bosman 230, Lethonen 231, Deliège 232, Laval 233, International Transport Worker’s Federation 234, Schmidberger 235) und des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft (Polypropylen-Kartell 236, Meca-Medina 237) sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des EG-Beamtentums (Rs Maurissen 238 und Hecq 239) und des Europäischen Parlaments (Rs Martinenz 240) anerkannt. Die Rs Schmidberger, in der es um eine Kollision der Versammlungsfreiheit mit Grundfreiheiten ging, macht deutlich, dass der EuGH – wenn auch ohne eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung – wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (Rn 28 ff) „die bestehenden Interessen“ abwägt und „anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls“ prüft, ob das „rechte Gleichgewicht“ zwischen den widerstreitenden Interessen gewahrt worden ist. Im besagten Fall wurde die Intensität der durch die Versammlung auf der Brennerautobahn entstehenden Beeinträchtigungen des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs mit dem Zweck, der Dauer und der Bedeutung der Versammlung abgewogen. Für den Vorrang der Versammlungsfreiheit war ausschlaggebend, dass die Demonstration zum Ziel hatte, über die gesundheitlichen Folgen des zunehmenden Transitverkehrs zu informieren und damit eine im „öffentlichen Leben wichtig erscheinende Meinung“ betraf. Zudem wurde hervorgehoben, dass die Versammlung zeitlich begrenzt war und es sich um eine einmalige, von den staatlichen Stellen genehmigte Aktion handelte.241 Für die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit sind die Rs Laval und International Transport Worker’s Federation charakteristisch. Festgestellt wird zunächst, dass das „Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht anzuerkennen ist“ und dass der Grundrechtsschutz für sich genommen „geeignet ist, eine Beschränkung (…) einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit“ zu rechtfertigen. Bei der Prüfung der Rechtfertigung fand die Koalitionsfreiheit dann aber keine Erwähnung mehr. Für den Gerichtshof war nur noch der Umstand von Bedeutung, dass die „kollektive (…) Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer (…) gegen ein etwaiges Sozialdumping zum Ziel hat, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses im Sinne der Rspr des Gerichtshof“ ist.242 Ent-
230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240
EuGH, Slg 1995, I-04921 – Bosman. EuGH, Slg 2000, I-02681 – Lethonen. EuGH, Slg 2000, I-02549 – Deliège. EuGH, Slg 2007, I-11767 – Laval. EuGH, Slg 2007, I-10779 – International Transport Worker’s Federation. EuGH, Slg 2003, I-05659 – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. EuGH, Slg 1999, I-04539 – Montecatini. EuGH, Slg 2006, I-6991 – Meca-Medina. EuGH, Slg 1990, I-00095 – Maurissen. EuGH, Slg 1990, I-00599 – Hecq. EuG, Slg 2001, II-02823, Rn 233, 145 ff – Martinez; EuGH, Slg 2003, I-13355, Rn 78 ff – Martinez. 241 EuGH, Slg 2003, I-05659, Rn 81, 83 ff – Schmidberger = JK 11/03, EGV Art 28/3. Vgl zum Fall etwa Hochhuth (Fn 27) S 242 ff; Kadelbach/Petersen EuGRZ 2003, 693 ff; Mann/Ripke EuGRZ 2004, 125 ff. Aus österreichischer Sicht Krist ÖJZ 1999, 241 ff. 242 EuGH, Slg 2007, I-11767, Rn 91, 93, 103 – Laval; EuGH, Slg 2007, I-10779, Rn 43 f, 45, 77, 90 – International Transport Worker’s Federation.
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Kommunikationsgrundrechte
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sprechend wurden die mit den von Sportverbänden erlassenen Regelungen einhergehenden Beschränkungen der Grundfreiheiten in den Rs Bosman (Rn 34, Fall 4) und Lethonen nicht direkt mit dem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit abgewogen, sondern allein mit den hinter den Regelungen stehenden Zielen (Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs, Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen und Förderung junger Spieler).243 Dass der Gerichtshof nicht die grundrechtliche Vereinigungsfreiheit als solche mit gegenläufigen Interessen abwägt, sondern nur solche Vereinsinteressen berücksichtigt, die zugleich „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ darstellen, ist misslich, da die spezifischen Eigeninteressen der Verbände – insb die wirtschaftlichen Interessen – auf diese Weise auf der Rechtfertigungsebene unberücksichtigt bleiben.244 Das Gericht verkennt, dass die Verbandsautonomie als solche grds geschützt ist. Wie bei der Versammlungsfreiheit sollte der Schutz des Grundrechtes der Vereinigungsfreiheit unmittelbar in der Abwägung Berücksichtigung finden; Verbandsnormen können nicht nur aus Gründen des Allgemeininteresses, sondern auch durch „zwingende Verbandsinteressen“ gerechtfertigt werden. Lösung Fall 3: Bei der Auslegung einer Richtlinie ist nach ständiger Rspr des EuGH dem Grundsatz der „Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ Rechnung zu tragen. Dies verlangt insb, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ ausgelegt wird. In der dem Fall zugrunde liegenden Rs Werhof betont der Gerichtshof, dass die Vereinigungsfreiheit in Art 11 EMKR verankert sei und zu den Grundrechten gehöre, die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden. Vor diesem Hintergrund wurde eine „dynamische Auslegung“ der in Streit stehenden Richtlinienregelung mit Hinw auf das „Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit“ verworfen, weil andernfalls künftige Kollektivverträge auch für Unternehmenskäufer gelten würden, die dem Kollektivvertrag nicht angehören. E ist damit nicht an die Änderung des Tarifvertrags nach dem Betriebsübergang gebunden. W kommt die vereinbarte Lohnsteigerung nicht zugute. Lösung Fall 4: Zunächst müsste das Gemeinschaftsrecht auf die in Streit stehenden Regelungen der Sportverbände überhaupt anwendbar sein. Insofern betonte der EuGH in der dem Fall zugrundeliegenden Rs Bosman, das „nach den Zielen der Gemeinschaft die Ausübung des Sports insoweit unter das Gemeinschaftsrecht fällt, als sie zum Wirtschaftsleben iSv Art 2 EG gehört“. Dieses trifft auf die Tätigkeit von professionellen Fußballspielern zu. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 39 EG) verbietet sämtliche Regelungen, die die grenzüberschreitende Ausübung einer unselbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit verhindern, erschweren oder weniger attraktiv machen. Um die effektive Wirksamkeit der Grundfreiheit zu gewährleisten, gilt die Normierung nach Ansicht der EuGH „nicht nur für behördliche Maßnahmen“, sondern erstreckt sich „auch auf Vorschriften anderer Art, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen.“ Betont wird, dass „die Beseitigung der Hindernisse für
243 EuGH, Slg 1995, I-04921, Rn 104, 106 – Bosman; EuGH, Slg 2000, I-02681, Rn 53 ff – Lethonen. Vgl zur Berücksichtigung der von den Sportverbänden vertretenen öffentlichen Interessen im Rahmen der Rechtfertigungsgründe Streinz SpuRt 2000, 221, 227. 244 Vgl zur Kritik etwa Groß (Fn 16) S 54; Röthel EuR 2001, 908, 917; Vieweg/Röthel ZHR 166 (2002), 6, 30 ff.
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die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten gefährdet wäre, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, dass nicht dem öffentlichen Recht unterliegenden Vereinigungen von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen“. Damit sind Sportverbände, obwohl sie keine staatlichen Einrichtungen sind, in unmittelbarer Drittwirkung an die Arbeitnehmerfreizügigkeit gebunden. Die Verpflichtung zur Zahlung einer Ablösesumme beschränkt den Zugang der betroffenen Profisportler zu den Märkten in anderen Mitgliedstaaten, weil die Transfersummen Vereine davon abhalten können, bestimmte Spieler zu verpflichten. Fraglich ist, ob die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt ist. Insofern kommt die Vereinigungsfreiheit als Grundrecht der Sportverbände ins Spiel. Der EuGH erklärt zunächst, dass sich der in Art 11 EMRK verankerte Grundsatz aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und zu den in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört. Dann untersucht der Gerichtshof, ob die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist. Der Prüfungsmaßstab überzeugt nicht, weil sich Verbände auch dann auf die Vereinigungsfreiheit berufen können, wenn sie nur im Interesse der Verbandsmitglieder handeln. Im konkreten Fall machten die Sportverbände allerdings Gründe geltend, die zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Ausdrücklich betonte der EuGH, dass „die Zwecke berechtigt sind, die darin bestehen, die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen unter Wahrung einer bestimmten Chancengleichheit und der Ungewissheit der Ergebnisse zu gewährleisten sowie die Einstellung und Ausbildung junger Spieler zu fördern“. Demgemäß stellte sich die Frage, ob die Regelungen hinsichtlich der verfolgten Ziele mit Blick auf die damit verbundene Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit verhältnismäßig waren. Insofern entschied der Gerichtshof, dass die Transferregelung „kein geeignetes Mittel“ sei, um die Chancengleichheit zwischen den Vereinen sicherzustellen, da sie nicht verhindere, dass „die verfügbaren finanziellen Mittel ein entscheidender Faktor beim sportlichen Wettkampf sind“. Allerdings könne die Aussicht auf die Zahlung von Ablösesummen geeignet sein, Vereine zur Ausbildung junger Spieler zu ermutigen. In dieser Hinsicht stellte der EuGH jedoch darauf ab, dass die sportliche Zukunft junger Spieler kaum vorhersehbar sei und die Ablösezahlungen daher einen „Zufallscharakter“ hätten. Unter diesen Umständen könne „die Aussicht auf die Erlangung solcher Entschädigungen weder ein ausschlaggebender Faktor sein, um zur Einstellung und Ausbildung junger Spieler zu ermutigen, noch ein geeignetes Mittel, um diese Tätigkeiten, insb im Fall der kleinen Vereine, zu finanzieren“. Folgt man dem, lässt sich die mit den Transferregelungen verbundene Beeinträchtigung der Arbeitsnehmerfreizügigkeit auch unter dem Gesichtspunkt der Vereinigungsfreiheit der Sportverbände nicht rechtfertigen.
IV. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit Leitentscheidungen: zur Kunstfreiheit EuGH, Slg 1968, 634 – Kommission/Italien; Slg 1979, 35 – ASBL/van Wesemael; Slg 1985, 1819 – Steinhauser; Slg 1993, I-2239 – Fedicine; Slg 1993, I-5145 – Phil Collins/Imtrat; Slg 2002, I-5089 – Land Hessen/Ricordi; Slg 2003, I-2921 – Hoffmann; Slg 2003, I-12489 – RTL Television GmbH/Nds. Landesmedienanstalt; zur Wissenschaftsfreiheit EuGH, Slg 1973, 679 – Kley; Slg 1974, 773 – Casagrande; Slg 1974, 791 – Guillot; Slg 1985, 593 – Gravier; Slg 1989, 1591 – Allué u.a./Università degil studi di Venezia u.a.; Slg 1993, I-4309 – Allué u.a./Università degil studi di Venezia u.a.; Slg 1993, I-5185 – Spotti/Freistaat Bayern; Slg 2001, I-1611 – Connolly = JK 12/01 EGV Art 220/1; Slg 2002, I-1049 – Land NRW/Pokrzeptowicz-Meyer; Slg 2002, I-5811 – Mehrwertsteuerpflicht; Slg 2004, I-6427 – Kommission/Belgien; Slg 2005, I-5969 – Kommission/ Österreich; Slg 2007, I-99 – Lyyski; Slg 2007, I-12231 – Jundt.
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Schrifttum: Britz Die Freiheit der Kunst in der europäischen Kulturpolitik, EuR 2004, 1 ff; Classen Forschungsförderung durch die EG und Freiheit der Wissenschaft, WissR 28 (1995), 97 ff; Fink Gewährt das Recht der Europäischen Gemeinschaften den wissenschaftlichen Hochschulen grundrechtliche Freiheit?, EuGRZ 2001, 193 ff; Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995; Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992; Häberle Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in Berka/Häberle/Heuer/Lerche Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, 37 ff; Hailbronner/Weber Die Hochschulen vor Europäisierung, Zentralisierung, Regionalisierung, WissR 30 (1997), 298 ff; Ruffert Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), 146 ff; Trute/Groß Rechtsvergleichende Grundlagen der europäischen Forschungspolitik, WissR 27 (1994), 203 ff; Wagner Wissenschaftsfreiheit unter Regulierungsdruck, FS Meusel, 1997, 301 ff; Wagner Gibt es ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht?, DÖV 1999, 129 ff; Wagner Rechtliche Rahmenbedingungen für die Wissenschaft und Forschung, 2000, 218 ff.
1. Die Normierung des Art 13 GRCh im Überblick Während in der EMRK die Freiheiten der Kunst und der Wissenschaft nicht textlich, sondern nur als Ausdruck der in Art 10 EMRK garantierten Meinungsfreiheit geschützt sind (→ § 4 Rn 14, 16 – Fall 1, § 4 Rn 24, 29 – Fall 2),245 hat sich in den Beratungen zur Schaffung der Grundrechtecharta die Einsicht durchgesetzt, dass eine ausdrückliche Gewährleistung angebracht ist.246 Demgem heißt es in Art 13 GRCh: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“. Allerdings hebt auch das Konventspräsidium den engen Bezug zur Meinungsfreiheit hervor, indem es betont, dass sich die Gewährleistung „in erster Linie aus der Gedankenfreiheit und aus der Freiheit der Meinungsäußerung (ableitet)“, und erklärt, dass die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit den durch Art 10 II EMRK gestatteten Einschränkungen unterworfen werden kann. Ausdrücklich wird vom Konventspräsidium zudem festgestellt, dass die Freiheiten nur unter Wahrung der in Art 1 GRCh gewährleistete Menschenwürde ausgeübt werden dürfen. Dies führt freilich – wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (Rn 10) – nicht zu einer tatbestandlichen Einschränkung des Schutzbereichs.247 Vielmehr ist aus Gründen der Transparenz auch insoweit an der herkömmlichen dreistufigen Prüfung der Unionsgrundrechte festzuhalten. Allerdings ergeben sich aus Art 1 S 2 GRCh, wonach die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ ist, innerhalb des Kompetenzbereichs der Normadressaten (Rn 3) Schutzpflichten (Rn 19).
245 Vgl zur Kunstfreiheit EGMR, EuGRZ 1988, 543 ff – Müller; EGMR, Urt v 20.09.1994, Nr 13470/87, Rn 42 ff – Otto-Preminger-Institut; EGMR, Urt v 25.11.1996, E 1996, 1913, Rn 36 – Windgrove/Vereinigtes Königreich; EGMR, NJW 1984, 2753 – Sprayer v Zürich; zur Wissenschaftsfreiheit EGMR, Urt v 24.6.1998, ECHR 1998-VI – Hertel/Schweiz; EGMR, NJW 2001, 1195, Rn 36 ff – Wille/Liechtenstein; EGMR, Urt v 29.6.2004, Nr 64915/01 – Chauvy ua/Frankreich (aber mit Schwerpunkt auf die mit dem Verbot der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie einhergehenden presserechtlichen Probleme). Für einen Überbl zu der Gewährleistung der EMRK etwa Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 5 ff. Rechtsvergleichend zum Zusammenhang von Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit Groß Die Autonomie der Wissenschaft im europ Rechtsvergleich, 1992, 116 f. 246 Vgl zur Entstehungsgeschichte etwa Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 1 ff; Mann in: Heselhaus/Nowak, GR, § 26 Rn 64. 247 Vgl Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 754. Gegen immanente Schutzbereichsbegrenzungen aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 146 f.
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Die Gewährleistungen des Art 13 GRCh gehören zum gemeineuropäischen Grundrechtsstandard. Allerdings gibt es im Detail der Gewährleistung unten den Mitgliedstaaten Unterschiede.248 Dies gilt vor allem für die Wissenschaftsfreiheit: Während manche Staaten die Wissenschaft umfassend verfassungsrechtlich schützen, gibt es anderswo nur einfachgesetzliche Verbürgungen. Zudem: Einige Mitgliedstaaten garantieren nur die Freiheit der Forschung, nicht aber die Lehrfreiheit. Es wird vor diesem Hintergrund die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaftsfreiheit überhaupt zu den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ gehört.249 Mittlerweile spricht jedenfalls Art 13 GRCh für die Annahme eines grundrechtlichen Schutzes.250 Im Hinbl auf die in der Präambel hervorgehobenen „gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“ ist auf das Völkervertragsrecht hinzuweisen.251 In Art 19 II IPbpR wird die Kunstfreiheit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zugeordnet. Die Wissenschaftsfreiheit wird nicht erwähnt. Nach Art 15 I lit a und c IPwskR hat jeder das Recht, „am kulturellen Leben teilzunehmen“ und „den Schutz der geistigen und materiellen Interessen zu genießen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Lit oder Kunst erwachsen“. Zudem verpflichtet Abs 3 der Vorschrift die Vertragsstaaten, „die zu wissenschaftlicher Forschung und schöpferischer Tätigkeit unerlässliche Freiheit zu achten“. Im Übrigen lassen sich dem Atomwaffensperrvertrag (1968), dem Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (1996), dem Antarktisvertrag (1959) mit dem Umweltschutzprotokoll (1991) sowie der Bioethik-Deklaration der UNESCO (1997) Anhaltspunkte für die Anerkennung der Forschungsfreiheit entnehmen.252
2. Schutzbereich a) Kunstfreiheit aa) Schutz in der Grundrechte-Charta 58
Die unionsgrundrechtliche Garantie der Kunstfreiheit trägt dem Umstand Rechnung, dass Kunst nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern auch eine Freiheitsbetätigung ist und darüber hinaus für die Union eine Integrationsfunktion hat.253 In „kulturanthropologischer“ Perspektive mag man auch den Menschenwürdegehalt der Kunstfreiheit betonen.254 Alle Rechtsordnungen haben es schwer, das zu bestimmen, was als Kunst bes Schutz genießt. In einer pluralen Gesellschaft darf das, was Kunst ist bzw nach Ansicht
248 Vgl den Überbl von Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 17 ff. Zur Freiheit der Kunst in rechtvergleichender Sicht Häberle (Fn 7) S 49 ff. Ausf zur Wissenschaftsfreiheit Groß (Fn 245); Mann (Fn 246) Rn 19 ff. 249 Vgl Classen WissR 28 (1995), 97, 99 f; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 283 („eher schwacher Schutz“); Fink EuGRZ 2001, 193 ff; Mann (Fn 246) Rn 49 f; 298, 318; Trute/Groß WissR 27 (1994), 203, 236 f; Wagner DÖV 1999, 129 ff. 250 So auch unabhängig von Art 13 GRCH Groß (Fn 245) S 173 ff. 251 S dazu im Überbl Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 276 ff; Groß (Fn 245) S 177 ff; Haratsch in: Heselhaus/Nowak, GR, § 25 Rn 4; Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 22; Mann (Fn 246) Rn 55; Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 166 ff. 252 Näher Wagner DÖV 1999, 129, 133 ff. 253 Vgl Britz EuR 2004, 1, 2 ff; Sommermann VVDStRL 65 (2006), 7, 24 ff. 254 Vgl Häberle (Fn 7) S 43 ff („Der Mensch verdankt seinen ‚aufrechten Gang‘ wesentlich der Kunstfreiheit.“).
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der Betrachter sein soll, nicht zu eng definiert werden. Die Definition des BVerfG im Mephisto-Beschluss bietet einen Anhaltspunkt. Demnach ist das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die „freie schöpferische Gestaltung“, in der „Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmen Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden“.255 Wertende Einengungen darf es jedenfalls nicht geben. Auch neue Kunstformen und Kunstrichtungen sind grundrechtlich geschützt. Die Offenheit des Kunstbegriffs korrespondiert freilich mit der – gleich zu erörternden (Rn 63 f) – Möglichkeit, eine Beeinträchtigung der Kunstfreiheit zu rechtfertigen. Auf die Kunstfreiheit können sich nicht nur Künstler für ihren „Werkbereich“ berufen, sondern auch sog Kunstmittler, die etwa als Interpreten, Verleger, Galeristen, Produzenten im „Wirkbereich“ der Kunst tätig sind.256 Werk- und Wirkbereich stellen eine „unlösbare Einheit“ dar.257 bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Die von Art 13 GRCh erfassten Grundrechte haben beim EuGH bislang kaum eine Rolle gespielt. Der Sache nach wird die Kunstfreiheit aber auch durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten geschützt.258 EuGH-Entscheidungen machen deutlich, dass Kunstgegenstände von der Warenverkehrsfreiheit (Art 28 ff EGV) erfasst werden,259 künstlerische Darbietungen den Schutz der Dienstleistungsfreiheit (Art 49 ff EGV) genießen260 und die innergemeinschaftliche Mobilität der selbständigen oder abhängig beschäftigten Künstler und Kunstmittler von der Freiheit des Personenverkehrs (Art 39 ff, 43 ff EGV) erfasst wird.261 Zudem gibt es einige Entscheidungen, die sich mit dem Kunstsektor unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbots beschäftigten.262
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b) Wissenschaftsfreiheit aa) Schutz in der Grundrechte-Charta Die Kunst- und die Wissenschaftsfreiheit sind als Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung eng miteinander verbunden.263 Entspr der vor allem auf Wilhelm v Humboldt zurück-
255 BVerfGE 30, 173, 188 f – Mephisto-Beschluss. S a BVerfGE 67, 213, 226 – Anachronistischer Zug; 83, 130, 138 – Josefine Mutzenbacher. Ebenso für Art 13 GRCh etwa Haratsch (Fn 251) Rn 11; Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 10 f; Jarass, GR, Art 13, Rn 5; Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 759; Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 GRCh, Rn 3. 256 Vgl EGMR, Urt v 20.09.1994, Nr 13470/87, Rn 55 f – Otto-Preminger-Institut, sowie etwa Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 GRCh, Rn 3. Restriktiver Haratsch (Fn 251) Rn 13. Zur „offenen Gesellschaft der Kunstinterpreten“ Häberle (Fn 7) S 68 ff. 257 BVerfGE 30, 173, 189 – Mephisto-Beschluss; 67, 213, 224 – Anachronistischer Zug; 77, 240, 253 f – Herrnburger Bericht. 258 Vgl im Überbl und zum Verhältnis der Kunstfreiheit zu den Grundfreiheiten Geißler Staatliche Kunstförderung nach Grundgesetz und Recht der EG, 1995, 189 ff; Haratsch (Fn 251) Rn 22 ff. 259 Vgl EuGH, Slg 1968, 634, 642, Rn – Kommission/Italien. 260 Vgl EuGH, Slg 1979, 35 – ASBL/van Wesemael; EuGH, Slg 1993, I-2239 – Fedicine. 261 Vgl EuGH, Slg 1985, 1819, Rn 3, 14 f – Steinhauser. 262 Vgl EuGH, Slg 1993, I-5145, Rn 27 f – Phil Collins/Imtrat; EuGH, Slg 2002, I-5089, Rn 31 – Land Hessen/Ricordi; EuGH, Slg 2003, I-2921 – Hoffmann; EuGH, Slg 2003, I-12489, – RTL Television GmbH/Nds. Landesmedienanstalt. S dazu etwa Rengeling/Szczekalla, GR, Rn 755 f. 263 Vgl Häberle (Fn 7) S 70.
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gehenden dt Tradition264 ist Wissenschaft der Oberbegriff für Forschung und Lehre.265 Was die Forschung angeht, die nach Art 13 S 1 GRCh „frei“ ist, kann man sich wieder an einer Definition des BVerfG orientieren, das „jegliches nie ganz abschließendes, nach Inhalt und Form ernsthaftes und planmäßiges Bemühen um Wahrheit“ als schutzwürdig ansieht.266 Erfasst wird damit auch die Forschung abseits des main stream.267 Zudem kommt es nicht darauf an, ob die Forscher in staatlichen oder staatlich anerkannten Einrichtungen tätig sind. Vielmehr sind auch die rein private Forschungstätigkeit (etwa die wissenschaftliche Nebentätigkeit von Anwälten und Ärzten) und die Forschung in Unternehmen geschützt, soweit die dort Tätigen über hinreichende wissenschaftliche Unabhängigkeit verfügen.268 Die wissenschaftliche Lehre ist Teil der nach Art 13 S 2 GRCh zu achtenden „akademischen Freiheit“. Dieser Begriff verweist – in Abgrenzung von der in Art 14 GRCh geregelten Ausbildung 269 – auf die in den wissenschaftlichen Hochschulen („Akademien“) zusammengefassten Erscheindungsformen der Lehre.270 Daraus kann man freilich nicht den Schluss ziehen, dass sich die grundrechtlich geschützte Lehre darauf beschränkt. Wie bei der Forschungsfreiheit kommt es nicht darauf an, ob die wissenschaftlich Lehrenden in staatlichen oder staatlich anerkannten Einrichtungen tätig sind. Vielmehr gehört zur Lehre in Anlehnung an die Rspr des BVerfG jede wissenschaftlich fundierte Übermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse. Jeder, der eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise tätig ist oder tätig werden will, muss sich umfassend auf die in Art 13 GRCh gewährleistete Wissenschaftsfreiheit berufen können.271 Allerdings macht der in Art 13 S 2 GRCH verwandte Begriff „akademische Freiheit“ deutlich, dass sich die Wissenschaftsfreiheit als Doppelgrundrecht darstellt.272 Geschützt werden nicht nur Forschungs- und Lehrtätigkeiten einzelner Wissenschaftler, sondern auch die Wissenschaftseinrichtungen als Institutionen. Dem entspricht, dass die
264 Vgl etwa E. R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 1, 1957, 285 ff; sowie im Hinbl auf die Wissenschaftsfreiheit im Gemeinschaftsrecht Mann (Fn 246) Rn 3 f. 265 BVerfGE 35, 79, 113 – Hochschulurteil. Zur dt Wissenschaftsfreiheit etwa Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 57 ff, 94 (zur Einheit von Forschung und Lehre); in rechtsvergleichender Perspektive Groß (Fn 245) S 37 ff. 266 BVerfGE 35, 79, 113 – Hochschulurteil. Wie hier Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 12. Etwas anders Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 GRCh, Rn 6, der nicht auf die Wahrheitssuche, sondern auf die „Generierung neuen Wissens“ abstellt. Im Hinbl auf das dt Recht Classen Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, 72 ff; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 60 ff, 71 ff; Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 152 ff; Schulte VVD StRL 65 (2006), 110, 111 f. 267 Vgl hierzu u zu den Grenzen BVerfGE 90, 1, 13 ff – „Wahrheit für Deutschland – Die Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges“. 268 S nur Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 12. Zum dt Recht Classen (Fn 266); Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 135 f; Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 179. Kritisch Kleindiek Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998, 261 ff. 269 In Art 14 III GRCh wird die „Freiheit zur Gründung von Lehranstalten“ angesprochen. Vgl zum Verhältnis von Art 13 u 14 GRCh etwa Bernsdorf in: Meyer, ChGR, Art 13 Rn 12. 270 Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 13. 271 Vgl BVerfGE 35, 79, 112 f – Hochschulurteil; 95, 193, 209 f – Hochschullehrer der DDR. Aus dt Sicht etwa Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 83 ff. 272 Dies war bislang nicht ganz zweifelsfrei. Vgl Classen WissR 28 (1995), 97, 99 f; Fink EuGRZ 2001, 193 ff; Hailbronner/Weber WissR 30 (1997), 298, 318; Trute/Groß WissR 27 (1994), 203, 236 f. Für eine institutionelle Autonomie nach ausf Länderberichten Groß (Fn 252) S 175.
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Autonomie wissenschaftlicher Hochschulen in vielen Mitgliedstaaten üblich ist.273 In der Rs Kley, in der es um einen Beamten der Europäischen Atomgemeinschaft ging, der als habilitierter Diplomphysiker auf dem Gebiet der Neutronenforschung am Forschungsinstitut Ispra in Italien arbeitete, hat der Generalanwalt Trabucchi die „besonderen Erfordernisse für die Arbeit einer Forschungsanstalt“ hervorgehoben und verlangt, dass „sowohl die Beachtung der Rechte des Einzelnen als auch die erforderliche Eigenständigkeit des Organs sichergestellt werden“.274 Der EuGH ging auf die damit aufgeworfenen Fragen zum Ausmaß der Freiheit von Forschung und Lehre nicht ein. bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Allgemein muss festgestellt werden, dass der Luxemburger Gerichtshof in Rs mit einem wissenschaftsrelevanten Sachverhalt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit – anders als die Generalanwaltschaft – nicht heranzieht.275 Dass das Diskriminierungsverbot iVm dem Recht auf Freizügigkeit einen Anspruch darauf vermittelt, beim Zugang zu wissenschaftlichen Hochschulen nicht wegen der Staatsangehörigkeit benachteiligt zu werden, lässt sich der Entscheidung in der Rs Gravier entnehmen. Darin stellte der EuGH fest, dass eine Französin, die in Belgien ein Kunststudium absolvieren wollte und dafür Studiengebühren zahlen sollte, nicht schlechter gestellt werden durfte als die belgischen Studierenden, die keine Studiengebühren zu zahlen hatten.276 In ähnlich gelagerten Fällen sah der EuGH in den Zulassungsvoraussetzungen zu den österreichischen bzw belgischen Universitäten einen Verstoß gegen das allgem Diskriminierungsverbot.277 Ob die Freiheit Wissenschaft durch die ausdrückliche Gewährleistung in Art 13 GRCh in Zukunft eine größere Bedeutung erhalten wird, bleibt abzuwarten. Immerhin sieht sich die Forschungsfreiheit vor allem im Umwelt-, Gesundheits- und Technikrecht der Gemeinschaft vielfältige Regulierungen ausgesetzt.278 273 So Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 13. Zur verfassungsrechtlichen „institutionellen Gewährleistung“ den Universitäten in Deutschland etwa BVerfGE 15, 256, 262, 263 ff – Universität Gießen; 35, 79, 114 ff – Hochschulurteil; sowie etwa Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 29 ff. In rechtsvergleichender Perspektive Groß (Fn 245) S 40 ff. 274 EuGH, Slg 1973, 679, 693 – Kley. Dazu etwa Groß (Fn 245) S 173 ff; Mann (Fn 246 Rn 57 f. 275 Vgl EuGH, Slg 1973, 679 – Kley; EuGH, Slg 1974, 791 – Guillot; EuGH, Slg 2002, I-5811 – Mehrwertsteuerpflicht, sowie dazu Groß (Fn 245) S 173 ff; Mann (Fn 246) Rn 56 ff; Fink EuGRZ 2001, 193, 197 ff. 276 EuGH, Slg 1985, 593, Rn 26 – Gravier. Vgl zur Arbeitnehmerfreizügigkeit auch EuGH, Slg 1974, 773 – Casagrande; EuGH, Slg 1989, 1591 – Allué ua/Università degil studi di Venezia ua; EuGH, Slg 1993, I-4309 – Allué ua/Università degil studi di Venezia ua; EuGH, Slg 1993, I-5185 – Spotti/Freistaat Bayern; EuGH, Slg 2002, I-1049 – Land NRW/Pokrzeptowicz-Meyer; EuGH, Slg 2007, 99 – Lyyski; vgl zur Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 2007, 12231 – Jundt. Aus der Lit s etwa Fink EuGRZ 2001, 193, 192 ff; Hailbronner/Weber WissR 30 (1997), 298, 309 ff; Weberling WissR 24 (1991), 123, 126 ff. 277 Vgl zu Österreich EuGH, Slg 2005, 5969, Rn 41 ff – Kommission/Österreich. Gefordert wurde von Bewerbern, die ihren Sekundarschulabschluss in einem anderen Mitgliedsstaat erworben haben, dass sie auch die dortigen Zulassungsvoraussetzungen für den Studiengang erfüllen. Der EuGH betonte, dass diese zusätzliche Bewerbungsvoraussetzung Bewerber aus anderen Mitgliedsstaaten mittelbar gegenüber österreichischen Bewerbern, die lediglich die allgem Hochschulreife nachweise müssen, diskriminieren. Vgl zu Belgien EuGH, Slg 2004, 6427, Rn 31 – Kommission/Belgien. 278 Vgl zur Bedeutung des europ Gemeinschaftsrechts für die Forschung Wagner DÖV 1999, 129 ff.
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3. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs 62
Hinsichtlich der möglichen Beeinträchtigungen der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ergeben sich keine Besonderheiten. Wie bei den anderen Kommunikationsgrundrechten (Rn 19, 47 ff) gilt ein weiter Eingriffsbegriff. Gem Art 51 I GRCh schützen die Freiheiten vor jeglichen Beeinträchtigungen, die von Organen und Einrichtungen der Union (einschließlich der EG) sowie von Mitgliedstaaten ausgehen, wenn es um die „Durchführung von Unionsrecht“ (Rn 2) handelt. Ggf. müssen die Hoheitsträger im Rahmen ihres Kompetenzbereichs (Rn 3) aufgrund einer Schutzpflicht einschreiten, wenn die Freiheit der Kunst oder der Wissenschaft durch Private (die allerdings ihrerseits auch Träger der Grundrechte sein können 279) beeinträchtigt werden.280 Dabei ist das Spezifische der „Ressortforschung“ in außeruniversitären staatlichen Einrichtungen und der „Industrieforschung“ zu beachten.281 Zudem muss es Besonderheiten für das Nebentätigkeitsrecht geben.282 Im Hinbl auf die Kunstfreiheit wird von einer Verpflichtung zur „Vielfaltsvorsorge“ ausgegangen.283 Diese Einschätzung kann immerhin auf Judikatur des EuGH zur Pluralität der Medien verweisen (Rn 17 f). Die „Gewährleistungsverantwortung“ in den Bereichen der Wissenschaft und Kunst liegt freilich vor allem bei den Mitgliedstaaten.284 Einen individualrechtlichen Anspruch auf Förderung verleihen die Rechte aus Art 13 GRCh jedenfalls nicht. Ausdrücklich betont Art 51 II GRCh, dass die Charta keine neue Zuständigkeiten begründet. Allerdings gelten grundrechtliche Maßstäbe, wenn Kunst (vgl für die Gemeinschaft Art 3 I lit q, Art 151 EGV) und Wissenschaft (vgl Art 163 ff EGV) gefördert werden.285 Prinzipiell gefährden Fördermaßnahmen die grundrechtlichen Freiheiten zwar nicht, sondern nutzen ihnen.286 Bei der Gestaltung des Auswahlverfahrens ist der Grundrechtsschutz aber relevant. Um Willkür auszuschließen, müssen etwa die Kriterien der Auswahlentscheidung vorab festgelegt werden. Zudem muss es Regeln über die sachverständige Besetzung der Auswahlgremien geben. Zu Recht wird auch darauf hingewiesen, dass inhaltlich-organisatorische Vorgaben in europ Forschungsförderungsprogrammen oder auch – was der sog Bologna-Prozess zeigt – hinsichtlich der Gestaltung von Studiengängen in Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit umschlagen können.287
279 Vgl zur „janusköpfigen Grundrechtssituation“ aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 19. 280 Vgl Britz EuR 2004, 1, 17 f; Haratsch (Fn 251) Rn 15. Zu Fragen einer mittelbaren Drittwirkung aus dt Perspektive Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 51 ff. 281 Vgl Classen (Fn 266), speziell zur Ressortforschung 348 S ff; Kleindiek (Fn 268) S 295 ff (zur Ressortforschung), 318 ff (zur Industrieforschung). 282 Vgl im Hinbl auf das dt Recht Classen (Fn 266) S 301 ff, 353 ff. 283 S Britz EuR 2004, 1, 17 f. Zur Verpflichtung des Staates zur Kunstförderung Geißler (Fn 258) S 46 ff. 284 Grundlegend zur Kategorie der Gewährleistungsverantwortung Schmidt-Aßmann in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, 11, 43 f. 285 Vgl zur Kunstfreiheit Britz EuR 2004, 1, 7 ff; 21 ff; Geißler (Fn 258) S 172 ff; Häberle (Fn 7) S 83 ff; zur Wissenschaftsfreiheit Classen WissR 28 (1995), 97, 104 ff; Mann (Fn 246) Rn 51 ff; Schulte VVDStRL 65 (2006), 110, 123 f; Trute/Groß WissR 27 (1994), 203, 236 f, 242 ff; Wagner FS Meusel, 1997, 301, 322 ff. 286 Zu den Bedenken gegenüber einer staatlichen Kunstförderung Geißler (Fn 258) S 34 ff; Sommermann VVDStRL 65 (2006), 7, 10 f. 287 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 GRCh, Rn 12. Zum Bologna-Prozess etwa Hendler VVDStRL 65 (2006), 238, 260 ff; Mager VVDStRL 65 (2006), 274, 306 ff.
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4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Obwohl Art 13 S 1 GRCh apodiktisch betont, dass Kunst und Forschung „frei“ sind, lassen sich Eingriffe in die Freiheiten rechtfertigen. Legt man die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfassten Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents zugrunde, ist gem Art 52 III GRCh Art 10 II EMRK (Rn 21, 50) heranzuziehen, soweit sich die Gewährleistungen mit Art 10 EMRK decken. Sonst gilt die allgem Schrankenregelung des Art 52 I GRCh.288 Dass die akademische Freiheit nach Art 13 S 2 GRCh lediglich zu „achten“ ist, hat nicht einen schwächeren Schutz dieser Freiheit zur Folge. Entspr dem Schutz der Medienfreiheit (Rn 24) wird nur deutlich, dass insoweit die mitgliedstaatlichen Kompetenzen Vorrang haben.289 Insb können Grundrechtskollisionen Beeinträchtigungen der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen. Vom EGMR ist die Freiheit der künstlerischen Äußerung zum Schutz der Moral und der religiösen Überzeugungen anderer für einschränkbar gehalten worden (→ § 4 Rn 14 ff, Fall 1).290 Auch der Schutz der Ehre und der Schutz hoheitlicher Symbole können zu rechtmäßigen Einschränkungen der Kunstfreiheit führen.291 Regelungsbedürftig ist auch die Forschungsfreiheit, da die Wissenschaft Teil der heutigen „Risikogesellschaft“ ist.292 Die biomedizinische Forschung wird durch eine ausf Regelung in Art 3 II GRCh erfasst. Diese enthält ein Einwilligungserfordernis und verschiedene Verbote (eugenische Praktiken, Gewinnerzielung mit Teilen des menschlichen Körpers, reproduktives Klonen von Menschen).293 Auch Belange des Tierschutzes können eine Rolle spielen.294 Die Kommission hat eine Europäische Charta für Forscher formuliert und als Empfehlung an die Mitgliedstaaten gerichtet.295 Der Hinw des Präsidiums des Grundrechtekonvents auf die Menschenwürde macht deutlich, dass sich aus deren Beachtung Eingriffe in die Kunst- und Wissenschaft rechtfertigen lassen.296 Insofern besteht innerhalb der Kompetenzen der Normadressaten (Rn 3) sogar eine ausdrückliche Schutzpflicht; nach Art 1 S 2 GRCh ist die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“.
288 Vgl Bernsdorf in: Meyer, GRCh, Art 13 Rn 13; Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 286. Für eine einheitliche Schrankenregelung Haratsch (Fn 251) Rn 18. 289 S etwa Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 13 Rn 16; Sparr in: Schwarze, EUV, Art 13 GRCh Rn 3; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 13 GRCh Rn 5. 290 Vgl EGMR, EuGRZ 1988, 543, Rn 34 ff – Müller; EGMR, Urt v 20.09.1994, Nr 13470/87, Rn 46 ff – Otto-Preminger-Institut (vgl dazu ausf Grabenwarter ZaöRV 55 (1995), 128 ff). 291 Vgl Haratsch (Fn 251) Rn 19 mwN. Zum Schutz der Bundesflagge BVerfGE 81, 278 ff 292 Vgl Kleindiek (Fn 268). Vgl auch Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 193 ff („Wissenschaftsfreiheit im Risikoverwaltungsrecht“). 293 Vgl zu den Problemen etwa Ruffert VVDStRL 65 (2006), 146, 196 ff. 294 Vgl etwa die Richtlinie des Rates 86/609/EWG v 24.1.1986 zur Annäherung des Rechts- u Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (ABl Nr 358 v 18.12.1986, 1). S a Herrer in: Caspar/Koch, Tierschutz für Versuchstiere – Ein Widerspruch in sich?, 1998, 33 ff. Aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 177. 295 ABl 2005 Nr L 75/67. Näher Kallmayer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 163 Rn 15. 296 Vgl aus dt Sicht Fehling in: Bonner Komm, 2004, Art 5 III Rn 166.
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§ 16.3 Grundrecht der Berufsfreiheit Matthias Ruffert Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1974, 491 – Nold = JK 01/99, EGV Art 215 II/1; Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat (Bananen) = JK 02/94, EWGV Art 185/2, 186/2. Schrifttum: Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; Glos Die deutsche Berufsfreiheit und die europäischen Grundfreiheiten, 2003; Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998; Rengeling Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl 2004, 453 ff; Schwier Der Schutz der „unternehmerischen Freiheit“ nach Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2008; Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000.
I. Schutzbereich 1. Funktion, Bedeutung und Quellen des Unionsgrundrechts der Berufsfreiheit 1
2
Neben der Gewährleistung des Eigentums (→ § 16.4) ist das Grundrecht der Berufsfreiheit das zentrale wirtschaftliche Grundrecht.1 Nach dem vom dt Verfassungsrecht genährten Vorverständnis, das sich jedoch durchaus rechtsordnungsübergreifend fassen lässt, gewährleistet das Grundrecht jedem die Freiheit, seinen Lebensunterhalt durch eine dauerhafte Tätigkeit zu verdienen, mithin die wirtschaftliche Seite des „Strebens nach Glückseligkeit“ (pursuit of happiness) amerikanischer Herkunft. Indes lassen sich genauer Inhalt und Schranken der Gewährleistung in jeder durch Grundrechte geprägten oder beeinflussten Rechtsordnung nur unter Rückgriff auf ihre historisch gewachsene Wirtschaftsverfassung ermitteln.2 Das Schutzniveau des Grundrechts der Berufsfreiheit hängt von Sachund Normstrukturen ab, die gleichsam im Vorfeld des Verfassungsrechts entstanden sind, was umso mehr für eine Grundrechtsordnung ohne verbindlichen, geschriebenen Grundrechtskatalog gilt. Im Gemeinschaftsrecht entfaltet sich das Grundrecht der Berufsfreiheit in einem Spannungsfeld verschiedener normativer Grundentscheidungen, die sich bisweilen kaum miteinander vereinbaren lassen und eine effektive Gewährleistung des Grundrechts erschweren. Erster und wichtigster Ausgangspunkt ist das Binnenmarktziel. Grundfreiheiten und Rechtsangleichung bezwecken die Herstellung (binnen-)grenzüberschreitender Privatautonomie im gesamten Gemeinschaftsgebiet, mithin die freie ökonomische Entfaltung der Wirtschaftssubjekte in der Gemeinschaft.3 Die Grundfreiheiten erreichen dies dadurch, dass sie einen grundsätzlichen Rechtfertigungszwang für solche mitgliedstaatlichen Regelungen hervorrufen, die zu einer Beschränkung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivität – Warenhandel, unselbständige Tätigkeit, Dienstleistung, Niederlassung, Kapital-
1 Vgl Jarass GR, § 21 Rn 2. 2 Vgl Pitschas Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, 249 ff, 253 ff; Uber Freiheit des Berufs, 1952, 113 ff; Papier in: Benda/Maihofer/Vogel Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl 1994, § 18, Rn 5 ff und 34–36; Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar Bd II, 2006, Art 12 Rn 85–88. 3 Müller-Graff in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, vor Art 30–37 EGV Rn 3.
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fluss – führen.4 Mit Hilfe der Rechtsangleichung werden Hindernisse minimiert, die infolge der legitimen Wahrnehmung von Gemeinwohlbelangen durch mitgliedstaatliche Regelungen entstehen. Darüber hinausgehend soll die Wettbewerbspolitik Störungen der Wirtschaftsfreiheit durch private Übermacht auf dem Markt verhindern. Flankiert wird dieser Schutz grenzüberschreitender ökonomischer Betätigung schließlich durch die Währungsunion. Konsequent ist die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft seit dem Vertrag von Maastricht ausdrücklich dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet (Art 4 I, 98 S 2 EGV/119 I, 120 S 2 AEUV).5 Diese Orientierung verstärkt sich noch durch die Einbindung in die Welthandelsorganisation WTO (Art 11 I WTO-Übk), deren Ziel ebenfalls im Abbau von Handelsschranken besteht, wenn auch die einzelnen Wirtschaftssubjekte aus dem WTO-Recht (noch) keine Individualberechtigungen ableiten können. Elemente der Berufsfreiheit sind außerdem in wichtigen Menschenrechtsinstrumenten garantiert,6 und vor allem gewährleistet auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Art 15 I das Recht, einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, sowie in Art 16 die unternehmerische Freiheit – unter Rückgriff auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten7. In ihrer Gesamtschau könnten sämtliche beschriebene Grundentscheidungen des Europarechts den idealen Nährboden für eine weitreichende Gewährleistung der Berufsfreiheit bieten. Gerade weil der Boden für die Berufsfreiheit so sicher scheint, musste sich keine der Leitentscheidungen des EuGH zum Grundrecht der Berufsfreiheit mit dem dargestellten Themenkreis befassen, sondern die überwiegende Spruchpraxis der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, die auf die Berufsfreiheit Bezug nimmt, betrifft die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).8 In ihr liegt der zweite Ausgangspunkt für den sachlich-normativen Rahmen der Gewährleistung eines Grundrechts der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht. Kern der GAP sind die europäischen Marktordnungen nach Art 34 I UAbs 2 lit c EGV (40 I UAbs 2 lit c AEUV). Die vollständige hoheitliche Regulierung der Agrarmärkte, wie sie diese Marktordnungen vor allem durch Preisfestsetzungen, Interventionen und die Zuteilung von Referenzmengen bewirken, sind grundsätzlich nicht verträglich mit einer übergreifenden und vorrangigen Gewährleistung privater wirtschaftlicher Betätigung, wie sie im Grundrecht auf Berufsfreiheit enthalten ist.9 Gleiches galt – mit Modifikationen – für
4 S dazu Feger RdA 1987, 13, 16; Notthoff RIW 1995, 541, 544 f. 5 S nur Schliesky Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl 2008, 22 ff; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 683, 692 f. Zur Diskussion einer Schwächung durch den Vertrag von Lissabon Kotzur in: Pernice (Hrsg), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, 197. 6 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (GA Res 217A (III), GAOR, 3rd Sess, Part I, S 71 – Sart II Nr 19): Art 12 (Abwehrrecht gegen Eingriffe in Beruf), Art 23 Nr 1 (Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen, Schutz vor Arbeitslosigkeit). Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNTS 993, 3 – Sart II Nr 21): Art 6 I (Recht, Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu verdienen), Art 7 lit c (Möglichkeit beruflichen Aufstiegs). Vgl Stadler Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, 1980, 100 ff. 7 S Tettinger NJW 2001, 1010, 1014. 8 Vgl Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, 1998, 18. 9 Vgl Kluth Jura 2001, 371 ff.
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die regulierten Kohle- und Stahlmärkte nach dem EGKSV.10 Dieser Systembruch hat dazu geführt, dass der EuGH bislang keine gemeinschaftsrechtliche Regelung im Rahmen der GAP wegen eines Verstoßes gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aufgehoben hat. Namentlich im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation unterliege die Berufsfreiheit Beschränkungen.11 Die Konzentration auf das gemeinschaftsrechtliche Sonderproblem GAP lenkt zugleich die Aufmerksamkeit von der grds Kollision zwischen Berufsfreiheit einerseits und nichtwirtschaftlichen sowie sozialen Gemeinwohlbelangen andererseits ab. Dies mindert – zu Unrecht – das Gewicht des dritten Ausgangspunktes. Als Wirtschaftsgrundrecht steht die Berufsfreiheit in einem engen Bezug zu den sozialen Gewährleistungen. Das aus der historischen Situation zu erklärende Unvermögen, soziale Fragen in der Formulierung von Menschenrechten und Grundfreiheiten aufzuarbeiten, führte nicht nur dazu, dass die Eigentumsgarantie erst im Zusatzprotokoll von 1952 Eingang in die EMRK fand, sondern auch, dass das Grundrecht der Berufsfreiheit überhaupt nicht in die EMRK aufgenommen wurde12 – sieht man von dem Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit ab, das nur einen Teilaspekt (ähnlich Art 12 II GG) betrifft,13 nicht jedoch die Berufsfreiheit allgem schützt. Zu berücksichtigen sind allerdings einzelne Gewährleistungen der Europäischen Sozialcharta (1961), die, obwohl in Art 6 II EUV (Art 6 II EUV-E) nicht ausdrücklich erwähnt, zum Gemeingut der europäischen Grundrechtsüberlieferung gezählt werden muss (s a Art 136 I EGV/151 I AEUV), freilich unter Beachtung ihrer nur relativen Verbindlichkeit nach Art 20 I Sozialcharta (→ § 5 Rn 62 ff).14 Die damit angesprochenen Gewährleistungsinhalte (Recht auf Arbeit, gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Arbeitsentgelt, Bildung von Vereinigungen, Kollektivvereinbarungen, Jugendschutz, Schutz von Arbeitnehmerinnen, Berufsberatung, Ausbildung, soziale Sicherheit im weitesten Sinne) haben einen evidenten Bezug zur Idee sozialer Grundrechte. In dieser Weise ist auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union orientiert. Sie enthält in Art 15 I nicht nur das Grundrecht der Berufsfreiheit im klassischen Sinne, sondern überdies das „Recht zu arbeiten“. Drittstaatsangehörigen wird der Anspruch eingeräumt, unter Bedingungen wie die Unionsbürger zu arbeiten,
10 Dazu nur die Leitentscheidung EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold. 11 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1991, I-415, Rn 73 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt; Slg 1995, I-3115, Rn 55 – Fishermen’s Organisations; Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish. EuG, Rs T-19/01, Slg 2005, II-315 (Chiquita). Mit Recht krit Rengeling DVBl 2004, 453 (458). Differenzierend Nowak in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30, Rn 40. 12 Golsong in: Mosler/Bernhardt/Hilf Grundrechtsschutz in Europa, 1977, 7, 9; Bartsch EuR 1979, 105, 109; Partsch in: Bettermann/Neumann/Nipperdey Die Grundrechte I/1, 1966, 235, 351; Frowein in: Isensee/Kirchhof (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd VII, 1992, § 18 Rn 24; Borrmann Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, 150 f. Zu möglichen für die Berufsfreiheit relevanten Inhalten Blanke in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 15 Rn 12 ff. 13 Stadler (Fn 6) S 105 f. Die EKMR hat es abgelehnt, die Vorschrift im Sinne einer allgem Garantie der Berufsfreiheit auszulegen, vgl EKMR, Nr 1468/62, Iversen/Norwegen Jahrbuch VI, 278, 328; kritisch Partsch (Fn 12) S 347 f. 14 Birk in: Richardi/Wlotzke (Hrsg) Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht I, 2. Aufl 2000, § 17 Rn 94; Gomien/Harris/Zwaak Law and practice of the European Convention on Human Rights and the European Social Charter, 1996, 379; Blumenwitz NJW 1989, 621, 624.
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sofern sie legalen Zugang zu den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten haben. Eine ganze Reihe sozialer Rechte flankiert diese Gewährleistungen: 15 Anhörung von Arbeitnehmern (Art 27), Kollektivverhandlungen bzw -maßnahmen (Art 28), Arbeitsvermittlung (Art 29), Kündigungsschutz (Art 30), gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art 31), Verbot der Kinderarbeit bzw Jugendschutz (Art 32) sowie Mutterschutz (Art 33). Auch jenseits sozialpolitischer Vorgaben und Ziele 16 ist an den Ausgleich zwischen Berufsfreiheit und Gemeinwohlbelangen zu denken, etwa im Bereich des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes17 sowie der Koordinierung von Berufszugangsregeln im Binnenmarkt.18 Vor diesem Hintergrund sind die Gewährleistungen des Grundrechts der Berufsfreiheit in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Rechtserkenntnisquellen (→ § 14 Rn 8) einzubeziehen.19 Nahezu alle geschriebenen Verfassungen der Mitgliedstaaten enthalten das Grundrecht.20 Auch das common law Englands verbürgt die Berufsfreiheit mit unterschiedlichen Bezeichnungen – right to work, right to earn a living, interest in pursuing a livelihood 21 –, und auch ohne ein geschriebenes Grundrecht ist die Berufsausübung im Interesse der Wirtschaftssubjekte in England weniger dicht reguliert als in Kontinentaleuropa.22 Ebenso ist die Berufsfreiheit in den Verfassungen wichtiger 2004 beigetretener Länder garantiert.23 In Frankreich wird die Unternehmerfreiheit (liberté d’entreprendre) in Art 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verortet, dem Recht, alles tun zu dürfen, was anderen nicht schadet.24 Aus zwei revolutionären Gesetzen von 1791 wurde der heute gültige allgem Rechtsgrundsatz der liberté du commerce et de l’industrie abge-
15 Vgl nur Mahlmann ZEuS 2000, 419, 432 f. 16 In diese Richtung etwa EuGH, Slg 1997, I-4475, Rn 73 – SAM Schiffahrt und Stapf. 17 Umweltschutz: EuGH, Slg 1985, 531, Rn 13 – ADBHU; Slg 1990, I-4071, Rn 28 – Marshall; Verbraucherschutz: Slg 1986, 2897, Rn 14 – Keller; Slg 1994, I-5555, Rn 25 – SMW Winzersekt; Schutz der Volksgesundheit: Slg 1997, I-4315, Rn 43 – Affish; EuGH, Slg 2004, I-11893 (Swedish Match); Klimaschutz: EuG, Slg 2007, II-1507 (Mebrom), Rn 87 f. 18 Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 272, im Anschluss an Bleckmann ER, Rn 590. 19 Allein auf diese zurückgreifend Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271. 20 Art 23 III Nr 1 Verf Belgiens; § 74 Reichsgrundgesetz Dänemarks; § 18 Verf Finnlands; Art 5 I und 22 Verf Griechenlands; Art 4 und 41 Verf der italienischen Republik; Art 11 V Verf des Großherzogtums Luxemburg; Art 19 III Verf des Königreiches der Niederlande; Art 6 I Staatsgrundgesetz Österreich 1867 (s Art 149 I B-VG); Art 47 I, 61 I Verf der portugiesischen Republik; Art 35 I, 38 spanische Verf. Die einzelnen Bestimmungen sind allerdings in Geltungskraft und Tragweite heterogen: Günter (Fn 8) S 223. Zweifelnd – ohne umfassenden Rechtsvergleich – Besselink CMLRev 35 (1998) 629 (636 f – Fn 9), und – ihm folgend – Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 270. Ausführlicher Rechtsvergleich bei Nowak in: Heselhaus/Nowak, GR, § 30, Rn 18 ff. 21 S Wunderlich Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, 46 f m Nachw aus der Rspr. Zur Rechtsnatur der Gewährleistungen Günter (Fn 8) S 52 ff, sowie Stadler (Fn 6) S 323 ff. Ähnlich das ungeschriebene Recht aus Art 40 III Nr 1 und 2 der irischen Verfassung (right to earn a living), vgl Günter (Fn 8) S 70 ff; Stadler (Fn 6) S 282 ff. 22 Ehlermann FS Budde, 1995, S 157, 171; ihm folgend Wunderlich (Fn 21) S 45. 23 Bulgarien: Art 48 III Verf 1991; Polen: Art 65 Verf 1997; Rumänien: Art 38 Verf 1991; Tschechien: Art 26 Grundrechts-Charta 1991. 24 S Wunderlich (Fn 21) S 52 ff. Der Conseil constitutionnel hat in der Entscheidung n° 98–401 DC vom 10.6.1998 die gesetzlich angeordnete Arbeitszeitverkürzung (Loi d’orientation et d’incitation relative à la réduction du temps de travail) für gerechtfertigt erklärt, weil der Gesetzgeber sich am „Recht auf Arbeit“ in der Präambel der Verfassung von 1946 orientiert habe.
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leitet.25 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die effektive Gewährleistung der beiden Freiheiten daran leidet, dass Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit Gesetzgeber und Behörden einen weiten Spielraum gewähren und die Verhältnismäßigkeitskontrolle reduzieren, wobei in der Tendenz die Kontrolldichte bei der liberté du commerce et de l’industrie höher ist als bei der liberté d’entreprendre.26 – Auch in Deutschland ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. Art 12 I GG gewährt allen Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen; die Verbote von Arbeitszwang und Zwangsarbeit in Art 12 II, Art 12 III GG haben nur geringe Bedeutung erlangt. Im Rahmen des Regelungsvorbehalts des Art 12 I 2 GG hat das BVerfG dem Gesetzgeber bisweilen einen außerordentlich weiten Spielraum zuerkannt und die Wahl der grundrechtsbeschränkenden Gemeinwohlbelange kaum kritisch hinterfragt.27 In neuerer Zeit entwickelte das BVerfG weitere Dimensionen der Berufsfreiheit aus Art 12 I GG. Bedeutsam ist das Teilhaberecht aus Art 12 I, Art 3 I GG bei der Vergabe von Studienplätzen.28 Was die Schutzfunktion betrifft, so geht das BVerfG in einzelnen Fällen über den rechtsstaatlichen Schutz der Berufsfreiheit hinaus und betreibt – rechtspolitisch motiviert – kompetenzwidrig sozialen Ausgleich zwischen widerstreitenden Rechtspositionen (Arbeitnehmer – Arbeitgeber), ohne dass es eine entsprechende gesetzgeberische Entscheidung, verfassungsrechtliche Grundlage oder methodisch-dogmatische Absicherung gäbe.29 Ist der Normbestand nicht vollständig homogen, wird die Entscheidung für ein bestimmtes Schutzkonzept in der Tendenz zu einer politischen Frage. Das wirtschaftspolitische Vorverständnis bestimmt die konkrete Form des Schutzes der Berufsfreiheit erheblich, sei es bereits bei der inhaltlichen Ausfüllung des Schutzbereichs, sei es auf der Schrankenebene oder bei der Bestimmung der Grundrechtsfunktionen. Diese Entscheidung zu treffen ist nicht Sache des Gemeinschaftsjuristen, wohl aber, ihre normative Grundlage transparent zu machen. Unter dieser Prämisse gehen die folgenden Ausführungen von der Notwendigkeit aus, dem abwehrrechtlichen Inhalt der Berufsfreiheit im Einklang mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen sowie mit Art 15 I und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein angemessenes Gewicht zu verschaffen, um ihn auf der Ebene der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen mit anderen Gemeinwohlbelangen in Abwägung zu bringen, seien diese sozialer oder anderer Natur. Unmittelbar aus der Berufsfreiheit sollen keine sozialen Grundrechte hergeleitet werden: Ein Recht auf Arbeit ist bewusst nicht in die Grundrechts-Charta (2000) aufgenommen worden30 und in der Europäischen Sozialcharta stark relativiert. Die Beweggründe gegen seine Einführung, namentlich die Gefahr einer Schwächung der Grundrechte bei mangelnder Realisierbarkeit und die zwingende Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, sind hinreichend bekannt. Soziale Einzelgewährleistungen enthält die Charta im
25 Günter (Fn 8) S 75; Stadler (Fn 6) S 265 ff; Wunderlich (Fn 21) S 54 f. 26 Ausf Wunderlich (Fn 21) S 152 ff. 27 S z Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers Manssen in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd I, 5. Aufl 2005, Art 12 Rn 125. 28 BVerfGE 33, 303 ff. 29 Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 434 ff, 462 ff. 30 Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5; Schmitz JZ 2001, 833, 841; Tettinger NJW 2001, 1010, 1014. Zudem ist nur in einigen Mitgliedstaaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Finnland) die soziale Gewährleistung mit dem Freiheitsrecht verbunden; vgl die Nachw in Fn 19. S auch umfassend Körner Das internationale Menschenrecht auf Arbeit, Völkerrechtliche Anforderungen an Deutschland, 2004.
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Solidaritätskapitel. Außerdem sind wesentliche Schutzansprüche in den Sozialvorschriften des EGV und vor allem im auf seiner Grundlage ergangenen Sekundärrecht verbrieft: Gleichberechtigung, Arbeitsschutz, angemessene Arbeitsbedingungen, um nur einige Stichworte zu nennen.31 Das „Recht zu arbeiten“ in Art 15 I der Charta lässt sich so keinesfalls in ein „Recht auf Arbeit“ umdeuten.32 Dennoch ist es nicht inhaltsleer. Unbeschadet der allenfalls sehr begrenzten rechtlichen Verbindlichkeit der Charta enthält es das abwehrrechtlich wirkende Verbot hoheitlich veranlasster Behinderungen selbständiger oder unselbständiger Arbeit, verstärkt also den Rechtfertigungsdruck für hoheitliche Regelungen von Berufswahl und Ausübung.33 Im sozialpolitischen Kontext schreibt die Vorschrift den deutlichen, wenn auch kaum justitiablen Auftrag an die aus der Charta Verpflichteten (Art 51 GRCh) fest, für die realen Möglichkeiten der Berufsausübung zu sorgen, mithin das Ziel der Vollbeschäftigung anzustreben (in diese Richtung auch Art 125 ff EGV/145 AEUV34). Wählt man den abwehrrechtlichen Inhalt des Grundrechts der Berufsfreiheit als Ausgangspunkt, so erweist sich die planwirtschaftliche Organisation von Märkten nach Art der GAP als der eigentliche Anachronismus. Ob die GAP die zurückliegende Beitrittswelle und die vielleicht noch ausstehenden Beitritte in ihrer gegenwärtigen Gestalt überleben wird, lässt sich zumindest in Frage stellen. Bislang liefern agrarrechtliche Konstellationen das quantitativ wesentliche Fallmaterial für die Analyse des Grundrechts der Berufsfreiheit.
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2. Sachlicher Schutzbereich Fall 1: (EuGH, Slg 1987, 2289 ff – Rau): Die Kommission trifft im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse die Entscheidung, 900 Tonnen Butter aus Interventionsbeständen in 250 g-Packungen kostenlos mit jeweils einer Packung Markenbutter desselben Gewichts zu verteilen. Ziel der Maßnahme ist es, Erkenntnisse über das Verhalten der Verbraucher bei einer Senkung des Butterpreises zu gewinnen. Letztlich soll der „Butterberg“ abgebaut werden. M ist ein großer Margarineproduzent. Er wendet sich gegen die Entscheidung, weil sie gegen die Grundsätze freier Berufsausübung, die allgemeine Handlungsfreiheit und die Wettbewerbsfreiheit verstoße.
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a) Inhalt und Einzelgewährleistungen Der Inhalt des sachlichen Schutzbereichs des Grundrechts der Berufsfreiheit ist vom EuGH bislang nicht abstrakt definiert worden,35 doch lässt sich eine solche Definition aus der Gesamtschau der bisherigen Rspr sowie der Grundrechts-Charta als Rechtserkenntnisquelle gewinnen.
31 Birk (Fn 14) § 19 Rn 86 ff. 32 So auch Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5; Jarass GR, § 20 Rn 219; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EVV, Art II-75, Rn 4. Ebenso wenig erscheint es möglich, aus dem Freiheitsrecht des Art 16 ein Recht auf Mittelstandsförderderung abzuleiten; so aber Tettinger NJW 2001, 1010, 1014. 33 Z primär abwehrrechtlichen Gehalt des Art 15 GRCh Jarass GR, § 20 Rn 2. 34 Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert Art 125 EGV Rn 8 (differenzierend). 35 S Wunderlich (Fn 21) S 105.
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Danach enthält das Grundrecht der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.36 Dies wird durch die Garantien der Grundrechts-Charta unterstrichen, die nicht nur das Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben enthält (Art 15 I GRCh), sondern auch die unternehmerische Freiheit anerkennt (Art 16 GRCh). Nicht zuletzt die Charta macht deutlich, dass es um eine eigenständige Gewährleistung und nicht lediglich um eine Ausprägung der allgem Handlungsfreiheit geht.37 Kennzeichnendes Merkmal für die der Garantie zuzuordnenden Tätigkeiten ist die Erwerbsabsicht. Dieses Merkmal findet sich parallel in der Rspr, die den Anwendungsbereich der allein wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten umschreibt, wobei der EuGH dort keine hohen Anforderungen stellt und eine Tätigkeit, die einen irgendwie gearteten ökonomischen Bezug aufweist, unter die einschlägige Grundfreiheit subsumiert (→ § 9 Rn 5 ff).38 Auf die Dauer der Tätigkeit kommt es nur insoweit an, als der in der Charta gebrauchte Begriff des „Berufs“ auch in anderen Sprachen (occupation/profession/profesión/professione/profissão/beroep/erhverv) ein mehr als nur einmaliges oder kurzfristiges Tätigwerden suggeriert. Unternehmerische Freiheit geht darüber hinaus, so dass insgesamt der Dauerhaftigkeit ein geringeres Gewicht zukommt als bei der Interpretation des Berufsbegriffs nach Art 12 I GG.39 Wiederum parallel zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Bagatellgrenze anzunehmen.40 Auf das Erlaubtsein kann es indes nicht ankommen. Erlaubnis und Verbot beruflicher Tätigkeit sind eine Frage von Beschränkungen und deren Rechtfertigung.41 Dieser umfassenden Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigung lassen sich die in der Rspr des EuGH bislang formulierten Einzelgewährleistungen zuordnen. Namentlich die Handelsfreiheit sieht der EuGH als geschütztes Grundrecht an.42 Nicht ganz konsequent wird die notwendige Zuordnung der erwerbsbezogenen Vertragsfreiheit zur Berufsfreiheit vorgenommen.43 Hier geht der Gerichtshof vereinzelt noch von einer eigenständigen Verbürgung aus,44 sieht aber zutreffend die freie Wahl des Vertrags- (= Geschäfts-)
36 Ausdrücklich EuGH, Slg 1985, 2857, Rn 23 – Finsider. 37 And noch Schilling EuGRZ 2000, 3, 12. Wunderlich (Fn 21) S 106 f (ähnlich Günter (Fn 8) S 23), weist nach, dass die einzelnen Ausprägungen wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit nach der Rspr zur Berufsfreiheit gehören und keine bes Gewährleistungen enthalten (deutlich etwa EuG, Slg 1996, II-1707, 63 – Atlanta). Der Rückgriff auf die Rspr des BVerfG zur Abgrenzung zwischen Berufs- und Handlungsfreiheit (so Stadler (Fn 6) S 36 ff) sollte im Gemeinschaftsrecht vermieden werden. 38 S Birk (Fn 14) § 19 Rn 11, z insofern weiten Arbeitnehmerbegriff des EuGH. 39 Hier sind die Anforderungen ohnehin gering, vgl Wieland in: Dreier (Hrsg), Grundgesetz Kommentar Bd I, 2. Aufl 2004, Art 12 Rn 55. 40 Vgl dazu Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 10. 41 In diesem Sinne auch Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271. Differenzierend Wunderlich (Fn 21) S 72 f. And in der Tendenz Steindorff NJW 1982, 1902, 1904. 42 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Slg 1985, 531, Rn 9 – ADBHU. Zutr stellt GAin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 20.1.2004 zu Verb Rs C-37/02 und C-38/02, Ziff 110, fest, dass es hier nur um terminologische Fragen, nicht um unterschiedliche Gewährleistungen geht. 43 Hierzu Ruffert (Fn 29) S 297 f mwN. 44 Sehr andeutungsweise in EuGH, Slg 1979, 1, Rn 20 – Sukkerfabriken Nykøbing; Slg 1999, I-6571, Rn 99 – Spanien/Kommission.
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Partners als Bestandteil der Berufsfreiheit an45. Zum Grundrecht auf Berufsfreiheit gehört auch die Wettbewerbsfreiheit.46 Angesichts der Bedeutung des freien Wettbewerbs im EGRecht sollten zurückhaltendere Äußerungen des EuGH jedenfalls auf der Schutzbereichsebene nicht überbewertet werden.47 Zusammengefasst formuliert, schützt das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit die freie wirtschaftliche Betätigung in allen ihren Ausprägungen.
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b) Abgrenzung zu anderen gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistungen aa) Eigentumsschutz In seiner Rspr differenziert der EuGH nicht immer präzise zwischen Eigentumsschutz (→ § 16.4) und Schutz der Berufsfreiheit.48 Dies überzeugt methodisch angesichts der unterschiedlichen Rechtserkenntnisquellen nicht (Art 1 1. ZP EMRK, Art 295 EGV/345 AEUV).49 Im Schrifttum wird überwiegend eine Abgrenzung am Maßstab der aus dem dt Verfassungsrecht stammenden Faustformel Bestandsschutz – Erwerbsschutz vorgeschlagen.50 Wenn man die Selbständigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Systembildung nicht aus den Augen verliert, ist gegen diese Parallelität nichts einzuwenden. Berufsfreiheit und Eigentumsgewährleistung stehen zueinander in Idealkonkurrenz. Der Schutzbereich der Eigentumsgarantie ist – gegebenenfalls neben dem der Berufsfreiheit – eröffnet, wenn es um die Nutzung der Produktionsstätte bzw Produktionsmittel geht. Allein die Berufsfreiheit steht im Raum, wenn Pflichten oder Verbote handlungs-, nicht substanzbezogener Art normiert werden. Abgabenverpflichtungen misst der EuGH nicht am Maßstab der Eigentumsgarantie.51 Folgt man dieser – im dt Verfassungsrecht jenseits von Erdrosselungssteuer und Halbteilungsgrundsatz anerkannten – Prämisse, ist jedenfalls eine Prüfung des Grundrechts der Berufsfreiheit veranlasst.52
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bb) Andere Grundrechte Abgrenzungsschwierigkeiten im Verhältnis zu den gemeinschaftsrechtlichen Kommunikationsgrundrechten (insbesondere Meinungsäußerungsfreiheit; → § 16.2) treten im Bereich der Werbung auf. Hier spricht wenig gegen ein differenzierendes Vorgehen, das beide Gewährleistungen im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes nebeneinander be-
45 EuGH, Slg 1991, I-3617, Rn 13 – Neu. 46 EuGH, Slg 1987, 2289, Rn 15 – Rau, sowie auch EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 28 – Metronome Musik. 47 And wohl Wunderlich (Fn 21) S 109. 48 EuGH, Slg 1996, I-569, Rn 30 – Duff; Slg 1996, I-3953, Rn 21 f – Bosphorus; Slg 1997, I-4475, Rn 72 ff – SAM Schiffahrt und Stapf; Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik. Zweifelhaft auch EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer. Vgl Beutler in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art F Rn 57. 49 Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 267. 50 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 131; ihm folgend Wunderlich (Fn 21) S 127. 51 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 15 GRCh Rn 20. 52 Wie hier Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271, sowie – für das dt Verfassungsrecht – Hohmann DÖV 2000, 406 ff. Daher im Ansatz korrekt: EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder.
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stehen lässt, wenn die Werbung auch eine wertende Meinungsäußerung enthält.53 In Deutschland zeigt die Benetton-Rspr, welche Probleme die Ausklammerung der Kommunikationsfreiheiten aus der Wirtschaftswerbung bereitet hätte.54 Das hier vertretene Konzept entspricht auch der Rspr des EGMR, der die Werbung unter Art 10 EMRK subsumiert und nicht gänzlich vom Gewährleistungsinhalt der EMRK ausschließt, die kein Grundrecht der Berufsfreiheit kennt.55 Keine schwerwiegenden Probleme treten im Verhältnis zum Unionsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit auf, das der EuGH in Orientierung an Art 11 EMRK anerkennt.56 Grundrechtskollisionen zwischen der Berufsfreiheit des einen (zB Arbeitnehmer) und der Vereinigungsfreiheit des anderen (zB Arbeitgeber) sind auf der Rechtfertigungsebene auszutarieren. Bei der in begrenztem Maße zulässigen Ableitung von Schutzpflichten aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit ist zu berücksichtigen, dass die mit der Vereinigungsfreiheit verbundene Koalitionsfreiheit einen spezifischen Mechanismus zum Schutz von Arbeitnehmerrechten vorhält.57 Das Grundrecht der Berufsfreiheit ist schließlich als Freiheitsrecht neben gemeinschaftsrechtlich gewährten Gleichheitsrechten anwendbar.58 Dies gilt für das spezielle Diskriminierungsverbot in Art 34 II EGV59 (40 II AEUV) ebenso wie für den Gleichheitssatz als allgem Rechtsgrundsatz.60 Das Konkurrenzverhältnis zu Art 12 EGV (18 AEUV) richtet sich nach den für die Grundfreiheiten geltenden Grundsätzen (Rn 21 ff). Zu Art 141 EGV (157 AEUV) und dem in dessen Zusammenhang ergangenen Sekundärrecht besteht kein echtes Konkurrenzverhältnis, weil Art 141 EGV (157 AEUV) und die dazugehörigen Richtlinien keine Grundrechte ieS enthalten, sondern bes Vorgaben für die Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts normieren, die unter bestimmten Voraussetzungen allerdings unmittelbare Wirkung entfalten. Gleiches gilt für Maßnahmen nach Art 13 EGV (19 AEUV), die vielmehr umgekehrt gemessen am Grundrecht der Berufsfreiheit verhältnismäßig sein müssen, um Bestand zu haben.61
53 Schlussanträge GA Fennelly NJW 2000, 3701 ff, Rn 152 ff – Tabakwerbung (der EuGH hat den grundrechtlichen Aspekt nicht aufgegriffen) = JK 03/01, EGV Art 95/1; krit Hilf/Frahm RIW 2001, 128, 133; Hatje Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 1993, 62; Perau Werbeverbote im Gemeinschaftsrecht, 1997, 269 f; aA Jarass GR § 20 Rn 5; Wunderlich (Fn 21) S 129 f – Umfassend zur Beurteilung der Wirtschaftswerbung Kühling Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, 464 ff. 54 BVerfGE 102, 347, 359 f. 55 Wunderlich (Fn 21) S 59 ff; Calliess EuGRZ 1996, 293 ff. 56 EuGH, Slg 1995, I-4921, Rn 79 – Bosman. 57 Richardi in: ders/Wlotzke (Fn 14) § 10 Rn 31. 58 Jarass GR, § 20 Rn 5. 59 EuGH, Slg 1989, 1991, Rn 19 – Leukhardt; Slg 1990, I-4071, Rn 19 ff – Marshall; Slg 1991, I-415, Rn 66 ff – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1992, I-35, Rn 18 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat (Bananen). 60 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 30 ff – SMW Winzersekt; Slg 1995, I-3115, Rn 44 ff – Fishermen’s Organisations ua; Slg 1997, I-4315, Rn 41 ff – Affish; Slg 1997, I-4475, Rn 50 ff – SAM Schiffahrt und Stapf; EuG, Slg 1996, II-1707, Rn 41 ff, 59 ff – Atlanta. S bereits Stadler (Fn 6) S 36. 61 Auf dem Prüfstand stehen hier: RL 00/43, ABl 2000, Nr L 180/22 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft; RL 00/78, ABl 2000, Nr L 303/16 zur Festlegung eines allgem Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
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cc) Vertrauensschutz Für den EuGH ist der Vertrauensschutz ein neben den Grundrechten geltender allgem Rechtsgrundsatz.62 Das Vertrauen auf eine bestehende Regelungsstruktur könnte aber auch innerhalb des Grundrechts der Berufsfreiheit bedeutsam sein.63 Insbesondere lehnt der EuGH ab, dass der einzelne Wirtschaftsteilnehmer auf den Fortbestand bestimmter Regelungen einer europäischen Marktordnung im Rahmen der GAP vertrauen kann, dass also einschneidende und verlustbringende Änderungen einer Marktordnung, die durch sie vorher gewährte Vorteile entziehen, als Eingriffe in die Berufsfreiheit zu bewerten sind.64 Die Unvereinbarkeit von planwirtschaftlich konzipierten Marktordnungen einerseits und der Gewährleistung der Berufsfreiheit als Abwehrrecht andererseits wurde eingangs aufgezeigt. Sie lässt sich auf der Stufe des Schutzbereichs nur so verarbeiten, dass zur Berufsfreiheit auch berufliche Betätigung gezählt wird, die durch Marktordnungen erheblich beeinflusst oder sogar erst ermöglicht wird. Richten sich Wirtschaftssubjekte auf einem hochgradig regulierten Markt ein, so wird das Maß ihrer Berufsfreiheit auch durch die vorhandene Regelungsstruktur bestimmt.65 Dies ist nicht gleichzusetzen mit einem absoluten Bestandsschutz: Notwendige Reformen in der Agrarpolitik werden immer auch zu Eingriffen in wirtschaftliche Positionen führen, die dann über das hinter der jeweiligen Reform stehende Gemeinwohlziel gerechtfertigt werden müssen.66 Eine gänzlich andere Situation ist gegeben, wenn erhebliche Einbußen durch die Einführung einer europäischen Marktordnung entstehen, wie dies 1993 auf dem Bananenmarkt der Fall war.67 Hier geht es nicht darum, dass Marktteilnehmer auf eine bestimmte Regelungsstruktur vertraut haben, sondern hier wird eine grds vorhandene Freiheit wirtschaftlicher Betätigung durch hoheitliche – gemeinschaftsrechtliche – Regelung genommen.68 Eine Minderung der Rechtsposition des Wirtschaftssubjekts ist allenfalls in der Abwägung auf Rechtfertigungsebene anzuerkennen, weil im Agrarsektor wegen Art 32 III mit Anhang I EGV (38 III AEUV mit Anh I) stets mit einer hohen marktfernen Regulierungsdichte gerechnet werden muss.
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c) Konkurrenzverhältnis zu den Grundfreiheiten Die Grundfreiheiten, die in der Rspr des EuGH den Charakter von Beschränkungsverboten erhalten haben, wirken in diesem Sinne als besondere Berufsfreiheit der Marktbürger,69 so dass die Frage nach ihrem Verhältnis zum allgem Grundrecht der Berufsfreiheit aufgeworfen wird. Dieses Verhältnis kann sich nicht nach dem Adressaten beurteilen, denn
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Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 6 EUV Rn 26. Prüfung von Vertrauensschutz neben Berufsfreiheit: EuGH, Slg 1992, I-35, Rn 13 ff – Kühn. EuGH, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridania; Slg 1987, 2289, Rn 18 – Rau. Ähnlich Günter (Fn 8) S 19; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271 f, 275; Jarass GR, § 21 Rn 15; in der Tendenz Priebe in: HdBEUWirtschR, Rn 290. Für Wirtschaftssubjekte außerhalb einer konkreten Marktordnung Hilf/Willms EuGRZ 1989, 189, 191. So auch Wunderlich (Fn 21) S 118. So Günter (Fn 8) S 22. And im Ausgangspunkt Wunderlich (Fn 21) S 117 f. Daher prüft der EuGH auch einen Verstoß gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit: EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 78 ff – Deutschland/Rat (Bananen). S EuGH, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens. Explizit Pernice Grundrechtsgehalte im Gemeinschaftsrecht, 1979, 174 f; Riegel AöR 102 (1977), 410, 430 ff. Zu weitgehend Borrmann (Fn 12) S 29 ff: Identität von Grundfreiheiten und Berufsfreiheit.
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anerkanntermaßen können beim gegenwärtig erreichten Stand des Gemeinschaftsrechts sowohl die Mitgliedstaaten Verpflichtete der Unionsgrundrechte70 als auch die Gemeinschaft Verpflichtete der Grundfreiheiten sein (→ § 14 Rn 47 ff).71 Die Konkurrenz zwischen beiden Gewährleistungsformen ergibt sich vielmehr aus dem überragenden Gewicht des Binnenmarktziels für das gesamte Gemeinschaftsrecht. Zur Herstellung grenzüberschreitender Privatautonomie sind die Grundfreiheiten lex specialis.72 Dies muss auch dann gelten, wenn man der im Schrifttum vertretenen Auffassung folgt, die die Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte ansieht.73 Das Ziel der Gewährleistung, Hindernisse in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen abzubauen, ändert sich durch diesen Perspektivenwechsel im Grundsatz nicht. Der Befund einer Spezialität der Grundfreiheiten vor dem Grundrecht der Berufsfreiheit gibt den gegenwärtigen Stand der europ Rechtsordnung wieder. Entspr greift Art 15 II der Charta die einschlägigen Grundfreiheiten auf.74 Ohne die Grundfreiheiten und die ihnen durch den EuGH über Anwendungsvorrang und unmittelbare Wirkung verliehene Dynamik wäre die Integration nicht denkbar gewesen. Auf einem höheren Integrationsstand ist es denkbar, die Grundfreiheiten durch eine allgem Berufsfreiheit zu substituieren, so dass Eingriffe in grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit nur eine besondere Form von Eingriffen in die Berufsfreiheit wären. Dann müsste die Berufsfreiheit jedoch ähnlich sicheren Schutz bereithalten wie gegenwärtig die Grundfreiheiten, und auch die Sicht auf den Verbund von gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt würde sich grundlegend ändern. Lösung Fall 1: Die Produktion von Margarine ist eine wirtschaftliche Betätigung, so dass der Schutzbereich der Berufsfreiheit in der besonderen Ausprägung der Unternehmensfreiheit eröffnet ist. Der EuGH sieht zwar wirtschaftliche Positionen, die den Wirtschaftssubjekten aus einer Marktorganisation erwachsen, nicht als geschützt an. Zum Schutz der Berufsfreiheit von Unternehmen, die sich auf die GAP einrichten, sollte diese Argumentation jedoch aufgegeben und geprüft werden, ob die Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch das Ziel der Maßnahme – hier: Untersuchung der Wirkungen einer bestimmten Vermarktungsform – gerechtfertigt ist.
70 Für die Berufsfreiheit EuGH, Slg 1996, I-569, Rn 28 ff – Duff. 71 Grundl Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995. Zu Einzelnachweisen in der Rspr des EuGH und in Schlussanträgen der Generalanwälte s Wunderlich (Fn 21) S 93 f. 72 Wunderlich (Fn 21) S 104. AA Stadler (Fn 6) S 66: Grundfreiheiten als Zusatzgarantie zur Freizügigkeit. 73 Explizit Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; differenzierend hingegen Hoffmann Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 29 ff. 74 Entgegen Grabenwarter DVBl 2001, 1, 5, sollte aus dem Wortlaut kein Verzicht auf einen grenzüberschreitenden Bezug hergeleitet werden; gemeint sind die Grundfreiheiten des EGV mit den entsprechenden Voraussetzungen, vgl die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, CONVENT 49 vom 11.10.2000, Dok Charte 4473/00, 17.
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Grundrecht der Berufsfreiheit
§ 16.3 I 3
3. Persönlicher Schutzbereich a) Unionsbürger Alle Unionsbürger sind Träger des Grundrechts der Berufsfreiheit. Die Charta stellt klar, dass der gemeineuropäische Bestand nicht zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit differenziert, auch wenn die Berufsfreiheit in einigen Mitgliedstaaten nur auf Selbständige bezogen ist und der EuGH sich bislang nur zur selbständigen Betätigung geäußert hat.75 Schon die Existenz der Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt den grundsätzlichen Schutz nichtselbständiger Tätigkeit im Gemeinschaftsrecht unzweifelhaft zum Ausdruck. Allein Angehörige des Öffentlichen Dienstes, die unter die Bereichsausnahmen der Art 39 IV und 45 (mit 55) EGV (45 IV, 51 mit 62 AEUV) fallen, sind in Ermangelung einer Gemeinschaftszuständigkeit aus dem persönlichen Anwendungsbereich des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts der Berufsfreiheit ausgenommen.76
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b) Juristische Personen Der Blick in die Charta zeigt auch, dass es fernliegend wäre, juristische Personen des Privatrechts aus dem persönlichen Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit herauszunehmen, denn die unternehmerische Freiheit (Art 16 GRCh) muss auch Personen- und Kapitalgesellschaften gewährt werden, um sich als sinnvolle Gewährleistung darzustellen. In der Rspr des EuGH steht diese Erkenntnis außer Frage. Was juristische Personen betrifft, die in engem Bezug zu einem Hoheitsträger – im dt Recht: juristische Personen des öffentlichen Rechts – stehen, so ist die Betrachtung zu differenzieren. Das die Grundrechtsberechtigung ausschließende „Konfusionsargument“ (kein Ineinsfallen von Grundrechtsträger und Grundrechtsverpflichtetem) gilt jedenfalls dann eindeutig, wenn es um eine durch die Gemeinschaft konstituierte rechtsfähige Einheit geht (zB eine selbständige Agentur77). Handelt es sich um eine juristische Person, hinter der mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt steht, so ist zu beachten, dass durch die Gewährleistung von Grundrechtspositionen das Kompetenzgefüge zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nicht vertragswidrig verschoben werden darf. Die Grundrechtsberechtigung lässt sich daher kaum begründen. Dies gilt auch für staatliche oder staatlich dominierte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, damit die präzisen primärrechtlichen Vorgaben (Art 16, 81–82, 86, 87–89 EGV/14, 101–102, 106, 107–109 AEUV) nicht durch ein ungeschriebenes Freiheitsrecht überspielt werden.78
75 Wie hier Wunderlich (Fn 21) S 111; Jarass GR, § 20 Rn 6. 76 Stadler (Fn 6) S 344; Wunderlich (Fn 21) S 120. 77 Zur Gemeinschaftskompetenz zur Errichtung Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 7 EGV Rn 25 ff. 78 AA Notthoff Novellierungsversuche des Energiewirtschaftsrechts vor dem Hintergrund grundrechtlicher Normen, 1994, 241 ff; Tettinger FS Börner, 1992, S 625, 637 ff; Wunderlich (Fn 21) S 122 f; wohl auch Bleckmann/Pieper HdbEUWirtschR Bd I, Rn 137 f. Das Argument der Gleichbehandlung im Wettbewerb trägt aufgrund der besonderen öffentlich-rechtlichen Bindungen öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen nicht.
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c) Drittstaatsangehörige (einschließlich juristischer Personen) 27
Im persönlichen Schutzbereich ist schließlich die Zuordnung von Drittstaatsangehörigen fraglich, insb, wenn man aus der Perspektive des dt Verfassungsrechts argumentiert, das die Berufsfreiheit nur als Deutschengrundrecht gewährleistet und Ausländer auf die allgem Handlungsfreiheit verweist.79 Die Antwort auf diese – in der Praxis der EuGH-Rspr bislang kaum relevant gewordene – Streitfrage enthält Art 15 III GRCh: 80 Staatsangehörige dritter Länder haben grds keinen unbegrenzt freien Zugang zum Binnenmarkt kraft Primärrechts oder einer Regelung der Charta.81 Dies ist völkerrechtskonform, denn das GATS gewährt Marktzugang gemäß Art XVI nur über ein System sektorspezifischer Positivlisten.82 Wenn Drittstaatsangehörige aber „im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen“, so haben sie die gleichen Ansprüche wie Unionsbürger.83 Die Trennungslinie zwischen Grundrechtsberechtigung und ihrer Abwesenheit verläuft also nicht an der Außengrenze der Gemeinschaft, sondern zeichnet die Legalität der wirtschaftlichen Betätigung im Gemeinschaftsgebiet nach.84 Dieses Konzept durchbricht möglicherweise entgegenstehende mitgliedstaatliche Traditionen, zumal es allein um das Unionsgrundrecht der Berufsfreiheit geht, das zuvörderst die Gemeinschaft, die Mitgliedstaaten jedoch nur im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bindet.
II. Beeinträchtigung 28
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Fall 2: (EuGH, Slg 1994, I-5555 ff – SMW Winzersekt): Theo Trierweiler (T) ist Moselwinzer und stellt Sekt nach der „méthode champenoise“ her, dh der Grundwein wird in der Flasche durch manuelles Rütteln versektet. Diese Methode ist aufwendiger als andere (zB die Versektung in Tanks), so dass T auf das Etikett den Hinweis „méthode champenoise“ aufdrucken lässt. Eine Ratsverordnung verbietet die Verwendung dieser Bezeichnung für Schaumwein, der nicht aus der Champagne (Frankreich) kommt. T sieht hierin einen Eingriff in seine Berufsfreiheit.
Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit sind zunächst durch normative Regelungen möglich. Dabei sollte darauf verzichtet werden, die für das dt Verfassungsrecht entwickelte DreiStufen-Theorie auf das Gemeinschaftsrecht zu übertragen.85 Der EuGH hat den Unterschied zwischen Regelungen der Berufswahl und solchen der Berufsausübung nur ange-
79 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 15 GRCh Rn 9, ähnlich Borchardt in: Lenz/ders, EUV/EGV, EGV Art 220 Rn 33. AA Bleckmann/Pieper HdbEUWirtschR Bd I, Rn 139 mwN. Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 265, verweisen das Problem auf die Schrankenebene. 80 S bereits Art 137 III, 4. Spstr EGV (nach Nizza: Art 137 I lit g EGV); dazu Krebber in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, Art 137 Rn 20; Jarass GR, § 20 Rn 9. Krit zu den Erläuterungen des Präsidiums in diesem Zusammenhang Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EVV, Art II-75, Rn 10. 81 Jarass GR, § 20 Rn 23 ff, sieht in Abs 3 eine selbständige Verbürgung. 82 S Art XVI ff GATS (ABl 1994 Nr L 336/184); dazu Koehler Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, 116 ff. 83 Erläuterungen des Präsidiums zu Art 15 III; Jarass GR, § 20 Rn 27. 84 Noch weitergehend Wunderlich (Fn 21) S 123 ff. 85 So aber Notthoff RIW 1995, 541, 543.
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Grundrecht der Berufsfreiheit
§ 16.3 III
deutet.86 Losgelöst von der dt Grundrechtsdogmatik kann man unterschiedlich starken Eingriffen in die Berufsfreiheit durch eine differenzierte Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung tragen, die auch beachtet, inwieweit der Grundrechtsträger von der Ausübung eines bestimmten Berufes gänzlich ausgeschlossen wird. Das Drei-Stufen-Konzept mag auf diese Weise eine heuristische Funktion entfalten, jedoch keine dogmatischen Kategorien zwingend vorgeben. Normative Regelungen können auch mittelbar beeinträchtigend wirken – was für die Aktivierung des Rechtfertigungszwanges hinreichend ist 87 – wenn sie beispielsweise die Wettbewerbsposition eines Wirtschaftssubjekts verschlechtern. Auf dieser Grundlage sind auch nicht-normative Eingriffe denkbar, wie zB die Zahlung von Subventionen an Konkurrenten oder von Gemeinschaftsorganen ausgesprochene Warnungen und Empfehlungen. Außerdem könnte durch gemeinschaftsrechtlich veranlasste Konkurrenz öffentlicher Unternehmen (s Art 16 EGV/14 AEUV: Zugang zu Dienstleistungen von allgem wirtschaftlichen Interesse) in die Berufsfreiheit von privaten Wirtschaftssubjekten eingegriffen werden. Solcherlei Eingriffe haben allerdings die Rspr bislang noch nicht beschäftigt, weil das normativ hochgradig verdichtete Agrarrecht die Problemfälle dominiert. Schließlich ist die Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Eingriffen so wenig ergiebig, dass sie nicht vertieft werden sollte. Jede Beeinträchtigung, auch die nicht „berufsspezifische“, ist rechtfertigungsbedürftig. Lösung Fall 2: Herstellung und Vermarktung von Sekt ist eine wirtschaftliche Betätigung, die unter das Grundrecht der Berufsfreiheit fällt. Verpflichtungen zur Gestaltung des Etiketts greifen in die Freiheit der Berufsausübung ein, weil sie die Vermarktung des Sekts einschränkend regeln. Die Verpflichtung ist jedoch nicht unverhältnismäßig: Sie dient dem Verbraucherschutz, und es ist nicht ersichtlich, dass der Rat im Rahmen seines Rechtsetzungsermessens ein milderes Mittel zum Verbraucherschutz übersehen hätte. Der Wesensgehalt der Berufsfreiheit ist nicht berührt, da der Bestand der Berufsausübung erhalten bleibt.
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III. Rechtfertigung Fall 3: (EuGH, Slg 1998, I-1953 ff – Metronome Musik): Art 1 I der RL 92/100 (ABl 1992 Nr L 346/6) verpflichtet die Mitgliedstaaten, zugunsten des Inhabers des Urheberrechts das Recht vorzusehen, die Vermietung und das Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke zu verbieten. Die Richtlinie ist in Deutschland ordnungsgemäß umgesetzt. Die „Metronome Musik GmbH“ ist Plattenfirma der Gruppe „Die Ärzte“ und beantragt vor dem zuständigen Landgericht, der „Music Point Hokamp GmbH“, die CDs gewerblich vermietet, im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die CD „Planet Punk“ zu vermieten. Die „Music Point Hokamp GmbH“ macht im Vorlageverfahren eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit geltend.
86 EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer; Slg 1986, 2519, Rn 27 – Kommission/Deutschland; Slg 1986, 2897, Rn 9 – Keller; Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt. Zu weitgehend daher Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 271; Stadler (Fn 6) S 345 ff, und – in der Tendenz – Bleckmann/Pieper in: HdbEUWirtschR Bd I, Rn 86; wie hier hingegen: Wunderlich (Fn 21) S 112 f. 87 Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 15 GRCh Rn 10 aE; Wunderlich (Fn 21) S 113 ff.
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1. Schranken der Berufsfreiheit 33
Schranken der Berufsfreiheit lassen sich im inhaltlichen Einklang mit der Rspr des EuGH aus der Gesamtschau der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, der EMRK sowie der Grundrechts-Charta (Art 52 I GRCh) formulieren. Danach sind Einschränkungen zulässig, wenn sie sich auf eine gesetzliche Regelung stützen können, dem Gemeinwohl (einschließlich der Rechte anderer) entsprechen, verhältnismäßig sind und den Wesensgehalt der Berufsfreiheit nicht beeinträchtigen.88
2. Anforderungen an eine gemeinschaftsrechtskonforme Beschränkung der Berufsfreiheit a) Rechtsgrundlage 34
Beschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit bedürfen einer Rechtsgrundlage.89 Dieses grundrechtsspezifische Erfordernis berührt das kompetenzorientierte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.90 Es ist bislang in der Rspr noch nicht ausdrücklich aufgegriffen worden, weil in keinem Fall Eingriffe ohne Rechtsgrundlage vorgenommen wurden.91 Gemeinschaftsrecht muss generell so ausgelegt werden, dass es die Berufsfreiheit nicht beeinträchtigt.92 b) Verwirklichung des Gemeinwohls
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Das Gemeinwohlerfordernis füllt der EuGH in den überwiegenden Fallgestaltungen mit den Zielen der GAP (Art 33 I EGV/39 AEUV) aus. Auch im Übrigen ist eine strikte Orientierung an eindeutig normierten Gemeinschaftszielen (Art 2 EGV/1 AEUV) oder anderen gemeinschaftsrechtlichen Normen angezeigt.93 Dient eine Regelung einem Gemeinschaftsziel nicht, obwohl die Gemeinschaftsorgane dies vorgeben, so verstößt sie deswegen gegen die Berufsfreiheit.94 Hinzu treten völkerrechtliche Verpflichtungen der Gemeinschaft.95 Grundrechte anderer, die als allgem Rechtsgrundsätze gewährleistet sind, können nur im Rahmen einer bestehenden Gemeinschaftskompetenz geschützt werden (→ vgl § 14 Rn 68). Gemeinwohlbelange, die sich nur aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung ergeben, vermögen ein Handeln der Gemeinschaftsorgane nicht zu recht-
88 EuGH, Slg 1986, 2897, Rn 8 – Keller; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1990, I-4071, Rn 27 – Marshall; Slg 1991, I-415, Rn 73 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1995, I-3115, Rn 55 – Fishermen’s Organisations; Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish; Slg 1997, I-4475, Rn 72 – SAM Schiffahrt und Stapf; Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; EuG, Slg 1998, II-125, Rn 74 – Dubois et Fils; EuGH, Slg 2005, I-6451 (Nahrungsergänzungsmittel); EuGH, Slg 2004, I-7789, Rn 51 ff – Spanien u Finnland/EP, Rat; Slg 2004, I-6911, Rn 82 ff – Di Lenardo. S bereits Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold. 89 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 19 – Hoechst; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 272. 90 Wunderlich (Fn 21) S 186. 91 Vgl Wunderlich (Fn 21) S 185 f. 92 EuGH, Slg 1991, I-3617, Rn 12 – Neu. 93 EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 23 – Metronome Musik: Art 30, 151 EGV (Art 36, 167 AEUV); Rengeling (Fn 5) S 216. Tendenziell enger Wunderlich (Fn 21) S 197. 94 Schlussanträge GA Fennelly, NJW 2000, 3701, Rn 151 – Tabakwerbung = JK 03/01, EGV Art 95/1. 95 EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 25 – Metronome Musik.
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fertigen und können daher nur im Bereich der Bindung der Mitgliedstaaten Wirkungen entfalten.96 Missverständlich ist die vom EuGH verwendete Formulierung, wonach sich die Beschränkung der Berufsfreiheit aus ihrer gesellschaftlichen Funktion ergebe.97 Daran ist allein richtig, dass kein Grundrecht in seiner Ausübung losgelöst von den Rechten anderer, von der gesamten Rechtsordnung und von der Verfolgung legitimer (gesellschafts-) politischer Ziele gewährleistet werden kann. Unzutreffend wäre es, die Berufsfreiheit in eine „dienende Freiheit“ zu verwandeln, die nur im gesellschaftlich erwünschten Sinne ausgeübt werden könnte.98 c) Wesensgehaltsgarantie Äußerste Grenze für Beschränkungen des Grundrechts der Berufsfreiheit ist dessen Wesensgehalt (→ vgl § 14 Rn 70). Diese Schranken-Schranke ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH99 und hat – für alle Grundrechte – Eingang in die Grundrechts-Charta gefunden (Art 52 I 1 GRCh). Um der Wesensgehaltsgarantie eine eigenständige Bedeutung zu erhalten, wie sie nicht zuletzt in der Charta ihren Ausdruck findet, ist sie vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz getrennt zu prüfen. Die neuere Rspr des EuGH deutet dies zutreffend an.100 Allerdings ist der absolut geschützte Bereich des Grundrechts der Berufsfreiheit im Rahmen der GAP kaum wahrnehmbar.
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d) Verhältnismäßigkeitsprüfung In der Rspr des EuGH entfaltet sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowohl als eigenständiges Prinzip als auch als Grundsatz im Rahmen der Grundrechtsschranken.101 Im Zusammenhang mit der Berufsfreiheit ist auf dieser Ebene eine Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten und wird grds vom EuGH vorgenommen.102 Maßstäbe sind das Grundrecht der Berufsfreiheit auf der einen und der die Beschränkung rechtfertigende Grundsatz auf der anderen Seite. Die Prüfung folgt dem überkommenen dreigliedrigen Schema Geeignetheit-
96 Zurückhaltend wie hier auch Wunderlich (Fn 21) S 190 f; Günter (Fn 8) S 23 f, differenziert zwischen mitgliedstaatlichen und gemeinschaftlichen Gemeinwohlzielen, geht aber auf den Kompetenzaspekt nicht ein. 97 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1992, I-35, Rn 16 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt; Slg 1997, I-4315, Rn 42 – Affish; Slg 1997, I-4475, Rn 72 – SAM Schiffahrt und Stapf; Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Verb Rs C-37/02 und C-38/02, Urt v 15.7.2004, Rn 82 – Di Lenardo; Verb Rs C-184/02 und C-223/02, Urt v 9.9.2004, Rn 52 – Spanien und Finnland/Parlament und Rat; EuG, Slg 1998, II-125, Rn 74 – Dubois et Fils. S bereits EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Slg 1979, 3727, Rn 32 – Hauer. 98 Zu weitgehend Wunderlich (Fn 21) S 195. Wie hier bereits Meier DVBl 1974, 674 ff. 99 S o Fn 83. 100 EuGH, Slg 1990, I-4071, Rn 28 – Marshall; Slg 1994, I-4973, Rn 81 ff – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt; vgl Günter (Fn 8) S 29 ff. 101 Miteinander verbunden in EuGH, Slg 1995, I-3115, Rn 55 ff – Fishermen’s Organisations; Slg 1997, I-4315, Rn 29 ff – Affish. Vgl Emmerich-Fritsche Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, 399 ff; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 273. 102 S zB EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 18 – Schräder; Slg 1991, I-415, Rn 76 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1996, I-3953, Rn 23 ff – Bosphorus.
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Erforderlichkeit-Angemessenheit.103 Innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann die geringere Eingriffsschwere von Ausübungsregelungen – verglichen mit Berufswahlbeschränkungen – berücksichtigt werden, ohne dass man die dt Grundrechtsdogmatik dem Gemeinschaftsrecht überstülpen müsste. In dem Bestreben, Regelungen der GAP aufrechtzuerhalten, die strukturell im Gegensatz zu freier wirtschaftlicher Betätigung und damit zum Grundrecht der Berufsfreiheit stehen (Rn 1 ff), hat der EuGH den potentiellen Verstoß gegen das Grundrecht oft nur kursorisch geprüft und das individuelle, hinter dem Grundrechtsschutz stehende Interesse häufig nicht ausreichend berücksichtigt.104 Besonders eklatante Defizite offenbaren sich auf der Ebene der Kontrolldichte. Der EuGH erkennt den Gemeinschaftsorganen einen grundsätzlich weiten Ermessens- und Prognosespielraum zu, dessen Weite im Rahmen wirtschaftspolitischer Maßnahmen, insbes solchen der GAP, besonders hervorgehoben wird.105 Nach diesem Kontrolldichtemaßstab können nur offensichtlich ungeeignete 106 oder eindeutig nicht erforderliche107 Beschränkungen als gemeinschaftsrechtswidrig gekennzeichnet werden, was bislang noch in keinem Fall aus der Rspr zur Berufsfreiheit vorgekommen ist. Dieser weite Spielraum soll sogar für mitgliedstaatliche Behörden gelten, wenn diese in den Vollzug des Gemeinschaftsrechts einbezogen sind.108 Die deutliche Kritik an dieser Weite des Ermessens- und Prognosespielraums, wie sie vor allem im Anschluss an das Bananenmarkturteil109, aber auch an andere Entscheidungen, formuliert wurde,110 ist nicht unberechtigt. Die Kontrolldichte darf nicht in einer Weise reduziert werden, die dazu führt, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung ins Leere geht. Letztlich nimmt der Gerichtshof hier ein Rechtsschutzkonzept auf, das sich vornehmlich am Erhalt einer funktionsfähigen Verwaltung ohne übermäßige gerichtliche Einmischung orientiert.111 Die Festlegung der Kontrolldichte ist nicht mit Hilfe abstrakter, allgemeingültiger Formeln möglich. Der Evidenzmaßstab ist jedoch durch eine Kontrolle zu ersetzen, die an den Gemeinschaftsgesetzgeber differenzierte Anforderungen der Plausibilität und konsistenten Begründung stellt. In diesen Kontext gehört auch die Einbeziehung von Härtefallregelungen auf der Ebene der Erforderlichkeit, wie sie der Gerichtshof bereits vollzieht.112 Die Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschafts103 Jarass GR, § 20 Rn 15. 104 ZB EuGH, Slg 1996, I-569, Rn 30 – Duff; Günter (Fn 8) S 26 f; Pernice in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 164 EGV Rn 62b. 105 EuGH, Slg 1989, 1991, Rn 19 – Leukhardt; Slg 1994, I-4973, Rn 89 ff – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt. Streinz in: ders GR-Charta, Art 15 Rn 5, spricht von einem fast schrankenlosen Ermessen. 106 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 94 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 22 – SMW Winzersekt. 107 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 27 – SMW Winzersekt. 108 EuGH, Slg 1995, I-3115, Rn 57 f – Fishermen’s Organisations. 109 EuGH, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat (Bananen). 110 Berrisch EuR 1994, 461, 466 ff; Everling CMLR 33 (1996) 401, 419 f; ders ZHR 162 (1998) 403, 417 ff; Heitsch EuGRZ 1997, 461, 467; Hohmann EWS 1995, 381 ff; Huber EuZW 1997, 517, 521; Kokott AöR 121 (1996) 599, 607 f; Nettesheim EuZW 1995, 106 ff; Pauly EuR 1998, 242, 256 ff; Penski/Elsner DÖV 2001, 265, 273 f; Stein EuZW 1998, 262 ff; Storr Der Staat 36 (1997) 546, 565 ff. And in der Beurteilung Dony CDE 1995, 461, 486, 491. 111 Breuer Diskussionsbeitrag, VVDStRL 61 (2002), 430. 112 EuGH, Slg 1996, I-6065, Rn 26 ff – T. Port = JK 02/98, EGV Art 189/2; dazu Wunderlich (Fn 21) S 211 f.
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Grundrecht der Berufsfreiheit
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ebene im Verhältnis zum Grundrechtsschutz auf der Ebene des GG ist nur deswegen gewahrt, weil auch das BVerfG dem Gesetzgeber im wirtschaftsrechtlichen Bereich einen erheblichen Gestaltungsspielraum gewährt.113 Lösung Fall 3: Die gewerbliche Vermietung von CDs ist eine wirtschaftliche Betätigung im Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit. Wird ihr Verbot kraft Gemeinschaftsrechts angeordnet, so beeinträchtigen die handelnden Gemeinschaftsorgane den Schutzbereich. Dies gilt auch, wenn sich das Verbot aus Richtlinienrecht ergibt, sofern dieses das mitgliedstaatliche Recht – wie im vorliegenden Fall – mit hinreichender Bestimmtheit vorzeichnet, so dass der Verstoß nicht dem Mitgliedstaat allein zugerechnet werden kann. Die Beeinträchtigung lässt sich jedoch unter Rückgriff auf das Gemeinwohlerfordernis des Schutzes geistigen Eigentums rechtfertigen. Dieses Gemeinwohlerfordernis findet seine Verankerung in Art 30 EGV (36 AEUV) sowie auch in Art 151 II 4. Spstr EGV (167 II 4. Spstr AEUV), der die Förderung künstlerischen Schaffens vorsieht. Auch völkerrechtliche Verpflichtungen der Gemeinschaft aus dem TRIPS stützen die rechtfertigende Argumentation. Angesichts der offensichtlichen Gefahr des unberechtigten Kopierens ist die Regelung nicht unverhältnismäßig, und weil eine Lizenz zum Vermieten mit dem Schutzrechtsinhaber ausgehandelt werden kann, ist auch nicht jede Möglichkeit der Vermietung ausgeschlossen, die Wesensgehaltsgarantie also nicht verletzt.
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IV. Exkurs: Von der berufsbezogenen Bildung zum Grundrecht auf Bildung Über den Zugang zu beruflicher Aus- und Weiterbildung hinaus gewährleistet Art 14 I GRCh ein Recht auf Bildung und bezieht damit auch den schulischen Unterricht ein.114 Der Pflichtschulunterricht muss zudem nach der ausdrücklichen Regelung in Abs 2 kostenlos sein. Inhaltlich kann auf das Recht auf Bildung in Art 2 1. ZP EMRK Bezug genommen werden115. In diesem Kontext ist das Recht aus Art 14 I teilhaberechtlich zu verstehen.116 Ergänzend enthält Abs 3 die Freiheit zur Gründung von Privatschulen als lex specialis zu Art 16 GRCh,117 wobei die nähere Ausgestaltung dem mitgliedstaatlichen Recht überantwortet wird. Das Gebot, dabei demokratische Grundsätze zu achten, zielt offenbar darauf ab, dass keine Unterscheidung nach dem sozialen Status der Eltern erfolgen soll,118 wenngleich diese – selbstverständliche – Forderung an dieser Stelle nur in Grenzen mit dem Demokratieprinzip im Zusammenhang steht. Über den Ausgestaltungsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten werden schließlich auch Elternrechte im Bildungswesen allgemein gesichert.
113 Classen JZ 1997, 454, 455; Heitsch EuGRZ 1997, 461, 467 f; Zuleeg NJW 1997, 1201, 1203. Hier handelt es sich um ein gemeineuropäisches Phänomen: s o Fn 25, sowie Günter (Fn 8) S 227 ff. 114 Ausf Caspar RdJB 2001, 165. Zur Entstehungsgeschichte instruktiv Kempen in: Tettinger/Stern, GRCh Art 14 Rn 1 ff. 115 Zu den Schwierigkeiten bei der Herausarbeitung des Rechtfertigungstatbestandes s Kingreen in: Calliess/Ruffert Art 14 GRCh Rn 9. 116 Statt vieler Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 38. 117 Erläuterungen des Präsidiums zur Charta der Grundrechte, ABl EG 2007, Nr C 303/17, 22; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 14 GRCh Rn 10. 118 S Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 14 GRCh Rn 12 aE.
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Trotz der umfangreichen grundrechtlichen Gehalte des Art 14 119 ist das Potential der Gewährleistung gering angesichts der Verpflichtungsadressaten der Charta (einschließlich ihres Art 14) gemäß Art 51 I. Ein Eingriff durch die EU-Organe ist nur in Ausnahmefällen denkbar, und die mitgliedstaatliche Bindung wird vor allem in der Fallgruppe der Einschränkung von Grundfreiheiten relevant,120 die aber gerade im Rahmen von Art 51 I höchst umstritten ist (→ § 14 Rn 53).121 Der EuGH nimmt in seiner neueren bildungsbezogenen Rechtsprechung nicht auf Art 14 Bezug.122
119 Diese können hier nicht vollständig dargestellt werden; s nur Jarass GR, § 19. 120 Vgl Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EVV, Art II-74, Rn 3. 121 Ruffert EuR 2004, 165, 176 ff. Auch Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 39 Rn 33 nimmt an, dass es selten zu einer Bindung der Mitgliedstaaten kommen wird. 122 Vgl nur EuGH, Slg 2007, I-6957 ff sowie EuGH, Slg 2007, I-6849 ff (z einkommenssteuerlichen Abzugsrecht von Schulgeldzahlungen an Privatschulen).
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§ 16.4 Eigentumsgrundrecht Christian Calliess Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer; Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat; Slg 1998, I-8001 ff – Generics; Slg 1999, I-2603 ff – Nitratrichtlinie; Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd; Slg 2003, I-11893 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen; EuGH, verb Rs C 402/05 P und C 415/05 P– Kadi ua/Rat. Schrifttum: Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997; Rengeling Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl 2004, 453 ff; Bernsdorff in: Meyer (Hrsg), Charta der Grundrechte, 2. Auflage 2006, Art 17; Depenheuer in: Tettinger/Stern (Hrsg), Europäische Grundrechte-Charta, 2006, Art 17; Heselhaus in: Heselhaus/Nowak (Hrsg), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006; Calliess in: Calliess/Ruffert (Hrsg), EUV/EGV, 3. Aufl 2007, Art 17 GRCh; ders Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008.
I. Einführung 1. Stellung und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts im Gemeinschaftsrecht Das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht hat seine ausdrückliche Formulierung in Art 17 GRCh gefunden: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist“. Art 17 II GRCh erweitert den Schutzbereich explizit durch die Formulierung: „Geistiges Eigentum wird geschützt“. Das Eigentumsgrundrecht zählt im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund 1, nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Ursprünge in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einer damit einhergehenden stark wirtschaftlichen Ausrichtung, zu den zentralen Grundrechten.2 Denn ohne die marktwirtschaftliche Vorbedingung eines gesicherten Privateigentums liefe eine Vielzahl der Bestimmungen des europäischen Wirtschaftsverfassungsrechts in die Leere. Schon im geltenden EGV hat das Schutzgut des Eigentums, so wie es in den Mitgliedstaaten gewährleistet ist, eine gemeinschaftsrechtliche Anerkennung gefunden, da Art 295 EGV (345 AEUV) die Unberührtheit der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen garantiert und Art 30 EGV (36 AEUV) eine Ausnahme von der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs ua zum Schutz des geistigen und kommerziellen Eigentums zulässt.3 Freilich kann diesen Bestimmungen keine Eigentums-
1 Hierzu die Beiträge in Calliess (Hrsg), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007. 2 Zur Bedeutung und Entwicklung der Eigentumsfreiheit in der EU: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 10 ff; Winkler Die Grundrechte der Europäischen Union 2006, 442. 3 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 2 u 5 ff; Depenheuer in: Tettinger/ Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 16 (mwN).
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garantie im Sinne eines subjektiven Rechts gegen Eigentumsbeeinträchtigungen durch die Gemeinschaft entnommen werden.4
2. Abgrenzung zwischen Eigentums(grund)recht und Eigentumsordnung 3
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Im Zusammenspiel zwischen Art 295 EGV (345 AEUV) und der Eigentumsgarantie des Art 17 GRCh muss zwischen Eigentumsrecht und Eigentumsordnung unterschieden werden.5 Während das Eigentumsrecht als Unionsgrundrecht in Art 17 GRCh gemeinschaftsrechtlich konkretisiert ist, lässt der EGV gemäß Art 295 EGV „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“. Fraglich ist jedoch, welcher Aussagegehalt Art 295 EGV (345 AEUV) konkret entnommen werden kann, bzw welche rechtlichen Aspekte unter den Begriff der mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen fallen, die zu bestimmen die Mitgliedstaaten ausweislich des Wortlauts des Art 295 EGV (345 AEUV) alleinig kompetent sind. Bei der Lösung dieser Frage ist zu bedenken, dass sich in Art 295 EGV (345 AEUV) das höchst problematische Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Harmonisierung des EG-Binnenmarktes über die entsprechenden Kompetenzgrundlagen einerseits sowie der fortbestehenden Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Eigentumsordnungen andererseits manifestiert.6 Fall 1: Nachdem die sog „Elektrizitätsrichtlinie“ 7 und die „Gasrichtlinie“ 8 nicht hinreichend zur angestrebten Belebung des Wettbewerbs der Energieversorgungsunternehmen (EVU) auf dem Strommarkt geführt haben, plant die Kommission weitere Entflechtungsmaßnahmen, um die Liberalisierung der Energiemärkte voranzutreiben. Insbesondere werden zwei Optionen zur Trennung der Energienetze von der Erzeugung diskutiert: Vorgeschlagen wird einerseits eine eigentumsrechtliche Entflechtung (sog Ownership Unbundling). Sie würde dazu führen, dass die Stromerzeugungssparte und das Stromversorgungsnetz nicht mehr ein- und demselben EVU gehören dürfen. Im Falle etwaiger Überlappungen wären deshalb – je nach unternehmerischer Opportunität – entweder die Eigentumsanteile am Stromnetz oder aber an der Stromerzeugungssparte zu veräußern. Andererseits käme die Einführung eines sog ISO-Modells (Independent System Operator) in Betracht. Es würde dem EVU anders als beim Ownership Unbundling die Möglichkeit bieten, das Eigentum am Stromversorgungsnetz zu behalten, ohne die Erzeugungssparte veräußern zu müssen. Das Netz wäre dann aber von einem (rechtlich wie wirtschaftlich) unabhängigen Systembetreiber (ISO) zu managen. Ihm obläge im Falle eines Netzausbaus z.B. die Planung, Konstruktion und Inbetriebnahme der neuen Infrastruktur, während der Netzeigentümer die dadurch erforderlich werdenden Investitionen zu tragen und etwaige Sicherheiten zu stellen hätte, ohne jedoch über die Notwendigkeit dieser Aufwendungen
4 Ausf zur Grundrechtsqualität der Vorgängervorschrift des Art 295 EGV (mit negativem Ergebnis) Thiel JuS 1991, 274 ff; ebenso Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 4; Müller-Michaels Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, 1997, 34 f. 5 Differenzierend: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 15 ff. 6 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 6. 7 RL 96/92 des Europäischen Parlaments und des Rates v 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt – „Elektrizitätsrichtlinie“, ABl 1997, L 27/20 8 RL 98/30 des Europäischen Parlaments und des Rates v 22.06.1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – „Gasrichtlinie“, ABl 1998, L 204/1.
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mitentscheiden zu dürfen. Freilich soll der Netzbetreiber dem Netzeigentümer aber einen angemessenen Anteil am erwirtschafteten Netzzugangsentgelt als Gegenleistung für die Netznutzung zukommen lassen. In den Mitgliedstaaten regt sich Widerstand gegen die vorgesehenen Maßnahmen. So sei insbesondere das geplante „Ownership Unbundling“ nicht gemeinschaftskonform, da ein Zwang zur eigentumsmäßigen Trennung eines (staatlichen oder privaten) EVU von seinem Stromversorgungsnetz entgegen Art 295 EGV (345 AEUV) die nationalen Eigentumsordnungen berühre. Aber auch das ISO-Modell verstoße gegen diese Vorschrift, da bei dessen Verabschiedung das Eigentum am Netz nicht mehr selbstständig genutzt werden dürfe und dadurch zu einer leeren Hülle ohne jeden Wert werde. Das ISO-Modell komme deshalb einer de-facto-Enteignung gleich und berühre die mitgliedstaatlichen Eigentumsordnungen somit ebenfalls in unzulässiger Weise. Sind die geplanten Maßnahmen mit Art 295 EGV (345 AEUV) vereinbar? 9
In der – bzgl Art 295 EGV (345 AEUV) wenig ergiebigen – Rechtsprechung des EuGH 10, findet sich wiederholt die Aussage, dass die Mitgliedstaaten bei der Regelung des Eigentumsrechts an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gebunden seien.11 Dies bedeutet, dass selbst wenn bestimmte eigentums(ordnungs-)rechtliche Aspekte in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen (bspw der Betrieb öffentlicher Fernmeldeanlagen12, die Ausübung mitgliedstaatlicher Befugnisse beim Erwerb von Eigentum13, die nicht marktgerechte Vergütung öffentlicher Postunternehmen mit Monopolstellung zugunsten privatrechtlicher Tochtergesellschaften14 oder Flughafengebühren15), jene nicht von den materiellen Vorgaben des Primärrechts befreit sind.16 Der Gerichtshof betrachtet Art 295 EGV (345 AEUV) mithin nicht isoliert, sondern eingebettet in den Kontext der jeweils einschlägigen Vertragsbestimmungen.17 Die Norm wird damit unter einen allgemeinen Vorbehalt der Kompatibilität mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten und dem Nichtdiskriminierungsverbot gestellt.18
9 Zur Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz als Gemeinschaftsgrundrecht vgl Calliess Entflechtung im europäischen Energiebinnenmarkt, 2008. 10 Ausf dazu Calliess (Fn 9) S 31 ff. 11 V Milczewski Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, 26; Ruffert in: Henneke (Hrsg), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2002, 10, 19; vgl EuGH, Slg 1992, I-777, Rn 14 – Kommission/Italien; Slg 1992, I-829, Rn 18 f – Kommission/Vereinigtes Königreich; Slg 1993, I-5145, Rn 22 – Phil Collins ua. 12 EuGH, Slg 1985, 873, Rn 21 f – Italien/Kommission. 13 EuGH, Slg 1999, I-3099, Rn 38 – Konle; bekräftigt in Slg 2003, I-4899, Rn 39 – Salzmann; Slg 2002, I-11453, Tz 69 – British American Tobacco und Imperial Tobacco. 14 EuG, Slg 2000, II-4055, Rn 77 – Ufex u a/Kommission. 15 EuGH, Slg 2001, I-2613, Rn 58 f – Portugal/Kommission. 16 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 8. 17 Calliess (Fn 9) S 33. 18 Calliess (Fn 9) S 35; von einem weiteren Verständnis des Begriffs der „Eigentumsordnung“ ging GA Ruíz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen zu EuGH, Slg 2002, I-4731 ff Tz 56 – Kommission/Portugal aus. Seiner Ansicht nach habe sich die von Art 295 EGV geforderte Achtung der Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten auf alle Maßnahmen zu erstrecken, die es dem Staat erlauben durch hoheitlichen Eingriff zur Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens beizutragen.
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Im Schrifttum divergieren die Ansichten bezüglich der Auslegung des Art 295 EGV (345 AEUV).19 Eine weite Interpretation der Norm subsumiert unter den Begriff Eigentumsordnung alle das Privateigentum betreffenden verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, womit nicht nur die Vorschriften bzgl der Rechte des Eigentümers beim Entzug des Eigentums gemeint sind, sondern ebenfalls auch jene betreffend die Ausübung und Nutzung des Eigentums.20 Diese Ansicht überzeugt jedoch schon deshalb nicht, weil ein solches Verständnis auf eine Gleichsetzung der Begriffe „Eigentumsordnung“ und „Sachenrecht“ hinausliefe, womit letztlich jede das Eigentum berührende Maßnahme von Art 295 EGV (345 AEUV) erfasst wäre.21 Dann aber würden der Gemeinschaft – insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten – Kompetenzen entzogen, die sie zur Verwirklichung des Binnenmarktzieles benötigt. So zeigt auch Art 30 EGV (36 AEUV) im Hinblick auf das dort genannte kommerzielle Eigentum, dass mitgliedstaatliche Maßnahmen unverhältnismäßig sein können und damit der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts unterliegen.22 Eine andere Auffassung geht davon aus, dass der Gemeinschaft jede Entscheidung über die Eigentumsordnung und damit jeder formale Entzug von Eigentumspositionen versagt sein soll.23 An diese Auslegung anknüpfend will eine weitere Ansicht auf Grundlage des Art 295 EGV (345 AEUV) nicht nur die formale Eigentumsentziehung, sondern jeden gleichgewichtigen gemeinschaftlichen Eingriff in den Kern des mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumsgrundrechts untersagen.24 Unberührt bleiben soll allein die Befugnis der Gemeinschaft zum Erlass nutzungsbeschränkender Maßnahmen.25 Dem stehe auch die in Art 17 I 2 GRCh vorgesehene Entschädigungsregelung für Eigentumsentziehungen nicht entgegen, da sich diese Norm nur auf Enteignungen gemeinschaftsrechtlicher Vermögenspositionen beziehe.26 Gegen diese Auffassung spricht aber schon, dass im Wortlaut des Art 17 GRCh keine Differenzierung zwischen mitgliedstaatlichen und gemeinschaftlichen Eigentumsrechten angelegt ist. Hinzu kommt, dass die wechselseitige Durchdringung und Verflechtung der mitgliedstaatlichen und europäischen Eigentumsordnungen innerhalb des unionalen Staaten- und Verfassungsverbunds zur Unerheblichkeit der genauen Herkunft der jeweiligen Rechtsposition führt.27 Im Ergebnis kann daher, insbesondere auch vor dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund 28 des Art 295 EGV (345 AEUV), der Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art 295 EGV (345 AEUV) nur als „Eigentumszuordnung“ zu verstehen sein.29 Inhaltlich und methodisch überzeugend sowie vor allem der EuGH-Rechtsprechung korrespondie-
19 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 9. 20 Bär-Bouyssière in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 7; Brinker in: Schwarze, EUV, 2000, Art 295 Rn 2; Geiger EUV/EGV, Art 295 Rn 2; Ludwigs Rechtsangleichung nach Art 94/95 EG-Vertrag, 2004, 265; Stumpf EuR 2007, 291, 295 ff. 21 Calliess (Fn 9) S 37. 22 Calliess (Fn 9) S 135. 23 Schmidt-Preuß EuR 2006, 463, 475; Koenig/Kühling in: Streinz, EUV/EGV, Art 295 Rn 13. 24 Storr EuZW 2007, 232, 235. 25 Schmidt-Preuß EuR 2006, 463, 475; Linsmeier/Hamann et 5. 2007, 93, 96. 26 Schmidt-Preuß EuR 2006, 463, 475. 27 Calliess (Fn 9) S 135. 28 Dazu: Calliess (Fn 9) S 134; vertiefend: Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 2; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 2003, 683, 735. 29 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 10.
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rend erscheint deshalb der auch vom überwiegenden Schrifttum geteilte Ansatz, den Begriff der Eigentumsordnung im Rahmen von Art 295 EGV (345 AEUV) in dem Sinne eng auszulegen, als er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug eines mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumskerns vor gemeinschaftlichen Zugriffen schützt, sondern sich speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.30 Der Normzweck von Art 295 EGV (345 AEUV) ist insoweit darin zu sehen, dass Privatisierungs- oder Sozialisierungsmaßnahmen den Mitgliedstaaten vorbehalten sind; sie allein entscheiden gemäß ihren jeweiligen wirtschaftspolitischen Vorstellungen über eine wettbewerbskonforme Zuordnung des Eigentums. Davon unberührt bleibt aber die Befugnis der Gemeinschaft, den Umfang der Sozialpflichtigkeit des Eigentums festzulegen und dabei auch in den Bestand des Eigentums einzugreifen.31 Gemeinschaftsmaßnahmen können so gesehen sogar enteignenden Charakter haben,32 ohne damit die grundsätzliche Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten über die Eigentumszuordnung in Frage zu stellen.33 Art 295 EGV (345 AEUV) untersagt daher nur solche Eigentumsentziehungen, die die Zuordnung in Privat- und Staatseigentum betreffen und sich dabei als Teilstücke eines Privatisierungs- bzw Verstaatlichungskurses gesamter Branchen oder gar einer gesamten Volkswirtschaft darstellen.34 Die Norm beeinflußt jedoch nicht die Kompetenz des EuGH, Inhalt und Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsrechts nach Art 17 GRCh zu bestimmen.35 Lösung Fall 1: Eigentumsrechtliche Qualifizierung des Ownership Unbundling Das sog Ownership Unbundling führt zu einer weitgehenden Abspaltung des Stromversorgungsnetzes vom Mutterkonzern. Er darf keine Anteile mehr halten und muss folglich seine Netzbeteiligung zum Großteil an Dritte abgeben. Den EVU bleibt es somit nicht unbenommen über das Netz zu verfügen oder es einer anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen, weil der weit überwiegende Teil zu veräußern ist; mithin liegt ein Eigentumsentzug vor.36 So hat auch der EGMR eine „zwangsweise Eigentumsübertragung von einem Individuum auf ein anderes“ bei übergeordnetem Gemeinwohlzweck als Enteignung qualifiziert.37 Eigentumsrechtliche Qualifizierung des ISO-Modells Im Falle des ISO-Modells verbleibt das Netzeigentum juristisch gesehen beim bisherigen Eigentümer und wird lediglich von einem unabhängigen Unternehmen (ISO) betrieben und gemanaged. Da die EVU in dieser Variante nach wie vor frei über ihr Netzeigentum verfü-
30 Calliess (Fn 9) S 41. 31 Vgl auch GA Mischo, Schlussanträge zu EuGH, Slg 2003, I-11893, Ziff 37 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen. 32 Vgl Rn 42 ff. 33 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 11. 34 Calliess (Fn 9) S 42. 35 Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 Rn 16; Jetzinger Das Grundrecht auf Eigentum in den Transitionsstaaten des Balkan, 2006, 107; Wieland in: Dreier (Hrsg), GG-Kommentar, Art 14 Rn 22. 36 Zur Unterscheidung Nutzungsbeschränkung/Eigentumsentzug seitens des EuGH siehe die im Urteil Hauer (EuGH, Slg 1979, 3727 – Hauer) gemachten Vorgaben (ausf s u Rn 12 ff). 37 EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn 40 f – James.
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gen können, handelt es sich bei dieser Maßnahme um eine Beschränkung der Nutzung des Netzeigentums. Es ist zwar aber zu bedenken, dass das Energienetz üblicherweise gerade nur zu dem Zweck errichtet wurde, es auch zu betreiben. Wenn demnach das Eigentum an den Energienetzen zu einer bloßen Hülle ohne jeden Wert verkommt ist es daher fraglich, ob hier überhaupt noch von einer Nutzungsbeschränkung gesprochen werden kann oder nicht vielmehr eine de-facto-Enteignung angenommen werden muss. Da jedoch der ISO nach Maßgabe der Kommission zumindest einen Teil seines Netzzugangsentgelts an den Netzeigentümer weiterzuleiten hat, ist das ISO-Modell im Ergebnis als bloße Nutzungsbeschränkung zu qualifizieren.38 Projektion auf Art 295 EGV (345 AEUV)39 Auf dieser Grundlage ist nunmehr zu prüfen, ob das Ownership Unbundling als Eigentumsentzug bzw das ISO-Modell zumindest als Eigentumsbeschränkung unter Art 295 EGV (345 AEUV) fallen. In diesem Zusammenhang ist zunächst im Wege einer abstrakten Betrachtung zu ermitteln, welche der obigen Eigentumsbeeinträchtigungen Teil der „Eigentumsordnung“ im Sinne des Art 295 EGV (345 AEUV) sind. Vor dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund 40 des Art 295 EGV (345 AEUV), wie auch der EuGH-Rechtsprechung korrespondierend, muss der Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art 295 EGV richtigerweise als „Eigentumszuordnung“ verstanden werden41 und ist deshalb dahingehend auszulegen, dass er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug mitgliedstaatlich konstituierten Eigentums vor gemeinschaftlichen Zugriffen schützt, sondern sich speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.42 Der Sinn von Art 295 EGV (345 AEUV) ist darin zu sehen, dass die EU mit ihren Maßnahmen keine Privatisierung oder Vergesellschaftung von Eigentum bezwecken oder bewirken darf. Davon unberührt bleibt aber die Befugnis der Gemeinschaft, den Umfang der Sozialpflichtigkeit des Eigentums festzulegen und dabei auch in den Bestand des Eigentums einzugreifen.43 Nach alledem wird der gemeinschaftsrechtlich veranlasste Entzug von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum somit nicht generell von Art 295 EGV (345 AEUV) untersagt. Zu klären bleibt nun, welche Entflechtungsmaßnahmen Art 295 EGV (345 AEUV) verbietet. a) Ownership Unbundling aa) Zwang privater Unternehmen zur Veräußerung an private Netzbetreiber Diese von der Kommission vorgeschlagene Option zur Liberalisierung des Energiemarktes führt nicht zu einem Wechsel von privater zu öffentlicher Trägerschaft. Sie ist mithin mit Art 295 EGV (345 AEUV) vereinbar.
38 Vgl auch EuGH, Slg 2003, I-11893, Ziff 55 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen. 39 Ausf dazu: Calliess (Fn 9) S 59 ff. 40 Dazu: Calliess (Fn 9) S 134; vertiefend: Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 2; Hatje in: v Bogdandy, Europ VfR, 2003, 683 (735). 41 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 295 EGV Rn 10. 42 Calliess (Fn 9) S 41. 43 Vgl auch GA Mischo, Schlussanträge zu EuGH, Slg 2003, I-11893, Ziff 37 ff – Flughafen Hannover-Langenhagen.
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bb) Zwang staatlicher Unternehmen zur Veräußerung an private Netzbetreiber Umgekehrt steht Art 295 EGV (345 AEUV) aber einer gemeinschaftsrechtlich veranlassten Privatisierung einer durch ein öffentliches Unternehmen abgedeckten Wirtschaftsbranche entgegen, da es sich hierbei um eine vom Status Quo abweichende Regelung über die Eigentums(zu)ordnung in denjenigen Mitgliedstaaten handelt, in denen das Netz bisher im Eigentum staatlicher Unternehmen stand. Auch wenn im Rahmen des Ownership Unbundling nicht das gesamte vertikal integrierte staatliche Unternehmen privatisiert werden soll, so wird doch ein wesentlicher Bestandteil, das Netz, aus einem Unternehmen herausgelöst; es liegt mithin eine Teilprivatisierung vor, die wie die Privatisierung des gesamten Unternehmens eine dem Art 295 EGV (345 AEUV) unterfallende Eigentumszuordnung darstellt. cc) Zwang privater Unternehmen zur Veräußerung an staatliche Netzbetreiber Die Verpflichtung die Netze an ein unabhängiges öffentliches Unternehmen (staatliche Netzbetreiber) zu übertragen, würde sich für die privaten EVU als Verstaatlichung und damit als Eigentumszuordnung im Sinne der herrschenden engen Auslegung des Art 295 EGV (345 AEUV) darstellen. Auch dieser Weg ist damit dem Gemeinschaftsgesetzgeber aufgrund der Kompetenzsperre des Art 295 EGV (345 AEUV) verwehrt. dd) Zwang staatlicher Unternehmen zur Übertragung an staatliche Netzbetreiber Da das Eigentum an den Stromnetzen in dieser Konstellation nach wie vor in öffentlicher Hand bleibt, handelt es sich bei dieser „Entflechtungs-Option“ weder um eine Privatisierung noch um eine Verstaatlichung. Ein Zwang staatlicher Unternehmen zur Übertragung ihrer Netze an einen staatlichen Betreiber ist somit keine Eigentumszuordnung und mit Blick auf Art 295 EGV (345 AEUV) nicht zu beanstanden. Allerdings wäre diese Maßnahmenvariante kein Fall eines zulässigen Ownership Unbundling im Sinne der Kommissionsvorschläge, weil der jeweilige Mitgliedstaat aufgrund seiner völkerrechtlichen Betrachtung als Einheit („ein- und dieselbe Person“) die Stromversorgungssparte und die Netzgesellschaft aufgrund seines hier wie dort beherrschenden Einflusses gleichermaßen kontrollieren würde. b) ISO-Modell Wenn – wie von der Kommission geplant – das Entflechtungsvorhaben für Unternehmen in staatlichem Eigentum und in privatem Eigentum gleichermaßen gelten soll, kommt für EVU in öffentlicher Hand unter Berücksichtigung der dargestellten Vorgaben des Art 295 EGV (345 AEUV) allein das ISO-Modell in Betracht. Wie vorstehend geklärt, handelt es sich bei der ISO-Modell-Maßnahme um eine bloße Nutzungsbeschränkung. Da das jeweilige EVU im Rahmen der ISO-Lösung rechtlich gesehen das Netzeigentum, behält, fehlt es an einer Eigentumszuordnung, so dass die Kompetenzsperre des Art 295 EGV (345 AEUV) auf Grundlage der herrschenden engen Auslegung insoweit nicht greifen kann.
II. Die Herleitung und dogmatische Struktur des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts Fall 2: (EuGH, Slg 1979, 3727 – Hauer): Die deutsche Winzerin Liselotte Hauer beantragte im Juni 1975 die Genehmigung zur Anpflanzung von Weinreben auf ihrem Grundstück in Bad Dürkheim. Die Genehmigung wurde ihr vom Land Rheinland-Pfalz ua mit der Begründung verweigert, dass die in der Zwischenzeit erlassene EG-VO 76/1162 über Maßnahmen zur Anpassung des Weinbau-
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potentials an die Marktbedürfnisse 44 jede Neuanpflanzung von Weinreben für einen längeren Zeitraum untersage. In ihrer Klage vor dem Verwaltungsgericht machte die Winzerin ua geltend, dass ihr die Bestimmungen der EG-VO auch deswegen nicht entgegengehalten werden könnten, weil sie die in den Art 12 und 14 GG normierten Grundrechte der freien Berufsausübung und des Eigentumsschutzes verletzten. Das Verwaltungsgericht bat den EuGH mit Blick auf diese Frage um Vorabentscheidung.
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Lösung Fall 2: Grundlegend für den gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutz war vor der ausdrücklichen Regelung in Art 17 GRCh das Urteil des EuGH in der Rs Hauer 45. Denn hier erhob der EuGH erstmals einen „eigenen Anspruch bei der Formulierung einer gemeinschaftsspezifischen Eigentumsdogmatik“46. Obwohl es sich um eine ältere Entscheidung handelt, ist sie besonders geeignet, die – im Verfassungsverbund auch weiterhin bedeutsame – methodische Vorgehensweise des EuGH bei der Herleitung des Eigentumsrechts und der Bestimmung seiner Schranken zu verdeutlichen.
In seinem ersten Prüfungsschritt (unter Rn 14 des Urteils) nimmt der Gerichtshof auf sein Urteil in der Rs Internationale Handelsgesellschaft47 Bezug und betont, dass die Frage einer etwaigen Verletzung der Grundrechte durch eine Handlung der Gemeinschaftsorgane nicht anders als im Rahmen des Gemeinschaftsrechts selbst beurteilt werden könne. Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaats abhängiger Beurteilungskriterien würde, so der EuGH, die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des Gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge. Interessant erscheint, dass der EuGH in seinem ersten Prüfungsschritt maßgeblich auf die Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und nicht auf den Grundrechtsschutz des Einzelnen abstellt. Erst in seinem zweiten Prüfungsschritt (Rn 15 des Urteils) hebt der EuGH unter Bezugnahme auf das erwähnte Urteil in der Rs Internationale Handelsgesellschaft und das Urteil in der Rs Nold 48 hervor, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren habe. Der Gerichtshof „hat“ insoweit von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten „auszugehen“. Die in dem Wort „hat“ liegende Verpflichtung wird durch das Wort „auszugehen“ wieder abgeschwächt. Folglich muss der EuGH sich mit der Verbürgung des in Frage stehenden Eigentumsgrundrechts in den Verfassungen der Mitgliedstaaten auseinandersetzen. Der EuGH hat jedoch nur von diesen „auszugehen“ und ist mithin nicht an die konkreten Ausprägungen des Grundrechts in den Verfassungen der Mitgliedstaaten gebunden. Andererseits bieten gerade die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten einen geeigneten Ansatzpunkt, um den europäischen Gehalt des Eigentumsgrundrechts zu ermitteln. Dies gilt um so mehr, als der (Haupt-) Gesetzgeber der Gemeinschaft, der Ministerrat, sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt. Insofern sollte jenen nicht die Möglichkeit gegeben werden, sich über den Ministerrat den durch 44 45 46 47 48
VO 76/1162. EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer. Beutler EuR 1980, 130, 134. EuGH, Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft. EuGH, Slg 1974, 491 ff – Nold.
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die nationalen Grundrechte gezogenen Schranken der Gesetzgebung zu entziehen. Welcher Standard an Eigentum aber soll europarechtlich geschützt werden? Insoweit herrscht heute weitgehend Übereinstimmung, dass sich inhaltlich weder ein Minimalstandard noch ein Maximalstandard an Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft praktisch realisieren lässt.49 Einerseits führt das gemeinsame Minimum zu einem zu geringen Schutz, der geeignet ist, auf nationaler Ebene den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frage zu stellen.50 Andererseits ist ein wünschenswerter Maximalstandard mit Blick auf das jeweils unterschiedliche Grundrechtsverständnis in den einzelnen Mitgliedstaaten nur schwer durchsetzbar.51 Zur Lösung dieser Problematik wird bei der Gewinnung und Konkretisierung der europäischen Grundrechte ganz überwiegend auf die Methode der wertenden Rechtsvergleichung zurückgegriffen.52 Auch wenn der EuGH bisher die Methode, mit der er allgemeine Rechtsgrundsätze und damit Grundrechte entwickelt, nicht ausdrücklich benannt hat, so ergibt sich doch aus den Schlussanträgen der Generalanwälte53 und Stellungnahmen in der Literatur54, dass im Wege „wertender Rechtsvergleichung“ die „beste Lösung“ für das Gemeinschaftsrecht auf Grundlage nationaler und internationaler Grundrechtsverbürgungen gefunden werden muss. Anknüpfungspunkt für den EuGH ist insofern die Feststellung, dass sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze in die Ziele und Strukturen des EG-Rechts einfügen müssen.55 Folglich tendiert der EuGH dahin, dass bei einer Divergenz zwischen den Normen der nationalen Rechtsordnungen diejenige Rechtsordnung heranzuziehen ist, deren Norm sich am besten in die Ziele und Strukturen des EG-Rechts einpasst.56 In einem dritten Schritt (Rn 17–19 des Urteils) prüft der EuGH dann auf dieser dogmatischen Grundlage das europäische Grundrecht auf Eigentum: „Das Eigentumsrecht wird in der Gemeinschaftsrechtsordnung gemäß den gemeinsamen Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten gewährleistet, die sich auch im Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegeln.“ Interessanterweise beginnt der EuGH seine Prüfung dann aber nicht mit einer Bezugnahme auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, sondern mit der Prüfung von Art 1 1. ZP EMRK. Unter Bezugnahme auf Art 1 II 1. ZP EMRK stellt der Gerichtshof abschließend fest, dass das Protokoll Einschränkungen der Benutzung des Eigentums grundsätzlich zulasse, diese aber auf das von den Staaten im Hinblick auf den Schutz des „Allgemeininteresses“ für „erforderlich“ gehaltene Maß beschränke. Diese Bestimmung erlaube indessen noch keine hinreichend genaue Antwort auf die vom vorlegenden Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage. Deutlich wird einerseits, dass sich der EuGH in gewisser (nicht rechtlicher) Weise an die EMRK gebunden fühlt, obwohl die EG ihr (bisher) nicht beigetreten ist. Andererseits wird – insbesondere durch den abschließenden Satz – klargestellt, dass der EuGH die EMRK als bloßen Ausgangspunkt seiner Grundrechtsprüfung in Bezug nimmt. Sie ist 49 50 51 52 53
Vgl Rengeling Grundrechtsschutz in der EG, 1993, 224 mwN; krit Bleckmann ER, 29 ff. Vgl die Solange-Rspr des BVerfGE 37, 271, 285; 73, 339, 387; Ress/Ukrow EuZW 1990, 499, 504. Rengeling (Fn 49) S 224 mwN. Ausführlich dazu Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff. Schlussanträge GA Gand, EuGH, Slg 1967, 361, 367 – Firma Kampffmeyer; Schlussanträge GA Roemer, Slg 1971, 987, 990 – Zuckerfabrik Schöppenstedt; ders, Slg 1973, 1254, 1258, 1273 – Werhahn; Schlussanträge GA Warner, Slg 1976, 352 – van de Roy. 54 Vgl nur Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff; Ress/Ukrow EuZW 1990, 499, 500, 502 f; Rengeling (Fn 49) S 228 mwN. 55 Vgl etwa EuGH, Slg 1970, 1125, Rn 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 56 Bleckmann ER, 52 ff/Rn 99 ff.
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nur eine „erste Hürde“, die die Gemeinschaftsmaßnahme mit Blick auf den Grundrechtsschutz passieren muss. Die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen können als „zweite Hürde“ jedoch zusätzliche Anforderungen des Grundrechtsschutzes stellen. Spätestens in der Rs Hoechst hat der EuGH allerdings unzweideutig die Gleichrangigkeit der beiden Rechtsermittlungsquellen festgestellt,57 die sich solchermaßen auch im Wortlaut des Art 6 II EUV (6 II EUV-E) wiederfindet. In einem vierten Prüfungsschritt (Rn 20–22 des Urteils) nimmt der EuGH nunmehr einen Vergleich der mitgliedstaatlichen Verfassungen mit Blick auf die Ausgestaltung des Eigentumsrechts vor: „Für die Beantwortung dieser Frage müssen auch die Hinweise beachtet werden, die den Verfassungsnormen und der Verfassungspraxis der Mitgliedstaaten zu entnehmen sind. Hierzu ist als erstes festzustellen, dass es dem Gesetzgeber nach diesen Normen und der erwähnten Praxis gestattet ist, die Benutzung des Privateigentums im Allgemeininteresse zu regeln.“ Die Bezugnahme auf alle Mitgliedstaaten und die Praxis verdeutlicht, dass der EuGH auch die britische ungeschriebene Verfassung sowie jene Verfassungen, die sich nicht ausdrücklich mit dem Problem befassen, einbezieht. Nachdem der EuGH auf drei ausdrückliche Verfassungsbestimmungen konkret Bezug genommen hat, stellt er fest, dass in sämtlichen Mitgliedstaaten zahlreiche Gesetzgebungsakte der sozialen Funktion des Eigentumsrechts konkreten Ausdruck verliehen hätten: „So gibt es in allen Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Land- und Forstwirtschaft, des Wasserrechts, des Umweltschutzes, der Raumordnung und des Städtebaus, die die Benutzung des Grundeigentums – zuweilen erheblich – einschränken. Insbesondere bestehen in allen Weinbauländern der Gemeinschaft zwar unterschiedlich strenge, aber zwingende Rechtsvorschriften in Bezug auf die Anpflanzung von Weinreben. In keinem der betreffenden Länder werden diese Vorschriften grundsätzlich als unvereinbar mit der Wahrung des Eigentumsrechts betrachtet.“ Das Ergebnis dieser vergleichenden Analyse dient dem EuGH dazu festzustellen, dass der eigentumsbeschränkende Inhalt der VO 76/1162 eine in den Mitgliedstaaten vorkommende und in gleicher oder ähnlicher Form als rechtmäßig anerkannte Einschränkung darstellt. In seinem fünften und sechsten Prüfungsschritt (Nr 23–30 des Urteils) untersucht der EuGH schließlich in einer die vorangegangene Prüfung ergänzenden Weise, ob a) „die in der umstrittenen Regelung enthaltenen Einschränkungen tatsächlich dem allgemeinen Wohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen“ und b) „ob sie nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Vorrechte des Eigentümers darstellen, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet.“ Damit nimmt der EuGH auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip Bezug. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz – basierend auf den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten58 – ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip in ständiger Rechtsprechung des EuGH als ungeschriebener Bestandteil des Gemeinschaftsrechts anerkannt. Nunmehr ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch ausdrücklich in Art 5 III EGV (5 IV EUV-E) verankert.59 Sodann prüft der EuGH mit Blick auf den konkreten Fall zunächst, ob die Maßnahme dem allgemeinen Wohl dient. Hierfür legt er einen europäischen Maßstab zugrunde. Unter Bezugnahme auf die Präambel der Verordnung und die allgemeinen Ziele der jeweiligen Politik, hier der Agrarpolitik, bejaht er dies. Sodann nimmt er hinsichtlich des so gefundenen Gemein57 EuGH, Slg 1989, 2859, Rn 13 ff – Hoechst; vgl Ress/Ukrow EuZW 1990, 499, 501. 58 Vgl den ausf Überblick bei Schwarze Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl 2005, 690 ff. 59 Ausf Calliess Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 2. Aufl 1999, 116 ff mwN.
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wohlbelangs (Eindämmung von Überschüssen, Förderung der Weinqualität) mit positivem Ergebnis eine sehr knapp gehaltene und dogmatisch unscharfe, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit nicht klar trennende, Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.
III. Das europäische Eigentumsgrundrecht im Einzelnen 1. Vorüberlegungen Wie im deutschen Verfassungsrecht zeichnet sich auch das Eigentumsgrundrecht auf Gemeinschaftsebene durch einen sog normgeprägten Schutzbereich aus.60 Sein Schutzgegenstand muss – anders als zB im Falle der Meinungsfreiheit – normativ erst durch den Gesetzgeber (innerhalb bestimmter Grenzen, die durch einen mit den Begriffen Privatnützigkeit und Institutsgarantie umschriebenen Kernbereich gezogen sind) 61 geschaffen werden. Eigentum ist also eine Schöpfung der Rechtsordnung(-en).62 Ganz in diesem Sinne macht auch Art 295 EGV (345 AEUV) deutlich, dass die Inhaltsbestimmung dessen, was eigentlich zum Eigentum zählt, mithin vom Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts umfasst ist, im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und die Normen des Gemeinschaftsrechts gemeinsam bestimmt wird.63 Das gemeinschaftsrechtliche Schutzgut des Eigentums setzt sich also, wie es Art 17 I 3 GRCh nahe legt, aus den Normen des nationalen und europäischen Rechts zusammen. Auch wenn Art 17 GRCh in Anlehnung an Art 1 1. ZP EMRK formuliert worden ist,64 so spielt die EMRK, respektive Art 1 1. ZP EMRK, bei der Bestimmung des Schutzbereichs eine untergeordnete Rolle. Denn mit Blick auf die Normprägung des Schutzbereichs kann die EMRK über den Wortlaut von Art 1 1. ZP EMRK hinaus nichts beisteuern; den Inhalt des Eigentums prägende Rechtsnormen können der EMRK mangels eines eigenen, das Eigentum ausgestaltenden Gesetzgebers nicht entnommen werden.
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2. Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts a) Persönlicher Schutzbereich Auf die Eigentumsfreiheit können sich nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl natürliche als auch juristische Personen des Privatrechts berufen.65 Art 17 GRCh spricht insofern umfassend von „Person“. Die Frage, ob der Eigentumsschutz auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts zusteht, wurde in der EuGH-Rechtsprechung bislang noch nicht thematisiert.66 In der Literatur wird dies unter bestimmten Voraussetzungen bejaht; zum Teil wird darauf abgestellt ob Privatpersonen am Gesellschaftsvermögen beteiligt 60 Vgl auch Jarass GR, § 22 Rn 15. 61 BVerfGE 58, 300 ff – Nassauskiesung. 62 Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 214 ff; Huber Politische Studien, Sonderheft 1/2000, 45, 46 f, 49 f mwN. 63 S auch Jarass GR, § 22 Rn 7; anders: Heselhaus, in: ders/Nowak, GR, § 32 Rn 16 u 36 (mwN), der auf der Grdl des Art 295 EGV davon ausgeht, dass das EU-Eigentumsgrundrecht seine Normprägung iW durch die mitgliedstaatl Eigentumsordnungen erhält. 64 Vgl die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, wonach Art 17 GRCh Art 1 1. ZP EMRK entspr, ABl 2004 C 310/436 f, 457; s zur Diskussion im Konvent Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 17 Rn 6 ff. 65 EuGH, Slg 1979, 3727 Rn 14 ff – Hauer; Slg 1980, 907 Rn 1, 88 ff – Valsabbia; Slg 1984, 4057 Rn 1, 21 ff – SA Biovilac NV/EWG; Slg 1989, 2237 Rn 2, 13 ff – Schräder. 66 Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 60; ausf Korte in: FS Stober, 2008, S 127 ff.
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sind 67 oder ob durch die betroffene juristische Person Hoheitsgewalt ausgübt wird.68 Überzeugenderweise sollte aber auf die Vergleichbarkeit der Gefährdungslage abgestellt werden.69 Insoweit ist eine gewisse Distanz zum Staat ausschlaggebend, so wie dies etwa der Fall bei selbstständigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen ist, die nicht befugt sind hoheitliche Gewalt auszuüben.70 b) Sachlicher Schutzbereich 16
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Fall 3: (EuGH, Slg 1994, I-4973 ff – Deutschland/Rat): Durch die VO 93/404 wurde eine gemeinsame Marktorganisation für Bananen eingeführt. Nach deren Regelungen sollen Bananen aus den mit der EU über die Entwicklungspolitik assoziierten sog AKP-Staaten sowie solche, die innerhalb der EU einschließlich ihrer überseeischen Gebiete produziert wurden, den größten Teil des Bananenmarktes ausmachen; für aus Drittländer eingeführte Bananen werden Gemeinschaftskontingente (Importquoten) eingeführt, die auf die Importeure aufgeteilt werden sollen. Gegen die Bananenmarktordnung erhob Deutschland Nichtigkeitsklage gem Art 230 EGV (263 AEUV) ua mit der Begründung, dass diejenigen Importeure, die bisher Bananen in großem Umfang aus Mittelamerika eingeführt hätten, durch den mit den Importquoten verbundenen Entzug von Marktanteilen in ihrem Eigentumsgrundrecht verletzt seien.
Art 17 GRCh schützt das Sacheigentum,71 aber auch nichtkörperliche Gegenstände, etwa private Forderungsrechte72 und – wie Art 17 II GRCh deutlich macht – auch geistige Eigentumsrechte (Urheber-, Patent-, Verlags-, Marken- und sonstige Schutzrechte).73 Gemäß seinem Wortlaut schützt Art 17 GRCh nur rechtmäßig erworbenes Eigentum. Es stellt sich daher die Frage, ob unrechtmäßig erlangtes Eigentum (bspw durch eine Straftat) aus dem Schutzbereich herausfällt. Dies wird man auf Grund des klaren Wortlauts der Norm wohl bejahen müssen.74 Blickt man freilich auf Art 1 1. ZP EMRK, so stellt man fest, dass dort eine entsprechende Einschränkung nicht vorhanden ist. Da die EMRK aber wiederum den Erwerbsvorgang als solchen nicht schützt75, bleibt der Unterschied für Art 17 GRCh im Ergebnis folgenlos. 67 v Milczewski (Fn 11) S 279 f. 68 Grabenwarter in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner GG-Kommentar, Anh zu Art 14, S 15. 69 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 54 zu Verfahrensrechten; Müller-Michaels (Fn 4) S 43. 70 So wie hier auch Heselhaus in: Heselhaus/Nowak, GR § 32 Rn 60. 71 Rengeling DVBl 2004, 453, 459; zu Art 17 GRCh vgl Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 17 Rn 15; Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 17 GRCh Rn 6 ff; schon EuGH, Slg 1979, 3727 Rn 17 ff – Hauer; ausführlich Günter Berufsfreiheit und Eigentum in der EU, 1998, 33 f. 72 Vgl Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 17 GRCh Rn 15; s auch Müller-Michaels (Fn 4) S 66 zu Art 1 1. ZP EMRK. 73 Schon EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 21 ff – Metronome Musik; zuletzt EuGH, EuGRZ 2008, 131 – Promusicae; Günter (Fn 71) S 34 ff; zu Art 1 1. ZP EMRK; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 806; Riedel EuGRZ 1988, 333, 334; Grabenwarter (Fn 68) S 13; Tettinger FS Bartenbach, S 43 ff. 74 AA Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 17 GRCh Rn 16; Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 17 GRCH Rn 14; Jarass GR, § 22 Rn 7, wenn es nach dem einschlägigen Recht zu einem wirksamen Erwerb der Rechtspostion gekommen ist, wobei die Rechtswidrigkeit des Erwerbs bei der Beurteilung der Rechtfertigung bedeutsam sei. Weitergehend Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 808, wonach im Streitfall die Rechtmäßigkeit zu unterstellen sei. 75 KomMR, ZE v 11.4.1996 – 28390/95 – Alzbeta Pezoldova/Tschechische Republik (n v).
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Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH fällt das Vermögen als solches, etwa in Form von Geldleistungspflichten, nicht unter den Begriff des Eigentums.76 Hatte der EuGH zunächst noch offengelassen, ob Rechtspositionen öffentlich-rechtlicher Natur (zB Sozialleistungen) vom Eigentumsschutz umfasst werden,77 so hat er dies in neuerer Rechtsprechung angenommen, wenn sie jedenfalls zum Teil auch auf Eigenleistungen des Berechtigten beruhen.78 Daran fehlt es bei kommerziellen Vorteilen als Folge von marktsteuernden Maßnahmen, wie der Zuteilung von Referenzmengen im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation.79 Auch bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten, deren Ungewissheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehört,80 wie etwa ein bestimmter Marktanteil,81 sind nach bisheriger Rechtsprechung vom gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutz nicht umfasst. Freilich macht die Abgrenzung, etwa im Falle von wettbewerbssteuernden Maßnahmen der Gemeinschaft (zB Festlegung von Erzeugerquoten und Vermarktungsregeln) Schwierigkeiten. Zumindest immer dann ist das Eigentumsgrundrecht beeinträchtigt, wenn die Nutzung der Produktionsstätten und -anlagen des Gewerbebetriebes unmittelbar betroffen ist. So liegt es etwa bei Quoten für die Erzeugung von Stahl.82 Anders liegt es wiederum bei Maßnahmen, die (wie zB Mindestpreisregelungen83) nur die Vermarktung des Produktes, nicht aber die Nutzung des Eigentums an den Produktionsstätten und -mitteln selbst betreffen.84 Schließlich umfasst das Eigentumsgrundrecht auch den sog Dispositions- und Bestandsschutz, mithin das Vertrauen des Eigentümers auf den Fortbestand der vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtslage, die ihm die Nutzung des Eigentums ermöglicht.85 Es handelt sich hierbei um die vom EuGH als „wohlerworbene Rechte“86 bezeichneten Rechtspositionen, die wiederum von den bloßen Erwartungen und Gewinnchancen abzugrenzen sind. Sie setzen einen auf Maßnahmen der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten gegründeten Vertrauenstatbestand voraus.87 Ein solcher kann nach Auffassung des EuGH freilich dort nicht entstehen, wo Entscheidungen der Gemeinschafts-
76 Deutl EuGH, Slg 1991, I-415, Rn 74 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; unklar hingegen EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 ff – Schräder; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 37 f; krit Günter (Fn 71) S 40 ff sowie Schilling EuZW 1991, 310 f. 77 EuGH, Slg 1980, 1979, Rn 22 – Testa; Slg 1991, I-323 ff – Rönfeldt; gegen eine Einbeziehung GA M Darmon im Schlussantrag zu dieser Entscheidung (Ziff 16); ausführlich zum Schutz öffentlichrechtlicher Rechtspositionen: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 46 ff. 78 EuGH, Slg 1991, I-5119, Rn 27 – von Deetzen; Slg 1994, I-955, Rn 19 – Bostock; Slg 1995, I-3875, Rn 14 – Country Landowners Association; EuG, Slg 1995, II-2071, Rn 99 – O’Dwyer; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 24. 79 Nach EuGH, Slg 2003, I-14083, Rn 50 – Arcor unterfällt nur der entgeltliche Erwerb einer Referenzmenge dem Eigentumsgrundrecht; dazu Jarass GR, § 22 Rn 10 f. 80 EuGH, Slg 1974, 491, Rn 14 – Nold; Slg 1980, 907, Rn 89 – Valsabbia. 81 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat (Bananen). 82 EuGH, Slg 1982, 4261, Rn 13 – Metallurgiki Halyps; Slg 1985, 2831, Rn 29 – Hoogovens Groep. 83 EuGH, Slg 1980, 907, Rn 90 – Valsabbia. 84 Günter (Fn 71) S 39. 85 Rengeling (Fn 49) S 46. 86 EuGH, Slg 1976, 1097, Rn 18, 20 – Elz/Kommission; Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiana. Nach Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 43 bezeichnet die Figur der wohlerworbenen Rechte nicht den Vertrauensschutz als Aspekt eines Eingriffs in das Eigentumsgrundrecht, sondern werde separat von der Prüfung der Eigentumsfreiheit durch den EuGH angewandt. 87 EuGH, Slg 1992, I-35, Rn 14 f – Kühn.
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organe im Rahmen ihres Ermessens (insbesondere im Anwendungsbereich der Marktordnungen) verändert werden können.88 Die hiermit verbundene Relativierung des Eigentumsschutzes ist allerdings nicht unproblematisch. Denn der Umfang des Schutzes darf nicht davon abhängen, ob das Vertrauen auf die zukünftige Nutzung durch das Handeln der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten durchbrochen werden kann. Von maßgeblicher Bedeutung muss das Gewicht des dem Eigentum entgegenstehenden Interesses sein, das im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung zu prüfen ist.89 Die Frage, ob der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb in seiner Gesamtheit (also über den Schutz der in ihm enthaltenen Produktionsmittel hinaus) von der Eigentumsgarantie umfasst ist, bleibt offen.90 Dies ist nicht weiter problematisch, vergegenwärtigt man sich, dass der Schutz des Gewerbebetriebes im Ergebnis nicht weiter reichen kann als der seiner im Einzelnen ja bereits vom Eigentumsgrundrecht geschützten Grundlagen, mithin in jedem Falle der Bestand des Unternehmens betroffen sein muss.91 Lösung Fall 3: In den Regelungen zur Bananenmarktordnung konnte der EuGH schon keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Eigentumsgrundrechts feststellen. Denn kein Wirtschaftsteilnehmer könne ein Eigentumsrecht an einem Marktanteil geltend machen, den er zu einem Zeitpunkt vor Einführung der gemeinsamen Marktorganisation besessen habe.92 Marktanteile seien „augenblickliche wirtschaftliche Positionen, die den mit einer Änderung der Umstände verbundenen Risiken ausgesetzt sind.“93 Ein Wirtschaftsteilnehmer könne auch kein wohlerworbenes Recht bzw auch nur berechtigtes Vertrauen auf Beibehaltung einer bestehenden Situation geltend machen, solange die Gemeinschaftsorgane im Rahmen ihres rechtmäßigen Ermessens handelten.94
3. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 23
Fall 4: (EuGH, Slg 1984, 3881 – Olivenöl): Durch EG-VO 81/71 wurde der Kauf von Olivenöl, das die italienische Interventionsstelle A im Rahmen der Verpflichtungen aus der Gemeinsamen Agrarpolitik im Zuge von Interventionsmaßnahmen aufgekauft hatte und das von der EG bereits mehrfach erfolglos zum Verkauf auf dem Markt angeboten worden war, zu einem äußerst günstigen Festpreis ermög-
88 EuGH, Slg 1979, 2749, Rn 22 – Eridiana; Slg 1982, 3745, Rn 27 – Faust/Kommission; Slg 1992, I-35, Rn 13 – Kühn; Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat (Bananenmarktordnung). 89 Calliess in: ders/Ruffert, EUV/EGV, Art 17 GRCh Rn 8; ferner Besse JuS 1996, 396, 400 f; Huber EuZW 1997, 517, 521; Nettesheim EuZW 1995, 106 f. 90 So Rengeling DVBl 2004, 453, 460; Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 45; dafür: Rengeling (Fn 49) S 36, 46 f; Wetter Die Grundrechts-Charta des EuGH, 1998, S 145 ff unter Hinweis auf EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 21 ff – Biovilac, sowie Thiel JuS 1991, 274, 279; skeptisch mit Blick auf die zitierte Rspr Grabenwarter (Fn 68) S 13; Becker, YEL 2007, 267, 271. 91 Müller-Michaels (Fn 4) S 39 f; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 809; auch EuGH, Slg 1980, 907, Rn 90 – Valsabbia, scheint in diese Richtung zu tendieren. Nach Jarass GR, § 22 Rn 13 deutet EuGH Slg 2003, I-11893, Rn 55, 58 – Flughafen Hannover-Langenhagen darauf hin, dass Art 17 GRCh zum Tragen kommt, wenn die Existenz eines Unternehmens gefährdet ist. 92 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat (Bananen). 93 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 79 – Deutschland/Rat (Bananen). 94 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 80 – Deutschland/Rat (Bananen).
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licht. Der vorgesehene Festpreis war offenbar so interessant, dass die Käufer unter den vielen Interessenten ausgelost werden mussten. K ging aus der Verlosung als Käufer hervor. Nachdem A und die EG-Kommission sich nunmehr bewusst geworden waren, dass die Käufer infolge der nicht marktgerechten Festpreise für das Olivenöl mit außerordentlich hohen Gewinnen rechnen konnten, verzögerten sie zunächst die Übergabe der Ware. Sodann erließ die Kommission die VO 81/2238, mit der die VO 81/71 – und damit auch die Grundlage des Anspruchs von K auf Herausgabe des gekauften Olivenöls – „wegen der veränderten Marktlage und zur Vermeidung von schweren Störungen des Marktes aus übergeordnetem öffentlichen Interesse“ rückwirkend aufgehoben wurde. Durch VO 81/2239 wurde das Olivenöl dann erneut angeboten, diesmal aber nicht mehr zu einem Festpreis, sondern an den Meistbietenden unter Festsetzung eines Mindestverkaufspreises. Den ausgelosten Käufern, also auch K, wurde hierbei ein Vorkaufsrecht eingeräumt. Gegen die VO 81/2238 erhob K Nichtigkeitsklage.
Nach Art 17 GRCh liegt ein Eingriff vor, wenn eine eigentumsfähige Position entzogen oder ihre Nutzung, Verfügung oder Verwertung Beschränkungen unterworfen wird.95 Dieser Definition liegt die bisherige Rechtsprechung des EuGH zugrunde, wobei der EuGH selbst die der EMRK zugrundeliegende Konzeption des Eigentumseingriffs (vgl Art 1 1. ZP EMRK) übernommen hat.96 Mit Blick auf die Normprägung des Eigentumsgrundrechts ist aber bei Maßnahmen des Gesetzgebers zunächst zwischen eigentumskonstituierenden und eigentumsbeeinträchtigenden Normen zu unterscheiden, so dass nicht schon jede rechtliche Regelung, die das Eigentum betrifft, einen Eingriff darstellt. Wie eingangs bereits erwähnt wurde, kann im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund das nationale Eigentum auch durch Gemeinschaftsregeln mitgestaltet, -begrenzt und -erweitert werden97. Dabei ist die generelle und pflichtneutrale Regelung der Nutzung des Eigentums durch den Gemeinschaftsgesetzgeber solange kein Eigentumseingriff, wie sie sich nicht auf durch frühere eigentumskonstituierende Vorschriften entstandene Rechtspositionen erstreckt und die darin enthaltene Befugnis verkürzt.98
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a) Beschränkungen des Eigentums Beschränkungen sind Maßnahmen, die das Eigentum nicht (auch nicht nur teilweise) entziehen, sondern nur seine Nutzung zeitlich, räumlich oder sachlich einschränken.99 Entsprechend der Eigentumsgarantie der EMRK und den mitgliedstaatlichen Ausformungen des Eigentumsgrundrechts ist der Gesetzgeber auch nach Art 17 GRCh befugt, die Benutzung des Privateigentums im Allgemeininteresse zu regeln. Demgemäß kann auch die gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgarantie keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden.100 95 Rengeling DVBl 2004, 453, 460; vgl zu Art 17 I 2, 3 GRCh: Grabenwarter (Fn 68) S 15 f; Dupp/ Grzeszick in: König/Rieger/Schmitt, Europa der Bürger, 1998, 111, 119. 96 EuGH, Slg 1979, 3727 ff. – Hauer; vgl zur EMRK Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 24 ff; Grabenwarter EMRK § 25 Rn 8 ff. 97 Vgl bereits Pernice Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, 185. 98 Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Auflage 2002, Art 6 EUV Rn 153. 99 Zum Abgrenzungsproblem vgl etwa Müller-Michaels (Fn 4) S 74 f. 100 EuGH, Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1998, I-7967, Rn 79 – Generics; EuG, Slg 2003, II-4653, Rn 170 – Van den Bergh Foods/Kommission.
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Auch im Gemeinschaftsrecht findet die Gewährleistung des Eigentums also eine Ergänzung durch das Prinzip der Sozialpflichtigkeit.101 Seine gesellschaftliche Funktion ist zugleich Rechtfertigung und Grenze für Nutzungsbeschränkungen des Eigentums. Eine Eigentumsbeschränkung kann zunächst unmittelbar durch eine Einzelfallregelung, also konkret-individuell, grundsätzlich aber auch durch eine Norm, also abstrakt-generell, erfolgen. Wenn die beanstandete Maßnahme den Kläger wie alle anderen betrifft, ihn also nicht in irgendeiner Weise heraushebt, tendiert der Gerichtshof freilich dazu, einen Eingriff abzulehnen.102 Zum Problem wird damit die Beurteilung nur mittelbar belastender Maßnahmen: Veränderungen der äußeren Wettbewerbsbedingungen durch Maßnahmen der Gemeinschaft (etwa Interventionsverkäufe von Magermilchpulver zu Billigpreisen zum Nachteil anderer Marktteilnehmer)103 oder die Abschaffung bisher bereitgehaltener Vermarktungsmöglichkeiten104 sind vom EuGH bislang nicht als Eingriff qualifiziert worden. Auf der anderen Seite hat er aber wiederum die negativen Auswirkungen von Sanktionsmaßnahmen auf die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer als Eingriff angesehen.105 Sofern die mittelbaren Wirkungen der staatlichen Maßnahme zu einer unmittelbaren Nutzungs-, Verfügungs- oder Verwertungsbeschränkung führen, lässt sich daher durchaus ein Eingriff annehmen; eine Existenzgefährdung ist insoweit nicht erforderlich.106 Im Übrigen ist ein Eingriff in die Berufsfreiheit zu prüfen. b) Eigentumsentziehungen
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Der schärfstmögliche Eingriff, die Eigentumsentziehung, umfasst – wenn man sich an der EMRK orientiert – sowohl die formelle Enteignung durch Gesetz bzw aufgrund Gesetzes als auch sonstige Eigentumsbeschränkungen, die den Eigentümer faktisch ebenso wie eine formelle Enteignung treffen (de facto-Enteignungen).107 Es gibt bislang keine konkrete Rechtsprechung des EuGH zu Eigentumsentziehungen.108 Ungeklärt ist überdies, ob im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgarantie neben dem formalen Entzug von Eigentum auf Grundlage einer hoheitlichen Maßnahme gegebenenfalls auch sonstige für einzelne Eigentümer unzumutbare Eigentumsbeschränkungen in unmittelbarer Folge einer Unionsmaßnahme als sog de-factoEnteignung anzuerkennen wären.109 Daran schließt sich die Frage an, welche Intensität ein 101 Dazu: Orfanidis Eigentumsproblematik und Mitbestimmung hinsichtlich der Europäischen Verfassung 2006, 52. 102 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 23 – SMW Winzersekt. 103 EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 22 – Biovilac; Slg 1987, 49, Rn 25 ff – Zuckerfabrik Bedburg. 104 EuGH, Slg 1996, I-795, Rn 64 – Frankreich und Irland/Kommission. 105 EuGH, Slg 1996, I-3953, Rn 22 f – Bosphorus; Slg 2000, I-9541, Rn 59 – Invest/Kommission. 106 So aber Grabenwarter (Fn 68) S 17; wie hier v Milczewski (Fn 11) S 78. 107 EGMR, EuGRZ 1983, 523, Rn 63 – Sporrong und Lönnroth; ausführlich Gelinsky Der Schutz des Eigentums gemäß Art 1 1. ZP EMRK, 1996, 56 ff; Mittelberger EuGRZ 2001, 364; Grabenwarter EMRK, § 25 Rn 11; Depenheuer in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 17 GRCh Rn 63; zum Begriff der de-facto Enteignung im Recht der EMRK: Reininghaus Eingriffe in das Eigentumsrecht nach Art 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK 2002, S 71. 108 Im Ergebnis ebenso: Streinz in: ders, EUV/EGV, Art 17 GR-Charta Rn 10; Becker YEL 2007, 267, 277. 109 Zu dieser Frage Stellung nehmend: Calliess (Fn 13) S 51; gegen die Annahme einer „dritten Eingriffskategorie“ neben Entziehung und Beeinträchtigung des Eigentumsrechts: Heselhaus in: Heselhaus/Nowak, GR, § 32, Rn 18 f.
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Eingriff erreichen müsste, um gemeinschaftsrechtlich als sog de-facto-Enteignung zu gelten. Erschwerend wirkt insofern die Tatsache, dass der EuGH Wirkung und Ausmaß eines Eingriffs in der Regel erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung untersucht.110 In Ermangelung richtungsweisender Judikatur fragt sich somit, wie eine Annäherung an den Enteignungsbegriff erfolgen kann. aa) Negativabgrenzung Möglich ist insofern zum einen eine Negativabgrenzung, denn ein Eingriff, der vom EuGH bereits als eine reine Nutzungsbeschränkung qualifiziert wurde, wird bei ähnlicher Sachlage erwartungsgemäß kaum eine Entziehung begründen können. So liegt nach jüngerer EuGH-Rechtsprechung in der hoheitlich angeordneten Vernichtung von Sacheigentum keine Eigentumsentziehung.111 Konkret ging es in diesem Fall um die durch einen Mitgliedstaat, im Rahmen der in einer Richtlinie vorgesehenen Bekämpfung von Tierseuchen, angeordnete sofortige Schlachtung und Vernichtung des Fischbestandes einer Fischzuchtanlage. In dieser für die Eigentümer der Fischzuchtanlage höchst eigentumsrelevanten Maßnahme sah der EuGH lediglich eine Nutzungsbeschränkung, die – unabhängig von einem Verschulden der Eigentümer am Ausbruch der Krankheit – auch ohne Entschädigung mit dem Grundrecht auf Eigentum vereinbar sei.
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bb) Indirekte Aussagen des EuGH zur Abgrenzung Zum anderen äußerte sich der EuGH in einigen Entscheidungen indirekt zu den Anforderungen an eine Enteignung. Insoweit ist wiederum auf das schon mehrfach zitierte, für das Eigentumsgrundrecht grundlegende Urteil Hauer zu verweisen (→ ausf Rn 12 ff).112 Hier führte der EuGH aus: „Im vorliegenden Fall kann das Neuanpflanzungsverbot unbestreitbar nicht als eine Maßnahme zur Entziehung des Eigentums angesehen werden, da es dem Eigentümer unbenommen bleibt, über sein Gut zu verfügen und es jeder anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen“.113 Mit Bezug auf den Fall formuliert der EuGH hier also ein abstraktes Abgrenzungskriterium zwischen einer Eigentumsbeschränkung und einer Eigentumsentziehung. Demnach hält der EuGH offenbar erst dann die Schwelle zur Entziehung für überschritten, wenn das Recht des Eigentümers in der Form des Eigentumsgegenstandes selbst, der Verfügungsbefugnis oder aber sämtlicher Nutzungsmöglichkeiten dauerhaft beeinträchtigt ist. In zahlreichen weiteren Urteilen hat der EuGH diese grundlegenden Ausführungen bestätigt. So führte der Gerichtshof etwa in einem jüngeren Urteil, dass das Verbot einer bestimmten Bezeichnung für italienische Qualitätsweine zum Inhalt hatte, aus: „Dieses Verbot stellt keinen Entzug des Eigentums iS von Art 1 I 1. ZP EMRK dar, weil es nicht jede sinnvolle Art der Vermarktung der betroffenen italienischen Weine ausschließt“114.
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Müller-Michaels (Fn 4) S 47. EuGH, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd. EuGH, Slg 1979, 3727 ff – Hauer. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer. EuGH, Slg 2005, I-3785, Rn 122 – Tocai.
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cc) Förmliche Enteignung / de-facto-Enteignung 32
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Fraglich ist, ob der Gerichtshof ähnlich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von der Möglichkeit einer sog de-facto-Enteignung ausgeht. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine Eigentumsentziehung im Sinne der EMRK nicht nur in einer förmlichen Enteignung (formal expropriation/expropriation formelle) begründet sein, sondern auch dann vorliegen, wenn zwar die formale Eigentümerstellung unberührt bleibt, dem Eigentümer aber alle damit verbundenen Rechte genommen werden und damit die Eigentumsposition faktisch verschwindet.115 Offen bleibt insoweit die Position des EuGH. Fraglich ist zum Beispiel, ob gänzlich fehlende oder verlustbringende Entgelte Dritter für eine Eigentumsnutzung noch als Eigentumsbeschränkung anzusehen sind, oder aber hier die Grenze zu einer faktischen Enteignung überschritten ist. Für eine Einordnung als bloße Eigentumsbeschränkung könnte zwar die vorstehend zitierte Rechtsprechung des EuGH116 in der Rechtssache Hauer angeführt werden, da hier eine Eigentumsentziehung wie erwähnt abgelehnt wurde, weil der Inhaber das streitgegenständliche (Wein-)Gut (wenn auch zu einem deutlich niedrigeren Preis117, so doch immerhin) noch verkaufen konnte. Zu bedenken ist freilich, dass es im Fall Hauer im Hinblick auf die untersagte Neuanpflanzung von Weinreben nicht um eine aktuell zur Ertragserwirtschaftung genutzte Eigentumsposition ging. Interessant sind daher zum Beispiel die Erwägungen des EuGH im Fall Flughafen Hannover-Langenhagen: „Was das Eigentumsrecht betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die fehlende Befugnis des Leitungsorgans eines Flughafens zur Erhebung eines Zugangsentgelts entgegen der Auffassung des Flughafens nicht bedeutet, dass das Leitungsorgan aus seinen wirtschaftlichen Leistungen auf dem Markt der Bodenabfertigungsdienste, zu dem es Zugang zu gewähren hat, keinen Gewinn erzielen könnte. (…) Da die vom Flughafen vorgebrachte Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts somit auf der irrigen Prämisse beruht, dass ihm die Nutzung seines Flughafens zur Gewinnerzielung verwehrt werde, kann sie nicht durchgreifen.“118 Aus der Formulierung des EuGH, dass der Eigentümer „…nicht nur seine Kosten für das Zurverfügungstellen und den Unterhalt der Flughafeneinrichtungen decken, sondern auch eine Gewinnspanne erzielen kann“ lässt sich folgern, dass die Ermöglichung der Vereinnahmung eines kostendeckenden und darüber hinaus (angemessen) gewinnbringenden Ertrags durch den Einsatz des Eigentums als Voraussetzung einer (zulässigen) Eigentumsnutzungsbeschränkung angesehen wird. Wäre dies nicht gewährleistet gewesen, hätte der EuGH wohl eine de-facto-Enteignung angenommen. dd) Zwischenergebnis
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Obgleich der EuGH bislang in keinem der von ihm entschiedenen Fälle eine Eigentumsentziehung angenommen hat, ist von der Existenz des Instituts der Eigentumsentziehung auszugehen. Dieses Ergebnis lässt sich aus der EuGH-Rechtsprechung ableiten und wird zudem vom Wortlaut des (bislang freilich rechtlich unverbindlichen) Art 17 GRCh gestützt.
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EGMR, Nr 7151/75 (1982) Rn 63. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer. So Jarass GR, § 22, Rn 18. EuGH, Slg 2003, I-11893, Rn 55 – Flughafen Hannover-Langenhagen I.
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Lösung Fall 4: Die Nichtigkeitsklage von K gem Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) ist zulässig, insbesondere ist er durch die von der VO 81/2238 bewirkte Aufhebung der ursprünglichen VO 81/71 unmittelbar und individuell betroffen119, da sie seinen Übergabeanspruch auf das gekaufte Olivenöl zum Erlöschen bringt. Im Rahmen der Begründetheit ist zunächst zu prüfen, ob der K hier überhaupt eine Verletzung des nach Art 6 II EUV (6 II EUV-E) zur Gemeinschaftsrechtsordnung zählenden Eigentumsgrundrechts geltend machen kann. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob K bereits Eigentum an dem Olivenöl erworben hat, da auch bereits vermögenswerte subjektive Rechte des öffentlichen Rechts als Eigentum anzusehen sind, wenn dadurch Rechtspositionen geschaffen sind, die denjenigen von Eigentümern nahe kommen. Ein solches wohlerworbenes Recht steht dem K in Form seines Übergabeanspruchs aus dem öffentlich-rechtlichen Vertrag gegen die Interventionsstelle zu. Der durch die angefochtene Verordnung bewirkte Entzug dieser Rechtsposition bewegt sich nicht mehr im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums, sondern ist, weil er dem K den erworbenen Anspruch völlig nimmt, als Enteignung anzusehen. Ein solcher Eingriff bedarf aber nach Art 1 1. ZP EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Art 6 II EUV; 6 II EUV-E) einer gesetzlichen Grundlage, darf nur zum Wohle der Allgemeinheit vorgenommen werden und muss eine Entschädigungsregelung vorsehen. Dem K wurde zum Ausgleich zwar ein Vorkaufsrecht eingeräumt, aber zu wesentlich ungünstigeren Konditionen als im Ausgangsvertrag. Dieses kann daher die Enteignung nicht kompensieren bzw eine Entschädigungsregelung ersetzen.120
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c) Kritik An dieser Stelle offenbart sich bereits eine entscheidende dogmatische Schwäche des bisherigen gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutzes: Aufgrund der mangelnden Normierung der Bedingungen für die Begrenzung von Eigentumsrechten verlagert sich die Überprüfung von Eigentumsbeeinträchtigungen in der Regel auf die Ebene der Rechtfertigung der beanstandeten Maßnahme.121 Es findet also gewissermaßen eine Flucht in die Verhältnismäßigkeitsprüfung statt, die der Entwicklung einer in Schutzbereich, Schranken und Rechtfertigung ausdifferenzierten europäischen Eigentumsdogmatik abträglich ist. Es ist zu hoffen, aber auch davon auszugehen, dass der EuGH seine Eigentumsdogmatik auf der Grundlage des Art 17 GRCh verfeinern und präzisieren wird.
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4. Rechtfertigung Fall 5: (EuGH, Slg 1999, I-2603 – Nitratrichtlinie): Bauer B fährt auf seinen Feldern und Weiden reichlich „Dünger“ in Form von Gülle aus. Diese Form der allgemein üblichen „Düngung“ ist mitursächlich für die mitunter hohen, die menschliche Gesundheit belastenden Nitratwerte des Wassers. Dem will die EG-Nitratrichtlinie 91/676 vorbeugen. Ihr zufolge müssen die Mitgliedstaaten Flächen als „gefährdete Gebiete“ ausweisen, die in mit Nitrat verunreinigte Gewässer (Maßstab ist insoweit eine
119 Dazu ausführlich Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 230 EGV Rn 27 ff und 44 ff. 120 Vgl hierzu die Schlussanträge von GA Lenz in EuGH, Slg 1984, 3900, 3911 f – Olivenöl; der EuGH, Slg 1984, 3881, Rn 12 ff – Olivenöl, selbst kommt schon vor Prüfung der Enteignung zur Rechtswidrigkeit der Verordnung. 121 So die Kritik von Schilling EuZW 1991, 310, 311.
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Nitratkonzentration von 50 mg/l) auswässern und so zur Verunreinigung beitragen. Für diese sind nationale Aktionsprogramme aufzustellen, die ua zeitliche und mengenmäßige Beschränkungen für die Aufbringung von Düngemitteln auf landwirtschaftliche Flächen vorsehen müssen. Gegen diese Aktionsprogramme wendet sich B vor dem Verwaltungsgericht, zum einen mit dem Argument, dass seine Flächen als gefährdete Gebiete ausgewiesen wurden, obwohl nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch andere Emittenten zu der Überschreitung beitrügen. Zum anderen griffen ihre Reglungen unverhältnismäßig in sein Eigentumsgrundrecht ein und verstießen gegen das Verursacherprinzip. Das VG legt dem EuGH diese Fragen zur Vorabentscheidung vor.
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Fall 6: (EuGH, Slg 1996, I-3953 – Bosphorus): Die F, eine türkische Flugzeugchartergesellschaft, hatte 1992 von der staatlichen jugoslawischen Flugzeuggesellschaft JAT Flugzeuge geleast. Eines der Luftfahrzeuge wurde von irischen Behörden auf dem Flughafen von Dublin in Anwendung der gemeinschaftlichen Sanktionenverordnung gegen Jugoslawien beschlagnahmt. Hiernach waren die mitgliedstaatlichen Behörden zur Beschlagnahme von Luftfahrzeugen berechtigt, wenn sich diese in jugoslawischem Eigentum befanden. Die F führte demgegenüber ihre Rechte aus dem Leasingvertrag an: Da sie weder einen Sitz in Jugoslawien habe, noch dort tätig sei, verletzte die Sanktion nicht nur ihre Eigentumsrechte, sondern sie sei auch offensichtlich unnötig und unverhältnismäßig, da der Eigentümer des fraglichen Luftfahrzeugs bereits durch das Einfrieren der von der klagenden Flugzeuggesellschaft gezahlten Leasingraten auf Sperrkonten bestraft worden sei.
Bei der Prüfung der Rechtfertigung ist nach dem Wortlaut des Art 17 I 2 GRCh wiederum zwischen der Entziehung des Eigentums als schwerstem Eigentumseingriff und Beschränkungen seiner Nutzung zu unterscheiden.122 a) Rechtfertigung von Enteignungen
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Eine Enteignung ist gemeinschaftsrechtlich – auch mit Blick auf Art 17 GRCh und Art 1 II 1. ZP EMRK – zunächst nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist und im öffentlichen Interesse liegt.123 Gesetzlich vorgesehen ist eine Enteignung, wenn sie durch einen der in Art 249 EGV (288 AEUV) genannten Rechtsakte ermöglicht wird. Auch wenn es gemäß Art 295 EGV (345 AEUV) auf den ersten Blick so scheint, als fehle es der Gemeinschaft für Enteignungen an einer Gesetzgebungskompetenz (→ ausf dazu Rn 3 ff), so hat die EG doch in manchen Bereichen (zB in der Landwirtschaft) so weitreichende Kompetenzen erhalten, dass diese sich auf individuelle Eigentumspositionen auswirken und im Einzelfall auch den Grad eines (zumindest faktischen) Eigentumsentzuges erreichen können.124 Der Begriff des öffentlichen Interesses entspricht im Wesentlichen dem Begriff des Allgemeininteresses in Art 1 I 2 1. ZP EMRK.125 Hierunter soll, mit Blick auf die Judikatur der Mitgliedstaaten, auch der Entzug des Eigentums zugunsten Privater fallen, soweit damit zugleich öffentliche Interessen verwirklicht wer-
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Ebenso Art 1 1. ZP EMRK; grundl: EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 19 – Hauer. Vgl auch Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 818; Jarass GR, § 22 Rn 19 ff. Vgl EuGH, Slg 2003, I-7411 ff – Booker Aquaculture Ltd; v Milczewski (Fn 11) S 30. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK, Art 1 1. ZP EMRK Rn 51 f.
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den.126 Ob es für die Rechtfertigung einer Eigentumsentziehung auch einer gesetzlichen Entschädigungsregelung bedarf, ist noch nicht abschließend geklärt.127 Blickt man in Art 17 I 2 GRCh, so ist dies – abweichend vom Wortlaut des Art 1 1. ZP EMRK – der Fall. Der EuGH hat diese Frage in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht eindeutig geklärt: Einerseits sollen in Übereinstimmung mit der vom EuGH im Fall Hauer entwickelten Linie durch die wirtschaftliche Lage gebotene Produktionsbeschränkungen, selbst wenn sie die Rentabilität und Substanz eines Unternehmens beeinträchtigen und somit enteignenden Charakter haben können, keinen Verstoß gegen das Eigentumsrecht darstellen,128 andererseits wies der Gerichtshof aber darauf hin, dass es mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes unvereinbar sei, wenn eine Maßnahme der Gemeinschaft den Betroffenen „entschädigungslos um die Früchte seiner Arbeit und der von ihm … vorgenommenen Investitionen“129 bringt. Überdies prüfte der EuGH die Haftung der Gemeinschaft für eine mögliche Eigentumsverletzung in anderen Fällen unter dem Gesichtspunkt der außervertraglichen Haftung nach Art 288 II EGV (340 II AEUV).130 Auch vom EuG wurde bislang offen gelassen, „ob es einen allgemeinen … Rechtsgrundsatz gibt, dass die Gemeinschaft denjenigen zu entschädigen hat, gegen den eine enteignende Maßnahme oder eine Maßnahme ergangen ist, durch die seine Freiheit, von seinem Eigentum Gebrauch zu machen, eingeschränkt wird“. Freilich hält das Gericht eine Entschädigungspflicht im Hinblick auf enteignende Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane selbst für „vorstellbar“ 131. Trotz aller offener Fragen, lässt sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie der Art 1 1. ZP EMRK konkretisierenden Rechtsprechung (Art 6 II EUV; 6 II EUV-E), bestätigt durch Art 17 GRCh, folgern, dass sich unmittelbar aus der Eigentumsgarantie und dem dabei anzuwendenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Entschädigungspflicht ergibt. Eigentumsentziehungen in Form von formellen Enteignungen müssten demnach schon beim Fehlen einer Entschädigungsregelung unverhältnismäßig und damit rechtswidrig sein.132 Hinsichtlich der – mit Blick auf die Kompetenzlage (ausf dazu Rn 3 ff) zuvorderst in Betracht kommenden – faktischen Enteignungen ist nach Art 17 I 2 GRCh eine gesetzlich vorgesehene Entschädigung zwar nicht Rechtfertigungsvoraussetzung, jedoch kann aus der Rechtsprechung des EuGH zum Grundsatz des Vertrauensschutzes geschlossen werden, dass insoweit ein Entschädigungsanspruch aus Art 288 II EGV (340 II AEUV) in Betracht kommt.133 b) Rechtfertigung von bloßen Nutzungsbeschränkungen Bloße Nutzungsbeschränkungen des Eigentums sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH rechtmäßig, wenn sie „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf die verfolgten Ziele unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem
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EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn 40 ff – James; so auch Jarass GR, § 22 Rn 21. Dafür: Becker YEL 2007, 267, 284 f. EuGH, Slg 1982, 4261, Rn 13 – Metallurgiki Halyps; Slg 1985, 2831, Rn 29 – Hoogovens Groep. EuGH, Slg 1989, 2609, Rn 19 – Wachauf. EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 11, 21 – Biovilac; Slg 1987, 49, Rn 25 ff – Zuckerfabrik Bedburg. EuG, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils. AA, da die hiesige Differenzierung nicht vornehmend, Jarass GR, § 22 Rn 24. EuGH, Slg 1975, 533, Rn 44 – CNTA; Slg 1992, I-3061, Rn 12 ff – Mulder; ausdrücklich offenlassend EuG, Slg 1998, II-125, Rn 57 – Dubois et fils.
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Wesensgehalt antastet.“ 134 Blickt man auf den Wortlaut von Art 17 I 2 GRCh und Art 1 II 1. ZP EMRK, so müssen Nutzungsbeschränkungen „nur“ zur Wahrung des Allgemeininteresses erforderlich sein. Ergänzend ist jedoch die allgemeine Schrankenregelung des Art 52 GRCh mitzulesen,135 so dass sich die Formel des EuGH auch hinsichtlich des Wesensgehalts – und damit in vollem Umfang – bestätigt sieht.136 Hinsichtlich der Rechtfertigung von Nutzungsbeschränkungen orientiert sich der EuGH an zwei Eckpunkten, zwischen denen die jeweilige Verhältnismäßigkeitsprüfung vermittelt. Er prüft die Nutzungsbeschränkung zunächst mit Blick auf ihr gemeinnütziges Ziel. Hierfür greift er neben den Regelungen des Rechtsakts auch auf dessen Begründungserwägungen zurück. Ob das so ermittelte, mit der jeweiligen Maßnahme verfolgte Ziel dem Allgemeinwohl dient, ist sodann anhand der Bestimmungen der Verträge zu überprüfen, generell etwa nach Art 2 EGV (3 EUV-E), ferner gemäß den besonderen Vorschriften über die verschiedenen Politikfelder der Gemeinschaft. Demgemäß hat der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Eigentumsschutz als relevante Allgemeininteressen zB den Verbraucherschutz137, den Gesundheits- und Umweltschutz138, agrarmarktpolitischen Zielsetzungen der Gemeinschaft gem Art 33 EGV (39 AEUV)139, sowie ua auch den Kampf gegen den internationalen Terrorismus140 anerkannt. Ferner hat er im Fall Metronome die Rechtfertigung der aus urheberrechtlichen Erwägungen erfolgten Einführung eines ausschließlichen Verleihrechts für Compact Discs in der Gemeinschaft mit einem Verweis auf Art 30 EGV (34 AEUV) untermauert, der den Schutz des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst als Bestandteil des gewerblichen und kommerziellen Eigentums umfasse.141 Blickt man gem Art 6 II EUV (6 II EUV-E) zusätzlich auf die Rechtsprechung des EGMR, so dienen letztlich alle Maßnahmen, die legitime politische Ziele verfolgen, sei es auf wirtschaftlichem, sozialem oder sonstige öffentliche Belange betreffendem Gebiet, dem Allgemeininteresse.142 Der andere Eckpunkt ist die Antastung des Wesensgehalts des Eigentums. Der Wesensgehalt ist angetastet, wenn eine eigentumsbeschränkende Gemeinschaftsmaßnahme zu einem Entzug des Eigentums oder dessen freier Nutzung führen würde 143 oder es dem Betroffenen durch die fragliche Beschränkung praktisch unmöglich gemacht würde, seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.144 Unberührt bleibt der Wesensgehalt hingegen, wenn die Maßnahme „nur die Modalitäten der Ausübung (des Eigentumsrechts) betrifft,
134 StRspr, vgl nur EuGH, Slg 1998, I-1953, Rn 21 – Metronome Musik; Slg 1998, I-7967, Rn 79 – Generics. 135 Ausf dazu iZ mit dem Eigentumsgrundrecht: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 58. 136 So auch Jarass GR, § 22 Rn 27; Rengeling/Szczekalla GR, § 20 Rn 823; anders Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 17 GRCh Rn 19. 137 EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 20 – SMW Winzersekt. 138 EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 56 – Nitratrichtlinie; Tomuschat in: Ossenbühl (Hrsg), Eigentumsgarantie und Umweltschutz, 1989, 47 ff. 139 EuGH, Slg 1989, 1991, Rn 20 – Leukhardt; Slg 1994, I-4973, Rn 82 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt. 140 EuGH, verb Rs C-402/05 P und C-415/05 P, Rn 363 – Kadi ua/Rat. 141 Nachweise bei Müller-Michaels (Fn 4) S 49. 142 EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn 45 – James ua, zum insoweit übereinstimmenden Begriff „öffentlichen Interesse“ in Art 1 I 2 1. ZP EMRK; aA: Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 79. 143 EuGH, Slg 1984, 4057, Rn 22 – Biovilac. 144 EuGH, Slg 1998, I-7967, Rn 85 – Generics.
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§ 16.4 III 4
ohne dessen Bestand selbst zu gefährden“145, „wenn es den Wirtschaftsteilnehmern unbenommen bleibt, ihr Eigentum auf andere Weise zu nutzen.“146 Der Wahrung des Wesensgehalts korrespondiert also die Wahrung eines Kernbestands an Eigentum.147 Ein Eingriff in diesen Kernbestand wird vom EuGH danach bewertet, in welchem Umfang die Rechte des Eigentümers insgesamt beschränkt werden.148 Diese Beschränkungen dürfen insoweit keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen. In diesem Zusammenhang ist auch die soziale Funktion des Eigentums zu berücksichtigen.149 Dieses genießt dort besonderen Schutz, wo es der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen dient. Dementsprechend steigt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aber in dem Maße, in dem das Eigentum einen sozialen Bezug aufweist150, wie dies etwa im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation der Fall ist.151 Mit Blick auf diese Kriterien wird im Schrifttum zutreffend kritisiert, dass der EuGH einem relativen Verständnis des Wesengehalts zuneigt, demzufolge nur unverhältnismäßige Eingriffe den Wesensgehalt eines Grundrechts verletzen. Dann aber verliert die Wesensgehaltsgarantie gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ihre eigenständige Funktion.152 Lösung Fall 5: Im Kontext der nach Art 234 EGV (267 AEUV) zulässigen Vorlage führt der EuGH, wie so oft, die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht im Rahmen der konkreten Grundrechtsprüfung (hier des Eigentums), sondern abstrakt vorweg durch. Später, bei der Prüfung des Eigentumsgrundrechts, verweist er nur noch auf deren Ergebnis.153 Da bei dieser Vorgehensweise der Prüfungsmaßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht auf das Verhältnis von Regelungsziel und Regelungseingriff bezogen wird, kann er für den zu entscheidenden Einzelfall keinen konkreten Gehalt gewinnen und seine Steuerungskraft nicht effektiv entfalten. So kann das Ergebnis des EuGH nicht verwundern, wonach die Vorschriften der Nitratrichtlinie den Mitgliedstaaten hinreichende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, um für eine verhältnismäßige Umsetzung zu sorgen.154 Dogmatisch und im Ergebnis überzeugender hätte die Prüfung (von Verursacherprinzip, Eigentumsgrundrecht und Rechtfertigung des Eingriffs155) wie folgt umgekehrt werden müssen: Zunächst hätte der EuGH den Eingriff in das Grundstückseigentum des B durch die Düngebeschränkungen prüfen und – wie geschehen – bejahen müssen. Diesen Eingriff hätte er dann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Regelungsziel Umwelt- und Gesundheitsschutz konkret in Bezug setzen müssen. Sodann hätte er Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Regelung prüfen können. Interessant ist, wie der EuGH den Hinweis des B auf das Verursacherprinzip behandelt: Es
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EuGH, Slg 1994, I-5555, Rn 24 – SMW Winzersekt. EuGH, Slg 1992, I-35, Rn 17 – Kühn. Dazu auch Müller-Michaels (Fn 4) S 52 f. Etwas genauer geprüft wurde das Vorliegen von Eingriffen in den Wesensgehalt zB in den Urteilen des EuGH, Slg 1991, I-5119, Rn 29 – von Deetzen; Slg 1992, I-35, Rn 17 – Kühn. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 20 – Hauer. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 155. EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 23 – Hauer; Slg 1989, 2237, Rn 15 – Schräder; Slg 1994, I-4973, Rn 78 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1997, I-1809, Rn 27 – Irish Farmers Association. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl 2002, Art 6 EUV Rn 76; aA Müller-Michaels (Fn 4) S 53. EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 46–50, 57 – Nitratrichtlinie. EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 50 – Nitratrichtlinie. EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 51 ff – Nitratrichtlinie.
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genüge die Feststellung, dass die Landwirte „nach der Richtlinie nicht verpflichtet sind, Belastungen zu tragen, die mit der Beseitigung einer Verunreinigung verbunden sind, zu der sie nicht beigetragen haben“. Es obliege den Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Richtlinie die anderen Verunreinigungsquellen zu berücksichtigen und den Landwirten keine Kosten für die Beseitigung der Verunreinigung aufzuerlegen, die in Anbetracht der Gegebenheiten nicht erforderlich sind. Entgegen dem herrschenden Verständnis156 betrachtet der EuGH hiermit das umweltrechtliche Verursacherprinzip explizit als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips und verweist auf die dazu bereits gemachten Ausführungen.157
c) Verhältnismäßigkeit und Kontrolldichte 46
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Bemerkenswert ist immer wieder, dass den Zielen der Gemeinschaft im Rahmen der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH ein relativ hohes Gewicht eingeräumt wird.158 So erfahren zB die eigentumsrelevanten Gemeinschaftsakte im Bereich der Agrarpolitik bei der konkreten Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine stark eingeschränkte Kontrolle durch den EuGH, der seine eigenen politischen Erwägungen nicht an die Stelle der durch die Rechtsetzungsorgane getroffenen Entscheidungen setzen will. Als exemplarisch können insoweit die Ausführungen im Bananen-Urteil gelten: „Diese Einschränkung der Kontrolle des Gerichtshofs ist insbesondere dann geboten, wenn sich der Rat veranlasst sieht, bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Marktorganisation einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und auf diese Weise im Rahmen der in seine eigene Verantwortung fallenden politischen Entscheidung eine Auswahl zu treffen“. Zwar, fuhr der Gerichtshof fort, sei nicht auszuschließen, „dass andere Mittel in Betracht kommen konnten, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen.“ Der Gerichtshof hält sich nach eigener Einschätzung aber nicht für befugt, „die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren.“159 Das weite Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers bei der Gestaltung der Gemeinsamen Marktordnungen ist somit für die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung prägend: Eine Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung ist nur in einigen Entscheidungen und auch dort höchstens in Ansätzen zu erkennen.160 In der Regel endet die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Prüfung der Geeignetheit bzw der Erforderlichkeit. Führt der EuGH (ausnahmsweise) unter dem Stichwort „angemessenes Verhältnis“ eine Güterabwägung durch, beschränkt sie sich auf die Prüfung der Berechtigung des verfolgten Eingriffsziels und lässt eine Auseinandersetzung mit dem Grad und der Intensität der individuellen Betroffenheit vermissen.161 Dies führt zu einer – jedenfalls im Vergleich zur 156 Dazu Calliess in: ders/Ruffert, EUV/EGV, Art 174 EGV Rn 34 ff und Delfs ZUR 1999, 322, 323: Kostenzurechnungsprinzip, das Grundrechtseinschänkungen rechtfertigen kann. 157 EuGH, Slg 1999, I-2603, Rn 51 f – Nitratrichtlinie. 158 Vgl auch Bernsdorff in: Meyer, ChGR, Art 17, Rn 23; Jarass GR, § 22, Rn 32. 159 EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 89 f, 91, 94 – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 21 – SMW Winzersekt; Slg 1989, 2237, Rn 22 – Schräder. 160 Dazu Jarass GR, § 22, Rn 31 ff. 161 Vgl nur exempl EuGH, Slg 1979, 3727, Rn 23 ff – Hauer; Slg 1994, I-4973, Rn 64 ff – Deutschland/Rat (Bananen); Slg 1994, I-5555, Rn 20 ff – SMW Winzersekt.
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Eigentumsgrundrecht
§ 16.4 IV
deutschen Rechtsprechung162 – nicht unerheblichen Zurücknahme der grundrechtlichen Kontrolldichte163, mit der Folge, dass die Berufung auf das Eigentumsgrundrecht – soweit ersichtlich – bislang in nur einem Fall erfolgreich war.164 Jener, dem Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Auswahl der politischen Ziele vom EuGH eingeräumte weite Beurteilungsspielraum, wird ebenso wie die damit verbundene Rücknahme des Kontrollmaßstabs von der überwiegenden Meinung des deutschen Schrifttums zum Teil heftig kritisiert.165 So zutreffend die Kritik mitunter ist, so darf nicht übersehen werden, dass auch das BVerfG im Bereich komplexer wirtschaftpolitischer Maßnahmen des Gesetzgebers in aller Regel eine eher zurückhaltende Kontrolle ausübt (Vertretbarkeits- bzw Evidenzkontrolle).166 Im übrigen ist zu bedenken, dass die in Deutschland übliche Kontrolldichte im Rechtsvergleich eher einer Ausnahme als die Regel darstellt.167 Lösung Fall 6: Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die Sanktionsmaßnahme mittelbar eigentumsbeeinträchtigende Auswirkungen habe und dadurch F schädige, die für die Situation, die zum Erlass der Sanktionen geführt hat, nicht verantwortlich sei. Die Bedeutung der mit der Verordnung verfolgten Ziele könne jedoch selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen. Angesichts eines für die internationale Völkergemeinschaft derart grundlegenden, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, das dahin geht, den Kriegszustand in der Region und die massiven Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in der Republik Bosnien-Herzegowina zu beenden, könne die Beschlagnahme des fraglichen Luftfahrzeugs, das Eigentum einer Person mit Sitz oder Tätigkeitsort in Jugoslawien ist, nicht als unangemessen oder unverhältnismäßig angesehen werden.168
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IV. Würdigung der Bonität des europäischen Eigentumsschutzes Inhalt und Umfang des gemeinschaftlichen Eigentumsgrundrechts haben – trotz mancher nach wie vor unklarer Fragen, insbesondere im Kontext der Enteigungsfrage – mit der
162 AA Kischel EuR 2000, 380 ff, der sich um den Nachw bemüht, dass die Kontrolle des EuGH hinter jener durch das BVerfG nicht zurückstehe. 163 Ausf – und diff – hierzu v Bogdandy JZ 2001, 157, 163 ff; zur Kontrolldichte im Gemeinschaftsrecht allgem Herdegen/Richter in: Frowein (Hrsg), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, 209 ff; Schwarze in: ders/Schmidt-Aßmann (Hrsg), Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, 1992, 211 ff. 164 EuGH, verb Rs C-402/05 P und C-415/05 P, Rn 363 – Kadi ua/Rat; auf drei weitere Fälle mittelbar – erfolgr Berufung auf das Eigentumsgrundrecht vor dem EuGH verweist Heselhaus in: ders/Nowak, GR, § 32, Rn 13. 165 Vgl etwa Nettesheim EuZW 1995, 106, 107; Huber EuZW 1997, 517 ff; Stein EuZW 1998, 261 f; diff v Bogdandy JZ 2001, 157, 163 ff; Becker, YEL 2007, 267, 282 f; aA Zuleeg NJW 1997, 1201 ff und Kischel EuR 2000, 380 ff; Pache in: Bruha/Nowak/Petzold (Hrsg), Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, 193, 220 ff. 166 Vgl etwa BVerfGE 30, 250, 263; E 38, 61, 87 ff sowie in gelungener Weise differenzierend BVerfGE 50, 290, 336 ff; näher Calliess Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, 262 ff, 276 f. 167 Hierzu die Beiträge in Frowein (Hrsg) Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993. 168 EuGH, Slg 1996, I-3953, Rn 22 ff – Bosphorus.
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fortlaufenden Rechtsprechung des EuGH, aber auch mit Art 17 GRCh klarere Konturen gewonnen.169 Dennoch lässt sich der Schutzbereich des Grundrechts auch künftig nur schwer konkretisieren. Seine Kontur wird auch weiterhin von der Rechtsprechung geprägt werden. Aufgrund des nun geschriebenen europäischen Grundrechtskataloges ist jedoch zu hoffen, dass der EuGH sich der in der Literatur bemängelten, zu geringen Methodentransparenz170 stellt und seiner Grundrechtsrechtsprechung mehr Schärfe verleiht. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich mit Blick auf die Konkretisierung von Grundrechten die Vorgehensweise des EuGH nicht grundlegend von derjenigen nationaler Verfassungsgerichte unterscheidet.171 So musste zB auch das BVerfG das Eigentumsgrundrecht des Art 14 GG in einer sich entwickelnden Rechtsprechung konkretisieren.172 Folglich lag das Problem bisher weniger in der Grundrechtskonkretisierung durch den EuGH173, sondern vielmehr in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf die der EuGH bislang – vielleicht wegen des unkonturierten Schutzbereichs – in der Regel zügig zusteuert. Zu Recht wurde auch insoweit immer wieder – zuletzt mit Blick auf das erwähnte Bananen-Urteil und das Schaumwein-Urteil – deutliche Kritik geübt. In beiden Entscheidungen hatte der EuGH die Gründe, die der Gemeinschaftsgesetzgeber zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs geltend machte, unkritisch und ohne verfassungsrechtliche Gewichtung zugrundegelegt. Bevor der EuGH die vom europäischen Gesetzgeber behaupteten Belange des Gemeinwohls in die Abwägung einstellt, müsste er aber zunächst ihre sachliche Gültigkeit ebenso wie ihre verfassungsrechtliche Maßgeblichkeit und Gewichtigkeit überprüfen. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang überdies, dass im Rahmen der Eingriffsprüfung das individuelle Grundrechtsinteresse des Betroffenen keine Bewertung erfährt. So ist es nicht verwunderlich, dass eine wirkliche Abwägung gegen das Gemeinwohlinteresse in Entscheidungen des EuGH nur selten zu finden ist.174 Vielmehr überlässt der Gerichtshof die Einschätzung, ob ein Ziel dem Gemeinwohl der Gemeinschaft entspricht und die gewählte Maßnahme das mildeste geeignete Mittel darstellt, das noch im Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, grundsätzlich dem Gesetzgebungsermessen des zuständigen Gemeinschaftsorgans.175 Der dem Rat bei der Auswahl der politischen Ziele vom EuGH eingeräumte weite Beurteilungsspielraum und die damit verbundene grundsätzliche und damit weitgehend undifferenzierte Rücknahme des Kontrollmaßstabs auf „offensichtlich unverhältnismäßige“ Grundrechtsbeeinträchtigungen, die die „Grenzen des Ermessens“ des Rates überschreiten, sind mit den in Art 220 EGV (19 I EUV) und Art 6 I und II EUV zum Ausdruck kommenden, vom EuGH rezipierten Verständnis der EU als Rechtsgemeinschaft, die auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruht, nur schwer vereinbar.176
169 Vgl etwa mit Blick auf das Eigentumsrecht den Überblick bei Rengeling (Fn 49) S 32 ff. 170 Streinz Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 384 ff; aA Nettesheim EuZW 1995, 106, 107. 171 Rengeling (Fn 49) S 228 mwN; vgl dazu Calliess (Fn 166) S 269 ff. 172 Dazu Ehlers VVDStRL 51 (1992), 211, 214 ff; Wendt Eigentum und Gesetzgebung, 1985. 173 Ebenso Nettesheim EuZW 1995, 106, 107. 174 In der Hinsicht pos Ansätze zu finden in EuGH, verb Rs C-402/05 P und C-415/05 P, Rn 355 ff – Kadi ua/Rat. 175 Calliess in: ders/Ruffert, EUV/EGV, Art 17 GRCH Rn 26 ff. 176 So die zutr Kritik von Nettesheim EuZW 1995, 106, 107; ähnl Huber EuZW 1997, 517 ff; Stein EuZW 1998, 261 f; diff v Bogdandy JZ 2001, 157, 163 ff; aA Zuleeg NJW 1997, 1201 ff und Kischel EuR 2000, 380 ff.
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§ 17 Gleichheitsgrundrechte Thorsten Kingreen Schrifttum: Frenz HbER IV, Kap 10; Jarass GR, §§ 24–28; Kingreen Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, 570 ff; Kischel Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, 1 ff; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, §§ 42, 43; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 867 ff; Sattler Allgemeiner Gleichheitssatz und spezielle Gleichheitssätze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, FS Rauschning, 2001, S 51 ff.
I. Überblick und Systematik Das europäische Gemeinschaftsrecht enthält eine Vielzahl von Gleichheitsrechten. Ihre schon im nationalen Verfassungsrecht nicht einfache Kategorisierung1 wird im Unionsrecht durch die verfassungsrechtliche Mehrebenenstruktur von Union und Mitgliedstaaten und die daraus resultierenden Unterschiede hinsichtlich Funktion, Reichweite und Normadressaten zusätzlich erschwert. Einerseits werden die Gleichheitsgarantien als Unionsgrundrechte auf das Handeln der Unionsorgane erstreckt, weil die Mitgliedstaaten als Rechtsstaaten nur grundrechtlich gebundene Hoheitsgewalt auf die Union übertragen können (supranationale Legitimationsfunktion); andererseits enthalten sie mit der an die Mitgliedstaaten gerichteten Forderung, Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit zu unterlassen, eine conditio sine qua non für fairen Wettbewerb und die durch Art 14 EGV (26 AEUV) vorgegebene Integration der nationalen Teilmärkte (transnationale Integrationsfunktion).2 Das Unionsrecht enthält also zwei Schichten subjektiv-öffentlicher Gleichheitsrechte:3 transnationale Integrationsnormen und supranationale Legitimationsnormen (Rn 2–6). Spiegelbildlich dazu gibt es die entspr Kompetenzbestimmungen: Art 12 II EGV (Art 18 II AEUV) dient der transnationalen Integration, Art 13 EGV (Art 19 AEUV) der (supra-)nationalen Legitimation.
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1. Transnationale Integrationsnormen Transnationale Integrationsnormen reagieren auf die jedem föderalen System immanente Gefahr, dass ein Gliedstaat den Wettbewerb mit anderen Gliedstaaten durch die Bevorzugung seiner Mitglieder zu beeinflussen sucht; kurz gesagt: Sie reagieren auf föderale Gefährdungslagen. Die Gleichbehandlung aller Unionsbürger erreichen sie dadurch, dass sie die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat für die Behandlung durch einen anderen Mitgliedstaat für irrelevant erklären. Damit stehen sie für die historisch primäre Werkidee des europäischen Projekts, den Binnenmarkt und ihr Herzstück, die gegen mitgliedstaatlichen Protektionismus gerichteten Grundfreiheiten (→ vgl § 7 Rn 1) sowie das in Art 12 I EGV (18 I AEUV) enthaltene allgem Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit (→ vgl § 13). 1 Vgl etwa für das GG Sachs in: Isensee/Kirchhof (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts Bd V, 1992, § 126 Rn 7 ff. 2 Vgl Chalmers ELR 19 (1994) 385, 397: „The non-discrimination principle is central to any market philosophy.“ 3 Kingreen EuGRZ 2004, 570, 573 ff; ebenso Pache in: Heselhaus/Nowak, GR, § 4 Rn 56 ff.
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2. Supranationale Legitimationsnormen 3
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Supranationale Legitimationsnormen haben hingegen die auch aus dem nationalen Verfassungsrecht bekannte Funktion, die Ausübung von Hoheitsgewalt zu begrenzen: Sie befriedigen den grundrechtlichen Legitimationsbedarf, den die Vorrang vor nationalem Recht und unmittelbare Geltung beanspruchende europäische Rechtsordnung ausgelöst hat (→ vgl § 14 Rn 3 f). Sie allein werden daher im Kontext der Unionsgrundrechte in diesem Kapitel behandelt. Ebenso wie die Verfassungen der Mitgliedstaaten kennt das Unionsrecht einen allgem Gleichheitssatz und bes Gleichheitssätze: Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 20 GRCh) vermittelt gegenüber Maßnahmen der Gemeinschaft, soweit diese an die Stelle der Mitgliedstaaten getreten ist, in allen Lebensbereichen Schutz gegen jegliche unsachgemäße Differenzierung. Normadressat ist daher primär die Gemeinschaft; die Mitgliedstaaten nach den allgem, für die Unionsgrundrechte geltenden Grundsätzen (→ vgl § 14 Rn 48 ff) hingegen nur, wenn sie Gemeinschaftsrecht durchführen (vgl auch Art 51 I 1 GRCh). Der allgem Gleichheitssatz wird ergänzt durch besondere Gleichheitssätze, die Gleichheit nur in bestimmten Lebensbereichen und/oder nach bestimmten Kriterien gewährleisten. Der historisch älteste bes Gleichheitssatz ist Art 34 II UAbs 2 EGV (40 II UAbs 2 AEUV).4 Danach ist innerhalb einer gemeinsamen Marktorganisation jede Diskriminierung zwischen Erzeugern und Verbrauchern auszuschließen. Besondere Gleichheitssätze finden sich nunmehr aber vor allem in der Grundrechtecharta (Art 20, 22–26 GRCh; Rn 19 ff). Eine gewisse Sonderstellung hat Art 141 I EGV (157 I AEUV) mit dem an die Mitgliedstaaten gerichteten Postulat gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Historisch hat er einen Bezug zur transnationalen Integration: Sein Eingang in die Verträge geht maßgeblich auf Bestrebungen Frankreichs zurück, das eine derartige Bestimmung bereits bei der Gründung der Gemeinschaft kannte und Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Mitgliedstaaten befürchtete, in denen das Gebot der Entgeltgleichheit nicht normiert war.5 Art 141 I EGV (157 I AEUV) knüpft allerdings nicht an das verbotene Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit bzw des Grenzübertritts, sondern an das Geschlecht und damit an ein Kriterium an, das keinen spezifischen Bezug zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes aufweist. In der Praxis hat sich die Vorschrift daher auch zu einem Grundrecht fortentwickelt, das nicht allein der Verhinderung von Wettbewerbsverfälschungen dient.6 Im Unterschied zu Art 23 GRCh ist er aber nicht Maßstab für das Handeln der Union7 (bzw Gemeinschaftsrecht durchführende Maßnahmen der Mitgliedstaaten), sondern allein an die Mitgliedstaaten adressiert.
4 Vgl EuGH, Slg 1994, I-4973, Rn 62 – Deutschland/Rat = Kunig JK 2/94, EWGV Art 185, 186/2. 5 Vgl Langenfeld Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, 30 ff. 6 Ausdrückliche Qualifikation des Gleichbehandlungsgrundsatzes als „Grundrecht“ etwa in EuGH, Slg 2000, I-929, Rn 56 – Sievers; krit Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 35 ff. 7 Zur Bindung der Gemeinschaft an den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter EuGH, Slg 1984, 1509, Rn 17 – Razzouk.
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Gleichheitsgrundrechte
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II. Normstruktur und Prüfungsaufbau Gleichheitsrechte weisen eine von den Freiheitsrechten abweichende Normstruktur auf. Während die Freiheitsrechte lediglich das vertikale Verhältnis zwischen Bürger und Staat thematisieren, tritt bei den Gleichheitsrechten die horizontale Perspektive hinzu. Das freiheitsrechtliche zweipolige Verhältnis zwischen Bürger und Staat weitet sich beim Gleichheitssatz zu einer drei- bzw mehrpoligen Relation unter Einschluss eines Vergleichstatbestandes: Maßgebend ist nicht die Intensität einer Belastung, sondern die Ungleichheit ihrer Auferlegung. Ungeklärt ist, welche Konsequenzen daraus für den Prüfungsaufbau folgen.8 Während diese Frage für das Gemeinschaftsrecht bislang kaum thematisiert wird, wird für die Gleichheitssätze des deutschen Verfassungsrechts meist eine zweistufige Prüfung favorisiert: Sie besteht aus der Feststellung einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte auf der ersten Stufe und der Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auf der zweiten Stufe. Diese Abweichung von der Prüfung der Freiheitsrechte beruht auf der Prämisse, dass der dort praktizierte Dreischritt „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung“ (→ vgl § 14 Rn 58) die Normstruktur des Gleichheitssatzes nicht angemessen widerspiegelt: Der dreistufige Aufbau bilde das liberale Verteilungsprinzip ab, das eine dem staatlichen Zugriff grds vorausliegende, unbegrenzte Freiheitsgewährleistung die prinzipiell begrenzte staatliche Befugnis zu Eingriffen in diese Sphäre gegenüberstelle.9 Dieses Regel-Ausnahme-Modell lasse sich auf den Gleichheitssatz nicht übertragen, der zudem keinen Schutzbereich und daher auch keinen Eingriff in denselben kenne.10 In dieser Gegenüberstellung liegt wohl eine Überbetonung der – sicherlich vorhandenen 11 – Unterschiede: Denn auch das Gleichheitsrecht schützt bestimmte menschliche Verhaltensweisen vor grundloser Beeinträchtigung durch den Staat;12 nur dass sich seine Beeinträchtigung nicht aus der Beschränkung allein, sondern aus der Gleich- bzw Ungleichbehandlung gegenüber einem anderen Sachverhalt ergibt. Und auch das Verteilungsprinzip gilt: Denn für die Ungleichbehandlung von (gemeinschafts-)verfassungsrechtlich wesentlich Gleichem (bzw die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem) muss sich der Hoheitsträger nicht minder rechtfertigen als für den Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts. Dementspr findet auch der ursprünglich auf Freiheitsverkürzungen zugeschnittene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Prüfung der Rechtfertigung einer Gleich- bzw Ungleichbehandlung zunehmend Verwendung,13 auch bei den gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsrechten.14 Einen Rationalitätsgewinn verspricht das klassische Schema „Schutzbereich-Beeinträchtigung/Eingriff-Rechtfertigung“ allerdings primär bei den Gleichheitssätzen, deren Anwendungsbereich in persönlicher oder sachlicher Hinsicht beschränkt ist.15 Hier ist es im Interesse einer Problemabschichtung und
8 Dazu auch Frenz HbER IV, Rn 3183 ff; Odendahl in Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 3 ff. 9 Vgl dazu etwa Böckenförde NJW 1974, 1529, 1537; Schlink EuGRZ 1984, 457, 467. 10 Vgl nur Bryde/Kleindiek Jura 1999, 36, 37 ff; Dreier in: Dreier GG BdI, 2. Aufl 2004, Vorb Rn 151 ff; Pieroth/Schlink Grundrechte Staatsrecht II, 24. Aufl 2008, Rn 430, 501. 11 Vgl etwa zur Problematik des Gesetzesvorbehaltes bei Gleichheitsrechten Jarass AöR 1995, 345, 375 ff. 12 Huster Rechte und Ziele, 1993, 225 ff; Jarass AöR 1995, 345, 361 f, 365 ff. 13 Pieroth/Schlink (Fn 10) Rn 438 ff. 14 Vgl Rengeling/Szczekalla GR, Rn 878 f. 15 → unten Rn 17 ff für Art 141 EGV (157 AEUV).
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zur Klärung von Konkurrenzfragen sinnvoll, vor der Frage der Ungleichbehandlung zunächst den geschützten Lebensbereich/Personenkreis zu thematisieren.16 Beim allgem Gleichheitssatz und bei den bes Gleichheitssätzen, bei denen das Besondere nicht aus der Beschränkung auf einen bestimmten Lebensbereich oder Personenkreis, sondern allein aus der Beschränkung auf einzelne Differenzierungskriterien folgt (die systematisch der Beeinträchtigungsebene zuzuordnen sind), liegt hingegen eine zweistufige Prüfung näher. Unterschiede zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten gibt es bei den Rechtsfolgen: Während ein Eingriff in das Freiheitsrecht einfach abgestellt werden muss, kann die Ungleichbehandlung zweier Gruppen unterschiedlich behoben werden: Die eine Gruppe kann ebenso wie die andere, die andere ebenso wie die eine, und beide können auf eine neue, dritte Weise behandelt werden.17
III. Der allgemeine Gleichheitssatz Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1977, 1753 ff – Ruckdeschel; Slg 1977, 1795 ff – Moulins Pont-àMousson; Slg 1982, 2745 ff – Edeka; Slg 2000, I-2737 ff – Karlsson. Schrifttum: Graser in: Schwarze, EUV, Art 20 GRCh; Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 20 GRCh; Mohn Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, 1990; Pernice/Mayer in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art 6 EUV Rn 161 ff; Rossi in: Calliess/Ruffert EUV/EGV, Art 20 GRCh; Sachs in: Tettinger/ Stern, GRCh, Art 20 GRCh; Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 20 GrCh.
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Der allgem Gleichheitssatz wird vom EuGH seit langem als Unionsgrundrecht anerkannt 18 und findet sich nunmehr auch in Art 20 GRCh. Er wird allerdings nicht, wie die Freiheitsrechte, aus den in Art 6 II EUV (6 II EUV-E) genannten Rechtserkenntnisquellen abgeleitet (→ vgl hierzu § 14 Rn 8), sondern meist in einen nicht ganz klaren Zusammenhang mit Art 34 II UAbs 2 EGV (40 II UAbs 2 AEUV) gestellt.19 Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass eine Vielzahl von Entscheidungen den Bereich gemeinsamer Marktordnungen in der Landwirtschaft betrifft. Dennoch wäre es methodisch konsequenter, auch insoweit auf die klassischen Rechtserkenntnisquellen zurückzugreifen.20 Inhaltlich verbietet es der allgem Gleichheitssatz, dass „vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen benachteiligt werden, ohne dass dieser Unterschied in der Behandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem Gewicht gerechtfertigt wäre.“21
1. Ungleichbehandlung 13
Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn vergleichbare Sachverhalte ungleich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden.22
16 Vgl etwa für die Grundfreiheiten § 7 Rn 47 ff sowie Kingreen Die Struktur der Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 75 f. 17 Pieroth/Schlink (Fn 10) Rn 479. 18 Vgl zuerst EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel. 19 Dazu Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 20 GRCh Rn 2. 20 Ebenso Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 9. 21 So bereits EuGH, Slg 1962, 655, 692 f – Klöckner-Werke AG, wenn auch ohne Ableitung aus dem Grundrecht allgem Gleichheitssatz. 22 Vgl etwa EuGH, Slg 1993, I-3923, Rn 37; Slg 1994, I-5555, Rn 30 – SMW Winzersekt.
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Gleichheitsgrundrechte
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Die Prüfung der Ungleichbehandlung beginnt mit der Bildung von Vergleichsgruppen.23 Dadurch entsteht der Vergleichsmaßstab, der dem Gleichheitssatz seinen konkreten Inhalt gibt: Er entscheidet, was gleich und was ungleich ist. Der Vergleich setzt zumindest zwei Sachverhalte voraus, die im Hinblick auf bestimmte Gegebenheiten und Eigenschaften gleich sind, bei denen aber Ungleichheiten verbleiben. Die Vergleichbarkeit bedarf eines Bezugspunktes (tertium comparationis), der den gemeinsamen Oberbegriff bildet, unter dem die zu vergleichenden Personen und Personengruppen abschließend und vollständig sichtbar werden.24 Für die Vergleichbarkeit von Produkten ist nach Ansicht des EuGH die Austauschbarkeit ein wichtiges Kriterium.25 Dafür sind die Sicht und das Verhalten der Abnehmer des Produkts maßgebend. Eng damit zusammenhängen dürfte der ebenfalls gelegentlich herangezogene Aspekt des Wettbewerbs zwischen den beiden Produkten.26 Viele Entscheidungen betreffen auch die Vergleichbarkeit zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen; dabei kommt es sowohl auf die rechtlichen Rahmenbedingungen als auch auf ökonomische Kriterien an.27 Liegen vergleichbare Sachverhalte vor, ist zu prüfen, ob eine benachteiligende Ungleichbehandlung vorliegt. Die Funktion des grundrechtlichen Gleichheitssatzes als supranationale Legitimationsnorm (vgl Rn 3 ff) bringt es allerdings mit sich, dass insoweit nicht alle Ungleichbehandlungen relevant sind: Werden spezifisch grenzüberschreitende gegenüber inländischen Sachverhalten benachteiligt (sog föderale Gefährdungslagen), so sind das Diskriminierungsverbot und die Grundfreiheiten zu prüfen. Die Benachteiligung inländischer gegenüber grenzüberschreitenden Sachverhalten (sog Inländerdiskriminierung) fällt schon gar nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts,28 sondern ist ggf am Maßstab des nationalen Gleichheitssatzes zu messen.29 Schon tatbestandsmäßig keine Ungleichbehandlung liegt schließlich im Verhältnis zu einem anderen Sachverhalt vor, der rechtsfehlerhaft behandelt wurde (keine Gleichheit im Unrecht).30
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2. Rechtfertigung Die Rechtfertigungsprüfung des EuGH ist uneinheitlich, übergreifende dogmatische Leitsätze fehlen. Das betrifft vor allem die Frage der Einbeziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, den der EuGH in einzelnen Urt jedenfalls ansatzweise prüft.31 Im Schrifttum heißt es sogar, dass der EuGH regelmäßig die Verhältnismäßigkeit der Differenzierung prüfe.32 Soweit sich dafür Nachweise finden, beziehen sie sich aber nur auf Entschei23 Mohn Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, 1990, 52 ff; Bsp aus der Rspr: EuGH, Slg 2000, I-2737, Rn 39 ff – Karlsson. 24 Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 20 GRCh Rn 20. 25 EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Slg 1977, 1795, Rn 14/17 – Moulins Pont-à-Mousson. 26 Etwa verneint in EuGH, Slg 1978, 1991, Rn 28/32 – Koninklijke Scholten-Honig. 27 Vgl etwa EuGH, Slg 1979, 2749, Rn 18 – Eridiana; Slg 1997, I-1961, Rn 37 f – Earl de Kerlast; Slg 1999, I-8395, Rn 92 f – Portugal/Rat. 28 EuGH, Slg 1984, 2539 Rn 14 ff – Moser. 29 ÖstVerfGH, EuZW 2001, 219. 30 EuGH, Slg 1984, 3465, Rn 15 – Witte; Slg 1993, I-1307, Rn 197 – Ahlström Osakeyhtiö. 31 EuGH, Slg 1982, 2745, Rn 13 – Edeka – Zur Diskussion um die sog „neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts vgl etwa Brüning JZ 2001, 669 ff; eine Anlehnung an diese Rspr befürwortet Kischel EuGRZ 1997, 1, 5 f. 32 Vgl etwa Huber EuZW 1997, 517, 520; Pernice/Mayer in: Grabitz/Hilf, nach Art 6 EUV Rn 164.
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dungen zu Art 34 II UAbs 2 EGV (40 I AEUV). Zum allgem Gleichheitssatz gibt es hingegen keine verallgemeinerbaren Aussagen,33 die Rückschlüsse darauf zuließen, ob und ggf in welchen Fällen der EuGH einen Einbau des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Gleichheitsprüfung befürwortet. Die ungeklärte Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Gleichheitsprüfung ist nicht nur ein terminologisches Problem.34 Denn die Unsicherheit beim Prüfungsmaßstab wirkt sich unmittelbar auf die gerichtliche Kontrolldichte aus, zu der generalisierbare Aussagen gerade aus diesem Grunde kaum möglich sind.35 Dass der Gesetzgeber tendenziell weniger starken Bindungen unterworfen ist als die Verwaltung,36 ist allenfalls eine Faustformel. Zwar zieht sich der EuGH bei der Kontrolle von Rechtsetzungsakten bisweilen auf eine Willkürkontrolle zurück,37 intensiviert aber anderenorts die gerichtliche Kontrolle, wenn er fordert, dass Maßnahmen im Rahmen einer Gemeinsamen Marktorganisation „nur aufgund objektiver Kriterien, die eine ausgewogene Verteilung der Vor- und Nachteile auf die Betroffenen gewährleisten, nach Regionen und sonstigen Produktions- und Verbrauchsbedingungen differenzieren, ohne nach dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu unterscheiden“ 38, getroffen werden dürfen. Im Beamtenrecht wird regelmäßig eine substantiierte Darlegung der die Differenzierung legitimierenden Gründe verlangt.39 Als wichtiger Grund für eine Ungleichbehandlung wird etwa die Wiederherstellung der Wettbewerbsgleichheit zwischen Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern anerkannt.40
3. Rechtsfolgen eines Verstoßes 18
Es ist Sache des Mitgliedstaates, ob er die bislang benachteiligte Person so behandelt wie die bislang bevorzugte, die belastende Regelung auch auf Letztere erstreckt oder beide auf eine dritte Art und Weise behandelt.41
IV. Besondere Gleichheitssätze 19
Besondere Gleichheitssätze finden sich in den Art 21, 23–26 GRCh sowie in Art 141 EGV (157 AEUV). Kein Grundrecht, sondern einen Grundsatz iSv Art 52 V GRCh enthält Art 22 GRCh.42 Er könnte die Prüfung einzelner Unionsgrundrechte, etwa die Religionsfreiheit (Art 10 I GRCh), die Meinungsfreiheit (Art 11 GRCh), die Kunstfreiheit (Art 13 GRCh) und das Gebot der Nichtdiskriminierung (Art 21 GRCh) auf der Rechtfertigungs-
33 Vgl aber wiederum EuGH, Slg 1982, 2745, Rn 13 – Edeka, wo allerdings der Eindruck erweckt wird, als sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung Bestandteil der Willkürkontrolle. 34 So aber Graser in: Schwarze, EUV, Art 20 GRCh Rn 6. 35 Vgl Frenz HbER IV, Rn 3206; Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 20 Rn 16. 36 So Jarass GR, § 25 Rn 17 ff. 37 EuGH, Slg 1990, I-435, Rn 13 – Wuidart. 38 EuGH, Slg 1988, 4563, Rn 25 – Spanien/Rat; vgl ferner bereits EuGH, Slg 1977, 1753, Rn 7 – Ruckdeschel; Slg 1977, 1795, Rn 14/17 – Moulins Pont-à-Mousson. 39 EuGH, Slg 2001, I-135, Rn 52 – Martínez del Peral Cagigal/Kommission. 40 EuGH, Slg 1998, I-1023, Rn 81 – T Port = Erichsen JK 2/98, EGV Art 189/2. 41 Dazu näher Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 43 Rn 35 ff. 42 Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 22 Rn 16; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 22 GRCh Rn 2; Ross in: Schwarze, EUV/EGV, Art 22 GRCh Rn 3.
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ebene dadurch beeinflussen, dass er nur solche Eingriffe zulässt, die das Gebot der Vielfalt wahren. Materiell bewirken die bes Gleichheitssätze eine „Anhebung des durch den allgem Gleichheitssatz allein begründeten minimalen Gleichheitsstandards.“ 43 Sie enthalten für bestimmte Lebensbereiche (etwa die arbeitsrechtliche Entgeltgleichheit, Art 141 EGV/ 157 AEUV) und/oder im Hinblick auf bestimmte verbotene Differenzierungskriterien (insb die in Art 21 I GRCh genannten Kriterien) Spezialbestimmungen im Verhältnis zum allgem Gleichheitssatz und gehen diesem im Umfang ihrer Reichweite vor.
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1. Nichtdiskriminierung, Art 21 GRCh Schrifttum: Frenz HbER, Rn 3220–3321; Graser in: Schwarze, EUV, Art 21 GRCh; Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 21 GRCh; Jarass GR, § 25; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 890 ff; Rossi in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 21; und Streinz in: Streinz, EUV/EGV, Art 21 GRCh.
Das Gebot der Nichtdiskriminierung verbietet unmittelbare und mittelbare Ungleichbehandlungen aufgrund der in Art 21 GRCh enthaltenen Merkmale. Diese sind, nach der Prüfung der Ungleichbehandlung, auf der Rechtfertigungsebene zu prüfen. Hier stellt sich nämlich die Frage, ob Ungleichbehandlungen aufgrund der verpönten Merkmale überhaupt einer Rechtfertigung zugänglich sind.44 Einerseits gilt zwar auch insoweit die allgem Schrankenregelung in Art 52 I GRCh, andererseits spricht Art 21 GRCh apodiktisch von einem Verbot. Der EuGH scheint, legt man seine Rspr zur Diskriminierung wegen des Geschlechts (s u Rn 48 ff) und wegen der Staatsangehörigkeit (→ § 13 Rn 43 f) zugrunde, generell von einer Rechtfertigungsmöglichkeit auszugehen, wenn ein sachlicher Grund geltend gemacht wird. Man wird hier wohl differenzieren müssen, wobei das konkretisierende Sekundärrecht (Rn 22) wichtige Anhaltspunkte liefert: Bei einigen Merkmalen (wie etwa dem Alter) sind sachliche Gründe für Differenzierungen durchaus nahe liegend, bei anderen Merkmalen (etwa Rasse, Hautfarbe) hingegen schlechterdings undenkbar. In allen Fällen kommt jedenfalls eine Rechtfertigung nur in Betracht, wenn die Ungleichbehandlung zum Schutz anderer durch die Verfassung geschützter Güter unvermeidlich ist; dazu bedarf es einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.45 Das Grundrecht wird ergänzt und konkretisiert durch Art 13 EGV (19 AEUV). Dieser begründet eine Kompetenz der Union, die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen zu ergreifen.46 Die Union hat davon insb durch drei Antidiskriminierungs-Richtlinien Gebrauch gemacht, die gegenüber den Grundrechten den konkreteren und daher vorrangig heranzuziehenden Prüfungsmaßstab bilden (Anwendungsvorrang des Sekundärrechts). Sie haben durchweg Drittwirkung und damit das Potenzial zu einer nicht unerheblichen Beschränkung der Privatautonomie: 47 – Die RL 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft 48 verbietet Diskriminierungen wegen dieser Kriterien in wichtigen Lebensbereichen (insb Einstellung von Arbeitnehmern, Vermie-
43 So für das Verhältnis der Gleichheitsrechte im Grundgesetz Sachs in: Isensee/Kirchhof (Hrsg), Handbuch des Staatsrechts Bd V, 1992, § 126 Rn 16. 44 Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 21 Rn 29. 45 Rengeling/Szczekalla GR, Rn 912. 46 Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 EGV Rn 1. 47 Vgl dazu Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 EGV Rn 13. 48 ABl 2000 L 180/22.
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tung von Wohnraum). Der EuGH hat daher die Ankündigung eines Unternehmens, Angehörige bestimmter ethnischer Herkunft (insb Marokkaner) nicht einzustellen, weil die Kunden diese angeblich ablehnten, als rechtswidrig verworfen.49 – Die RL 2000/78/EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf 50 verbietet Ungleichbehandlungen aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Sie ist sachlich auf das Arbeitsleben beschränkt, reicht also insoweit weniger weit als die RL 2000/43/EG. Sie spielt derzeit, unter dem Aspekt der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung, insb bei der Frage eine Rolle, ob die an die Ehe anknüpfenden Leistungen des Arbeitgebers auch an Lebenspartner zu gewähren sind.51 – Die RL 2004/13/EG zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen verbietet Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts. Sie weist damit eine gewisse Nähe auch zu Art 141 EGV (Art 157 AEUV) auf, wurde aber auf Art 13 EGV (Art 19 AEUV) gestützt, da sie auch außerhalb des Arbeitslebens gilt; insb richtet sie sich gegen unterschiedliche Versicherungstarife für Männer und Frauen, die nach Art 5 Abs 2 RL 2004/13/EG nur zulässig sind, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts „auf relevanten und exakten versicherungsmathematischen und statistischen Daten“ beruht.
2. Gleichheit von Männern und Frauen, Art 141 I EGV (157 I AEUV), 23 GRCh Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1976, 455 ff – Defrenne II; Slg 1978, 1365 ff – Defrenne III; Slg 1986, 1607 ff – Bilka; Slg 1990, I-1889 ff – Barber; Slg 1995, I-3051 – Kalanke; Slg 1997, I-6363 – Marshall; Slg 2000, I-69 – Kreil. Schrifttum: Bieback Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997; Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 657 ff; Langenfeld Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990; Rengeling/Szczekalla GR, 2004, Rn 916 ff. Aktuelle Kommentierungen zu Art 141 EGV (Art 157 AEUV): Coen in: Lenz/Borchardt; Eichenhofer in: Streinz; Krebber in: Calliess/Ruffert; Rebhahn in: Schwarze, Art 141 EGV; Rust in: von der Groeben/ Schwarze; Schlachter in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht; Steinmeyer in: Fuchs, Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4 Aufl 2005 – Zu Art 23 GRCh: Hölscheidt in: Meyer, GRCh; Jarass GR, § 26; Nußberger in: Tettinger/Stern, GRCh; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, § 44 und Streinz in: Streinz.
23
Fall 1: (nach EuGH, Slg 1998, I-621 ff – Grant = JK 4/99, EGV Art 119/1): Die South-West Trains Ltd (SWT), eine englische Eisenbahngesellschaft, gewährt ihren Angestellten und deren Angehörigen Fahrpreisvergünstigungen. Bei Abgabe einer eidesstattlichen Erklärung, dass mit der betr Person seit mindestens zwei Jahren eine „ernsthafte Beziehung“ besteht, können auch nichteheliche Lebenspartner in den Genuss dieser Vergüns-
49 EuGH NJW 2008, 2767 – Feryn sowie Lindner NJW 2008, 2750; vgl ferner EuGH NJW 2008, 2763 – Coleman. 50 ABl 2000 L 303/16. 51 Vorsichtig dazu tendierend, die Frage aber letztlich offen lassend EuGH NJW 2008, 1669 – Maruko; dazu Brinktrine JZ 2008 790 ff und Lembke NJW 2008, 1631 ff. Das BVerfG (NJW 2008, 2325) sieht trotz dieser Entscheidung nicht die Notwendigkeit einer Gleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft; dazu insb unter dem Aspekt der Vorlagepflicht krit Classen JZ 2008, 794 ff.
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tigung kommen. Allerdings sehen die arbeitsvertraglich fixierten Bestimmungen Vergünstigungen nur für den Partner eines anderen Geschlechts, nicht aber bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vor. Aus diesem Grunde weigerte sich die SWT, der Lebensgefährtin ihrer Angestellten Lisa Grant (G) Fahrpreisvergünstigungen einzuräumen. Daraufhin verklagte die G die SWT vor dem Industrial Tribunal Southampton. Diese legte dem EuGH die Frage vor, ob das Verhalten der SWT gegen Art 141 I EGV (157 I AEUV) verstößt.
Fall 2: (nach EuGH, Slg 1996, I-243 ff – Lewark): Die Klägerin, Frau Lewark (L), ist mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden im Pflegebereich des in Deutschland ansässigen Dialysezentrums des B beschäftigt und gehört dort dem Betriebsrat an, der aus drei Mitgliedern besteht. Ihre Arbeitszeit verteilt sich gleichmäßig auf 4 Tage in der Woche. Im Pflegebereich des Dialysezentrums sind 21 Arbeitnehmer tätig, 7 Männer und 14 Frauen. Während bis auf einen alle Männer vollzeitbeschäftigt sind, sind 10 der 14 Frauen teilzeitbeschäftigt. L ist als einziges Mitglied des Betriebsrates teilzeitbeschäftigt. Vom 11.–15. November 1996 nahm sie aufgrund eines Beschlusses des Betriebsrates und mit Zustimmung des B an einer für die Betriebsratsarbeit erforderlichen Schulungsveranstaltung teil, und zwar auch am 13. November, an dem sie wegen ihrer Teilzeitbeschäftigung nicht bei B gearbeitet hätte. Gemäß § 37 II, VII BetrVG haben Mitglieder des Betriebsrates den Anspruch, ohne Minderung des Arbeitsentgeltes an Schulungen teilzunehmen. L verlangt aber darüber hinaus von B einen Ausgleich für die 7 Stunden, die sie an diesem für sie sonst freien Tag für die Schulung aufgebracht hat. Ihr dürfe gegenüber den vollzeitbeschäftigten Betriebsratsmitgliedern kein bes Opfer abverlangt werden. In der Weigerung des B sieht sie eine durch Art 141 I EGV (157 I AEUV) verbotene Diskriminierung. Nachdem Arbeits- und Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben hatten, legt das Bundesarbeitsgericht dem EuGH die Frage vor, ob Art 141 I EGV (157 I AEUV) den nationalen Gesetzgeber daran hindert, die Betriebsratsmitglieder lediglich vor denjenigen Einkommenseinbußen zu schützen, die sie sonst durch eine betriebsratsbedingte Versäumung der Arbeitszeit erleiden würden.
Ein Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts findet sich außer in Art 21 I GRCh auch in Art 23 GRCh und in Art 141 I EGV (157 I AEUV). Während das Verbot in Art 21 I, 23 GRCh alle Lebensbereiche erfasst, beschränkt sich Art 141 I EGV (157 I AEUV) auf das Postulat des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Unterschiede bestehen auch im Hinblick auf die Adressaten: Während Art 21 I, 23 GRCh die Union umfassend, die Mitgliedstaaten hingegen nur bei der Durchführung des Unionsrechts binden (Art 51 I 1 GRCh), ist Art 141 I EGV (Art 157 I AEUV) allein an die Mitgliedstaaten gerichtet. Die unionsrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten beschränkt sich daher, wenn sie nicht Unionsrecht durchführen, auf den Bereich der arbeitsrechtlichen Entgeltgleichheit; die Bindung der Union ist hingegen insoweit unbeschränkt. Dieser Unterschied erklärt sich daraus, dass der historisch ältere Art 141 I EGV (157 I AEUV) transnationale Integrationswurzeln hat (s o Rn 6) und im Übrigen durch die mitgliedstaatlichen Gewährleistungen als nationale Legitimationsnormen ergänzt wird, während Art 21 I, 23 GRCh im Hinblick auf das Handeln der Union supranationale Legitimationsfunktion haben. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf den bislang die Rechtsprechungspraxis prägenden Art 141 EGV (157 AEUV). Dieser enthält in seinem Absatz 1 das Grundrecht auf Nichtsdiskriminierung wegen des Geschlechts. Absatz 2 definiert den Begriff des „Entgelts“, Absatz 3 enthält eine Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen zur Ge-
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währleistung der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichstellung von Männern und Frauen und in Absatz 4 befindet sich eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Öffnungsklausel für bestimmte Maßnahmen der „positiven Diskriminierung.“ a) Schutzbereich 27
Der Schutzbereich von Art 141 I EGV (157 I AEUV) umfasst das Arbeitnehmern gezahlte Entgelt. aa) Persönlicher Schutzbereich
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Die Beschränkung des persönlichen Schutzbereiches auf Arbeitnehmer folgt aus der Definition des Entgeltes in Absatz 2. Arbeitnehmer ist, in Anlehnung an die Begriffsbestimmung in Art 39 EGV (45 AEUV; → vgl § 9 Rn 5 ff), jede Person, die „während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.“52 Es handelt sich um einen autonom gemeinschaftsrechtlichen Begriff, so dass auch ein nach nationalem Recht Selbständiger im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich als Arbeitnehmer gelten kann; insb wenn ein Fall der Scheinselbständigkeit vorliegt.53 Geschützt sind alle tatsächlich innerhalb des Gemeinschaftsgebietes abhängig Beschäftigten, also nicht nur Unionsbürger, sondern auch Drittstaatsangehörige.54 Auch öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind erfasst,55 und zwar selbst solche in den hoheitlichen Kernbereichen. Das ergibt ein systematischer Abgleich mit Art 39 EGV (45 AEUV), der in seinem Absatz 4 solche Tätigkeiten vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausnimmt. Das wäre überflüssig, wenn diese nicht unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne von Art 39 I EGV (45 I AEUV) fallen würden. Arbeitnehmer sind daher nach der Rspr des EuGH etwa auch Polizeibeamte56 und Angehörige der Streitkräfte 57. Der Arbeitnehmer muss nicht zwingend zugleich der Leistungsempfänger sein. Vielmehr kann sich auch ein Dritter, der selbst nicht Arbeitnehmer ist, auf Art 141 I EGV (157 I AEUV) berufen, wenn – wie etwa bei der Hinterbliebenenrente – der Entgeltanspruch seinen Ursprung im Arbeitsverhältnis hat.58 bb) Sachlicher Schutzbereich
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In sachlicher Hinsicht gewährleistet Art 141 I EGV (157 I AEUV) Gleichheit im Hinblick auf das dem Arbeitnehmer geleistete Entgelt. Darüber hinausgehende, nicht auf das
52 EuGH, Slg 1986, 2121, Rn 17 – Lawrie-Blum; vgl auch die Zusammenfassung der wesentlichen Elemente des Entgeltbegriffes bei Rust in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 141 EG Rn 380 ff. 53 EuGH, Slg 2004, I-873, Rn 66 ff – Allonby. 54 Langenfeld Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, 43 ff. 55 EuGH, Slg 1997, I-5253, Rn 17 ff – Gerster. 56 EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 26 ff – Johnston, für den übereinstimmenden Arbeitnehmerbegriff in der RL 76/207/EWG, ABl 1976 Nr L 39/40. 57 EuGH, Slg 2000, I-69, Rn 18 – Kreil. 58 EuGH, Slg 1993, I-4879, Rn 12 ff – Ten Oever; Slg 2004, I-541, Rn 27 – KB/National Health Service.
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Entgelt beschränkte Diskriminierungsverbote können sich aus dem Sekundärrecht ergeben. Aus der Legaldefinition des Entgeltes in Art 141 II EGV (157 II AEUV) folgt, dass nicht nur die üblichen Grund- und Mindestlöhne und -gehälter, sondern auch alle sonstigen Vergütungen (Überstunden-, Feiertagszuschläge, Schichtzulagen, alle Arten von Gratifikationen), die ein Arbeitsverhältnis voraussetzen und auf der Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gründen,59 in den sachlichen Schutzbereich fallen. Entgelt sind damit alle im Zusammenhang mit der erbrachten Arbeit stehenden, dem Arbeitgeber zurechenbaren Gegenleistungen, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Rechtsgrundlage.60 Die Gegenleistungen müssen also nicht im Arbeitsvertrag oder in Kollektivvereinbarungen wurzeln, sondern können auch aufgrund rechtlicher Vorschriften61 oder freiwillig getätigt worden sein.62
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Beispiele: Unter den Entgeltbegriff fallen nach der Rspr des EuGH etwa das Weihnachtsgeld 63, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall64, das Übergangsgeld65 sowie Abfindungs- und Entschädigungsleistungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses66, ferner die Fortzahlung des Entgeltes an Betriebsratsmitglieder während externer Schulungen 67 und sogar Fahrpreisermäßigungen für Bahnbedienstete nach Eintritt in den Ruhestand 68.
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Art 141 EGV (157 AEUV) setzt einen „engen Zusammenhang zwischen der Art der Arbeitsleistung und der Höhe des Arbeitsentgelts“69 voraus. Nicht in den sachlichen Schutzbereich fallen daher sonstige Arbeitsbedingungen, die nicht die Gegenleistung für die geleistete Arbeit betreffen, und zwar selbst dann nicht, wenn sie sich tatsächlich finanziell nachteilig auswirken.70 Schutz vor sonstigen arbeitsrechtlichen Ungleichbehandlungen gewährt aber die allgem Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207,71 die neben abhängigen auch selbständige Beschäftigungen umfasst.72 Für die im Einzelfall schwierige, insb wegen der fehlenden Drittwirkung von Art 2 I RL 76/20773 aber bedeutsame Abgrenzung zwischen dem von Art 141 I EGV (157 I AEUV) erfassten Entgelt und den sonstigen, unter Art 2 I RL 76/207 fallenden Arbeitsbedingungen differenziert der EuGH wie folgt: Er bejaht den erforderlichen Zusammenhang mit der Entgeltzahlung, wenn sich die Gestal-
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Vgl etwa Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 10 f. Vgl Krebber in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV, Art 141 EGV Rn 25. Vgl bereits EuGH, Slg 1976, 455, Rn 40 – Defrenne II. Vgl zusammenfassend etwa EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 15 – Seymour-Smith; Slg 1999, I-7243, Rn 19 – Lewen. EuGH, Slg 1999, I-7243, Rn 21 – Lewen. EuGH, Slg 1989, 2743, Rn 7 – Rinner-Kühn. EuGH, Slg 1990, I-2591, Rn 11 – Kowalska. EuGH, Slg 1993, I-673, Rn 12 ff – Kommission/Belgien; Slg 1999, I-623, Rn 24 ff – SeymourSmith. EuGH, Slg 1992, I-3589, Rn 13 f – Bötel; Slg 1996, I-243, Rn 22 f – Lewark. EuGH, Slg 1982, 359, Rn 5 ff – Garland. EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 34 – Seymour-Smith. Grundl bereits EuGH, Slg 1978, 1365, Rn 21 – Defrenne III. RL des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen v 9.2.1976, ABl 1976 Nr L 39/40. EuGH, Slg 1985, 1459, Rn 24 – Kommission/Deutschland. Zur Drittwirkung von Art 141 I EGV (157 I AEUV) vgl Rn 39.
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tung einer Arbeitsbedingung „quasi automatisch“ auf die Höhe des Entgeltes auswirkt, verneint ihn aber, wenn die Arbeitsbedingung nur die Möglichkeit des Einflusses auf das Entgelt eröffnet.74 35
Beispiele: Eine Bestimmung des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT), die bei der Berechnung der Dienstzeit für den Aufstieg in eine höhere Vergütungsgruppe Teil- und Vollzeitbeschäftigte mit nachteiligen Wirkungen für die oft nur teilzeitbeschäftigten Frauen ungleich behandelte, fiel unter den Entgeltbegriff des Art 141 II EGV (157 II AEUV), weil der Aufstieg in die nächste Gruppe automatisch erfolgte.75 Kein Entgelt im Sinne von Art 141 II EGV (157 II AEUV) regelte hingegen eine Bestimmung der bayerischen Laufbahnordnung, die zwar die Dienstzeit für Teil- und Vollzeitbeschäftigte unterschiedlich berechnete, daran aber nur die Folge der Aufnahme in eine Beförderungsliste knüpfte, welche keinen Anspruch, sondern nur die Möglichkeit einer Beförderung eröffnete.76 Entspr differenziert der EuGH bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses: Die Entschädigung wegen ungerechtfertigter Entlassung ist an Art 141 EGV (157 AEUV), die Voraussetzungen der Wiedereingliederung des Arbeitnehmers an der RL 76/207 zu messen.77 Auch sonstige Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begründung eines Arbeitsverhältnisses, wie insb die sog Quotenregelungen bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst zugunsten von Frauen78 und die Beschränkung des Zugangs von Frauen zum Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr 79, misst der EuGH an Art 2 I RL 76/207 und nicht an Art 141 I EGV (157 I AEUV).
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Art 141 I EGV (157 I AEUV) erfasst ferner nur diejenigen Leistungen, die dem Arbeitgeber zumindest mittelbar zuzurechnen sind. Die Zurechenbarkeit wirft bei der Beurteilung von Altersversorgungssystemen bes Schwierigkeiten auf. Der EuGH differenziert wie folgt: Während betriebliche Altersversorgungssysteme unter Art 141 EGV (157 AEUV) fallen, soll für die allgem Versorgungssysteme (in Deutschland also insb die soziale Rentenversicherung im SGB VI) nicht Art 141 EGV (157 AEUV), sondern allein die RL 79/7 80 gelten. Die Abgrenzung hat wegen der fehlenden Drittwirkung des Diskriminierungsverbotes in Art 4 I RL 79/7 81 und den in Art 7 RL 79/7 vorgesehenen Öffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten in Art 141 I EGV (157 I AEUV) nicht vorgesehene Abweichungen vom Gebot der Nichtdiskriminierung gestatten (dabei geht es insb um – mitunter nur vermeintlich – Frauen „begünstigende“ Regelungen der Mitgliedstaaten, insb im Zusammenhang mit dem Rentenzugangsalter) 82, große praktische Bedeutung, verursacht aber aufgrund der Verzahnung von betrieblicher und allgem Altersversorgung mitunter erhebliche Friktionen.83
74 EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 9 – Nimz; Slg 1997, I-5253, Rn 24 ff – Gerster. 75 EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 9 – Nimz; vgl ferner EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 24 ff – Bilka; Slg 1990, I-2591, Rn 13 – Kowalska. 76 EuGH, Slg 1997, I-5253, Rn 23 f – Gerster. 77 EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 25 ff, 37 ff – Seymour-Smith. 78 EuGH, Slg 1995, I-3051, Rn 12 ff – Kalanke; Slg 1997, I-6363, Rn 21 ff – Marshall; Slg 2000, I-1875, Rn 13 ff – Badeck; Slg 2000, I-5539, Rn 40 ff – Abrahamsson. 79 EuGH, Slg 2000, I-69, Rn 10 ff – Kreil. 80 RL des Rates zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit v 19.12.1978, ABl 1979 Nr L 6/6/24. 81 Zur Drittwirkung von Art 141 I EGV (157 AEUV) s u Rn 39. 82 Vgl Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 729 ff. 83 Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 141 EGV Rn 72.
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Für die Zurechnung kommt es im Rahmen der Altersversorgungssysteme entscheidend auf den betrieblichen Bezug der Versorgungsleistung an. Dieser hängt maßgeblich vom Einfluss des Arbeitgebers auf das Versorgungssystem ab. Der Umstand, dass ein Versorgungssystem auf gesetzlicher, der Vereinbarung der Parteien des Arbeitsvertrages entzogener Verpflichtung beruht, kann daher ein wichtiges Indiz für die Verneinung des betrieblichen Bezuges sein. Allein ausschlaggebend ist es aber nicht, weil der Grund der Leistung des Arbeitgebers im Prinzip unerheblich ist, sofern sie nur im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis erbracht wird.84 Das für den betrieblichen Bezug wesentliche Begriffspaar ist daher nicht „betrieblich-gesetzlich“, sondern „betrieblich-allgemein (sozial-) staatlich.“ 85 Der betriebliche Bezug der Versorgungsleistung ist zu bejahen, wenn der Arbeitgeber die Leistung ganz oder zum Teil, ggf auch zusammen mit Abzügen vom Lohn des Arbeitgebers, selbst finanziert und einen Einfluss auf die Bestimmung von Art und Umfang der zu erbringenden Leistung behält.86 Je weniger aber die Modalitäten der Beitragsleistung und der zu erbringenden Leistungen durch das konkrete Beschäftigungsverhältnis gestaltet werden und je stärker die finanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand und der Einfluss allgem sozialpolitischer Erwägungen ist 87 (die sich insb in solidarischer Umverteilung und in der Einbeziehung von Nicht-Arbeitnehmern äußern kann), desto mehr löst sich das System vom konkreten Beschäftigungsverhältnis mit der Folge, dass der betriebliche Bezug der Versorgungsleistung zu verneinen ist; 88 so etwa bei Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung.89 Wenn aber die Versorgungsleistung einen betrieblichen Bezug hat, so ist die konkrete Funktion der betrieblichen Alterssicherung im mitgliedstaatlichen Versorgungssystem ohne Belang. Er wird daher auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Versorgungssystem die soziale Rentenversicherung ganz oder zum Teil substituiert.90
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b) Beeinträchtigung Beeinträchtigung ist jede entgeltbezogene Ungleichbehandlung für gleiche oder gleichwertige Arbeit aufgrund des Geschlechts durch die Mitgliedstaaten oder private Arbeitgeber.
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aa) Normadressaten Normadressaten des Art 141 I EGV (157 AEUV) sollen neben den Mitgliedstaaten auch – was problematisch ist (→ § 13 Rn 18) – Privatpersonen sein; gebunden sind daher insb die Tarifvertragsparteien.91 Die Gemeinschaft ist hingegen nicht an Art 141 I EGV (157 I AEUV), sondern an Art 23 GRCh gebunden (s o Rn 25).
84 EuGH, Slg 1994, I-4471, Rn 24/26 – Beune; Slg 1999, I-7243, Rn 20 – Lewen; Bieback in: Fuchs (Hrsg), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 141 EGV Rn 33 ff. 85 Bieback in: Fuchs (Hrsg), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 141 EGV Rn 27. 86 Grundl: EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 22 ff – Barber; Bieback in: Fuchs (Hrsg) Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 141 EGV Rn 33. 87 EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 23 – Barber. 88 Vgl den Kriterienkatalog bei Bieback in: Fuchs (Hrsg), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 141 EGV Rn 32 ff. 89 EuGH, Slg 1971, 445, Rn 7/12 – Defrenne I. 90 EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 28 – Barber; Slg 1994, I-4389, Rn 71 – Coloroll Pension Trustees. 91 EuGH, Slg 1999, I-7243, Rn 26 – Lewen; Slg 2004, I-11143, Rn 25 – Sass.
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bb) Vergleichsgruppen 40
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Die Feststellung einer Ungleichbehandlung beginnt mit der Bildung der Vergleichsgruppen.92 Diese setzt einen Bezugspunkt voraus, der den gemeinsamen Oberbegriff bildet, unter den die rechtlich verschieden behandelten Personen fallen. Dieser Bezugspunkt wird in Art 141 EGV (157 AEUV) mit „gleiche oder gleichwertige Arbeit“ umschrieben. Das Unionsrecht gibt zwar nicht vor, wie die Gleichwertigkeit der Arbeit festzustellen ist; im Interesse der einheitlichen Anwendbarkeit des Art 141 EGV (157 AEUV) muss es aber einheitliche Kriterien geben, zumal das Verständnis in den Mitgliedstaaten insoweit erheblich differiert.93 Die Kommission hat daher ein ausführliches Klassifikationsschema entwickelt,94 das zur Definition beitragen kann, jedoch rechtlich unverbindlich ist. Einzelne Aussagen finden sich auch in der EuGH-Rspr: Die Gleichheit oder Gleichwertigkeit der Arbeit hängt danach weder von der subjektiven Einschätzung des Arbeitnehmers noch derjenigen des Arbeitgebers ab.95 Maßgebend sind vielmehr objektive Umstände wie die Art der Arbeit, die Ausbildungsanforderungen und die Arbeitsbedingungen.96 Keine gleiche oder gleichwertige Arbeit liegt vor, wenn die gleiche Tätigkeit von Arbeitnehmern mit unterschiedlicher Ausbildung ausgeübt wird.97 Vergleichbarkeit ist im Übrigen, wie bei jedem Gleichheitssatz, nur gegeben, wenn die beiden Fälle in den Zuständigkeitsbereich der handelnden Stelle fallen.98 Das bedeutet zwar nicht, dass zwingend nur Arbeitnehmer eines Arbeitgebers miteinander verglichen werden können, weil Ungleichbehandlungen auch in Rechtsnormen oder Kollektivvereinbarungen wurzeln können, die eine Vielzahl von Arbeitnehmern unterschiedlicher Arbeitgeber erfassen können. Allerdings muss die Ungleichbehandlung „auf ein und dieselbe Quelle zurückführen“ sein; anderenfalls „fehlt eine Einheit, die für die Ungleichbehandlung verantwortlich ist und die die Gleichbehandlung wiederherstellen könnte.“ 99 cc) Arten der Beeinträchtigung
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Art 141 I EGV (157 I AEUV) verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts. (1) Das verbotene Differenzierungskriterium Geschlecht
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Art 141 EGV (157 AEUV) ist nur auf Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts des Arbeitnehmers anwendbar. Das sind auch solche Umstände, die nur Angehörige eines Geschlechts erfüllen können, insb die Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes.100 Benachteiligungen wegen der gleichgeschlechtlichen Orientierung werden nicht
92 93 94 95 96 97 98 99 100
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Vgl allgem Pieroth/Schlink (Fn 10) Rn 431 ff. Vgl Schlachter in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 9. Aufl 2009, Art 141 EGV Rn 8. KOM (1994) 6 endg und KOM (1996) 336 endg. Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 14. EuGH, Slg 1995, I-1275, Rn 32 f – Royal Copenhagen. EuGH, Slg 1999, I-2865, Rn 20 f – Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse. Vgl allgem Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 9. Aufl 2007, Art 3 Rn 4a. EuGH, Slg 2002, I-7325, Rn 18 – Lawrence. Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 19.
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erfasst.101 Sie können aber als Benachteilung wegen der sexuellen Orientierung unter die auf Art 13 EGV gestützte RL 2000/78 EG fallen (s o Rn 22). (2) Unmittelbare Diskriminierungen Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine entgeltbezogene Maßnahme explizit an das Geschlecht anknüpft.102 Beispiele: Eine unmittelbare Diskriminierung liegt etwa vor, wenn Mutterschutzzeiten bei der Gewährung einer Gratifikation nicht als Beschäftigungszeiten103 und Kindererziehungszeiten bei der Rente nur für Mütter berücksichtigt werden.104 Gleiches gilt, wenn nur Beamtinnen das Recht haben, mit sofortigem Pensionsanspruch in den Ruhestand versetzt zu werden, wenn der Ehegatte eine Behinderung oder eine unheilbare Krankheit hat.105 Unmittelbare Diskriminierungen beinhalten insb auch sog positive Diskriminierungen, die Angehörige eines Geschlechts gezielt fördern.106 Art 141 IV EGV (157 IV AEUV) und Art 23 Abs 2 GRCh stellen klar, dass ihnen der europarechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz grds nicht entgegensteht;107 auch Art 3 II 2 GG lässt derartige Fördermaßnahmen grds zu. Hier geht es insb um Frauenquoten bei der Einstellung im öffentlichen Dienst: Starre Quoten, die Frauen automatisch bevorzugen, ohne auf die bes Situation eines konkurrierenden Mannes einzugehen, sind unzulässig.108 Enthalten sie eine individualisierte Öffnungsklausel, sollen sie hingegen zulässig sein; 109 auch dann muss aber verhindert werden, dass weniger qualifizierte Bewerber vorgezogen werden.110 Positive Fördermaßnahmen müssen sich zudem stets an ihrer Zielgenauigkeit messen lassen: Wenn etwa die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben (Art 33 Abs 2 GRCh) verbessert werden soll, müssen Kindererziehende, nicht Frauen gefördert werden.111
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(3) Mittelbare Diskriminierungen Der praktisch häufigste und schwierigste Fall sind mittelbare Diskriminierungen. Ihr Vorliegen wird in Anlehnung an Art 2 II RL 97/80 (sog Beweislastrichtlinie)112 ermittelt. Danach liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach geschlechtsneutral formulierte Vorschriften, Kriterien und Verfahren prozentual einen wesentlich
101 Vgl EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 47 – Grant = JK 4/99, EGV Art 119/1; Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 17; vgl dazu Fall 2. 102 Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 18; Schlachter in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 9. Aufl 2009, Art 141 EGV Rn 13. 103 EuGH, Slg 1999, I-7243, Rn 42 – Lewen. 104 EuGH, Slg 2001, I-9383, Rn 67 – Griesmar. 105 EuGH, Slg 2001, I-10201, Rn 31 – Mouflin. 106 Nußberger in: Tettinger/Stern, GRCh, Art 23 Rn 95 ff; Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 52; vgl dazu, auch rechtsvergleichend, etwa M Döring Frauenquoten und Verfassungsrecht, 1996. 107 Zur Auflösung der Inkongruenz zwischen den beiden Vorschriften Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 23 GRCh Rn 4. 108 EuGH, Slg 1995, I-3051, Rn 22 – Kalanke. 109 EuGH, Slg 1997, I-6363, Rn 32 f – Marshall. 110 EuGH, Slg 2000, I-5539, Rn 52 – Abrahamsson. 111 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 33 GRCh Rn 6. 112 Richtlinie des Rates über die Beweislast bei Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts v 15.12.1997, ABl 1998 Nr L 14/6.
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höheren Anteil eines Geschlechts benachteiligen.113 Es reicht also aus, dass sich eine geschlechtsneutral formulierte Regelung statistisch überwiegend zum Nachteil eines Geschlechts auswirkt. Um diese tatsächlichen Auswirkungen zu ermitteln, darf nicht auf die absoluten Zahlen der jeweils betroffenen Arbeitnehmer eines Geschlechts abgestellt werden; vielmehr muss die Zahl der Betroffenen eines Geschlechts jeweils in Relation zu der Gesamtheit der Arbeitnehmer dieses Geschlechts gesetzt und innerhalb jeder Gruppe der prozentuale Anteil der Betroffenen ermittelt werden.114 Art 4 RL 97/80 verschiebt dabei die Beweislast auf den Beklagten, also den Arbeitgeber oder den Mitgliedstaat. Danach müssen Personen, die sich durch eine Diskriminierung wegen des Geschlechts für beschwert erachten, nur die Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen. Dies kann insb durch amtliche oder nicht-amtliche Statistiken geschehen. Dem Beklagten obliegt dann der Beweis, dass keine Diskriminierung vorgelegen hat. 46
Beispiele: Eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wird angenommen, wenn Teilzeitbeschäftigte schlechter gestellt werden als Vollzeitbeschäftigte, weil der Anteil der Frauen an den Teilzeitbeschäftigten typischerweise höher ist als der der Männer.115 Als Diskriminierung wurde daher etwa die Bezahlung geringerer Stundensätze für Teilzeitbeschäftigte116 und der Ausschluss der Teilzeitbeschäftigten vom Zugang zu einem betrieblichen Versorgungssystem117 angesehen. Sehr weitgehend erstreckt der EuGH das Diskriminierungsverbot auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um in den Genuss des Schutzes einer Norm zu kommen:118 Eine Diskriminierung soll daher auch vorliegen, wenn das nationale Recht die Gewährung einer Leistung (hier: Hinterbliebenenrente) davon abhängig macht, dass die Betroffenen miteinander verheiratet sind, ihnen aber aufgrund einer Geschlechtsumwandlung die Möglichkeit eines Eingehens der Ehe verweigert wird. Hingegen ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, alle familienbedingten Unterbrechungen der Erwerbsbiographie auszugleichen.119 Keine mittelbare Diskriminierung soll auch das Abstellen auf die Anciennität sein.120
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Die EuGH-Rspr ist – ungeachtet ihrer sozialpolitisch meist überzeugenden Ergebnisse – dogmatisch unbefriedigend, weil sie mit der Konzentration auf die tatsächlichen Auswirkungen einer Regelung letztlich die Statistik zur Auslegungsmethode befördert.121 Grundrechte sind Individualrechte; die grundrechtliche Betroffenheit kann daher nicht davon abhängen, ob der Einzelne einer bestimmten Gruppe (hier: Frauen) angehört und in die-
113 Vgl EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 29 – Bilka; Slg 1996, I-243, Rn 28 – Lewark; Slg 1997, I-5253, Rn 30 – Gerster. 114 EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 58 ff – Seymour-Smith; dazu auch Bieback in: Fuchs (Hrsg), Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 141 EGV Rn 62 ff und Rust in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 141 EGV Rn 459. 115 Dazu umfassend Biermann Die Gleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten bei entgeltlichen Ansprüchen, 2000, 162 ff; Saunders Gleiches Entgelt für Teilzeitarbeit, 1997, 29 ff. 116 EuGH, Slg 1981, 911, Rn 13 – Jenkins. 117 EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 29 ff – Bilka. 118 EuGH, Slg 2004, I-541, Rn 30 – K; insoweit krit Classen JZ 2004, 513 f. 119 EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 29 ff – Bilka. 120 EuGH, Slg 1989, 3199, Rn 24 f – Danfoss A/S; krit Krebber in: Calliess/Ruffert, Art 141 EGV Rn 45. 121 Weniger krit Schlachter in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 9. Aufl 2009, Art 141 EGV Rn 15, 19, die die Statistik als Methode zur Senkung der Beweisanforderungen für die Geschlechtsabhängigkeit einer Diskriminierung interpretiert.
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ser Gruppe auch noch andere, möglicherweise sogar bes viele, betroffen sind, zumal offen bleibt, wo die prozentual relevante Grenze liegen soll.122 Problematisch ist dies insb für Personen, die nicht der mehrheitlich betroffenen Gruppe angehören, aber dennoch von den nachteiligen Folgen betroffen werden, etwa der wegen der Kindererziehung teilzeitbeschäftigte Mann. Er kann die nachteiligen Wirkungen einer unterbrochenen Erwerbsbiographie nicht mit der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts begründen, weil die Regelung mehrheitlich Frauen und nicht Männer trifft. Letztlich geht es dem EuGH um das praktische Ergebnis: Arbeits- und beschäftigungspolitische Bedingungen, die zwar nicht am Tatbestand „Geschlecht“ sondern an der „Kindererziehung“ anknüpfen, realiter aber meistens Frauen treffen, sollen auf ihre sachliche Rechtfertigung hin überprüft werden. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung löst sich der EuGH immerhin von der alleinigen Prüfung der tatsächlichen Auswirkungen und fragt, ob die beanstandete Regelung (die statistisch mehr Frauen als Männer betrifft) durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.123 Hier klingt das Verständnis des Art 141 I EGV (157 I AEUV) als Begründungsverbot an, das den Normadressaten verpflichtet, die Differenzierung ohne Rückgriff auf das verbotene Differenzierungskriterium „Geschlecht“ zu begründen.124 Gelingt diese Begründung, hat sie selbst dann Bestand, wenn sie im Ergebnis mehr Personen des einen als des anderen Geschlechts trifft.125 Das Begründungsverbot verbindet damit Fragen der Ungleichbehandlung bereits mit der Prüfung nach ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, insb des Zweckes der Ungleichbehandlung.
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c) Rechtfertigung Art 141 EGV (157 AEUV) enthält keine ausdrücklichen Schrankenbestimmungen. Trotzdem ist anerkannt, dass auch Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts gerechtfertigt werden können. Dabei wird zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen unterschieden: Während mittelbare Diskriminierungen grds gerechtfertigt werden können, wird die Ansicht vertreten, dass unmittelbare Diskriminierungen entweder gar nicht126 oder nur unter erschwerten Bedingungen127 zu rechtfertigen sind. Diese Differenzierung überzeugt nicht: Denn für den Einzelnen ist es gleichgültig, ob er durch ausdrückliche Anknüpfung an die Gruppe, der er angehört oder durch typischerweise diese Gruppe treffende Merkmale belastet wird.128 In neueren Urt gleichen sich die Rechtfertigungsmaßstäbe daher mit Recht an.129 Dass mittelbare Diskriminierungen gleichwohl eher rechtfertigungsfähig sind, liegt daran, dass die Rechtfertigungsprüfung hier auch als Korrektiv für den (zu) weiten Begriff der mittelbaren Diskriminierung dient.130
122 123 124 125 126 127 128 129 130
Eher spekulativ daher Rust in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 141 EGV Rn 459. Vgl etwa EuGH, Slg 1993, I-6185, Rn 32 – Kirsammer-Hack. Vgl für Art 3 II und III GG Pieroth/Schlink (Fn 10) Rn 447 ff. Ebenso für Art 3 II GG Pieroth/Schlink (Fn 10) Rn 453. Classen JZ 1996, 621, 624. So Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 20. Wie hier Kischel EuGRZ 1997, 1, 4 f vgl auch § 13 Rn 25. Vgl etwa EuGH, Slg 2001, I-4961, Rn 63 ff – Brunnhofer. Odendahl in: Heselhaus/Nowak, GR, § 44 Rn 59.
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Die Rechtfertigungsprüfung besteht aus der Feststellung eines legitimen, auch von den Verträgen anerkannten Zieles der Ungleichbehandlung und der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme: So sieht der EuGH Benachteiligungen durch Arbeitgeber als gerechtfertigt an, wenn sie (1) einem „wirklichen unternehmerischen Bedürfnis“ entsprechen und (2) für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind,131 was insb dann der Fall sein dürfte, wenn substantiiert vorgetragen wird, dass mit der Maßnahme Arbeitsplätze oder gar der Fortbestand des Unternehmens gesichert werden können. Differenzierungen in Gesetzen und Tarifverträgen können durch beschäftigungs- und sozialpolitische Ziele gerechtfertigt sein, wenn sie zu deren Erreichung geeignet und erforderlich sind.132 Wegen der weitgehend fehlenden sozialpolitischen Zuständigkeit der Gemeinschaft haben die Mitgliedstaaten insoweit einen weiten Entscheidungsspielraum.133
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Beispiele: Das Ziel, geringfügige Beschäftigung (vgl §§ 8, 8a SGB IV) zu erleichtern, kann die Herausnahme aus der Sozialversicherungspflicht rechtfertigen.134 Der auch durch Art 137 II 1b) EGV (153 II 1b) AEUV) anerkannte Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen kann Befreiungen von nationalen Kündigungsschutzregelungen rechtfertigen.135 Allgem Behauptungen, dass bestimmte Maßnahmen Einstellungen fördern, reichen aber nicht aus.136
d) Rechtsfolgen eines Verstoßes 52
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Nach allgem Grundsätzen ist bei einem Verstoß gegen Art 141 I EGV (157 I AEUV) die angegriffene Regelung/Maßnahme nicht anzuwenden. Dabei ist zu unterscheiden für die Zeit vor und nach der Anpassung der nationalen Maßnahme/Regelung an das Urt des EuGH: Bis zum Inkrafttreten einer neuen nationalen Regelung hat der betroffene Arbeitnehmer einen unmittelbar aus Art 141 EGV (157 AEUV) folgenden Anspruch auf Leistung des dem bevorzugten Geschlechts gewährten Entgeltes.137 Dieser Anspruch bezieht sich grds auch auf in der Vergangenheit liegende Arbeitszeiten, allerdings aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Vermeidung unverhältnismäßiger Belastungen nicht auf Zeiten vor dem 8.4.1976.138 Für Betriebsrenten ist die zeitliche Wirkung sogar auf die Zeit nach dem 17.5.1990 beschränkt, wenn nicht vorher rechtliche Schritte zur Wahrung der Rechte unternommen wurden.139 Das soll aber nur für die Leistungen selbst, nicht für die Voraussetzungen für den Anschluss an ein betriebliches Rentensystem gelten.140 Sobald eine neue Regelung/Maßnahme in Kraft ist, die das Urt des EuGH umsetzt, ist allein diese maßgebend. Gemäß den für die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Gleichheitssätze geltenden Grundsätzen (s o Rn 10) muss die Neuregelung die bislang dem einen Geschlecht gewährte Vergünstigung nicht auf das andere ausdehnen; zulässig ist vielmehr
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EuGH, Slg 1986, 1607, Rn 36 – Bilka. EuGH, Slg 1989, 2743, Rn 14 – Rinner-Kühn. EuGH, Slg 1995, I-4625, Rn 33 – Nolte. EuGH, Slg 1995, I-4625, Rn 31 – Nolte. EuGH, Slg 1993, I-6185, Rn 32 ff – Kirsammer-Hack. EuGH, Slg 1999, I-623, Rn 76 – Seymour-Smith. EuGH, Slg 1991, I-297, Rn 21 – Nimz; näher Nicolai ZfA 1996, 481, 485 ff. EuGH, Slg 1976, I-455, Rn 74 f – Defrenne II. EuGH, Slg 1990, I-1889, Rn 43 f – Barber. Näher Rebhahn in: Schwarze, EUV, Art 141 EGV Rn 34.
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auch eine Abschaffung der Vergünstigung für das bislang begünstigte Geschlecht.141 Art 141 I EGV (157 I AEUV) verhält sich nur zur Gleichbehandlung, nicht zu dem Niveau, auf dem diese erfolgt. Lösung Fall 1: Die Weigerung der SWT, der Lebensgefährtin der G die Fahrvergünstigung zu gewähren, könnte gegen Art 141 I EGV (157 I AEUV) verstoßen. (1) Fraglich ist zunächst, ob der persönliche Schutzbereich berührt ist, weil die Vergünstigung nicht der Arbeitnehmerin G, sondern ihrer Lebensgefährtin gewährt werden soll. Doch wird zu Recht davon ausgegangen, dass der Arbeitnehmer nicht zwingend zugleich der Leistungsempfänger sein muss. Vielmehr kann sich auch ein Dritter, der selbst nicht Arbeitnehmer ist, auf Art 141 I EGV (157 I AEUV) berufen, wenn der Entgeltanspruch seinen Ursprung im Arbeitsverhältnis hat (EuGH, Slg 1993, I-4879, Rn 12 ff – Ten Oever). Da die Fahrpreisvergünstigung aufgrund des Arbeitsvertrages der G mit der SWT geleistet wird, wurzelt sie im Arbeitsverhältnis. Auch der sachliche Schutzbereich ist berührt, denn die Fahrpreisvergünstigung ist eine sonstige Vergütung im Sinne von Art 141 II EGV (157 II AEUV; EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 13 – Grant = JK 4/99, EGV Art 119/1). (2) Der Schutzbereich müsste beeinträchtigt sein. Art 141 I EGV (157 I AEUV) verpflichtet auch Privatpersonen. Die SWT ist daher taugliche Normadressatin. Als Beeinträchtigungsform kommt eine unmittelbare Diskriminierung in Betracht. Fraglich ist allerdings, wie die Vergleichsgruppen zu bilden sind. Man könnte den Mann, der mit einer Frau zusammenlebt und die Frau, die, wie die G, mit einer Frau zusammenlebt, miteinander vergleichen. Diese werden ungleich behandelt, weil nur der Mann, der mit einer Frau zusammenlebt, in den Genuss der Vergünstigung kommt. Der Bezugspunkt des Vergleichs wäre das Zusammenleben mit einer Frau. Doch sind dies nicht die richtigen Vergleichsgruppen. Für die Vergleichgruppenbildung kommt es entscheidend auf das mit einer Maßnahme/Regelung verfolgte Ziel an (vgl allgem Gubelt in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar Bd I, 5. Aufl 2000, Art 3 Rn 17). Die Regelung über die Fahrpreisvergünstigung soll aber nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen verschieden- und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften differenzieren. Vergleichsgruppen sind daher die mit einem Partner des anderen Geschlechts und die mit dem gleichen Geschlecht zusammenlebenden Arbeitnehmer. Diese werden zwar ungleich behandelt, doch beruht diese Ungleichbehandlung weder auf dem Geschlecht der G noch ihrer Partnerin, sondern auf der geschlechtlichen Orientierung (aA GA Elmer, EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 19 ff). Ob auch Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung unter Art 141 I EGV (157 I AEUV) fallen, ist umstritten (vgl dazu die Nachw bei Szczekalla EuZW 1998, 215, 216). Für die Beurteilung dieser Frage kommt es nicht darauf an, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften nicht unter das nunmehr auch in Art 9 GRCh geschützte Grundrecht der Ehe fallen (insoweit problematisch daher EuGH, Slg 1998, I-621, Rn 32 ff – Grant). Denn die Fahrpreisvergünstigung wird ja nicht nur Verheirateten gewährt, knüpft also nicht an den Status, sondern an das Zusammenleben an. Gegen eine Einbeziehung der geschlechtlichen Orientierung spricht aber das systematische Argument, dass der EG-Vertrag in Art 13 I EGV (19 AEUV) und die Grundrechtecharta in Art 21 I GRCh explizit zwischen „Geschlecht“ und der „sexuellen Ausrichtung“ unterscheiden. Dies wäre unnötig, fiele die „sexuelle Ausrichtung“ bereits unter das „Geschlecht“. Die Weigerung der SWT, der Lebenspartnerin der G Fahrvergünstigungen zu gewähren, ist daher keine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts und damit kein Verstoß gegen Art 141 I EGV (157 I AEUV).
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Gegenüber der Weigerung der SWT kann sich G auch nicht auf Art 13 I EGV (19 AEUV) berufen. Denn die Vorschrift ist als Ermächtigungsnorm formuliert, die ein Tätigwerden des Rates voraussetzt, aber kein primärrechtliches bes Gleichheitsrecht enthält (Epiney in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 13 EGV Rn 1; aA Holoubek in: Schwarze, EUV, Art 13 EGV Rn 9).
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Lösung Fall 2: § 37 II, VII BetrVG, der die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes auf die Zeit beschränkt, in der das Betriebsratsmitglied im Betrieb hätte arbeiten müssen, könnte gegen Art 141 I EGV (157 I AEUV) verstoßen. (1) Der Schutzbereich müsste berührt sein. Problematisch ist, ob der Anspruch auf das Arbeitsentgelt während der Schulung „Entgelt“ im Sinne von Art 141 II EGV (157 II AEUV) ist. Denn die Zahlung des Arbeitgebers ist Lohnausgleich, nicht aber Entgelt für das Amt des Betriebsrates, das Ehrenamt ist und für das daher gerade kein Entgelt zu leisten ist. Man kann daher daran zweifeln, ob der Lohnausgleich Arbeitsentgelt ist, das aufgrund arbeitsvertraglich geschuldeter Arbeitsleistung zu zahlen ist (Wiese in: Fabricius/Kraft/ Wiese/Kreutz/Oetker, BetrVG, 6. Aufl 1998, § 37 Rn 55; differenzierend Kort RdA 1997, 277, 281 f). Der EuGH betont demgegenüber, dass die rechtlichen Begriffe und Qualifizierungen des nationalen Rechts für die Anwendung des Art 141 I EGV (157 I AEUV) unerheblich seien. Der Lohnausgleich ergebe sich zwar nicht aus dem Arbeitsvertrag, werde aber aufgrund des Vorliegens eines Arbeitsverhältnisses gewährt, weil nur Arbeitnehmer des Betriebes Mitglieder des Betriebsrates sein könnten (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 20 ff – Lewark). (2) Der Schutzbereich müsste beeinträchtigt sein. Adressat ist hier die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat, der die – möglicherweise – unzureichende Lohnausgleichsvorschrift des § 37 II, VII BetrVG zu verantworten hat. Als Beeinträchtigungsform kommt eine mittelbare Diskriminierung in Betracht. Eine Ungleichbehandlung ist hier zweifelhaft, denn der in absoluten Zahlen geringere Lohnausfall für Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten ist nur die logische Konsequenz aus den unterschiedlichen Arbeitszeiten. Immerhin wird aber den Teilzeitbeschäftigten durch die Schulungsveranstaltung ein Freizeitopfer abverlangt, das die Vollzeitbeschäftigten nicht tragen müssen (so die Argumentation von GA Jacobs, EuGH, Slg 1996, I-252, Rn 26 – Lewark). Nur ist dieses Freizeitopfer genaugenommen kein Entgelt. Dennoch bejaht der EuGH – auf der Grundlage seiner Prämisse, dass der Lohnausgleich nach § 37 II, VII BetrVG selbst das Entgelt darstellt – eine Ungleichbehandlung, weil die teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder bei gleicher Zahl geleisteter Stunden ein geringeres Gesamtentgelt bekämen als die vollzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 25 ff – Lewark). Diese Ungleichbehandlung beruhe auch auf dem Geschlecht, weil sowohl der Anteil der Frauen unter den Teilzeitbeschäftigten insg als auch unter den teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitgliedern prozentual erheblich unter den entspr Zahlen für Männer liege (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 28 f – Lewark). (3) Die Ungleichbehandlung könnte gerechtfertigt sein. Das setzt voraus, dass der Mitgliedstaat ein legitimes Ziel für die Ungleichbehandlung vorweisen kann und diese verhältnismäßig ist. Hier könnten sozialpolitische Ziele die Ungleichbehandlung rechtfertigen. In der ehrenamtlichen Ausgestaltung des Amtes des Betriebsrates kommt nämlich der Wille des deutschen Gesetzgebers zum Ausdruck, die Unabhängigkeit des Betriebsrates höher zu bewerten als wirtschaftliche Anreize für die Ausübung des Betriebsratsamtes. Das zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit zuständige (EuGH, Slg 1996, I-243, Rn 38 – Lewark) Bundesarbeitsgericht hält die Regelung auch für verhältnismäßig (BAGE 85, 224, 231 ff): Durch
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das Prinzip des Ehrenamtes werde die Unabhängigkeit der Betriebsräte gewährleistet. Es werde verhindert, dass das Betriebsratsmitglied durch den Einsatz von Freizeit für die Erledigung der Betriebsratsaufgaben seine Arbeitsvergütung erhöht und damit einen Vorteil erzielt, den andere betriebsangehörige Arbeitnehmer nicht erreichen können. Die Ungleichbehandlung sei auch erforderlich, denn mit der Zuerkennung von Entgeltansprüchen werde das Ehrenamtsprinzip insg und nicht nur für Schulungsveranstaltungen in Frage gestellt. § 37 II, VII BetrVG verstößt daher nicht gegen Art 141 I EGV (157 I AEUV).
3. Rechte des Kindes (Art 24 GRCh); Rechte älterer Menschen (Art 25 GRCh); Integration von Menschen mit Behinderung (Art 26 GRCh) Schrifttum: Kommentierungen der Art 24–26 GRCh bei Ennuschat bzw Mann in: Tettinger/Stern, GRCh; Hölscheidt in: Meyer, GRCh; Kingreen in: Calliess/Ruffert EUV/EGV; Rengeling/Szczekalla GR, Rn916ff; Ross in: Schwarze EUV; und Streinz in: Streinz EUV/EGV.
Art 24 –26 GRCh stellen drei Gruppen als bes schutzbedürftig heraus (Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung). Das ist durchaus innovativ: Während der Schutz behinderter Menschen immerhin in einigen nationalen Grundrechtstexten enthalten ist, werden Kinder meist nur reflexartig über die Rechte ihrer Eltern oder der Familie geschützt und wird die bes Schutzbedürftigkeit älterer Menschen meist auf die Sicherheit der Rentenversicherungssysteme reduziert.142 Die praktische Bedeutung der Grundrechte ist bislang noch nicht sehr groß, könnte aber steigen, weil die Union in Art 13 EGV (19 AEUV) eine eigenständige Kompetenz im Bereich des Diskriminierungsschutzes hat. Auch ihre Kompetenzen im Bereich des Wirtschafts- und Arbeitslebens (etwa in der Beschäftigungspolitik, Art 125 EGV/145 AEUV, und in der Industriepolitik, Art 157 EGV/173 AEUV) können insoweit grundrechtliche Reibungsflächen produzieren. Äußerlich sind die Art 24 –26 GRCh als Gleichheitsrechte nicht zu erkennen. Kinder, ältere und behinderte Menschen sind bereits über die Merkmale „Alter“ (das sich auch auf Kinder bezieht143) und „Behinderung“ in Art 21 I GRCh gegen Diskriminierungen geschützt. Die Gewährleistungen in den Art 24 –26 GRCh gehen aber, was die Grundrechtsfunktionen angeht (→ § 14 Rn 28 ff), offenbar über gleichheitsrechtliche Gewährleistungen hinaus: Sie enthalten teils bes Freiheitsrechte (zB Art 24 I 2 und 3 GRCh als leges speziales zu Art 21 GRCh), sind teilweise aber auch als derivative Teilhaberechte (Art 25 GRCh: „Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“; Art 26 GRCh: „Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“) und als originäre Leistungsrechte (Art 24 I 1 GRCh: „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge“) formuliert.144
142 Vgl die Nachweise bei Hölscheidt in: Meyer, GRCh, Art 24 Rn 6 ff, Art 25 Rn 3; Art 26 Rn 2 ff. BVerfG, NJW 2008, 1287 (1288 f) leitet aber nunmehr aus Art 6 Abs 2 ff ein eigenständiges Grundrecht des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen ab. 143 Meyer Das Diskriminierungsverbot des Gemeinschaftsrechts als Grundsatznorm und Gleichheitsrecht, 2002, 72 f. 144 Zur Unterscheidung zwischen derivativen Teilhabe- und originären Leistungsrechten Murswiek in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd V, 1992, § 112 Rn 2.
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§ 18 Soziale Grundrechte Thorsten Kingreen Schrifttum: Bernsdorff Soziale Grundrechte in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, VSSR 2001, 1 ff; Blank Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtscharta, 2002; Frenz HbER IV, Kap 11; Geesmann Soziale Grundrechte im deutschen und französischen Verfassungsrecht und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005; Jarass GR, §§ 29–34; Kingreen Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/2007, 43; Pernice/Mayer in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV nach Art 6 EUV Rn 193 ff; Pitschas Europäische Grundrechte-Charta und soziale Grundrechte, VSSR 2000, 207 ff; Rengeling/Szczekalla GR, Rn 990 ff; Winner Die Europäische Grundrechtecharta und ihre soziale Dimension, 2005. Vgl darüber hinaus die Kommentierungen der Art 27–38 GRCh in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, in: Meyer, GRCh, und in: Streinz, EUV/EGV.
I. Solidarität und soziale Rechte 1
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Kapitel IV der Grundrechtecharta der Europäischen Union trägt den Titel „Solidarität“. Das knüpft, nach der Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit in den Kapiteln II und III, an das dritte Losungswort der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, an, zu der ein enger ideengeschichtlicher Zusammenhang besteht.1 Die Sozialphilosophie umschreibt Solidarität als die Notwendigkeit einer qualifizierten und damit auch exklusiven Verbundenheit, die maßgeblich darauf beruht, dass individuelle Interessen und Rechte zugunsten der solidarisch verbundenen Gemeinschaft und des gemeinschaftlich verfolgten Ziels zurücktreten.2 Solidarität ist aber auch ein im Recht gerne verwendeter Begriff, insb im Sozialrecht (vgl § 1 SGB V). Auch im europäischen Recht findet er vielfältige Verwendung und ist dabei keineswegs auf die Sozialpolitik beschränkt.3 Im Bereich des Kapitels IV der Grundrechtecharta finden sich neben Normen mit arbeits- und sozialrechtlichem Bezug (Art 27–34 GRCh) Bestimmungen, deren Zusammenhang mit der Solidarität sich nicht auf den ersten Blick erschließt, etwa über den Gesundheits-, den Umwelt- und den Verbraucherschutz (Art 35 S 2, 37, 38 GRCh). Offenbar fungiert Solidarität hier als Oberbegriff, um eine gemeinsame Verantwortung für öffentliche Güter zu proklamieren, die sich nicht im freiheitlichen Wettbewerb der Kräfte realisieren lassen; darauf deutet auch die nochmalige Erwähnung der Daseinsvorsorge in Art 36 GRCh hin.4 Als Bauprinzip eines freiwilligen Zusammenschlusses ist die Solidarität vom Solidarprinzip als Rechtsprinzip eines Zwangszusammenschlusses zu unterscheiden:5 Grundrechtlich geschützt ist die Freiheit zur Solidarität, etwa in der allg Vereinigungsfreiheit (Art 12 GRCh), aber auch durch einige in Kapitel IV gewährleistete Rechte: Das sind die
1 Wildt Solidarität – Begriffsgeschichte und Definition heute in: K Bayertz (Hrsg), Solidarität, 1998, 202 ff. 2 Vgl für Nachweise Kingreen Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, 244 ff. 3 Vgl etwa die „Solidarität zwischen ihren Völkern“ in der Präambel des EUV. 4 Vgl bereits Art 16 EGV (14 AEUV). 5 Kingreen (Fn 2) S 253 ff.
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in Art 28 GRCh garantierte Koalitionsfreiheit und der Schutz der Familie in Art 33 GRCh, die jeweils durch das Prinzip der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses gekennzeichnete Gemeinschaften schützen. Das Solidarprinzip ist hingegen ein Element eines mit obligatorischen Umverteilungswirkungen verbundenen Zwangszusammenschlusses (etwa einer obligatorischen Sozialversicherung)6 und steht als solches in einem Spannungsverhältnis zur grundrechtlichen Freiheit des Einzelnen, selbst darüber zu entscheiden, mit wem er sich wie solidarisch verbindet (etwa, indem er nicht Mitglied einer sozialen Krankenversicherung wird, sondern sich privat gegen Krankheit versichert). Dieser Zwang zur Solidarität ist ein Grundrechtseingriff, der der Rechtfertigung bedarf. Auch insoweit bietet das IV. Kapitel durchaus Ansätze: Mit dem Bekenntnis zur Notwendigkeit des Zugangs zu den Systemen der sozialen Sicherheit (Art 34 GRCh) und zu Dienstleistungen von allg wirtschaftlichem Interesse (Daseinsvorsorge, Art 36 GRCh) benennt es verfassungsrechtliche Positionen, die in der Abwägung ein Gegengewicht zur grundrechtlichen Freiheit bilden, vom Zwang zur Solidarität verschont zu bleiben.7
II. Typologie und Dogmatik sozialer Rechte Die Einbeziehung sozialer Rechte in die Grundrechtecharta war und ist politisch umstritten.8 Das liegt auch daran, dass es sich um einen nebulösen Sammelbegriff handelt, der, ebenso wie die Solidarität, vielfältige Assoziationen weckt. Grundrechtstheoretisch und -dogmatisch ist er kaum anschlussfähig. Um die Gehalte der Art 27–38 GRCh herauszuarbeiten, müssen daher zwei wichtige typologische Unterscheidungen getroffen werden. Erstens ist herauszuarbeiten, welche Normen auch Grundrechte und welche nur Grundsätze enthalten (Rn 4–8). Zweitens müssen die einzelnen Grundrechte den etablierten Grundrechtsfunktionen zugeordnet werden (Rn 9–15).
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1. Grundrechte und Grundsätze Das IV. Kapitel enthält nämlich neben Grundrechten auch Grundsätze.9 Grundrechte sind subjektiv-öffentliche Rechte, die den Einzelnen in die Lage versetzen, von einem Hoheitsträger zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können.10 Grundsätze enthalten hingegen keine subjektiven Rechte. Vielmehr handelt es sich nach Art 52 V 1 GRCh um Handlungsermächtigungen und gemäß Art 52 V 2 GRCh um Auslegungsregeln, die zur interpretatorischen Konkretisierung von Maßnahmen der Union und der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten heranzuziehen sind. Die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen hat damit erhebliche Bedeutung für die Reichweite der Bestimmungen des IV. Kapitels. Allerdings ist noch kaum geklärt, was Grundrecht und was Grundsatz ist.11 Da es sich um eine rechtstheoretische und rechtsdogmatische Unterscheidung handelt, greift ein eher rechtspolitisch motivierter Ansatz zu kurz, der die „missliebigen“ sozialen Grundrechte in ihrer Gesamtheit
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Explizit etwa § 1 SGB V: „Krankenversicherung als Solidargemeinschaft“. Vgl daher auch EuGH, Slg 1993, I-637, Rn 18 – Poucet und Pistre. Vgl dazu etwa Krebber in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 27 GRCh Rn 1 ff. Dazu Rengeling/Szczekalla GR, Rn 993 ff. Vgl etwa Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl 2008, § 8 Rn 2. Dazu etwa Jarass GR, § 7 Rn 24 ff.
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zu Grundsätzen erklärt, um sie zu entschärfen. Eine Differenzierung lässt sich aber mithilfe der klassischen Auslegungsmethoden treffen: 12 Schon von ihrem Wortlaut („Recht auf“, „Anspruch auf“, „muss gewährleistet sein“, „wird gewährleistet“) räumen danach die Art 27, 33, 34 II, 35 S 1 GRCh subjektiv-öffentliche Rechte ein, sind also Grundrechte. Art 32 GRCh ist zwar nicht als Recht formuliert, sondern als Schutzpflicht. Doch ist mittlerweile auch im Gemeinschaftsrecht anerkannt, dass aus Schutzpflichten auch subjektiv-öffentliche Ansprüche auf Schutzgewähr folgen; 13 daher kann der grundrechtliche Charakter des Art 32 GRCh nicht zweifelhaft sein. Gewisse Anhaltspunkte für die Frage, was Grundrecht ist und was Grundsatz, lassen sich im Wege genetischer Auslegung auch den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents entnehmen.14 Meist beschränken sie sich allerdings auf die apodiktische Feststellung, dass eine bestimmte Norm einen Grundsatz enthält.15 Auch „das Sozialrecht“ wird im Zusammenhang mit den Grundsätzen, undifferenziert und ohne normative Konkretisierung, erwähnt. Schließlich kann ausweislich der Erläuterungen „ein Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten“ 16. Es ist zwar im Prinzip selbstverständlich, dass Normen, die subjektive Rechte vermitteln, regelmäßig auch Handlungsermächtigungen und Auslegungsmaximen beinhalten.17 Das Präsidium hat indes nicht diesen Umstand im Auge gehabt, weil die Erläuterungen gerade diejenigen Normen herausfiltern sollen, die nur Grundsätze enthalten. Gemeint ist vielmehr, dass die aufgeführten Bestimmungen mehrere selbständige Gewährleistungen enthalten, die teils Grundrechte, teils aber auch nur Grundsätze beinhalten.18 Insg sollte man die Bedeutung der lediglich vom Präsidium des Grundrechtekonvents verfassten Erläuterungen nicht überschätzen.19 Vor allem die systematische Auslegung erlaubt eine Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen. Man kann als Grundsatz alle Normen ansehen, die abw von der lex generalis in Art 51 I 1 GRCh nur die Union und nicht auch die Mitgliedstaaten verpflichten. Im Kapitel IV sind dies die Art 34 I und III, 35 S 2, 36 und 37 GRCh. Sie verdrängen insoweit den allg Art 51 I 1 GRCh und schonen damit die Kompetenz der Mitgliedstaaten: Die genannten Bestimmungen knüpfen nämlich an individuelle Rechte oder Gemeinschaftsgüter an, die ganz oder jedenfalls vorwiegend bereits durch das mitgliedstaatliche Recht geschützt werden. Die Charta setzt also insoweit Rechte voraus, begründet sie aber nicht. Wären die Mitgliedstaaten an diese Normen auch grundrechtlich gebunden, würden
12 Vgl zum Folgenden Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 16 f; vgl ferner etwa Frenz HbER IV, Rn 441 ff und Schmittmann Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, 2007, 81 ff – Ausführliche Analyse aller vertretenen Ansätze: Sagmeister Über die sog Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtscharta, Diss. Regensburg 2009, Teil 5. 13 Vgl Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 51 GRCh Rn 23 ff. 14 Für die Relevanz der genetischen Auslegung vor allem Borowsky in: Meyer, GRCh, Art 52 GRCh Rn 45d. 15 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl 2004, Nr C 310/445 f, 459. 16 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl 2004, Nr C 310/459. 17 Vgl für die Grundrechte des Grundgesetzes nur Pieroth/Schlink Grundrechte Staatsrecht II, 24. Aufl 2008, Rn 84 ff. 18 Vgl allgem Jarass GR, § 7, Rn 28; speziell für Art 34 GRCh Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/ EGV, Art 34 GRCh, Rn 4, 6, 15. 19 Vgl etwa Becker in: Schwarze, EU, Art 52 GRCh Rn 20; Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 52 GRCh, Rn 43.
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durch die Charta Gemeinwohlgüter zu individuellen Rechten (zB Art 37, 38 GRCh) bzw einfache subjektiv-öffentliche Rechte im nationalen Recht zu europäischen Verfassungsrechten (zB Art 34 I und III, 36 GRCh) befördert. Mit der von Art 51 I 1 GRCh abw Nichterwähnung der Mitgliedstaaten wird also deren Zuständigkeit geachtet, selbst über den normhierarchischen Status und die Reichweite subjektiv-öffentlicher Rechte zu bestimmen. Das hat auch Auswirkungen auf die Union: Sie hat die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten Rechte bei allen ihren Maßnahmen zu achten und den ebenfalls vor allem durch die Mitgliedstaaten gewährleisteten Schutz von Gemeinschaftsgütern zu respektieren. Sie wird aber, ebenfalls aus Rücksicht auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Art 51 II), nicht zur Adressatin von Rechten. Die in Art 51 I 2 GRCh angeordnete Bindung der Mitgliedstaaten auch an die Grundsätze der Charta läuft dadurch nicht leer: Denn sie bezieht sich auf die Grundrechte, soweit sie zugleich Grundsätze sind (vgl Rn 6), aber eben nicht auf diejenigen Bestimmungen, die nur Grundsätze enthalten. Ebenso wie die anderen Kapitel der Charta enthält damit auch der Abschnitt „Solidarität“ überwiegend Grundrechte. Keine Grundrechte, sondern nur Grundsätze sind danach allein Art 35 S 2, 36, 37 und 38 GRCh. Jeweils verpflichten sie nur die Union, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, die dort genannten Ziele zu achten, Art 52 V 1 GRCh. Darüber hinaus sind sie bei der Auslegung von Rechtsakten der Union und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit heranzuziehen, Art 52 V 2 GRCh.
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2. Grundrechtsfunktionen Fall 1: (nach EuGH, Slg 2007, I-10779 – Viking Line): Viking Line, ein finnisches Fährunternehmen, betreibt unter anderem das Fährschiff M/S Rosella, das unter finnischer Flagge auf der Route zwischen Helsinki und der estnischen Hauptstadt Tallinn verkehrt. Im Jahre 2003 wollte sie die mit Verlusten arbeitende Rosella umflaggen und aus Kostengründen unter estnischer Fahne verkehren lassen. Die für die Besatzung zuständige finnische Gewerkschaft erhob gegen dieses Vorhaben, insb wegen der drohenden Lohnkürzungen und Entlassungen, Einwände und schaltete den europäischen Verband der Transportarbeitergewerkschaften (ITF) ein. Dieser übersandte den Mitgliedsgewerkschaften ein Schreiben mit dem Inhalt, dass keine der ITF angeschlossenen Gewerkschaften mit Viking Line Tarifverhandlungen führen durfte. Zuwiderhandlungen hätten Sanktionen durch die ITF nach sich ziehen können, im schlimmsten Fall hätte der Ausschluss aus dem Gewerkschaftsverband gedroht. Viking Line hatte damit praktisch keine Möglichkeit, mit einer estnischen Gewerkschaft Vertragsverhandlungen über die Konditionen der Beschäftigung der Besatzung nach einer Umflaggung zu führen. Sie sieht darin eine Beeinträchtigung ihrer Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und erhebt Klage mit dem Ziel, die ITF zu verpflichten, das Rundschreiben zurückzuziehen.
Soweit das IV. Kapitel der Grundrechtecharta Grundrechte enthält, kann man in einem sehr allg Sinne von sozialen Rechten sprechen;20 das knüpft an frühere europäische Proklamationen der Grundrechte an.21 Soziale Grundrechte bedeuten für viele Mitgliedstaaten, neben Großbritannien und den skandinavischen Ländern etwa auch für Deutschland, verfassungsrechtliches Neuland. Grundrechte sind gemäß dem traditionellen, in den Men-
20 Pernice/Mayer in: Grabitz/Hilf EU, nach Art 6 EUV Rn 193 ff; Riedel in: Meyer, ChGR, Vorbem vor Art 27 ff Rn 31 ff. 21 Vgl etwa Zuleeg EuGRZ 1992, 329 ff.
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schenrechteerklärungen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommenden Verständnis zuvörderst bürgerliche Rechte, die die Freiheit des Einzelnen vor staatlichem Zugriff schützen; hinzu treten politische Teilhaberechte, allen voran das Wahlrecht. Soziale Grundrechte hingegen thematisieren die Frage der faktischen Freiheit, dh der tatsächlichen Voraussetzungen, die der Staat zu schaffen hat, damit grundrechtliche Freiheit überhaupt ausgeübt werden kann; insoweit sind sie der Fortentwicklung des liberalen zum sozialen Rechtsstaat geschuldet. Das verändert den Blick auf den Staat, der nicht als Widersacher, sondern als Garant von Freiheit auftritt. Mit sozialen Grundrechten verbindet sich freilich auch die Befürchtung, dass die normative Kraft der Grundrechte durch unrealistische Versprechen in Gestalt von Ansprüchen etwa auf Arbeit und Wohnung gefährdet wird, da diese nur unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ 22 gewährt werden können. Es wird die Gefahr beschworen, dass soziale Grundrechte das Verfassungsrecht zum alleinverbindlichen Maßstab für das sozial Gerechte befördern und dadurch den Diskurs über den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft vom Parlament in die Gerichte verlagern.23 Die berechtigten Bedenken gegen so verstandene soziale Grundrechte treffen die Art 27 ff GRCh allerdings nicht. Das zeigt eine Abschichtung nach Grundrechtsfunktionen, also danach, wie sich Grundrechte auf die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staat auswirken können. Dabei ist die Erkenntnis entscheidend, dass soziale Grundrechte in ihrer begrifflichen Unschärfe nicht eine bestimmte Grundrechtsfunktion (nämlich die der Leistungsrechte) besetzen, sondern letztlich als Sammelbegriff für alle Grundrechte mit sozialpolitischen Implikationen fungieren; die rechtsdogmatische Aussagekraft einer Einordnung als „soziales Grundrecht“ ist dementspr gering. Lässt man daher die Grundrechte des IV. Kapitels durch einen nach Grundrechtsfunktionen differenzierenden Verteiler laufen, so zeigt sich, dass die formulierte Kritik nicht die sozialen Grundrechte selbst, sondern lediglich eine einzelne Grundrechtsfunktion, nämlich das originäre Leistungsrecht, trifft: 24 Teilweise schreiben die Art 27 ff GRCh einen sozialen Mindeststandard fest, den sie auch gegen staatliche Eingriffe in Stellung bringen. Solche klassischen Abwehr- und Schutzgewährrechte gewährleisten Art 28 GRCh mit der Koalitionsfreiheit, Art 27 GRCh mit der Arbeitnehmermitbestimmung, Art 30 GRCh mit dem Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Art 31 GRCh mit der Gewährleistung gerechter und angemessener Arbeitsbedingungen und Art 32 GRCh mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. Jeweils wird hier der in allen Mitgliedstaaten gewährleistete sozialstaatliche Mindeststandard gegen hoheitlichen Zugriff in Schutz genommen bzw aktiver hoheitlicher Schutz zur Sicherung dieses Mindeststandards eingefordert. Dieser soziale Mindeststandard bildet, nicht anders als bei den Freiheitsrechten, den Schutzbereich des Grundrechts, in den der Staat eingreift, wenn er ihn verkürzt oder keine ausreichenden Schutzmaßnahmen zu seiner Sicherung ergreift. Insoweit handelt es sich also um soziale Abwehr- und Schutzgewährrechte, die der üblichen Prüfungstrias „Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung“ folgen.
22 Formulierung von BVerfGE 33, 203 (333). 23 Vgl etwa Murswiek in: Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts Bd V, 1992, § 112 Rn 49 ff mwN auf die Diskussion in Deutschland. 24 Zur „Notwendigkeit klarer Begriffe“ in diesem Kontext auch Haverkate/Huster Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn 645 ff.
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Lösung Fall 1: Die ITF könnte mit ihrer Anordnung, keine Tarifverhandlungen mit Viking Line zu führen, gegen die Niederlassungsfreiheit (Art 43 EGV/49 AEUV) verstoßen. (1) Voraussetzung ist zunächst, dass Art 43 EGV (49 AEUV) anwendbar ist. Das ist deshalb zweifelhaft, weil der EuGH Tarifverträge unter Berufung auf die sozialpolitischen Bestimmungen des EG-Vertrages vom Anwendungsbereich des Kartellrechts ausgenommen hat (EuGH, Slg 1999, I-5751, Rn 60 – Albany). Der EuGH prüft, ob sich dieser Anwendungsausschluss auch auf die Grundfreiheiten erstreckt und zieht insoweit auch die Koalitionsfreiheit (Art 28 GRCh) heran. Diese schützt insb die Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts. Doch kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden: „Denn wie in Art 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erneut bekräftigt wird, werden die genannten Rechte nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geschützt. Außerdem kann das Streikrecht […] nach finnischem Recht u a dann nicht ausgeübt werden, wenn der Streik gegen die guten Sitten, das innerstaatliche Recht oder das Gemeinschaftsrecht verstoßen würde“ (EuGH aaO, Rn 44). Der Gerichtshof verweist zudem auf seine stRspr, die die Ausübung der Grundrechte an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bindet, wenn sie zu Grundfreiheitseingriffen führt (EuGH aaO, Rn 46). Im Ergebnis dispensiert daher die Koalitionsfreiheit nicht vom Anwendungsbereich einer Grundfreiheit, sie kann jedoch im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung (dazu gleich (3)) ein Gegengewicht zu dieser bilden. (2) Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit vorliegen. Das Rundschreiben kann Viking Line davon abhalten, von seiner Niederlassungsfreiheit in Estland Gebrauch zu machen. Art 43 EGV (49 AEUV) ist daher betroffen. Fraglich ist, ob in den Schutzbereich eingegriffen wurde. Das ist deshalb problematisch, weil die Beeinträchtigung hier nicht vom Mitgliedstaat, sondern von einem privatrechtlich organisierten Gewerkschaftsverband ausgeht (dazu auch Pießkalla NZA 2007, 1144/1145 ff). Doch gilt Art 43 EGV (49 AEUV) nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf Regelwerke anderer Art, die die abhängige Erwerbstätigkeit, die selbständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen (EuGH aaO Rn 33). Der EuGH begründet das mit dem Umstand, dass die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen und teilweise durch Tarifverträge und sonstige Maßnahmen, die von Privatpersonen geschlossen bzw vorgenommen werden, geregelt werden. Es bestehe daher die Gefahr, dass eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit auf Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu Ungleichheiten führen würde (EuGH aaO, Rn 34). Damit liegt ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit vor. (3) Der Eingriff könnte aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. ITF könnte sich auch insoweit darauf berufen, das Rundschreiben in Ausübung ihrer auch in Art 28 GRCh garantierten Koalitionsfreiheit verfasst zu haben, die dann mit der Niederlassungsfreiheit von Viking Line abgewogen werden müsste. Der EuGH erwähnt das Grundrecht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung aber überraschenderweise nicht mehr, sondern fragt, ob der Eingriff zum Schutz von anerkannten Allgemeininteressen, zu denen auch der Schutz der Arbeitnehmer gehöre, gerechtfertigt werden kann. Die Beeinträchtigung muss daher insb verhältnismäßig sein. Die Feststellung, ob das Rundschreiben tatsächlich dem Schutz der Arbeitnehmer gedient habe, sei Sache des nationalen Gerichts. Dieses habe insb zu prüfen, ob die Arbeitsplätze durch das Umflaggen ernsthaft gefährdet sind und ob die von der Gewerkschaft betriebene kollektive Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (EuGH aaO, Rn 83 f).
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Einige Grundrechte des IV. Kapitels enthalten gleichheitsrechtlich strukturierte Teilhaberechte. Teilhaberechte gewährleisten gleichberechtigten Zugang zu bereits bestehenden sozialen Systemen, etwa zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art 29 GRCh), zu den Systemen der sozialen Sicherheit (Art 34 II GRCh) und zur Gesundheitsvorsorge und ärztlichen Versorgung (Art 35 S 1 GRCh). In jeder Verweigerung des Zugangs liegt dann eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung, die gemäß des für Gleichheitsrechte empfohlenen Prüfungsaufbaus (→ § 18 Rn 7 ff) geprüft werden kann. Von den derivativen Teilhaberechten zu unterscheiden sind originäre Leistungsrechte, die Ansprüche auf Schaffung noch nicht existierender Einrichtungen und Vorkehrungen oder die Leistung bestimmter Lebensgüter enthalten.25 Sie allein sind es, die sich den geschilderten Bedenken aussetzen. Die Kritik an der Figur der sozialen Grundrechte beruht also letztlich auf dem Widerstand gegen originäre Leistungsrechte. Nicht jedes soziale Recht ist aber ein solches Leistungsrecht; im Gegenteil findet sich im IV. Kapitel überhaupt kein solches Recht: Die Art 29 und 30 GRCh etwa gewähren kein Recht auf Arbeit, sondern nur ein Recht zu arbeiten, ein Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsmonopol und Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung. Als soziales Leistungsrecht kann man allenfalls den außerhalb des IV. Kapitels enthaltenen Anspruch auf Prozesskostenhilfe nach Art 47 III GRCh ansehen. Doch wird damit ein Recht gewährt, das zur Wahrnehmung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz unabdingbar ist 26 und im Übrigen im Gemeinschaftsrecht (Art 76 EuGH-VerfO bzw Art 94 EuG-VerfO) sowie in der Rspr des EGMR27 seit langem anerkannt ist.
III. Die Achtung und grenzüberschreitende Erweiterung sozialer Rechte durch das Gemeinschaftsrecht 16
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Die Gewährung sozialer Rechte setzt die Kompetenz zur Rechtsetzung voraus, die im Sozialrecht nach wie vor überwiegend bei den Mitgliedstaaten liegt (vgl Art 137 EGV/153 AEUV). Diese Kompetenzabhängigkeit sozialer Rechte ist auch der Grund dafür, dass die Grundrechte des IV. Kapitels weitgehend auf die „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ (Art 27, 28, 30, 34, 36 GRCh) verweisen. Die Grundrechte der Charta binden nämlich primär die Union, die Mitgliedstaaten hingegen nur bei der Durchführung des Unionsrechts, dh sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Union tätig werden darf. Das Unionsrecht gewährt daher regelmäßig keine sozialen Rechte. Es ist aber verpflichtet sie zu achten (Rn 17 f) und erfüllt außerdem die Funktion, die in den Mitgliedstaaten gewährleisteteten Rechte auf grenzüberschreitende Sachverhalte auszudehnen (Rn 19 f). Die Achtungsverpflichtung wird dadurch erfüllt, dass die Union im Rahmen ihrer Politiken „ein hohes Maß an sozialem Schutz“ (Art 2 EGV) gewährleistet. Konkret äußert sich das darin, dass die Binnenmarktvorschriften so ausgelegt werden müssen, dass der in den Mitgliedstaaten gewährleistete soziale Schutz nicht beeinträchtigt wird. Beispiel: Der EuGH hatte in mehreren Fällen zu entscheiden, ob Sozialversicherungsmonopole und der mit ihnen einhergehende Versicherungszwang mit Art 81, 82 und 86 EGV 25 Vgl zur Unterscheidung zwischen Teilhabe- und Leistungsrecht Pieroth/Schlink (Fn 17) Rn 60 ff. 26 Vergleichbarer Fall im Grundgesetz: Art 7 IV GG, denn die Privatschulfreiheit ist ohne einen Anspruch auf finanzielle Förderung eine leere Hülse. 27 EGMR, Urteil v 9.10.1979, Nr 6289/73, Series A Nr 32 Rn 24 – Airey/Irland.
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(101, 102, 106 AEUV) vereinbar ist. Fraglich war dabei insb, ob diese als Unternehmen im kartellrechtlichen Sinne anzusehen waren. Der EuGH hat dies bei denjenigen Systemen verneint, die auf dem Solidarprinzip beruhten, dh insb auf einem Ausgleich zwischen Besser- und Schlechterverdienenden sowie zwischen Gesunden und Kranken. Er hat damit zugleich die Entscheidung des betroffenen Mitgliedstaates, ein solidarisches Versicherungssystem mit Versicherungspflicht zu etablieren, hingenommen, ohne es auf seine Rechtfertigung hin zu überprüfen.28
Das Gemeinschaftsrecht achtet die in den Mitgliedstaaten gewährleisteten sozialen Rechte aber nicht nur, sondern dehnt sie auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte aus. So zielt die Wanderarbeitnehmerverordnung VO/EWG 1408/7129 (→ § 9 Rn 26) darauf ab, diejenigen Hindernisse im mitgliedstaatlichen Sozialrecht zu beseitigen, die geeignet sind, den Einzelnen von der Wahrnehmung seiner grenzüberschreitenden Freizügigkeit abzuhalten. Das geschieht nicht durch Harmonisierung, sondern durch Koordinierung der nationalen Sozialrechtsordnungen. Die Verordnung stellt zu diesem Zweck, insoweit vergleichbar mit dem Internationalen Privatrecht, Kollisionsregeln auf, die bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zur Vermeidung von Doppelbelastungen und -begünstigungen über das anwendbare Recht entscheiden; in der Regel ist dies das für den Beschäftigungsort geltende Recht, Art 13 II a) VO/EWG 1408/71. Sie enthält ferner wichtige Sachregeln, die verhindern, dass Grenzübertritt und Staatsangehörigkeit zu sozialrechtlichen Brüchen und Benachteiligungen führen: Ein Verbot der sozialrechtlichen Diskriminierung von EGAusländern, den Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung, der fingiert, dass bestimmte sozialrechtlich relevante Ereignisse, die in einem Mitgliedstaat eingetreten sind, so behandelt werden, als seien sie im Gebiet des zuständigen Staates verwirklicht worden, ferner das Gebot der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und schließlich den Grundsatz des Leistungsexports.30 Berechtigt sind dabei nicht nur die Erwerbstätigen selbst, sondern auch ihre Familienangehörigen. Die Wanderarbeitnehmerverordnung sichert die durch die Personenverkehrsfreiheiten (Art 39, 43 EGV/45, 49 AEUV) gewährleistete grenzüberschreitende Erwerbstätigkeit sozialrechtlich ab. Der EuGH hat darüber hinaus aus den Produktverkehrsfreiheiten (Art 28, 49 EGV/34, 56 AEUV) Ansprüche auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen abgeleitet, die alle Unionsbürger, dh auch die Nichterwerbstätigen, geltend machen können.31 Aus den Art 12, 17 und 18 EGV folgert der Gerichtshof ferner, dass Unionsbürger, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, grds auch sozialrechtlich gleichbehandelt werden müssen (→ § 19 Rn 86 ff). Art 24 II RL 2004/38/EG konkretisiert das nunmehr dahingehend, dass ein Anspruch auf sozialhilferechtliche Gleichbehandlung nach drei Monaten, auf Gleichbehandlung bei Studienbeihilfen hingegen erst nach fünf Jahren rechtmäßigem Aufenthalt (= Daueraufenthalt) besteht. 28 EuGH, Slg 1993, 637, Rn 9 ff – Poucet und Pistre. 29 Diese wird ersetzt werden durch die Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl Nr L 166/1 v 30.4.2004, sobald die nach Art 91 VO/EG 883/2004 erforderlichen Durchführungsbestimmungen erlassen werden. 30 Brechmann in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 42 EGV, Rn 15 ff. 31 EuGH, Slg 1998, I-1831 – Decker; Slg 1998, I-1931 – Kohll; Slg 2001, I-5473 – Smits und Peerboms; Slg 2003, I-4509 – Müller-Fauré/van Riet; Slg 2004, I-2641 – Leichtle; Slg 2006, I-4325 – Watts; Slg 2007, I-3185 – Stamatelaki.
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5. Teil: Die europäischen Bürgerrechte § 19 Unionsbürgerrechte Stefan Kadelbach Leitentscheidungen: EuGH, Slg 1992, I-4239 ff – Micheletti; Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala; Slg 1998, I-7637 ff – Bickel und Franz; Slg 2001, I-6193 ff – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1; Slg 2002, I-6191 ff – D’Hoop; Slg 2002, I-7091 ff – Baumbast; Slg 2003, I-11613 – Garcia Avello; Slg 2004, I-2703 – Collins; Slg 2004, I-5257 – Orfanopoulos und Olivieri; Slg 2004, I-7573 – Trojani; Slg 2005, I-2119 – Bidar; Slg 2006, I-7917 – Spanien/Großbritannien; Slg 2007, I-2161 – Morgan und Bucher. Schrifttum: Weiler To be a European Citizen in: ders (Hrsg) The Constitution of Europe, 1999, S 324–357; Magnette La Citoyenneté Européenne, 1999; v Bogdandy/Bitter Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot, FS Manfred Zuleeg, 2004, S 309–322; Schönberger Unionsbürger, 2005; Besson/Utzinger Introduction: Future Challenges of European Citizenship, 13 ELJ (2007), 573–590; Kingreen Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR Beih 1/2007, S 43–74; Shaw The Transformation of Citizenship in the European Union, 2007; Spaventa Free Movement of Persons in the European Union, 2007, S 113–156.
I. Einleitung 1
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In der Unionsbürgerschaft, die im zweiten Teil des EG-Vertrages (Art 17–22 EGV/9 EUV-E, 20–25 AEUV) an hervorgehobener Stelle geregelt ist, kommen zwei Entwicklungen zum Ausdruck: Zum einen hat die europäische Integration, die in ausgewählten Sektoren der Wirtschaft ihren Anfang nahm und bald in einen umfassenden Prozess wirtschaftlicher Integration einmündete, inzwischen ihre rein ökonomische Zielrichtung hinter sich gelassen. Zum anderen war schon die EWG eine Gemeinschaft nicht nur der Staaten, sondern auch ihrer Bürger.1 Eine Erweiterung der Grundfreiheiten um Grundrechte war erforderlich geworden, da die Gemeinschaft auch Befugnisse zu Maßnahmen besitzt, die zu Eingriffen berechtigen, wie dies insbesondere im Agrar-, Zoll- und Wettbewerbsrecht der Fall ist (→ § 14 Rn 4).2 Die Ausübung von Hoheitsgewalt in der Union bedarf indes nicht nur der Gegensicherung durch Grundrechte, sondern auch der Legitimation durch die Unionsbürger. Sollen Interventionen in den Wirtschaftsverkehr im öffentlichen Interesse und die Zuteilung von Gemeinschaftsbeihilfen aller Art nicht eine Angelegenheit der Regierungen bleiben, muss es neben der jeweiligen staatlichen auch eine europäische Aktivbürgerschaft mit eigener Identität geben. Darauf wies schon die Präambel des EWG-Vertrages von 1958 hin, die „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ als Ziel benennt. Dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, deutet Art 1 II EUV (1 EUV-E) an, dem zufolge in der „immer engeren Union der Völker Europas“ Entscheidungen „möglichst bürgernah getroffen werden“ sollen. In einem demokratischen Gemeinwesen sollten die Bürger selbst, vermittelt durch Institutionen und Verfahren, hinter den Entscheidungen 1 Vgl EuGH, Slg 1963, 3, 25 – van Gend & Loos; Slg 1991, I-6079, Rn 21 – EWR. 2 Vgl Oppermann FS Doehring, 1989, S 713, 722.
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stehen. In der Union werden die wesentlichen Entscheidungen indes von Regierungsvertretern gefällt, die ihre demokratische Legitimation durch die jeweiligen staatlichen Parlamente erhalten. Die Befugnisse des Europäischen Parlaments sind denen einer nationalen Volksvertretung nicht vergleichbar. Dieser Zustand mag verfassungsrechtlich zureichend sein,3 aus staatsbürgerlicher Sicht ist er unbefriedigend. Die Unionsbürgerschaft soll daher die Kluft, die durch diese Form der Legitimation entsteht, ein Stück weit überbrücken und eine zusätzliche, der Staatsbürgerschaft komplementäre Identität und Loyalität schaffen.4 Art 2, 3. Spstr EUV erklärt daher die „Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen der Mitgliedstaaten durch Einführung einer Unionsbürgerschaft“ zu einem Ziel der Union. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, aus dem der Reformvertrag von Lissabon hervorgegangen ist, war ausweislich seiner Präambel „im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas“ erarbeitet worden. Im Folgenden soll zunächst der Weg nachgezeichnet werden, der die EG zur Unionsbürgerschaft geführt hat (II.). Anschließend ist auf das Verhältnis zu ihrer Voraussetzung, der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates (Art 17 I 2 EGV/20 I 2 AEUV), und zum Status des Staatsbürgers einzugehen (III.). Die einzelnen Unionsbürgerrechte (IV.) können dann in ihrer Bedeutung besser eingeschätzt werden (V.).
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II. Die Unionsbürgerschaft als Angelegenheit der Europäischen Gemeinschaft 1. Vom Marktbürger zum Unionsbürger Die Unionsbürgerschaft ist das Ergebnis politischer Initiativen, rechtsetzender Tätigkeit und richterlicher Rechtsfortbildung, die von einer auf wirtschaftliche Freiheiten begrenzten Marktgesellschaft ihren Ausgang genommen hat. Soweit der EG-Vertrag in seiner ursprünglichen Form bestimmten Personenkreisen Rechte zugestand, waren die Begünstigten aktive Teilnehmer am Wirtschaftsleben.5 Die verliehenen Rechtspositionen sind an Arbeit, Güter und Kapital gebunden. Einzelne waren als „Marktbürger“6 Inhaber von Rechten, die sich gegen die Mitgliedstaaten richteten. Umfassendere bürgerliche Rechte im traditionellen Sinne begannen sich gegen Ende der 60er Jahre zu entwickeln, als mit Entstehen gemeinschaftsrechtlicher Eingriffsbefugnisse Freiheitsrechte gegen die Gemeinschaft selbst geschaffen wurden.7 Etwa zeitgleich besetzte die Rechtsetzung der Gemeinschaft das Feld sozialer Rechte. Vor allem infolge der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entstand auf sekundärrechtlicher Grundlage bald ein umfassendes System von Berechtigungen, das Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in der Arbeitswelt des Aufnahmelandes eine den Inländern angeglichene Rechtsstellung ver-
3 BVerfGE 89, 155, 184 ff – Maastricht = JK 5/94, GG Art 23/1. 4 Vgl Oppermann ER, § 4 Rn 53; Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 17 EGV Rn 1. 5 Allerdings hat die Kommission schon 1962 die Ansicht vertreten, dass die Einzelnen nicht als „Produktionsfaktoren“, sondern als Inhaber von Freiheitsrechten zu betrachten seien, s ABl 1962, 2118. 6 Ipsen/Nicolaysen NJW 1964, 339, 340, Fn 2; H P Ipsen EuGR, 187, 250 ff, 742 f; krit zum Wert der Rechte des „Wirtschaftsbürgers“ aus ökonomischer Sicht Nienhaus in: Hrbek (Hrsg), Bürger und Europa, 1994, 29 ff. 7 Den Anf machte der EuGH mit Slg 1969, 419 ff – Stauder und Slg 1970, 1125 ff – Internationale Handelsgesellschaft; zum Grundrechtsschutz durch den EuGH Pernice NJW 1990, 2409 ff; zum Verh zw Grundrechten und Unionsbürgerschaft O’Leary 32 CMLRev (1995), 519 ff.
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schaffen sollte (→ vgl § 9 Rn 19 ff).8 Für diesen Prozess ist das europäische koordinierende Sozialrecht kennzeichnend, das Arbeitnehmern aus EG-Mitgliedstaaten und ihren Angehörigen gleichen Zugang zu sozialversicherungsrechtlichen Leistungen gewährt. Auch das europäische Arbeitsrecht wird zu den sozialen Rechten gezählt, ebenso die in mehr oder weniger großer Abhängigkeit von der Freiheit des Warenverkehrs erlassenen Normen des Gesundheits- und Umweltschutzes sowie Verbraucherrechte.9 Freizügigkeit, Aufenthalt und soziale Rechte verloren mit der Zeit die enge Bindung an den Austausch von Gütern und Leistungen. Die ursprünglich zur Förderung der Mobilität geschaffenen Pflichten, Wanderarbeitnehmer in die sozialen Leistungssysteme des Aufenthaltsstaates einzubeziehen, lösten sich vom Erfordernis eines Arbeitsvertrages.10 Eine weitere Dimension nicht durch das Ziel des Gemeinsamen Marktes motivierter Rechte eröffnet die Aussicht auf politische Teilhabe, die schon Art 138 III EWGV (jetzt Art 190 IV EGV/223 I AEUV) versprach, indem er den Auftrag erteilte, allgemeine unmittelbare Wahlen zum EP abzuhalten. Nach alldem war die Forderung konsequent, diese Ansätze freiheitlicher, sozialer und politischer Rechte der Bürger Europas zu einem eigenständigen Status zusammenzufassen.11 Seit dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Den Haag 1969 wurden Initiativen mit dem Ziel eines identitätsstiftenden „Europa der Bürger“ gestartet. Auf dieser Linie liegen Vorschläge der Kommission über die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts auf kommunaler Ebene,12 ein 1975 vorgelegter Bericht des belgischen Premierministers Leo Tindemans mit Vorschlägen über neue individuelle Rechte,13 die vom Europäischen Parlament erarbeitete „Charta der Bürgerrechte“,14 die Einführung des Direktwahlaktes zum Europäischen Parlament15 und die Schaffung einer Passunion mit einheitlichem Reisepass.16 Neue Impulse gingen von dem unter der Leitung von Altiero Spinelli erarbeiteten Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union aus, der 1984 erstmals den Begriff der Unionsbürgerschaft in die Gemeinschaft einführte.17 Der Europäische Rat von Fon-
8 Evans 45 MLR (1982), 496 ff; Everling EuR Beih 1/1990, 81 ff; O’Leary The Evolving Concept of Community Citizenship, 1996, 65 ff; Laubach Bürgerrechte für Ausländer und Ausländerinnen in der Europäischen Union, 1998, 21 ff; Becker EuR 1999, 522 ff. 9 Reich Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999, 207 ff, 262 ff, 391 ff; s Art 35 bis 38 GRCh; generell zum System subj Rechte im Recht der Europäischen Union Nettesheim AöR 132 (2007), 333 ff. 10 Evans 32 AJCL (1984), 679, 689 ff. 11 Grabitz Europäisches Bürgerrecht, 1970; dazu Tomuschat ZaöRV 33 (1973), 379 ff; Randelzhofer GS Grabitz, 1995, S 580 ff; s auch Magiera DÖV 1987, 221 ff; ders ZRP 1987, 331 ff; Marias in: ders (Hrsg), European Citizenship, 1994, 1, 3 ff. 12 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europa für die Bürger, Bull EG 7/75, S 5, 23 ff. 13 Bull EG Beil 1/76, S 29 ff. 14 ABl 1975 Nr C 179/30; vgl Zuleeg FS Schlochauer, 1981, S 983 ff. 15 ABl 1976 Nr L 278/1; die erste Direktwahl wurde auf dieser Grundl 1979 durchgeführt. 16 ABl 1981 Nr C 241/1 mit späteren Ergänzungen, zul ABl 1995 Nr C 200/1. 17 ABl 1984 Nr C 77/33, Art 3: „Die Bürger der Mitgliedstaaten sind als solche Bürger der Union. Die Unionsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gebunden; sie kann nicht selbständig erworben oder verloren werden. Die Unionsbürger nehmen am politischen Leben der Union in den durch diesen Vertrag vorgesehenen Formen teil, genießen die ihnen durch die Rechtsordnung der Union zuerkannten Rechte und unterliegen den Normen dieser Rechtsordnung.“
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tainebleau beschloss daraufhin Maßnahmen der Gemeinschaft vorzubereiten, „durch die ihre Identität gegenüber den europäischen Bürgern und der Welt gestärkt und gefördert wird“.18 Eine nach seinem Vorsitzenden Pietro Adonnino benannte Arbeitsgruppe bezog daraufhin 1985 in ihre Berichte die meisten der Rechte ein, die später als Unionsbürgerrechte in den EG-Vertrag aufgenommen wurden.19 Bald etablierte sich die europäische Bürgerschaft auch über den Bereich politischer Empfehlungen hinaus als eine rechtliche Institution, die das Marktbürgertum ablöste. „Bildungsbürger“ kamen nach der Rechtsprechung des EuGH als Touristen in den Genuss der sog passiven Dienstleistungsfreiheit, und als Studierenden stand ihnen allein aufgrund des allgemeinen Diskriminierungsverbotes (heute Art 12 EGV/18 AEUV) das Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen und auf Ausbildungsförderung zu.20 Der Erasmus-Beschluss des Rates über den Studentenaustausch von 1987 erwähnt als erster Rechtsetzungsakt das „Europa der Bürger“.21 Wenig später unterbreitete die Kommission erste Rechtsetzungsvorschläge zum Kommunalwahlrecht.22 Der Rat erließ drei Richtlinien über das Aufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Personen außerhalb ihres Heimatstaates.23
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2. Die Regelungen des EG-Vertrages zur Unionsbürgerschaft Durch den Vertrag von Maastricht wurde schließlich 1992 die Unionsbürgerschaft auf primärrechtlicher Ebene eingeführt, nicht zufällig zugleich mit der Umbenennung der EWG in die Europäische Gemeinschaft und der Neugründung der Europäischen Union.24 Der Vertrag von Amsterdam25 fügte diesen Vorschriften (nunmehr Art 17 bis 22 EGV/ 20–25, 227, 228 AEUV) das Recht auf Auskunft in der eigenen Sprache (Art 21 III EGV/24 IV AEUV) hinzu. In der Grundrechte-Charta der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000, die der Reformvertrag von Lissabon in das Primärrecht der Union inkorporiert (Art 6 I EUV-E), ist die Unionsbürgerschaft erneut erweitert worden (→ vgl § 20 Rn 11).26 18 Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes, Bull EG Beil 7/85, S 5 (Ziff 6). 19 Europa der Bürger, Bericht des Ad-hoc-Ausschusses, Bull EG Beil 7/85, S 9 ff, 19 ff. 20 Zum Tourismus EuGH, Slg 1985, 377, Rn 16 – Luisi und Carbone; Slg 1989, 195, Rn 17 – Cowan; zum Studium Slg 1985, 593, Rn 19ff – Gravier; zum „Bildungsbürger“ Oppermann in: Nicolaysen/Quaritsch (Hrsg), Lüneburger Symposion für Ipsen, 1988, 87, 91. 21 ABl 1987 Nr L 166/20; vgl auch EuGH, Slg 1989, 1425, Rn 29 – Kommission/Rat = JK 8/90, VEWG Art 128/1; umfassend Düsterhaus Integration 2006, 122 ff. 22 Das Wahlrecht der Bürger in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen, Bull EG Beil 7/86; der Richtlinienvorschlag (ABl 1988 Nr C 246/3) wurde wg der bevorst Einf der Unionsbürgerschaft zurückgestellt; dazu Magiera EA 1988, 475 ff. 23 RL 90/364 – Aufenthaltsrecht von Nichterwerbstätigen; RL 90/365 – Aufenthaltsrecht von Rentnern; RL 90/365 – Aufenthaltsrecht von Studenten wurde vom EuGH wg falscher Wahl der Kompetenzgrdl für nichtig erklärt (Slg 1992, I-4193 ff – Parlament/Rat) und neu erlassen als RL 93/96; die Rechtsakte über den Aufenthalt sind inzw zu einer Richtlinie zusammengefasst worden, s RL 04/38 – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. 24 BGBl II 1992, 1245, 1253; am Anf stand eine Initiative Spaniens, s Ratsdok SN 3940/90 v 24.9. 1990, dazu Solbes Mira RMC 1991, 168 ff; Dokumente zur Vorgeschichte bei Laursen/Vanhoonacker (Hrsg) The Intergovernmental Conference on Political Union, 1992; s auch Closa 29 CMLRev (1992), 1137, 1153 ff. 25 BGBl II 1998, 385, 387. 26 Art 39 bis 46 GRCh.
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Auf den ersten Blick wirken die Bestimmungen des EG-Vertrages über die Unionsbürgerschaft wie ein nicht fertig gestelltes Mosaik. Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) macht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates zur einzigen Voraussetzung. Die im Folgenden aufgeführten Einzelrechte scheinen miteinander nicht viel zu tun zu haben und wenig Neues zu gewähren: Freizügigkeit (Art 18 EGV/21 AEUV), Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungen und zum Europäischen Parlament am Ort des Wohnsitzes (Art 19 EGV/22 AEUV), diplomatischer und konsularischer Schutz (Art 20 EGV/23 AEUV) sowie das Petitions- und Auskunftsrecht (Art 21 EGV/24, 227, 228 AEUV). Der Vertrag von Amsterdam fügte außerhalb des Kataloges noch das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 255 EGV/15 III AEUV), die Grundrechte-Charta das von der EuGH-Rechtsprechung entwickelte „Recht auf eine gute Verwaltung“ hinzu (Art 41 GRCh). Das volle Bild wird allerdings erst mit Blick auf den Zusammenhang sichtbar, in dem die Artikel des EG-Vertrages über die Unionsbürgerschaft stehen. Nach Art 17 II EGV (20 II AEUV) haben die Unionsbürger „die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten“. Die europäischen Bürgerrechte werden also durch die Art 18 bis 21 EGV (21–24 AEUV) nicht abschließend beschrieben, sondern ergeben sich aus allen zwischen der Gemeinschaft und den Einzelnen auf der Grundlage des Vertrages entstandenen Rechtsbeziehungen.27 Der Europäische Rat hatte bereits 1990 in Rom betont, dass die europäische Bürgerschaft soziale und wirtschaftliche ebenso wie staatsbürgerliche Rechte umfassen müsse.28 Daher gehören nicht nur die Grundfreiheiten, sondern auch die Grundrechte und das allgemeine Diskriminierungsverbot dazu, unabhängig davon, ob sie durch die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten vermittelt werden oder nicht.29 Aber auch die sekundärrechtlich vermittelten Rechte und das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gestalten den Unionsbürgerstatus weiter aus.30 Er setzt sich also aus sehr vielen vertraglich oder sekundärrechtlich garantierten und durch die Rechtsprechung entwickelten Rechten zusammen. Die besondere Bedeutung der Art 17 ff EGV (20 ff AEUV) liegt darin, dass in ihnen mit dem Aufenthaltsrecht (Art 18 EGV/21 AEUV), dem Wahlrecht (Art 19 EGV/22 AEUV) sowie dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 20 EGV/23 AEUV) die Rechte nichtwirtschaftlicher Art aufgeführt sind, die auf staatlicher Ebene im Allgemeinen nur Staatsbürgern zustehen. Die Bestimmungen zur Unionsbürgerschaft, die sich im zweiten Teil des EG-Vertrages finden, geben also lediglich den Rahmen eines umfassend angelegten Systems von Rechten vor. Dass dies im EG-Vertrag und nicht, wie bei den Grundrechten, im Unionsvertrag (Art 6 EUV/6 EUV-E) geschehen ist, hatte den Sinn die mit ihr verbundenen Rechte der Zuständigkeit des EuGH zu unterwerfen, die sich zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Maastrichter Vertrages noch nicht auf die Materien der zweiten und dritten Säule erstreckte (anders heute Art 46 EUV). Die Unionsbürgerschaft kann keine intergouvernementale Angelegenheit sein. Ihre hervorgehobene Stellung im EG-Vertrag, ihre Bedeutung für die Identität der Union und ihre auf Stärkung der subjektiven Rechte gerichtete Zielsetzung sprechen 27 Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 17 EGV Rn 10. 28 Bull EG, Beil 2/91. 29 Kommission Dritter Bericht über die Unionsbürgerschaft v 7.9.2001, KOM 2001 (506) endg, 2 f, 23 ff; dass Unionsbürgerrechte nicht den Staatsangeh der Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben müssen, macht der EuGH in Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Großbritannien in Bez auf das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in Gibraltar deutl. 30 Everling ZfRV 1992, 241, 243 ff, 251 ff; Oppermann ER, § 4 Rn 54.
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dafür, dass die in den Art 18 bis 21 EGV (21–24 AEUV) niedergelegten Rechte auch unmittelbar wirksam sein sollen.31 Allerdings enthalten einige dieser Bestimmungen Vorbehalte (Art 18 I, Art 19 II 2 EGV/21 I, Art 22 II 2 AEUV), erteilen dem Rat Rechtsetzungsbefugnisse (Art 18 II, Art 19 I 2, II 2 EGV/21 II, 22 I 2, II 2 AEUV) oder sehen weitere Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten vor (Art 20 S 2 EGV/23 S 2 AEUV), so dass geklärt werden muss, ob sie auch inhaltlich unbedingt gewährt worden sind. Die Antwort hängt letztlich von einer Auslegung der einzelnen Gewährleistungen ab.32 Juristische Personen können als solche zwar nicht Träger der Unionsbürgerrechte sein, ebenso wenig wie dies bei staatsbürgerlichen Rechten möglich ist. Einzelne Rechte können aber auf juristische Personen des Privatrechts entsprechend angewendet werden, soweit sie dazu geeignet sind.33 So werden sie beim Petitionsrecht ausdrücklich genannt (Art 21 iVm 194, 195 EGV/22 iVm 227, 228 I AEUV). Auch das Recht auf konsularischen und diplomatischen Schutz (Art 20 EGV/23 AEUV) steht angesichts der dahingehenden völkerrechtlichen Praxis ohne weiteres juristischen Personen des Privatrechts zu.34 Die Unionsbürgerschaft ist also umfassend und zukunftsoffen angelegt.35 Sie ist beweglich und Wandlungen unterworfen, so wie die Integration selbst. Dennoch hat sie einen festen Kern, wie sich aus dem Ausschluss der verstärkten Zusammenarbeit für diesen Bereich ergibt (Art 11 I lit c EGV aF/anders allerdings Art 329 I AEUV). Wie Art 19 I, II und Art 20 S 1 EGV (9 EUV-E) zu entnehmen ist, ist die Gleichheit der Unionsbürger ein ihr wesentlicher Grundsatz. Die Vereinbarung vertiefter Zusammenarbeit muss zu Diskriminierungen führen, die hierzu in Widerspruch stehen.36
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III. Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft Art 17 EGV (20 I AEUV) verwendet drei verschiedene Begriffe, die die Stellung des Einzelnen gegenüber dem ihm übergeordneten Gemeinwesen kennzeichnen sollen. Nach Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft soll die Staatsbürgerschaft ergänzen, aber nicht ersetzen (Art 17 I 3 EGV/20 I 3 AEUV). Wie verhalten sich nun Unionsbürgerschaft, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft zueinander?
31 So GA La Pergola, EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 20 – Martínez Sala; gg jede Direktwirkung Geiger EUV/EGV Art 17 EGV Rn 3. 32 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 17 EGV Rn 12. 33 Monar/Bieber Die Unionsbürgerschaft, 1995, 77; Oppermann ER § 4 Rn 54; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 17 EGV Rn 11. 34 Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 9; Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 4; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 20; wohl auch Szczekalla EuR, 1999, 325 f; dag Monar/Bieber (Fn 33) S 36; Fischer FS Winkler, 1997, S 237, 264; Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 8; zweifelnd auch Hatje in: Schwarze, EUV, Art 20 EGV Rn 3 f. 35 Über die Entw hat die Kommission gem Art 22 I EGV (Art 25 AEUV) alle drei Jahre zu berichten; s Erster Bericht, KOM (93) 702 endg (1993); Zweiter Bericht, KOM (97) 230 endg (1994–96), Dritter Bericht (Fn 29) (1997–2000), Vierter Bericht, KOM (2004) 695 endg (2001–04) und Fünfter Bericht über die Unionsbürgerschaft, KOM (2008) 85 endg (2004–07). 36 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Vorbem Art 17–22 EGV Rn 4.
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Die Begriffe „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsbürgerschaft“ hängen zusammen, haben aber einen unterschiedlichen rechtlichen Gehalt.37 Die Staatsangehörigkeit wird als ein Rechtsverhältnis beschrieben, das ein Individuum der Personalhoheit eines Staates unterstellt. Ebenso gut lässt sie sich als Eigenschaft oder Status einer Person bezeichnen.38 Ein Unterschied in der Sache ergibt sich hieraus nicht. Entscheidend ist, dass der Begriff der Staatsangehörigkeit die formale rechtliche Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Staatswesen bezeichnet. Er hat eine völkerrechtliche und eine staatsrechtliche Bedeutung. In völkerrechtlicher Hinsicht sind Staatsangehörige die Personen, denen ein Staat ungeachtet ihres Aufenthaltsortes Rechte verleihen und Pflichten auferlegen darf. Darüber hinaus begründet die Staatsangehörigkeit das Recht eines Staates zur Ausübung diplomatischen und konsularischen Schutzes im Ausland und die Pflicht zur Aufnahme im eigenen Territorium. Die Befugnis, die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu regeln, steht als Ausdruck ihrer Souveränität den Staaten zu, unterliegt aber völkerrechtlichen Grenzen. So dürfen Regelungen über die Staatsangehörigkeit nicht ihrerseits die Personalhoheit anderer Staaten verletzen. Darüber hinaus dürfen andere Staaten der Begründung der Staatsangehörigkeit den daraus sich ergebenden Rechtsfolgen die Anerkennung versagen, wenn sie nicht effektiv ist, also lediglich de iure besteht.39 Dem rechtlichen Status der Staatsangehörigkeit muss also eine reale soziale Einbindung in ein Gemeinwesen entsprechen. Die Staatsangehörigkeit hat nach alldem die Funktion, Hoheitsbereiche zwischen den Staaten abzugrenzen und ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Staat und Individuum kenntlich zu machen. Die staatsrechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit variiert nach der jeweiligen Verfassung. Mit spezifischen Rechten und Pflichten ist sie aus sich heraus nicht verbunden.40 Zwar knüpft das Grundgesetz eine ganze Reihe von Rechten und Pflichten an die deutsche Staatsangehörigkeit. Diese ist aber jeweils nur eine von mehreren Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit etwa das Wahlrecht (Art 38 II GG, § 12 BWahlG) oder die Wehrpflicht (Art 12a GG, § 1 WPflG) entstehen können. Die Staatsbürgerschaft dagegen ist der Inbegriff der Rechte und Pflichten, die die Zugehörigkeit eines Menschen zu Staat und Gesellschaft ausmachen.41 Sie geht auf die Aufklärungsidee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurück und impliziert freiheitliche, soziale und politische Rechte. Das Ausschließungskriterium ist der sog Aktivstatus, das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Seit jeher ist ein großer Teil der Bevölkerung aufgrund des Alters, Bildungsstandes oder Geschlechts, der sozialen Herkunft oder eben aufgrund der Staatsangehörigkeit von der politischen Mitwirkung ausge-
37 Die engl/frz Begriffspaare citizenship/nationality bzw citoyenneté/nationalité entspr dem nicht ganz, aber weitgeh, s Gosewinkel Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 533, 544 f. 38 Zum Streit zw Status- und Rechtsverhältnistheorie vermittelnd Makarov Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl 1962, 21 ff. 39 ICJ Reports 1955, 4, 23 – Liechtenstein/Guatemala (Nottebohm); s auch EuGH, Slg 1980, 3881, Rn 10 – Kommission/Belgien: Staatsangehörigkeit als „Verhältnis besonderer Verbundenheit … zum Staat“ bei „Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten“. 40 Vgl Wengler FS Schätzel, 1960, S 545, 546; Randelzhofer in: Maunz/Dürig (Hrsg), GG, Art 16 Rn 9; Grawert Der Staat 23 (1984), 178, 183. 41 Grawert Der Staat 23 (1984), 182 ff, 197 ff; Preuß 1 ELJ (1995), 267, 269 ff.
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schlossen. In den Gemeinwesen der Antike ebenso wie in der mittelalterlichen Stadt lassen sich die politischen Rechte als das Unterscheidungsmerkmal zwischen Bürgerschaft und minderen Formen der Zugehörigkeit ausmachen.42 Aufklärung und französische Revolution haben daran nichts geändert.43 Die Bedeutung sozialer Rechte für die rein tatsächliche Möglichkeit der freien Entfaltung des Menschen wird demgegenüber erst im Rückblick auf das beginnende Industriezeitalter deutlich, das neue Probleme sozialer Ungleichheit mit sich brachte. Vor diesem Hintergrund werden außer den politischen auch die sozialen Rechte als essentieller Bestandteil der Staatsbürgerschaft angesehen.44 Nur wer alle Freiheits-, sozialen und politischen Rechte besitzt, ist Staatsbürger. Der Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft besteht darin, dass der volle Bürgerstatus für Staatsangehörige reserviert bleibt. Im 19. Jh war dies deutlicher erkennbar als heute. In Deutschland waren seit dem Vormärz selbst die Freiheitsrechte an die Staatsangehörigkeit gebunden.45 Vergleichbares gilt für die soziale Fürsorge.46 In zunehmendem Maße lösten sich indes nicht nur die Freiheitsrechte, sondern auch die Teilhabe am System sozialer Sicherungen dem Grunde nach von der Staatsangehörigkeit und wurden vom Ort des Wohnsitzes oder Aufenthaltes abhängig.47 Die Ausnahme bilden die politischen Rechte. Dass sie auch nach dem Grundgesetz das entscheidende Element der Staatsbürgerschaft bilden, zeigen Art 33 III GG, der zwischen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten unterscheidet, und Art 33 I GG, der allen Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zuschreibt. In dieser Tradition steht auch das BVerfG, wenn es davon ausgeht, dass das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgehen muss (Art 20 II GG), das deutsche Volk sei, das sich aus den deutschen Staatsangehörigen zusammensetzt.48 Der im EG-Vertrag verwendete Begriff der Unionsbürgerschaft ist mit der Staatsangehörigkeit weder vergleichbar, noch soll er es sein.49 Vielmehr orientiert er sich bewusst an der Idee der Staatsbürgerschaft. Dadurch soll angezeigt werden, dass die Unionsbürgerschaft im Gegensatz zur Staatsangehörigkeit keine Personalhoheit begründet, sondern dass die Union den Einzelnen als Träger von Rechten und Pflichten (Art 17 II EGV/20 II AEUV) versteht. Die politischen Teilhaberechte gegenüber der Gemeinschaft (Art 19 II, 21 EGV/22 II, 24 AEUV) begründen eine Rechtsposition, die dem staatsbürgerlichen Aktivstatus ähnelt. Wie weit diese Parallele letztlich trägt, muss die Betrachtung der einzelnen Rechte zeigen (dazu u IV.).
42 Eder in: Molho/Raaflaub/Emlen (Hrsg), City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, 1991, 169 ff; Isenmann Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500, 1988, 93 ff. 43 Brubaker Citizenship and Nationhood in France and Germany, 1992, 21 ff; Magnette La citoyenneté: Une histoire de l’idée de participation civique, 2001. 44 Marshall Citizenship and Social Class, 1949, hier nach: ders Bürgerrechte und soziale Klassen, 1992, 33 ff; Dahrendorf in: van Steenbergen (Hrsg), The Condition of Citizenship, 1994, 10, 13. 45 Oestreich Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl 1978, 81 ff; Grawert Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, 195 f; noch heute stehen die Grundrechte der Art 8, Art 9 I, Art 11 und Art 12 I GG nur Deutschen zu; Art 16 EMRK gestattet eine Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen im Hinblick auf die politische Betätigung. 46 Fahrmeir The Historical Journal 40 (1997), 721, 726 ff. 47 Noiriel Le creuset français, 1988, 110 ff; Hollifield Immigrants, Markets and States, 1992, 223 ff. 48 BVerfGE 83, 37, 59; s auch BverfGE 107, 59, 87 (Staatsvolk als „Gesamtheit der Bürger“). 49 Vgl Hobe Der Staat 32 (1993), 245 ff; Closa 32 CMLRev (1995), 487, 488 ff, 515 ff.
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2. Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft 25
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Fall 1: (EuGH, Slg 1992, I-4239 ff – Micheletti): M wurde in Argentinien als Sohn italienischer Eltern geboren und besitzt sowohl die italienische als auch die argentinische Staatsangehörigkeit. Nach erfolgreichem Studium der Zahnmedizin in seinem Geburtsland will er sich in Spanien als Zahnarzt niederlassen und legt zu diesem Zweck seinen italienischen Pass vor. Das Diplom wurde auf der Grundlage eines spanisch-argentinischen Abkommens anerkannt. Die spanischen Behörden verweigern jedoch die Niederlassung unter Hinweis auf Art 9 des Código Civil. Danach kommt in Fällen doppelter Staatsangehörigkeit, wenn keine der beiden Staatsangehörigkeiten die spanische ist, derjenigen der Vorrang zu, die dem gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen vor seiner Einreise nach Spanien entspricht, also im Falle des M der argentinischen Staatsangehörigkeit. M beschreitet den Rechtsweg. Das zuständige Tribunal Superior de Justicia de Cantabria legt dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor, ob mit den Bestimmungen des EG-Vertrages, welche auf die Staatsangehörigkeit verweisen, Vorschriften des nationalen Rechts in Einklang stehen, die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtlich verliehene Rechte nur deshalb vorenthalten, weil sie außerdem die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen, in dem sie sich bisher aufgehalten haben.
Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) erklärt jeden zum Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Begriffe, die im EG-Vertrag verwendet werden, sind in der Regel in ihrer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung, also autonom, auszulegen. Dies kann selbst dann gelten, wenn ein Rechtsbegriff auf innerstaatliche Regelungszuständigkeiten verweist, wie dies beim Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne der Art 30, 39 III, 46, 58 I lit b EGV (36, 45 III, 52, 65 I lit b AEUV) der Fall ist. Demnach könnte auch Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) ein speziell gemeinschaftsrechtlicher Begriff der Staatsbürgerschaft zugrunde liegen, der vor dem Hintergrund der effektiven Wahrnehmung der Unionsbürgerrechte, insbesondere aber der Grundfreiheiten auszulegen wäre. Gegen diese Lesart spricht aber der historische und systematische Zusammenhang, in dem Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) steht. Bereits vor Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages hatten einige Mitgliedstaaten die ausschließliche Befugnis zur Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts für sich reklamiert. Die Bundesrepublik hat aus Anlass des Abschlusses der Römischen Verträge erklärt, dass auch für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts der Deutschen-Begriff des Art 116 GG gelte.50 Eine Besonderheit gilt auch für Großbritannien, das zwischen Staatsangehörigkeit im engeren Sinne und Zugehörigkeit zum Commonwealth unterscheidet. In einer einseitigen Erklärung anlässlich des Beitritts zur EG 1972 hat Großbritannien den Begriff des britischen Staatsbürgers für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts anders definiert als für den innerstaatlichen Bereich und im Völkerrechtsverkehr. Danach ist nun Unionsbürger, wer britischer Bürger ist, ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich besitzt oder die Staatsbürgerschaft aufgrund einer Verbindung zu Gibraltar erworben hat.51 Anders als es Art 20 I 2 AEUV nahelegt, sind somit nicht alle Staatsangehörigen auch Unionsbürger; die Norm ist gedanklich dahin zu ergänzen, dass die Staatsangehörigkeit für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist. 50 BGBl II 1957, 753, 764. 51 ABl 1972 Nr L 73/196; 1973 Nr C 64/10; 1983 Nr C 23/1; die Erkl steht mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang, s EuGH, Slg 2001, I-1237 ff – Kaur; Slg 2006, I-7971, Rn 74 ff – Spanien/ Großbritannien.
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In der „Erklärung zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates“, die der Schlussakte des Maastrichter Vertrages beigefügt wurde, wurde später ausdrücklich festgestellt, dass überall dort, wo der EG-Vertrag die Staatsangehörigkeit anspricht, allein das innerstaatliche Recht maßgeblich sein soll.52 Daher sind nur die Mitgliedstaaten für die Regelung der Voraussetzungen und des Verlustes der Staatsangehörigkeit zuständig.53 Alle Bestimmungen des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts definieren zugleich den Kreis der Unionsbürger. Diese Zuständigkeitsverteilung hat zur Folge, dass die Unionsbürgerschaft in manchen Staaten leichter erworben werden kann als in anderen. Sie kann insbesondere dann misslich sein, wenn dadurch zwischen den Mitgliedstaaten ungleiche Pflichten entstehen.54 Die einzelnen staatlichen Modelle und die Praxis der Einbürgerung sind sehr unterschiedlich. Forderungen insbesondere des Europäischen Parlaments, gewisse Bedingungen für den Erwerb oder Verlust der Staatsangehörigkeit zu harmonisieren,55 haben jedoch auf absehbare Zeit politisch keine Erfolgsaussichten. Der Verzicht auf die Befugnis zur autonomen Definition der Staatsangehörigkeit würde die Qualität der Staaten und den Status der Union entscheidend verändern. Allerdings unterliegen die Mitgliedstaaten auch in diesem Bereich der Gemeinschaftstreuepflicht (Art 10 EGV/4 III EUV-E). Sie verbietet es, die Einbürgerung so zu erleichtern, dass eine gemeinschaftliche Einwanderungspolitik (s Art 63 EGV/79 AEUV) praktisch unmöglich oder wesentlich erschwert wird.56 Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft sind nach Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) untrennbar. Drittstaatsangehörige oder Staatenlose können die Unionsbürgerschaft nicht selbstständig erwerben.57 So wird die philosophische Idee, dass Bürger eines Gemeinwesens diejenigen sind, die unter einer gemeinsamen politischen und rechtlichen Ordnung leben wollen,58 wohl nicht nicht zum Bestandteil des Konzeptes der Unionsbürgerschaft werden. Auch kann niemand auf die Unionsbürgerschaft verzichten, ohne zugleich seine Staatsangehörigkeit aufzugeben.59 Lösung Fall 1: Das Vorabentscheidungsersuchen des spanischen Gerichts an den EuGH war als Auslegungsvorlage gem Art 234 I lit a EGV (267 lit a AEUV) ohne weiteres zulässig. Nach Art 43 EGV (49 AEUV) kann sich M auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn er
52 Schlussakte zum Vertrag von Maastricht (Fn 24) Teil III 2. Erklärung; s a Schlussfolgerungen des Rates von Edinburgh, Bull EG 12/92, S 26 ff. 53 So EuGH, Slg 1992, I-4239, Rn 10, 14 – Micheletti; dazu Jessurun d’Oliveira 30 CMLRev (1993), 623 ff; Ruzié 97 RGDIP (1993), 107 ff. 54 Zum Fall eines spanisch/argentinischen Doppelstaaters, der sich in Italien niederlassen will de Groot FS Bleckmann, 1993, S 87, 94 f. 55 Europäisches Parlament, Entschließung zur Unionsbürgerschaft, ABl 1991 Nr C 326/205; s a de Groot Staatsangehörigkeit im Wandel, 1989, 23 ff; O’Leary 12 YEL (1992), 353, 383 f; Sauerwald Die Unionsbürgerschaft und das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 1996, 120 ff, 156 ff; Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 17 Rn 43, 68. 56 Hatje in: Schwarze, EUV, Art 17 EGV Rn 5. 57 Vgl Kommission, Dritter Bericht (Fn 29) S 8 Fn 4. 58 Vgl Meehan Citizenship and the European Community, 1993, 123 ff; Habermas in: van Steenbergen (Fn 44) S 20, 23; Closa 32 CMLRev (1995), 487, 488 ff, 507 ff. 59 BayVGH, NVwZ 1999, 197.
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Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist. Nach den im Zusammenhang mit Art 17 I 2 EGV (20 I 2 AEUV) abgegebenen Erklärungen ist hierfür nicht das Gemeinschaftsrecht, sondern das nationale Recht maßgeblich. Somit besitzt M die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, wenn er die italienische Staatsangehörigkeit wirksam erworben hat. Hieran gibt es keinen Zweifel, auch nicht aufgrund des Umstands, dass M nach dem Geburtslandprinzip auch die argentinische Staatsangehörigkeit erworben hat, so dass er beide Staatsangehörigkeiten besitzt. Indes könnte Spanien nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen berechtigt sein, die italienische Staatsangehörigkeit als nicht effektiv anzusehen. Nach dem Völkerrecht bedarf es zwischen Staat und Individuum einer genuinen, realen Verbindung, an der man im Verhältnis zwischen M und Italien womöglich zweifeln kann, da M nie in Italien gelebt hatte. Diese Regeln des Völkergewohnheitsrechts könnten jedoch durch den EG-Vertrag als die speziellere und auf die Union beschränkte Rechtsordnung verdrängt worden sein. Die Protokollerklärung zum Vertrag von Maastricht, der zufolge es allein auf das mitgliedstaatliche Recht ankommen soll, bringt zum Ausdruck, dass die Unionsstaaten ihr Staatsangehörigkeitsrecht untereinander vorbehaltlos anerkennen. Daher durfte Spanien der italienischen Staatsangehörigkeit nicht entgegen italienischem Recht die Anerkennung versagen. Dies wäre nur dann möglich gewesen, wenn das italienische Recht eine geordnete Einwanderungspolitik unmöglich gemacht hätte. Hierfür lagen keine Anhaltspunkte vor. Spanien musste daher dem M die Niederlassung als Zahnarzt gestatten.60
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Aus dieser Entscheidung ergibt sich für die Behandlung von Personen mit mehrfacher Staatsangehörigkeit eine Reihe von Konsequenzen.61 Ihre Leitlinien sind auf das deutsche Recht, das in Art 5 I EGBGB eine der spanischen vergleichbare Regelung kennt, übertragbar. Dass M auch in Deutschland die Niederlassung und alle an die Unionsbürgerschaft geknüpften Rechte nicht verwehrt werden dürften, bedarf keiner näheren Ausführungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Doppelstaatler zu behandeln sind, die die Angehörigkeit zweier Unionsstaaten besitzen. Da bei Vorliegen der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates alle Rechte des EG-Vertrages entstehen, dürfen sie auch nicht als Inländer behandelt und wie diese etwa gegenüber Nutznießern der Grundfreiheiten schlechter gestellt werden. Die sog Inländerdiskriminierung ist hier also, anders als sonst, nicht zugelassen, und zwar wohl auch dann nicht, wenn die andere EU-Staatsangehörigkeit nicht effektiv ist.62 Doppelstaatler, die die Staatsangehörigkeit eines Unionsstaates und eines Drittstaates besitzen, haben einen ähnlichen Status, soweit ihnen eine völkerrechtliche Vereinbarung der Gemeinschaft mit dem Drittstaat Rechte eröffnet, die den Grundfreiheiten entsprechen. Dies ist im Hinblick auf die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraumes und die Türkei der Fall.63
60 Der Lsg wurde die akt Rechtslage zugrunde gelegt. 61 Vgl i Einz Zimmermann EuR 1995, 54, 64 ff. 62 Zum Vorliegen einer EU-Staatsangehörigkeit als wesentl Voraussetzung EuGH, Slg 1988, 5589 ff – Matteucci; Slg 2003, I-11613, Rn 28 – Garcia Avello; zu einem Fall mit frz/dtsch Staatsangeh EuGH, Slg 1988, 1, Rn 11 ff – Gullung – JK 11/89, EWGV Art 52/1; allgem Wölker in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorbem Art 39–41 EGV Rn 46 ff; zur Inländerdiskr noch bei Fn 67, 80, 179. 63 Vgl insb Art 28, 31 und 36 des EWR-Übk, Sartorius II Nr 310; zur Türkei das Assoziationsabkommen BGBl II 1963, 453, 509; Zusatzprotokoll BGBl II 1972, 385; zur Privilegierung bes EuGH, Slg 1999, I-2685 ff – Sürül; Slg 2007, I-6495, Rn 62 ff – Derin.
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Was die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft angeht, so verletzt das Optionsmodell des § 29 StAG,, dem zufolge in der Bundesrepublik aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern unter zeitweiliger Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeit erleichtert einzubürgern sind, die Gemeinschaftstreuepflicht nicht, da in diesen Fällen bereits eine hinreichend effektive Bindung an die Bundesrepublik besteht.64
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3. Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft ist von der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Union abhängig und soll im Rahmen der Union eine Funktion übernehmen, der in den Staaten die nationale Staatsbürgerschaft entspricht. Sie tritt zu dieser aber nicht in Konkurrenz, sondern ergänzt sie (Art 17 I 3 EGV/20 I 3 AEUV: „tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu“). Die Unionsbürgerschaft soll also eine „Bürgerschaft auf mehreren Ebenen“ begründen.65 Damit fragt sich, an wen sich die Rechte der Unionsbürger eigentlich richten. Erster Adressat ist die Union, bisher vor allem soweit sie in ihrer sog ersten Säule, der Gemeinschaft, tätig wird. Das Ziel, insoweit die Rechtsstellung des Einzelnen bewusster zu definieren, wird beim Europawahl-, Petitions-, Informations- und Aktenzugangsrecht (Art 19, 21, 255 EGV/22 , 24, 15 AEUV) erkennbar. Im Verhältnis zur Union lässt sich die Unionsbürgerschaft daher ohne weiteres als Rechtsverhältnis oder Rechtsstatus bezeichnen.66 Darüber hinaus sind auch die Mitgliedstaaten Adressaten der meisten sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Verpflichtungen. Dies gilt für die Freizügigkeit (Art 18 EGV/21 AEUV), das Kommunalwahlrecht (Art 19 I EGV/22 I AEUV) sowie den diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 20 EGV/23 AEUV), aber auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 19 II EGV/22 II AEUV) bedarf staatlicher Mitwirkung. Diese Rechte richten sich ihrem Wortlaut nach an Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Unionsbürger nicht besitzt, in denen er aber seinen Wohnsitz genommen hat oder noch begründen will. Darüber hinaus fragt sich, ob auch dem eigenen Staat aus der Unionsbürgerschaft Verpflichtungen erwachsen. Getreu seiner Rechtsprechung zur sog Inländerdiskriminierung hat es der EuGH bisher abgelehnt, die Unionsbürgerrechte auf die eigenen Staatsbürger zu erstrecken, und den Mitgliedstaaten gestattet, sie strengeren Regelungen zu unterwerfen.67 Die Frage stellt sich indes nur im Hinblick auf die Freizügigkeit und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art 18 und 12 EGV/21 und 18
64 Zur verfassungsrechtl Seite Huber/Butzke NJW 1999, 2769 ff; Masing Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, 2001, 40 ff. 65 Kommission Dritter Bericht (Fn 29) S 8; ein wesentl Merkmal der Unionsbürgerschaft ist also ihre „Zusätzlichkeit“, s Closa 29 CMLRev (1992), 1137 ff; O’Keefe in: O’Keefe/Twomey (Hrsg) Legal Issues of the Maastricht Treaty, 1994, 87, 102 f; Parallelen zum Indigenat im Deutschland des 19. Jh sehen Hobe Der Staat 32 (1993), 245, 258 f; Schönberger Unionsbürger, 2005, 301 ff. 66 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 17 EGV Rn 6; ähnl Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Vorbem Art 17–22 EGV Rn 3. 67 EuGH, Slg 1997, I-3171, Rn 23 – Uecker; Urt v 1.4.2008 Rs C-212/06 Rn 33 ff – Regierung der Communauté française; Urt v 25.7.2008 Rs C-127/08 Rn 77 f – Metock, NVwZ 2008, 1097; dag Borchardt NJW 2000, 2057, 2059; Lach Umgekehrte Diskriminierungen im Gemeinschaftsrecht, 2008, 338 ff; Spaventa 45 CMLRev (2008), 13, 36 ff; s noch o Fn 62 und u Fn 80, 179.
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AEUV). Die übrigen Rechte sind nach Wortlaut und Sinn an andere als die Herkunftsstaaten (Art 19 I, II, 20 EGV/22, 23 AEUV) bzw allein an die Union (Art 21, 255 EGV/24, 15 AEUV) gerichtet. Auf das Problem wird daher im Zusammenhang mit den betroffenen Rechten zurückzukommen sein. Die Unionsbürgerschaft begründet somit zugleich einen besonderen, der Staatsbürgerschaft komplementären Status des Einzelnen gegenüber der Union und gegenüber den Mitgliedstaaten. Es soll nun beschrieben werden, worin dieser Status besteht.
IV. Die Unionsbürgerrechte 1. Freizügigkeit a) Rechtliche Tragweite 38
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Das Recht der Unionsbürger nach Art 18 EGV (21 AEUV), sich auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist für den Status der Unionsbürgerschaft zentral, da es für alle anderen Rechte die Voraussetzung bildet. Die Bedeutung des Art 18 EGV (21 AEUV) liegt in einer Erweiterung individueller Rechte mit wirtschaftlicher Zwecksetzung auf eine allgemeine, keiner Begründung bedürftigen Bewegungsfreiheit in Europa. Die Grundfreiheiten sind also gegenüber der Freizügigkeit die spezielleren Garantien, da sie über Art 18 EGV (21 AEUV) hinaus auch ein Recht auf Teilnahme am Wirtschaftsverkehr gewähren.68 Demgegenüber tritt das Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) als allgemeinere Vorschrift hinter der Freizügigkeit zurück, kann sich aber, wie sich noch zeigen wird, in Verbindung mit ihr zu einem umfassenden Teilhabeanspruch verstärken (→ vgl hierzu auch § 13 Rn 14), ähnlich wie dies von den Grundrechten des Grundgesetzes her aus der Verbindung von Art 12 GG, der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip bekannt ist.69 Der Rechtsprechung des EuGH zufolge ist Art 18 EGV (21 AEUV) unmittelbar anwendbar.70 Dagegen scheint zu sprechen, dass Art 18 EGV (21 AEUV) das Freizügigkeitsrecht nur „vorbehaltlich“ im EG-Vertrag und im Sekundärrecht vorgesehener Beschränkungen und Bedingungen gewährt. Eine Bestimmung des Primärrechts muss zwar klar gefasst, darf an keine Bedingung geknüpft sein und keiner weiteren Umsetzungsakte bedürfen, wenn sie unmittelbar anwendbar sein soll.71 Der Wortlaut des Art 18 EGV verleiht aber jedem „das Recht“ auf Freizügigkeit. Wenn Beschränkungen aus „diesem Vertrag“ folgen, lässt dies ohne weiteres den Schluss zu, dass auch das Recht selbst vertraglich zugesichert ist. Im systematischen Vergleich mit anderen Vorschriften ergibt sich ein Unterschied zu Art 19 EGV, der im Gegensatz zu Art 18 II EGV das Wahlrecht vorbehaltlich noch festzulegender Einzelheiten gewährt; nach Art 18 II EGV „kann“ hingegen der Rat Vorschriften erlassen, um weitere Erleichterungen einzuführen, muss dies aber nicht, was ohne Direktwirkung nicht sinnvoll wäre. Deshalb waren in der Maastrichter Fassung für die Umsetzung der Rechte aus den heutigen Art 19 I und II sowie Art 20
68 Vgl EuGH, Slg 1996, I-929, Rn 22 – Skanavi. 69 BVerwGE 115, 32, 37, vgl Jarass/Pieroth GG, Art 12 Rn 77. 70 EuGH, Slg 2002, I-7091, Rn 84 – Baumbast; s a Pernice FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 177, 187; Magiera in: Streinz, EUV/EGV, Art 18 EGV Rn 11; gg Direktwirkung noch Pechstein/Bunk EuGRZ 1997, 547 ff; iE ähnl Mather 11 ELJ (2005), 722, 727. 71 StRspr seit EuGH, Slg 1963, 3, 25 f – van Gend & Loos.
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(Art 8b I, II, Art 8c aF) EGV noch Fristen vorgesehen worden, für Art 18 EGV dagegen nicht. Zudem spricht das Vertragsziel der Erweiterung der Bürgerrechte, das auch in dem Auftrag an den Rat, die Ausübung der Freizügigkeitsrechte zu erleichtern (Art 18 II EGV), zum Ausdruck kommt, eher für als gegen eine unmittelbare Wirkung. Die schon seit Längerem bestehenden sekundärrechtlichen Rechte sind somit auf die Ebene des EG-Vertrages gehoben und zu einem Grundrecht geworden,72 dessen Ausübung allerdings im Sekundärrecht näher geregelt ist. Diese Regelungstechnik hat vor allem verfassungspolitische Motive. Inhaltlich deckt sich der Schutzbereich des Art 18 EGV (21 AEUV) mit den schon vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages 1993 bestehenden Regelungen, die der Sache nach auch weiterhin gelten. So besitzen Studierende, die an einem ausländischen Studienort zum Studium zugelassen wurden, auch so für die Dauer des Studiums ein Aufenthaltsrecht.73 Allerdings müssen die sekundärrechtlichen Regelungen ihrerseits im Lichte der Zwecksetzung des Art 18 EGV (21 AEUV) ausgelegt werden, da dieser nun auf einer übergeordneten Stufe steht.
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b) Schutzbereich Das Grundrecht steht nur Unionsbürgern zu. Familienangehörige, die Angehörige dritter, nicht durch Abkommen der Gemeinschaft privilegierter Staaten sind, besitzen nach Maßgabe des Sekundärrechts ein Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht,74 können aber, wenn sie für den Unterhalt eines minderjährigen Kindes mit Unionsbürgerschaft aufkommen, aus dessen Aufenthaltsrecht unter Umständen ihrerseits ein solches Recht ableiten.75 Das Freizügigkeitsrecht richtet sich gegen die Mitgliedstaaten, wobei hier die Frage Bedeutung gewinnt, ob auch der eigene Staat Adressat von Ansprüchen der Unionsbürger werden kann.76 Sie ist von Interesse, wenn das nationale Recht die Bewegungsfreiheit von Inländern stärker beschränkt, als dies gegenüber Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zulässig wäre.77 Inländer stehen gegenüber dem eigenen Staat nur unter dem Schutz der personenbezogenen Grundfreiheiten, wenn sie an der Ausreise in andere Mitgliedstaaten gehindert werden.78 Inlandsfälle ohne grenzüberschreitenden Bezug unterfallen diesen dagegen nicht.79 Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn Art 18 EGV (21 AEUV) als die subsidiäre Gewährleistung mehr Schutz böte. Auch der Grundrechtsgehalt des Art 18 EGV (21 AEUV) liefert insoweit keine neuen Anhaltspunkte. Von einem Grundrecht sollte
72 S a Art 45 GRCh; eine Ansicht in der Lit sieht Art 18 EGV als „Grundfreiheit ohne Markt“ an, was einen Widerspruch in sich bedeutet (vgl Art 14 II EGV/Art 26 II AEUV); idS aber Kokott FS Tomuschat, 2006, S 207, 214 ff; Wollenschläger Grundfreiheit ohne Markt, 2007, 355 ff; Calliess EuR Beih 1/2007, 7, 23 ff; ähnl wie hier Borgmann-Prebil 14 ELJ (2008), 328 ff. Zu der Rspr des EuGH, die zu dieser Einschätzung Anlass gegeben hat, s noch u Fn 90 f. 73 EuGH, Slg 1992, I-1027 ff – Raulin. 74 Art 45 II GRCh. 75 EuGH, Slg 2004, I-9925 – Chen. 76 So Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 18 EGV Rn 14; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 18 EGV Rn 9; Borchardt NJW 2000, 2057, 2059; skept Everling in: Hrbek (Fn 6) S 49, 52, 56. 77 Vgl die Schranken in Art 11 II GG mit Art 39 III EGV; zum österr Habsburg-Problem Fischer FS Winkler, 1997, S 237, 257 ff; zu Reisebeschränkungen für Mitglieder der Sinn Fein in der brit Rspr Toner Maastr 7 JECL (2000), 158, 161. 78 EuGH, Slg 1992, I-4265, Rn 19 – Singh; Urt v 10.7.2008 Rs C-33/07 – Jipa. 79 Vgl EuGH, Slg 1979, 1129, Rn 11 – Saunders; Slg 1993, I-429, Rn 17 – Werner.
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zwar erst die Rede sein, wenn ein Recht allen Unionsbürgern im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gleichermaßen zusteht; wie weit Inländer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, ist indessen gerade die Frage. Der EuGH hat daher auch nach Einfügung des heutigen Art 18 (Art 21 AEUV) in den EG-Vertrag an seiner Rechtsprechung festgehalten.80 Damit ergibt sich das Freizügigkeitsrecht vollständig erst in Zusammenschau mit dem nationalen Recht.81 Mitgliedstaaten dürfen aber die Freizügigkeit ihrer Staatsangehörigen insofern nicht beschränken, als diese die Staatsgrenzen innerhalb der Union überschreiten wollen.82 Der sachliche Schutzbereich umfasst somit die Ausreise aus dem einen und die Einreise in den anderen Mitgliedstaat, ferner dort Bewegung, Wohnsitznahme und Aufenthalt. Insoweit enthält Art 18 EGV (21 AEUV) ein Beschränkungsverbot. Dieses Recht darf keinen sachlichen oder zeitlichen Begrenzungen unterworfen werden, zumal solchen nicht, denen Inländer nicht unterliegen. Auch in seinem Gehalt als Diskriminierungsverbot gewährt Art 18 EGV (21 AEUV) ein Abwehrrecht. Identitätskontrollen nach nationalem Recht bleiben dagegen erlaubt, damit festgestellt werden kann, ob einer Person das beanspruchte Recht zusteht.83 Die Vorlage der Aufenthaltserlaubnis darf verlangt werden, sofern auch für Inländer eine Pflicht besteht, sich auszuweisen.84 Darüber hinaus begründet das Freizügigkeitsrecht in Verbindung mit Art 12 EGV (18 AEUV) einen weitgehenden Anspruch auf Inländerbehandlung, der auch zu einem derivativen Leistungsanspruch werden kann.85 Die Reichweite lässt sich schwer absehen. Im Schrifttum wird eine sachliche Begrenzung auf einen Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht verlangt.86 Dem entsprechend dürfen EU-Ausländer etwa beim Erwerb von Grundbesitz nicht diskriminiert werden, unabhängig davon, ob es sich um eine Industrieanlage oder ein Ferienhaus handelt, sofern in den Gründungsverträgen oder Beitrittsakten nichts anderes bestimmt ist. Allerdings wird sich eine klare Grenze zwischen aufenthaltsbedingten und sonstigen Maßnahmen kaum ziehen lassen. Der Schutzbereich ist umfassend angelegt. Er wird nur durch Bedingungen eingegrenzt, auf die Art 18 I EGV (21 AEUV) verweist. Man kann von einem normgeprägten Grundrecht sprechen. Zu den tatbestandsimmanenten Grenzen gehört vor allem das sekundärrechtlich zulässige Erfordernis des Nachweises genügender Existenzmittel und eines aus-
80 EuGH, Slg 1997, I-3171, Rn 23 – Uecker. 81 Verfassungen, die die Freizügigkeit gewähren, behalten sie meist eig Staatsangehörigen vor, s Art 11 I GG; Art 5 IV griech, Art 16 ital, Art 32 lit, Art 52 poln, Art 44 port, Art 32 slwn, Art 19 span und Art 14 f zyp Verf; § 44 II der dän Verfassung macht einen Vorbehalt bzgl des Grunderwerbs durch Ausländer, der primärrechtl durch ein Protokoll gedeckt ist. § 7 finn, § 34 estn und Art 23 slk Verf stellen Staatsbürger und rechtmäßig im Inland lebende Ausländer gleich. In Belgien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden und Schweden ist die innerstaatl Freizügigkeit nicht verfassungsrechtl verankert. 82 EuGH, Slg 2000, I-10409, Rn 34 f – Elsen. 83 EuGH, Slg 1999, I-6207 ff – Wijsenbeek; allerdings darf das Aufenthaltsrecht nicht allein deshalb verweigert werden, weil kein Ausweis vorgelegt werden kann, wenn die Feststellung der Identität auf andere Weise zweifelsfrei mögl ist, s EuGH, Slg 2005, I-1215 – Oulane. 84 EuGH, Slg 1998, I-2133 ff – Kommission/Deutschland. 85 Vgl EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 32 – Martínez Sala sowie dazu Rn 83. 86 Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 18 EGV Rn 6; dag Hilf in: Grabitz/Hilf, Art 18 EGV Rn 7.
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reichenden Krankenversicherungsschutzes.87 Daraus folgt etwa, dass sich die Umstände, unter denen Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten ausgewiesen werden können, die keine Arbeit finden oder arbeitslos geworden sind, weiterhin aus dem Sekundärrecht und der hierzu ergangenen Rechtsprechung ergeben.88 Gleiches gilt etwa für mittellos gewordene Touristen. In beiden Fällen führt Art 18 EGV (21 AEUV) nicht zu einer Erweiterung des Rechtsstatus. c) Eingriffe und Schranken Gegenüber den personenbezogenen Grundfreiheiten bestehen im Hinblick auf die denkbaren Eingriffe keine Unterschiede. Sie können in Beschränkungen, insbesondere aufenthaltsregelnden oder -beendenden Maßnahmen liegen, aber auch in Ungleichbehandlungen, die sich für Angehörige anderer Mitgliedstaaten oder für Inländer aufgrund eines Grenzübertritts ergeben. In die Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit darf nur eingegriffen werden, wenn die Verträge oder das Sekundärrecht dies zulassen.89 Letzteres ist seinerseits im Lichte des Art 18 I EGV auszulegen. So wird diese Garantie ebenso wie die Grundfreiheiten vor allem durch den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung eingeschränkt. Daher kann unter denselben Bedingungen, wie sie für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie im Bereich der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit gelten, etwa die Verurteilung wegen einer Straftat zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führen, doch gelten strenge Voraussetzungen. Wie bei den Grundfreiheiten ist auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Straftaten müssen also von gewisser Schwere sein, und der Eingriff in die Freizügigkeit muss angemessen bleiben.90 Darüber hinaus können sich Schranken aus zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls ergeben, was zu einer dogmatischen Annäherung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts an die Grundfreiheiten führt.91
87 S i Einz Art 7 AufenthaltsRL, Fn 23. 88 Zum weitgeh ungekl Status der Arbeitssuchenden Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Art 39 EGV Rn 54 ff, 134 ff. 89 Zu den zeitl gebundenen Beschränkungen, die sich für Angehörige der 2004 und 2007 beigetretenen Staaten Mittel- und Osteuropas ergeben und sich auf die Freizügigkeit nach Art 18 EGV zumindest indirekt auswirken, Domaradzka Unionsbürger im Übergang, 2006, 113 ff. Bis zum Mai 2007 hatten neun der 15 vor der Osterweiterung bestehenden Mitgliedstaaten ihren Arbeitsmarkt für diesen Personenkreis geöffnet, s Kommission Fünfter Bericht (Fn 35) S 6. Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Österreich haben ihre Option ausgeübt, die entspr Übergangsregelungen zu verlängern. 90 Vgl den Fall einer italienischen Touristin, die wg Drogenbesitzes mit einem lebenslangem Verbot der Einreise nach Griechenland belegt wurde, EuGH, Slg 1999, I-11, Rn 15 ff – Calfa; die Urteilsbegr stützt sich allein auf die künftige Unmöglichkeit, von den Grundfreiheiten Gebrauch zu machen, ohne die Freizügigkeit der Unionsbürger zu erwähnen; zu Recht krit Becker EuR 1999, 522, 532; Reich 7 ELJ (2001), 3, 12; anders nunmehr Slg 2004, I-5257, Rn 66 ff – Orfanopoulos und Olivieri; s a Urt v 10.7.2008 Rs C-33/07 Rn 25 ff – Jipa (zu Beschränkungen aufgrund eines Rückübernahmeabkommens mit Rumänien wg in Belgien begangener Straftaten). 91 EuGH, Slg 2006, I-6047, Rn 40 – De Cuyper (Arbeitslosenunterstützung bei Auslandswohnsitz); Slg 2006, I-10451, Rn 35 ff – Tas-Hagen (Kriegsopferentschädigung); Slg 2008, I-39 Rn 26 ff – Kommission/Deutschland (Nichtgewähr der Eigenheimzulage für Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat).
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2. Politische Rechte a) Wahlrecht aa) Gemeinsame Grundsätze 48
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Durch Art 19 EGV (22 AEUV) wird Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen (Art 19 I EGV/22 I AEUV) und bei Wahlen zum Europäischen Parlament (Art 19 II EGV/22 II AEUV) im Wohnsitzstaat zuerkannt.92 Die beiden Wahlrechtsgarantien weisen unterschiedliche Bezüge zum Unionsrecht auf. Das Kommunalwahlrecht wird als eine Funktion des europäischen Freizügigkeitsrechts aufgefasst. Es soll Nachteile abbauen, die durch die Wahl eines Auslandswohnsitzes innerhalb der Union entstehen und zielt auf Gleichbehandlung im Rahmen des auf staatlicher Ebene bereits bestehenden lokalen Wahlrechts, macht also mit Blick auf Art und Inhalt der Willensbildung selbst keine Vorgaben. Verfassungsrechtlich gesehen wird die enge Bindung der staatsbürgerlichen Rechte der Wahl und des Zugangs zu öffentlichen Ämtern (Art 28 I iVm Art 20 II GG, Art 33 II GG) zugunsten einer der Mitgliedschaft in der Union geöffneten Staatlichkeit (Art 23 I GG) in bestimmten Bereichen durchbrochen. Demgegenüber spiegelt das Europawahlrecht auf der subjektiven Seite die demokratische Dimension des institutionellen Rechts der Union wider. Es nimmt eine gemeinschaftsweite, nicht nach Staatsangehörigkeit differenzierende Wählerschaft in den Blick und soll die gemeinsame politische Identität der Unionsbürgerschaft fördern. Dem versucht auch der Reformvertrag von Lissabon Rechnung zu tragen, dem zufolge sich das Europäische Parlament nicht mehr aus Vertretern der „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (Art 189 EGV), sondern der „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammensetzen soll (Art 14 II EUV-E). Beide Wahlrechtsgarantien des Art 19 EGV (22 AEUV) knüpfen am Wohnsitz an. Was unter „Wohnsitz“ zu verstehen ist und unter welchen Voraussetzungen er begründet wird, regeln die Mitgliedstaaten.93 Allerdings ist das Wohnsitzprinzip nicht streng zu verstehen. So muss auf Wunsch auch im Herkunftsstaat gewählt werden können; eine andere Auslegung des Art 19 EGV (22 AEUV) stünde mit dem übergeordneten Ziel der Art 17 ff EGV (20 ff AEUV) in Widerspruch, die Rechte der Unionsbürger zu erweitern.94 Das aktive und passive Wahlrecht bei Europawahlen darf allerdings insgesamt nur einmal ausgeübt werden; für das aktive Kommunalwahlrecht können die Mitgliedstaaten etwa für Personen mit mehreren Wohnsitzen entsprechende Regelungen erlassen.95 Soweit eine doppelte Stimmabgabe nicht zugelassen ist, haben die Mitgliedstaaten Vorkehrungen gegen Missbrauch zu treffen.96 Dagegen ist es möglich, in mehreren Mitgliedstaaten
92 Die Vorgeschichte geht bis in das Jahr 1972 zurück, s Bieber EuGRZ 1978, 203, 204. 93 Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 19 EGV Rn 8; Oliver 33 CMLRev (1996), 473, 482 f, 493; Degen DÖV 1993, 749, 756 stützt seine aA auf ein Urteil des EuGH zum – hiervon abweichenden – steuerrechtl Wohnsitzbegriff (Slg 1991, I-1943, Rn 28 – Ryborg zum „gewöhnlichen Wohnsitz“). 94 Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 19 EGV Rn 2. 95 Art 4 RL 93/109 (im Folgenden „EuropawahlRL“); Art 3 RL 94/80 (im Folgenden „KommunalwahlRL“), geändert durch Anhang II 2 D zur Beitrittsakte, ABl 2003 Nr L 236/334 (erste Osterweiterung) und RL 05/106, ABl 2006 Nr L 363/409 (Bulgarien und Rumänien). 96 Art 11 und 13 EuropawahlRL; Art 10 KommunalwahlRL.
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gleichzeitig bei Kommunalwahlen zu kandidieren. Zusätzlich können die Mitgliedstaaten weitere Voraussetzungen aufstellen, die mit dem Gleichheitssatz in Einklang stehen, dh entweder aufgrund der anderen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger erforderlich sein oder gleichermaßen für die eigenen Staatsangehörigen gelten müssen. Daher kann von Unionsbürgern verlangt werden, sich in ein Wählerverzeichnis eintragen zu lassen.97 Die Eintragung darf aber jedenfalls dann nicht für jede Wahl erneut verlangt werden, wenn die eigenen Staatsangehörigen keine entsprechende Obliegenheit trifft. Darüber hinaus gelten naturgemäß für alle gleichermaßen bestehende Anforderungen an das Mindestalter, die Mindestwohndauer, die Meldepflicht usw fort. Wo eine Wahlpflicht besteht, wie etwa in Belgien, kann diese allen Unionsbürgern auferlegt werden; allerdings besteht dann keine Pflicht, sich in die Wählerverzeichnisse eintragen zu lassen.98 Das zu Art 19 EGV (22 AEUV) erlassene Sekundärrecht ermächtigt die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen zu Ausnahmeregelungen, wenn deren besondere Schwierigkeiten dies rechtfertigen (Art 19 I 2, II 2 EGV/22 I 2, II 2 AEUV). So dürfen Länder, deren wahlberechtigte Wohnbevölkerung zu mehr als 20 % aus Unionsbürgern besteht, unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips deren Wahlrecht zugunsten ihrer Staatsangehörigen zeitweise einschränken.99 Über das Recht zu wählen und gewählt zu werden hinaus erfasst Art 19 EGV (22 AEUV) die politischen Rechte, die mit dem Wahlrecht in Zusammenhang stehen. Der Wählerschaft muss daher ein Informationsrecht und ein Recht auf Teilnahme an den Wahlkampfveranstaltungen zustehen. Für die Kandidaten knüpfen sich an das passive Wahlrecht Annexrechte wie das Recht auf Teilnahme am Wahlkampf, das einen diskriminierungsfreien Zugang zu den in staatlicher Verantwortung stehenden Medien umfasst, sowie im Erfolgsfalle das Recht auf Ausübung des Mandats. Die europäische Grundrechte-Charta bestätigt außerdem in Art 11 das Recht der freien Meinungsäußerung und auf Information sowie in Art 12 das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
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bb) Das Kommunalwahlrecht (Art 19 I EGV/22 I AEUV) Jeder Unionsbürger hat am Ort seines Wohnsitzes außerhalb des Herkunftsstaates das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des Wohnsitzstaates. Unionsbürgern wird damit die Teilhabe an der internen politischen Willensbildung in den Mitgliedstaaten auf unterster Ebene zugebilligt. Die praktische Bedeutung dieser Regelung erschließt sich bei Betrachtung der Migrationszahlen zu Beginn der 90er Jahre, als diese Regelung vereinbart wurde. Damals hatten von den etwa 325 Mio Bürgern in der Europäischen Gemeinschaft 5 Mio ihren Wohnsitz außerhalb des Herkunftsstaates,100 Inzwischen hat sich diese Zahl auf 8,2 Millionen erhöht.101 Ein Wohnsitzwechsel über die Grenzen hinweg war früher meist mit dem Verlust des kommunalen Wahlrechts verbunden.102
97 Art 9 EuropawahlRL; Art 7 KommunalwahlRL. 98 Vgl Art 7 II KommunalwahlRL. 99 Vgl Art 14 I EuropawahlRL im Hinbl auf Luxemburg; Art 12 I KommunalwahlRL für Luxemburg u einige Gemeinden Belgiens; zum Fall Luxemburgs Silvestro RMC 1993, 612, 613. 100 Degen DÖV 1993, 749. 101 Kommission Fünfter Bericht (Fn 35) S 2. 102 In Spanien und Frankreich behielten Bürger, die im Ausland lebten, das kommunale Wahlrecht, ebenso in Griechenland und Italien, doch war die persönl Anwesenheit bei der Stimmabgabe
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Für die Umsetzung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger musste das Grundgesetz geändert werden.103 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und der herrschenden Lehre ist das Volk, das nach Art 28 I 2 GG auf kommunaler Ebene eine Vertretung haben muss, ebenso wie für die Zwecke des Art 20 II GG das deutsche Volk, so dass das Wahlrecht zu den gesetzgebenden Körperschaften an die deutsche Staatsangehörigkeit gebunden ist.104 Soweit es um die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften geht, gehört dieses Junktim indes nicht zum änderungsfesten Bestand des Grundgesetzes (Art 79 III GG),105 im Wesentlichen weil diese staatsrechtlich nicht der Legislative, sondern der Exekutive zugerechnet werden.106 Das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger konnte so in Art 28 I 3 GG eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage finden. Es verletzt daher auch nicht die Rechte deutscher Wähler.107 Einzelheiten sind in der Richtlinie zum Kommunalwahlrecht geregelt, ohne die Art 19 I EGV (22 I AEUV) nicht wirksam werden konnte.108 Ihre Umsetzung, die inzwischen abgeschlossen ist, fällt in die Zuständigkeit der Länder.109 Die Kommunalwahlrichtlinie gestaltet den sachlichen Schutzbereich des Art 19 I EGV (22 I AEUV) aus. Kommunalwahlen sind nach Art 2 I lit b dieser Richtlinie die allgemeinen und unmittelbaren Wahlen, durch die die Mitglieder der Vertretungskörperschaft und der Leiter oder die Mitglieder des Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe bestimmt werden. Der Anhang zur Kommunalwahlrichtlinie bestimmt, dass unter lokalen Gebietskörperschaften in Deutschland die Gemeinde- und die Kreisebene zu verstehen ist, ferner die Stadt-, Gemeinde- oder Ortsbezirke bzw Ortschaften. Soweit Exekutivorgane wie der Landrat indirekt gewählt werden, sind die in das Wahlgremium gewählten Mitglieder aus anderen Unionsstaaten wahlberechtigt.110 Besonderheiten gelten für die Stadtstaaten. Die Richtlinie gilt in Hamburg und Berlin für die Bezirke, in Bremen
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notwendig. Andererseits hatten nur Dänemark, Irland, die Niederlande und Schweden unter näher festgelegten Voraussetzungen allen Ausländern das kommunale Wahlrecht gewährt, einige andere Mitgliedstaaten sahen dieses Recht auf der Basis der Gegenseitigkeit (so Spanien und Finnland) oder für Angehörige bestimmter anderer Staaten (so Großbritannien und Portugal) vor. Zu den Verfassungsänderungen in Frankreich Kovar/Simon CDE 1993, 285, 304 ff; in Spanien Lopez Castillo/Polakiewicz EuGRZ 1993, 277 ff; in Portugal Lopes Marinho in: Laursen/Vanhoonacker (Hrsg), The Ratification of the Maastricht Treaty, 1994, 231 ff; i Ü zur Umsetzung in den Unionsstaaten Huber in: v Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg), Handbuch Ius Publicum Europaeum Bd II, 2008, § 26 Rn 43. BVerfGE 83, 37 (Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein); 83, 60 (Hamburg); s insoweit auch Doehring FS Kutscher, 1981, S 109 ff; Quaritsch DÖV 1983, 1 ff; Isensee FS Mikat, 1989, S 705 ff; Scholz FS Dürig, 1990, S 367 ff; Huber DÖV 1989, 531 ff; aA Schmidt-Jortzig Kommunalrecht, 1982, 39 f; Zuleeg in: Zuleeg (Hrsg), Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987, 153 ff; Bryde JZ 1989, 257 ff. Vgl BVerfGE 83, 37, 59; BVerfG, NVwZ 1998, 52 = JK 2/98, GG Art 3 I/26; ebenso Papier KritV 1987, 309 ff; s a dens in: Magiera (Hrsg), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, 27 ff; Karpen NJW 1989, 1012, 1016. Vgl BVerfGE 65, 283, 289. Vgl BVerfG, NVwZ 1998, 52 = JK 2/98, GG Art 3 I/26. Fn 95; dazu Fischer NVwZ 1995, 455 ff; Schrapper DVBl 1995, 1167 ff. Näher Hasselbach ZG 1997, 49, 62 ff; Pieroth/Schmülling DVBl 1998, 365 ff; Barley Das Wahlrecht der Ausländer nach der Neuordnung des Art 28 I 3 GG, 1999, 112 ff. Vgl § 39 iVm §§ 23, 10 bad-württ LKrO; § 51 bdbg LKrO.
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für die Stadtgemeinde Bremen.111 In Österreich sind die erfassten Körperschaften die Gemeinden sowie für die Stadt Wien die Bezirke. Besonderheiten gelten für das passive Wahlrecht. Für gewählte Kandidaten aus anderen Unionsstaaten verdrängt Art 19 I EGV (22 I AEUV) insoweit Art 39 IV EGV (45 IV AEUV), der es den Staaten gestattet, Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung allein mit eigenen Staatsangehörigen zu besetzen. Allerdings begrenzt die Kommunalwahlrichtlinie in dieser Hinsicht auch den Schutzbereich. So dürfen die Mitgliedstaaten die Position des unmittelbar gewählten Leiters des Exekutivorgans, dh des Landrats, (Ober-)Bürgermeisters oder seines Vertreters sowie der Mitglieder des leitenden kollegialen Exekutivorgans, also der Beigeordneten, ihren Staatsangehörigen vorbehalten. Frankreich, auf dessen Initiative diese Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zurückgeht, hat die Ermächtigung in seiner Verfassung genutzt, da die Kommunalwahlen dort auch über die Zusammensetzung des Senates entscheiden, der an der Ausübung der nationalen Souveränität teilhat.112 Auch einige deutsche Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht.113 Im Hinblick auf die in Art 19 I 2 EGV (22 I 2 AEUV) ausformulierte Beschränkung von Ausnahmen auf den Fall besonderer Probleme eines Mitgliedstaates scheint die Vereinbarkeit dieses Vorbehalts mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht zweifelhaft.114 Die Kommission sowie die deutsche und französische Rechtsprechung gehen jedoch von der primärrechtlichen Zulässigkeit dieser Bestimmung aus.115 Exkurs: Außerhalb des Schutzbereiches des Art 19 I EGV (22 I AEUV) liegen andere gemeindeverfassungsrechtlich mögliche Formen der politischen Willensbildung wie Abstimmungen, die sich nicht auf die Wahl von Personen, sondern die Entscheidung von Sachfragen richten, insbesondere also Bürgerbegehren und Bürgerentscheide.116 Der Wortlaut des Art 19 EGV (22 AEUV) und der Kommunalwahlrichtlinie umfasst diese Beteiligungsformen jeweils nicht. Viele Länder lassen Unionsbürger zu Abstimmungen zu.117 Doch stellt sich die Frage, ob Art 28 I 3 GG, der lediglich von „Wahlen“ spricht, dies noch erlaubt. Die Homogenitätsklausel des Art 28 I 1 GG verlangt, dass die Grundprinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung in Bund und Ländern einander entsprechen. Geht man daher von der Identität des Volksbegriffs in den Art 20 II und 28 I 2 GG aus, den die letztere Bestimmung lediglich räumlich begrenzt, scheint Art 28 I 3 GG eine eng auszu-
111 Zu den Stadtstaaten Sieveking DÖV 1993, 449 ff; Barley (Fn 109) S 90 ff. 112 Vgl Art 88 III 2 iVm 24 und 3 frz Verf; dazu Benlolo Carabot Les fondements juridiques de la citoyennté européenne, 2006, 70 ff; zur Änderung der span Verfassung Fraile Ortiz El significado de la ciudadania europea, 2003, 170 ff. 113 Vgl bspw § 38 bad-württ LKrO; Art 36 I bay WahlG; § 46 sächs GO. 114 Für gemeinschaftsrechtswidrig halten diese Bestimmung Wollenschläger/Schraml BayVBl 1995, 385, 388; Hasselbach ZG 1997, 49, 56 ff; Pieroth/Schmülling DVBl 1998, 365, 367 f; dag Gundel DÖV 1999, 353, 358. 115 Siehe die Vorschlagsbegr in KOM 1994, 38 endg, S 29; BayVerfGH, BayVBl 1997, 495; die wg Nichtvorlage an den EuGH auf Art 101 I 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entsch angen, s BVerfG, NVwZ 1999, 293; nicht problematisiert vom frz Conseil constitutionnel, CC No 92–308 DC, Rec S 55 (Maastricht I), dtsch in EuGRZ 1993, 187 m Anm Walter ebd 183 ff. 116 Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 19 EGV Rn 15; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 19 EGV Rn 4. 117 Vgl zB Art 72 bad-württ Verf; § 30 hess GO; §§ 17a, 13 rh-pf GO; §§ 26, 21 GO, 7 KWahlG NW; §§ 24, 16 sächs GO; §§ 25, 20 sachs-anh GO.
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legende Ausnahmeklausel zu sein, die, da sie Abstimmungen gerade nicht erwähnt, insoweit Unionsbürgern die Teilnahme versperrt.118 Zwingend ist diese Argumentation jedoch nicht. Art 28 I 3 GG ist im Zusammenhang mit Art 23 I GG zu sehen und öffnet den deutschen Staatsaufbau für die Zwecke der Unionsbürgerschaft. Der Homogenitätsgrundsatz wird damit für die Gemeinde- und Kreisebene ohnehin durchbrochen, so dass er insoweit keine Argumente zu liefern vermag. Darüber hinaus lassen die Eigenheiten der kommunalen Demokratie eine Erstreckung der Unionsbürgerrechte auf Abstimmungen ohne weiteres zu. Die Gemeindevertretungen gehören in der Gewaltenteilung nicht zur Legislative wie die Parlamente auf Bundes- und Länderebene. Wird deren Rechtsetzungstätigkeit durch Abstimmungen ersetzt, spricht nichts dagegen, wenn auch für diese Zwecke die jeweils ansässigen Unionsbürger gemeinsam mit dem dort wohnhaften Teil des deutschen Volkes das Subjekt der Legitimation bilden. Die Teilnahme der Unionsbürger an Abstimmungen ist daher nicht verfassungswidrig.119 Eingriff: Da Art 19 I EGV (22 I AEUV) ein Behinderungs- und ein Diskriminierungsverbot errichtet, wird in dieses Recht immer dann eingegriffen, wenn die Mitgliedstaaten Hindernisse für die Ausübung des Wahlrechts errichten oder Unionsbürger ungünstiger stellen als die eigenen Staatsangehörigen. Schranken: Eine Rechtfertigung für Eingriffe kann sich allein aus der Kommunalwahlrichtlinie ergeben. Folgt man der Ansicht, der zufolge der Vorbehalt der Richtlinie für die Besetzung kommunaler Spitzenämter durch eigene Staatsangehörige gemeinschaftsrechtswidrig sei,120 so läge im Ausschluss aus der Union stammender Bewerber eine Verletzung des Art 19 I EGV (22 I AEUV). Solange sich die Umsetzungsakte im Rahmen der Richtlinie halten, ist diese Verletzung der Europäischen Gemeinschaft zuzurechnen. Da mit dieser Frage die Feststellung der Nichtigkeit eines Rechtsaktes des Rates verbunden ist, kann sie nur durch den Europäischen Gerichtshof geklärt werden (Art 230, 234 I lit b EGV/263, 267 lit b AEUV). cc) Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art 19 II EGV/22 II AEUV)
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Es ist eine natürliche Konsequenz der Einrichtung direkter Wahlen zum Europäischen Parlament, dass das aktive und passive Europawahlrecht an die Unionsbürgerschaft geknüpft ist. Bis zu deren Einführung gab es auf primärrechtlicher Ebene lediglich die unvollständige Verfahrensvorschrift des Art 190 (früher 138) EGV (223 I AEUV). Ein Wahlrecht zum Europäischen Parlament gibt es zwar schon seit dem Direktwahlakt von 1976,121 seine Ausgestaltung war und ist jedoch sehr weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen.
118 So der Bundesminister des Innern in einem Vermerk an die Länder v 30.1.1995, unv, zit bei Engelken NVwZ 1995, 432, 433 Fn 6; ferner Burkholz DÖV 1995, 816 ff; Meyer-Teschendorf/ Hofmann ZRP 1995, 290 ff; Kaufmann ZG 1998, 25, 31 f, 39; Scholz in: Maunz/Dürig (Fn 40) Art 28 Rn 41 f. 119 So auch Engelken NVwZ 1995, 432 ff; Erichsen Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl 1997, 84; Laubach (Fn 8) S 78 ff; Barley (Fn 109) S 73 ff; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 19 EGV Rn 11; zum selben Ergebnis gelangt, wer das Staatsvolk als durch Art 28 I 3 GG „europäisiert“ ansieht, s etwa Hobe JZ 1994, 191, 193 und Engelken DÖV 1996, 737 ff, oder die Wohnsitznahme als Kriterium für die Mitgliedsch in der lokalen Legitimationsgemeinschaft betrachtet, s Schmidt-Jortzig Kommunalrecht, 1982, 39 f; Zuleeg KritV 1987, 328. 120 Fn 114. 121 Entsch des Rates 76/787, ABl 1976 Nr L 278/1.
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Zudem war es bis zum In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages meist den Staatsangehörigen vorbehalten, nicht weil das Europäische Parlament staatliche Gewalt ausübte, sondern weil es eine einheitliche Regelung des Wahlverfahrens nicht gab. Schutzbereich: In personeller Hinsicht begünstigt Art 19 II EGV (22 II AEUV) seinem Wortlaut nach nur Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Der EuGH hat es den Mitgliedstaaten zugebilligt, den Kreis der Wahlberechtigten darüber hinaus auf Personen zu erweitern, die zu ihnen in einer hinreichend engen Verbindung stehen.122 Obwohl das Europawahlrecht einen gemeinschaftsunmittelbaren Anspruch auf politische Teilhabe begründet, erfasst der Wortlaut des Art 19 II EGV (22 II AEUV) hingegen Bürger, die in ihrem eigenen Staat leben, nicht. Auch sie müssen jedoch ein subjektives öffentliches Recht auf Teilnahme an der Wahl besitzen, da es nicht in der Absicht des Art 19 II EGV (22 II AEUV) liegt, Bürger mit Auslandswohnsitz zu privilegieren.123 Zudem unterfallen die Wahlen zum Europäischen Parlament Art 3 1. ZP EMRK, der über Art 6 EUV (6 EUV-E) zum Verfassungsrecht der Union gehört.124 Danach sind die Konventionsstaaten verpflichtet, freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, die die „freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten“. Der Schutzbereich des Art 19 II EGV (22 II AEUV), der aus sich heraus nicht unmittelbar anwendbar ist, wird durch die Europawahlrichtlinie ausgestaltet, die in Deutschland durch Änderung des Europawahlgesetzes und der Europawahlordnung umgesetzt wurde.125 Zusammen mit dem Europawahlakt nebst innerstaatlichem Umsetzungsrecht stellt sie die Modalitäten für die Ausübung des Wahlrechts auf.126 Die Europawahlrichtlinie schafft auch weiterhin kein einheitliches Verfahren, sondern beschränkt sich auf die mit dem subjektiven Wahlrecht verbundenen Fragen wie das Antragsprinzip oder den Ausschluss mehrfacher Wahl und Kandidatur. Eingegriffen wird in dieses Recht, wenn Unionsbürger an der Wahl gehindert oder ihnen die Teilnahme durch Bedingungen unangemessen erschwert wird, die für Inländer nicht oder nicht in gleicher Schwere gelten. Schranken: Die Europawahlrichtlinie gestaltet das Wahlrecht nicht nur aus, sie ermächtigt die Mitgliedstaaten auch zu Einschränkungen. Dies gilt etwa für den Ausschluss vom Wahlrecht im Herkunftsland, der durch den Aufenthaltsstaat anzuerkennen ist. Durch die Wahlberechtigung im Wohnsitzstaat wird das Bild des „Volkes“ verändert. Die Italienerin, die in Deutschland lebt, gehört für die Zwecke des Europawahlrechts zum deutschen Volk und bestimmt die Besetzung der Sitze mit, die Deutschland im Europäischen Parlament zustehen (Art 190 II EGV/14 II EUV-E). Diese zuweilen als befremdlich
122 EuGH, Slg 2006, I-7917, Rn 76 – Spanien/Großbritannien (Europawahlrecht in Gibraltar); dazu Bourgorgue-Larsen 43 RTDE (2007), 25 ff; Besselink 45 CMLRev (2008), 787 ff. 123 EuGH, Slg 2006, I-8055, Rn 57 – Eman und Sevinger; danach ist es aufgrund der Besonderheiten des Assoziationsrechts denkbar, Bewohner der überseeischen Gebiete iSd Art 299 III EGV (Art 355 II AEUV) vom Europawahlrecht auszuschließen, doch müssen Ungleichbeh ggü den übrigen Wahlberechtigten obj gerechtf sein. Der EuGH leitet dies nicht aus Art 3 1. ZP EMRK, sondern aus dem ungeschriebenen allgem gemeinschaftsrechtl Diskriminierungsverbot ab. 124 Sartorius II Nr 131; s EGMR, HRLJ 1999, 4 Rn 52, dtsch NJW 1999, 3107 – Matthews; dazu Winkler EuGRZ 2001, 18 ff. 125 Drittes G zur Änderung des EuropawahlG, BGBl I 1994, 405, 419; Zweite VO zur Änderung der Europawahlordnung, BGBl I 1994, 525, 544; dazu Borchmann NJW 1994, 1522 f. 126 S Rn 48.
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empfundene Konsequenz nähert das Prinzip nationaler Stimmkontingente der Mitgliedstaaten der Zielvorstellung einer europäischen Legitimationsgemeinschaft für die Bereiche an, in denen die Union zuständig ist.127 Die Bedeutung des Art 19 II EGV (22 II AEUV) und seiner Umsetzungsbestimmungen liegt jedoch in der subjektiven Komponente dieser Gewährleistung,128 die auf anderer Ebene Art 38 I GG entspricht. Beide Aktivbürgerrechte sind in ihrem Wert von den Kompetenzen der jeweiligen Parlamente abhängig. Daher sollten sie einander korrespondieren, denn die Unionsbürgerschaft muss um Partizipationsrechte in dem Maße ergänzt werden, in dem die Staatsbürger wegen der Kompetenzverluste nationaler Parlamente in ihren Mitgliedstaaten an Einfluss verloren haben. Der Wert des Wahlrechts der Unionsbürger ist also letztlich von den Befugnissen des Europäischen Parlaments abhängig.129 b) Petitionsrecht (Art 21 iVm 194 bzw 195 EGV/24 II, III iVm 227 bzw 228 AEUV) 67
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Nach Art 21 I EGV (24 II AEUV) besitzt jeder Unionsbürger das Recht, gem Art 194 EGV (227 AEUV) Petitionen an das Europäische Parlament zu richten. Seine Bedeutung für die Unionsbürgerschaft wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass das Petitionsrecht im Verfassungsstaat die Funktion einer Verbindung zwischen Bürger und Volksvertretung erfüllt. Es eröffnet neben dem Wahlrecht eine weitere, wenn auch letztlich marginale Chance auf aktive Teilnahme am politischen Geschehen und soll die Integration fördern.130 Zugleich bietet es die Gelegenheit, Interessen und Rechte außerhalb der Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren zu verfolgen, naturgemäß ohne ein Recht auf einen Bescheid zu gewähren, der sich in der gewünschten Weise zur Sache einlässt. Je nachdem, wie sehr dieser Rechtsschutzaspekt betont wird, erkennen staatliche Verfassungen dieses Recht auch anderen Staatsangehörigen zu. Diesem Modell folgt auch Art 194 EGV (227 AEUV), dem gegenüber Art 21 EGV (24 II AEUV) keine selbstständige Bedeutung besitzt, und der das Petitionsrecht nicht nur Unionsbürgern, sondern allen Personen mit Wohnort oder Sitz in einem Mitgliedstaat zugesteht.131 Während das Petitionsrecht zum Parlament eher politischen Charakter hat, steht beim Recht, sich an einen Bürgerbeauftragten zu wenden (Art 21 II iVm Art 195 EGV/24 III, 228 AEUV), die Rechtsschutzfunktion im Vordergrund. Beide Verfahren schließen einander nicht aus. Der Bürgerbeauftragte hat die Aufgabe, behauptete Missstände in der Tätigkeit der in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Stellen zu überprüfen. Damit bildet die Einrichtung des Bürgerbeauftragten, der Untersuchungen führt, Stellungnahmen einholt und Berichte vorlegt, eine Form der Verwaltungskontrolle, die die Transparenz des
127 Gg die Gleichheit der Wahl nach dem GG verstößt dies nicht, vgl BVerfG, EuGRZ 1995, 566. 128 Vgl Kovar/Simon CDE 1993, 285, 307. Das erklärte Ziel, die Wahlbeteiligung zu steigern, wurde allerdings bisher nicht erreicht. Das Interesse der Unionsbürger an der Europawahl ist v a in Deutschland und Frankreich, wo der größte Teil des berechtigten Personenkreises lebt, sehr gering. Die Wahlbeteiligung der nicht im Herkunftsland lebenden Wahlberechtigten liegt europaweit bei knapp 12 %, mit leicht steigender Tendenz, Bei den Wahlen 2004 wurden 57 Kandidaten außerhalb ihres Herkunftsstaates aufgestellt, drei von ihnen wurden in das Europäische Parlament gewählt; s Kommission, Fünfter Bericht (Fn 35) S 7. 129 Everling ZfRV 1992, 241, 255 f; Kadelbach in: Drexl (Hrsg), Europäische Demokratie, 1999, 89, 107 f. 130 Vgl Bauer in: Dreier (Hrsg), GG, Art 17 Rn 13. 131 So Art 17 GG, Art 28 belg, Art 10 griech, Art 27 lux, Art 8 niederl Verf.
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Verwaltungshandelns der Gemeinschaftsorgane erhöhen soll. Maßstab dieser Kontrolle sind die Grundsätze guter Verwaltungspraxis, auf deren Einhaltung ebenfalls ein subjektives Recht besteht (Art 41 GRCh).132 Der sachliche Schutzbereich des Petitionsrechts wird in den Art 194 und 195 EGV (227 und 228 AEUV) beschrieben. Gegenüber dem Parlament, das zu diesem Zweck einen Petitionsausschuss eingerichtet hat,133 bezieht es sich danach auf alle Angelegenheiten der Gemeinschaft, gegenüber dem Bürgerbeauftragten darüber hinaus auch auf Angelegenheiten der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art 41 I EUV). Die Praxis des Parlaments dehnt das Petitionsrecht über den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft auf die Tätigkeit der Union insgesamt aus (so jetzt auch Art 227, 228 AEUV).134 Der Petent muss in eigenen Angelegenheiten betroffen sein. Zwar verfährt die Praxis insoweit großzügig, weist aber viele Petitionen als unzulässig zurück.135 Jeder hat ein Recht darauf, dass seine Petition entgegengenommen, geprüft und beantwortet wird. Dagegen kann Abhilfe auch dann nicht verlangt werden, wenn ein Anliegen als berechtigt anerkannt wird. In den Schutzbereich wird also nur eingegriffen, wenn eine Petition nicht angenommen, nicht bearbeitet oder nicht beantwortet wird. In diesem Fall steht dem Petenten die Untätigkeitsklage vor dem EuG offen (Art 232 EGV/265 AEUV). Konkret formulierte Schranken, wie sie Art 17a I GG entsprechen, kennt das Gemeinschaftsrecht nicht, doch sind Kollisionen mit Grundrechten, etwa dem Persönlichkeitsrecht Dritter, vorstellbar.
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c) Informationsrecht (Art 21 III EGV/24 IV AEUV) Der Anspruch, sich schriftlich in einer der in Art 314 EGV (55 EUV-E) genannten Sprachen an jedes Organ der Gemeinschaft (Art 7 EGV/40 I EUV-E)136 oder den Bürgerbeauftragten zu wenden und in der gewählten Sprache eine Antwort zu erhalten (Art 21 III EGV/24 IV AEUV), ergänzt das Petitionsrecht. Sinn der Regelung ist es vor allem, dass sich jeder Unionsbürger seiner Muttersprache bedienen kann, auch wenn im Rahmen des Art 314 EGV (55 EUV-E) niemand auf diese festgelegt wird. Der sachliche Schutzbereich umfasst jede Art von Anfragen, Auskunftsersuchen, formlose Anträge, Stellungnahmen und Petitionen. Dagegen ist fraglich, wie die Antwort, auf die gleichfalls ein Anspruch besteht, auszufallen hat. Das Unionsziel der Bürgernähe und Transparenz (Abs 12 Präambel und Art 1 II EUV, 255 EGV/Abs 15 Präambel und Art 1 EUV-E, 15 AEUV) spricht dagegen, Art 21 III EGV (24 IV AEUV) als reine Gewährleistung des Sprachengebrauchs zu verstehen. Die Bescheidung muss also der Anfrage Rechnung tragen. Komplexere Fragen können durch Verweis auf die einschlägigen Dokumente beantwortet werden (s Art 255 EGV/15 AEUV). Mit dieser Maßgabe gewährt Art 21 III EGV (24 IV AEUV) auch einen Anspruch auf Auskunft.137 Im Einzelnen hängt ihr Inhalt von der
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Guckelberger DÖV 2003, 829, 835 f; Tsadiras 32 ELR (2007), 607 ff. Anlage VI Ziff XVII GO EP, ABl 1999 Nr L 202/1; vgl Art 192 GO EP. Art 191 GO EP. Im Jahr 2006 waren von 1021 Petitionen nur 667 zulässig; die numerische Bedeutung ist nach absoluten Zahlen vergleichsw gering, aber stabil, vgl Kommission Fünfter Bericht (Fn 35), S 9 f. 136 Vgl EuGH, Slg 2003, I-8283 – Kik. 137 In diese Richtung Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 21 EGV Rn 2; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 21 EGV, Rn 4; Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 21 EGV Rn 1; aA Geiger EUV/EGV, Art 21 EGV Rn 2.
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Art der Eingabe ab, aber auch von den Interessen Dritter oder anderer Mitgliedstaaten, die die befasste Stelle zu wahren hat. Die Geheimhaltungspflicht (Art 287 EGV/339 AEUV) setzt dem Anspruch auf Antwort Schranken. d) Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 255 EGV/15 AEUV) 71
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In engem Zusammenhang mit den Gewährleistungen der Art 19 und 21 EGV (22 und 24 AEUV) steht der Anspruch auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane (Art 255 EGV/künftig: alle Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, wobei für EZB, EIB und EuGH Privilegierungen gelten, Art 15 III AEUV). Das Informationsrecht bildet eine Voraussetzung für die Teilnahme am öffentlichen Meinungsbildungsprozess, stellt aber auch einen Weg zur Kontrolle der Verwaltung durch die Öffentlichkeit zur Verfügung.138 Dieses Recht hatte seinen Sitz zunächst in Selbstverpflichtungen der Organe, nimmt aber inzwischen Verfassungsrang ein und wird in einer auf Art 255 II EGV (entspricht 15 III 2 AEUV) gestützten Verordnung näher ausgestaltet.139 Schutzbereich: Der Kreis der Berechtigten ist ebenso wenig wie bei den Rechten aus Art 21 EGV (24 II–IV AEUV) auf die Unionsbürger beschränkt. Adressaten dieses Anspruchs sind Parlament, Rat und Kommission sowie die von ihnen eingesetzten oder zu ihrer Unterstützung tätigen Ausschüsse.140 Inhaltlich gewährleistet er ein Recht darauf, dass im Besitz der Gemeinschaftsorgane befindliche Dokumente auf ein entsprechendes Ersuchen hin zugänglich gemacht werden, ohne dass hierfür ein besonderes Interesse nachzuweisen ist. Der Zugang kann durch Hinweis auf die amtliche Fundstelle, Übersendung von Kopien oder auf elektronischem Wege gewährt werden. Schranken: Dem dürfen nur die in der benannten Verordnung aufgeführten Geheimhaltungsinteressen entgegengehalten werden, die nach der ständigen Rechtsprechung des EuG und des EuGH als Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind.141 Hierzu zählen zwingend öffentliche Interessen wie die öffentliche Sicherheit, Verteidigung, auswärtige Beziehungen sowie die Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik, ferner der Schutz der Privatsphäre, wie er sich insbesondere aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über den Datenschutz ergibt (künftig im Primärrecht verankert, Art 16 AEUV).142 Darüber hinaus wird der Zugang verweigert, wenn der Schutz geschäftlicher Interessen, insbesondere das geistige Eigentum, der Schutz eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Untersuchungsverfahrens entgegenstehen. Schließlich besteht kein Recht auf Zugang zu
138 Österdahl 23 ELRev (1998), 336 ff; Curtin 37 CMLRev (2000), 7 ff; Kadelbach in: SchmidtAßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg), Verwaltungskontrolle, 2001, 205, 220 f; zum Zusammenh mit der Unionsbürgerschaft EuGH, Slg 2003, I-2125 Rn 39 – Interporc. 139 VO 01/1049 – Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission; dazu Partsch NJW 2001, 3154 ff; de Leeuw 40 CMLRev (2003), 324 ff; s auch den Vorschlag für eine neue VO in KOM (2008) 229 endg und den Verhaltenskodex zu Bez mit Interessenvertretern iR der Transparenzinitiative der Kommission in KOM (2008) 323 endg. 140 Zum Komitologie-Verfahren EuG, Slg 1999, II-2463 – Rothmans International. 141 Zur Rspr Kadelbach 38 CMLRev (2001), 179 ff; Heliskoski/Leino 43 CMLRev (2006), 735 ff. 142 Art 4 I der VO 01/1049 (Fn 139) iVm der RL 95/46 – Schutz natürl Personen bei der Verarbeitung personenbez Daten und zum freien Datenverkehr und dem nat Umsetzungsrecht; zum europ Datenschutz Siemen Datenschutz als europäisches Grundrecht, 2006.
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vorläufigen Dokumenten oder solchen Informationen, die nur mit Zustimmung eines Mitgliedstaates verbreitet werden dürfen.143
3. Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art 20 EGV/23 AEUV) a) Normzweck und Wirkung Art 20 EGV (23 AEUV) sichert jedem Unionsbürger „diplomatischen und konsularischen Schutz“ in Drittstaaten durch andere Mitgliedstaaten der Union zu, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dort nicht vertreten ist. Diese Vorschrift führt keinen Schutzanspruch gegen die Union selbst ein,144 der es dazu an Ressourcen und Kompetenzen fehlt. Die Kooperation diplomatischer und konsularischer Vertretungen, die schon nach geltendem Völkerrecht möglich ist,145 bildet jedoch einen Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art 20 EUV/35 EUV-E). Art 20 EGV (23 AEUV) bringt so die gemeinsame Verantwortung der Mitgliedstaaten für alle Unionsbürger zum Ausdruck. In Art 20 S 2 EGV (23 I 2 AEUV) haben die Mitgliedstaaten vereinbart, die notwendigen völkerrechtlichen Schritte zu unternehmen, Art 20 EGV (23 AEUV) ist wegen des hierdurch eröffneten intergouvernementalen Handlungsspielraums aus sich heraus nicht unmittelbar wirksam.146 Die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten haben daher in verschiedenen Beschlüssen gemeinsame konkretisierende Regelungen getroffen,147 die der Übernahme in innerstaatliches Recht bedürfen. Dies ist bisher noch nicht geschehen.148 Da es sich bei diesen Beschlüssen nicht um Gemeinschaftsrecht handelt, das der Gerichtsbarkeit des EuGH unterliegt, kommt eine Direktwirkung auch insoweit nicht in Betracht.149 Somit fehlt es nach wie vor an der Rechtsverbindlichkeit der
143 Siehe aber EuGH Slg 2007, I-11389 – Schweden/Kommission. 144 Vgl EuG, Slg 1995, II-2025, Rn 77 – Odigitria; umf Storost Diplomatischer Schutz durch EG und EU?, 2005. 145 Art 8 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen v 24.4.1963 (WÜK), Sartorius II Nr 326. 146 Closa 32 CMLRev (1995), 487, 502 f; Kaufmann-Bühler in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 3; aA Everling in: Hrbek (Fn 6) S 49, 62; Ruffert 35 ArchVR (1997), 459, 471 f; Szczekalla EuR 1999, 325, 327 f; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 20 EGV Rn 11. 147 S Beschluss 95/553 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, ABl 1995 Nr L 314/73, i Kr seit 3.5.2002, s Kommission, Gesamtbericht; über die Tätigkeit der EU 2002, Ziff 513; Beschluss über die von den Konsularbeamten anzuwendenden Durchführungsbestimmungen, unv Beschluss 96/409 über die Ausstellung eines Rückkehrausweises, ABl 1996 Nr L 168/4, die wegen ihres restriktiven Gehalts Kritik erfahren haben, s Ruffert 35 ArchVR (1997), 459, 466 ff, der sie für gemeinschaftsrechtswidrig hält; zur Reform s Kommission, Grünbuch Der diplomatische und konsularische Schutz des Unionsbürgers in Drittländern, ABl 2007 Nr C 30/8. 148 Entg den Ang in Kommission Vierter Bericht (Fn 35) S 9, denen zufolge die zu Art 21 EGV erlassenen Beschl (Fn 147) in allen Mitgliedstaaten implementiert worden seien, ist dies jedenfalls nach deutschem Recht bis zum 30.11.2008 nicht der Fall gewesen, s Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse – Konsulargesetz, Sartorius I Nr 570, insbes § 5 II; zu Recht krit Giegerich in Schulze/Zuleeg ER § 9 Rn 102; Art 23 II AEUV, der eine neue Rechtsetzungsbefugnis „für Richtlinien zur Festsetzung der notwendigen Koordinierungs- und Kooperationsmaßnahmen“ schafft, könnte dem abhelfen. 149 Anders Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 16 f.
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in Art 20 EGV (23 AEUV) versprochenen Ansprüche. Zusätzlich zu den unionsinternen Maßnahmen bedarf es jeweils einer Zustimmung der Drittstaaten, denen gegenüber der diplomatische und konsularische Schutz in der vorgesehenen Weise wirksam werden soll. Sie kann auch für den konkreten Fall konkludent erteilt werden.150 Die Wirksamkeit des Schutzanspruchs hängt von ihr hingegen nicht ab. b) Schutzbereich 76
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Konsularischer Schutz besteht üblicherweise in der Unterstützung eigener Staatsangehöriger, Schiffe und Luftfahrzeuge im Ausland durch Verwaltungstätigkeit der Konsulate, etwa das Ausstellen von Ausweispapieren, die Wahrnehmung notarieller und standesamtlicher Aufgaben, die Interessenwahrung in Nachlass-, Vormundschafts- und Pflegschaftssachen, die Vertretung vor Gericht, die Übermittlung von Urkunden und die Erledigung von Rechtshilfeersuchen.151 Unter diplomatischem Schutz versteht man dagegen die Wahrnehmung der Interessen eigener Staatsangehöriger oder staatszugehöriger juristischer Personen nach Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch einen anderen Staat, insbesondere bei Unterschreitung der gewohnheitsrechtlichen Standards, die bei der Behandlung von Ausländern im Hinblick auf deren Leben und körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Eigentum und gerichtlichen Schutz einzuhalten sind.152 Diplomatischer Schutz im technischen Sinne konnte bisher – von hier nicht interessierenden, eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – allein durch die Regierung des Staates ausgeübt werden, dem der Geschädigte angehört. Durch diesen Vorgang wird nach vorherrschendem Verständnis zwischen den Staaten nicht ein individueller, sondern ein staatlicher Anspruch geltend gemacht.153 In diesem völkerrechtlichen Sinne ist Art 20 EGV (23 AEUV) jedoch trotz seiner scheinbar eindeutigen Ausdrucksweise schon seinem Wortlaut nach nicht zu verstehen. Denn weder ist für die Ausübung diplomatischen Schutzes eine Vertretung des Heimatstaates des Geschädigten im Schädigerstaat erforderlich, noch muss dies in dessen Hoheitsgebiet (Art 20 S 1 EGV/23 AEUV) geschehen. Wie die Fassungen der übrigen Vertragssprachen (Art 314 EGV/55 EUV-E) belegen, sollte sich Art 20 EGV (23 AEUV) vielmehr auf Schutz durch diplomatische und konsularische Vertretungen beziehen (engl „protection by diplomatic or consular authorities“, frz „protection de la part des autorités diplomatiques et consulaires“ usw).154 Dadurch erfasst Art 20 EGV 150 Zum bish übl Verf in derart Fällen s Art 8 WÜK (Fn 145), der eine „angemessene Notifikation“ und das Ausbl eines Einspr durch den Empfangsstaat verlangt. 151 Siehe die Aufz in Art 5 WÜK (Fn 145), ferner §§ 1–17 KonsG (Fn 148). 152 I Einz Gloria in: Ipsen, VR § 24 Rn 32 ff; Hailbronner in: Graf Vitzthum, VR 157, 201 ff. 153 Es sind also drei Anspruchsebenen zu unterscheiden: Der Ersatzanspr des Geschädigten ggü dem verantwortl Staat, der sich nach dessen innerstaatl Recht bemisst; der völkerrechtl Entschädigungsanspr des Herkunftsstaates des Geschädigten gg den Schädigerstaat; und schließlich ein denkbarer Anspr des Geschädigten gg seinen Herkunftsstaat, ggü dem Schädigerstaat diplomatischen Schutz auszuüben, der dem innerstaatl Recht des Herkunftsstaates unterliegt. 154 So auch die Intention der Staaten, die sich bei den Vertragsverh durchgesetzt haben, s Jiménez Piernas Revista de las Instituciones Europeas 20, 1993, 9, 18; Weyland in: Marias (Fn 11) S 63, 64; zutr daher Ruffert 35 ArchVR (1997), 459, 465, 472, 476; Kluth in: Calliess/Ruffert, EUV/ EGV, Art 20 EGV Rn 7, 11; aA Haag in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 6; Geiger EUV/EGV Art 20 EGV Rn 1; Koenig/Haratsch ER, Rn 467; Hatje in: Schwarze, EUV, Art 20 EGV Rn 9; Hilf in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 20 EGV Rn 15; s auch Stein in: Ress/Stein (Hrsg), Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996, 97 ff.
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(23 AEUV) zwei Schutzformen, die sich in der Praxis nicht immer klar trennen lassen. Zum einen regelt er den konsularischen Schutz. Durch den Hinweis auf diplomatische Vertretungen wird dabei dem Umstand Rechnung getragen, dass diese auch Konsularaufgaben wahrnehmen können.155 Zum anderen geht der Schutz nach Art 20 EGV (23 AEUV) aber insoweit über rein konsularische Aufgaben hinaus, als er Maßnahmen einschließt, die mit diplomatischem Schutz im völkerrechtlichen Sinne zusammenhängen und vor Ort erbracht werden müssen oder können wie die Abgabe rechtswahrender Erklärungen, die Übergabe von Dokumenten, den Einsatz für die Freilassung Inhaftierter, Hilfe bei der Ausschöpfung des Rechtswegs usw. Schutzzweck des Art 20 EGV (23 AEUV) ist es also, Angehörigen anderer Unionsstaaten in Drittländern unter denselben Bedingungen Schutz und Hilfe zu verschaffen, die auch für die eigenen Staatsangehörigen gelten. Hierbei wurde vor allem an akute Notlagen gedacht, etwa an die Hilfe nach Verlust von Ausweisen und Reisedokumenten.156 Die potenzielle praktische Bedeutung ist schon angesichts des Massenphänomens Ferntourismus erheblich. Zurzeit gibt es nur drei Staaten, mit denen alle 27 Mitgliedstaaten der EU diplomatische Bezeihungen unterhalten, in 107 Drittländern sind höchstens zehn Mitgliedstaaten vertreten.157 Die Relevanz könnte weiter zunehmen, da Art 20 EGV (23 AEUV) Einsparungen durch den Abbau bestehender Vertretungen ermöglicht. Personell wird der Schutzbereich durch die Unionsbürger und die einem Unionsstaat zugehörigen juristischen Personen des privaten Rechts bestimmt.158 Allerdings macht das allgemeine Völkerrecht hier gewisse Einschränkungen. So muss die Staatsangehörigkeit auch effektiv sein. Diplomatischer Schutz von Doppelstaatlern gegen einen Staat, dessen Angehörigkeit der Schutzsuchende besitzt, galt lange als ausgeschlossen und ist jedenfalls dann problematisch, wenn die Staatsangehörigkeit des schädigenden Staates die effektive ist. Der Schutz durch einen anderen als den Herkunftsstaat ist subsidiär. Unterhält dieser eine Vertretung, kommt ihm der Vorrang zu; weder kann ein anderer Unionsstaat ohne dessen Zustimmung tätig werden, noch hat der Schutzsuchende ein Wahlrecht. Allerdings muss bei akuten Gefahren effektiv gehandelt werden können. Unterhält etwa ein Unionsstaat in einer entlegenen Provinz ein Konsulat, andere aber nicht, wird er, soweit möglich im Einvernehmen mit dem Heimatstaat, die erforderliche Hilfe gewähren müssen, wenn Personal des Heimatstaates nicht rechtzeitig erreicht werden kann.
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c) Eingriffe und Schranken Ansprüche der Unionsbürger richten sich auf Gleichbehandlung, gehen also nicht weiter als die der Angehörigen des schutzpflichtigen Mitgliedstaates.159 Die unterschiedlichen Schutzstandards bleiben somit erhalten. Damit wird in den Schutzbereich eingegriffen,
155 Art 3 S 2 WÜK (Fn 145); s a Art 3 II des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen v 18.4.1961, Sartorius II Nr 325. 156 S die „Guidelines for the Protection of Unrepresented EC Nationals by EC Missions in Third Countries“, veröff als Dok 7142/94, PESC 161, COCON 2 des Generalsekretariats des Rates v 24.5.1994; Art 5 I Beschluss 95/553 (Fn 147). 157 VR China, Russland und die USA, s Kommission Grünbuch (Fn 147) S 9; Fünfter Bericht (Fn 35) S 9. 158 Fn 34. 159 Eine Direktwirkung ließe sich insoweit über Art 12 EGV herstellen, s Kleinlein/Rabenschlag ZaöRV 67 (2007), 1277, 1314 f.
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wenn ein Mitgliedstaat Unionsbürger schlechter behandelt als die eigenen Staatsangehörigen. Schranken ergeben sich aus dem allgemeinen Völkerrecht, den in Art 20 S 2 EGV (23 I 2 AEUV) benannten konkretisierenden Bestimmungen und dem innerstaatlichen Recht, auf das Art 20 S 1 EGV (23 AEUV) durch das Gebot der Inländerbehandlung verweist. Nach deutschem Recht steht dem Einzelnen lediglich ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung zu, der sich aus den Grundrechten in ihrer Funktion als Schutzpflichten des Staates ergibt.160 Die Schranken liegen in anderen verfassungsrechtlich anerkennenswerten Interessen. Allerdings spielen außenpolitische Belange, die bei der Ausübung diplomatischen Schutzes im technischen Sinne ein weites Ermessen des Auswärtigen Amtes rechtfertigen, in Konsularangelegenheiten eine sehr viel geringere Rolle, so dass sich der Schutzanspruch dann auch auf bestimmte Maßnahmen richten kann. Eine Rechtsverletzung liegt dann vor, wenn diese unterbleiben. d) Rechtsschutz
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Für den gerichtlichen Schutz ergeben sich aus Art 20 EGV (23 AEUV) einige Besonderheiten. Solange die Mitgliedstaaten keine Umsetzungsmaßnahmen treffen, kommt Art 20 EGV (23 AEUV) kein wirksamer Gewährleistungsgehalt zu. Die Frage nach seiner Klagbarkeit ist daher derzeit weitgehend theoretischer Art. Vertritt man indes die Ansicht, Art 20 EGV (23 AEUV) sei unmittelbar wirksam, sind Klagen wegen Verletzung der Schutzpflichten aus Art 20 EGV (23 AEUV) vor den nationalen Gerichten in Betracht zu ziehen. Unabhängig von der Frage der Direktwirkung sind vor den mitgliedstaatlichen Gerichten Schadensersatzansprüche nach den Grundsätzen der mitgliedstaatlichen Haftung für die fehlerhafte Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrecht denkbar,161 da die Mitgliedstaaten Art 20 EGV (23 AEUV) trotz Fristsetzung zum 31.12.1993 in Art 8c EGV aF nicht umgesetzt haben. Zweifelsfragen zu Wirkung und Gewährleistungsgehalt des Art 20 EGV (23 AEUV) sind durch Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art 234 EGV (267 AEUV) zu klären.
4. Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV/18 AEUV) 83
Fall 2: (vgl EuGH, Slg 1998, I-2691 ff – Martínez Sala): Die 1956 geborene S besitzt die spanische Staatsangehörigkeit und lebt seit 1968 in Deutschland, wo sie verschiedenen abhängigen Berufstätigkeiten nachging. Seit 1989 bezieht sie Sozialhilfe. Bis 1984 erhielt sie Aufenthaltserlaubnisse, seither jedoch lediglich Bescheinigungen, dass eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragt sei. Im Januar 1993 beantragte sie beim Freistaat Bayern Erziehungsgeld für ihr im selben Monat geborenes Kind. Das BErzGG162 spricht eine solche Leistung jedem zu, der mit einem Kind, für das ihm das Sorgerecht zusteht, in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst erzieht und keine
160 Vgl BVerfGE 40, 141, 177 f – Ostverträge; 41, 126, 182 – Reparationsschäden; 55, 349, 364 f – Heß; NJW 1992, 3222, 3223 – dtsch/poln Grenzvertrag = JK 2/93, GG Art 14 I/31; ferner BVerwGE 62, 11, 14; eing Hofmann Grundrechte und grenzüberschr Sachverhalte, 1993, 107 ff. 161 Vgl EuGH, Slg 1996, I-1029 ff – Brasserie du pêcheur = JK 10/96, EGV Art 5/1. 162 Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (BErzGG, BGBl I 1985, 2154); Erziehungsgeld ist eine betragsunabh Lstg, für deren Bezug es auf die pers Bedürftigkeit nicht ankommt.
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oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Der Freistaat Bayern lehnte diesen Antrag unter Hinweis auf das Fehlen einer Aufenthaltserlaubnis ab. Das BErzGG verlangt für die Bewilligung einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, für Ausländer eine Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis. Nach der VO 68/1612 genießen alle Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer. Nach VO 71/1408 (inzwischen weitgehend durch VO 04/883 ersetzt) bezieht sich die Gleichstellung auch auf Familienleistungen. Das zuständige Landessozialgericht hat Zweifel, ob diese Regelungen auf S anwendbar sind. Es will wissen, ob die Verweigerung von Erziehungsgeld mit dem EG-Vertrag in Einklang steht.163
a) Das Verhältnis des Gleichheitssatzes zu den Unionsbürgerrechten Die meisten der Unionsbürgerrechte zielen auf eine Gleichstellung von Angehörigen anderer Unionsstaaten mit den Inländern ab. Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das in allgemeiner Form in Art 12 EGV (18 AEUV) aufgestellt worden ist, steht daher – wie überhaupt die Gleichheit vor dem Recht – mit der Unionsbürgerschaft in direktem Zusammenhang.164 Auch wenn einsichtig ist, dass den Unionsbürgerrechten und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot gemeinsame Rechtsgedanken zugrunde liegen, muss doch das Verhältnis der Art 17 ff EGV (20 ff AEUV) zu Art 12 EGV (18 AEUV) genauer betrachtet werden. Nach Art 12 EGV (18 AEUV) ist „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages … in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“. Der Schutzgehalt dieses Diskriminierungsverbotes bezieht sich also auf den Anwendungsbereich des EG-Vertrages, doch bleiben spezielle Gleichheitssätze unberührt. Die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft gehören zum „Anwendungsbereich“ des Art 12 EGV (18 AEUV). Andererseits verweist Art 17 II EGV auf die „in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten“ (Art 20 II AEUV: „in den Verträgen“), zu denen auch Art 12 EGV (18 AEUV) gehört.165 Daraus hat der EuGH die Schlussfolgerung gezogen, dass sich Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Unionsstaates aufhalten, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des EG-Rechts
163 Zu Familienlstgen heute Art 3 I lit j VO 04/883 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Sartorius II Nr 185; darunter fällt auch das Erziehungsgeld, s EuGH, Slg 1996, I-4895 ff – Hoever und Zachow (noch zur VorgängerVO 71/1408); zur Zuordnung zum Begriff der soz Vergünstigung nach Art 7 II VO 68/1612 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Sartorius II Nr 180; EuGH, Slg 1993, I-817, Rn 21 – Kommission/ Luxemburg. 164 Schönberger (Fn 65) S 385 ff; Epiney FS Bieber, 2007, S 661 ff. Die Kommission zählt daher die Initiativen der Union gg Diskriminierung auch aus anderen Gründen als der Staatsangehörigkeit, zu denen Art 13 EGV (19 AEUV) ermächtigt, zum Politikbereich der Unionsbürgerschaft, s Dritter Bericht (Fn 29) S 4, 26 ff. Dies kann naturgem kein ausnahmsloses Recht auf Gleichh bedeuten; Ungleichbeh, die sich aus der Verschiedenheit der nat Rechtsordnungen ergeben (zum Steuerrecht Slg 2004, I-7173 – Lindfors; Slg 2005, I-6421, Rn 34 – Schempp), sind nicht rechtfertigungsbed. Ferner kann das Sekundärrecht Ungleichbeh zulassen, s zum europ Haftbefehl Urt v 17.7.2008 Rs C-66/08 – Kozlowski. 165 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 62 – Martínez Sala.
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erfassten Fällen auf Art 12 EGV (18 AEUV) berufen können.166 Aus diesem Gedanken ergeben sich weitreichende Konsequenzen. b) Reichweite des unionsbürgerlichen Teilhaberechts aus Art 12 (18 AEUV) iVm 17 bzw 18 EGV (20 bzw 21 AEUV) 86
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Soziale Rechte waren im Unionsrecht bisher davon abhängig, dass der Empfänger zu einem bestimmten Zeitpunkt in dem betreffenden Mitgliedstaat erwerbstätig oder Angehöriger einer solchen Person war. Vergleichbares gilt für Unionsbürger, die sich in Ausbildung, auf Arbeitssuche oder im Ruhestand befinden. In seiner neuen Rechtsprechung entkoppelt der EuGH die Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherheit und ähnliche Vergünstigungen von den Aufenthaltstiteln, die mit den Grundfreiheiten in Zusammenhang stehen, und stellt unter Verweis auf die Unionsbürgerschaft zunächst auf den rechtmäßigen Aufenthalt ab.167 Dabei soll es dem EuGH zufolge auf die Frage, ob das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger in Art 18 EGV (21 AEUV) bereits aus sich heraus ein solches Aufenthaltsrecht vermittelt, nicht ankommen.168 Der Aufenthaltstitel beruhte nach der die Urteilsgründe tragenden Konstruktion nicht auf dem Gemeinschaftsrecht, sondern auf einer Regelung des deutschen Rechts, der zufolge der Antrag auf Aufenthaltsberechtigung für die Dauer des Verwaltungsverfahrens einen besonderen Aufenthaltstitel schafft. Die Vorbehalte des Art 18 EGV (21 AEUV), die dessen Schutzbereich eingrenzen, sind deshalb jedoch nicht gegenstandslos geworden. Wie erwähnt erlaubt es eine Richtlinie, das Aufenthaltsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten vom Vorhandensein zureichender Existenzmittel und dem Bestehen eines Krankenversicherungsschutzes abhängig zu machen. Daher werden die Mitgliedstaaten nicht gehindert, an die Sozialhilfebedürftigkeit aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu knüpfen.169 Die unmittelbare Anwendbarkeit des Art 18 EGV (21 AEUV) ändert an diesem Ergebnis nichts. Entscheidend ist, dass Unionsbürger, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, nicht schlechter gestellt werden dürfen als Inländer. Mit dieser Einschränkung besitzen sie einen Anspruch auf Gleichbehandlung in der sozialen Grundsicherung.170
166 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 63 – Martínez Sala; der EuGH hat seine Rspr aus wechselnden Grundl entwickelt, so teils – wie im Fall Martínez Sala – aus einer Verbindung von Art 18 und 12, teils aus Art 17 iVm Art 12, teils auch aus Art 18 EGV allein, dazu i Einz v Bogdandy/Bitter FS Zuleeg, 2005, S 309 ff. Untersch in der Sache ergeben sich hieraus jedoch nicht. 167 EuGH, Slg 1998, I-2691, Rn 63 – Martínez Sala. 168 Die Bundesrepublik war Spanien ggü aufgr des Europäischen Fürsorgeabkommens verpflichtet, die Klägerin nach Eintritt der Erwerbslosigkeit nicht auszuweisen, s Art 6 des Europäischen Fürsorgeabkommens v 11.12.1953 (Sartorius II Nr 113), das i R des Europarates geschlossen wurde und dem Spanien und Deutschland beigetreten sind. Deutschland hatte übrigens den Vorbehalt erklärt, keine Verpfl für die Lstg von Sozialhilfe nach dem BSHG an Ang anderer Vertragsstaaten auf Inländerniveau zu übernehmen, s Anhang II, Ziff 2. Zur Staatsangeh als Differenzierungskrit im deutschen Sozial- und Sozialhilferecht Zuleeg NJW 1987, 2193, 2197 f; Hailbronner VSSR 1992, 77 ff. 169 Borchardt NJW 2000, 2057, 2059 f will derart Maßnahmen nur im Missbrauchsfall zulassen, dh wenn das Aufenthaltsrecht genutzt wird, um höhere Sozialleistungen zu erhalten; enger Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 39 EGV Rn 193. 170 S a EuGH, Slg 2004, I-7573, Rn 36 ff – Trojani.
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Dieser Linie ist der EuGH in seiner Grzelczyk-Entscheidung weiter gefolgt. Einem an einer belgischen Hochschule studierenden französischen Studenten, der dort drei Jahre selbst für seinen Unterhalt aufgekommen, hierzu im vierten Studienjahr jedoch wegen seines Examens nicht mehr in der Lage war, sprach er gem Art 12 EGV (18 AEUV) und 17 EGV (20 AEUV) einen Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums nach belgischem Recht zu; da in diesem Falle die Bedürftigkeit erst nachträglich eingetreten und auch nur vorübergehender Natur sei, dürfe eine Beendigung des Aufenthaltsrechts nicht automatische Folge der Inanspruchnahme von Sozialhilfe sein.171 In der Rs D’Hoop sprach der EuGH einer Belgierin, die ihren Schulabschluss in Frankreich erworben hatte, im Hinblick auf Überbrückungsgeld für Schulabsolventen ein Recht auf Gleichbehandlung mit inländischen Schulabgängern zu; Ansprüche können sich also auch gegen den eigenen Staat richten.172 Weitere Urteile betrafen etwa Ansprüche auf vorübergehende Unterstützung für Arbeitssuchende, zivilprozessualen Vollstreckungsschutz aus sozialen Gründen, das Existenzminimum für einen mittellosen Schützling der Heilsarmee und Ausbildungsförderung für Unionsbürger mit inländischem Schulabschluss.173 Der verbindende Gedanke dieser teils herb kritisierten174 Rechtsprechung ist es, dass Unionsbürgern daraus keine Nachteile erwachsen sollen, dass sie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben, und die Mitgliedstaaten insoweit verpflichtet sind, soziale Härten zu vermeiden. Allerdings sind sie – was auf Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen ist – kraft Sekundärrechts während der ersten drei Monate gegenüber anderen Personen als Arbeitnehmern, Selbständigen und ihren Angehörigen zu keinen Leistungen verpflichtet (Art 24 II RL 04/38). Ferner dürfen sie Leistungsansprüche an eine Mindestaufenthaltsdauer binden, wenn sie damit einen legitimen Zweck verfolgen, klare und vorhersehbare Kriterien aufstellen und effektiven Rechtsschutz bieten.175 Die Unionsbürgerschaft hat damit gleichwohl eine gewisse soziale Dimension gewonnen.176 Der Vertrag von Lissabon konkretisiert sie, indem er eine Kompetenz der Union für Maß-
171 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 34 ff – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1, in Abkehr v Slg 1988, 3205 ff – Brown, wonach die Gewährlstg von Lebensunterhalt für Studenten nach damaligem Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in den Anwendungsbereich des heutigen Art 12 EGV fiel. Dass sich der EuGH hier nicht mehr auf Art 18 EGV (Art 21 AEUV), sondern auf Art 17 EGV (20 AEUV) bezieht, bedeutet in der Sache keine Änderung. 172 EuGH, Slg 2002, I-6191 – D’Hoop; krit Kanitz/Steinberg, EuR 2003, 1013, 1016 ff; s aber auch Reich/Harbacevica 40 CMLRev (2003), 615, 627 f; zu Anspr gg den eig Staat bei Auslandswohnsitz ferner EuGH, Slg 2004, I-6483 – Gaumain-Cerri (Pflegeversicherung); Slg 2006, I-10685 – Turpeinen (Höhe der Steuern); Slg 2007, I-2161 – Morgan und Bucher (BAföG); ferner Slg 2007, I-6849 Rn 90 – Schwarz (steuerl Abzugsfäh für im Ausland entrichtetes Schulgeld); Urt v 22.5. 2008 Rs C-499/06 – Nerkowska (Entschäd wg Deportation). 173 EuGH, Slg 2004, I-2703 – Collins (Arbeitslosenunterstützung); Slg 2004, I-5763 – Pusa (Pfändungsschutz); Slg 2004, I-7573 – Trojani (Existenzminimum); Slg 2005, I-2110 – Bidar sowie Slg 2007, I-2161 – Morgan und Bucher (jew Ausbildungsförderung). 174 Hailbronner NJW 2004, 2185 ff; Bode EuZW 2005, 279 ff; Sander DVBl 2005, 1014 ff; Hilpold in: Roth/Hilpold (Hrsg); Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, 11 ff; dag Scheuing EuR 2003, 744 (777 f); Kadelbach JZ 2005, 1163 ff; Kokott FS Tomuschat, 2006, S 207, 219. 175 Soweit die in Fn 174 angef Kritik „Sozialleistungstourismus“ fürchtet, ist sie daher unberechtigt, s EuGH, Slg 2004, I-2703 Rn 61 ff – Collins; Slg 2005, I-8275 Rn 29 ff – Ioannidis; systemat Schönberger (Fn 65) S 349 ff. 176 Dazu Kingreen EuR Beih 1/2007, 43 ff und Becker ebd S 95 ff.
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nahmen einführt, „die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen“ (Art 21 III AEUV); der Rat muss einstimmig beschließen. Auch außerhalb des Sozialrechts ergeben sich aus der Verknüpfung von Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot Konsequenzen. Ein wichtiges Beispiel ist das Recht auf Verfahren in der Muttersprache. In den Rechtssachen Bickel und Franz hatte der EuGH über die Frage zu entscheiden, ob deutsche bzw österreichische Beschuldigte einen Anspruch darauf besitzen, dass ein gegen sie in der italienischen Region Trentino-Südtirol eingeleitetes Strafverfahren auf deutsch geführt wird. Da das italienische Recht in dieser Provinz einen solchen Anspruch Angehörigen der deutschsprachigen Volksgruppe zugesteht, sah der Gerichtshof in dessen Verweigerung gegenüber deutschsprachigen Unionsbürgern ohne italienische Staatsangehörigkeit und Wohnsitz in der Provinz Bozen einen Verstoß gegen Art 12 EGV (18 AEUV).177 Dass das Strafrecht nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des EG-Vertrages fällt (vgl Art 12 EGV/18 AEUV), war dabei unmaßgeblich. Die nötigen Anknüpfungspunkte im Gemeinschaftsrecht erblickte er außer in der (passiven) Dienstleistungsfreiheit auch im Aufenthaltsrecht nach Art 18 EGV (21 AEUV). War dieser Ansatzpunkt einmal gefunden, bedurfte es für die Ungleichbehandlung italienischer Staatsangehöriger gegenüber anderen Unionsbürgern mit deutscher Muttersprache eines sachlichen Grundes. Dieser konnte jedenfalls nicht in den Minderheitenrechten der Südtiroler liegen, da zu deren Wahrung das Verbot der Erstreckung ihrer Sprachenrechte auf andere weder geeignet noch erforderlich war. Da außerdem nicht vorgetragen worden war, dass die Erweiterung des Personenkreises für ein Recht auf Verfahren in der eigenen Sprache zu besonderen Schwierigkeiten führen würde, war die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt.178 Das Diskriminierungsverbot des Art 12 iVm 18 oder 17 EGV (18 iVm 21 oder 20 AEUV) bildet also eine umfassende Generalklausel. Für den EuGH ist die Unionsbürgerschaft „dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“.179 Wie es scheint, gibt es keinen Bereich, den sie nicht erfasst.180 Allerdings ist bei Verallgemeinerungen Vorsicht angebracht. Die Verknüpfung des Art 18 bzw 17 EGV (21 bzw 20 AEUV) mit dem Gleichheitssatz des Art 12 EGV (18 AEUV) zwingt nicht schlechthin zu einer Gleichstellung sämtlicher Unionsbürger. Insbesondere für die – rechtspolitisch sinnvolle – Beseitigung der Inländerdiskriminierung bringt Art 12 (18 AEUV) iVm 17 ff EGV (20 ff AEUV) keine neuen Gesichtspunkte.181
177 EuGH, Slg 1998, I-7637, Rn 16, 23 ff – Bickel und Franz. 178 Die Folge dieser Rspr ist nicht, wie Hilpold JBl 2000, 93, 99 annimmt, dass nunmehr die Behörden gehalten wären, jedem Unionsbürger den Gebr einer Sprache seiner Wahl zu gestatten. Wünscht etwa ein finn Unionsbürger, dass in seinem Verf vor südtiroler Gerichten auf deutsch verhandelt wird, muss dem von Gemeinschaftsrechts wg nicht entsprochen werden, solange auch Italiener, deren Muttersprache nicht deutsch ist, die diese Sprache aber besser beherrschen als Italienisch (etwa weil ihre erste Sprache vielleicht Slowenisch oder Französisch ist), nicht das Recht besitzen, auf Wunsch auf Deutsch zu verhandeln. Insoweit bleibt es bei dem Recht auf unentgeltl Beiziehung eines Dolmetschers nach Art 6 III lit a und e EMRK. 179 EuGH, Slg 2001, I-6193, Rn 31 – Grzelczyk = JK 4/02, EGV Art 12/1. 180 Zu Fällen aus dem Namensrecht EuGH, Slg 2003, I-11613 – Garcia Avello; Urt v 14.10.2008 Rs C-353/06 – Grunkin und Paul. 181 Übersicht und weitere Nachw bei Streinz ER Rn 810 ff; Gundel DVBl 2007, 269 ff; s auch o Fn 62, 67, 80.
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c) Rechtfertigung von Differenzierungen Nach dem Gesagten liegt eine in das unionsbürgerliche Teilhaberecht fallende Differenzierung vor, wenn Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, Rechte vorenthalten werden, die Inländern zustehen, wenn sie ansonsten die Voraussetzungen erfüllen, unter denen diese Rechte gewährt werden. Gleiches gilt im Hinblick auf die eigenen Staatsangehörigen, wenn ihnen daraus Nachteile erwachsen, dass sie von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben. Eine Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen ist aber aus sachlichem Grund möglich. Dazu muss sie ein unionsrechtlich anerkanntes Ziel verfolgen, den rechtsstaatlichen Anforderungen an Vorhersehbarkeit, Bestimmtheit und gerichtlichen Schutz genügen und verhältnismäßig sein (Rn 88; → vgl § 17 Rn 48 f). So darf bspw bei der Gewährung von Studienbeihilfen berücksichtigt werden, dass deren generelle Erstreckung auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung wird, die das Leistungsniveau insgesamt gefährden könnte. Sie kann davon abhängig gemacht werden, dass die Berechtigten zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft des Aufenthaltsstaates integriert sind. Ein zu diesem Zweck in den Niederlanden aufgestelltes Erfordernis eines fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthaltes hat der EuGH als verhältnismäßig angesehen.182 Lösung Fall 2: I. Zulässigkeit: Das LSG wird gem Art 234 EGV (267 AEUV) ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, das sich auf die Auslegung des EG-Vertrages und von Sekundärrecht richtet und ohne weiteres zulässig ist. II. Begründetheit: 1. Art 7 II VO 68/1612 über die Freizügigkeit billigt Arbeitnehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen“ zu wie inländischen Arbeitnehmern. Nach Art 2 der VO 71/1408 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit (heute Art 2 der VO 04/883) stehen die von ihr geregelten Leistungen Arbeitnehmern, Selbstständigen und Studierenden sowie ihren Familienangehörigen und Hinterbliebenen zu. S wäre also jedenfalls dann zum Empfang von Erziehungsgeld berechtigt, wenn sie als Arbeitnehmerin zu qualifizieren wäre. Dabei ist zu beachten, dass das Gemeinschaftsrecht keinen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff kennt. a) Für die Zwecke des Art 39 EGV (45 AEUV) iVm der VO 68/1612 ist Arbeitnehmer, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Auch vor Beginn, etwa auf der Arbeitssuche, oder nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann eine Person Arbeitnehmer sein. Um S als Arbeitnehmerin nach diesen Kriterien einordnen zu können, fehlt es aber an näheren Angaben. b) Im Sinne des Art 42 EGV (48 AEUV) iVm der VO 71/1408 (jetzt VO 04/883), der den Zugang zu Sozialleistungen sicherstellen soll, ist Arbeitnehmer, wer gegen ein Risiko in einem System sozialer Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist; auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses kommt es nicht an. Auch insoweit fehlt es an Erkenntnissen über die Klägerin. 2. Somit kommt es darauf an, ob es sonst eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts verbietet, die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten von der Vorlage einer förmlichen Aufenthaltsberechtigung abhängig zu machen. Dieses Erfordernis könnte gegen Art 12 EGV (18 AEUV) verstoßen, der Diskriminierungen aus Gründen der
182 EuGH, Urt v 18.11.2008 Rs C-158/07 Rn 48 ff – Förster; s a schon Slg 2005, I-2110 Rn 56 ff – Bidar.
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Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich des EG-Vertrages untersagt. Das Diskriminierungsverbot findet Anwendung auf Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden.183 In sachlicher Hinsicht fällt die Zahlung von Erziehungsgeld in den Anwendungsbereich des Sekundärrechts (Art 4 lit h VO 71/1408/3 lit j VO 04/883) und damit des EG-Vertrages. Fraglich ist jedoch, ob dessen persönlicher Anwendungsbereich S auch dann erfasst, wenn diese keine Arbeitnehmerin iSd Art 39 ff EGV (45 ff AEUV) ist. An dieser Stelle verweist der EuGH auf den heutigen Art 17 II EGV (20 II AEUV), der an den Status des Unionsbürgers die im EG-Vertrag vorgesehenen Rechte knüpft, zu denen auch das Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV (18 AEUV) zählt (Rn 62). Folglich war nur mehr zu prüfen, ob Inländer und Ausländer aus EU-Mitgliedstaaten in nicht gerechtfertigter Weise ungleich behandelt werden. Da das Erfordernis eines Aufenthaltstitels nach nationalem Recht nur deklaratorische Bedeutung habe, liege in dem Erfordernis eines ganz bestimmten Titels eine Diskriminierung gegenüber Inländern, für die es keinen sachlichen Grund gebe. S durfte daher nicht vom Bezug von Erziehungsgeld ausgeschlossen werden.
V. Bewertung 93
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Die Tragweite der Konsequenzen, die sich aus der Unionsbürgerschaft ergeben, wird unterschiedlich bewertet. Während die einen die Kritik äußerten, die Art 17 ff EGV (20 ff AEUV) hätten eher symbolischen Charakter, würden aber gegenüber dem ohne sie bestehenden Stand des Gemeinschaftsrechts keine substantiellen Veränderungen bewirken,184 nahmen andere die Regelung individueller, nicht wirtschaftsabhängiger Rechte an zentraler Stelle im EG-Vertrag als ersten Schritt zur Konstitutionalisierung eines europäischen Bürgerstatus positiv auf.185 An diesem geteilten Echo hat sich bis heute nichts geändert.186 Das Ergebnis variiert mit dem gewählten Bezugspunkt. Eine am positiven Recht und seiner Verwirklichung orientierte Analyse wird zu anderen Ergebnissen gelangen als eine Sicht, die sich an Parallelen zum Status eines Staatsbürgers orientiert.187 Wer die im EG-Vertrag niedergelegten Regelungen, die zu ihrer Umsetzung ergriffenen Maßnahmen und die Rechtsprechung des Gerichtshofes betrachtet, sieht ein unfertiges Bild: Als nahezu bedeutungslos darf zurzeit das Versprechen eines gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Rechts auf diplomatischen und konsularischen Schutz gelten (Art 20 EGV/ 23 AEUV). Die Mitgliedstaaten verstehen es lediglich als Recht auf konsularischen Beistand, das bereits nach geltendem Völkerrecht stellvertretend ausgeübt werden kann, und auch die Umsetzung dieses Minimalprogramms konnte bisher nicht erreicht werden.
183 EuGH, Slg 1989, 195, Rn 10 – Cowan. 184 Jessurun d’Oliveira in: Dehousse (Hrsg), Europe after Maastricht: An ever closer Union?, 1994, 126, 135 ff; O’Leary European Union Citizenship. The options for reform, 1996, 44 ff; Weiler in: Winter ua (Hrsg), Reforming the Treaty on European Union. The Legal Debate, 1996, 57, 65 ff. 185 O’Keefe (Fn 65) S 107. 186 S de Búrca in: Referate für den Ersten Europäischen Juristentag, 2001, 39, 66 f; zu den Regelungen des Verfassungsvertrages über die Unionsbürgersch, die in den Reformvertrag ohne wesentl Änderungen übern wurden, einers krit Nettesheim, integration 2003, 428 ff; Dellavalle 2/3 Annual of German and European Law (2005/05), 171, 213 f; anderers Pernice FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 177 ff; dass es v a die Rspr des EuGH ist, die zu einer Neubew Anlass gibt, betonen zu Recht Besson/Utzinger FS Bieber, 2007, S 629, 633 ff. 187 Shaw 61 MLR (1998), 295, 297 ff.
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Für den Gehalt des Freizügigkeitsrechts (Art 18 EGV/21 AEUV) hat sich inhaltlich gegenüber dem Zustand vor Einführung der Unionsbürgerschaft nicht viel geändert. Allerdings besteht nun erstmals eine einheitliche primärrechtliche Basis für die unterschiedlichen Formen der Aufenthaltsberechtigung, die für ein lückenloses Recht auf Mobilität in Europa sorgen kann. Das Recht auf Petition und Auskunft (Art 21 EGV/24 II-IV AEUV) verweist im Wesentlichen auf andere Bestimmungen des EG-Vertrages und bestätigt damit den ohnehin bestehenden Besitzstand. Das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art 255 EGV/ 15 AEUV) setzt weitere Akzente, da es den Rechtsordnungen mancher Mitgliedstaaten lange unbekannt war. Bei all diesen Ansprüchen handelt es sich zwar um typische Aktivbürgerrechte, doch leisten sie im politischen Willensbildungsprozess nur Hilfsdienste. Einen Ansatz für weiterführende Überlegungen zur Legitimierung von Hoheitsgewalt bietet das Wahlrecht auf lokaler und europäischer Ebene am Wohnsitzort (Art 19 EGV/22 AEUV). Beide öffnen rechtlich den bisher nach Mitgliedstaaten differenzierenden Begriff der Aktivbürgerschaft mit Richtung auf Legitimationseinheiten, für die es innerhalb der Union auf die Staatsangehörigkeit nicht mehr ankommt. Dies bringt auch der Reformvertrag von Lissabon zum Ausdruck, der das Parlament nicht mehr als Vertretung der Völker Europas, sondern der Unonsbürgerschaft anspricht (Art 14 II EUV-E). Die reale Bedeutung des Kommunal- und Europawahlrechts im Wohnsitzstaat ist jedoch zurzeit marginal. Dass man bemüht ist, die politische Partizipation der Unionsbürger zu steigern, zeigt gleichfalls der Reformvertrag, der die Rolle der Zivilgesellschaft betont und plebiszitäre Elemente vorsieht (Art 24 I AEUV). Von beträchtlicher Wirkung ist schließlich die durch die Rechtsprechung des EuGH hergestellte Verbindung zwischen Unionsbürgerschaft und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV/18 AEUV), das den Gedanken der Inländerbehandlung aus den Art 18, 19 und 39 ff EGV (21, 22 und 45 ff AEUV) auf soziale und kulturelle Rechte über das gesetzte Recht hinaus überträgt. Auch wenn diese Rechte nicht originär, sondern auf die jeweilige Rechtslage in den Mitgliedstaaten bezogen sind,188 zeigen sie ebenso wie die politischen Rechte, dass die rein ökonomische Zweckrichtung der gemeinschaftsrechtlich gewährten Individualrechte überwunden worden ist. Die wichtigste rechtliche Konsequenz der Vertragsbestimmungen zur Unionsbürgerschaft ist also der weitere Abbau von Unterschieden, die auf der Staatsbürgerschaft beruhen. Nachteile, die durch das Verlassen des Heimatstaates entstehen, sollen ausgeglichen werden. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, in bestimmten Bereichen Rechte, die ihren Staatsangehörigen zustehen, auch anderen Unionsbürgern zu gewähren. Die Unionsbürgerschaft definiert einen komplementären Bürgerstatus über die Grenzen hinweg. Daher wird in Art 17 I 3 EGV (20 I 3 AEUV) deutlich gemacht, dass die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt.189
188 Das scheint Closa 32 CMLRev (1995), 487, 508 zu übersehen, der in gemeinschaftsrechtl gewährleisteten soz Rechten eine Abkehr vom freien Markt sehen will; zu sozialpol Interventionen werden die Mitgliedstaaten durch sie indessen nicht veranlasst. 189 Ähnlich BVerfGE 89, 155, 184: Mit der Unionsbürgerschaft werde „zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft, das zwar nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt, dem bestehenden Maß existentieller Gemeinsamkeit jedoch einen rechtlich verbindlichen Ausdruck verleiht“.
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Das der Unionsbürgerschaft zugedachte weitere Potential zeigt sich bei einer Parallelbetrachtung zu den staatsbürgerlichen Rechten. Ebenso wie die Staatsbürgerschaft ist die Unionsbürgerschaft eine Art Sammelbegriff für die Rechte, die in ihrer Summe einen Status ausmachen. Freizügigkeit, politische Rechte und diplomatischer Schutz waren lange in den meisten Staaten eigenen Staatsangehörigen vorbehalten. Die Art 17 ff EGV (20 ff AEUV) enthalten daher aus dieser Sicht besonders symbolträchtige Garantien. Auch soziale Rechte sind zumindest historisch Rechte der Staatsangehörigen,190 so dass deren Erstreckung auf andere Unionsbürger durch die Rechtsprechung der Absicht folgt, die hinter den Art 17 ff EGV (20 ff AEUV) steht. Der Komplementärfunktion der Unionsbürgerschaft zur Staatsbürgerschaft entspricht es auch, dass Art 19 II EGV (22 II AEUV) für das Europäische Parlament die Idee einer Wählerschaft zugrunde legt, die allein durch die Unionszugehörigkeit und den Wohnsitz bestimmt wird.191 Zwar kann und soll die Unionsbürgerschaft trotz dieser Parallelen mit der umfassenden Stellung des Staatsbürgers mit allen Rechten und Pflichten qualitativ nicht vergleichbar sein, aber die in ihr zusammengefassten Ansprüche bringen die zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Verantwortung für den Einzelnen zum Ausdruck und übersetzen die institutionelle Organisation Europas auf mehreren miteinander eng verbundenen Ebenen in die Sprache subjektiver Rechte.
190 Fn 46. 191 Zur Verbindung mit der Legitimation der Union Preuß 1 ELJ (1995), 267, 276 ff; Weiler in: Weiler (Hrsg), The Constitution of Europe, 1999, 324, 344 ff; zu einer eigenständigen grenzüberschreitend post-nationalen Bürgerschaft Besson/Utzinger FS Bieber, 2007, S 629, 641 f. Ob hinter dem gesamteurop Legitimationssubj ein „europäisches Volk“ steht, ist eine Frage der Perspektive, die mit der rein rechtl konzipierten Unionsbürgerschaft nicht notw etwas zu tun haben muss; zu identitätsstiftenden Faktoren wie Nation, Volk, Sprache, Kultur, Geschichte, Mythos usw Nicolaysen FS Everling, 1994, S 945, 950 ff; Grimm JZ 1995, 581, 587 ff; zu einem durch die Unionsbürgerschaft vermittelten Volksbegriff krit Augustin Das Volk der Europäischen Union, 2000, 41 ff, 63 ff; vgl a Hrbek in: ders (Hrsg), (Fn 6) S 119, 130, dem zufolge es eine europ Teilidentität gibt, die sich neben der europ etabliert habe, sowie die Kontroverse zw Korioth 62 VVDStRL (2003), 117, 151 f und v Bogdandy, ebd 156, 168 ff.
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§ 20 Justiz- und Verfahrensgrundrechte Jörg Gundel Leitentscheidungen: EuGH, 3.9.2008 – verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P – Kadi u Al Bakaraat; Slg 2007, I-2271 – Unibet; Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; Slg 1992, I-6313 – Oleificio Borelli; Slg 1991, I-5469 – TU-München; Slg 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; Slg 1990, I-2433 – Factortame. Schrifttum: Gärditz Europäisches Verwaltungsprozessrecht, JuS 2009, 385 ff; v Danwitz Europäisches Verwaltungsrecht, 2008; Müller-Graff/Scheuing (Hrsg), Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und Rechtsstaatlichkeit, EuR-Beiheft 3/2008; Schwarze Rechtsstaatliche Grundsätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 147 ff; Lais Das Recht auf eine gute Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZEuS 2002, 447 ff; Pache Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozeß, NVwZ 2001, 1342 ff.
I. Überblick 1. Bedeutung der Justiz- und Verfahrensgrundrechte im Gemeinschaftsrecht Die Justiz- und Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts haben sich in deutlicher Orientierung am Vorbild der EMRK entwickelt, die in diesem Bereich mit den Art 5–7 EMRK1 – anders als etwa bei den wirtschaftsbezogenen Grundrechten – ein breites Feld von Gewährleistungen bietet. Die dort festgehaltenen Verfahrensgarantien sind freilich für das Gemeinschaftsrecht von unterschiedlichem Gewicht: So spielten die klassischen Justizgrundrechte der Art 5 (persönliche Freiheit), Art 6 II–III (strafrechtliche Unschuldsvermutung, Garantien im Strafverfahren) und Art 7 EMRK (nulla poena sine lege) lange Zeit eine geringe Rolle, weil der Strafrechtsbezug des Gemeinschaftsrechts bisher wenig ausgeprägt war. Dieses Bild wandelt sich derzeit aber mit der raschen Entwicklung der „polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS, Art 29 ff EUV → dazu noch u Rn 46); und auch in den klassischen Feldern des Gemeinschaftsrechts haben diese Garantien ihre Bedeutung,2 etwa bei der Frage, ob durch nicht umgesetzte Richtlinien der EG Pflichten des Einzelnen begründet werden, deren Missachtung dann auch strafrechtlich sanktioniert werden könnte.3 1 → dazu oben § 6. 2 Zur grundsätzlichen Anerkennung des nulla-poena-Satzes auch im Gemeinschaftsrecht s bereits EuGH, Slg 1984, 2689, Rn 22 – Regina/Kirk: „Das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften ist ein allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsatz, der in Artikel 7 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist und zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“ Die Garantie findet sich nun auch in Art 49 GRCh (zu ihr sogleich Rn 5). 3 Eine solche „umgekehrt vertikale Direktwirkung“ von Richtlinien zu Lasten des Einzelnen und „zugunsten“ des strafverfolgenden Staates hat der EuGH zu Recht abgelehnt, s (zu einem strafrechtlichen Fall) EuGH, Slg 1987, 3969 – Kolpinghuis = EuR 1988, 390 m abl Anm Richter; bestätigt durch EuGH, Slg 2005, I-3565 – Berlusconi, Rn 74; In anderen Entscheidungen hat der EuGH festgehalten, dass auch die grundsätzlich zulässige und gebotene richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts nicht zur Verschärfung des Strafrechts führen darf, s EuGH, Slg 1996, I-4705, Rn 42 – Luciano Arcaro; Slg 1996, I-6609, Rn 25 – Ermittlungen gegen X; zur
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Im Mittelpunkt stehen im Gemeinschaftsrecht jedoch weiterhin die Garantien eines fairen Verfahrens und eines effektiven Rechtsschutzes, wie sie die EMRK in Art 6 I (→ § 6 Rn 35 ff) und Art 13 (→ vgl § 6 Rn 70) enthält. Sie finden ihre Ausprägungen in den verschiedenen Einzelgarantien, wie dem Anspruch auf rechtliches Gehör, dem Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht, auf die Begründung belastender Entscheidungen und eine gerichtliche Entscheidung in angemessener Zeit: Im Vordergrund stehen damit die rechtsstaatliche Ausgestaltung der Verwaltungsverfahren der Gemeinschaftsorgane und der nationalen Behörden beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts sowie – daran anschließend – die Sicherung einer effektiven gerichtlichen Kontrolle über dieses Verwaltungshandeln durch die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und (soweit die Verfahren von den nationalen Behörden durchgeführt werden) durch die Gerichte der Mitgliedstaaten.
2. Quellen der Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts a) Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ursprünglicher Anknüpfungspunkt 3
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Formal gelten die Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts bisher in ihrer Ausformung als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts,4 auch wenn der EuGH immer häufiger unmittelbar die Bestimmungen der EMRK zitiert; angesichts dieser formalen Unabhängigkeit der Gewährleistung stellt sich auch immer wieder die Frage, inwieweit Auslegungsergebnisse des EGMR für die parallel dazu geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts zu übernehmen sind.5 Zugleich sichert diese Geltung als allgemeine Rechtsgrundsätze aber auch eine Flexibilität, die im Rahmen der EMRK nicht immer gegeben ist. So ist es für die Anwendung der Garantie eines „fairen Verfahrens“ als Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ohne Belang, ob der in Art 6 I EMRK beschriebene Anwendungsbereich (Zivil- und Strafsachen) betroffen ist:6 Die Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts gelten auch in Verwaltungs-7 und den anschließenden verwaltungsgerichtlichen 8 Verfahren. Trotz des Wortlauts des Art 6 II EUV, der als Quelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als einzige völkervertragliche Quelle die EMRK benennt, ist das Gemeinschaftsrecht nicht auf die dort vorgefundenen Gewährleistungen beschränkt: Der EuGH hat bereits auch auf die im IPbpR9 enthaltenen Verfahrensgarantien Bezug genommen; darüber hinaus hat er auch
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Entwicklung der EuGH-Rspr zur Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien s Gundel EuZW 2001, 143 ff; Jarass/Beljin EuR 2004, 714 ff; v Danwitz JZ 2007, 697 ff. Hervorgehoben wird diese formale Unabhängigkeit von der EMRK etwa in EuG, Slg 2001, II-729, Rn 59 f – Mannesmannröhren-Werke = EuZW 2001, 345 m Anm Pache; Slg 1998, II-1751, Rn 311 – Mayr-Melnhof. Zum Mechanismus der allgemeinen Rechtsgrundsätze immer noch maßgeblich Lecheler Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971; später nochmals ders ZEuS 2003, 337 ff. Für Bsp s u Fall 1 (Aussagefreiheit) und Rn 39 (rechtliches Gehör zu den Schlussanträgen der Generalanwälte im Verfahren vor dem EuGH). Dazu unten Rn 18. So bereits EuGH, Slg 1979, 461, Rn 9 – Hoffmann-Laroche; später zB EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 80 – Enso Española. Auch das in Art 47 GRCh festgehaltene Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren verzichtet auf die in Art 6 EMRK bestehende Eingrenzung des Anwendungsbereichs, s u Rn 6. S EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 31 – Orkem zu Art 14 (Unschuldsvermutung) und Art 3g (Aussagefreiheit) des IPbpR.
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schon Verfahrensgrundrechte anerkannt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten entstammen – eine solche Anerkennung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Gewährleistung in ihrer konkreten Ausformung in der Rechtsordnung nur eines Mitgliedstaats besteht.10 b) Die Kodifikation durch die Grundrechtscharta Die Europäische Grundrechtscharta (GRCh), die bisher den formalen Status einer rechtlich nicht verbindlichen Erklärung hat und erst mit dem Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon nach dem dann neu gefassten Art 6 I EUV-E zur verbindlichen Rechtsquelle aufsteigen wird, wird von der Rechtsprechung bereits jetzt in ähnlicher Weise als „Inspirationsquelle“ für die allgemeinen Rechtsgrundsätze herangezogen.11 Sie enthält Verfahrensgarantien zunächst im Kapitel zu den Bürgerrechten (Art 39–46 GRCh): Dort ist als neue übergreifende Garantie das „Recht auf eine gute Verwaltung“ enthalten (Art 41 I GRCh), das ein faires Verwaltungsverfahren gewährleisten soll; 12 einzelne Ausprägungen sind beispielhaft („insbesondere“) in Art 41 II aufgeführt (→ dazu unten Rn 10). Daneben finden sich das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Gemeinschaftsorgane (Art 42 GRCh, → dazu unten Rn 21) sowie das Recht zur Anrufung des Bürgerbeauftragten (Art 43 GRCh)13 und das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament (Art 44 GRCh). Weitere Garantien sind im sich anschließenden Kapitel zu den justiziellen Rechten enthalten (Art 47–Art 50 CRCh), das in Anlehnung an Art 6 und 13 EMRK allgemein das Recht auf effektiven Zugang zu einem unparteiischen Gericht gewährleistet (Art 47 I, II GRCh) und daneben auch die der EMRK bekannten strafverfahrensrechtlichen Garantien der
10 S EuGH, Slg 1982, 1575 – AMS = EuR 1983, 40 m Anm Mattfeld zum „legal privilege“, der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant (dieser Schutz greift danach anders als nach deutschem Recht auch dann ein, wenn sich die Unterlagen im Gewahrsam des Mandanten befinden); s auch noch u Fn 41. 11 S zB EuG, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil = EuZW 2002, 186 m Anm C Nowak; EuGH, Slg 2006, I-5769 – Parlament/Rat (Familienzusammenführung), Rn 38, 58 = EuZW 2006, 566 m Anm Fremuth; s allerdings auch EuG, Slg 2001, II-729, Rn 76 – Mannesmannröhren-Werke: Keine Heranziehung in Bezug auf vor ihrer Proklamation erlassene Rechtsakte; dazu Cavicchi RIDPC 2002, 599 ff. 12 Ausführlich Classen Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, 2008; Pfeffer Das Recht auf eine gute Verwaltung, 2006; Bauer Das Recht auf eine gute Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002; s auch Efstratiou in Trute u a (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 281 ff; Goerlich DÖV 2006, 313, 316 ff; Grzeszick EuR 2006, 161 ff; Galetta in Stern/Tettinger (Hrsg), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, 207 ff; dies RIDPC 2005, 819 ff; Bullinger FS Brohm, 2002, S 25 ff; Michelet AJDA 2002, 949 ff; Lais ZEuS 2002, 447 ff; s zum in der Rspr des EuGH bereits seit langem präsenten Vorgängerbegriff „Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung“ früh schon Usher 38 Current Legal Problems (1985), 269 ff. 13 Die Institution des Bürgerbeauftragten hat auf die Fortentwicklung der Verfahrensgarantien des Gemeinschaftsrechts maßgeblichen Einfluss genommen, zunächst bei der Etablierung des Rechts auf Zugang zu Gemeinschaftsdokumenten (dazu unten Rn 21 f), in der Folge durch die Entwicklung des „Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis“, der das Recht auf eine gute Verwaltung weiter ausdifferenziert, rechtliche Verbindlichkeit bisher allerdings nicht erlangt hat; zu diesem Instrument zB Bourquain DVBl 2008, 1224 ff; Efstratiou (Fn 12) S 289 ff; Hill DVBl 2002, 1316, 1318 f; Harden RMUE 2001, 573, 614 ff; zu dieser Rolle des Bürgerbeauftragten s mwN Gundel in Schulze/Zuleeg, ER, § 3 Rn 59 ff.
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Unschuldsvermutung (Art 48 I GRCh, 6 II EMRK), des nulla poena-Satzes (Art 49 GRCh, 7 EMRK) und des Verbots der Doppelbestrafung (Art 50 GRCh, Art 4 7. ZP EMRK) umfasst. Gegenüber der Orientierung an den Verfahrensgewährleistungen der EMRK ist die GRCh mit ihrer systematischen Erfassung der Verfahrensrechte insofern ein Fortschritt, als erstmals deutlich zwischen den Rechten im Verwaltungsverfahren (Art 41 GRCh) und dem Anspruch auf gerichtliche Kontrolle und ein faires gerichtliches Verfahren (Art 47 GRCh) getrennt wird; auch die bei Art 6 EMRK problematische Beschränkung der Gewährleistungen auf Zivil- und Strafsachen wird in Art 47 GRCh (bei im Übrigen weitgehend übereinstimmendem Text) vermieden.14 Nachteilig ist allerdings, dass die Rechte im Verwaltungsverfahren nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art 41 GRCh nur gegenüber den Gemeinschaftsorganen eingeräumt werden,15 was durch den Textvergleich mit dem allgemein gefassten Art 47 GRCh besonders deutlich hervortritt; soweit der Verfahrensvollzug des Gemeinschaftsrechts den Mitgliedstaaten obliegt, wird daher weiter auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen sein.16 Insgesamt beschränkt sich die GRCh damit unter weitgehendem Verzicht17 auf inhaltliche Neuerungen auf die verdeutlichende und systematisierende Zusammenführung von Verfahrensgewährleistungen, die entweder bereits an anderer Stelle normiert waren,18 oder aber schon durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind. c) Die Bedeutung des Sekundärrechts
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Verfahrensgewährleistungen oder -rechte sind vielfach auch im Sekundärrecht enthalten19. Dabei handelt es sich teils um nur deklaratorische Wiedergaben oder Präzisierungen des bereits nach Primärrecht geltenden Standes; ein Beispiel hierfür bildet der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Strafsanktion, der sich ausdrücklich zunächst nur in einer EG-Verordnung fand 20, den der EuGH aber später als allgemeinen Rechts-
14 De lege ferenda plädieren zB Flauss AJDA 2001, 1060, 1062; Hottelier SZIER 2001, 175, 193 f für die Aufgabe dieser gegenständlichen Begrenzungen des Art 6 EMRK nach dem Vorbild der GRCh. 15 Dazu U Stelkens ZEuS 2004, 129, 137 f; Lais ZEuS 2002, 447, 457 f; krit Heringa/Verhey 8 MJ (2001), 11, 30. 16 S Magiera in: Meyer, ChGr, Art 41 Rn 9; zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten in dieser Konstellation s u Rn 44 f. Da Art 41 GRCh wiederum die bisherige Rspr zu den Verfahrensanforderungen an Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten „bekräftigt“ – so EuG, Slg 2002, II-313, Rn 48 – max.mobil = EuZW 2002, 186 m Anm C Nowak, dürften sich inhaltlich keine Differenzen ergeben; s a U Stelkens ZEuS 2004, 129, 138. 17 Eine wichtige Ausnahme bildet das Verbot der Doppelbestrafung, das transnational ausgeweitet wird; s noch Fn 134. 18 Das gilt zB für das Begründungserfordernis für Rechtsakte der Gemeinschaft (Art 253 EGV), das nun auch in Art 41 II GRCh als Teil des Rechts auf eine gute Verwaltung aufgeführt wird; auch die in Art 288 II EGV normierte Schadenshaftung der Gemeinschaft wird in Art 41 III GRCh als Element der guten Verwaltung aufgeführt. 19 So zB die VO 2988/95 des Rates v 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl EG 1995 L 312/1, die einen allgemeinen Rahmen für den Erlass verwaltungsrechtlicher Sanktionen zum Schutz dieser Interessen setzt, und damit auch den Schutz des Einzelnen bewirkt; für ein Beispiel s Fn 20. 20 Art 2 II 2 der VO 2988/95 (Fn 19); s dazu zB EuGH, Slg 2004, I-6369, Rn 40 ff – Gisela Gerken.
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grundsatz und damit Bestandteil des Primärrechts anerkannt hat21. Teils handelt es sich aber auch um eigenständige Ergänzungen, deren Streichung in der Hand des Gemeinschaftsgesetzgebers liegt22. Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensgrundrechte werden hier nur solche Verfahrensregelungen behandelt, die auf den Vertragstext oder die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgeführt werden können.23
3. Verpflichtete Durch die Verfahrensgrundrechte verpflichtet sind zunächst die Gemeinschaftsorgane (Rn 10 ff): Der Gemeinschaftsgesetzgeber darf keine verfahrensrechtlichen Gestaltungen wählen, die diese Rechte missachten, die Gemeinschaftsexekutive muss bei den von ihr durchgeführten Verwaltungsverfahren die Rechte der Betroffenen beachten, und auch der Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten und das gerichtliche Verfahren unterliegen diesen Vorgaben: So müssen Verwaltungsentscheidungen zB in den von der Kommission betriebenen Kartellverfahren in angemessener Frist ergehen,24 und auch die überlange Verfahrensdauer bei einer anschließenden gerichtlichen Überprüfung ist ein Verstoß gegen Verfahrensgrundrechte.25 Daneben sind auch die Mitgliedstaaten durch die Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts verpflichtet: Die Verfahrensanforderungen binden auch die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte, wenn diese im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden (Rn 44 ff); weiter sind beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts Kooperationsformen zwischen Gemeinschaftsverwaltung und mitgliedstaatlichen Behörden entstanden, die die Verwirklichung der Verfahrensgrundrechte vor besondere Probleme stellen (Rn 61 ff).
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II. Justiz- und Verfahrensgrundrechte gegenüber den Gemeinschaftsorganen 1. Verfahrensgrundrechte gegenüber den Verwaltungsorganen der Gemeinschaft a) Die einzelnen Rechte Die bedeutsamsten Verfahrensrechte im Verwaltungsverfahren werden heute in Art 41 II GRCh beispielhaft („insbesondere“) aufgezählt: Das Recht auf Anhörung vor Erlass einer nachteiligen Maßnahme, das Recht auf Einsicht in die betreffenden Akten; darüber 21 EuGH, Slg 2005, I-3565 – Berlusconi, Rn 67 ff; Slg 2007, I-2089 – Campina, Rn 32; die Anerkennung dürfte dem EuGH auch dadurch leichter gefallen sein, dass die Garantie zu diesem Zeitpunkt bereits in Art 49 I 3 GRCh aufgenommen war. 22 Für ein Beispiel s u Fn 145. 23 Einen Grenzfall bildet insoweit das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Gemeinschaft (Rn 21), das seit dem Vertrag von Amsterdam zwar in Art 255 EGV (Art 15 AEUV-E) vorgesehen ist, seine Ausprägung aber im Sekundärrecht findet. Ob dieses Recht bereits den Status eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes beanspruchen kann, ist umstritten; in der GRCh ist es in Art 42 enthalten. 24 S zB EuGH, Slg 2006, I-8725, Rn 35 ff – FEG; zuvor EuG, Slg 1999, II-931, Rn 120 ff – Limburgse Vinyl; Slg 1997, II-1739, Rn 56 – SCK u FNK. 25 So zur Dauer eines Verfahrens vor dem EuG erstmals EuGH, Slg 1998, I-8417 – Baustahlgewebe; dazu Schlette EuGRZ 1998, 369 ff; Toner 36 CMLRev (1999), 1345 ff; Pallaro DCSI 2000, 493 ff; weiter EuGH, Slg 2002, I-8375, Rn 206 ff – Limburgse Vinyl, m Anm Wesseling 41 CMLRev (2004), 1141 ff; → zur Rspr des EGMR § 6 Rn 54 ff.
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hinaus ist auch die dort aufgeführte, schon im Primärrecht (Art 253 EGV/296 II AEUV) vorgesehene Pflicht zur Begründung von Rechtsakten den Verfahrensgrundrechten zuzuordnen: Sie gilt zwar für alle Rechtsakte der Gemeinschaft, erfüllt im Fall belastender Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane aber den besonderen Zweck, zum einen dem Betroffenen Aufschluss über die Gründe zu geben und zum anderen eine gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen.26 Die Rechtsprechung des EuGH hatte schon zuvor geklärt, dass rechtliches Gehör vor allen belastenden Verwaltungsentscheidungen auch ohne ausdrückliche sekundärrechtliche Regelung gewährleistet werden muss.27 Nur in Ausnahmekonstellationen kann es zulässig sein, das Gehör erst nach Erlass der Maßnahme zu gewähren, wenn dies zur Sicherung ihres Erfolgs erforderlich ist.28 Als notwendiges Element dieses Gehörs ist in der Rechtsprechung auch das akzessorische Akteneinsichtsrecht29 des Betroffenen anerkannt:30 Um effektiv Stellung nehmen zu können, muss er die zu seinen Lasten verwendeten Unterlagen kennen.31 Die Verpflichtung zur Begründung der am Ende des Verfahrens stehenden Entscheidung sichert die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle. Als spezifisch gemeinschaftsrechtliches Verfahrensgrundrecht, das den Bürgern allein gegenüber den Gemeinschaftsorganen eingeräumt ist,32 ist der Gebrauch der eigenen
26 Hervorgehoben wird diese doppelte Funktion der Begründung zB in der Rspr zum Zugang zu Gemeinschaftsdokumenten (s u Rn 21), etwa EuG, Slg 2000, II-3269, Rn 64 – JT’s Corporation Ltd, mwN; Slg 1998, II-545, Rn 63 – van der Wal; zur Begründung von Beihilfe-Beanstandungen EuG, Slg 2000, II-2267, Rn 34 – EPAC; auch bei wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen spielt die Begründung eine wesentliche Rolle, s etwa EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 109 ff – Enso Española. 27 So nachdrücklich EuGH, Slg 1994, I-2885, Rn 39 – Fiskano; weiter zB EuGH, Slg 1996, I-5373, Rn 21 – Lisrestal; EuG, Slg 1998, II-401, Rn 76 – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773, Rn 59 – Primex Produkte; EuG, Slg 2007, II-2061 – Alrosa, Rn 191 ff (dazu Le More EuZW 2007, 722 ff; Idot Europe 10/2007, 28 f). 28 So zum Fall der „smart sanctions“ EuGH, 3.9.2008 – verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P – Kadi u Al Bakaraat, Rn 338 ff; Rn 37. 29 Dazu zB EuG, Slg 2002, II-1705, Rn 169 ff – LR AF 1998; Slg 1995, II-1847 – ICI; Slg 1992, II-2667 – Cimenteries CBR; Slg 1991, II-1711 – Hercules Chemicals. 30 Die EG-Kommission hat die Grundsätze zur Handhabung dieses Rechts im Gefolge der EuGHRspr in einer im Amtsblatt veröffentlichten Mitteilung zusammengefasst, ABl EG 1997 C 23/3; jetzt ist es explizit in Art 27 II der VO 1/2003 (zu dieser noch unten Fn 39) geregelt, s dazu C Nowak DVBl 2004, 272, 275 f. 31 In einem kartellrechtlichen Verfahren hat EuGH, Slg 1983, 1825, Rn 30 – Musique Diffusion daraus die Konsequenz gezogen, dass Belastungsmaterial, zu dem der Betroffene nicht Stellung nehmen konnte, durch das Gericht nicht zu seinen Lasten verwertet werden kann. Das Einsichtsrecht gilt allerdings auch nicht uneingeschränkt, sondern ist mit den Rechten anderer Beteiligter in Ausgleich zu bringen; so kann es in Kartellverfahren erforderlich werden, die Geschäftsgeheimnisse der Betroffenen vor der Einsichtnahme durch Dritte (etwa beschwerdeführende Wettbewerber) zu schützen. 32 Dieses Recht gilt nicht gegenüber den mitgliedstaatlichen Behörden, für deren Tätigkeit wie selbstverständlich die Amtssprache des Aufenthaltsstaats gilt. Eine Ausnahme normiert Art 84 IV der VO 1408/71, der für den Bereich der Sozialsysteme bestimmt: „Die Behörden, Träger und Gerichte eines Mitgliedstaates dürfen die bei ihnen eingereichten Anträge und sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen, weil sie in der Amtssprache eines anderen Mitgliedstaates abgefasst sind.“ S zu dieser Bestimmung und vereinzelten weiteren Ausnahmeregelungen de Witte
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Sprache im Kontakt mit den Gemeinschaftsorganen zu erwähnen. Dieses Recht ist als Ausprägung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Amsterdam in das Primärrecht aufgenommen worden und findet sich heute in Art 21 III EGV (24 IV AEUV) (→ vgl § 19 Rn 10); auch in Art 41 IV der Grundrechtscharta ist es niedergelegt. Es verpflichtet die Gemeinschaftsorgane, mit den Unionsbürgern in der von ihnen jeweils gewählten Amtssprache der Gemeinschaft zu kommunizieren.33 Allerdings ist insbesondere nach der Vermehrung der Amtssprachen durch die verschiedenen Beitrittsrunden fraglich geworden, wie lange die Gemeinschaft noch bereit ist, sich diesen Luxus der „Allsprachigkeit“ zu leisten34; immerhin macht die Rechtsprechung der jüngsten Zeit aber deutlich, dass die – wenn auch kostspielige – Berücksichtigung aller Amtssprachen zur Legitimation der Gemeinschaft im Kern unverzichtbar erscheint.35 Mit der Anerkennung weiterer ungeschriebener Verfahrensgrundrechte ist der Gerichtshof allerdings zu Recht zurückhaltend: So hat er die Anerkennung eines ungeschriebenen Anspruchs auf Rechtsbehelfsbelehrung, der im EGV nicht als Voraussetzung für den Fristlauf der Nichtigkeitsklage (Art 230 V EGV/263 VI AEUV grundsätzlich 2 Monate) erwähnt ist, abgelehnt.36 Ist eines der danach garantierten Rechte durch die Gemeinschaftsorgane im Verwaltungsverfahren missachtet worden, so kann die in diesem Verfahren ergangene Entscheidung wegen Verstoßes gegen eine wesentliche Formvorschrift (Art 230 II, 2. Alt EGV/ 263 II AEUV) durch die Gemeinschaftsgerichte für nichtig zu erklären sein. Die Zuordnung zu diesem Klagegrund bedeutet zugleich, dass die (mögliche) Auswirkung des Verstoßes auf den Inhalt der Entscheidung maßgeblich für den Erfolg der Klage ist: Nur
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in: Dinstein/Tabory (Hrsg), The Protection of Minorities and Human Rights, 1992, 277, 290 f; für ein Anwendungsbeispiel s EuGH, Slg 1967, 294 – Teresa Guerra (zu einem Klageschriftsatz in italienischer Sprache vor einem belgischen Gericht). Im Verhältnis zu den in Art 21 EGV (24 IV AEUV) nicht aufgeführten verselbstständigten Behörden der EG (sog Ämtern oder Agenturen der Gemeinschaft als Einheiten mit eigener Rechtspersönlichkeit) soll der Grundsatz der Allsprachigkeit nicht gelten, s EuG, Slg 2001, II-2235 – Christina Kik = EuR 2001, 764 m krit Anm Gundel (zum eingeschränkten Sprachenregime des EG-Markenamts in Alicante, das nur die Sprachen der fünf größten Mitgliedstaaten verwendet; die diese Einschränkung billigende Entscheidung des EuG ist durch EuGH, Slg 2003, I-8283 – Kik, m Anm Shuibne 41 CMLRev (2004), 1093 ff bestätigt worden). Zur sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Sprachenregimes s Oppermann ZEuS 2001, 1 ff; ders NJW 2001, 2663 ff; zur Reformfrage zB Nabli RFDA 2005, 177 ff; Van Der Jeught JTDE 2004, 129 ff; Yvon EuR 2003, 681 ff. S EuGH, Slg 2007, I-10841 – Skoma-Lux: Eine nicht in allen Amtssprachen veröffentlichte VO ist auf dem Gebiet der nicht berücksichtigten Staaten verbindlich; zum Hintergrund des Falls – der EU-Osterweiterung, die die Übersetzung des gesamten geltenden Sekundärrechts in die Sprachen der Beitrittsländer erforderlich machte – s Lasin´ski-Sulecki/Morawski 45 CMLRev (2008), 705 ff; zuletzt EuG, 20.11.2008 Rs T-185/05 – Italien/Kommission: Die Beschränkung der Veröffentlichung von Stellenausschreibungen auf die internen Arbeitssprachen Englisch, Französisch und Deutsch ist unzulässig; dazu Bernard Europe 1/2009, 8 f. EuGH, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles, Bestätigung von EuG, Slg 1998, II-253, Rn 161 – Guérin Automobiles; krit dazu Martínez Soria EuR 2001, 682, 694 mwN. Der EuGH hat hier festgehalten, dass eine solche Belehrungspflicht zwar in den meisten Mitgliedstaaten bestehe, dort aber nur Gegenstand des einfachen Gesetzesrechts sei.
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solche Fehler, die im konkreten Fall Auswirkungen haben konnten,37 gelten als Verstoß gegen eine „wesentliche Formvorschrift“.38 b) Insbesondere: Verfahrensrechte im Kartellverfahren 15
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Wichtigster Anwendungsbereich für Verfahrensgrundrechte unmittelbar gegenüber den Gemeinschaftsbehörden ist das EG-Kartellrecht, das bisher vor allem von der Kommission selbst unmittelbar gegenüber den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern vollzogen wurde. Auch nach der Dezentralisierung der Kartellaufsicht durch die VO 1/200339, mit der diese Aufgabe weitgehend auf die mitgliedstaatlichen Behörden verlagert wird, bleibt der Kommission das Recht des unmittelbaren Zugriffs auf kartellrechtliche Verstöße im Einzelfall.40 In diesem zumindest strafrechtsähnlichen Gebiet finden nicht nur die „allgemeinen Verfahrensgarantien“ Anwendung: Darüber hinaus stellt sich die Frage nach Geltung und Reichweite weiterer gebietsspezifischer Gewährleistungen, wie der Vertraulichkeit der Rechtsberatung 41, der Unschuldsvermutung 42, des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots 43 oder des Verbots der Doppelbestrafung.44
37 S zB EuG, Slg 2004, II-2223 – Mannesmannröhren-Werke, Rn 55, wonach „Verteidigungsrechte durch einen Verfahrensfehler nur verletzt werden, wenn sich dieser auf die Verteidigungsmöglichkeiten der beschuldigten Unternehmen konkret ausgewirkt hat“. Vergleichbar ist im deutschen Recht § 46 VwVfG, s dazu Kahl VerwArch 95 (2004), 1, 22 ff; Verfahrensfehler wirken sich damit vor allem in solchen Bereichen aus, in denen den Gemeinschaftsorganen ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist; s für ein Bsp EuG, Slg 1998, II-3773, Rn 60, 71 – Primex Produkte. 38 Tatsächlich wird der Wortlaut des Art 230 II EGV damit abweichend geordnet: Erforderlich ist nicht die Verletzung einer (bei abstrakter Betrachtung) „wesentlichen Formvorschrift“, sondern eine (im konkreten Fall) „wesentliche Verletzung“ einer Formvorschrift; so zu Recht Booß in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art 230 EGV Rn 103. 39 Die VO 1/2003 des Rates v 16.12.2002 zur Durchführung der in den Art 81 und 82 des EG-Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl EU 2003 L 1/1, ersetzt die zuvor geltende VO Nr 17 des Rates v 6.2.1962; zu den Verfahrensrechten nach der Reform zB Meyer/Kuhn WuW 2004, 880 ff; Andreangeli 31 ELRev (2006), 342 ff. 40 S zur Regelung der Zuständigkeiten Art 4 ff der VO 1/2003 (Fn 39); selbst im Fall eines bereits laufenden nationalen Verfahrens kann die Kommission noch eigene Ermittlungen einleiten, s EuG, Slg 2007, II-521, Rn 79 – France Télécom. 41 S schon Fn 10; zur Reichweite dieser Gewährleistung weiter EuG, Slg 2007, II-3523 – Akzo Nobel = EuR 2008, 514 m Anm Weiß; s auch Sladic ZEuS 2007, 533 ff; Seitz EuZW 2008, 204 ff; dies EuZW 2004, 231 ff. 42 S zB EuG, Slg 2007, II-4225 – Pergan Hilfsstoffe = EuR 2008, 703 m Anm Wegener: Die namentliche Erwähnung eines Unternehmens als (wegen Verjährung nicht mehr verfolgbarer) Teilnehmer an einem Kartell in der Begründung einer gegen andere Unternehmen ergangenen Entscheidung verletzt die Unschuldsvermutung. 43 S zB EuGH, Slg 2007, I-1331 – Groupe Danone, Rn 23 ff: Kein Verstoß durch strafschärfende Berücksichtigung eines Wiederholungsfalls bei Festsetzung der Bußgeldhöhe; dazu Seitz EuZW 2007, 304 f; EuG, 8.7.2008 Rs T-99/04 – AC-Treuhand, Rn 113 ff: Kein Verstoß durch Geldbuße für Beihilfehandlungen; dazu von dem Bussche/Albrecht EWS 2008, 416 ff. 44 S Art 50 GRCh; → zum Verbot der Doppelbestrafung nach Art 4 7. ZP EMRK § 6 Rn 60 f; im EG-Kartellrecht s Böse EWS 2007, 202 ff; Soltész/Marquier EuZW 2006, 102 ff; Ameye 25 ECLR (2004), 332, 339 f und EuGH, Slg XV (1969), 1, Rn 10 f – Walt Wilhelm/Bundeskartellamt; EuG, Slg 2004, II-1181, Rn 130 ff – Tokai Carbon: Eine parallele Sanktionierung nach nationalem und
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Fall 1: (EuGH, Slg 1989, 3283 – Orkem) Im Rahmen von Ermittlungen wegen des Verdachts unzulässiger Preisabsprachen fordert die Kommission die in Deutschland ansässige X-AG zur Erteilung von Auskünften auf; nachdem diese nicht reagiert, erlässt die Kommission eine förmliche Entscheidung, wonach die X-AG (1) Auskunft darüber zu geben hat, welche anderen Unternehmen bei einem Treffen führender Verantwortlicher der X-AG mit verschiedenen, bisher aber noch nicht abschließend ermittelten Konkurrenzunternehmen vertreten waren, (2) mitzuteilen hat, welche Verabredungen oder sonstigen Verstöße gegen Art 81 EGV (101 AEUV) bei diesen Treffen oder in der Folgezeit beschlossen worden sind. Die X-AG meint, dass sie die Fragen nicht beantworten müsse; die Anforderung dieser Angaben bedeute einen unzulässigen Zwang zur Selbstbelastung. Zu Recht?
Der Grundsatz des fairen Verfahrens, der für die EMRK in Art 6 verkörpert wird, gilt auch in kartellrechtlichen Ermittlungsverfahren der Kommission; dies gilt unabhängig davon, ob dieses Verfahren als Zivil- oder Strafsache im Sinne des Art 6 EMRK45 einzuordnen ist: Die Gemeinschaftsgerichte konnten diese Frage bisher offen lassen,46 weil die Geltung der Verfahrensanforderung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts davon nicht abhängig ist.47 Lösung Fall 1: Ein absolutes Recht zur Vermeidung von Selbstbelastungen besteht im Gemeinschaftsrecht nicht; der „nemo-tenetur“-Grundsatz gilt danach nur für natürliche Personen in Strafverfahren, nicht aber für juristische Personen, denen ein wettbewerbsrechtliches Bußgeld droht.48 Die Garantie eines fairen Verfahrens, die auch hier anwendbar ist, zwingt jedenfalls in diesem Bereich nicht zur Anerkennung eines absoluten Schweigerechts; dennoch setzt sie dem Fragerecht der Kommission Grenzen.
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EG-Wettbewerbsrecht ist nach diesen Entscheidung aufgrund der unterschiedlichen Schutzgüter nicht per se unzulässig, doch ist aus Billigkeitsgründen eine bereits verhängte Sanktion bei der folgenden Entscheidung mildernd zu berücksichtigen. Sanktionen durch Drittstaaten müssen nicht berücksichtigt werden, so EuGH, Slg 2006, I-5977 – SGL Carbon, Rn 26 ff; Slg 2007, I-3921 – SGL Carbon, Rn 24 ff. → zu den Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Art 6 I EMRK selbst § 6 Rn 35 ff. So zB EuG, Slg 1997, II-1739, Rn 56 – SCK u FNK, zum Anspruch auf Erlass einer Kommissionsentscheidung in angemessener Frist: „Daher ist, ohne dass über die Anwendbarkeit des Art 6 I EMRK auf Verwaltungsverfahren vor der Kommission auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik zu entscheiden wäre, zu prüfen, ob die Kommission im vorliegenden Fall gegen diesen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen hat.“ Wohl zu Recht hat EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 56 – Enso Española, daran festgehalten, dass die Kommission bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts nicht selbst als gerichtliche Instanz im Sinne des Art 6 I EMRK qualifiziert werden kann, auch wenn die verfahrensrechtlichen Garantien bereits in diesem Stadium gelten; ebenso bereits EuGH, Slg 1983, 1825, Rn 7 – Musique Diffusion; Slg 1980, 3125, Rn 80 – van Landewyck („Fedetab“); für Disziplinarverfahren der Kommission ebenso EuGH, Slg 1998, I-4871, Rn 52 – N. S auch Pache NVwZ 2001, 1342, 1343; ders EuGRZ 2000, 601, 603. EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 31 – Orkem. Ebenso für das deutsche Verfassungsrecht BVerfGE 95, 220, 241 f – Radio Dreyecksland; ablehnend dazu freilich Weiß JZ 1998, 289ff; ders NJW 1999, 2236 f.
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Die tatsächlichen Angaben zu (1) muss die X-AG danach tatsächlich erteilen, auch wenn sie Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen liefern, die schließlich zum Beweis eines Wettbewerbsverstoßes und zur Verhängung eines Bußgeldes führen können. Die Beantwortung der Fragen zu (2) würde dagegen nicht nur Indizien liefern, sondern verlangt eine eigene Bewertung des Sachverhalts durch das Unternehmen, die einem Geständnis gleichkommen würde. Die Verpflichtung zur Beantwortung solcher Fragen verstößt auch nach der Rechtsprechung des EuGH gegen das Recht auf ein faires Verfahren.49
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Die Lösung der Gemeinschaftsgerichte ist insofern nicht unproblematisch, als der EGMR in einem vergleichbaren Fall ein absolutes Recht zur Aussageverweigerung auf der Grundlage des Art 6 EMRK angenommen hat;50 in Kenntnis dieser Rechtsprechung haben EuG und EuGH die restriktivere Auslegung im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bestätigt.51 c) Ein eigenständiges Verfahrensrecht: Das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane
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In neuerer Zeit ist ein weiterer verfahrensrechtlicher Spezialbereich entstanden: Das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane. Eigenständige Informationsansprüche, die von dem aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren abzuleitenden Recht auf Akteneinsicht zu unterscheiden sind, hatte zunächst die 1990 erlassene Umweltinformationsrichtlinie 52 gegenüber den Behörden der Mitgliedstaaten begründet. Auf Gemeinschaftsebene wurde der Anspruch auf Einsicht dann im Rahmen der Geschäftsordnungen von Rat 53 und Kommission54 festgehalten – ohne eine gegenständliche Beschränkung auf den Umweltsektor. Mit dem Beitritt der skandinavischen Mitgliedstaaten Schweden und
49 EuGH, Slg 1989, 3283, Rn 38 ff – Orkem. 50 EGMR, Series A, Vol 256-A, Rn 41 ff, 44 – Funke (Zollverfahren), dazu Philippi ZEuS 2000, 97, 114 ff; s auch noch EGMR, RJD 1996-VI, Rn 71 – Saunders (Ermittlungen der Börsenaufsicht); zu diesen Entscheidungen des EGMR und ihren Konsequenzen für das Gemeinschaftsrecht s auch Riley 25 ELRev (2000), 264, 270 ff; einschränkend zum Ausschluss einer Pflicht zur Selbstbelastung aber die neuere EGMR-Rspr, s EGMR, RJD 2003-VIII – Allen = ÖJZ 2003, 909; EGMR, ÖJZ 2004, 853, Rn 39 ff – Weh. 51 EuG, Slg 2001, II-729, Rn 70 ff – Mannesmannröhren-Werke = EuZW 2001, 345 m Anm Pache; EuGH, Slg 2006 I-5915, Rn 45 ff – SGL Carbon; kritisch dazu Schohe NJW 2002, 492 f; die Diskrepanz lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass in den vom EGMR entschiedenen Fällen (Fn 50) natürliche Personen betroffen waren; so wohl auch Paeffgen ZStW 118 (2006), 275, 297. Die Kläger im Fall Mannesmannröhren haben freilich zu Recht darauf hingewiesen, dass Art 6 EMRK keine Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen trifft, s Rn 45 der Entscheidung; man könnte allerdings daran denken, ein strafrechtliches Verfahren im Sinne des Art 6 I EMRK nur dann zu bejahen, wenn eine natürliche Person betroffen ist. 52 RL 90/313 des Rates v 7.6.1990 „über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt“, ABl EG 1990 L 158/56; dazu etwa Hatje EuR 1998, 734 ff; Wilsher 7 EPL (2001), 671 ff; inzwischen ersetzt durch die RL 2003/4 des EP und des Rates v 28.1.2003, ABl EU 2003 L 41/26; s zu ihr zB C Nowak DVBl 2004, 272, 273 f. 53 Beschluss des Rates v 20.12.1993 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Ratsdokumenten, ABl EG 1993 L 340/43. 54 Beschluss der Kommission v 8.2.1994 über den Zugang der Öffentlichkeit zu den der Kommission vorliegenden Dokumenten, ABl EG 1994 L 46/58.
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Finnland, die über eine ausgeprägte Tradition der Transparenz des Verwaltungshandelns verfügen,55 hat sich auch die Diskussion um ein Informationsrecht auf Gemeinschaftsebene intensiviert. Der durch den Vertrag von Amsterdam eingefügte Art 255 EGV (15 AEUV) (→ vgl § 19 Rn 71 ff)56 und die auf seiner Grundlage erlassene VO 1049/ 200157 normieren diese Zugangsansprüche nun auch gegenüber den Gemeinschaftsorganen; die VO legt zugleich die Grenzen und Verweigerungsgründe (etwa den Schutz der öffentlichen Sicherheit oder der internationalen Beziehungen) fest. Das nun auch primärrechtlich verankerte Informationsrecht hat bereits zu einer umfangreichen Rechtsprechung58 geführt, die dieses Recht gegenüber einer (entgegen den allgemeinen Beteuerungen) sehr restriktiven Praxis der Gemeinschaftsorgane konsequent durchsetzt:59 Die bestehenden Ablehnungsgründe sind danach grundsätzlich eng auszulegen;60 die Verweigerung der Einsicht muss in einer Weise begründet werden, die den Ablehnungsgrund erkennen lässt;61 die Begründung muss grundsätzlich in Bezug auf jedes betroffene Dokument erfolgen.62 Allerdings hat das EuG auch klargestellt, dass dieses
55 Zu Schweden s Österdahl 23 ELRev (1998), 336 ff; Ragnemalm Scritti in Onore di Mancini, 1998, Vol 2, S 809, 812 ff. 56 Die Bestimmung ist freilich nicht unmittelbar anwendbar und stellt die bereits zuvor geltenden Einschränkungen und Ausnahmen nicht in Frage, s EuG, Slg 2001, II-3677, Rn 34 ff – David Petrie. Zur Frage, ob nun der Grundsatz der Transparenz als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen ist, s zB Broberg 27 ELRev (2002), 194 ff; C Nowak DVBl 2004, 272, 279 f. 57 VO 1049/2001 des EP und des Rates v 30.5.2001 „über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“, ABl EG 2001 L 145/43; dazu zB B Wägenbaur EuZW 2001, 680 ff; Partsch NJW 2001, 3154 ff; Peers 21 YEL (2002), 385 ff; de Leeuw 28 ELRev (2003), 324 ff; Bartelt/Zeitler EuR 2003, 487 ff; Heitsch Die Verordnung über den Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane im Lichte des Transparenzprinzips, 2003, 63 ff; zu dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag einer Neufassung – KOM (2008) 229 endg v 30.4.2008 – s Maes RMUE 2008, 577 ff. 58 S die Übersichten bei Kranenborg 45 CMLRev (2008), 1079 ff; Heliskoski/Leino 43 CMLRev (2006), 735 ff; Jann FS Adamovich, 2002, S 241 ff; Kröger FS Druey, 2002, S 817 ff; Kadelbach 38 CMLRev (2001), 179 ff; Davis 25 ELRev (2000), 303 ff; monographisch Castenholz Informationszugangsfreiheiten im Gemeinschaftsrecht, 2004; Riemann Die Transparenz der Europäischen Union, 2004; Meltzian Das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane, 2005. 59 S etwa die Zulassung eines partiellen Zugangs zu Dokumenten durch EuG, Slg 1999, II-2489 – Hautala, bestätigt durch EuGH, Slg 2001, I-9565 – Hautala m Anm Leino 39 CMLRev (2002), 621 ff u Anm Caranta RIDPC 2003, 870 ff; EuG, Slg 2000, II-1959 – Kuijer; Slg 2001, II-2265, Rn 66 ff – Mattila (bestätigt durch EuGH, Slg 2004, I-1073, Rn 30 ff – Mattila), während die Gemeinschaftsorgane eine „alles-oder-nichts“-Lösung vertreten hatten. Zur angemessenen Berücksichtigung des erkennbaren Interesses des Antragstellers an den begehrten Informationen s EuG, Slg 2001, II-2997, Rn 42 ff – BAT; Slg 1995, II-2765, Rn 67 ff – Carvel u Guardian Newspapers Ltd = EuR 1996, 199 m Anm Kugelmann u Anm Twomey 33 CMLRev (1996), 831 ff. 60 EuG, Slg 2001, II-2997, Rn 40 – BAT; Slg 2000, II-3011, Rn 45 – Denkavit; Slg 1999, II-3217, Rn 39 – Bavarian Lager; EuGH, Slg 2000, I-1, Rn 27 – Niederlande und van der Wal/Kommission. 61 EuG, Slg 1998, II-231, Rn 77 – Interporc; Slg 1997, II-313, Rn 66 – WWF UK, m Anm Chiti 35 CMLRev (1998), 189; de Leeuw 3 EPL (1997), 339 ff. 62 EuG, Slg 1998, II-2289, Rn 112 – Svenska Journalistförbundet; Slg 2000, II-3269, Rn 64 f – JT’s Corporation Ltd; abschwächend EuG, Slg 2001, II-2265, Rn 87 ff – Mattila.
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Recht nur den Zugang zu bestehenden Dokumenten garantiert, nicht aber einen allgemeinen Auskunftsanspruch gegenüber den Gemeinschaftsorganen begründet.63
2. Verfahrensgrundrechte vor den Gemeinschaftsgerichten a) Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten aa) Direkter und indirekter Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten 23
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Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes durch die Judikative der Gemeinschaft betrifft zunächst die Frage der Eröffnung des Zugangs zum Gericht; grundsätzlich gehört eine wirksame gerichtliche Überprüfung von belastenden Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts.64 Der EuGH betont, dass der Vertrag „ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen“ hat, das die Kontrolle ihrer Handlungen durch den Gemeinschaftsrichter sicherstellt65. Diese Kontrolle erfolgt allerdings nicht stets in der Form des Primärrechtsschutzes, denn die Nichtigkeitsklage des Art 230 EGV (263 AEUV) erfasst nur Handlungen der Gemeinschaftsorgane, die verbindliche Rechtswirkungen haben; im Übrigen verweist der Gerichtshof auf die Möglichkeit von Schadenersatzklagen gem Art 235, 288 II EGV (268, 340 AEUV) 66. Vollständig ist dieses System zudem von vornherein nur durch die Einbeziehung der nationalen Gerichte: Ihnen ist der Rechtsschutz des Einzelnen gegen gemeinschaftsrechtswidriges Handeln der Mitgliedstaaten vollständig anvertraut67, und auch sein Zugang zum Gerichtshof zur Prüfung von Handlungen der Gemeinschaftsorgane erfolgt nach der Konzeption des EGV und der bisherigen Handhabung durch die Rechtsprechung regelmäßig „indirekt“ auf dem Weg über die nationalen Gerichte und das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art 234 EGV (267 AEUV); diese Aufgabenverteilung wird durch den Reformvertrag von Lissabon im Grundsatz bestätigt 68. Der Gerichtshof hat zwar unter Berufung auf den Charakter der EG als Rechtsgemeinschaft den Grundsatz aufgestellt, dass stets eine Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung für gemeinschaftsrechtlich begründete Rechtspositionen bestehen muss; 69 zu Erweiterungen des direkten Zugangs zu den Gemeinschaftsgerichten hat der Gesichtspunkt des lückenlosen Rechtsschutzes bisher aber fast ausschließlich in Fällen geführt, die nicht den Schutz individueller Rechte, sondern
63 EuG, Slg 1999, II-3273, Rn 35 – KL Meyer. 64 So – wiederum für Wettbewerbsentscheidungen der Kommission – EuG, Slg 1998, II-1875, Rn 60 – Enso Española. 65 So zB EuGH, Slg 2006, I-7795, Rn 80 – Reynolds Tobacco u a/Kommission. 66 S zB zur Unzulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung der Kommission, Tabakhersteller vor amerikanischen Gerichten zu verklagen: EuGH, Slg 2006, I-7795, Rn 79 ff – Reynolds Tobacco u a/Kommission; auch die Weitergabe von Informationen durch das Europäische Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) kann nur mit der Schadenersatzklage verfolgt werden, s u Fn 136. 67 S auch noch u Rn 71 f. 68 S den neuen Art 19 I UA 2 EUV-E: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfaßten Bereichen gewährleistet ist.“ Zur begrenzten Erweiterung der Nichtigkeitsklage in Art 263 IV AEUV s Rn 33. 69 So zB EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts/Parlament.
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das Verhältnis der Gemeinschaftsorgane zueinander betrafen70 und die in den Kategorien des deutschen Verfassungsprozessrechts eher dem Organstreitverfahren zuzuordnen wären.71 Im Übrigen verweist der Gerichtshof auf den „Einstieg“ über das Vorabentscheidungsverfahren, über dessen Einleitung das vorlegende nationale Gericht entscheidet. Die nationalen Gerichte sind zwar in letzter Instanz gemäß Art 234 III EGV zur Vorlage verpflichtet, wenn sich ein ernsthaftes Auslegungsproblem stellt;72 will das Gericht die Ungültigkeit von Sekundärrecht annehmen, so gilt die Vorlagepflicht sogar unabhängig von seiner Stellung im Instanzenzug.73 Durch den Einzelnen gemeinschaftsrechtlich erzwingbar ist die Vorlage jedoch nicht: Eine Nichtvorlagebeschwerde zum Gerichtshof ist nicht vorgesehen;74 das Gemeinschaftsrecht vertraut insoweit auf die korrekte Anwendung durch die nationalen Gerichte.75 Als mittelbare Sanktion steht unter sehr eingeschränkten Bedingungen nur die Möglichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für Gerichtsurteile 76 zur Verfügung. bb) Zulässige Nichtigkeitsklagen Einzelner gegen die an sie gerichteten Entscheidungen Diese Konzeption des indirekten Zugangs gilt auch, soweit Einzelne die Gültigkeit von Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane zur Überprüfung stellen: Den direkten Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten eröffnet Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) ohne zusätzliche
70 S die zunächst gegen den Text des Vertrages erfolgte Anerkennung der Aktivlegitimation des Parlaments zur Verteidigung seiner Rechte durch EuGH, Slg 1990, I-2041, Rn 23 – Parlament/Rat (Tschernobyl) = EuR 1990, 269 m Anm Hilf, die in Art 230 III EGV (Maastricht-Fassung) kodifiziert wurde (der Vertrag von Nizza hat das Parlament dann unter die privilegierten Kläger des Art 230 II EGV eingereiht); ähnlich für die Passivlegitimation EuGH, Slg 1986, 1339, Rn 23 – Les Verts/Parlament (Wahlkampfkostenerstattung); EuG, Slg 2001, II-2823, Rn 47 ff – Martinez, de Gaulle ua/Parlament (Anerkennung des Fraktionsstatus von Gruppierungen im EP). 71 Eine Ausnahme bildet EuG, 8.10.2008 Rs T-411/06 – Sogelma, EuR 2009, 369 m Anm Gundel zum Rechtsschutz gegen Entscheidungen der in Art 230 EGV nicht aufgeführten Agenturen; in Art 263 I 2 AEUV sind sie nun genannt, dazu auch Everling EuR-Beih 1/2009, 71, 77 f. 72 Zu dieser Einschränkung der Vorlagepflicht durch die sog „acte clair-Doktrin“ s EuGH, Slg 1982, 3415 – CILFIT = EuR 1983, 161 m Anm Millarg. 73 Dazu und zur Ausnahme für den vorläufigen Rechtsschutz Rn 58. 74 Entsprechende Überlegungen finden sich zB bei Allkemper Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, 209 ff mwN. 75 In einzelnen Mitgliedstaaten besteht die Möglichkeit, unter Berufung auf das nationale Grundrecht des gesetzlichen Richters Verstöße der letzten fachgerichtlichen Instanz gegen die Vorlagepflicht des Art 234 III EGV (267 AEUV) zu rügen, s für Art 101 I 2 GG BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg; später zB BVerfG, JZ 2001, 923 m Anm Voßkuhle; BVerfG, NJW 2002, 1486; BVerfG, EuZW 2008, 679; BVerfG, EuGRZ 2008, 633; für Österreich ebenso VerfGH Wien, EuGRZ 1996, 529. Gemeinschaftsrechtlich gefordert ist die Eröffnung dieser zusätzlichen Instanz nicht; in Mitgliedstaaten, die diese Möglichkeit nicht kennen, bleibt den Parteien des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit der Beschwerde zum EGMR wegen Verletzung der Vorlagepflicht: Die willkürliche Verletzung einer solchen Pflicht kann ebenfalls als Verstoß gegen Art 6 EMRK (faires Verfahren) gerügt werden, s EGMR, RUDH 2001, 420 – Canela Santiago; EGMR, EuGRZ 2008, 274 – John. 76 S dazu EuGH, Slg 2003 I-10239 = EuZW 2003, 718 m Anm Obwexer = EWS 2004, 19 m Anm Gundel 8 ff – Köbler = JK 4/04, EGV Art 10/02; Slg 2006, I-5177 – Traghetti del Mediterraneo = JZ 2006, 1173 m Anm Haratsch.
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Voraussetzungen nur für diejenigen Kläger, die sich gegen an sie gerichtete Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane wenden, also zB für den Adressaten einer Bußgeldentscheidung der Kommission in Wettbewerbssachen. Für diese zulässigen Klagen Einzelner führt dieser Weg heute stets zum EuG als Eingangsgericht, das mit der EEA zur Entlastung des EuGH, aber auch zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes durch Schaffung einer eigenen Tatsacheninstanz77 errichtet worden war.78 Die Empfänger einer solchen Entscheidung müssen danach grundsätzlich binnen der in Art 230 V EGV (263 VI AEUV) vorgesehenen Frist von zwei Monaten die Nichtigkeitsklage erheben; unterbleibt diese, so wird die Entscheidung bestandskräftig und damit für den Adressaten verbindlich.79 Eine Rechtsbehelfsbelehrung, die den Betroffenen auf diese Klagemöglichkeit (und -obliegenheit) hinweist, ist weder im Vertrag noch im Sekundärrecht ausdrücklich vorgesehen; der EuGH hat sie auch nicht als durch die Erfordernisse eines fairen Verfahrens geboten angesehen.80 Allerdings kann in besonderen Ausnahmefällen ein entschuldbarer Irrtum des Klägers angenommen werden, der ein Fristversäumnis ausschließt.81 cc) Klagen Einzelner gegen allgemein geltende Regelungen des Sekundärrechts
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Für nicht an den Kläger gerichtete Handlungen der Gemeinschaftsorgane gilt nach Art 230 IV EGV (263 IV AEUV), dass der Kläger durch den angegriffenen Rechtsakt „unmittelbar und individuell“ betroffen sein muss. Nach der von der Rechtsprechung seit langem verwendeten engen Auslegung des Erfordernisses der individuellen Betroffenheit – danach muss der Kläger durch den Rechtsakt „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt“ werden und damit „in ähnlicher Weise individualisiert“ sein wie der Adressat einer Entscheidung 82 – waren Nichtigkeitsklagen gegen normative Rechtsakte der Gemeinschaft regelmäßig unzulässig; Verordnungen oder Richtlinien waren damit einer direkten Kontrolle durch den Einzelnen im Regelfall nicht ausgesetzt.83 In der Literatur wird eine erweiternde Auslegung von Art 230 IV EG zugunsten der Zulässigkeit von Direktklagen Einzelner gegen EG-Verordnungen unter dem Gesichts-
77 3. Erwägungsgrund des Beschlusses zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, ABl EG 1988 L 319/1. 78 S dazu rückblickend Azizi ÖJZ 2002, 41, 44 ff; Lenaerts CDE 2000, 323 ff; aus der Entstehungszeit Müller-Huschke EuGRZ 1989, 213 ff; Cruz Vilaça/Pais Antunes Mélanges Boulouis, 1991, 47 ff. 79 S zur Reichweite dieser Bestandskraft zB EuGH, Slg 1999, I-5363, Rn 57 ff – AssiDomän = JK 5/00, EGV Art 233/1. 80 EuGH, Slg 1999, I-1441, Rn 15 – Guérin Automobiles; die Klägerin hat in diesem Fall Beschwerde gegen die 15 EG-Mitgliedstaaten vor dem EGMR erhoben, die als unzulässig zurückgewiesen wurde, s EGMR, RUDH 2000, 119 ff – Guérin. 81 S zB EuG, Slg 2001, II-717, Rn 22 – Pitsiorlas; EuGH, Slg 2003, I-4837, Rn 20 ff – Pitsiorlas. 82 StRspr seit EuGH, Slg IX 1963, 213, 238 – Plaumann; für den Fall der „smart sanctions“-Verordnungen, in dem diese Anforderungen erfüllt sind, s u Rn 41. 83 Dazu Gundel VerwArch 92 (2001), 81 ff. Dagegen sind die Anforderungen bei an Dritte gerichteten Entscheidungen der Gemeinschaft (wozu auch die Entscheidungen an die Adresse der Mitgliedstaaten gehören) in vielen Fällen erfüllbar, s dazu mwN Mager EuR 2001, 661, 673 ff.
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punkt des effektiven Rechtsschutzes allerdings ebenfalls seit langem gefordert.84 Bisher hat die Rechtsprechung eine solche Auslegung abgelehnt, weil effektiver Rechtsschutz auch durch die nationalen Gerichte auf dem Weg über das Vorabentscheidungsverfahren (Art 234 EGV/267 AEUV) gewährleistet ist.85 Dieser „indirekte Einstieg“ über ein Verfahren vor den nationalen Gerichten in Verbindung mit dem Einsatz des Vorabentscheidungsverfahrens ermöglicht regelmäßig die Überprüfung des Sekundärrechts. Allerdings wird diese Lösung in den Fällen, in denen die Herbeiführung dieser inzidenten Überprüfung sich als schwierig erweist, immer wieder in Frage gestellt. Fall 2: (EuG, Slg 2002, II-2365 – Jégo-Quéré) Eine neu erlassene Verordnung der EG sieht vor, dass in der Hochseefischerei nur noch Netze mit einer bestimmten Mindest-Maschenbreite verwendet werden dürfen. A, der mehrere von dieser Änderung betroffene Fischkutter betreibt, sieht durch die damit verbundene Verringerung der Fänge seinen Betrieb gefährdet und die Regelung deshalb als unverhältnismäßig an. Er erhebt Klage zum EuG und meint, dass er angesichts der erheblichen Berührung seiner Interessen und des Gebots effektiven Rechtsschutzes als „individuell betroffen“ angesehen werden müsse, so dass die Klage zulässig sei. Ihm sei nicht zuzumuten, eine Überprüfung des Verbots vor den nationalen Gerichten dadurch herbeizuführen, dass er gegen die Bestimmung bewusst verstoße und ein strafrechtliches Verfahren auf sich nehme; andere Ausführungsakte, die er vor den nationalen Gerichten angreifen könne, seien nicht ersichtlich. Ist die Nichtigkeitsklage zulässig?
Lösung Fall 2: Nachdem die Klage des A sich nicht gegen eine an ihn gerichtete Entscheidung richtet, ist sie nur zulässig, wenn er durch die Verordnung unmittelbar und individuell betroffen ist, Art 230 IV EGV (263 IV AEUV). Vorliegend ist zwar die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt, weil kein weiterer Rechtsakt zur Konkretisierung der Pflichten des A mehr erforderlich ist. Nach der bisher praktizierten Interpretation des Art 230 IV EGV ist die individuelle Betroffenheit jedoch nur gegeben, wenn der Kläger sich in einer Situation befindet, die dem Adressaten einer Entscheidung vergleichbar ist: Er müsste aus dem Kreis anderer denkbarer Kläger in besonderer Weise herausgehoben sein. Bei Rechtsakten von allgemeiner Geltung ist diese Voraussetzung regelmäßig nicht erfüllt, Klagen Einzelner gegen solche normativen Rechtsakte sind damit regelmäßig nicht zulässig. Dies würde auch für die Klage des A gelten: Er ist von der Regelung nicht in anderer Weise betroffen als jeder andere Wirtschaftsteilnehmer, der sich entschließt, in diesem Bereich tätig zu werden.86
84 Krit zur engen Auslegung zB Bleckmann FS Menger, 1985, S 872, 873 f, 882 ff; v Danwitz NJW 1993, 1108, 1111 ff; Allkemper Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, 64 ff; Reich in: Micklitz/Reich (Hrsg), Public Interest Litigation before European Courts, 1996, 3 ff; Schockweiler JTDE 1996, 1, 8; Jacobs Mélanges Schockweiler, 1999, 197, 203 ff; Dutheil de la Rochère RevMC 2000, 223, 224 f. 85 S zum Stand vor der Jégo-Quéré-Entscheidung (zu ihr sogleich im Text Fall 2) Gundel VerwArch 92 (2001), 81 ff; zuletzt EuGH, Slg 2002, I-1179, Rn 47 – La Conqueste SCEA (Bestätigung von EuG, Slg 2001, II-181 – La Conqueste SCEA). 86 EuG, Slg 2002, II-2365, Rn 38 – Jégo-Quéré = EuZW 2002, 412 m Anm Lübbig = EWS 2002, 324 m Anm Schohe/Arhold.
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Das Gericht erster Instanz 87 hatte im vorliegenden Fall diese Interpretation verworfen und entschieden, dass in Fällen, in denen die Beschreitung des Rechtswegs gegen nationale Ausführungsakte nicht zumutbar sei, das Merkmal zur Sicherung des in Art 6 und 13 EMRK sowie Art 47 GRCh gewährleisteten Gebots effektiven Rechtsschutzes so ausgelegt werden müsse, dass eine wesentliche Berührung der Interessen des Klägers genüge. Das Urteil wurde in der Folge vom EuGH88 aufgehoben, der eine solche Ausweitung als vom Wortlaut nicht gedeckt und durch die Rechtsschutzgarantie nicht geboten angesehen hat.
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Dem Argument der Unzumutbarkeit des Wegs über das Vorabentscheidungsverfahren ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine inzidente Überprüfung durch die nationalen Gerichte nicht nur im Rahmen von Strafverfahren herbeigeführt werden kann – was tatsächlich nicht akzeptabel wäre89 –, sondern auch auf dem Weg der vorbeugenden Feststellungsklage gegenüber der zur Durchsetzung zuständigen nationalen Behörde möglich ist.90 Nachdem auf diese Weise der Rechtsschutz durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gesichert werden kann – und diese zur Eröffnung der entsprechenden Möglichkeiten auch gemeinschaftsrechtlich verpflichtet sind 91 –, besteht keine Notwendigkeit, den geltenden Art 230 IV EGV in einer Weise auszulegen, die die Zulässigkeitsvoraussetzung der individuellen Betroffenheit letztlich eliminiert. Auf diese durch den Wortlaut der Bestimmung gesetzten Grenzen hat schließlich auch der EuGH verwiesen und seine Rechtsprechung gegen die Kritik des EuG bestätigt; die Erfüllung von Erweiterungswünschen falle danach in die Zuständigkeit des Vertragsgebers 92. Dieser Hinweis ist im Entwurf des gescheiterten Verfassungsvertrages mit einer Regelung aufgenommen worden, deren Auslegung im neuen Umfeld des Vertrags von Lissabon unklar ist: Der Verfassungsentwurf hatte den Text des bisherigen Art 230 IV EGV durch die Regelung einer 3. Alternative ergänzt,93 die auf das Erfordernis der individuellen Be-
87 EuG, Slg 2002, II-2365, Rn 45, 49 – Jégo-Quéré, unter Berufung auf die Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores. 88 EuGH, Slg 2004, I-3425 – Jégo-Quéré = JK 12/04, EGV Art 230 IV/3; s auch unten Fn 92. 89 So ausdr EuGH, Slg 2007, I-2271 – Unibet, Rn 62, 64 (zum Rechtsschutz gegen nationale Verstöße). 90 S für ein frühes Beispiel EuGH, Slg 1994, I-5555 – SMW Winzersekt (Vorlagebeschluss des VG Mainz, ZLR 1994, 153 m Anm Koch). Inzwischen finden sich zahlreiche Beispiele solcher Vorlagen vor allem durch englische Gerichte, s zur (ersten) Tabakwerbe-RL EuGH, Slg 2000, I-8599 – Imperial Tobacco (zu dieser Vorlage Seidel EuZW 1999, 369 ff), zur Tabakprodukt-RL EuGH, Slg 2002, I-11453 – BAT = EuR 2003, 80 m Anm Gundel, zur Mischfuttermittel-Etikettierungs-RL EuGH, Slg 2005, I-10423, Rn 108 ff – ABNA = EWS 2006, 73 m Anm Gundel 65 ff. 91 Dazu zB Temple Lang 28 ELRev (2003), 102 ff; Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 105 ff. 92 EuGH (Plenum), Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores, Rn 44 f = DVBl 2002, 1348 m Anm Götz; dazu auch Braun/Kettner DÖV 2003, 59 ff; Malferrari/Lerche EWS 2003, 254 ff; Rengeling FS Kutscheidt, 2003, S 93 ff; Röhl Jura 2003, 830 ff; Usher 28 ELRev (2003), 575 ff; Gilliaux CDE 2003, 177 ff; Mehdi RTDE 2003, 23 ff. In der Folge ebenso EuGH, Slg 2003, I-15105 – Bactria Industriehygiene, Rn 58; EuGH, Slg 2004, I-3149 – Rothley ua, Rn 46 ff = EuR 2004, 765 m Anm Lavranos; EuGH, Slg 2004, I-3425, Rn 29 ff – Jégo-Quéré; das EuG hat sich dieser Position gebeugt, s EuG, Slg 2002, II-3239 – VVG, Rn 39; EuG, Slg 2003, II-1997 – Vannieuwenhuyze-Morin, Rn 27 ff. 93 Dazu W Cremer EuGRZ 2004, 577 ff; Mayer DVBl 2004, 606 ff; Varju 10 EPL (2004), 43 ff; Schwarze 10 EPL (2004), 285 ff.
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troffenheit verzichtete und so die Möglichkeit der Direktklage eröffnete. Doch war diese Erweiterung auf „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ im Sinne des Verfassungsvertrages beschränkt; sie galt damit nur für Durchführungs-Rechtsakte und erfasste das nun als „europäisches Gesetz“ (Verordnung) oder „Rahmengesetz“ (Richtlinie) bezeichnete Sekundärrecht nicht94. Bei der Umwandlung des Verfassungsvertrags zum Reformvertrag ist der Text der Regelung dann – wohl eher versehentlich als bewusst – erhalten geblieben, obwohl der Vertrag im Übrigen zur vertrauten Terminologie des Sekundärrechts zurückgekehrt ist. Bei wörtlicher Lektüre hat Art 263 IV AEUV damit nun einen weitergehenden Inhalt und lässt die Direktklage Einzelner auch gegen Sekundärrechts-Verordnungen in weiterem Umfang zu.95 Eine solche Erweiterung des direkten Rechtsschutzes, die auf den ersten Blick als bürgerfreundliche Neuerung erscheint, kann allerdings auch nachteilige Konsequenzen haben: Wenn der Betroffene die ihm eröffnete Möglichkeit der Nichtigkeitsklage gegen einen ihm bekannten Rechtsakt der Gemeinschaft nicht nutzt, so ist ihm nach der „Textilwerke Deggendorf“-Rechtsprechung des EuGH eine spätere inzidente Überprüfung – etwa im Verfahren der Vorabentscheidung – versagt.96 Diese Präklusionsregel, mit der der Gerichtshof die Klagefrist des Art 230 V EGV (263 VI AEUV) gegen Umgehungen absichert, hatte bisher nur für individuelle Entscheidungen Bedeutung – etwa für an den Mitgliedstaat gerichtete Kommissionsentscheidungen, mit denen die Rückabwicklung unrechtmäßig gewährter nationaler Beihilfen angeordnet wird.97 Wird die Möglichkeit der prinzipalen Normenkontrolle durch die Zulassung von Direktklagen erweitert, steht aber zugleich auch die Ausweitung der korrespondierenden „Deggendorf-Regel“ auf solche Fälle in Frage.98
94 Zu verbleibenden Abgrenzungsfragen Cremer EuGRZ 2004, 577, 579 ff. 95 Dazu Everling EuR-Beih 1/2009, 71, 74 f, der gegen eine auf diese Entstehungsgeschichte abstellende restriktive Interpretation plädiert; ebenso Rabe NJW 2007, 3153, 3157; entgegengesetzt Schröder DÖV 2009, 61, 64; Hatje/Klindt NJW 2008, 1761, 1767. 96 So erstmals EuGH, Slg 1994, I-833 – Textilwerke Deggendorf; s dazu Pache EuZW 1994, 615 ff; Hoskins 31 CMLRev (1994), 1399 ff; später EuGH, Slg 1997, I-6315, Rn 26 ff – Eurotunnel; Slg 1996, I-6699, Rn 15 f – Acrington Beef; s auch noch EuGH, Slg 1997, I-585, Rn 15 ff – Wiljo; zur Entwicklung der Rspr s Jaeger Mélanges Schockweiler, 1999, 233, 235 ff. 97 So der Sachverhalt der Textilwerke Deggendorf-Entscheidung. Ein Beihilfeempfänger, der von der zu seinem Nachteil ergangenen Kommissions-Entscheidung Kenntnis erhält, muss – da er die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt – von der damit in Art 230 IV EGV (263 IV AEUV) eröffneten Klagemöglichkeit auch Gebrauch machen. Tut er es nicht, so ist ihm im nachfolgenden nationalen Verfahren um die Rückabwicklung der Einwand der Rechtswidrigkeit der Kommissionsentscheidung versagt; für eine Anwendung dieser Regel s BGH, WM 2004, 693. 98 Dazu Gundel VerwArch 92 (2001), 81, 97 f; Köngeter NJW 2002, 2216, 2218. GA Jacobs meint, dass diese Regel nicht auf Rechtsakte normativen Charakters („allgemeine Handlungen“) ausgeweitet werden dürfe, s Rn 65 seiner Schlussanträge zu EuGH, Slg 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; tatsächlich hat der Gerichtshof sie aber schon auf EG-Verordnungen angewandt, soweit diese ausnahmsweise (im Bereich der Anti-Dumping-Verordnungen) auch schon einer direkten Klage durch Einzelne zugänglich waren, s EuGH, Slg 2001, I-1197, Rn 30 ff – Nachi Europe und dazu Moloney 39 CMLRev (2002), 393 ff.
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b) Garantien im Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten 34
Die Verfahrensgrundrechte spielen aber auch für das „Wie“ des Rechtsschutzes vor den Gemeinschaftsgerichten eine erhebliche Rolle; auch hier haben sich in neuerer Zeit Diskussionspunkte ergeben, die zum Teil auf den Vergleich der Praxis des EuGH mit den Anforderungen der EMRK und auch denen des nationalen Verfassungsrechts zurückgehen. aa) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit
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Zu den Grundelementen der Rechtsschutzgarantie gehört die Entscheidung durch unabhängige und unparteiliche Richter, wie sie auch Art 6 EMRK garantiert. In Bezug auf die Unabhängigkeit wird hier teilweise als bedenkliche Anomalie wahrgenommen, dass die Bestellung der Gemeinschaftsrichter befristet erfolgt und die – zulässige – Wiederbenennung in der Hand des jeweiligen Mitgliedstaats liegt.99 Allerdings entspricht die Befristung bei internationalen Gerichten der Üblichkeit; auch sollten die hohen Anforderungen, die Art 223 EGV an Qualifikation und Erfahrung der Richter stellt, ihre Beeinflussbarkeit durch befürchtete negative Reaktionen des Heimatstaates ausschließen100. Hinsichtlich der Anforderungen an die Unparteilichkeit der Richter im konkreten Streitfall orientiert sich der EuGH an den zu Art 6 EMRK entwickelten Kriterien.101 bb) Gesetzlicher Richter
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Auch die Garantie des gesetzlichen Richters gilt für die Gemeinschaftsgerichte;102 hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeiten bestehen hier auch keine Probleme. Diskutiert wurde vor allem die Bestimmung des gesetzlichen Richters bei der Besetzung der Richterbank in „überbesetzten“ Kollegien, etwa den Fünf-Richter-Kammern des EuGH,103 die in einer Besetzung von fünf Richtern entscheiden, denen teils aber bis zu sieben Richter zugewiesen waren. Nachdem das BVerfG104 hier in Bezug auf die deutsche Gerichtsbarkeit hohe Anforderungen an die abstrakte Festlegung der im konkreten Fall zur Entscheidung berufenen Mitglieder eines Kollegiums gestellt hatte, wurden in der deutschen Literatur entsprechende Forderungen auch an die Besetzungspraxis der Gemeinschaftsgerichte gestellt.105 Der EuGH hat eine entsprechende Rüge zunächst mit der Begründung zurückgewiesen, dass eine Manipulation der Richterbank im konkreten Fall nicht ersicht-
99 Dazu Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 27 f. 100 Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des EuGH stets kollegial getroffen werden und damit keinem einzelnen Richter zuzuordnen sind, s Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 28 ff. 101 S zB EuGH, 1.7.2008 verb Rs C-341/06 P u C-342/06 P – Chronopost/UFEX, Rn 44 ff mit intensiver Bezugnahme auf die EGMR-Rspr; die Regelung zum Ausschluss befangener Richter findet sich in Art 18 EuGH-Satzung. 102 Dazu Haase Die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren auf europäischer Ebene, 2006, 296 ff; Grzybek Prozessuale Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1993, 76 ff. 103 Zu den einzelnen Spruchkörpern des EuGH s Middeke in RMG Hb Rechtsschutz, § 3 Rn 18 ff; zur Neuordnung ihrer Zuständigkeiten im Rahmen der Osterweiterung der Gemeinschaft Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 31 f. 104 S BVerfG (Plenum), BVerfGE 95, 322. 105 Dazu etwa Mößlang EuZW 1996, 69 ff mit Erwiderung Wichard EuZW 1996, 305 f; s auch Stotz EuZW 1995, 749.
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lich war; 106 in der Folgezeit wurde allerdings beschlossen, für jedes Gerichtsjahr eine Reihenfolge festzulegen, in der die Richter der überbesetzten Kammern zum Einsatz kommen.107 Ein weiterer, bisher nicht ausgeräumter Streitpunkt ist die Zuweisung der Rechtssachen an die jeweiligen Kammern, denn anders als das EuG verfügt der EuGH bisher über keinen Geschäftsverteilungsplan: Die Bestimmung des Berichterstatters für eine Rechtssache erfolgt durch den Präsidenten, womit zugleich die Weichenstellung für die Zuweisung an die Kammer getroffen wird, der dieser Richter angehört108. Allerdings ist hierzu festgehalten worden, dass die Anforderungen an die gerichtsinterne Geschäftsverteilung in den Mitgliedstaaten stark differieren und nirgends mit vergleichbarer Strenge gehandhabt werden wie in Deutschland109.
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cc) Rechtliches Gehör Auch vor den Gemeinschaftsgerichten ist das rechtliche Gehör zu gewährleisten: Die Parteien müssen den gesamten Prozessstoff kennen und zu ihm Stellung nehmen können. In neuerer Zeit ist im Anschluss an die EGMR-Rechtsprechung unter diesem Gesichtspunkt die Position der Generalanwälte beim EuGH fraglich geworden, die dem Gerichtshof zum Abschluss der Verhandlungen über eine Rechtssache öffentlich einen zwar nicht verbindlichen, aber doch vielfach richtungweisenden Entscheidungsvorschlag unterbreiten (Art 49 der Satzung des EuGH, Art 59 der VerfO): Der EGMR verlangt in Bezug auf entsprechende Einrichtungen der nationalen Prozessordnungen unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit, dass die Parteien des Verfahrens zu diesen Entscheidungsvorschlägen noch Stellung nehmen können; diese dürfen danach nicht zwingend das „letzte Wort“ vor der gerichtlichen Entscheidungsfindung darstellen.110 Ob diese Rechtsprechung auf den EuGH tatsächlich übertragbar ist, wird auch deshalb bezweifelt, weil die Generalanwälte beim EuGH – anders als in den vom EGMR entschiedenen Fällen – selbst Mitglieder des Gerichts sind,111 ihre Anträge also als Beginn der abschließenden gerichtlichen Entscheidungsfindung begriffen werden können, zu der die Parteien keinen Beitrag mehr leisten.112 Der EuGH geht jedenfalls davon aus, dass den 106 Dazu EuGH, Slg 1995, I-1031 – Gaal = EuZW 1995, 670 m Anm Szczekalla = EuR 1995, 259 m Anm Wichard. 107 S ABl EG 1998 C 299/1; inzwischen ist das Vorgehen im neu eingefügten Art 11c VerfO EuGH, ABl EU 2003 L 147/17 geregelt. 108 Dazu Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 33 ff; Puttler EuR-Beih 3/2008, 133 ff. 109 So Classen in Schulze/Zuleeg, ER, § 4 Rn 7; ähnlich Pechstein PR, 57 f; Haase Die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren auf europäischer Ebene, 2006, 304 f; zur Bandbreite der Lösungen s die Beiträge in Langbroek/Fabri (Hrsg), The Right Judge for each Case – A study of case assignment and impartiality in six European judiciaries, 2007. 110 Aus der Rspr des EGMR s EGMR, RJD 1996-I – Vermeulen = RTDH 1996, 615 m Anm Lambert = RTDE 1996, 375 m Anm Benoît-Rohmer; EGMR, RJD 1996-I – Lobo Machado = RTDE 1996, 373 m Anm Benoît-Rohmer; EGMR, RJD 1998-II – Reinhardt et Slimane-Kaïd; EGMR, RTDE 2001, 809 – Kress, m Anm Benoît-Rohmer 727 ff. 111 Diesen Unterschied betont Tridimas 34 CMLRev (1997), 1349, 1380 ff. 112 EuGH, Slg 2000, I-665, Rn 14 – Emesa Sugar: „Die Schlussanträge stehen außerhalb der Verhandlung zwischen den Parteien und eröffnen die Phase der Beratung des Gerichtshofs. Sie sind deshalb keine an die Richter oder die Parteien gerichtete Stellungnahme, die von einer Behörde außerhalb des Gerichtshofs herrührte …, sondern die individuelle, begründete und öffentlich dargelegte Auffassung eines Mitglieds des Organs selbst.“ Ähnlich dann Rn 94 ff der Schlussanträge von GA Colomer zu EuGH, Slg 2000, I-2219 – Kaba.
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Anforderungen eines fairen Verfahrens dadurch Genüge getan werden kann, dass die mündliche Verhandlung erneut eröffnet wird, wenn die Schlussanträge nach Auffassung des Gerichts Gesichtspunkte aufwerfen, die eine Stellungnahme der Parteien nahe legen;113 der EGMR hat diese Ausgestaltung nun gebilligt.114 Einem Belastungstest ist der Gehörsanspruch durch das Instrument der sog „smart sanctions“ unterworfen worden: Mit diesem Begriff wird die neuere internationale Praxis bezeichnet, Sanktionen nicht mehr global gegen Staaten, sondern gezielt zB gegen des Terrorismus oder seiner Finanzierung verdächtige Einzelpersonen zu richten und auf diese Weise insbes ihr Vermögen „einzufrieren“; die Gemeinschaft trifft solche Maßnahmen durch Erlass von Verordnungen, gegen die eine Nichtigkeitsklage der Betroffenen trotz des Normcharakters der Verordnung115 unproblematisch zulässig ist, da die Voraussetzungen der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erfüllt sind. Soweit solche Maßnahmen gegen Einzelpersonen vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden waren, hat das EuG aber aufgrund dieser internationalen Vorgabe eine materielle Kontrolle der Aufnahmeentscheidung abgelehnt116; sie erfolgte nur in Fällen, in denen die Gemeinschaft eigenständig über die Aufnahme entschieden hatte117. Der Gerichtshof hat diesen Ansatz korrigiert und festgehalten, dass der gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzstandard auch in diesem Fall eine richterliche Kontrolle verlangt118; die völkerrechtliche Verbindlichkeit der Sicherheitsrats-Resolutionen werde dadurch nicht berührt. Allerdings hat der EuGH zugleich darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsrelevanz des Beweismaterials es rechtfertigen kann, die gerichtliche Prüfung ohne Offenlegung gegenüber dem Kläger vorzunehmen119. 113 So EuGH, Slg 2000, I-665, Rn 18 – Emesa Sugar, mit verschiedenen Bsp solcher (nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlichten) Beschlüsse in der Vergangenheit; Slg 2000, I-743, Rn 22 ff – Deutsche Telekom; Slg 2000, I-2135, Rn 63 f – VBA; dazu Lawson 37 CMLRev (2000), 983 ff; Schilling ZaöRV 2000, 395 ff; s auch Gundel EuR-Beih 3/2008, 23, 39 ff. 114 Eine Beschwerde gegen die Leitentscheidung des EuGH hat EGMR, EuGRZ 2005, 234 – Emesa Sugar als unzulässig abgewiesen, weil der Anwendungsbereich des Art 6 EMRK nicht eröffnet war. In einem Fall, in dem diese Voraussetzung erfüllt war, hat nun EGMR, 20.1.2009 – Nederlandse Kokkelvisserij die Beschwerde mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die Praxis des EuGH einen den Garantien der EMRK gleichwertigen Schutz gewährleiste; dazu Bories RevMC 2009, 408 ff. 115 Tatsächlich handelt es sich trotz der Nennung von bestimmten Personen um einen normativen Akt, da die Tätigung von Geschäften mit den Betroffenen jedermann verboten wird, so EuGH, 3.9.2008 verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P – Kadi u Al Bakaraat, Rn 242 ff. 116 EuG, Slg 2005, II-3649 – Kadi; Slg 2005, II-3533 – Yusuf u Al Bakaraat = EuR 2006, 424 (nur LS) m Anm Möllers; dazu Schmahl EuR 2006, 567 ff; Schmalenbach JZ 2006, 349 ff; Tomuschat 43 CMLRev (2006), 537 ff; Tietje/Hamelmann JuS 2006, 299 ff; im Anschluss daran noch EuG, Slg 2006, II-2139 – Ajadi; EuG, Slg 2006, II-52* – Hassan. 117 Für tatsächlich erfolgreiche Klagen in dieser Fallgruppe s EuG, Slg 2006, II-4665 – Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran; dazu Eckes 44 CMLRev (2007), 1117 ff; EuG, 23.10.2008, Rs T-256/07 – People’s Mojahedin Organization of Iran; EuG, 4.12.2008 Rs T-284/08 – People’s Mojahedin Organization of Iran; weiter EuG, 11.7.2007, Rs T-47/03, Sison (nicht in der Slg); EuG, 11.7.2007, Rs T-327/03, Al-Aqsa (nicht in der Slg). 118 EuGH, 3.9.2008 – verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P – Kadi u Al Bakaraat, Rn 280 ff, 332 ff = JA 2009, 477 m Anm Gundel; dazu Ohler EuZW 2008, 630 ff; Kotzur EuGRZ 2008, 673 ff; Schmalenbach JZ 2009, 35 ff; Cassia/Donnat RFDA 2008, 1204 ff; Simon/Rigaux Europe 11/2008, 5 ff; Tridimas 34 ELRev (2009), 103 ff. 119 EuGH, 3.9.2008 verb Rs C-402/05 P u C-415/05 P – Kadi, Rn 344 unter Verweis auf EGMR RJD 1996-V – Chahal, Rn 131; parallel für den Schutz von Geschäftsgeheimnissen in Verfahren vor den nationalen Gerichten EuGH, Slg 2008, I-581, Rn 43 ff – Varec.
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dd) Anspruch auf Entscheidung in angemessener Frist Zum effektiven Rechtsschutz gehört auch die gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist; relevant wird hier zB das in Art 6 EMRK gegründete Verbot einer überlangen Verfahrensdauer, das auch der EuGH als verbindliche Vorgabe für seine Tätigkeit anerkennt.120 Für das Rechtsschutzsystem des Gemeinschaftsrechts, das in erheblichem Umfang auf der Zusammenarbeit von Gemeinschafts- und nationalen Gerichten im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens beruht, stellt sich hier das strukturelle Problem, dass die Verfahrensdauer gerade auch durch das Vorabentscheidungsverfahren verlängert werden kann. Allerdings hat auch der EGMR bei der Prüfung des Art 6 EMRK anerkannt, dass die dadurch bedingte Verlängerung im Interesse der Funktionsfähigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens hinzunehmen ist;121 zudem können die Konsequenzen durch Maßnahmen vorläufigen Rechtsschutzes durch das vorlegende Gericht begrenzt werden122. Besonders problematisch sind die unvermeidlichen Verzögerungen allerdings in den erst in jüngerer Zeit vom Gemeinschaftsrecht erfassten Bereichen, die – wie die Zusammenarbeit in Strafsachen – unmittelbar die Freiheit der Person betreffen: Für diese Sektoren ist jüngst das Verfahren der Eilvorlage geschaffen worden, um dem besonderen Beschleunigungsbedürfnis Rechnung zu tragen.123
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III. Anforderungen der Justiz- und Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts an die Mitgliedstaaten 1. Anwendbarkeit der Verfahrensgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten Grundsätzlich haben die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts die Funktion, dem Handeln der Gemeinschaftsorgane Grenzen zu setzen – während die Grundfreiheiten sich (nicht ausschließlich, aber in erster Linie) an die Mitgliedstaaten richten.124 Dennoch gelten die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts – und damit auch die Verfahrensgrundrechte – nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH in bestimmten Konstellationen auch gegenüber den Mitgliedstaaten (→ vgl § 14 Rn 33 ff). Dies gilt einmal in den Konstellationen, in denen die Mitgliedstaaten für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts zuständig sind: Für die Geltung des Grundrechtsstandards kann es aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht keinen Unterschied machen, ob dieses Recht von
120 EuGH, Slg 1998, I-8417 – Baustahlgewebe (zu einer Verfahrensdauer von 5 1/2 Jahren vor dem EuG). 121 EGMR, RDJ 1998-I, 436, Rn 95 – Pafitis (dazu krit Peukert Mélanges Ryssdal, 2000, 1107, 1118 f); ebenso nochmals EGMR, RUDH 2003, 440, Rn 56 – Koua Poirrez. 122 S u Rn 58 zur Gültigkeitsvorlage; der EuGH selbst kann dagegen im Vorabentscheidungsverfahren keine vorläufigen Maßnahmen treffen, s EuGH, Slg 2001, I-7823 – Dory. 123 Art 104b VerfO, ABl EU 2008 L 24/39; dazu zB Kühn EuZW 2008, 263 ff; Rieck NJW 2008, 2958 ff; Bernard Europe 5/2008, 5 ff; für erste Anwendungsfälle des seit dem 1.3.2008 geltenden Verfahrens s EuGH, 11.6.2008 Rs C-195/08 PPU – Rinau, EuZW 2008, 538 (Zuständigkeit in Sorgerechtsverfahren); EuGH, 17.7.2008 Rs C-66/08 PPU – Kozlowski (Europäischer Haftbefehl); EuGH, 12.8.2008 Rs C-296/08 PPU – Goicoechea. Art 267 IV AEUV-E sieht bei Vorlagen, die Inhaftierte betreffen, eine Entscheidung „innerhalb kürzester Zeit“ vor. 124 Zur unterschiedlichen Struktur und Aufgabe von Grundrechten und Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts s auch Lecheler ER S 219 ff, 224.
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den Gemeinschaftsorganen selbst durchgeführt oder diese Aufgabe – wie in den meisten Bereichen – grundsätzlich den Mitgliedstaaten übertragen wird;125 die „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten126 beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts wird insoweit eingeschränkt. Diese für den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte allgemein gültige Aussage hat für die Verfahrensgrundrechte besondere Bedeutung: Nachdem das Gemeinschaftsrecht vor allem durch die Mitgliedstaaten vollzogen wird, gelten auch hier die Verfahrensgarantien, wie die Wahrung des rechtlichen Gehörs127 oder die Gewährleistung eines fairen Verfahrens.128 Zum Teil finden die Garantien überhaupt nur hier ein unmittelbares Anwendungsfeld: Das gilt insbes für die strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien, die im Titel VI der GRCh („Justizielle Rechte“) breiten Raum einnehmen. Zwar hat die Rechtsprechung des EuGH in neuerer Zeit geklärt, dass das Strafrecht dem Zugriff des Gemeinschaftsgesetzgebers nicht entzogen ist: Vorgaben für nationale Straftatbestände können nicht nur als Rahmenbeschlüsse gem Art 31, 34 EUV, sondern sogar auf Grundlage der Sachkompetenzen des EGV geschaffen werden129. Auch im Bereich des EUV wächst der Bestand von Rahmenbeschlüssen mit strafrechtlicher oder strafprozessualer Bedeutung130. Diese Regelungen sind an den Justizgrundrechten zu messen131; sie enthalten aber auch nur konkretisierungs- und umsetzungsbedürftige Vorgaben, so dass die grundrechtskonforme Umsetzung – z.B. die Ausformung von Straftatbeständen unter Beachtung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots (Art 49 I GRCh) – in der Verantwortung des nationalen Ge-
125 S für die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte in diesem Bereich zB EuGH, Slg 1994, I-955, Rn 16 – Bostock; Slg 1989, 2609 – Wachauf; Slg 1988, 2213, Rn 22 – HZA Hamburg-Jonas: „… die Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts [obliegt] jeder mit der Anwendung dieses Rechts betrauten Behörde.“ Zum engeren Wortlaut des Art 41 GRCh, den man insoweit nicht als abschließende Regelung wird verstehen dürfen, s Rn 6. 126 Zu diesem Grundsatz s Gundel in: Schulze/Zuleeg, ER, § 3 Rn 109 ff mwN; zu den parallelen Grenzen dieser Autonomie aus Art 10 EGV s u Rn 51 ff. 127 Dazu etwa deutlich für gerichtliche Verfahren EuGH, Slg 2000, I-1935, Rn 26, 42 – Krombach, m Anm Gundel EWS 2000, 442 ff; bestätigend EuGH, Slg 2006, I-3813 – Eurofood, Rn 63 ff; Slg 2006, I-12041 – ASML Netherlands, Rn 24 ff; EuGH, 2.4.2009 – Rs C-394/07 – Gambazzi, EuZW 2009, 422 m Anm Sujecki. 128 S zur Herleitung von Beweisverwertungsverboten aus diesem Gesichtspunkt EuGH, Slg 2003, I-3735, Rn 72 ff – Steffensen = EuZW 2003, 666 m Anm Schaller. 129 S erstmals EuGH, Slg 2005, I-7879 – Kommission/Rat = JZ 2006, 307 m Anm Heger; mit Einschränkungen bestätigt durch EuGH, Slg 2007, I-9097 – Kommission/Rat = ZUR 2008, 312 m Anm Fromm 301 ff. 130 Neben dem bekannten Rahmenbeschluss des Rates v 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl EG 2002 L 190/1 (dazu BVerfGE 113, 273) s zB den Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl EU 2001 L 82/1, dazu EuGH, Slg 2005, I-5285 – Pupino = JZ 2005, 838 m Anm Hillgruber = EuZW 2005, 433 m Anm Herrmann; Slg 2007, I-5557 – Dell’Orto; Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates v 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl EU 2005 L 76/16; dazu Schneider FS Rengeling, 2008, S 401 ff. 131 S zur Vereinbarkeit der GeldwäscheRL (RL 2001/97), die auch Anwälte bei Tätigkeiten außerhalb der Rechtsberatung der Anzeigepflicht unterwirft, mit dem Recht auf ein faires Verfahren: EuGH, Slg 2007, I-5305 – Ordre des Barreaux francophones et germanophone u a, Rn 26 ff = EuZW 2007, 476 m Anm Michalke; zum Europäischen Haftbefehl Fn 132.
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setzgebers liegt132. Vom Sonderfall des Kartellrechts abgesehen, wird die Gemeinschaft in diesem Bereich in jedem Fall aber nur normsetzend tätig; die Strafrechtsanwendung bleibt in der Hand der Mitgliedstaaten, deren Strafverfolgungsbehörden133 und Gerichte134 damit die Hauptadressaten dieser Garantien sind. Das gilt selbst in dem am stärksten gemeinschaftsrechtlich geprägten Bereich, in dem der Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft betroffen ist: Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) 135, das als Dienststelle der Kommission Ermittlungen durchführt, gibt nur Informationen an die mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden weiter, für deren Verwendung diese selbst verantwortlich sind 136; auch die Europäische Staatsanwaltschaft, deren Schaffung Art 86 AEUV-E zur Verfolgung solcher Verstöße vorsieht, würde nur anstatt der jeweiligen nationalen Staatsanwaltschaft vor den nationalen Gerichten tätig werden. Darüber hinaus gelten die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts nach der Rechtsprechung des EuGH auch in Fällen, in denen die Mitgliedstaaten in Rechtspositionen eingreifen, die dem Einzelnen durch Gemeinschaftsrecht gewährt wurden: Soweit dies der Fall ist – zB mit nationalen Einschränkungen der Grundfreiheiten137 oder der Gleichbehand-
132 So zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (Fn 130): EuGH, Slg 2007, I-3633 – Advocaten voor de Wereld = EuZW 2007, 373 m Anm Michalke: Der Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit bei bestimmten Kategorien von Straftaten verstößt nicht gegen den nulla poena-Satz, weil die Strafbarkeit nach dem Recht des Ausstellungsstaates diesen Anforderungen genügen muss. Auch BVerfGE 113, 273 betont die dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung belassenen Spielräume, die dieser allerdings nicht nur unter Beachtung der nationalen, sondern auch der Gemeinschaftsgrundrechte auszufüllen haben wird; zu dieser Frage der doppelten Bindung des Umsetzungsgesetzgebers s zuletzt Calliess JZ 2009, 113, 118 ff. 133 Auch das Europäische Polizeiamt (Europol) übt nur Koordinierungsfunktionen aus; nach Art 88 AEUV-E soll dies auch künftig seine Hauptaufgabe bleiben; s zur gegenwärtigen und künftigen Ausgestaltung zB Ruthig in: Wolters ua (Hrsg), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008, 97 ff; Amelung ebda 233 ff; zum Rechtsschutz Schenke ebda 367 ff. 134 Hier wirft zB das transnationale Verbot der Doppelbestrafung gem Art 50 GRCh angesichts der Vielgestaltigkeit der nationalen Strafverfahrensrechte erhebliche Probleme bei den Fragen auf, wie „dieselbe Tat“ zu bestimmen ist und welche ausländischen Entscheidungen als rechtskräftige Verurteilungen oder Freisprüche anzusehen sind; s dazu zB EuGH 11.12.2008 Rs C-297/07 – Bourquain, EuZW 2009, 19; Slg 2006, I-9327 – van Straaten; Slg 2006, I-9199 – Gasparini; Wasmeier/Twaites 31 ELRev (2006), 565 ff. 135 Zu ihm zB Gundel in: Schulze/Zuleeg, ER, § 3 Rn 50 ff mwN; speziell zu den Verfahrensrechten der Betroffenen s Decker Grundrechtsschutz bei Handlungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), 2008; Gleß/Zeitler 7 ELJ (2001), 219 ff; s auch noch Fn 136. 136 S zum bekannten Fall des deutschen Journalisten Tillack, gegen den das OLAF nie erhärtete Bestechungsvorwürfe erhoben und Ermittlungen der belgischen Strafverfolgungsbehörden ausgelöst hatte: Die Klage gegen die Kommission wurde als teils unzulässig (zur Nichtigkeitsklage → Rn 23), teils unbegründet (Schadenersatzklage) abgewiesen, EuG, Slg 2006, II-3995 – Tillack; dazu Wakefield, 45 CMLRev (2008), 199 ff. Dagegen wurde Belgien durch EGMR, NJW 2008, 2565 – Tillack wegen Verstoßes gegen Art 10 EMRK zu 10.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt. Eine Haftung der Kommission für die Verletzung von Verfahrensrechten bei der Ermittlungsund Informationstätigkeit von OLAF ist allerdings durchaus möglich, s EuG, 8.7.2008 – Rs T-48/05 – Franchet und Byk/Kommission; dazu Niestedt/Boeckmann EuZW 2009, 70 ff. 137 EuGH, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens (Anerkennung von Berufsabschlüssen aus anderen Mitgliedstaaten).
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lung der Geschlechter im Arbeitsleben138 –, gelten damit auch die Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Anspruch auf effektive gerichtliche Kontrolle.139 Damit muss zB die Ausweisung eines Unionsbürgers durch einen Mitgliedstaat, die in sein Freizügigkeitsrecht eingreift, sich an den Verfahrensrechten des Gemeinschaftsrechts messen lassen.140 Dieser in der Rechtsprechung erreichte Stand wird zwar in Frage gestellt durch die Formulierung in Art 51 I 1 GRCh, der nur die Durchführung und nicht auch die Beschränkung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten aufführt: Die Bestimmung kann damit als Einschränkung der bisherigen Rechtslage verstanden werden.141 Allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass der Gerichtshof diesen Ansatz für eine Einschränkung aufnehmen wird. Damit bleibt das Handeln der Mitgliedstaaten vom Geltungsanspruch der Unionsgrundrechte nur insoweit frei, als sich kein Zusammenhang mit einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Position herstellen lässt.142
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Vor allem in der Fallgruppe der nationalen Eingriffe in gemeinschaftsrechtliche Rechtspositionen überschneiden sich die grundrechtlichen Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts mit den Vorgaben der Grundfreiheiten: So kann das allgemeine Verbot einer Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit (Art 12 EGV/18 AEUV) verlangen, dass EU-Bürgern vor Gericht dieselben sprachlichen Sonderrechte eingeräumt werden, die den Angehörigen einer nationalen Minderheit des betroffenen Staates zustehen;143 ebenso gilt, dass die Pflicht zur Leistung einer Prozess-
138 EuGH, Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston (zur Überprüfbarkeit einer Ausnahme von der Regel des gleichberechtigten Zugangs zum Arbeitsplatz durch die nationalen Gerichte). 139 S EuGH, Slg 1987, 4097, Rn 14 – Heylens; Slg 1986, 1651, Rn 18 – Johnston, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Art 6 und 13 EMRK; s auch noch EuGH, Slg 1985, 2301, Rn 17 – Piercarlo Bozzetti: Es ist „Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind.“ (Hervorh durch Verf). 140 Dagegen ist Art 6 EMRK nach der Rspr des EGMR auf Ausweisungsverfahren nicht anwendbar, da kein zivil- oder strafrechtliches Verfahren vorliegt, s EGMR, RTDH 2002, 433, Rn 35 ff – Maaouia, m Anm Tigroudja; → § 6 Rn 38. 141 „Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union … und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ (Hervorh durch Verf); s zu dieser Frage W Cremer NVwZ 2003, 1452 ff; Mager EuR Beih 1/2004, 41, 53 f; ausdrücklich im Sinne einer Einschränkung des bisherigen Geltungsbereichs der Gemeinschaftsgrundrechte Huber EuR 2008, 190, 196 ff; ders 14 EPL (2008), 323 ff. 142 Für einen solchen Fall EuGH, Slg 1997, I-2629, Rn 16 – Kremzow, für eine Vorlage zu Verfahrensgarantien in einem Mordprozess: Allein die Tatsache, dass der Angeklagte durch den Haftvollzug an der Wahrnehmung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gehindert wäre, genügt nicht zur Annahme einer hinreichenden Verbindung; ähnlich EuGH, Slg 1997, I-5531 – Grado u Bashir. 143 S EuGH, Slg 1985, 2681 – Mutsch: Art 39 EGV (45 AEUV) verlangt, dass einem deutschen Arbeitnehmer in einem Strafverfahren vor belgischen Gerichten der Gebrauch der deutschen Sprache gestattet wird, wenn dieses Recht Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit in Belgien zusteht. Ebenso zu Art 12 EGV (18 AEUV) EuGH, Slg 1998, I-7650 – Bickel u Franz = EuZW 1999, 82 m Anm Novak; dazu auch Hilpold JBl 2000, 93 ff; Bultermann 36 CMLRev
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kostensicherheit nicht an die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats anknüpfen darf.144 Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten dürfen danach (im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts) schon aufgrund der Grundfreiheiten auch in verfahrensrechtlichen Fragen nicht schlechter gestellt werden als die eigenen Staatsangehörigen. Dementsprechend finden sich Verfahrensgarantien auch im Sekundärrecht, das zu den Personenverkehrs-Grundfreiheiten erlassen wurde.145 Auch im Bereich des freien Warenverkehrs leitet der EuGH konkrete Anforderungen an das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren unmittelbar aus der Grundfreiheit selbst her.146
3. Parallele Gewährleistung von Verfahrensrechten durch das Gebot gleichwertigen und effektiven Schutzes (Art 10 EGV) a) Stärkung der Verfahrensrechte durch das Effektivitätsgebot Vor allem im Bereich des mitgliedstaatlichen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts decken sich die Verfahrensgrundrechte des Einzelnen vielfach mit den allgemeinen Anforderungen an einen gleichwertigen und effektiven Vollzug des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof aus Art 10 EGV herleitet: Diese beiden Grundsätze verlangen, dass zum einen das Gemeinschaftsrecht nicht zu ungünstigeren Bedingungen umgesetzt wird, als sie für im nationalen Recht begründete Rechtspositionen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) bestehen;147 zum anderen müssen – unabhängig von einem solchen Vergleich – diese Posi-
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(1999), 1325 ff. Der Mindeststandard der EMRK gewährleistet insoweit nur die Beiziehung eines Dolmetschers, s Art 6 III e EMRK. S EuGH, Slg 1997, I-1711 – Hayes (zur früheren Fassung des § 110 ZPO) = ZEuP 1999, 964 m Anm Kubis: Verstoß gegen Art 12 EGV; ebenso EuGH, Slg 1996, I-4661 – Data Delecta (dazu Streinz/Leible IPRax 1998, 162 ff); Slg 1997, I-5325 – Saldanha (dazu Ehricke IPRax 1999, 311 ff). S etwa die Verfahrensgarantien bei der Ausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten in 31 der RL 2004/38 des EP und des Rates v 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten […], ABl EU 2004 L 229/35; zu den (teils weitergehenden) Anforderungen in Art 8–9 der (Vorgänger-)RL 64/221 s EuGH, Slg 2004, I-5257 – Orfanopoulos und Oliveri, Rn 101 ff; BVerwGE 124, 217; VGH BW, VBlBW 2007, 109 (Recht auf Widerspruchsverfahren); zur Vorgängerfassung der nun in Art 30 RL 2004/38 vorgesehenen Pflicht des Mitgliedstaats, dem Betroffenen die Gründe der Ausweisung mitzuteilen, s bereits EuGH, Slg 1975, 1219, Rn 33 – Rutili = EuR 1976, 237 m Anm Stein. So zu den aus der Warenverkehrsfreiheit herzuleitenden Anforderungen an mitgliedstaatliche Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe EuGH, Slg 2004, I-1333 = ZLR 2004, 193 m Anm Streinz u Anm Jarvis 41 CMLRev (2004), 1395 ff – Greenham und Abel, Rn 35 = JK 11/04, EGV Art 28/5: „Dieses Verfahren muß leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können; wenn es zu einer Ablehnung führt, muß die Ablehnungsentscheidung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens angefochten werden können.“ Dieser Aspekt wurde zunächst vielfach als Diskriminierungsverbot bezeichnet; doch kann diese Bezeichnung zu Missverständnissen und Verwechslungen führen – denn gemeint ist hier nicht eine Diskriminierung von Personen nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach der „Herkunft“ des Anspruchs; der EuGH verwendet daher seit einiger Zeit den Begriff der Gleichwertigkeit, s etwa EuGH, Slg 2000, I-10465, Rn 21 – Roquette frères; in anderen Entscheidungen findet sich auch die Bezeichnung als „Äquivalenzgrundsatz“, s EuGH, Slg 1998, I-5025, Rn 27, 29 – Ansaldo Energia; Slg 1998, I-4951, Rn 34 – Edis; Slg 1999, I-578, Rn 25 – Dilexport.
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tionen mit einem bestimmten Mindestmaß an Effektivität durchgesetzt werden können (Grundsatz der Effektivität).148 So lässt sich aus dem Gleichwertigkeitsgrundsatz herleiten, dass für gemeinschaftsrechtliche Ansprüche – zB für Anträge auf Rückerstattung gemeinschaftsrechtswidriger Gebühren – nicht kürzere Fristen gelten dürfen, als sie für Ansprüche nach nationalem Recht vorgesehen sind.149 Aus dem Effektivitätsprinzip ergibt sich, dass in jedem Fall die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes möglich sein muss. Darüber hinaus muss dieser mit zumutbaren Bedingungen ausgestaltet werden, dh die Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten dürfen die Rechtsdurchsetzung nicht „praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“: 150 So dürfen generell nicht zu enge Verfahrensfristen vorgesehen werden; prozessuale Präklusionsregeln dürfen nicht in einer Weise angewandt werden, die eine wirksame Durchsetzung der betroffenen Positionen vereitelt; 151 auch Beweislastregeln, die die Durchsetzung der Ansprüche übermäßig erschweren, sind unzulässig 152 – unabhängig davon, ob sie auch für Ansprüche aus dem nationalen Recht gelten. Auf den Effektivitätsgrundsatz ist auch das durch den Gerichtshof herausgearbeitete Erfordernis einer mitgliedstaatlichen Haftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht zurückzuführen, die gegeben sein muss, wenn auf andere Weise die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nicht gesichert werden kann.153 b) Insbesondere: Anspruch auf Rechtsschutz durch die nationalen Gerichte
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Der Effektivitätsgrundsatz verlangt insbesondere – parallel zu Art 6 und 13 EMRK – die Eröffnung des Zugangs zu einem Gericht. Hier hat der Gerichtshof zwar zunächst formuliert, dass das Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten nicht die Eröffnung neuer, unbekannter Rechtsschutzmöglichkeiten verlange, sondern nur Rechtsschutz im Rahmen des nach nationalem Recht Möglichen fordere.154 Doch ist diese Aussage, die allein auf die Gewährleistung gleichwertigen Schutzes abstellte und den Grundsatz der Mindesteffektivität außer Acht ließ, nicht mehr wiederholt worden: Stattdessen hat der EuGH in späteren Entscheidungen ausdrücklich auch die Eröffnung bisher unbekannter Rechtsschutz-
148 S dazu zB Schmidt-Aßmann FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S 487, 489 ff. Für den Sonderbereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft hat sich die vom EuGH vorgenommene Systematisierung im Text des Vertrages niedergeschlagen: Nach Art 280 IV EGV (Art 325 IV AEUV-E) ist die „Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes“ der Interessen der Gemeinschaft in den Mitgliedstaaten gefordert (Hervorh durch Verf). 149 Für einen solchen Fall s EuGH, Slg 1988, 3513 – Deville; Slg 1988, 355 – Barra; s auch EuGH, Slg 1998, I-4951, Rn 21 ff – Edis. 150 So zB EuGH, Slg 1999, I-578, Rn 25 – Dilexport; Slg 1998, I-5025, Rn 27 – Ansaldo Energia; Slg 1988, 4517, Rn 17 – Jeunehomme. 151 S EuGH, Slg 1995, I-4599 – Peterbroeck; Slg 1995, I-4705 – van Schijndel; zu beiden Entscheidungen v Danwitz UPR 1996, 323 ff; Heukels 33 CMLRev (1996), 337 ff; Prechal 35 CMLRev (1998), 681 ff; später zB Mas ÖJZ 2002, 161 ff; Kment EuR 2006, 201 ff. 152 S EuGH, Slg 1988, 1099, Rn 12 f – Les Fils de Jules Bianco; Slg 1983, 3595, Rn 14 – San Giorgio; weiter zB EuGH, Slg 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn 110 ff; s dazu auch Gundel FS Götz, 2005, S 191 ff. 153 So der Ausgangspunkt der EuGH-Rspr zur – aus den Anforderungen des Art 10 EGV (Art 4 III EUV-E) hergeleiteten – Staatshaftung der Mitgliedstaaten gegenüber dem Bürger für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht, EuGH, Slg 1991, I-5357 – Francovich. 154 EuGH, Slg 1981, 1805, Rn 44 – Rewe („Butterfahrten“).
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möglichkeiten verlangt, wenn dies zur effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erforderlich schien.155 Auf den ersten Blick scheinen diese Anforderungen angesichts der Garantie des Art 19 IV GG für das deutsche Recht ohnehin gesichert; das Beispiel des Rechtsschutzes bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, der in Deutschland erst nach längerem Zögern entsprechend den Vorgaben der EG-Rechtsmittel-Richtlinie156 geregelt wurde157, zeigt aber, dass hier auch in der deutschen Rechtsschutz-Ordnung – nicht anders als in anderen Mitgliedstaaten – Anpassungsbedarf entstehen kann. Allerdings hat die EuGH-Rechtsprechung jüngst auch geklärt, dass dieser Rechtsschutz nicht notwendig stets in der Form von Primärrechtsschutz gewährleistet werden muss: Es kann genügen, dass der Verstoß in Form von Feststellungs- oder Schadenersatzklagen geltendgemacht werden kann158; das ist auch konsequent, weil auch der Rechtsschutz durch die Gemeinschaftsgerichte nicht stets in der Form von Primärrechtsschutz erfolgt159. Fall 3: (Conseil d’Etat [F], 5.3.1999, AJDA 1999, 460) 160 Die Parlamentsverwaltung des Mitgliedstaats X vergibt einen Auftrag zur Installation der Raumelektronik im Plenarsaal. Nach dem Recht des Mitgliedstaats sind Entscheidungen des Parlaments gerichtlich nicht überprüfbar. Der unterlegene Konkurrent Y, der trotz eines günstigeren Angebots nicht berücksichtigt worden war, ruft dennoch das Verwaltungsgericht an und macht geltend, dass der Auftrag unter Verstoß gegen die RL zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge161 erteilt worden sei. Ist die Klage zulässig?
155 S etwa EuGH, Slg 1990, I-2433 – Factortame I zur Pflicht der nationalen Gerichte, vorläufigen Rechtsschutz auch gegenüber gemeinschaftswidrigem Gesetzesrecht zu gewähren; in neuerer Zeit zB EuGH, Slg 2003, I-8679, Rn 50, 56 – Safalero; EuGH, Slg 2003, I-5197, Rn 35 – Connect Austria; diese Rpsr wird jetzt in Art 19 I UA 2 EUV-E aufgenommen, s o Fn 68. 156 RL 89/665 v 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, ABl EG 1989 L 395/33; nun geändert durch die RL 2007/66 v 11.12.2007, ABl EU 2007 L 335/31; dazu zB Seidel EWS 2007, 529 ff; Frenz VergabeR 2009, 1 ff. 157 Die Aufnahme der Regelung in §§ 97 ff GWB erfolgte mit Wirkung zum 1.1.1999; dazu und zu der zuvor erprobten „haushaltsrechtlichen Lösung“ zB Martin-Ehlers EuR 1998, 648 ff; Byok NJW 1998, 2774 ff; Pietzcker ZHR 162 (1998), 427 ff. 158 So EuGH, Slg 2007, I-2271 – Unibet, Rn 55 ff = JA 2007, 830 m Anm Gundel; umstritten ist die Frage derzeit im Vergaberecht, weil BVerfGE 116, 135 hier für den Bereich der gesetzlich nicht geregelten Vergaben unterhalb der sog Schwellenwerte eine verfassungsrechtliche Gewährleistung von Primärrechtsschutz verneint hat. Teile der deutschen Lit nehmen an, dass der Primärrechtsschutz unabhängig davon gemeinschaftsrechtlich geboten sei, so zB Wollenschläger NVwZ 2007, 388, 395 f; Niestedt/Hölzl NJW 2006, 3680, 3681 ff; dazu Gundel Jura 2008, 288, 292 ff. 159 S o Rn 23. 160 Fall nach Conseil d’Etat (F), Assemblée du contentieux 5.3.1999 – Président de l’Assemblée Nationale, AJDA 1999, 460 m Anm Raynaud/Fombeur S 401, 409 ff = RDP 1999, 1810 m Anm Thiers 1785 ff = RFDA 1999, 343 mit Schlussanträgen von Regierungskommissarin Bergeal 333 ff. 161 RL 93/97 v 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, ABl EG 1993 L 199/54 (zwischenzeitlich ersetzt durch die RL 2004/18 v 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleisungsaufträge, ABl EU 2004 L 134/114).
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Parallel zum Effektivitätsgebot gilt dann im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts auch der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz: Das Gebot der Eröffnung von Rechtsschutz gegen Maßnahmen der nationalen Behörden, die in gemeinschaftsrechtlich gewährte Rechtspositionen eingreifen, gilt also zum einen, weil dies zur effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist, zum anderen, weil es sich aus dem gemeinschadftsrechtlichen Grundrechtsstandard ergibt; deutlich wird diese doppelte Funktion etwa beim Gebot der Gewährleistung vorläufigen Rechtsschutzes gegen nationales Recht, das gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.162 Ähnliches gilt zB für Unzulässigkeit nationaler Verfahrensfristen, die so kurz gehalten sind, dass dem Bürger eine tatsächliche Ausübung seiner durch das Gemeinschaftsrecht gewährten Rechte praktisch unmöglich gemacht oder unzumutbar erschwert wird; 163 grundsätzlich ist die Limitierung materieller Rechte durch nationale Verfahrensfristen allerdings zulässig.164 Lösung Fall 3: Die Klage des Y ist in Abweichung vom nationalen Recht zulässig: Der Grundsatz der Mindesteffektivität verlangt parallel zu Art 6, 13 EMRK die Möglichkeit einer Geltendmachung der Verletzung gemeinschaftsrechtlicher Positionen vor den nationalen Gerichten. Für das öffentliche Auftragswesen folgt dies zusätzlich aus dem Sekundärrecht.165 Entgegenstehende Grundsätze des nationalen Prozessrechts – wie die gerichtliche Immunität von Handlungen des Parlaments – müssen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts weichen. Dementsprechend hat der französische Conseil d’Etat im zugrunde liegenden Fall den in ständiger Rechtsprechung praktizierten Ausschluss der Gerichtskontrolle über „actes du parlement“ nicht angewandt, sondern die Klage als zulässig angesehen.166 162 EuGH, Slg 1990, I-2433 – Factortame I; unmittelbar zu dieser Entscheidung auch Smith EuZW 1992, 308 ff; Toth 27 CMLRev (1990), 573 ff; Barav/Simon RevMC 1990, 591 ff. Zu den Anforderungen an das nationale Prozessrecht in dieser Frage und den Auswirkungen auf das deutsche Recht s auch Hauser VBlBW 2000, 377 ff; Sommermann FS Blümel, 1999, S 523 ff; Schoch DVBl 1997, 289 ff; präzisierend nun EuGH, Slg 2007, I-2271, Rn 78 ff – Unibet = JA 2007, 830 m Anm Gundel; dazu Anagnostaras 33 ELRev (2008), 586 ff. 163 Dies betrifft vor allem die Rückerstattung von nationalen Abgaben und Gebühren, die unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhoben, bzw die nachträgliche Gewährung von Leistungen, die gemeinschaftsrechtswidrig verweigert wurden; zur ersten Fallgruppe s Gundel FS Götz, 2005, S 191 ff. 164 S in jüngerer Zeit EuGH, Slg 2004, I-837 = EuR 2004, 590 m Anm Potacs = JZ 2004, 619 m Anm Ruffert – Kühne und Heitz = JK 9/04, EGV Art 10/3; EuGH, Slg 2006, I-8559 – i-21 Germany GmbH und Arcor = JA 2007, 398 m Anm Gundel. Auch bei der Prüfung des Verwaltungshandelns von Gemeinschaftsorganen betont der EuGH die Rechtssicherheit stiftende Funktion von Ausschlussfristen, etwa der Klagefrist des Art 230 V EGV (263 VI AEUV), und die mit Fristablauf eintretende Bestandskraft, s zB EuGH, Slg 1999, I-5363, Rn 57 ff – Assi Domän = JK 5/00, EGV Art 233/1. Eine besonders weitgehende Ableitung aus dem Effektivitätsprinzip, nach der nationale Fristen nicht zu laufen beginnen, solange die dem Anspruch zugrunde liegenden EG-Richtlinien nicht umgesetzt sind (so EuGH, Slg 1991, I-4269, Rn 21 ff – Emmott), hat der EuGH allerdings wieder zugunsten einer Einzelfall-Prüfung entschärft, s EuGH, Slg 1997, I-6783 – Fantask und dazu Gundel NVwZ 1998, 910 ff; Notaro 35 CMLRev (1998), 1385 ff. 165 Art 1 der RL 89/665 (Fn 156). Die Vergaberichtlinien erfassen auch die öffentlichen Aufträge der nationalen Parlamente, s EuGH, Slg 1998, I-5063 – Kommission/Belgien (Bauauftrag des flämischen Regionalparlaments). 166 In der Entscheidung des Conseil d’Etat wird dieser Zusammenhang – wie häufig – nicht angesprochen. Der gemeinschaftsrechtliche Zwang zur Änderung der Rspr wird in den Schlussanträgen der Regierungskommissarin deutlich gemacht, RFDA 1999, 333, 338.
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c) Konflikte zwischen Verfahrensgarantien und Effektivitätsgebot Im Einzelfall kann der Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts allerdings auch zu Lasten des Gemeinschaftsbürgers gehen und in Konflikt zu dessen Schutzinteressen geraten;167 er ist insoweit ambivalent. So kann der Grundsatz der Effektivität bei zeitnah umzusetzenden Entscheidungen etwa gebieten, dass Rechtsmittel gegen belastende Entscheidungen nicht die im nationalen Recht vorgesehene aufschiebende Wirkung entfalten.168 Auch soweit solche Konflikte bestehen, ist der EuGH aber zu ausgleichenden Lösungen gelangt. Besonders deutlich wird dies bei der Überprüfung der Gültigkeit von Sekundärrecht: Der Grundsatz, wonach sekundäres Gemeinschaftsrecht nicht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte als vertragswidrig verworfen werden kann, sondern diese Gerichte die Frage der Gültigkeit – über den Wortlaut des Art 234 III EGV (267 AEUV) hinaus unabhängig von ihrer Stellung im Instanzenzug – dem EuGH vorlegen müssen, wenn sie die Ungültigkeit annehmen wollen (Verwerfungsmonopol des EuGH),169 ist geprägt vom Gedanken der effizienten Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts. Dem Bedenken, wonach auf diese Weise ein effektiver Rechtsschutz des Bürgers gegen vertragswidriges Sekundärrecht verfehlt werden könnte, weil zunächst der Ausgang des Vorabentscheidungsverfahrens abgewartet werden müsste, ist der Gerichtshof entgegengetreten, indem er den nationalen Gerichten den Erlass von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zugestanden hat, wenn sie zugleich ihrer Vorlagepflicht nachkommen:170 Eine vorläufige „Aussetzung“ des Geltungsanspruchs des Sekundärrechts wird danach unter der Voraussetzung akzeptiert, dass dem EuGH die Gelegenheit eröffnet wird, das abschließende letztverbindliche Wort in der betreffenden Gültigkeitsfrage zu sprechen171. Dieser richterrechtlich entwickelte Kompromiss erscheint als gelungener Ausgleich172 zwischen den Erfordernissen 167 Etwa im Fall der Rückforderung von gemeinschaftsrechtswidrig geleisteten Beihilfen, s EuGH, Slg 1997, I-1591, Rn 37 – Alcan = EuZW 1997, 276 m Anm Hoenike; Slg 2006, I-10071 – Kommission/Frankreich (Scott Paper/Kimberly-Clark) = JA 2007, 668 m Anm Gundel: Derselbe Grundsatz, der bewirkt, dass der Bürger gemeinschaftsrechtswidrig eingeforderte Gebühren entgegen nationaler Ausschlussfristen zurückerhält, führt dazu, dass er auch gemeinschaftsrechtswidrig erzielte Vermögenszuwächse nicht durch Berufung auf die nationale Ausschlussfrist des § 48 IV VwVfG verteidigen kann. Ähnlich zu Lasten des EU-Marktbürgers wirkt die TafelweinEntscheidung für die Möglichkeit vorläufiger Maßnahmen der Behörden, während die auf demselben Gedanken beruhende Factortame-Entscheidung (EuGH, Slg 1990, I-2433 – Factortame I) zugunsten des Bürgers wirkte. 168 EuGH, Slg 1990, I-2879 – Kommission/Deutschland (Tafelwein-Destillation); dazu zB Vedder EWS 1991, 10 ff; v Stülpnagel DÖV 2001, 932 ff. 169 So erstmals EuGH, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost; bestätigt durch EuGH, Slg 2005, I-10513 – Gaston Schul. 170 So EuGH, Slg 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen = EuZW 1991, 313 m Anm Schlemmer-Schulte 307 ff = JZ 1992, 38 m Anm Gornig; Slg 1995, I-3799 – Atlanta; Slg 1995, I-3761 – Atlanta, m Anm Bebr 33 CMLRev (1996), 795 ff; für spätere Anwendungsfälle EuGH, Slg 1997, I-4517 – Krüger GmbH; Slg 1997, I-4315 – Affish BV. 171 Ist die Frage der Gültigkeit bereits anderweitig beim EuGH anhängig, kann das Gericht sogar auf eine eigene Vorlage verzichten, s EuGH, Slg 1991, I-415, Rn 33 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen; nationale Behörden sind dagegen zu einer vorläufigen Aussetzung nicht befugt, so ausdrücklich EuGH, Slg 2005, I-10423, Rn 108 ff – ABNA = EWS 2006, 73 m Anm Gundel 65 ff. 172 Von einer „salomonischen Lösung“ spricht Pietzcker FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag, 1995, S 623, 633.
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einer effektiven Anwendung des Gemeinschaftsrechts und eines effektiven Rechtsschutzes des Einzelnen.173 Eine ähnlich abgewogene Lösung hat der Gerichtshof schließlich in einer anderen Konstellation gefunden, in der sich das Bedürfnis nach Rechtssicherheit einerseits und die Erfordernisse effektiven Rechtsschutzes andererseits gegenüberstanden: Seit Beginn der 80er Jahre nimmt der EuGH die Kompetenz in Anspruch, auch in Vorabentscheidungsverfahren die zeitliche Geltung seiner Entscheidungen zu beschränken;174 macht der Gerichtshof von dieser Möglichkeit Gebrauch, so wird die Feststellung der Ungültigkeit von Sekundärrecht oder eine bestimmte Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die einen Verstoß nationalen Rechts gegen dieses Gemeinschaftsrecht nach sich zieht, erst ab dem Zeitpunkt des Erlasses seiner Entscheidung wirksam. Grundsätzlich ist diese Einschränkung nicht zu beanstanden, auch wenn eine solche Rechtsfolgenmoderation im Vertrag selbst nur für die Nichtigkeitsklage erwähnt ist (Art 231 II EGV/264 II AEUV): Sie ist eine Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Funktion des EuGH.175 Doch musste bei genereller Anwendung dieser Lösung auch auf die Kläger des Ausgangsverfahrens diese Rechtsfolgenbeschränkung dazu führen, dass den Klägern der Prozesssieg im Ergebnis wieder genommen wurde.176 Der Gerichtshof hat diese „Härte“ zunächst tatsächlich hingenommen; später hat er für diese Fälle dann den Grundsatz aufgestellt, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens und zudem auch alle Betroffenen, die parallel zu ihnen bereits vor Erlass der EuGH-Entscheidung gerichtliche oder außergerichtliche Rechtsmittel eingelegt haben, von der Beschränkung der Rückwirkung auszunehmen sind.177 Andernfalls werde der Kläger des Anspruchs auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz178 gegen Verletzungen des Gemeinschaftsrechts beraubt. 173 Demgegenüber gesteht die jüngere Rspr des BVerfG den Fachgerichten in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die (vorläufige) Normverwerfungskompetenz gegenüber Gesetzen zu und behandelt Vorlagen nach Art 100 I GG in diesem Stadium als unzulässig, s BVerfGE 86, 382, 389 sowie OVG NW, NVwZ 1992, 1226; OVG Berlin, NVwZ 1992, 1227 (Eine Ausnahme wird man machen müssen, wenn ein Hauptsacheverfahren nicht vorgesehen ist; s für eine Richtervorlage in einem solchen Fall BVerfGE 63, 131 – NDR-Staatsvertrag). Zum Vergleich von EuGHund BVerfG-Rspr in dieser Frage s Pietzcker FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag, 1995, S 623 ff. 174 Zur Entwicklung der Rspr s zB Wiedmann EuZW 2007, 692 ff; Kokott/Henze NJW 2006, 177 ff; Everling FS B Börner, 1992, S 57 ff. 175 Zur entsprechenden Regelung für Entscheidungen des BVerfG s § 79 BVerfGG; dem entspricht, dass die Kompetenzerweiterung des EuGH in der deutschen Literatur nicht problematisiert wurde, während in Frankreich Literatur und verwaltungsgerichtliche Rspr diese Kompetenz des EuGH zunächst ua unter Hinweis auf eine Überschreitung der richterlichen Funktionen nicht akzeptiert haben: In Frankreich fehlte bisher das Vorbild einer nachträglichen Verfassungskontrolle von Gesetzen, das die Erforderlichkeit einer solchen Regelung einsichtig macht; s Gundel Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung, 1997, 276 ff; s auch die rechtsvergleichenden Hinweise bei Isaac CDE 1987, 444 ff. 176 So der Einwand der Corte costituzionale (I), 21.4.1989 No 232/89 – Fragd Spa., Riv Dir Int 1989, 103; das italienische Verfassungsgericht hat dabei eine der „Solange-Rechtsprechung“ des BVerfG (zu ihr zB Lecheler ER, S 57 f; ders JuS 2001, 120 ff) entsprechende „Letztkontrolle“ in Anspruch genommen; zur Kontroverse Azzena Riv Trim Dir Pubbl 1992, 688 ff. 177 So programmatisch EuGH, Slg 1994, I-1445, Rn 26 ff – Roquette frères; zuletzt EuGH, 22.12. 2008 Rs C-333/07 – Régie Networks, Rn 127; allerdings hat der Gerichtshof sich geweigert, diese ausgleichende Lösung rückwirkend auch auf die zuvor bereits abweichend entschiedenen Fälle zu erstrecken, s EuGH, Slg 1989, 1553 – Roquette frères. 178 So EuGH, Slg 1994, I-1445, Rn 27 – Roquette frères.
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IV. Besondere Probleme bei „gestuften“ Verfahren und „gemischten“ Entscheidungen zwischen nationalen Behörden und EG-Kommission 1. Gestufte Verfahren a) Das Phänomen Eine spezifische Form des Vollzugs des Gemeinschaftsrechts sind gestufte Verfahren,179 in denen der Bürger zunächst allein in Kontakt mit den „ausführenden“ mitgliedstaatlichen Behörden tritt, während im Hintergrund die eigentliche Entscheidung durch die Gemeinschaftsorgane getroffen wird; diese Gestaltung wirft besondere Probleme für die Einhaltung der Verfahrensgarantien, aber auch für den Rechtsschutz gegenüber einmal getroffenen Entscheidungen auf. Bei dieser Ausgestaltung, die zB im EG-Zollrecht anzutreffen ist, nehmen die nationalen Behörden den Antrag des Betroffenen entgegen und sind im „Normalfall“ auch zur eigenständigen Entscheidung befugt. Nur in bestimmten Zweifelsfällen sind sie verpflichtet, den Sachverhalt der Kommission zu unterbreiten; diese trifft dann eine verbindliche Entscheidung, die von den nationalen Behörden gegenüber dem Antragsteller umzusetzen ist. Ähnliche Gestaltungen finden sich in der Verwaltung der Beihilfen der Gemeinschaft, etwa des EG-Sozialfonds (ESF) oder des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE): Hier sind nationale Stellen für die laufende Verwaltung und die Überwachung der Mittelverwendung zuständig; die verbindliche Entscheidung darüber, ob die Beihilfe endgültig gewährt oder aber stattdessen sogar Mittel zurückgefordert werden müssen, trifft jedoch die Kommission, wobei die Ausgestaltung im Detail variiert.180 Diese Gestaltung hat für das Gemeinschaftsorgan den Vorteil, dass ihm die Entscheidungssteuerung in zweifelhaften Fällen erhalten bleibt, ohne dass es mit der Masse der unproblematischen Fälle konfrontiert würde.
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b) Gefährdung der Rechte im Verwaltungsverfahren Diese Verfahrensgestaltung hat allerdings nicht nur Vorteile: Sie führt auch zu einer Gefährdung der Verfahrensrechte der Betroffenen, weil die nach außen zuständige und die in
179 Dazu zB Sydow 34 DV (2001), 517 ff; ausführl Nehl Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, 41 ff, 81 ff, 413 ff. 180 Zur Verteilung der Aufgaben zB EuGH, Slg 2001, I-673 – DAFSE; zuvor zB EuGH, Slg 2000, I-7183 – Mediocurso (jeweils zur Förderung durch den ESF). Die Ausgestaltung kann allerdings in Abhängigkeit des anwendbaren Sekundärrechts stark variieren: So hat der EuGH für die EFRE-Förderung festgehalten, dass die Kommission den Mitgliedstaat zwar zur Erstattung an die Gemeinschaft verpflichten kann, wenn gegen die Fördervoraussetzungen verstoßen wird, dieser muss die Förderung aber nicht notwendig auch vom Empfänger zurückfordern; s EuGH, Slg 2007, I-2591 – Regione Siciliana = JA 2007, 828 m Anm Gundel. Besonders weitgehend in der Auflösung des Durchgriffs ist EuGH, Slg 2007, I-5103 – Stichting ROM-projekten: Wenn die Beanstandung durch die Kommission auf der Missachtung von Fristen beruht, die der Empfänger nicht zu verantworten hat, weil der Mitgliedstaat sie ihm nicht mitgeteilt hatte, so muss der Staat die Summe zwar erstatten, darf sie aber vom Empfänger aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Vertrauensschutzes nicht zurückverlangen (zur Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte auf den Vollzug durch die Mitgliedstaaten Rn 44 ff).
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der Sache entscheidende Stelle auseinander fallen; dadurch kann das rechtliche Gehör beeinträchtigt werden, wenn nicht zusätzliche Vorkehrungen getroffen werden. Der EuGH hat diese Defizite zunächst gebilligt und darauf abgestellt, dass eine unmittelbare Gewährung rechtlichen Gehörs für die Betroffenen im Sekundärrecht nicht vorgesehen sei.181 Seit der maßgeblichen TU-München-Entscheidung von 1991182 verlangt er aber insbesondere die Wahrung des rechtlichen Gehörs: In dieser Entscheidung ist auch klargestellt, dass diese Anforderung nicht von der Ausgestaltung des Sekundärrechts abhängen kann. Daran anschließende Entscheidungen haben mehrfach festgehalten, dass dies dazu führen kann, dass die Kommission sich für ihre Entscheidung nicht allein auf die Kommunikation mit den zwischengeschalteten mitgliedstaatlichen Behörden verlassen darf, sondern dem Betroffenen ggf unmittelbar das Recht zur Stellungnahme gewähren muss, auch wenn ein solcher unmittelbarer Kontakt im Sekundärrecht nicht vorgesehen ist.183 Das ist zB dann geboten, wenn die Kommission von der Bewertung eines Sachverhalts durch die nationalen Behörden zum Nachteil des Betroffenen abweichen will,184 oder wenn ein Gesichtspunkt als maßgeblich für die Entscheidung herangezogen wird, zu dem der Antragsteller nicht Stellung beziehen konnte;185 auch die Akteneinsicht als Bestandteil des rechtlichen Gehörs muss die Kommission dem Antragsteller des Ausgangsverfahrens in solchen Fällen gewähren.186 Die Kommission hat sich diesen Vorgaben schließlich auch angepasst.187
181 So zB EuGH, Slg 1986, 2049, Rn 13 ff – Nicolet; Slg 1988, 1557, Rn 13 f – Nicolet. 182 S insb EuGH, Slg 1991, I-5469 – TU-München; später EuGH, Slg 1994, I-2885, Rn 39 – Fiskano; EuG, Slg 1995, II-2841 – France-Aviation; Slg 1998, II-401, Rn 74 ff – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773, Rn 57 ff – Primex Produkte; dazu Lecheler/Gundel Übungen, 97 ff. 183 So zum Zollrecht EuG, Slg 2001, II-1337 – Kaufring; zu dieser Entscheidung Heselink ZfZ 2001, 321 ff. 184 So im Fall Kaufring (Fn 183): Hier hatten die nationalen Behörden angenommen, dass der Fehler für die Importeure nicht erkennbar war, die Kommission kam zur gegenteiligen Einschätzung; ähnlich der Sachverhalt von EuG, Slg 1998, II-401 – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773 – Primex Produkte. 185 So im Fall von EuGH, Slg 1991, I-5469 – TU-München, s Rn 38 der Schlussanträge von GA Jacobs. 186 Nachdrücklich EuG, Slg 1998, II-401, Rn 79 ff – Eyckeler u Malt; Slg 1998, II-3773, Rn 62 f – Primex Produkte. 187 Die Kommission hatte zunächst versucht, die Auswirkungen der EuGH-Rspr auf ihre Verwaltungspraxis dadurch zu beschränken, dass den von den nationalen Behörden weitergeleiteten Anträgen eine schriftliche Erklärung des Antragstellers beizufügen war, in dem dieser versicherte, zu dem unterbreiteten Sachverhalt vollständig Stellung genommen zu haben (Art 87 1 I DVOZollkodex idF der Kommissions-VO 12/97, ABl EG 1997 L 9/1). Das EuG hat in der Folge aber festgehalten, dass diese Ergänzung nur eine Verbesserung in der ersten Verfahrensphase vor den nationalen Behörden bedeutete, nicht aber das geforderte rechtliche Gehör zu den Gesichtspunkten sicherstellen konnte, die in der zweiten Phase die Kommission für entscheidend halten würde, s EuG, Slg 1998, II-401, Rn 84 f – Eyckeler u Malt; Slg 2000, II-15, Rn 44 ff – Mehibas Dordtselaan. Erst mit der Kommissions-VO 1677/98 zur Änderung der DVO-Zollkodex, ABl EG 1998 L 212/18, wird dann eine rechtsprechungskonforme Regelung aufgenommen: „In allen Phasen des Verfahrens ... teilt die Kommission, wenn sie eine Entscheidung zu Lasten des antragstellenden Beteiligten treffen will, diesem in einem Schreiben alle der Entscheidung zugrunde liegenden Argumente mit und übersendet ihm alle Unterlagen, auf die sie die Entscheidung stützt. Der
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Der EuGH hat in diesem Zusammenhang auch den bereits aus dem nationalen Recht bekannten Kompensationsmechanismus auf das Gemeinschaftsrecht angewandt, nach dem in Bereichen, in denen die inhaltliche Kontrolle der Entscheidung durch Beurteilungsspielräume der Verwaltung begrenzt ist, die Kontrolle der Einhaltung der Verfahrensrechte besondere Bedeutung gewinnt.188
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c) Problematik des Rechtsschutzes Die Stufung der Entscheidungszuständigkeiten führt darüber hinaus aber auch zu Problemen für die Gewährleistung eines lückenlosen Rechtsschutzes: Wenn der Betroffene gegen die abschließende Entscheidung der nationalen Behörde vorgeht, so muss das nationale Gericht stets dem Gerichtshof vorlegen, wenn es zu der Auffassung gelangt, dass die zugrunde liegende Kommissionsentscheidung gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.189 Dies führt zwar zu Verzögerungen, eine Prüfung bleibt aber möglich; anders könnte die Lage sein, wenn dem Betroffenen die Zwischenentscheidung der Kommission bereits bekannt war: Dann muss er bereits unmittelbar gegen diese Entscheidung vorgehen, um ihre Bestandskraft zu vermeiden.190 Erfährt er von der Existenz der Kommissionsentscheidung allerdings erst im Verfahren gegen die abschließende Entscheidung der nationalen Behörde, so wird man ihm die Einleitung eines weiteren Verfahrens kaum zumuten können; auch die Gefahr einer Umgehung der Klagefrist des Art 230 V EGV (263 VI AEUV) ist in diesen Fällen nicht gegeben.191
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2. Rechtsschutzprobleme bei „gemischten“ Entscheidungen Neben den Fällen, in denen die Kommission im Hintergrund die Entscheidungen trifft und diese von den nationalen Verwaltungen nur umgesetzt werden, bestehen auch Gestaltungen, bei denen die Gemeinschaft und die nationale Behörde jeweils eine Entscheidung in eigener Verantwortung treffen. Relevant wird dies bei Gestaltungen, die bei Beihilfen der Gemeinschaft anzutreffen sind.
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Beteiligte nimmt innerhalb eines Monats … schriftlich Stellung.“ (Art 872a DVO-Zollkodex, parallel dazu Art 906a DVO-Zollkodex). S dazu etwa Schwarze FS Rodríguez Iglesias, 2003, S 147, 160, 162 f; Kahl VerwArch 95 (2004), 1, 9 f; deutlich EuGH, Slg 1991, I-5469, Rn 14 – TU-München; hier hat sich die Rpsr des EuGH unter dem Eindruck mehrfacher Vorlagen des BFH zu einer verschärften Verfahrenskontrolle von Kommissionsentscheidungen gewandelt. Die grundlegende Entscheidung EuGH, Slg 1987, 4199 – Foto-Frost betrifft ein solches Verfahren aus dem Zollbereich. Dazu auch Lecheler/Gundel Übungen, 95 ff. Lecheler/Gundel Übungen, 96 f; zu diesem Hintergrund der „Textilwerke Deggendorf“-Rspr Rn 33; AA allerdings Nehl (Fn 179) S 429 ff, der stets die Wahrnehmung der Direktklage verlangt (aber auch konstatiert, dass dies nicht der Praxis des EuGH entspricht). Werden tatsächlich eine Nichtigkeitsklage und ein nationales Gerichtsverfahren parallel geführt, kann das nationale Gericht anstatt einer Gültigkeitsvorlage auch die Aussetzung des Verfahrens wählen, so EuGH, 20.11.2008 Rs C-375/07 – Heuschen & Schrouff, Rn 64 ff.
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Fall 4: (EuGH, Slg 1992, I-6313 ff – Oleificio Borelli) X stellt einen Antrag auf Förderung eines landwirtschaftlichen Projekts aus den Regionalfördermitteln der EG. Nach der einschlägigen EG-Verordnung ist der Antrag bei der nationalen Behörde zu stellen und wird von dieser an die Kommission weitergeleitet; die Kommission kann den Antrag nur genehmigen, wenn auch der Mitgliedstaat sich entschieden hat, das Projekt zu fördern (und damit einen Teil der Finanzierung übernimmt). Im Fall des X lehnt der Mitgliedstaat eine solche Förderung ab; daraufhin weist auch die EG-Kommission den Antrag ab, obwohl die Genehmigungsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen. Gegen diese Entscheidung der Kommission erhebt X Klage vor dem EuG; er macht geltend, dass die ablehnende Entscheidung der nationalen Behörde gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen habe. Die Kommission hätte dies berücksichtigen und deshalb über die Förderung eine eigene positive Entscheidung fällen müssen: Dies sei der einzige Weg, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen, denn nach nationalem Prozessrecht werde die Entscheidung der nationalen Behörde als gerichtlich nicht selbständig angreifbare Zwischenentscheidung gewertet.
Die Besonderheit dieser Fälle liegt darin, dass die von den nationalen Behörden getroffenen (Teil-)Entscheidungen nicht von der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit kontrolliert werden können: Der EuGH schließt eine solche Kontrolle über das nationale Verwaltungshandeln im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die Kommissionsentscheidung aus, da eine solche Bewertung des mitgliedstaatlichen Verhaltens ausschließlich im Vertragsverletzungsverfahren (Art 226 f EGV/258 f AEUV) vorgesehen sei.192 Dennoch verlangt die gemeinschaftsrechtliche Garantie des effektiven und lückenlosen Rechtsschutzes, dass eine gerichtliche Kontrolle der staatlichen Entscheidung am Maßstab des Gemeinschaftsrechts gewährleistet ist: Diese Überprüfung ist die Aufgabe der nationalen Gerichte, denen allgemein die Kontrolle der Behörden bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts obliegt;193 sie können bzw müssen ggf den EuGH mit Fragen der Auslegung des zugrunde liegenden Gemeinschaftsrechts befassen (Art 234 III EGV/ 267 AEUV). Lösung Fall 4: Die Klage des X gegen die ablehnende Kommissionsentscheidung ist zulässig. EuG/EuGH werden sie jedoch als unbegründet abweisen, sofern diese Entscheidung keine eigenen Mängel aufweist. Weder die Kommission noch der EuGH werden danach die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Mitgliedstaats überprüfen: Diese Kontrolle obliegt den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten. Dies gilt auch dann, wenn das nationale Verfahrensrecht diese Entscheidungen als unselbständige (und damit nicht eigenständig überprüfbare) Vorbereitungshandlungen versteht; die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sind gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, die Zulässigkeit entsprechender Klagen sicherzustellen. Auch in diesem Fall hat der Gerichtshof die Forderung lückenlosen Rechtsschutzes zwar anerkannt, sie aber als Verpflichtung der Mitgliedstaaten zugeordnet. 192 S bereits EuGH, Slg 1990, I-1083, Rn 16 f – Triveneta Zuccheri m Anm Flynn 28 CMLRev (1991), 444 ff; EuGH, Slg 1993, I-3873, Rn 55 ff – CT Control BV u JCT Benelux BV: Solche Überprüfungen sind ausschließlich im Vertragsverletzungsverfahren zulässig. 193 EuGH, Slg 1992, I-6313, Rn 13 ff – Oleificio Borelli; dazu etwa García de Enterría 13 YEL (1993), 19 ff; Galetta in: Magiera/Sommermann (Hrsg), Verwaltung in der Europäischen Union, 2001, 63, 76 ff; Nehl (Fn 179) S 432 ff; ebenso zB EuGH, Slg 2002, I-1179, Rn 47 – La Conqueste SCEA.
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Justiz- und Verfahrensgrundrechte
§ 20 V
Während die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der nationalen Behörde vor den zuständigen Gerichten geprüft wird, wird allerdings die ablehnende Kommissionsentscheidung durch Zeitablauf bestandskräftig werden, Art 230 V EGV (263 VI AEUV).194 Hat der nationale Rechtsbehelf schließlich Erfolg, so entsteht damit aber eine neue Sachlage, so dass die Kommission ohne Bindung an ihre vorangehende Entscheidung erneut über die Förderung entscheiden kann. Damit ist zwar auch in diesen Fällen im Ergebnis der Rechtsschutz gegen jeden Teil der Entscheidung gesichert; der Weg dazu ist aber äußerst aufwendig und kompliziert.
74
V. Zusammenfassung Die Justiz- und Verfahrensgrundrechte des Gemeinschaftsrechts basieren in weiten Bereichen auf den Direktiven der EMRK, die in die Grundrechtscharta übernommen wurden; im Vordergrund stehen die Gewährleistungen eines fairen Verfahrens und des effektiven Rechtsschutzes, aus denen sich zahlreiche Ableitungen (rechtliches Gehör, Rechtsschutz in angemessener Zeit etc) ergeben. Diese Gewährleistungen werden ergänzt und ggf verstärkt durch die Grundsätze der gleichwertigen und effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten (Art 10 EGV/4 III EUV-E); in anderen Konstellationen müssen sie mit dem Grundsatz der Effektivität – der sich auch gegen die Verfahrensposition des Einzelnen kehren kann – in Ausgleich gebracht werden. Anders als andere Grundrechte des Gemeinschaftsrechts, bei denen die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers im Mittelpunkt steht, wirken die Verfahrensgrundrechte vor allem als Beschränkung der Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht vollziehen.
194 Auch eine vorsorglich parallel erhobene Nichtigkeitsklage gegen die Kommissionsentscheidung könnte dies nicht verhindern: Sie wäre – wie im Fall Borelli – als unbegründet abzuweisen.
719
75
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Adam AGOSI Ahmed
NJW 2001, 2595 EuGRZ 1988, 513 RJD 1998-VI
43359/98 9118/80 22954/93
Airey
EuGRZ 1979, 626
6289/73
Aksoy Albert und Le Compte Alinak Allan Allen Allenet de Ribemont Amann Amihalachioaie Amuur
HRLJ 18 (1997), 221 EuGRZ 1983, 190
21987/93 7299/75; 7496/76 40287/98 48539/99 76574/01 15175/89 27798/95 60115/00 19776/92
Anheuser-Busch Inc Ankerl Arslan
GRUR 2007, 696 RJD 1996-V NJW 2001, 1995 = RJD 2002-X
73049/01 17748/91 23462/94
§ 2 Rn 58 § 5 Rn 28, 31, 43 § 2 Rn 60; § 4 Rn 35, 81 § 2 Rn 31, 84; § 6 Rn 73; § 18 Rn 15 § 6 Rn 27, 72 § 4 Rn 86 § 4 Rn 15 § 6 Rn 49 § 20 Rn 20 § 6 Rn 50 § 3 Rn 3, 6 § 4 Rn 32 § 6 Rn 5 f, 20; § 16.1 Rn 10 § 5 Rn 18 § 6 Rn 45 § 4 Rn 32
Asan Rushiti Ashingdane EuGRZ 1986, 8 Asmundsson Associazione Nazionale ua NJW 2009, 492 Assanidze EuGRZ 2004, 268
28389/95 8225/78 60669/00 45563/04 71503/01
Atlan Autronic
36533/97 12726/87
RJD 2002-IX RJD 2003-VIII RUDH 1995, 295 HRLJ 21 (2000), 221 RJD 2004-III EuGRZ 1996, 577
EuGRZ 1990, 261
B B/Österreich Ba˛czkowski Baghli Baischer Bankovic´ Barberà
HRLJ 13 (1992), 358 RUDH 1990, 158
Barfod Barthold
Series A, Vol 149 EuGRZ 1985, 150
13343/87 11968/86 1543/06 34374/97 32381/96 52207/99 10588/83; 10589/83; 10590/83 11508/85 8734/79
Beckles Behrami und Saramati
EuGRZ 2007, 522
44652/98 71412/01; 78166/01
NVwZ 2000, 1401 ÖJZ 2002, 394 NJW 2003, 413 Series A, Vol 285-C
§ 6 Rn 50 § 6 Rn 17, 41 f § 5 Rn 16 § 2 Rn 54 § 2 Rn 17, 100, 101; § 16.1 Rn 5 § 6 Rn 46 § 2 Rn 22; § 4 Rn 18, 20 f, 56; § 16.2 Rn 11 § 3 Rn 8 § 4 Rn 20; § 6 Rn 9, 28 § 4 Rn 59 § 3 Rn 7, 12, 25, 30 § 6 Rn 52 § 2 Rn 51; § 3 Rn 51 § 2 Rn 105 § 4 Rn 28, 51 § 2 Rn 65; § 4 Rn 3, 8, 35, 47 § 6 Rn 49 § 1 Rn 19
721
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Belchev Belgischer Sprachenfall
EuGRZ 1975, 298
Belilos Beyeler Bizzotto Bladet Tromsø Bodén Bolat Borgers Bosphorus Bouamar Bowman Boyle und Rice Bozano Brand Brandstetter
EuGRZ 1989, 21 NJW 2003, 654 = RJD 2000-I RJD 1996-V EuGRZ 1999, 453 EGRZ 1988, 452 EuGRZ 1991, 519 NJW 2006, 197 Series A, Vol 129 RJD 1998-I Series A, Vol 131 EuGRZ 1987, 101 EuGRZ 1992, 190
Beschwerdenummer
Zitiert in
39270/98 1474/62; 1677/62; 1691/62; 1769/63; 1994/63; 2126/64 10328/83 33202/96
§ 6 Rn 25 § 2 Rn 23
22126/93 21980/93 10930/84 14139/03 12005/86 45036/98 9106/80 24839/94 9659/82; 9658/82 9990/82 49902/99 11170/84; 12876/87; 13468/87 14553/89; 14554/89 11209/84; 11234/84; 11266/84; 11386/85 31443/96
§ 6 Rn 19 § 4 Rn 7, 52 § 6 Rn 37 § 6 Rn 69 § 3 Rn 75; § 6 Rn 45 § 5 Rn 38 § 6 Rn 7, 16, 30 § 4 Rn 35 § 6 Rn 70, 72 § 6 Rn 6, 9 § 6 Rn 19 § 6 Rn 46
Brannigan Brogan
HRLJ 14 (1993), 184 HRLJ 9 (1988), 293
Broniowski
EuGRZ 2004, 472
Buckley Buldan Burghartz Canela Santiago Cantoni Casado Coca
RJD 1996-IV, 1271 RUDH 1994, 27 RUDH 2001, 420 RJD 1996-V HRLJ 15 (1994), 184
20348/92 28298/95 16213/90 60350/00 17862/91 15450/89
Castells
Series A, Vol 236
11798/85
Cha’are Shalom Ve Tsedek RUDH 2000, 247 Chahal RUDH 1997, 365
27417/95 22414/93
Chapman Chassagnou
27238/95 25088/94; 28331/95; 28443/95
Chauvy Chorherr Christians against Racism and Facism Ciliz
722
§ 2 Rn 56 § 5 Rn 32, 37 f, 42
§ 6 Rn 31 § 6 Rn 26 f, 32
ÖJZ 1994, 173 EuGRZ 1981, 216
64915/01 13308/87 8440/78
§ 2 Rn 100; § 5 Rn 32, 50, 54 § 2 Rn 27 § 6 Rn 73 § 3 Rn 73 § 20 Rn 24 § 2 Rn 43, 63 § 4 Rn 8, 35, 37, 47, 98; § 16.2 Rn 10 § 4 Rn 34, 41, 46; § 16.2 Rn 23 § 3 Rn 31, 32, 67 § 6 Rn 20, 29; § 20 Rn 41 § 2 Rn 24 § 4 Rn 78, 87; § 5 Rn 48, 57; § 16.2 Rn 39 § 16.2 Rn 56 § 4 Rn 37 § 16.2 Rn 37
NVwZ 2001, 547
29192/95
§ 3 Rn 9, 18, 24, 27, 28
RJD 2001-I RUDH 1999, 17
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Cisse Ciulla Civet Clooth Comingersoll Condron Copland Corcuff Corigliano Costello-Roberts Cossey Cruz Varas Cumpa˘na˘ und Masa˘re Dahlab
RJD 2002-III Series A, Vol 148 NJW 2001, 54 HRLJ 13 (1992), 117 RJD 2000-IV RJD 2000-V EuGRZ 2007, 415 Series A, Vol 57 Series A, Vol 247-C Series A, Vol 184 EuGRZ 1991, 203 RJD 2004-XI NJW 2001, 2871
51346/99 11152/84 29340/95 12718/87 35382/97 35718/97 62617/00 16290/04 8304/78 13134/87 10843/84 15576/89 33348/96 42393/98
Dammann Dänemark De Cubber De Haes und Gijsels De Jong
EuGRZ 2000, 620 EuGRZ 1985, 407 ÖJZ 1997, 912 EuGRZ 1985, 700
§ 4 Rn 62, 65 § 6 Rn 7, 11 § 2 Rn 84 § 6 Rn 28 § 2 Rn 105 § 6 Rn 49 § 3 Rn 3, 6 § 6 Rn 45 § 6 Rn 54 § 2 Rn 48; § 6 Rn 72 § 16.1 Rn 54 § 2 Rn 73 § 4 Rn 46 § 2 Rn 22; § 3 Rn 31, 36, 70; § 16.1 Rn 66 § 4 Rn 11 § 2 Rn 71 § 6 Rn 40 § 4 Rn 51 § 6 Rn 13
De Moor De Wilde
RUDH 1994, 401 Series A, Vol 12
Demir
RJD 1998-VI
Demuth Desmots Deumeland Deweer Dichand Diennet Dombo Beheer Döring Dotta Drozd Dudgeon Dufay Dzelili Dzyruk Eckle Editions Périscope Ehemaliger König
EuGRZ 2003, 488
Eisenstecken Elsholz
EuGRZ 1983, 371 HRLJ 13 (1992) 419 EuGRZ 2001, 397
77551/01 34382/97 9186/80 19983/92 8805/79; 8806/79; 9242/81 16997/90 2832/66; 2835/66; 2899/66 21380/93; 21381/93; 21383/93 38743/97 41358/98 9384/81 6903/75 29271/95 18160/91 14448/88 37595/97 38399/97 12747/87 7525/76 13539/88 65745/01 77832/01 8130/78 11760/85 25701/94
NJW 2001, 2315
29477/95 25735/94
NJW 1989, 652 EuGRZ 1980, 667 Series A, Vol 325-A RUDH 1993, 426 NJW 2001, 1556 Series A, Vol 240 EuGRZ 1983, 488 NVWZ-RR 2006 513
§ 6 Rn 46 § 6 Rn 30 § 6 Rn 27 § 4 Rn 20, 47, 57 § 2 Rn 36 § 6 Rn 37, 55 § 6 Rn 39 § 2 Rn 99 § 6 Rn 39, 52 § 6 Rn 45 § 5 Rn 11 § 2 Rn 36; § 19 Rn 23 § 2 Rn 34; § 3 Rn 51 § 2 Rn 65; § 3 Rn 8 § 14 Rn 14 § 2 Rn 105 § 6 Rn 27 § 6 Rn 54, 58 § 6 Rn 37, 54 § 5 Rn 8, 32, 37, 39, 43, 47 f § 2 Rn 56 § 3 Rn 9, 24, 28, 29
723
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Emesa Sugar Engel
EuGRZ 2005, 234 EuGRZ, 1976, 221
§ 20 Rn 40 § 4 Rn 37, 72; § 6 Rn 5 f, 9 f, 30
Erdagöz Ergi Eskelinen Evans Ezeh und Connors Ezelin
RJD 1997-VI
62023/00 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72 21890/93 23818/94 63235/00 6339/05 39665/98; 40086/98 11800/85
EuGRZ 2006, 389 HRLJ 12 (1991), 185
Falk Fayed Feldek Ferrazzini Fischer Fogarty Fox
HRLJ 15 (1994), 344 ÖJZ 2002, 814 Rn 83 NJW 2002, 3453 Series A, Vol 312-A RJD 2001-XI RUDH 1990, 418
Fredin (Nr. 1) Fredin (Nr. 2) Fressoz und Roire Funke
HRLJ 12 (1991), 93 RUDH 1994, 25 EuGRZ 1999, 5 RUDH 1993, 232
41077/04 17101/90 29032/95 44759/98 16922/90 37112/97 12244/86; 12245/86; 12383/86 12033/86 18928/91 29183/95 10828/84
Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein Gäfgen Gaida G K/Polen Garaudy Garcia Alva Gaskin Gaygusuz Giniewski Girardi Glasenapp Golder Goodwin
EuGRZ 2001, 466
42527/98
EuGRZ 2008, 466 NVwZ 2008, 1215
22978/05 32015/02 38816/97 65831/01 23541/94 10454/83 17371/90 64016/00 50064/99 9228/80 4451/70 17488/90
Goodwin Goussev u Marenk Gorgulu Gradinger Grams Grecu
724
NJW 2004, 3691 Series A, Vol 160 JZ 1997, 405
EuGRZ 1986, 497 EuGRZ 1975, 91 RJD 1996-II NJW 2004, 289
Series A, Vol 328-C = JBl 1995, 577 NJW 2001, 1989
§ 6 Rn 13 § 3 Rn 52 § 6 Rn 37 § 3 Rn 49 § 6 Rn 39 § 4 Rn 2, 59, 63, 65, 69, 96; § 16.2 Rn 37 § 6 Rn 31 § 6 Rn 42 § 4 Rn 1 § 6 Rn 38 § 6 Rn 52, 65 § 2 Rn 42, 60 § 6 Rn 12 ff, 23, 32 § 5 Rn 11, 38 § 6 Rn 52 § 4 Rn 6, 39, 52 § 2 Rn 65; § 6 Rn 49; § 15 Rn 2; § 20 Rn 20 § 5 Rn 10
28957/95 35083/97 74969/01 15963/90
§ 2 Rn 60; § 3 Rn 45 § 2 Rn 58 § 6 Rn 27 f, 31 § 2 Rn 57 § 6 Rn 31 § 4 Rn 11, 27 § 5 Rn 17; § 9 Rn 25 § 4 Rn 30 § 6 Rn 58 § 4 Rn 44 § 4 Rn 37; § 6 Rn 41 § 4 Rn 52; § 16.2 Rn 15 § 3 Rn 8, 11 § 4 Rn 32 § 3 Rn 28 § 2 Rn 56; § 6 Rn 65
33677/96 75101/01
§ 3 Rn 64 § 6 Rn 67
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Grigoriades Groppera Radio AG
RJD 1997-VII EuGRZ 1990, 255
24348/94 10890/84
Groshev Guérin Guerra
RUDH 2000, 119 NVwZ 1999, 57
69889/01 25201/94 14967/89
§ 4 Rn 34 § 2 Rn 65, 82; § 4 Rn 7, 32, 57 f; § 16.2 Rn 10 § 6 Rn 44 § 20 Rn 26 § 3 Rn 7; § 4 Rn 11; § 16.2 Rn 11; § 20 Rn 24 § 4 Rn 87, 90 § 6 Rn 5 f, 12, 14, 18 § 3 Rn 41 § 6 Rn 46, 52 § 2 Rn 84; § 3 Rn 29 § 4 Rn 36 § 5 Rn 37; § 6 Rn 52 § 4 Rn 18 § 2 Rn 65; § 4 Rn 1, 7, 30, 38, 54; § 5 Rn 4, 40, 43; § 16.2 Rn 10, 13 § 4 Rn 9, 25 § 2 Rn 25; § 3 Rn 19, 28 § 6 Rn 49 § 5 Rn 44, 47 § 6 Rn 54 § 5 Rn 37, 44 § 2 Rn 63; § 6 Rn 17 § 4 Rn 17, 23, 47; § 16.2 Rn 56 § 16.1 Rn 5 § 6 Rn 46 § 6 Rn 31 § 2 Rn 84, 68 § 6 Rn 73 § 6 Rn 31 § 6 Rn 67 § 6 Rn 19 § 2 Rn 88 § 2 Rn 99 § 2 Rn 84; § 5 Rn 37 § 3 Rn 18 § 2 Rn 51 § 6 Rn 27 f § 5 Rn 27
Gustafsson Guzzardi H.L.R. H/Belgien Haase Hadjianastassiou Håkansson und Sturesson Halis Dog˘an Handyside
EuGRZ 1977, 38
15573/89 7367/76 24573/94 8950/80 11057/02 12945/87 11855/85 50693/99 5493/72
Hashman und Harrup Hatton
RUDH 1999, 331 ÖJZ 2003, 72
25594/94 36022/97
Heaney Heilige Klöster Hennig Hentrich Herczegfalvy Hertel
RJD 2000-XII HRLJ 16 (1995), 30
34720/97 13092/87; 13984/88 41444/98 13616/88 10533/83 24699/94
Herz Hiro Balani Hirst Hornsby Horvat Hristov Hubner Hutchison Reid Hüttner I. A. Iatridis Ignaccolo-Zenide Ilascu Ilowiecki Immobiliare Saffi
HRLJ 17 (1996), 118 EuGRZ 1983, 633 NVwZ 1998, 163 Series A, Vol 127-B NJW 2004, 3401 NJW 1993, 1697 EuGRZ 1992, 5
EuGRZ 1988, 350 EuGRZ 1992, 535 RJD 1998-VI NJW 2004, 2209 Series A, Vol 303-B RJD 1997, II RJD 2001-VIII
RJD 2003-IV NJW 2007, 2097 NJW 2006, 3263 EuGRZ 1999, 317 RUDH 2000, 93 NJW 2005, 1849 RJD 1999-V
44672/98 18064/91 40787/98 18357/91 51585/99 35436/97 34311/96 50272/99 23130/04 42571/98 31107/96 31679/96 48787/99 27504/95 22774/93
725
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Informationsverein Lentia EuGRZ 1994, 549 Irland Issa ua J B/Schweiz J G/Polen Jacubowski Jäggi Jahn
EuGRZ 1979, 149
RJD 2001-III EuGRZ 1996, 306 FamRZ 2006, 1354 EuGRZ 2004, 57 ff
Beschwerdenummer
Zitiert in
13914/88; 15041/89; 15717/89; 17207/90 5310/71
§ 4 Rn 4, 20, 27, 57; § 16.2 Rn 10 § 2 Rn 36, 58, 61; § 6 Rn 11 § 2 Rn 51 § 15 Rn 2 § 6 Rn 25 § 4 Rn 47 § 3 Rn 8 § 2 Rn 15; § 5 Rn 23, 37, 47, 53 f § 3 Rn 41; § 6 Rn 44, 49 § 2 Rn 6; § 5 Rn 32, 37 ff, 43, 47, 49 ff; § 6 Rn 71; § 17 Rn 27, 29; § 16.4 Rn 11, 41 § 4 Rn 50 § 2 Rn 76 § 4 Rn 9, 30, 37, 46; § 16.2 Rn 10 § 4 Rn 41 § 20 Rn 24 § 6 Rn 52 § 6 Rn 63 § 2 Rn 105 § 4 Rn 5, 17, 34 § 6 Rn 69, 73 § 6 Rn 27 f § 6 Rn 8, 13 § 6 Rn 22, 32 § 2 Rn 27 § 3 Rn 13, 22; § 6 Rn 46 § 2 Rn 13; § 4 Rn 4; § 16.2 Rn 10 § 3 Rn 6; § 6 Rn 70 § 3 Rn 6; § 6 Rn 72 § 6 Rn 54 § 3 Rn 3 § 6 Rn 54 § 6 Rn 62 § 6 Rn 30, 37, 54 § 6 Rn 30 § 2 Rn 63; § 16.1 Rn 71
31827/96 36258/97 15088/89 58757/00 46720/99; 72203/01; 72552/01 54810/00
Jalloh
NJW 2006, 3117
James
Series A, Vol 98 = EuGRZ 1988, 341
8793/79
Janowski Jecius Jersild
NJW 1999, 1318 RJD 2000-IX, 237 Series A, Vol 298
25716/94 34578/97 15890/89
Jerusalem John Jussila K. A. Kakamoukas ua Katrami Kaya Kemmache (Nr. 1 & 2) Kemmache (No. 3) Keus K-F Khan
ÖJZ 2001, 693 EuGRZ 2008, 274
26958/95 15073/03 73053/01 42758/9; 45558/99 38311/02 19331/05 22729/93 12325/86; 14992/89 17621/91 12228/86 25629/94 35394/97
Kjeldsen
EuGRZ 1976, 478
Klaas Klass Klein Knauth Kobtsev Kolk König König Kokkinakis
EuGRZ 1979, 278 NJW 1979, 1755 NJW 2001, 213 NJW 2003, 3041
726
NJW 2009, 655 RJD 1998-I HRLJ 1992, 42 Series A, Vol 296-C RUDH 1990, 466 NJW 1999, 775 JZ 2000, 993
EuGRZ 1978, 406 Series A Vol 260
5095/71; 5920/72; 5926/72 5029/71 5029/71 33379/96 41111/98 7324/02 23052/04; 24018/04 6232/73 39753/98 14307/88
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Kopecky Kormacheva Kosiek Kosteski Koua Poirrez Krastanov Krenz
NJOZ 2005, 2912
44912/98 53084/99 9704/82 55170/00 40892/98 50222/99 34044/96; 35532/97; 44801/98 34097/96 39594/98 28249/95 11801/85 30210/96
§ 5 Rn 10 § 6 Rn 56 § 4 Rn 44 § 3 Rn 70 § 20 Rn 43 § 6 Rn 56 § 1 Rn 12; § 2 Rn 16, 18; § 6 Rn 62, 64 § 6 Rn 28 § 20 Rn 39 § 6 Rn 42 § 2 Rn 63 § 2 Rn 27, 100; § 6 Rn 73 § 16.1 Rn 18 § 6 Rn 59 § 3 Rn 25 § 6 Rn 25 § 6 Rn 8 § 6 Rn 5, 11 § 4 Rn 11 § 4 Rn 75, 86; § 6 Rn 39, 52; § 16.2 Rn 39 § 4 Rn 11; § 6 Rn 72 § 6 Rn 31 § 3 Rn 7
Kreps Kress Kreuz Kruslin Kudla K u T/Finnland Kus´ mierek Kutzner Labita Laumont Lawless (No. 3) L.C.B. Le Compte, Van Leuven und De Meyere Leander
EuGRZ 1986, 509 NZA 2006, 1401 RUDH 2003, 440 NJW 2001, 3035
RTDE 2001, 809 RJD 2001-VI ÖJZ 1990, 564 NJW 2001, 2694 NJW 2003, 809 NJW 2002, 244 RJD 2000-IV RJD 2001-XI Series A, Vol 3 RJD 1998-III EuGRZ 1981, 551
25702/94 10675/02 46544/99 26772/95 43626/98 332/57 23413/94 6878/75; 7238/75
Series A, Vol 116
9248/81
Lebedev Ledyayeva Lehideux und Isorni Lelièvre Lenz Letellier Lietzow Lingens
Lislawska Lithgow
Lobo Machado Loizidou Lokanov
RJD 1998-VII NJW 2003, 2441 HRLJ 12 (1991), 302 NJW 2002, 2013 EuGRZ 1986, 424
Series A, Vol 102 = EuGRZ 1988, 350
RJD 1996-I ZaöRV 56 (1996), 439 = EuGRZ 1997, 555 RJD 1997-II
4493/04 53157/99; 53247/99; 53695/00; 56850/00 24662/94 11287/03 40862/98 12369/86 24479/94 9815/82
37761/97 9006/80; 9262/81; 9263/81; 9265/81; 9266/81; 9313/81; 9405/81 15764/89 15318/89 21915/93
§ 4 Rn 37 § 6 Rn 28 § 5 Rn 16 § 6 Rn 27 f § 6 Rn 31 § 4 Rn 1, 11, 28, 34, 46, 49; § 16.2 Rn 11, 23 § 6 Rn 57 § 5 Rn 8, 37, 49 ff; § 6 Rn 41 f, 71
§ 20 Rn 39 § 1 Rn 6; § 2 Rn 51; § 3 Rn 51 § 6 Rn 5, 7
727
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
López Ostra
EuGRZ 1995, 530
16798/90
Luberti Lüdi Luedicke
EuGRZ 1985, 642 EuGRZ 1992, 300 EuGRZ 1979, 34
Lyons ua Maaouia Maestri Magee Makaratzis Malone Mamatkulov u Askarov
EuGRZ 2004, 777 RTDH 2002, 433
9019/80 12433/86 6210/73; 6877/75; 7132/75 15227/03 39652/98 39748/98 28135/95 50385/99 8691/79 46827/99, 46951/99
§ 2 Rn 58; § 3 Rn 7, 19, 27; § 4 Rn 11; § 20 Rn 24 § 6 Rn 17, 30 § 3 Rn 6 § 3 Rn 74
Mansur Manzoni Marckx markt intern Verlag GmbH und Klaus Beermann Mathieu-Mohin Matthews
Matwiejczuk McCann McGinley u Egan Mehemi Metropolitanische Kirche von Bessarabien Mizzi Monnell Moosbrugger Morel Moreno Gómez Morsink Moser Moskauer Untergrundorganisation der Heilsarmee Moustaquim Muller Müller
728
RJD 2000-VI NJW 2005, 3405 EuGRZ 1985, 17 EuGRZ 2003, 704 EuGRZ 2005, 357 Series A, Vol 319-B Series A, Vol 195-B EuGRZ 1979, 454
16026/90 11804/85 6833/74
EuGRZ 1996, 302
10572/83
Series A, Vol 113 NJW 1999, 3107
9267/81 24833/94
HRLJ 16 (1995), 260 RJD 1998-III NVwZ 1998, 164 RJD 2001-XII
37641/97 18984/91 21825/93; 23414/94 25017/94 45701/99
EuGRZ 2006, 129 Series A, Vol 115
§ 2 Rn 104 § 6 Rn 38; § 20 Rn 47 § 4 Rn 78 § 6 Rn 47 § 3 Rn 58 § 2 Rn 63; § 3 Rn 6 § 2 Rn 73 § 6 Rn 27 § 6 Rn 54 § 2 Rn 22, 62; § 5 Rn 4, 19 § 4 Rn 8, 17, 35, 47, 98; § 16.2 Rn 10 § 2 Rn 26, 60 § 1 Rn 17; § 2 Rn 43, 85; § 19 Rn 63 § 6 Rn 28 § 3 Rn 58 § 4 Rn 11 § 3 Rn 7, 12, 30 § 16.1 Rn 65, 71
EuGRZ 2007, 24
26111/02 9562/81; 9818/82 44861/98 34130/96 4143/02 48865/99 12643/02 72881/01
§ 3 Rn 8 § 6 Rn 9 § 2 Rn 36 § 6 Rn 40 § 3 Rn 19 § 6 Rn 19 § 6 Rn 52 § 3 Rn 31, § 4 Rn 66; 75
EuGRZ 1993, 552 RJD 1997-II EuGRZ 1988, 543
12313/86 21802/93 10737/84
§ 2 Rn 65 § 6 Rn 28 § 4 Rn 38, 55; § 16.2 Rn 56, 64
RJD 2000-VI NJW 2005, 3767
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Murray Murray N.F. Nasrulloyev Nationale Belgische Polizeigewerkschaft Neumeister Neumeister NEWS Verlags GmbH & Co. KG. Nielsen Niemietz
HRLJ 15 (1994), 331 EuGRZ 1996, 587 RJD 2001-IX EuGRZ 1975, 562
18731/91 14310/88 37119/97 656/06 4464/70
Series A, Vol 8 Series A, Vol 17 ÖJZ 2000, 394
1936/63 1936/63 31457/96
§ 6 Rn 11 ff, 23 § 6 Rn 49 § 4 Rn 80 § 6 Rn 20 § 4 Rn 77, 88; § 16.2 Rn 39 § 6 Rn 27 § 2 Rn 105 § 4 Rn 18
Series A, Vol 144 NJW 1993, 718
10929/84 13710/88
Nikitin Nikolova Nikowitz Norbert Kind Norris Nuray S¸en (Nr. 2) O’Hara Oberschlick
RJD 2001-X EuGRZ 1991, 216
50178/99 31195/96 5266/03 44324/98 10581/83 25354/94 37555/97 11662/85
Observer und Guardian
EuGRZ 1995, 16
13585/88
Öcalan
NVwZ 2006, 1267
46221/99
Odièvre
NJW 2003, 2145
42326/98
Og˘ur Okpisz Olbertz Oliveira Öneryildiz Open Door
NJW 2001, 1991 NVwZ 2006, 917 NJW 2001, 1558 RJD 1998-V RJD 2004-XII Series A, Vol 246-A = EuGRZ 1992, 484
21594/93 59140/00 37592/97 25711/94 48939/99 14234/88; 14235/88
RJF 1999-II Medien&Recht 2007, 71 EuGRZ 2003, 228 EuGRZ 1992, 477
Orsˇusˇ Osman RJD 1998-VIII, 3159 Österreichischer Rundfunk ÖJZ 2007, 472 Otto-Preminger-Institut HRLJ 15 (1994), 371
15766/03 23452/94 35841/02 13470/87
Ouranio Toxo Özgür Gündem Öztürk
74989/01 23144/93 8544/79
RJD 2000-III EuGRZ 1985, 62
§ 6 Rn 16 § 1 Rn 31; § 2 Rn 25, 34; § 3 Rn 4, 5, 13, 24, 25; § 15 Rn 23; § 16.1 Rn 23 § 6 Rn 65 f § 6 Rn 25, 31 § 4 Rn 6, 17 § 2 Rn 27 § 3 Rn 8 § 6 Rn 73 § 6 Rn 13, 27 § 4 Rn 1, 34, 46; § 16.2 Rn 10 § 4 Rn 1, 17, 25, 36, 43; § 16.2 Rn 15 § 2 Rn 31, 51, 73, 104; § 3 Rn 57; § 6 Rn 6 § 3 Rn 8, 27, 67; § 16.1 Rn 17 § 3 Rn 52, 59, 64 § 3 Rn 67, 70 § 5 Rn 11 § 6 Rn 65 § 3 Rn 62 § 2 Rn 9; § 4 Rn 43; § 16.2 Rn 11, 14 § 6 Rn 55 § 2 Rn 25 § 4 Rn 50 § 4 Rn 15, 35, 54; § 16.2 Rn 56, 58, 64 § 4 Rn 79 § 4 Rn 17, 26 § 6 Rn 39
729
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
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Beschwerdenummer
Zitiert in
Paeffgen GmbH
MMR 2008, 29
§ 5 Rn 18
Pafitis Pammel Papachelas Papamichalopoulos Partei der Freiheit und Demokratie Partidul Comunistilor Paskhalidis Pauger Paul und Audrey Edwards Pellegrin Pérez Petra Pfeifer Philis
RJD 1998-I EuGRZ 1997, 310 EuGRZ 1999, 319 Series A, Vol 330-B RJD 1999-VIII
25379/04; 21688/05; 21722/05; 21770/05 20323/92 17820/91 31423/96 14556/89 23885/94
Philis (Nr. 2) Piermont Pierre-Bloch Pine Valley Pla u Puncerau Plattform „Ärzte für das Leben“ Podbielski Poiss
RJD 1997-IV Series A, Vol 314 RUDH 1997, 73 HRLJ 13 (1992), 36 ZEV 2005, 162 EuGRZ 1989, 522
Posti und Rahko Powell und Rayner Pretto Pretty
Probstmeier Quinn Rachevi Radio ABC Radio France Raimondo Ramirez Sanchez Randall Rees Refah Partisi
730
RJD 2005-I, 209 RJD 1997-II RJD 1997-III RJD 2002-II NVwZ 2000, 661 Series A, Vol 325-C RJD 1998-VII ÖJZ 2008, 161 EuGRZ 1991, 355
RJD 1998-VIII Series A, Vol 117 = NJW 1989, 650 Series A, Vol 172 EuGRZ 1985, 548 EuGRZ 2002, 234
NJW 1997, 2809 Series A, Vol 311 RJD 1997-VI RJD 2004-II RUDH 1994, 21 EuGRZ 2007, 141 Series A, Vol 106 RJD 2003-II
46626/99 20416/92 16717/90 46477/99 28541/95 16462/90 27273/95 12556/03 12750/87; 13780/88; 14003/88 19773/92 15773/89; 15774/89 24194/94 12742/87 69498/01 10126/82 27916/95 9816/82 27824/95 9310/81 7984/77 2346/02
20950/92 18580/91 47877/99 19736/92 53984/00 12954/87 59450/00 44014/98 9532/81 41340/98; 41342/98; 41343/98; 41344/98
§ 20 Rn 43 § 2 Rn 27 § 5 Rn 34, 49 § 2 Rn 105 § 4 Rn 79 § 4 Rn 2, 3, 76 § 6 Rn 37 § 6 Rn 52 § 6 Rn 73 § 2 Rn 27; § 6 Rn 37 § 6 Rn 30 § 3 Rn 15, 21 § 4 Rn 19, 34, 49 § 6 Rn 41 § 6 Rn 59 § 2 Rn 61 § 6 Rn 38 § 5 Rn 59 § 3 Rn 12, 71 § 4 Rn 61; 64; § 16.2 Rn 37 § 6 Rn 59 § 5 Rn 34; § 6 Rn 58 § 3 Rn 69 § 4 Rn 27; § 6 Rn 72 § 6 Rn 53, 58 § 2 Rn 22, 23; § 3 Rn 3, 50; § 16.1 Rn 17 § 2 Rn 27 § 6 Rn 7 § 6 Rn 59 § 4 Rn 4, 20, 57 § 4 Rn 52 § 5 Rn 38 f § 3 Rn 41; § 6 Rn 72 § 6 Rn 49 § 2 Rn 31; § 3 Rn 11; § 16.1 Rn 54 § 1 Rn 12; § 2 Rn 67; § 16.1 Rn 64
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Refah Partisi (Nr. 2)
EuGRZ 2003, 206; NVwZ 2003, 1489
41340/98; 41342/98; 41343/98; 41344/98
Reinhardt und Slimane-Kaïd Reinmüller Rekvényi Remli Riad u Idiab Ribitsch Ringeisen Roche Rowe und Davis Ruiz-Mateos Ryabikin Ryakib Biryukov S W/Vereinigtes Königreich Saadi Saddam Hussein S.A. Jacquers Dangeville
RJD 1998-II
23043/93; 22921/93
§ 1 Rn 12; § 2 Rn 99; § 4 Rn 81; § 16.1 Rn 71 § 20 Rn 39
69169/01 25390/94 16839/90 29787/03 ; 29810/03 18896/91 2614/65 32555/96 28901/95 12952/87 8320/04 14810/02 20166/92
§ 6 Rn 48 § 2 Rn 63 § 6 Rn 40 § 6 Rn 20 § 3 Rn 42 § 6 Rn 7 § 4 Rn 11 § 6 Rn 46 § 6 Rn 46 § 6 Rn 20 § 6 Rn 54 § 6 Rn 63
13229/03 23276/04 36677/97
§ 6 Rn 8, 21, 34 § 2 Rn 51 § 2 Rn 36; § 5 Rn 8, 38 § 3 Rn 37 § 6 Rn 27
NVwZ 2000, 421 RJD 1996-II EuGRZ 1996, 504 Series A Vol 13 NJOZ 2007, 865 RJD 2000-II EuGRZ 1993, 453
Series A, Vol 335-B
NJW 2006, 2971
S¸ahin Sakik
NVwZ 2006, 1389 RJD 1997-VII
Salman Saunders
NJW 2001, 2001 RJD 1996-VI
44774/98 23878/94; 23879/94; 23880/94; 23881/94; 23882/94; 23883/94 21986/93 19187/91
Schenk Schiesser Schmidt
EuGRZ 1988, 390 EuGRZ 1980, 202 NVwZ 1995, 365
10862/84 7710/76 13580/88
Schmidt und Dahlström Schneider Schöpfer Schöps Schouten Schuler-Zgraggen Schüssel Schwabe Schwedischer Lokomotivführerverband Scientology
EuGRZ 1976, 68 NuR 2008, 489 RJD 1998-III NJW 2002, 2015 Series A, Vol 304 Series A, Vol 263 ÖJZ 2005, 276 Series A, Vol 242-B EuGRZ 1976, 62
5589/72 2113/04 25405/94 25116/94 19005/91; 19006/91 14518/89 42409/98 13704/88 5614/72
NJW 2008, 495
18147/02
§ 3 Rn 40, 52 f, 59, 64 § 6 Rn 49; § 15 Rn 2; § 20 Rn 20 § 6 Rn 50 § 6 Rn 25 § 2 Rn 14; § 5 Rn 32, 37 ff, 43, 47, 49 ff; § 6 Rn 69; § 15 Rn 35; § 17 Rn 27, 29 § 4 Rn 85, 89 § 4 Rn 78, 87 § 4 Rn 47 § 6 Rn 31 § 6 Rn 37 § 6 Rn 52 § 4 Rn 8 f § 4 Rn 46 § 2 Rn 10; § 4 Rn 85, 87 § 16.1 Rn 65
731
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Scollo Scordino (Nr 1) Scott Sekanina Selmouni
Series A, Vol 315-C NJW 2007, 1259 RJD 1996-VI RUDH 1993, 358 NJW 2001, 56
19133/91 36813/97 21335/93 13126/87 25803/94
Senator Lines GmbH Serves Sibson Sidiropoulos Sigurdur Sigurjónsson
NJW 2004, 3617 RJD 1997-VI Series A, Vol 258-A RJD 1998-IV Series A, Vol 264
56672/00 20225/92 14327/88 26695/95 16130/90
Silver
EuGRZ 1984, 147
§ 2 Rn 105 § 5 Rn 50; § 6 Rn 71 § 6 Rn 27 § 6 Rn 50 § 3 Rn 40, 42, 45; § 15 Rn 32 § 2 Rn 41 § 6 Rn 49 § 4 Rn 87 § 4 Rn 80 § 4 Rn 78, 90; § 16.2 Rn 39 § 2 Rn 63; § 6 Rn 71; § 14 Rn 67
Slivenko Smirnova Smith und Grady
NJW 2000, 2089
5947/72; 6205/73; 7052/75; 7061/75; 7107/75; 7113/75; 7136/75 48321/99 46133/99; 48183/99 33985/96; 33986/96
Soering
EuGRZ 1989, 314
14038/88
Sommerfeld Sommerfeld Sørensen und Rasmussen Sozialistische Partei Sporrong und Lönnroth
EuGRZ 2001, 588 FPR 2004, 344 ÖJZ 2006, 550 RJD 1998-III Series A, Vol 52 = EuGRZ 1983, 523
31871/96 31871/96 52562/99; 52620/99 21237/93 7151/75; 7152/75
Sprayer v Zürich Stafford Stambuk Standard Verlagsgesellschaft mbH Stankov und Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden Steel Steel u Morris STÉS
NJW 1984, 2753 RJD 2002-IV NJW 2003, 497
9870/82 46295/99 37928/97
ÖJZ 2007, 836 RJD 2001-IX
37464/02 29221/95; 29225/95
§ 4 Rn 6 § 4 Rn 67; § 16.2 Rn 37
RJD 1998-VII NJW 2006, 1255
24838/94 68416/01 37971/97
Series A, Vol 7
1602/62 69698/01 61603/00
§ 4 Rn 9, 25; § 6 Rn 8 § 4 Rn 7, 17, 47 § 2 Rn 25, 34; § 16.1 Rn 23, 36 § 6 Rn 13, 27 f § 4 Rn 11, 41, 52 § 3 Rn 3; § 6 Rn 32; § 16.1 Rn 9 § 6 Rn 59
Stögmüller Stoll Storck Stork
732
NJW-RR 2006, 308
38033/02
§ 6 Rn 20 § 6 Rn 57 f § 2 Rn 105; § 3 Rn 8, 68 § 2 Rn 32, 51, 82; § 3 Rn 41, 54 § 3 Rn 28 § 3 Rn 28 § 4 Rn 78 f § 4 Rn 76 § 5 Rn 8, 32, 34; § 6 Rn 73; § 16.4 Rn 28, 32; § 17 Rn 18 § 16.2 Rn 56 § 6 Rn 9 § 16.2 Rn 10
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Streletz, Keßler und Krenz Sunday Times
NJW 2001, 3035
34044/96; 35532/97; 44801/98 6538/74
§ 2 Rn 15, 25, 27, 31
Sunday Times (Nr. 2) Sürmeli Süßmann Sylvester T P und K M/Vereinigtes Königreich Tammer Tekdag˘ Tekin Tele 1 Privatfernsehgesellschaft MBH Telesystem Tirol Tepe Testa Teteriny Thorgeirson
HRLJ 13 (1992), 30 NJW 2006, 2389 RJD 1996-IV
EuGRZ 1979, 386
RJD 2001-V RJD 2001-I RJD 1998, IV ÖJZ 2001, 156 RJD 1997-III EuGRZ 2008, 21 HRLJ 1992, 440
Thynne, Wilson und Gunnel Tillack
Series A, Vol 190-A
Tolstoy Miloslavsky Tomasi Tomé Mota Toth T. P. und K. M. Tre Traktörer AB Tsirlis Tyrer
HRLJ 16 (1995), 295 EuGRZ 1994, 101 NJW 2001, 2692 HRLJ 13 (1992), 112
Unabhängige Initiative Informationsvielfalt Ünal Tekeli Üner Vajnai van der Leer van der Tang van Droogenbroeck Van Kück
RUDH 1989, 578 RJD 1997-III EuGRZ 1979, 163 RJD 2002-I = ÖJZ 2002, 468 FamRZ 2005, 427 DVBl 2007, 689 ff RUDH 1990, 60 Series A, Vol 321 EuGRZ 1984, 6 NJW 2004, 2505
13166/87 75529/01 20024/92 36812/97; 40104/98 28945/95
§ 2 Rn 63; § 3 Rn 22; § 4 Rn 11, 17, 40; § 14 Rn 46; § 16.2 Rn 15 § 4 Rn 17 § 2 Rn 27 § 6 Rn 56 § 3 Rn 28 § 6 Rn 71
41205/98 27699/95 22496/93 32240/96
§ 4 Rn 35 § 6 Rn 73 § 2 Rn 60 § 4 Rn 57
19182/91 27244/95 20877/04 11931/03 13778/88
§ 4 Rn 57 § 6 Rn 73 § 3 Rn 41 § 5 Rn 16 § 4 Rn 17, 30, 34, 41, 46; § 16.2 Rn 15 § 6 Rn 32
11787/85; 11978/86; 12009/86 20477/05 18139/91 12850/87 42636/98 11894/85 28945/95 10873/84 19233/91; 19234/91 5856/72 28525/95 29865/96 46410/99 33629/06 11509/85 19382/92 7906/77 35968/97
§ 4 Rn 11, 52; § 20 Rn 46 § 4 Rn 44 § 6 Rn 27 f § 2 Rn 84 § 6 Rn 27 f § 6 Rn 73 § 5 Rn 8, 11 § 6 Rn 32 § 1 Rn 12; § 2 Rn 31; § 3 Rn 41 § 4 Rn 46, 51 § 3 Rn 70 § 3 Rn 12 § 4 Rn 9, 41 § 6 Rn 22 f § 6 Rn 27 f § 6 Rn 30 § 3 Rn 3, 71; § 6 Rn 44
733
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
van Marle
EuGRZ 1988, 35
§ 5 Rn 11
Verein gegen Tierfabriken (VGT) Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei Vereinigung bildender Künstler Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi Vereniging Weekblad Bluf! Verlagsgruppe News GmbH Verlagsgruppe News GmbH (Nr 2) Vermeulen Vittorio Vo
RJD 2001-VI
8543/79; 8674/79; 8675/79; 8685/79 24699/94
RJD 1998-I
19392/92
§ 4 Rn 17; § 16.2 Rn 10 § 4 Rn 2, 81
ÖJZ 2007, 618
68354/01
§ 4 Rn 7, 15, 34, 41
Series A, Vol 302
15153/89
§ 4 Rn 34
Series A, Vol 306-A
16616/90 76918/01
§ 4 Rn 36, 52 § 4 Rn 11, 17
ÖJZ 2003, 618
10520/02
§ 4 Rn 46
RJD 1996-I RJD 2001-IX
19075/91 44955/98 53924/00
Vogt
EuGRZ 1995, 590
17851/91
Volkmer Von Hannover
NJW 2002, 3087 NJW 2004, 2647
39799/98 59320/00
Von Maltzan
NJW 2005, 2530
W W/Schweiz Waite
Series A, Vol 121 EuGRZ 1993, 384 NJW 1999, 1173
71916/01; 71917/01; 10260/02 9749/82 14379/88 26083/94
§ 20 Rn 39 § 6 Rn 6 § 2 Rn 32, 99; § 3 Rn 49; § 15 Rn 18 § 4 Rn 30, 44, 79, 81, 92 § 2 Rn 27 § 3 Rn 3, 27; § 4 Rn 17, 35, 50; § 16.1 Rn 17, 29; § 16.2 Rn 15 § 2 Rn 15; § 5 Rn 54
Wassink Weber Weeks
RUDH 1990, 425 Series A, Vol 177 EuGRZ 1988, 316
12535/86 11034/84 9787/82
Weh
ÖJZ 2004, 853
38544/97
Wemhoff White Wiesinger Wille
Series A, Vol 7 RUDH 1991, 551 RUDH 1999, 182
2122/64 42435/02 11796/85 28396/95
Wingrove
RJD 1996-V
17419/90
734
§ 3 Rn 28 § 6 Rn 27 f § 1 Rn 16; § 2 Rn 43; § 6 Rn 42 § 6 Rn 32 § 4 Rn 17; § 6 Rn 39 § 6 Rn 9, 29; § 16.1 Rn 5 § 6 Rn 49; § 20 Rn 20 § 6 Rn 9, 27 § 4 Rn 7, 50, 52 § 5 Rn 38, 44 § 4 Rn 23, 26, 28; § 16.2 Rn 56 § 4 Rn 15, 35, 54; § 16.2 Rn 56
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Name
Fundstelle
Beschwerdenummer
Zitiert in
Winterwerp
EuGRZ 1979, 650
6301/73
RJD 1997-V
7485/03 20077/02 22714/93 67385/01 8978/80
§ 6 Rn 5, 7, 17, 30 f; § 16.1 Rn 12 § 6 Rn 63 § 6 Rn 59 § 2 Rn 85; § 4 Rn 40 § 6 Rn 32 § 3 Rn 8, 23, 26, 68; § 16.1 Rn 17 § 6 Rn 17, 22 f § 6 Rn 5 § 6 Rn 27 § 6 Rn 25 § 4 Rn 81
Witzsch Wohlmeyer Bau GmbH Worm Wynne X und Y
Series A, Vol 91 = EuGRZ 1985, 297 EuGRZ 1982, 101 EuGRZ 1986, 5 HRLJ 16 (1995), 286
X/Vereinigtes Königreich X/Vereinigtes Königreich Yag˘ ci Yankov Yazar, Karatas¸ , Aksoy RJD 2002-II und Halkin Emeg˘ i Partisi Young Series A, Vol 44 = EuGRZ 1981, 559
7215/75 7215/75 16419/90; 16426/90 39084/97 22723/93; 22724/93; 22725/93 7601/76; 7806/77
Z ua/Vereinigtes Königreich Zannouti Zolotukhin Zumtobel Zypern
RJD 2001-V
29392/95
RUDH 1993, 399 RJD 2001-IV
42211/98 14939/03 12235/86 25781/94
§ 2 Rn 48; § 4 Rn 59, 79, 85, 87; § 16.2 Rn 37, 47 § 2 Rn 25; § 6 Rn 73 § 6 Rn 28 § 6 Rn 65 § 6 Rn 40 § 2 Rn 24, 71, 53; § 3 Rn 51, 62
735
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften
Name
Fundstelle
Rechtssache
A/Kommission ABNA Ltd Abrahamsson AC Treuhand Acrington Beef Adams ADBHU Adoui Advocaten voor de Wereld AETR Affish
Slg 1994, II-179 Slg 2005, I-10423 Slg 2000, I-5539 EWS 2008, 330 Slg 1996, I-6699 Slg 1985, 3539 Slg 1985, 531 Slg 1982, 1665 Slg 2007, I-3633 Slg 1971, 263 Slg 1997, I-4315
C-453/03 C-407/98 T-99/04 C-241/95 145/83 240/83 115/81 C-303/05 22/70 C-183/95
Agegate A.G.M.-COS.MET Srl Ahlström Osakeyhitö Ahokainen und Leppik Akzo Nobel Al-Aqsa Al Bakaraat
Slg 1989, 4459 Slg 2007, I-2749 Slg 1993, I-1307 Slg 2006, I-9171 Slg 2007, II-3523 Urt v 11.07.2007 NJW 2008, 3697
3/87 C-470/ 03 89/85 C-434/04 T-125/03 T-327/03 C-402/05
Albany Albore Alcan Allgemeine Gewerkschaft Alliance for Natural Health u.a. Allonby Allué I
Slg 1999, I-5751 Slg 2000, I-5965 Slg 1997, I-1591 Slg 1974, 933 Slg 2005, I-6451
C-67/96 C-423/98 C-24/95 18/74 C-154/04
Slg 2004, I-873 Slg 1989, 1591
C-256/01 33/88
Allué II
Slg 1993, I-4309
C-259/91
Almelo Alpine Investments
Slg 1994, I-1477 Slg 1995, I-1141
C-393/92 C-384/93
Alrosa AM
Slg 2007, II-2061 Slg 1982, 1575
T-170/06 155/79
AMID André GmbH Angestelltenrat der Wiener Gebietskrankenkasse
Slg 2000, I-11619 Slg 2004, I-11825 Slg 1999, I-2865
C-141/99 C-434/02 C-309/97
736
Zitiert in § 16.1 Rn 14 § 14 Rn 4; § 20 Rn 31, 58 § 17 Rn 35, 44 § 20 Rn 16 § 20 Rn 33 § 16.1 Rn 39 § 16.3 Rn 4, 12 § 9 Rn 12, 48; § 12 Rn 11 § 20 Rn 46 § 1 Rn 35 § 16.3 Rn 3 f, 17, 33, 35, 37; § 20 Rn 58 § 9 Rn 9 § 7 Rn 82; § 16.2 Rn 9 § 17 Rn 15 § 8 Rn 44 § 20 Rn 16 § 20 Rn 41 § 16.4 Rn 43, 47, 50; § 20 Rn 11, 41 § 16.2 Rn 43 § 12 Rn 2, 38 § 209 Rn 57 § 16.2 Rn 42 § 16.3 Rn 33 § 17 Rn 28 § 9 Rn 39; § 13 Rn 22; § 16.2 Rn 61 § 9 Rn 21, 39, 51; § 16.2 Rn 61 § 8 Rn 8 § 1 Rn 48; § 8 Rn 44; § 7 Rn 65, 87, 110; § 11 Rn 40 § 20 Rn 11 § 14 Rn 8; § 16.1 Rn 14, 26; § 20 Rn 3 § 10 Rn 36, 39 § 7 Rn 91 § 17 Rn 40
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Angonese
Slg 2000, I-4139
C-281/98
Anker Annibaldi Ansaldo Energia Antonissen Apple and Pear Development Council Aragonesa Arblade Arcor Arcor ARD ASML Netherlands Asscher
Slg 2003, I-10447 Slg 1997, I-7493 Slg 1998, I-5025 Slg 1991, I-745 Slg 1983, 4083
C-47/02 C-309/96 C-279/96 C-292/89 222/82
§ 1 Rn 50; § 7 Rn 25, 51; § 8 Rn 21; § 9 Rn 46, 51, 55; § 11 Rn 52 § 9 Rn 27 § 1 Rn 31 § 20 Rn 51 f § 9 Rn 15 § 7 Rn 48
Slg 1991, I-4151 Slg 1999, I-8453 Slg 2003, I-14083 Slg 2006, I-8559 Slg 1999, I-7599 Slg 2006, I-12041 Slg 1996, I-3089
C-1/90 C-369/96 C-416/01 C-392/04 ua C-6/98 C-283/05 C-107/94
AssiDomän ASTI Atlanta
Slg 1999, I-5363 Slg 1991, I-3507 Slg 1995, I-3761
C-310/97 C-213/90 C-465/93
Aubertin Ayadi Ayaz B&Q Bachmann Bactria Industriehygiene Badeck Banchero Banks Barber Barkoci und Malik Barra Barth BASF Basset BAT BAT
Slg 1995, I-301 Slg 2006, II-2139 Slg 2004, I-8765 Slg 1992, I-6635 Slg 1992, I-249 Slg 2003, I-15105 Slg 2000, I-1875 Slg 1995, I-4663 Slg 2000, I-2005 Slg 1990, I-1889 Slg 2001, I-6557 Slg 1988, 355 EuZW 2004, 573 Slg 1999, I-6269 Slg 1987, 1747 Slg 2001, II-2997 Slg 2002, I-11453
C-29-35/94 T-253/02 C-275/02 C-169/91 C-204/90 C-258/02 C-158/97 C-387/93 C-178/97 262/88 C-257/99 309/85 C-502/01 C-44/98 402/85 T-111/00 C-491/01
Bauhuis Baumbast
Slg 1977, 5 Slg 2002, I-7091
46/76 C-413/99
Baustahlgewebe Bavarian Lager Baxter Bayer
Slg 1998, I-8417 Slg 1999, II-3217 Slg 1999, I-4809 Slg 1988, 5249
C-185/95 T-309/97 C-254/97 65/86
§ 8 Rn 64 f, 97 § 7 Rn 28; § 9 Rn 35 § 16.4 Rn 19 § 20 Rn 55 § 15 Rn 71; § 16.2 Rn 17 § 20 Rn 45 § 7 Rn 25; § 9 Rn 9; § 10 Rn 52 § 20 Rn 26, 55 § 9 Rn 37 § 16.3 Rn 10, 17; § 20 Rn 58 § 7 Rn 23 § 20 Rn 41 § 9 Rn 32 § 7 Rn 83 § 9 Rn 22, 51; § 12 Rn 18 § 20 Rn 31 § 7 Rn 16; § 17 Rn 35 § 8 Rn 43 § 9 Rn 35 § 17 Rn 37, 53 § 10 Rn 8 § 20 Rn 52 § 9 Rn 39 § 7 Rn 84; § 8 Rn 49 f § 8 Rn 84 § 20 Rn 22 § 16.2 Rn 13; § 16.4 Rn 6; § 20 Rn 31 § 7 Rn 96 § 1 Rn 49; § 7 Rn 4, 14; § 9 Rn 29; § 19 Rn 39 § 20 Rn 8, 42 § 20 Rn 22 § 10 Rn 51 § 8 Rn 20
737
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Beentjes Belgien/Spanien Bernini Berlusconi Beune Bickel und Franz
Slg 1988, 4635 Slg 2000, I-3123 Slg 1992, I-1071 Slg 2005, I-3565 Slg 1994, I-4471 Slg 1998, I-7637
31/87 C-388/95 C-3/90 C-387/02 C-7/93 C-274/96
Bidar Biehl Bilka Biovilac Birden Bleis Blesgen Bluhme
Slg 2005, I-2119 Slg 1990, I-1779 Slg 1986, 1607 Slg 1984, 4057 Slg 1998, I-7747 Slg 1991, I-5627 Slg 1982, 1211 Slg 1998, I-8033
C-209/03 175/88 170/84 59/83 C-1/97 C-4/91 75/81 C-67/97
Bond van Adverterrders Booker Aquaculture Ltd Bordessa Borell Bosal Holding BV Bosman
Slg 1988, 2085 Slg 2003, I-7411 Slg 1995, I-361 Slg 1992, I-3003 Slg 2003, I-9409 Slg 1995, I-4921
352/85 C-20/00 C-358/93 C-104/91 C-168/01 C-415/93
Bosphorus
Slg 1996, I-3953
C-84/95
Bostock
Slg 1994, I-955
C-2/92
Bötel Bouchereau
Slg 1992, I-3589 Slg 1977, 1999
C-360/90 30/77
Boukhalfa Bourquain Boussac Bozkurt Brasserie du pêcheur Broede
Slg 1996, I-2253 EuZW 2009, 118 Slg 1980, 3427 Slg 1995, I-1475 Slg 1996, I-1029 Slg 1996, I-6511
C-214/94 C-297/07 22/80 C-434/93 C-46/93 C-3/95
Broekmeulen Brown
Slg 1981, 2311 Slg 1988, 3205
246/80 197/86
Brunnhofer
Slg 2001, I-4961
C-381/99
§ 7 Rn 26 § 8 Rn 53, 83, 99 § 9 Rn 11, 29 § 20 Rn 1, 7 § 17 Rn 37 § 13 Rn 13, 24; § 19 Rn 41; § 19 Rn 89; § 20 Rn 50 § 19 Rn 88, 91 § 9 Rn 22 § 17 Rn 35, 44 ff, 50 § 16.4 Rn 15, 21, 27, 41, 44 § 9 Rn 13 § 7 Rn 59; § 9 Rn 27 § 8 Rn 38 § 7 Rn 84; § 8 Rn 49, 82, 89 § 11 Rn 29 § 16.4 Rn 30, 41 § 12 Rn 2, 4, 8, 11, 26 § 7 Rn 38 § 12 Rn 18 f § 1 Rn 48; § 7 Rn 1, 28, 52 f, 89; § 8 Rn 21; § 9 Rn 7, 42, 46, 50, 51; § 10 Rn 21; § 11 Rn 52, 81, 85; § 14 Rn 13; § 16.2 Rn 40, 52 f; § 16.3 Rn 16 § 14 Rn 64; § 16.3 Rn 14, 37; § 16.4 Rn 27, 49 § 14 Rn 51; § 16.4 Rn 19; § 19 Rn 38 ; § 20 Rn 45 § 17 Rn 33 § 7 Rn 96; § 9 Rn 48; § 11 Rn 67; § 12 Rn 11 § 7 Rn 56 § 20 Rn 46 § 13 Rn 19 § 9 Rn 32 § 14 Rn 40; § 19 Rn 83 § 7 Rn 110; § 10 Rn 21, 27; § 11 Rn 71 § 7 Rn 25 § 9 Rn 5, 17; § 13 Rn 6 f, 10; § 19 Rn 88 § 17 Rn 49
738
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Buchner Burban Burbaud Burmanjer Cabour Cadbury Schweppes Calfa
Slg 2000, I-3625 Slg 1992, I-2253 Slg 2003, I-8219 Slg 2005, I-4133 Slg 1998, I-2055 Slg 2006, I-7995 Slg 1999, I-11
C-104/98 C-255/90 C-285/01 C-20/03 C-230/96 C-196/04 C-348/96
Campina Campus Oil
Slg 2007, I-2089 Slg 1984, 2727
C-45/06 72/83
Canal Satélite
Slg 2002, I-607
C-390/99
Carbonati Apuani Carpenter
Slg 2004, I- 8027 Slg 2002, I-6279
C-72/03 C-60/00
Cartesio Carvel u Guardian Newspapers Ltd Casagrande Casati Cassis de Dijon
EuZW 2009, 75 Slg 1995, II-2765
C-210/06 T-194/94
§ 7 Rn 57 § 14 Rn 36 § 9 Rn 42 § 7 Rn 74; § 8 Rn 9, 40 § 7 Rn 55 § 7 Rn 66; § 10 Rn 33 § 9 Rn 2, 47, 55; § 10 Rn 59 f; § 19 Rn 46 § 20 Rn 7 § 8 Rn 69, 70, 71, 81; § 9 Rn 48; § 11 Rn 67; § 12 Rn 12 § 7 Rn 65, 82; § 8 Rn 98 f § 13 Rn 15 § 7 Rn 29; § 8 Rn 14; § 15 Rn 12, 36; § 16.1 Rn 19; § 16.2 Rn 2; 20 Rn 30 f § 7 Rn 4; § 10 Rn 66, 72 § 20 Rn 22
Slg 1974, 773 Slg 1981, 2595 Slg 1979, 649
9/74 203/80 120/78
Centro Equestre da Lezivia Grande Centros
Slg 2007, I-1425
C-345/04
Slg 1999, I-1459
C-212/97
Chen
Slg 2004, I-9925
C-200/02
Chiquita Chronopost/UFEX CILFIT Cimenteries CBR Cinéthèque Ciola
Slg 2005, II-315 Urt v 1.7.2008 Slg 1982, 3415 Slg 1992, II-2667 Slg 1985, 2605 Slg 1999, I-2517
T-19/01 C-341 u 342/06 283/81 T-10/92 ua 60/84 C-224/97
Clean Car
Slg 1998, I-2521
C-350/96
Clinique CMC Motorradcenter CNTA
Slg 1994, I-317 Slg 1993, I-5009 Slg 1975, 533
C-315/92 C-93/92 74/74
§ 9 Rn 29; § 16.2 Rn 61 § 1 Rn 35; § 12 Rn 8 § 1 Rn 40; § 7 Rn 8, 71, 84, 89; § 8 Rn 56, 61, 64, 85, 94, 97; § 10 Rn 3; § 12 Rn 15 § 11 Rn 98 § 7 Rn 1, 28, 66; § 10 Rn 24, 35, 70, 72 § 7 Rn 66; § 15 Rn 53; § 19 Rn 41 § 16.3 Rn 3 § 20 Rn 35 § 20 Rn 24 § 20 Rn 11 § 8 Rn 86; § 14 Rn 48 § 7 Rn 25, 89, 102; § 8 Rn 66 § 7 Rn 4, 25, 53; § 9 Rn 28, 39, 46, 55 § 8 Rn 42 § 7 Rn 84; § 8 Rn 49 § 16.4 Rn 41
739
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Colegio de Ingenieros de Caminos Colim Collins
Slg 2006, I-801
C-330/03
§ 7 Rn 110
Slg 1999, I-3175 Slg 1993, I-5145
C-33/97 C-92/92
Collins Coleman Colmant Colorell Pension Trustees Commissionaires Réunis Compassion in World Farming Coname Conegate Conforama Connect Austria Connolly
Slg 2004, I-2703 NJW 2008, 2763 Slg 1992, II-469 Slg 1994, I-4389 Slg 1978, 928 Slg 1998, I-1251
C-138/02 C-303/06 T-8/90 C-200/91 81/77 C-1/96
§ 7 Rn 26 § 7 Rn 13; § 16.2 Rn 59; § 16.4 Rn 6 § 9 Rn 15; § 19 Rn 88 § 17 Rn 22 § 15 Rn 23 § 17 Rn 37, 54 § 7 Rn 9 § 8 Rn 59
Slg 2005, I-7287 Slg 1986, 1007 Slg 1991, I-997 Slg 2003, I-5197 Slg 2001, I-1611
C-231/03 121/85 C-312/89 C-462/99 C-274/99
Consorzio del Prosciutto di Parma Corsica Ferries Corsica Ferries France Costa
Slg 2003, I-5121
C-108/01
Slg 1989, 4443 Slg 1998, I-3949 Slg 1964, 1251
C-49/89 C-266/96 6/64
Costanzo Country Landowners Association Cowan
Slg 1989, 1839 Slg 1995, I-3875
103/88 C-38/94
Slg 1989, 195
186/87
Cristini CT Control BV und JCT Benelux BV Culin Cullet Cwik
Slg 1975, 1085 Slg 1993, I-3873
32/75 C-121/91
Slg 1990, I-225 Slg 1985, 305 Slg 2001, I-10269
343/87 231/83 C-340/00
D’Hoop
Slg 2002, I-6191
C-224/98
DAFSE Daily Mail DaimlerChrysler Danfoss A/S Danielsson Dansk Supermarked Dassonville
Slg 2001, I-673 Slg 1988, 5483 Slg 2001, I-9897 Slg 1989, 3199 Slg 1995, II-3051 Slg 1981, 181 Slg 1974, 837
C-413/98 81/87 C-324/99 109/88 T-219/95 R 58/80 8/74
740
§ 7 Rn 38 § 8 Rn 81, 97 § 7 Rn 83 § 20 Rn 53 § 16.2 Rn 1 ff, 12, 20, 26 ff, 29 f § 8 Rn 98 § 11 Rn 29, 54 § 8 Rn 50 § 2 Rn 45; § 7 Rn 7, 11; § 11 Rn 6; § 14 Rn 4 § 7 Rn 11; § 14 Rn 77 § 16.4 Rn 19 § 7 Rn 77; § 13 Rn 2, 7; § 15 Rn 24; § 19 Rn 9, 92 § 9 Rn 23 § 20 Rn 71 § 15 Rn 23 § 8 Rn 66, 69 § 15 Rn 66; § 16.2 Rn 2, 12, 27, 29 f § 1 Rn 42; § 7 Rn 14; § 19 Rn 88 § 20 Rn 63 § 7 Rn 25; § 10 Rn 30, 70 § 7 Rn 8 § 17 Rn 46 § 15 Rn 18 § 7 Rn 52; § 8 Rn 20 § 1 Rn 47; § 7 Rn 28, 72; § 8 Rn 35; § 12 Rn 7
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Data Delecta De Agostini
Slg 1996, I-4661 Slg 1997, I-3843
C-43/95 C-34/95
De Cuyper De Groot De Lasteyrie du Saillant
Slg 2006, I-6947 Slg 2002, I-11819 Slg 2004, I-2409
C-406/04 C-385/00 C-9/02
Deak Debus Decker
Slg 1985, 1873 Slg 1992, I-3617 Slg 1998, I-1831
94/84 C113/91 C-120/95
Defrenne I Defrenne II
Slg 1971, 445 Slg 1976, 455
80/70 43/75
Defrenne III Delay Delhaize Deliège
Slg 1978, 1365 EuZW 2008, 375 Slg 1992, I-3669 Slg 2000, I-2549
149/77 C- 276/07 C-47/90 C-51/96
Demirel Denkavit Denkavit Denkavit Derin Deutscher Apothekerverband e.V. Deutsche Milchkontor Deutsche Paracelsus Schulen Deutsche Post Deutsche Telekom Deutschland/Parlament und Rat Deutschland/Parlament und Rat Deutschland/Parlament und Rat Deutschland/Rat (Bananen)
Slg 1987, 3719 Slg 1984, 2171 Slg 1991, I-3069 Slg 2000, II-3011 Slg 2007, I-6495 Slg 2003, I-14887
12/86 15/83 C-39/90 T-20/99 C-325/05 C-322/01
§ 20 Rn 50 § 7 Rn 71, 85 f, 97; § 8 Rn 44, 46, 66; § 11 Rn 71, 74 § 7 Rn 14; § 19 Rn 47 § 9 Rn 22 § 7 Rn 4; § 10 Rn 39, 52 ff, 61 § 9 Rn 29 § 8 Rn 90 § 1 Rn 45; § 7 Rn 101; § 8 Rn 58, 66, 71, 86, 89; § 13 Rn 8; § 18 Rn 20 § 17 Rn 37 § 7 Rn 16; § 14 Rn 6; § 17 Rn 32, 53 § 17 Rn 34 § 9 Rn 39 § 8 Rn 84 § 7 Rn 52; § 9 Rn 7; § 11 Rn 87, 91; § 16.2 Rn 40, 52 § 10 Rn 7 § 7 Rn 44 § 8 Rn 59, 97 § 20 Rn 22 § 19 Rn 32 § 1 Rn 47
Slg 1994, I-2757 Slg 2002, I-6515 Slg 2000, I-929 Slg 2000, I-743 Slg 2000, I-8423
C-426/92 C-294/00 C-270/97 C-50/96 C-376/98
Slg 2002, I-4561
C-406/01
Slg 2006, I-11573
C-380/03
Slg 1994, I-4973
C-280/93
Slg 1988, 3513 Slg 2002, I-6191 Slg 2004, I-6911
240/87 C-224/98 C-37/02
Deville D’Hoop Di Lenardo
§ 8 Rn 81 § 10 Rn 55 § 17 Rn 6 § 20 Rn 40 § 16.2 Rn 13, 26; § 16.3 Rn 15, 35 § 19 Rn 30 § 7 Rn 9; § 16.2 Rn 2, 13, 17, 25, 27 ff § 14 Rn 65, 70, 72; § 16.3 Rn 3, 17, 20, 33, 35 f, 38 f; § 16.4 Rn 20, 22, 43 f, 46 f; § 17 Rn 5 § 20 Rn 52 § 1 Rn 49 § 16.3 Rn 12, 33, 35
741
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
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Rechtssache
Zitiert in
Di Leo Diatta Dilexport DocMorris
Slg 1990, I-4185 Slg 1985, 567 Slg 1999, I-578 Slg 2003, I-14887
C-308/89 267/83 C-343/96 C-322/01
Donà Dory Dow Chemical
Slg 1976, 1333 Slg 2001, I-7823 Slg 1989, 3137 u 3165
13/76 C-186/01 97/87
Drei Glocken Dubois et Fils
Slg 1988, 4233 Slg 1998, II-125
407/85 T-113/96
Du Pont de Nemours Italiana Duff
Slg 1990, I-889
21/88
§ 9 Rn 29, 37; § 15 Rn 7 § 9 Rn 29 § 20 Rn 51 f § 7 Rn 8, 20, 26, 87, 96; § 8 Rn 45 § 7 Rn 52; § 11 Rn 81, 84 § 20 Rn 43 § 14 Rn 33; § 16.1 Rn 14, 21 f § 7 Rn 1 § 16.3 Rn 33, 35; § 16.4 Rn 41 § 7 Rn 99
Slg 1996, I-569
C-63/93
Dynamic Medien Verlag
EuZW 2008, 177
C-244/06
Earl de Kerlast Edeka Edis EDSrl EDV-Systeme Eind Elsen Elz Eman u Sevinger Emesa Sugar Emmott Enso Española EPAC Ergat Eridiana
Slg 1997, I-1961 Slg 1982, 2745 Slg 1998, I-4951 Slg 1999, I-3845 Slg 1989, 4035 Slg 2007, I-10719 Slg 2000, I-10409 Slg 1976, 1097 Slg 2006, I-8055 Slg 2000, I-665 Slg 1991, I-4269 Slg 1998, II-1875 Slg 2000, II-2267 Slg 2000, I-487 Slg 1979, 2749
C-15/95 245/81 C-231/96 C-412/97 3/88 C-291/05 C-135/99 56/75 C-300/04 C-17/98 C-208/90 T-348/ 94 T-204/97 C-329/97 230/78
ERT
Slg 1991, I-2925
C-260/89
Eurofood Eurotunnel Evans Medical EWR Exportur Eyckeler u Malt Eyüp
Slg 2006, I-3813 Slg 1997, I-6315 Slg 1995, I-563 Slg 1991, I-6079 Slg 1992, I-5529 Slg 1998, II-401 Slg 2000, I-4747
C-341/04 C-408/95 C-324/93 C-1/91 C-3/91 T-42/96 C-65/98
742
§ 14 Rn 51; § 16.3 Rn 14, 21, 38 § 7 Rn 82, 110; § 16.2 Rn 1, 3 § 17 Rn 14 § 14 Rn 34; § 17 Rn 16 § 20 Rn 51 f § 8 Rn 49, 53 § 11 Rn 42 § 9 Rn 29 § 19 Rn 41 § 16.4 Rn 20 § 19 Rn 63 § 1 Rn 31; § 20 Rn 40 § 20 Rn 55 § 20 Rn 3, 10, 18, 23 § 20 Rn 10 § 9 Rn 32 § 16.3 Rn 18; § 16.4 Rn 20; § 17 Rn 14 § 1 Rn 31, 33; § 7 Rn 105; § 8 Rn 77; § 14 Rn 13, 48, 52; § 15 Rn 11; § 16.2 Rn 2, 17 § 20 Rn 45 § 20 Rn 33 § 8 Rn 69, 71, 73 § 19 Rn 1 § 8 Rn 84 § 20 Rn 11, 65 f § 9 Rn 32; § 15 Rn 37; § 16.1 Rn 56
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Factortame
Slg 1990, I-2433
C-213/89
Familiapress
Slg 1997, I-3689
C-368/95
Fantask Faust Fedesa Fedicine FEG Ferlini Fernández de Bobadilla Feryn Fiddelaar Fidium Finanz
Slg 1997, I-6783 Slg 1982, 3745 Slg 1990, I-4023 Slg 1993, I-2239 Slg 2006, I-8725 Slg 2000, I-8081 Slg 1999, I-4773 NJW 2008, 2767 Slg 1960, 1117 Slg 2006, I-9521
C-188/95 52/81 331/88 C-17/92 C-105/04 C-411/98 C-234/97 C-54/07 44/59 C-452/04
Fietje Finalarte Finsider Firma Kampffmeyer Fisher Fishermen’s Organisations Fiskano FKP Scorpio Konzertproduktionen Flughafen HannoverLangenhagen Foster Förster Foto Frost France Aviation France Télécom Franchet u Byk Francovich Frankreich und Irland Fremdenführer Fremdenführer Gaal Garcia Avello Garland Gasparini Gaston Schul Gaumain-Cerri
Slg 1980, 3839 Slg 2001, I-7831 Slg 1985, 2857 Slg 1967, 361 Slg 2000, I-6751 Slg 1995, I-3115 Slg 1994, I-2885 Slg 2006, I-9461
27/80 C-49/98 63/84 3/66 ua C-369/98 C-44/94 C-135/92 C-290/04
§ 7 Rn 11, 38; § 10 Rn 20, 24; § 20 Rn 53, 55, 57 § 2 Rn 12; § 7 Rn 15, 71, 101, 105; § 8 Rn 42, 57, 65, 77, 89; § 14 Rn 13; § 15 Rn 85; § 16.2 Rn 2, 7, 17 f, 27 f § 20 Rn 55 § 16.4 Rn 20 § 14 Rn 71 § 16.2 Rn 59 § 20 Rn 8 § 9 Rn 19 § 9 Rn 39, 55 § 17 Rn 22 § 15 Rn 61 § 7 Rn 45, 47, 65; § 11 Rn 21, 24 § 7 Rn 82 § 9 Rn 35 § 16.3 Rn 10 § 16.4 Rn 13 § 16.1 Rn 40 § 16.3 Rn 3, 17, 33, 37 f § 20 Rn 11, 65 § 11 Rn 21, 23, 98
Slg 2003, I-11893
C-363/01
§ 16.4 Rn 9, 11, 21, 33
Slg 1990, I-3313 EuZW 2008, 611 Slg 1987, 4199 Slg 1995, II-2841 Slg 2007, II-521 Urt v 8.07.2008 Slg 1991, I-5357 Slg 1996, I-795 Slg 1991, I-659 Slg 1994, I-923 Slg 1995, I-1031 Slg 2003, I-11613 Slg 1982, 359 Slg 2006, I-9199 Slg 2005, I-10513 Slg 2004, I-6483
C-188/89 C-154/07 314/85 T-346/94 T-340/03 T-48/05 C-6/90 C-296/93 C-154/89 C-375/92 C-7/94 C-148/02 12/81 C-467/04 C-461/03 C-31/02
§ 7 Rn 48 § 9 Rn 2; § 19 Rn 91 § 14 Rn 50; § 20 Rn 58, 68 § 20 Rn 65 § 20 Rn 15 § 20 Rn 46 § 14 Rn 40; § 20 Rn 52 § 16.4 Rn 27 § 11 Rn, 71, 75 § 11 Rn 53 § 20 Rn 36 § 8 Rn 14; § 19 Rn 32, 90 § 17 Rn 33 § 20 Rn 46 § 20 Rn 58 § 19 Rn 88
743
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
GB-Inno-BM Gebhard
Slg 1990, I-667 Slg 1995, I-4165
C-362/88 C-55/94
Geddo Generics Geraets-Smits
Slg 1973, 865 Slg 1998, I-7976 Slg 2001, I-5473
2/73 C-368/96 C-157/99
Gerster Geven Gewerkschaftsbund europäischer öffentlicher Dienst Gilly Gisela Gerken Givane Gloszczuk Goicoechea Gourmet International Gouvernement de la Communauté française Grado und Bashir Graf
Slg 1997, I-5253 Slg 2007, I-6347 Slg 1974, 917
C-1/95 C-213/05 175/73
§ 8 Rn 46 § 1 Rn 48; § 7 Rn 28, 65, 110; § 9 Rn 51; § 10 Rn 21, 26 f, 30, 41, 61; § 11 Rn 43 § 8 Rn 24 § 16.4 Rn 26, 42, 44 § 7 Rn 1, 103; § 10 Rn 55; § 18 Rn 20 § 17 Rn 29, 34 f, 45 § 9 Rn 26 § 16.2 Rn 42
Slg 1998, I-2793 Slg 2004, I-6369 Slg 2003, I-345 Slg 2001, I-6369 NJW 2009, 657 Slg 2001, I-1795 Urt v 1.4.2008
C-336/96 C-295/02 C-257/00 C-63/99 C-296/08 C-405/98 C-212/06
§ 8 Rn 69 § 20 Rn 7 § 9 Rn 3 § 10 Rn 8 § 20 Rn 43 § 7 Rn 76; § 8 Rn 27, 44 ff § 19 Rn 36
Slg 1997, I-5531 Slg 2000, I-493
C-291/96 C-190/98
§ 20 Rn 48 § 7 Rn 28, 84, 89; § 8 Rn 17, 50; § 9 Rn 43
Graff Graffione Grant
Slg 1994, I-3361 Slg 1996, I-6039 Slg 1998, I-621
C-351/92 C-313/94 C-249/96
Gravier
Slg 1985, 593
293/83
Greenham und Abel Griesmar Groener Groenveld Grogan
Slg 2004, I-1333 Slg 2001, I-9383 Slg 1989, 3967 Slg 1979, 3409 Slg 1991, I-4685
C-95/01 C-366/99 379/87 15/79 C-159/90
Groupe Danone Grunkin und Paul Grzelczyk
Slg 2007, I-1331 EuZW 2008, 694 Slg 2001, I-6193
C-3/06 C-353/06 C-184/99
Guérin Automobiles Guérin Automobiles Guillot Guiot
Slg 1998, II-253 Slg 1999, I-1441 Slg 1974, 791 Slg 1996, I-1905
T-275/97 C-153/98 53/72 C-272/94
744
§ 8 Rn 42 § 1 Rn 39; § 3 Rn 10; § 16.1 Rn 54; § 17 Rn 43 § 9 Rn 2; § 13 Rn 8; § 16.2 Rn 61; § 19 Rn 9 § 20 Rn 50 § 17 Rn 44 § 9 Rn 39, 55 § 8 Rn 53 § 8 Rn 11; § 11 Rn 30; § 15 Rn 19; § 16.2 Rn 14 § 20 Rn 16 § 7 Rn 17; § 19 Rn 90 § 1 Rn 49; § 7 Rn 14, 57; § 9 Rn 2; § 10 Rn 50; § 13 Rn 7, 10, 12; § 19 Rn 88, 90 § 20 Rn 13 § 20 Rn 13, 26 § 16.2 Rn 61 § 7 Rn 28
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Gullung Gutachten 2/94
Slg 1988, 1 Slg 1996, I-1759
227/85 C-2/94
Gutmann Haag II Halliburton Hartmann Hassan Hauer
Slg 1966, 154 Slg 1990, I-3711 Slg 1994, I-1137 Slg 2007, I-6303 Slg 2006, II-52 Slg 1979, 3727
18/65 C-10/89 C-1/93 C-212/05 T-49/04 44/79
Hauptzollamt HamburgJonas Hautala Hautala Hayes
Slg 1988, 2213
316/86
§ 19 Rn 32 § 1 Rn 35; § 2 Rn 18; § 14 Rn 9 f § 14 Rn 38 § 8 Rn 18 § 12 Rn 19 § 9 Rn 26 § 20 Rn 41 § 14 Rn 9; § 16.3 Rn 14, 29, 35; § 16.4 Rn 11, 13, 15, 26, 31, 33, 39, 44, 47 § 20 Rn 45
Slg 1999, II-2489 Slg 2001, I-9565 Slg 1997, I-1711
T-14/98 C-353/99 C-323/95
Hecq Hedley Lomas Heijn Heinonen Henn und Darby Hennen Olie Herbert Karner
Slg 1990, I-599 Slg 1996, I-2553 Slg 1984, 3263 Slg 1999, I-3599 Slg 1979, 3795 Slg 1990, I-4625 Slg 2004, I-3025
Herbert Meister Hercules Chemicals Hermès Heuschen u Schrouff Heylens
Slg 2004, II-1477 Slg 1991, II-1711 Slg 1998, I-3603 Urt v 20.11.2008 Slg 1987, 4097
Hilti Hochstrass Hocsman Hoechst
Slg 1990, II-163 Slg 1980, 3005 Slg 2000, I-6623 Slg 1989, 2859
Hoever und Zachow Hoffmann Hoffmann-La-Roche Hoffmann-La-Roche Hoogovens Groep Hosse
Slg 1996, I-4895 Slg 2003, I-2921 Slg 1978, 1139 Slg 1979, 461 Slg 1985, 2831 Slg 2006, I-1771
§ 20 Rn 22 § 20 Rn 22 § 13 Rn 6 ff, 13; § 20 Rn 50 C-116/88, C-149/88 § 16.2 Rn 48, 52 C-5/94 § 7 Rn 105; § 8 Rn 58, 60 94/83 § 8 Rn 91 C-394/97 § 8 Rn 98 34/79 § 8 Rn 80 302/88 § 7 Rn 48 C-71/02 § 7 Rn 65; § 8, Rn 44; § 14 Rn 34; § 16.2 Rn 13, 25, 27 ff T-76/03 § 16.2 Rn 12, 28 T-7/89 § 20 Rn 11 C-53/96 § 10 Rn 10 C-375/07 § 20 Rn 68 222/86 § 7 Rn 38; § 14 Rn 38; § 16.3 Rn 21; § 20 Rn 46 f T-30/89 § 16.1 Rn 26 147/79 § 7 Rn 11 C-238/98 § 9 Rn 3 46/87 § 1 Rn 31; § 2 Rn 34; § 3 Rn 13; § 7 Rn 92; § 14 Rn 8, 33, 44, 47, 67 f; § 16.1 Rn 14, 21, 23; § 16.3 Rn 34; § 16.4 Rn 13 C-245/94 § 9 Rn 26; § 19 Rn 83 C-144/00 § 16.2 Rn 59 102/77 § 8 Rn 84 85/76 § 14 Rn 38; § 20 Rn 3 172/83 § 16.4 Rn 20, 41 C-286/03 § 9 Rn 23
745
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Houtwipper Humbel Hünermund Hurd ICI Ideal Standard Imperial Tobacco INAIL Inspire Art
Slg 1994, I-4249 Slg 1988, 5365 Slg 1993, I-6787 Slg 1986, 29 Slg 1995, II-1847 Slg 1994, I-2789 Slg 2000, I-8599 Slg 2002, I-691 Slg 2003, I-10155
C-293/93 263/86 C-292/92 44/84 T-36/91 C-9/93 C-74/99 C-218/00 C-167/01
Internationale Handelsgesellschaft
Slg 1970, 1125
11/70
Interporc Interporc Invest Ioannidis Irish Farmers Association Italien/Kommission Italien/Kommission ITC
Slg 1998, II-231 Slg 2003, I-2125 Slg 2000, I-9541 Slg 2005, I-8275 Slg 1997, I-1809 Slg 1985, 873 Urt v 20.11.2008 Slg 2007, I-181
T-124/96 C-41/00 C-317/00 C-258/04 C-22/94 41/83 T-185/05 C-208/05
Jägerskiöld Jänsch Jany
Slg 1999, I-7319 Slg 1987, 4923 Slg 2001, I-8615
C-97/98 277/84 C-268/99
Jégo-Quéré Jégo-Quéré Jenkins Jeunehomme Jipa
Slg 2002, II-2365 Slg 2004, I-3425 Slg 1981, 911 Slg 1988, 4517 NVwZ 2008, 1221
T-177/01 C-263/02 96/80 123/87 C-33/07
Johnston
Slg 1986, 1651
222/84
JT’s Corporation Ltd Jundt
Slg 2000, II-3269 Slg 2007, I-12231
T-123/99 C-281/06
K.B./National Health Service Kaba
Slg 2004, I-541
C-117/01
Slg 2000, I-2623
C-356/98
Kaba II Kadi
Slg 2003, I-2219 Slg 2005, II-3649
C-466/00 T-315/01
§ 7 Rn 110 § 11 Rn 29 § 7 Rn 48; § 8 Rn 46 § 13 Rn 15 § 20 Rn 11 § 8 Rn 18 § 20 Rn 31 § 9 Rn 7 § 7 Rn 1, 4, 66, 110; § 10 Rn 70, 75 § 1 Rn 30; § 2 Rn 18; § 7 Rn 11; § 14 Rn 4, 7, 43; § 16.4 Rn 13 f; § 19 Rn 5 § 20 Rn 22 § 19 Rn 71 § 16.4 Rn 27 § 19 Rn 88 § 16.4 Rn 44 § 16.4 Rn 6 § 20 Rn 12 § 7 Rn 4; § 8 Rn 14; § 11 Rn 99 § 8 Rn 8 § 15 Rn 23 § 7 Rn 4; § 8 Rn 12; § 9 Rn 12, 35; § 10 Rn 8, 23; § 11 Rn 44 § 20 Rn 30 § 14 Rn 76; § 20 Rn 30 f § 17 Rn 46 § 20 Rn 52 § 16.1 Rn 21; § 19 Rn 41, 46 § 1 Rn 31; § 7 Rn 38; § 14 Rn 38; § 17 Rn 29; § 20 Rn 47 § 20 Rn 10, 22 § 11 Rn 98; § 16.2 Rn 61 § 3 Rn 11; § 16.1 Rn 56; § 17 Rn 30, 46 § 9 Rn 2, 23, 29; § 15 Rn 7; § 20 Rn 40 § 9 Rn 29 § 14 Rn 22 f; § 20 Rn 41
746
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Rechtssache
Zitiert in
Kadi
DVBl 2009, 175
C-415/05
Kalanke Karlsson
Slg 1995, I-3051 Slg 2000, I-2737
C-450/93 C-292/97
Kaske Kapasakalis Kaufring Kaur Keck
Slg 2002, I-1261 Slg 1998, I-4239 Slg 2001, II-1337 Slg 2001, I-1237 Slg 1993, I-6097
C-277/99 C-225/95 T-147/99 C-192/99 C-267/91
Keller
Slg 1986, 2897
234/85
Kemikalieinspektion Kempf Kenny Khalil Kieffer Kik Kik Kirsammer-Hack KL Meyer Kley Klöckner-Werke AG Knoors Köbler Kohl Kohll
Slg 2000, I-5681 Slg 1986, 1741 Slg 1978, 1489 Slg 2001, I-7413 Slg 1997, I-3629 Slg 2001, II-2235 Slg 2003, I-8283 Slg 1993, I-6185 Slg 1999, II-3273 Slg 1973, 679 Slg 1962, 655 Slg 1979, 399 Slg 2003, I-10239 Slg 1984, 3651 Slg 1998, I-1931
C-473/98 139/85 1/78 C-95/99 C-114/96 T-120/ 99 C-361/01 C-189/91 T-106/99 35/72 17/61 115/78 C-224/01 177/83 C-158/96
Kolpak Kolpinghuis Kommission/Belgien
Slg 2003, I-4135 Slg 1987, 3969 Slg 1980, 3881
C-438/00 80/86 149/79
Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien
Slg 1988, 5445 Slg 1992, I-305 Slg 1992, I-4431 Slg 1992, I-6757 Slg 1993, I-6295 Slg 1993, I-673 Slg 1994, I-1593 Slg 1997, I-1035 Slg 1998, I-5063
42/87 C-300/90 C-2/90 C-211/91 C-37/93 C-173/91 C-47/93 C-344/95 C-323/96
§ 14 Rn 4, 8, 22; § 16.4 Rn 43, 47, 50; § 20 Rn 11, 41 § 7 Rn 16; § 17 Rn 35, 44 § 14 Rn 34, 48, 65, 68, 70 f; § 17 Rn 14 § 9 Rn 26 § 9 Rn 19 § 20 Rn 66 § 9 Rn 28; § 19 Rn 27 § 1 Rn 47; § 7 Rn 84 ff; § 8 Rn 39 ff; § 9 Rn 43; § 10 Rn 55; § 11 Rn 63; § 12 Rn 7; § 16.2 Rn 13 § 14 Rn 68; § 16.3 Rn 4, 29, 33 § 8 Rn 98 § 9 Rn 5, 10 § 9 Rn 38 § 9 Rn 28 § 7 Rn 44 § 20 Rn 12 § 19 Rn 70; § 20 Rn 12 § 17 Rn 51 § 20 Rn 22 § 16.2 Rn 60 f § 17 Rn 12 § 7 Rn 25 § 20 Rn 24 § 7 Rn 96 § 1 Rn 45; § 7 Rn 1; 101; § 8 Rn 69; § 11 Rn 29, 70 f; § 18 Rn 20 § 9 Rn 31 § 20 Rn 1 § 7 Rn 70; § 9 Rn 27; § 19 Rn 20 § 9 Rn 29 § 12 Rn 12, 18 § 8 Rn 8, 66 f, 86 § 11 Rn 67 § 9 Rn 37 § 17 Rn 33 § 13 Rn 21 § 9 Rn 15 § 20 Rn 55
747
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Rechtssache
Zitiert in
Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Belgien Kommission/Dänemark Kommission/Dänemark Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland
Slg 1999, I-3999 Slg 2000, I-1221 Slg 2000, I-3123 Slg 2000, I-7587 Slg 2002, I-4809 Slg 2004, I-6427 Slg 2006, I-10653 Slg 2007, I-4269 Slg 1988, 4607 Slg 2003, I-9693 Slg 1979, 2555 Slg 1985, 1459 Slg 1986, 2519 Slg 1986, 3755 Slg 1987, 1227 Slg 1989, 1263
C-172/98 C-355/98 C-388/95 C-478/98 C-503/99 C-65/03 C-433/04 C-254/05 302/86 C-192/01 153/78 248/83 116/82 205/84 178/84 249/86
Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland
Slg 1989, 229 Slg 1989, 3997 Slg 1990, I-2879 Slg 1992, I-2575
274/87 186/88 217/88 C-62/90
Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Deutschland Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich
Slg 1992, I-3141 Slg 1994, I-2039 Slg 1994, I-3303 Slg 1998, I-2133 Slg 1998, I-6871 Slg 2002, I-5811 Slg 2002, I-9977 Slg 2005, I-2733 Slg 2006, I-885 Slg 2006, I-3449 Slg 2007, I-6957 Slg 2007, I-8995 Slg 2008, I-39 EuZW 2008, 56 NJW 2008, 3693 EWS 2004, 190 Slg 1986, 1725 Slg 1986, 273 Slg 1996, I-1307 Slg 1997, I-6959
C-195/90 C-317/92 C-131/93 C-24/97 C-102/96 C-287/00 C-325/00 C-341/02 C-244/04 C-441/02 C-318/05 C-112/05 C-152/05 C-319/05 C-141/07 C-334/02 307/84 270/83 C-334/94 C-265/95
Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich
Slg 1998, I-5325 Slg 1998, I-6197 Slg 2000, I-1049
C-35/97 C-184/96 C-169/98
§ 13 Rn 8, 13 § 9 Rn 55; § 10 Rn 47 § 8 Rn 84, 98 § 12 Rn 18 § 7 Rn 65; § 12 Rn 23 § 16.2 Rn 61 § 11 Rn 98 § 8 Rn 98 § 8 Rn 86, 89 § 8 Rn 91 § 8 Rn 57 § 17 Rn 34 § 16.3 Rn 29 § 10 Rn 30 f, 36 § 7 Rn 1; § 8 Rn 82, 92 ff § 9 Rn 29; § 15 Rn 19, 36, 57; § 16.1 Rn 18 § 8 Rn 24, 65, 91, 97 § 8 Rn 30 § 20 Rn 57 § 8 Rn 77; § 15 Rn 11; § 16.1 Rn 14, 30 § 7 Rn 15 § 7 Rn 105 § 8 Rn 98 § 19 Rn 42 § 8 Rn 59 § 16.2 Rn 61 § 8 Rn 20 § 11 Rn 99 § 11 Rn 99 § 16.1 Rn 14; § 16.2 Rn 2 § 11 Rn 98; § 16.3 Rn 43 § 7 Rn 1; § 12 Rn 22 f § 19 Rn 47 § 8 Rn 91 § 7 Rn 103; § 8 Rn 45 § 12 Rn 19 § 9 Rn 27 § 10 Rn 36 § 7 Rn 65 § 1 Rn 51; § 8 Rn 17, 20; § 16.2 Rn 38 § 7 Rn 57; § 9 Rn 17 § 8 Rn 49, 98 § 9 Rn 39
748
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Kommission/Frankreich Kommission/Frankreich
Slg 2000, I-1149 Slg 2002, I-4783
C-55/99 C-483/99
Kommission/Frankreich Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Griechenland Kommission/Irland
Slg 2006, I-10071 Slg 1988, 1637 Slg 1991, I-1361 Slg 1991, I-5863 Slg 1995, I-1621 Slg 1996, I-3285 Slg 1998, I-1095 Slg 2001, I-7915 Slg 1981, 1625
C-232/05 147/86 C-205/89 C-306/89 C-391/92 C-290/94 C-187/96 C-398/98 113/80
Kommission/Irland Kommission/Irland Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien Kommission/Italien
Slg 1982, 4005 Slg 1997, I-3327 Slg 1968, 634 Slg 1982, 2187 Slg 1987, 2625 Slg 1990, I-4285 Slg 1992, I-777 Slg 1992, I-3401 Slg 1996, I-2691 Slg 2001, I-4923 Slg 2001, I-541 Slg 2002, I-1425 Slg 2002, I-2965 Slg 2002, I-305 Slg 2003, I-513 Slg 2003, I-721
249/81 C-151/96 7/68 95/81 225/85 67/88 C-235/89 C-360/89 C-101/94 C-212/99 C-162/99 C-279/00 C-224/00 C-439/99 C-14/00 C-388/01
Kommission/Italien Kommission/Luxemburg Kommission/Luxemburg Kommission/Luxemburg Kommission/Niederlande Kommission/Österreich Kommission/Österreich Kommission/Österreich Kommission/Portugal
Slg 2007, I-7083 Slg 1993, I-817 Slg 1994, I-1891 Slg 1996, I-3207 Slg 1991, I-4069 Slg 2004, I-8291 Slg 2005, I-5969 Slg 2006, I-9041 Slg 2002, I-4731
C-260/04 C-111/91 C-118/92 C-473/93 C-353/89 C-465/01 C-147/03 C-168/04 C-367/98
Kommission/Rat Kommission/Rat Kommission/Rat Kommission/Spanien
Slg 1989, 1425 Slg 2005, I-7879 Slg 2007, I-9097 Slg 1994, I-911
242/87 C-176/03 C-440/05 C-45/93
Kommission/Spanien
Slg 1998, I-6717
C-114/97
§ 8 Rn 91 f § 7 Rn 1; § 10 Rn 33; § 12 Rn 22 f § 20 Rn 57 § 7 Rn 69 § 7 Rn 96; § 8 Rn 63 § 10 Rn 45 § 7 Rn 86; § 8 Rn 43 f § 7 Rn 70 § 9 Rn 21, 51 § 8 Rn 69 § 7 Rn 96, 102; § 8 Rn 18, 30, 66 § 7 Rn 48; § 8 Rn 20 § 7 Rn 65 § 16.2 Rn 59 § 8 Rn 63 § 9 Rn 27 § 8 Rn 97 § 16.4 Rn 6 § 11 Rn 55 § 7 Rn 38; § 10 Rn 60 § 9 Rn 39 § 9 Rn 37 § 12 Rn 46 § 13 Rn 19, 23 § 10 Rn 53 § 8 Rn 94 § 7 Rn 5, 25, 102; § 8 Rn 69; § 13 Rn 25 § 11 Rn 95 § 13 Rn 23; § 19 Rn 83 § 9 Rn 21 § 9 Rn 27 § 8 Rn 86; § 16.2 Rn 3, 18 § 7 Rn 18, 21; § 9 Rn 37 § 7 Rn 14; § 16.2 Rn 61 § 11 Rn 99 § 7 Rn 1; § 12 Rn 22; § 16.4 Rn 6 § 19 Rn 9 § 20 Rn 46 § 20 Rn 46 § 7 Rn 25, 89; § 10 Rn 21; § 13 Rn 21 § 9 Rn 37; § 10 Rn 43, 45 ff
749
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Kommission/Spanien
Slg 2003, I-4581
C-463/00
Kommission/Spanien Kommission/Spanien Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Kommission/Vereinigtes Königreich Koninklijke Scholten-Honig Konle
Slg 2003, I-459 Urt v 17.07.2008 Slg 1983, 203
C-12/00 C-207/07 124/81
§ 7 Rn 110; § 10 Rn 33; § 12 Rn 7, 23 § 8 Rn 94 § 10 Rn 33 § 8 Rn 24
Slg 1988, 547
261/85
§ 8 Rn 98
Slg 1992, I-829
C-30/90
§ 16.4 Rn 6
Slg 1992, I-5785
C-279/89
§ 9 Rn 38
Slg 2003, I-4644
C-98/01
§ 12 Rn 7, 22 f
Slg 1978, 1991 Slg 1999, I-3099
125/77 C-302/97
Kowalska Kozlowski Kraus
Slg 1990, I-2591 NJW 2008, 3201 Slg 1993, I-1663
C-33/89 C-66/08 C-19/92
Kreil
Slg 2000, I-69
C-285/98
Kremzow
Slg 1997, I-2629
C-299/95
Krombach Krüger GmbH Kühn
Slg 2000, I-1935 Slg 1997, I-4517 Slg 1992, I-35
C-7/98 C-334/95 C-177/90
Kühne Kühne und Heitz Kuijer Kurz Kus Kuusijaervi La Conqueste SCEA La Conqueste SCEA Läärä Lair Lambert Lancry Laserdisken
Slg 2001, I-9517 Slg 2004, I-837 Slg 2000, II-1959 Slg 2002, I-10691 Slg 1992, I-6781 Slg 1998, I-3419 Slg 2001, II-181 Slg 2002, I-1179 Slg 1999, I-6067 Slg 1988, 3161 Slg 1988, 4369 Slg 1994, I-3957 Slg 2006, I-8089
C-269/99 C-453/00 T-188/98 C-188/00 C-237/91 C-275/96 T-215/00 C-151/01 C-124/97 39/86 128/87 C-363/93 u. a. C-479/04
Lauder Laval
Slg 2000, I-117 Slg 2007, I-11767
C-220/98 C-341/05
§ 17 Rn 14 § 12 Rn 2, 32 ff; § 16.4 Rn 6 § 17 Rn 33, 35 § 19 Rn 84; § 20 Rn 41 § 7 Rn 28; § 9 Rn 42, 51; § 10 Rn 1 § 1 Rn 45; § 7 Rn 16; § 17 Rn 2, 29, 35 § 7 Rn 23; § 14 Rn 48; § 20 Rn 48 § 20 Rn 45 § 20 Rn 58 § 14 Rn 65; § 16.3 Rn 17 f, 33, 35; § 16.4 Rn 20, 44 § 7 Rn 38 § 20 Rn 55 § 20 Rn 22 § 9 Rn 32 § 9 Rn 32 § 9 Rn 26 § 20 Rn 27 § 20 Rn 27, 72 § 7 Rn 102, 110 § 9 Rn 17; § 13 Rn 7, 10 § 12 Rn 9, 29 § 13 Rn 15 § 16.2 Rn 2, 14, 20, 25, 27 ff § 8 Rn 95 § 11 Rn 99; § 15 Rn 9, 16; § 16.2 Rn 3, 43, 52 f
750
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Lawrence Lawrie-Blum Lebon Leclerc Leclerc Lehtonen
Slg 2002, I-7325 Slg 1986, 2121 Slg 1987, 2811 Slg 1985, 1 Slg 1995, I-179 Slg 2000, I-2681
C-320/00 66/85 316/85 229/83 C-412/93 C-176/96
Leichtle Lenz Les Fils de Jules Bianco Les Verts
Slg 2004, I-2641 EWS 2004, 361 Slg 1988, 1099 Slg 1986, 1339
C-8/02 C-315/02 331/85 294/83
Leukhardt
Slg 1989, 1991
113/88
Levin Lewark Lewen Limburgese Vinyl Maatschappij Limburgese Vinyl Maatschappij Lindfors Lindqvist
Slg 1982, 1035 Slg 1996, I-243 Slg 1999, I-7243 Slg 1999, II-931
53/81 C-457/93 C-333/97 T-305/94
Slg 2002, I-8375
C-238/99
Slg 2004, I-7173 Slg 2003, I-12971
C-365/02 C-101/01
Lisrestal LR AF 1998 Ludwigs-Apotheke München Lucaccioni Luciano Arcaro Luisi und Carbone
Slg 1996, I-5373 Slg 2002, II-1705 EuZW 2008, 30 Slg 1999, I-5251 Slg 1996, I-4705 Slg 1984, 377
C-32/95 T-23/99 C-143/06 C-257/98 C-168/95 286/82
Lütticke Lyyski Mac Quen Manghera Mannesmann-Röhrenwerke Mannesmann-Röhrenwerke Manninen Marchandise Mars Marschall Marshall Martinez
Slg 1966, 258 Slg 2007, I-99 Slg 2001, I-837 Slg 1976, 91 Slg 2001, II-729 Slg 2004, II-2223 EuZW 2005, 19 Slg 1991, I-1027 Slg 1995, I-1923 Slg 1997, I-6363 Slg 1990, I-4071 Slg 2001, II-2823
57/65 C-40/05 C-108/96 59/75 T-112/98 T-44/00 C-319/02 C-332/89 C-470/93 C-409/95 370/88 T-222/99 ua
Martinez
Slg 2003, I-13355
C-488/01
§ 17 Rn 41 § 9 Rn 5, 27; § 17 Rn 28 § 9 Rn 23 § 8 Rn 86 § 8 Rn 44, 46 § 7 Rn 28, 52; § 9 Rn 7; § 11 Rn 81, 88; § 16.2 Rn 52 f § 18 Rn 20 § 12 Rn 18, 19 § 20 Rn 52 § 14 Rn 38; § 16.2 Rn 46; § 20 Rn 24 § 16.3 Rn 17, 38; § 16.4 Rn 43 § 9 Rn 5, 8 § 17 Rn 33, 45 § 17 Rn 32 f, 37, 39, 44 § 14 Rn 38; § 20 Rn 8 § 15 Rn 2; § 20 Rn 8 § 19 Rn 84 § 16.1 Rn 49; § 16.2 Rn 3, 13, 20, 27 § 20 Rn 10 § 20 Rn 11 § 8 Rn 98 § 15 Rn 23 § 20 Rn 1 § 9 Rn 1; § 11 Rn 412; § 12 Rn 6; § 19 Rn 9 § 7 Rn 15 § 16.2 Rn 61 § 7 Rn 109 f; § 9 Rn 39 § 7 Rn 12 § 20 Rn 3, 5, 20 § 20 Rn 14 § 12 Rn 18, 19 § 7 Rn 83 § 7 Rn 81; § 8 Rn 42 § 7 Rn 16; § 17 Rn 35, 44 § 16.3 Rn 4, 17, 33, 36 § 16.2 Rn 46, 52; § 20 Rn 24 § 16.2 Rn 46, 52
751
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Rechtssache
Zitiert in
Martínez del Peral Cagigal Martínez Sala
Slg 2001, I-135 Slg 1998, I-2691
C-459/98 C-85/96
Maruko
NJW 2008, 1649
C-267/07
Masgio Mathot Mattern und Cikotic Matteucci Mattila Mattila Maurissen Maurissen Max.mobil Mayr-Melnhof Mazzoleni Mebrom Meca-Medina Meca-Medina
Slg 1991, I-1119 Slg 1987, 809 Slg 2006, I-3145 Slg 1988, 5589 Slg 2001, II-2265 Slg 2004, I-1073 Slg 1990, I-95 Slg 1992, II-2377 Slg 2002, II-313 Slg 1998, II-1751 Slg 2001, I-2189 Slg 2007, II-1507 Slg 2004, II-3291 Slg 2006, I-6991
C-10/90 98/86 C-10/05 235/87 T-204/99 C-353/01 C-193/87 T-23/91 T-54/99 T-347/ 94 C-165/98 T-216/05 T-313/02 C-519/04
Mediocurso Meeusen Mehibas Dordtselaan Meints Melkunie Mengner Merida Metallgesellschaft Metallurgiki Halyps Metock Metronome Musik
Slg 2000, I-7183 Slg 1999, I-3289 Slg 2000, II-15 Slg 1997, I-6689 Slg 1984, 2367 Slg 1995, I-4741 Slg 2004, I-8482 Slg 2001, I-1727 Slg 1982, 4261 NJW 2008, 3488 Slg 1998, I-1953
C-462/98 C-337/97 T-290/97 C-57/96 97/83 C-444/93 C-400/02 C-397/98 258/81 C-127/08 C-200/96
Meyhui Micheletti Michelin Mobisstar u Belgcom Mobile Molenaar Montecatini Montedipe Morgan u Bucher Morson Moser Mouflin Moulins Pont-à-Mousson
Slg 1994, I-3879 Slg 1992, I-4239 Slg 1983, 3461 Slg 2005, I-7723
C-51/93 C-369/90 322/81 C-544/03
§ 17 Rn 17 § 9 Rn 2, 23; § 13 Rn 10, 23; § 19 Rn 14, 43, 85 § 16.1 Rn 54, 59; § 17 Rn 22 § 9 Rn 43 § 8 Rn 14 § 9 Rn 29 § 9 Rn 23; § 19 Rn 32 § 20 Rn 22 § 20 Rn 22 § 16.2 Rn 2, 42, 52 § 16.2 Rn 42 § 14 Rn 25; § 20 Rn 5 f § 20 Rn 3 § 7 Rn 28 § 16.3 Rn 4 § 11 Rn 89 § 11 Rn 85, 89, 92; § 16.2 Rn 40, 52 § 20 Rn 63 § 9 Rn 9; § 10 Rn 49 f § 20 Rn 66 § 9 Rn 17, 39 § 8 Rn 91 f § 9 Rn 3, 10 § 9 Rn 23, 39 § 12 Rn 18 § 16.4Rn 20, 41 § 9 Rn 29; § 19 Rn 36 § 14 Rn 8; § 16.3 Rn 12, 14, 33, 35; § 16.4 Rn 17, 42 § 7 Rn 49; § 8 Rn 19 § 7 Rn 40; § 19 Rn 28 § 14 Rn 38 § 11 Rn 98
Slg 1998, I-843 Slg 1999, I-4539 Slg 1992, II-1155 Slg 2007, I-2161 Slg 1982, 3723 Slg 1984, 2539 Slg 2001, I-10201 Slg 1977, 1795
C-160/96 C-235/92 T-14/89 C-11 u 12/06 35/82 180/83 C-206/00 124/76
§ 9 Rn 26 § 16.2 Rn 38, 52 § 16.2 Rn 38 § 19 Rn 88 § 13 Rn 7 § 7 Rn 23; § 17 Rn 15 § 17 Rn 44 § 17 Rn 14 f, 17
752
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Rechtssache
Zitiert in
Mulder Muller Müller-Fauré
Slg 1992, I-3061 Slg 1986, 1511 Slg 2003, I-4509
C-104/89 304/84 C-385/99
Mund und Fester Musique Diffusion Mutsch N Nachi Europe Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers National Panasonic
Slg 1994, I-467 Slg 1983, 1825 Slg 1985, 2681 Slg 1998, I-4871 Slg 2001, I-1197 Urt v 19.06.2008
C-398/92 100/80 137/84 C-252/97 C-239/99 C-219/07
§ 16.4 Rn 41 § 8 Rn 91 f § 7 Rn 1, 101, 103; § 18 Rn 20 § 13 Rn 24 § 20 Rn 11, 18 § 9 Rn 23; § 20 Rn 50 § 20 Rn 18 § 20 Rn 33 § 8 Rn 75
Slg 1980, 2033
136/79
Nazli Nerkowska Neu Nicolet Nicolet Niederlande und van der Wal/Kommission Niederlande/Kommission Niederlande/Parlament und Rat Nimz
Slg 2000, I-957 DVBl 2008, 932 L Slg 1991, I-3617 Slg 1986, 2049 Slg 1988, 1557 Slg 2000, I-1
C-340/97 C-499/06 C-90/90 203/85 43/87 C-174/98
§ 14 Rn 43; § 16.1 Rn 14, 22, 32 § 9 Rn 32 § 19 Rn 88 § 16.3 Rn 12, 34 § 20 Rn 65 § 20 Rn 65 § 20 Rn 22
Slg 1992, I-565 Slg 2001, I-7079
C-48/90 C-377/98
§ 14 Rn 44 § 14 Rn 25; § 15 Rn 8, 25
Slg 1991, I-297
C-184/89
Ninni-Orasche Nitratrichtlinie Nold
EuZW 2004, 117 Slg 1999, I-2603 Slg 1974, 491
C-413/01 C-293/97 4/73
Nölle Nolte O’Dwyer O’Flynn
Slg 1995, II-2589 Slg 1995, I-4625 Slg 1995, II-2071 Slg 1996, I-2617
T-167/ 94 C-317/93 T-466/93 ua C-237/94
Odigitria Oebel ÖGB Olazabal Oleificio Borelli Olivenöl Omega
Slg 1995, II-2025 Slg 1981, 1993 Slg 2000, I-10497 Slg 2002, I-10981 Slg 1992, I-6313 Slg 1984, 3881 Slg 2004, I-9609
T-572/93 155/80 C-195/98 C-100/01 C-97/91 232/81 C-36/02
§ 7 Rn 11; § 14 Rn 19; § 17 Rn 34 f, 53 § 9 Rn 5 § 16.4 Rn 43, 45 § 1 Rn 31; § 2 Rn 9; § 14 Rn 4, 7 f, 13; § 16.3 Rn 3, 12, 33, 35; § 16.4 Rn 13, 20 § 14 Rn 36 § 17 Rn 50 f § 16.4 Rn 19 § 7 Rn 26, 101; § 9 Rn 38, 39, 50 § 19 Rn 74 § 8 Rn 38 § 9 Rn 39 § 9 Rn 48 § 20 Rn 72 § 16.4 Rn 35 § 3 Rn 39; § 7 Rn 65, 96; § 8 Rn 9, 79, 111; § 10 Rn 23; § 14 Rn 13, 35; § 15 Rn 9, 15
753
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Rechtssache
Zitiert in
Oosthoek Ordre des barreaux francophones Orfanopoulos und Olivieri
Slg 1982, 4575 Slg 2007, I-5305
286/81 C-305/05
Slg 2004, I-5257
C-482/01
Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran Orkem Ortscheit Ospelt Österreichischer Rundfunk
Slg 2006, II-4665
T-228/02
§ 7 Rn 83 § 14 Rn 8; § 16.1 Rn 49; § 16.2 Rn 3; § 20 Rn 46 § 16.1 Rn 14, 19; § 16.2 Rn 2; § 19 Rn 46; § 20 Rn 50 § 20 Rn 41
Slg 1989, 3283 Slg 1994, I-5243 Slg 2003, I-9743 Slg 2003, I-4989
374/87 C-320/93 C-452/01 C-465/00
Oulane Owens Bank Oyowe und Traore Öztürk P./S. Paletta I Panayotova Parfums Christian Dior Parking Brixen Parlament/Rat Parlament/Rat Parlament/Rat
Slg 2005, I-1215 Slg 1994, I-117 Slg 1989, 4285 Slg 2004, I-3605 Slg 1996, I-2143 Slg 1992, I-3423 Slg 2004, I-11 055 Slg 2000, I-11307 Slg 2005, I-8585 Slg 1990, I-2041 Slg 1992, I-4193 Slg 2006, I-5769
C-215/03 C-129/92 100/88 C-373/02 C-13/94 C-45/90 C-327/02 C-300/98 C-458/03 70/88 C-295/90 C-540/03
Parodi Pastoors Payir People’s Mojahedin Organization of Iran People’s Mojahedin Organization of Iran Peralta Perfili Pergan Hilfsstoffe Persche Pesca Valentia Peterbroeck Petrie Pfeiffer
Slg 1997, I-3899 Slg 1997, I-1 Slg 2008, I-203 Urt v 11.7.2007
C-222/95 C-143/95 C-294/ 06 T-256/07
§ 15 Rn 2; § 20 Rn 4, 19 § 7 Rn 105; § 8 Rn 59 § 12 Rn 37 § 15 Rn 12, 44; § 16.1 Rn 42, 45 § 19 Rn 42 § 13 Rn 22 § 16.2 Rn 2, 9, 12, 27 § 9 Rn 32 § 14 Rn 14; § 15 Rn 5 § 9 Rn 26 § 10 Rn 8 § 10 Rn 10 § 7 Rn 38 § 20 Rn 24 § 19 Rn 9 § 3 Rn 12; § 14 Rn 14, 25, 50; § 16.2 Rn 1; § 20 Rn 5 § 7 Rn 47; § 12 Rn 2 § 8 Rn 88 § 9 Rn 32 § 20 Rn 41
Urt v 4.12.2008
T-284/08
§ 20 Rn 41
Slg 1994, I-3453 Slg 1996, I-161 Slg 2007, II-4225 NJW 2009, 823 Slg 1988, 83 Slg 1995, I-4599 Slg 2001, II-3677 Slg 1999, I-2835
C-379/92 C-177/94 T-474/04 C-318/07 223/86 C-312/93 T-191/99 C-255/97
Piercarlo Bozzetti Pinna Pitsiorlas
Slg 1985, 2301 Slg 1986, 1 Slg 2001, II-717
179/84 41/84 T-3/00
§ 7 Rn 84; § 8 Rn 49 § 13 Rn 2 § 20 Rn 16 § 7 Rn 6 § 13 Rn 6 § 20 Rn 52 § 20 Rn 21 § 7 Rn 82, 101; § 10 Rn 55, 61, 63 § 20 Rn 47 § 9 Rn 38 § 20 Rn 26
754
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Zitiert in
Pitsiorlas Plaumann Pokrzeptowicz-Meyer Portugaia Construções Portugal/Kommission Portugal/Rat Poucet und Pistre Prais Prantl PreussenElektra Primex Produkte Promusicae Punta casa Pusa Pupino Raccanelli Radlberger Ramrath Rau
Slg 2003, I-4837 Slg 1963, 213 Slg 2002, I-1049 Slg 2002, I-787 Slg 2001, I-2613 Slg 1999, I-8395 Slg 1993, I-637 Slg 1976, 1589 Slg 1984, 1299 Slg 2001, I-2099 Slg 1998, II-3773 Slg 2008, I -271 Slg 1994, I-2355 Slg 2004, I-5763 Slg 2005, I-5285 EuZW 2008, 529 Slg 2004, I-11763 Slg 1992, I-3351 Slg 1987, 2289
C-193/01 25/62 C-162/00 C-164/99 C-163/99 C-149/96 C-159/91 130/75 16/83 C-379/98 T-50/96 C-275/06 C-69/93 C-224/02 C-105/03 C-94/07 C-309/02 C-106/91 133/85
Raulin Ravil/Bellon Razzouk Reed Régie Networks Regina/Kirk Regione Siciliana Reisch Remy Schmit Rewe-Zentral-AG
Slg 1992, I-1027 Slg 2003, I-5053 Slg 1984, 1509 Slg 1986, 1283 NZ Bau 2009, 192 Slg 1984, 2689 Slg 2007, I-2591 Slg 2002, I-2157 Slg 1996, I-3179 Slg 1979, 649
C-357/89 C-469/00 75/82 59/85 C-333/07 63/83 C-15/06 C-515/99 C-240/95 120/78
Rewe Rewe Reyners Reynolds Tobacco Richardt Ricordi Rinau Rinner-Kühn Roders Rönfeldt Roquette frères Roquette frères Roquette frères Roquette frères
Slg 1981, 1805 Slg 1984, 1229 Slg 1974, 631 Slg 2006, I-7795 Slg 1991, I-4621 Slg 2002, I-5089 EuZW 2008, 538 Slg 1989, 2743 Slg 1995, I-2229 Slg 1991, I-323 Slg 1989, 1553 Slg 1994, I-1445 Slg 2000, I-10465 Slg 2002, I-9011
158/80 37/83 2/74 C-131/03 C-367/89 C-360/00 C-195/08 171/88 C-367/93 C-227/89 20/88 C-228/92 C-88/99 C-94/00
§ 20 Rn 26 § 20 Rn 27 § 9 Rn 33; § 16.2 Rn 61 § 7 Rn 89; § 9 Rn 35 § 16.4 Rn 6 § 10 Rn 10; § 17 Rn 14 § 18 Rn 2, 18 § 16.1 Rn 62 § 8 Rn 35, 49; § 12 Rn 11 § 7 Rn 102; § 8 Rn 8, 66 § 20 Rn 11, 14, 65 f § 16.1 Rn 50; § 16.4 Rn 17 § 1 Rn 47; § 8 Rn 43 § 19 Rn 88 § 16.1 Rn 8 § 9 Rn 11 § 8 Rn 99 § 9 Rn 51, 55 § 14 Rn 33; § 16.3 Rn 12, 18 § 9 Rn 10, 17; § 19 Rn 40 § 8 Rn 98 § 17 Rn 6; § 18 Rn 6 § 9 Rn 23 § 20 Rn 60 § 20 Rn 1 § 20 Rn 63 § 12 Rn 32 ff § 7 Rn 25 § 1 Rn 47; § 12 Rn 15; § 16.2 Rn 2 § 20 Rn 53 § 7 Rn 49 § 7 Rn 69 f; § 10 Rn 1, 46 § 20 Rn 22 § 8 Rn 81; § 9 Rn 48 § 16.2 Rn 59 § 20 Rn 43 § 9 Rn 10; § 17 Rn 33, 50 § 7 Rn 57 § 9 Rn 26; § 16.4 Rn 19 § 20 Rn 60 § 20 Rn 60 § 20 Rn 51 § 14 Rn 16; § 16.1 Rn 14, 23, 32, 36
755
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Rosengren Rothley Rothmans International Rousseau Royal Bank of Scotland Royal Copenhagen Royal Pharmaceutical Society Royale belge SA Royer RTL Television
Slg 2007, I-4071 Slg 2004, I-3149 Slg 1999, II-2463 Slg 1987, 995 Slg 1999, I-2651 Slg 1995, I-1275 Slg 1989, 1295
C-170/04 C-167/02 T-188/97 168/86 C-311/97 C-400/93 266/87
§ 7 Rn 110 § 20 Rn 31 § 19 Rn 72 § 8 Rn 14 § 10 Rn 51 f § 17 Rn 40 § 7 Rn 48
Slg 1996, I-5501 Slg 1976, 497 Slg 2003, I-12489
C-76/95 48/75 C-245/01
Ruckdeschel
Slg 1977, 1753
117/76
Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft Rush Portuguesa
Slg 1960, 887
36/58
§ 15 Rn 23 § 9 Rn 3, 24 § 15 Rn 71; § 16.2 Rn 2, 13, 17, 20, 27 ff, 59 § 14 Rn 34; § 17 Rn 11, 14, 17 § 1 Rn 26
Slg 1990, I-1417
C-113/89
Rutili Rüffert Ryborg Sacchi Safalero Säger
Slg 1975, 1219 JZ 2008, 889 Slg 1991, I-1943 Slg 1974, 409 Slg 2003, I-8679 Slg 1991, I-4221
36/75 C-346/06 C-297/89 155/73 C-13/01 C-76/90
Sagulo Saint-Gobain Saldanha Salzmann SAM Schiffahrt und Stapf San Giorgio Sandoz Sandoz Sanz de Lera Sass Saunders Savas Schempp Schindler
Slg 1977, 1495 Slg 1999, I-6161 Slg 1997, I-5325 Slg 2003, I-4922 Slg 1997, I-4475 Slg 1983, 3595 Slg 1983, 2445 Slg 1999, I-7041 Slg 1995, I-4821 Slg 2004, I-11143 Slg 1979, 1129 Slg 2000, I-2927 Slg 2005, I-6421 Slg 1994, I-1039
8/77 C-307/97 C-122/96 C-300/01 C-248/95 199/82 174/82 C-439/97 C-163/94 C-284/02 175/78 C-37/98 C-403/03 C-275/92
Schmid Schmidberger
Slg 2002, I-4573 Slg 2003, I-5659
C-516/99 C-112/00
756
§ 9 Rn 35; § 11 Rn 26, 44 § 20 Rn 50 § 7 Rn 9; § 11 Rn 99 § 19 Rn 51 § 11 Rn 46 § 20 Rn 53 § 7 Rn 101, 110; § 11 Rn 60 § 13 Rn 2 § 10 Rn 36, 52 § 13 Rn 7; § 20 Rn 50 § 12 Rn 32, 34; § 16.4 Rn 6 § 16.3 Rn 4, 14, 17, 33, 35 § 20 Rn 52 § 8 Rn 92 § 12 Rn 15, 19 § 12 Rn 4, 8 § 17 Rn 39 § 7 Rn 23; § 19 Rn 41 § 10 Rn 7 § 8 Rn 14; § 19 Rn 84 § 7 Rn 65, 102; § 8 Rn 9, 57; § 12 Rn 2 § 12 Rn 19 § 7 Rn 35, 98; § 8 Rn 16, 17, 79, 99; § 9 Rn 50; § 14 Rn 13 f, 35; § 15 Rn 29; § 16.2 Rn 3, 13, 25, 27 ff, 38, 52
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
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Rechtssache
Zitiert in
Schnitzer Scholz Schöning
Slg 2003, I-14847 Slg 1994, I-50 Slg 1998, I-47
C-215/01 C-419/92 C-15/96
Schräder
Slg 1989, 2237
Schumacher Schumacker
Slg 1989, 617 Slg 1995, I-225
Schutzverband Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb Schwarz u Gootjes-Schwarz Schweden/Kommission Schweden/Rat
Slg 1983, 127 Slg 2000, I-151 Slg 2007, I-6849 Slg 2007, I-11389 Slg 2001, I-4319
Scientologie SCK u FNK Sehrer Semeraro Sevince Seymour-Smith Sgarlata SGL Carbon SGL Carbon SGL Carbon Simmenthal II Singh Sirdar Sison Skanavi
Slg 2000, I-1335 Slg 1997, II-1739 Slg 2000, I-4585 Slg 1996, I-2975 Slg 1990, I-3461 Slg 1999, I-623 Slg 1965, 296 Slg 2006, I-5915 Slg 2006, I-5977 Slg 2007, I-3921 Slg 1978, 629 Slg 1992, I-4265 Slg 1999, I-7403 Urt v 11.7.2007 Slg 1996, I-929
Skoma-Lux SMW Winzersekt
Slg 2007, I-10841 Slg 1994, I-5555
Sodemare Sogelma Sotgiu
Slg 1997, I-3395 Urt v 8.10.2008 Slg 1974, 153
Spanien und Finnland/ Parlament und Rat Spanien/Kommission
Slg 2004, I-7789
§ 11 Rn 43 § 9 Rn 20 § 7 Rn 89; § 9 Rn 21, 39, 40 265/87 § 7 Rn 109; § 14 Rn 43, 65, 70 f; § 16.1 Rn 30; § 16.3 Rn 3, 14, 33, 35, 37; § 16.4 Rn 15, 19, 26, 44, 46 215/87 § 7 Rn 105 C-279/93 § 9 Rn 22; § 10 Rn 52; § 12 Rn 17 109/82 § 8 Rn 66 C-254/98 § 7 Rn 84, 101; § 8 Rn 45, 49, 66, 69, 89 C-76/ 05 § 16.3 Rn 43; § 19 Rn 88 C-64/05 P § 7 Rn 17; § 19 Rn 73 C-125/99 § 14 Rn 25; § 16.1 Rn 54, 59 C-54/99 § 7 Rn 96; § 12 Rn 2, 11 T-213/95 u T-18/96 § 20 Rn 8, 18 C-302/98 § 9 Rn 39, 41 C-418/93 § 7 Rn 84; § 8 Rn 43, 49 C-192/89 § 10 Rn 7; § 9 Rn 32 C-167/97 § 17 Rn 32 ff, 35, 45, 51 40/64 § 1 Rn 20 C-301/04 § 20 Rn 20 C-308/04 § 20 Rn 16 C-328/05 § 20 Rn 16 106/77 § 7 Rn 7 C-370/90 § 10 Rn 15, 39; § 19 Rn 41 C-273/97 § 7 Rn 16 T-47/03 § 20 Rn 41 C-193/94 § 7 Rn 13; § 13 Rn 2; § 19 Rn 38 C-161/06 § 20 Rn 12 C-306/93 § 16.3 Rn 3 f, 17, 29, 35 f, 38; § 16.4 Rn 26, 43 f, 46 f; § 17 Rn 13; § 20 Rn 31 C-70/95 § 10 Rn 31 T-411/06 § 20 Rn 24 152/73 § 7 Rn 26; § 9 Rn 21, 38; § 13 Rn 23 C-184/02; C-223/02 § 16.3 Rn 33, 35
Slg 1993, I-3923
C-217/91
§ 17 Rn 13
757
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Spanien/Kommission Spanien/Rat Spanien/Vereinigtes Königreich Spotti Stamatelakis Stauder
Slg 1999, I-6571 Slg 1988, 4563 Slg 2006, I-7961
C-240/97 203/86 C-145/04
Slg 1993, I-5185 Slg 2007, I-3185 Slg 1969, 419
C-272/92 C-444/05 29/69
Steen I Steen II Steffensen Steinhauser Steymann
Slg 1992, I-341 Slg 1994, I-2715 Slg 2003, I-3735 Slg 1985, 1819 Slg 1988, 6159
C-332/90 C-132/93 C-276/01 197/84 196/87
Stichting
Slg 1991, I-4007
C-288/89
§ 16.3 Rn 12 § 17 Rn 17 § 2 Rn 46; § 19 Rn 12, 27, 63 § 9 Rn 21; § 16.2 Rn 61 § 7 Rn 102 f; § 18 Rn 20 § 1 Rn 27, 29; § 14 Rn 4; § 15 Rn 5; § 16.1 Rn 39; § 19 Rn 5 § 7 Rn 23; § 9 Rn 19 § 7 Rn 23 § 14 Rn 48; § 20 Rn 45 § 10 Rn 49; § 16.2 Rn 59 § 9 Rn 7; § 10 Rn 21, 31; § 11 Rn 38; § 16.1 Rn 62 § 14 Rn 13; § 15 Rn 71, 84; § 16.2 Rn 3, 7, 17 f, 27 § 20 Rn 63 § 16.3 Rn 12 § 9 Rn 32; § 19 Rn 32 § 20 Rn 22 § 7 Rn 47, 65; § 11 Rn 24; § 12 Rn 3 § 16.3 Rn 4 § 8 Rn 66 § 14 Rn 72; § 16.3 Rn 39 § 17 Rn 17 § 7 Rn 86; § 8 Rn 43 § 9 Rn 29 § 19 Rn 47 § 16.2 Rn 2, 13, 20, 29 § 20 Rn 11 § 8 Rn 69; § 9 Rn 40 § 16.4 Rn 19 § 20 Rn 33 § 8 Rn 84 § 9 Rn 26 § 10 Rn 46 § 7 Rn 66; § 10 Rn 33 § 16.1 Rn 51 § 20 Rn 46 § 14 Rn 25 § 16.4 Rn 31 § 20 Rn 16 § 7 Rn 83; § 8 Rn 38; § 16.1 Rn 62
Stichting ROM-projekten Slg 2007, I-5103 Sukkerfabriken Nykobing Slg 1979, 1 Sürül Slg 1999, I-2685 Svenska Journalistförbundet Slg 1998, II-2289 Svensson und Gustavsson Slg 1995, I-3955
C-158/06 151/78 C-262/96 T-174/95 C-484/93
Swedish Match Sydhavnens T Port T Port t’Heukske Taghavi Tas-Hagen Ter Voort Teresa Guerra Terhoeve Testa Textilwerke Deggendorf Thetford Thévenon Thijssen Thin Cap Test Claimants Tietosuojavaltuutettu: Tillack TNT Tocai Tokai Carbon Torfaen Borough Council
C-210/03 C-209/98 C-68/95 C-364/95 C-401/92 C-243/91 C-192/05 C-219/91 6/67 C-18/95 41/79 C-188/92 35/87 C-475/93 C-42/92 C-524/04 C-73/07 T-193/04 C-340/99 C-347/03 T-236/01 145/88
758
Slg 2004, I-11893 Slg 2000, I-3743 Slg 1996, I-6065 Slg 1998, I-1023 Slg 1994, I-2199 Slg 1992, I-4401 Slg 2006, I-10451 Slg 1992, I-5485 Slg 1967, 294 Slg 1999, I-345 Slg 1980, 1979 Slg 1994, I-833 Slg 1988, 3585 Slg 1995, I-3813 Slg 1993, I-4047 Slg 2007, I-2107 EuZW 2009, 108 Slg 2006, II-3995 Slg 2001, I-4109 Slg 2005, I-3785 Slg 2004, II-1181 Slg 1989, 3851
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Traghetti del Mediterraneo Slg 2006, I-5177 Triveneta Zuccheri Slg 1990, I-1083 Trojani Slg 2004, I-7573
C-173/03 347/87 C-456/02
Trummer TU München Turpeinen TV 10 Überseering
Slg 1999, I-1661 Slg 1991, I-5469 Slg 2006, I-10685 Slg 1994, I-4795 Slg 2002, I-9919
C-222/97 C-269/90 C-520/04 C-23/93 C-208/00
Uecker Ufex ua /Kommission Unibet Union de Pequeños Agricultores USSL No 47 di Biella Valsabbia van Ameyde van Bennekom van Binsbergen
Slg 1997, I-3171 Slg 2000, II-4055 Slg 2007, I-2271 Slg 2002, I-6677
C-64/96 T-613/ 97 C-432/05 C-50/00
Slg 1997, I-195 Slg 1980, 907 Slg 1977, 1091 Slg 1983, 3883 Slg 1974, 1299
C-134/95 154/78 90/76 227/82 33/74
§ 20 Rn 24 § 20 Rn 71 § 1 Rn 49; § 7 Rn 14; § 9 Rn 2; § 13 Rn 13; § 19 Rn 87 f § 12 Rn 2, 39 f § 20 Rn 65 ff § 7 Rn 14; § 19 Rn 88 § 10 Rn 30 § 7 Rn 1; § 10 Rn 70 ff, 75 § 19 Rn 36, 41 § 16.4 Rn 6 § 20 Rn 31, 53, 55 § 7 Rn 3; § 14 Rn 76; § 20 Rn 30 ff § 7 Rn 23 § 16.4 Rn 19, 21 § 7 Rn 52 § 8 Rn 92 § 1 Rn 48; § 7 Rn 28; § 10 Rn 30; § 11 Rn 6, 59, 70 f, 94 § 16.4 Rn 13 § 16.4 Rn 26
van de Roy Van den Bergh Foods/ Kommission van der Veldt van der Wal van Duyn
Slg 1976, 352 Slg 2003, II-4653
92-75 T-65/98
Slg 1994, I-3537 Slg 1998, II-545 Slg 1974, 1337
C-17/93 T-83/96 41/74
van Gend & Loos
Slg 1963, 3
26/62
van Harpegnies van Landewyck van Roosmalen van Schaik van Schijndel Van Straaten van Wesemael
Slg 1998, I-5121 Slg 1980, 3125 Slg 1986, 3097 Slg 1994, I-4837 Slg 1995, I-4705 Slg 2006, I-9327 Slg 1979, 35
C-400/96 209/78 300/84 C-55/93 C-430/93 C-150/05 110/78
Vanacker Vander Elst Vannieuwenhuyze-Morin Varec VBA VBVB und VBBB
Slg 1993, I-4947 Slg 1994, I-3803 Slg 2003, II-1997 Slg 2008, I-581 Slg 2000, I-2135 Slg 1984, 19
C-37/92 C-43/93 C-450/ 06 C-266/97 262/80
§ 7 Rn 82; § 8 Rn 94 § 20 Rn 10 § 7 Rn 96; § 9 Rn 1, 48; § 16.1 Rn 62 § 1 Rn 44; § 7 Rn 7 f, 10; § 14 Rn 4; § 19 Rn 1, 39 § 8 Rn 82, 98 § 20 Rn 18 § 16.1 Rn 61 § 7 Rn 65 § 20 Rn 52 § 20 Rn 46 § 11 Rn 71, 75; § 16.2 Rn 59 § 7 Rn 8 § 9 Rn 35 § 20 Rn 31 § 20 Rn 41 § 20 Rn 40 § 16.2 Rn 17
759
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Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Vereinigtes Königreich/ London Borough of Ealing Verkooijen Veronica Omröp Organisatie Vestergaard Viking
Slg 2005, I-2119
C-209/03
§ 7 Rn 14
Slg 2000, I-4071 Slg 1993, I-487
C-35/98 C-148/91
Slg 1999, I-7641 Slg 2007, I-10779
C-55/98 C-438/05
Vlassopoulou
Slg 1991, I-2357
C-340/89
von de Coevering von Deetzen Vougioukas VT 4 VVG Wachauf
Slg 2006, I-5843 Slg 1991, I-5119 Slg 1995, I-4033 Slg 1997, I-3143 Slg 2002, II-3239 Slg 1989, 2609
C-242/05 C-44/89 C-443/93 C-56/96 T-155/02 5/88
Wählergruppe Walrave
Slg 2003, I-4301 Slg 1974, 1405
C-171/01 36/74
Walt Wilhelm/Bundeskartellamt Watson Watts Weber’s Wine World Weidert und Paulus Werhahn Werhof Werner Westdeutsche Landesbank Wielockx Wijsenbeek Wiljo Wirtschafts- und Sozialausschuss/E Witte Wouters Wuidart WWF UK X X,Y/Riksskatteverk X/Kommission Yiadom
Slg 1969, 1
14/68
§ 12 Rn 17 ff, 21 § 8 Rn 86; § 12 Rn 2; § 16.2 Rn 3, 17 f § 7 Rn 8, 25, 102 § 7 Rn 50; § 8 Rn 20; § 10 Rn 57, 62; § 16.2 Rn 3, 43, 52 f § 7 Rn 38, 110; § 9 Rn 55; § 10 Rn 53 § 11 Rn 98 § 16.4 Rn 19, 44 § 9 Rn 26 § 10 Rn 31 § 20 Rn 31 § 1 Rn 39; § 14 Rn 48, 51, 65, 68, 70 f; § 16.4 Rn 41; § 20 Rn 45 § 9 Rn 32 § 1 Rn 50; § 7 Rn 52, 56; § 8 Rn 21; § 9 Rn 7, 46; § 11 Rn 80, 82, 94 § 20 Rn 16
Slg 1976, 1185 Slg 2006, I-4325 Slg 2003, I-11365 EWS 2004, 365 Slg 1973, 1254 Slg 2006, I-2397 Slg 1993, I-429 Slg 2001, I-173 Slg 1995, I-2493 Slg 1999, I-6207 Slg 1997, I-585 Slg 1999, I-8877
118/75 C-372/04 C-147/01 C-242/03 63-69/72 C-499/04 C-112/91 C-464/98 C-80/94 C-378/97 C-178/95 C-150/98
§ 10 Rn 1 § 7 Rn 1; § 18 Rn 20 § 20 Rn 52 § 12 Rn 18 f § 16.4 Rn 13 § 16.2 Rn 3, 43 § 19 Rn 41 § 12 Rn 40 § 10 Rn 52; § 12 Rn 17 § 9 Rn 24, 55; § 19 Rn 42 § 20 Rn 33 § 16.2 Rn 3, 12, 27, 30
Slg 1984, 3465 Slg 2002, I-1577 Slg 1990, I-435 Slg 1997, II-313 Slg 1996, I-6609 Slg 2002, I-10829 Slg 1994, I-4737 Slg 2000, I-9265
188/83 C-309/99 267/88 T-96/95 C-74/95 C-436/00 C-404/92 C-357/98
§ 17 Rn 15 § 16.2 Rn 40 § 17 Rn 17 § 20 Rn 22 § 20 Rn 1 § 12 Rn 18 f § 16.1 Rn 14 § 9 Rn 2, 24
760
Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Name
Fundstelle
Rechtssache
Zitiert in
Yusuf Yves Rocher Zenatti Zuckerfabrik Bedburg Zuckerfabrik Schöppenstedt Zuckerfabrik Süderdithmarschen Zurstrassen
Slg 2005, II-3533 Slg 1993, I-2361 Slg 1999, I-7289 Slg 1987, 49 Slg 1971, 987 Slg 1991, I-415
T-306/01 C-126/91 C-67/98 281/84 5/71 143/88
Slg 2000, I-3337
C-87/99
§ 14 Rn 22 f; § 20 Rn 41 § 7 Rn 82 f; § 8 Rn 46, 49 § 7 Rn 110; § 9 Rn 54 § 16.4 Rn 27, 41 § 16.4 Rn 13 § 16.3 Rn 3, 17, 33, 37; § 16.4 Rn 19; § 20 Rn 58 § 9 Rn 22, 51
761
Zusammenstellung der besprochenen Fälle I. Entscheidungen des EGMR Name der Entscheidung
Fundstelle
§ Rn
AGOSI Bankovic Behrami u a Bladet Tromsø Bosphorus Caroline von Hannover D Gaygusuz Guerra Gustafsson Handyside Jahn James Karlheinz Schmidt K-F Matthews Müller Pine Valley Refah Partisi Saadi Sporrong und Lönnroth Stankov & Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden Sürmeli Steel W/Deutschland Wille
EuGRZ 1988, 513 NJW 2003, 413 NVwZ 2008, 645 EuGRZ 1999, 453 NJW 2006, 197 NJW 2004, 2648 NVwZ 1998, 161 JZ 1997, 405 NVwZ 1999, 57 HRLJ 1996, 118 EuGRZ 1977, 38 EuGRZ 2004, 57 EuGRZ 1988, 341 EuGRZ 1995, 392 NJW 1999, 775 NJW 1999, 3107 EuGRZ 1988, 543 HRLJ 1992, 36 EuGRZ 2003, 206 NVwZ 2009, 375 EuGRZ 1983, 523 RJD 2001-IX, 273 NJW 2006, 2389 RJD 1998-VII, 2719 NJW 2001, 3042 NJW 2001, 1195
§ 5 Rn 22 § 2 Rn 49 § 2 Rn 50 § 4 Rn 48 § 2 Rn 39 § 2 Rn 1 § 3 Rn 38 § 5 Rn 7 § 2 Rn 20 § 4 Rn 84 § 5 Rn 36 § 5 Rn 26 § 5 Rn 45 § 3 Rn 66 § 2 Rn 67 § 2 Rn 38 § 4 Rn 14 § 5 Rn 55 § 4 Rn 74 § 6 Rn 4 § 5 Rn 20 § 4 Rn 50 § 2 Rn 19 § 4 Rn 31 § 6 Rn 60 § 4 Rn 24
Name der Entscheidung
Fundstelle
§ Rn
Alpine Investments Angonese Belgien/Spanien Bettray Bleis Bosman
Slg 1995, I-1141 Slg 2000, I-4139 Slg 2000, I-3123 Slg 1989, 1621 Slg 1991, I-5627 Slg 1995, I-4921
Bosphorus Burmanjer Calfa Carpenter
Slg 1996, I-3953 Slg 2005, I-4133 Slg 1999, I-11 Slg 2002, I-6279
§ 11 Rn 48 § 7 Rn 51 § 8 Rn 87 § 9 Rn 4 § 7 Rn 59 § 11 Rn 79; § 16.2 Rn 34 § 16.4 Rn 43 § 7 Rn 74 § 15 Rn 43 § 11 Rn 62
II. Entscheidungen des EuGH
762
Zusammenstellung der besprochenen Fälle Name der Entscheidung
Fundstelle
§ Rn
Connolly Deutschland/Rat Deutschland/Parlament und Rat Doc Morris Dynamic Medienvertrieb GmbH Erich Ciola Evans Medical Factortame Familiapress Fidium Finanz Franz. Alkoholwerbeverbot Fremdenführer
Slg 2001, I-1611 Slg 1994, I-4973 Slg 2006, I-11573 NJW 2004, 131 EuZW 2008, 177 Slg 1999, I-2517 Slg 1995, I-563 Slg 1991, I-3956 Slg 1997, I-3689 Slg 2006, I-9521 Slg 2004, I-6569 Slg 1991, I-682, I-718, I-735 Slg 1995, I-4165 Slg 2001, I-1795 Slg 1998, I-621 Slg 1979, 3727 Slg 1997, I-1711 Slg 1989, 2859 Slg 2002, II-2365 DVBl 2009, 175 Slg 2004, I-541 Slg 1998, I-1931 EuZW 2004, 499 Slg 1997, I-6959 Slg 1998, I-6717 Slg 2000, I-2681 Slg 1996, I-243 Slg 1984, 377 Slg 1995, I-1923 Slg 1998, I-2691 Slg 1999, I-3289 Slg 1998, I-1953 Slg 1992, I-4239 Slg 2003, I-4509 Slg 2001, I-7079 Slg 1999, I-2603 Slg 1992, I-6313 Slg 1984, 3881 Slg 2004, I-9609 Slg 1989, 3283 Slg 2003, I-4989 Slg 1999, I-2835 Slg 1987, 2289 Slg 1994, I-1039 Slg 2003, I-5659
§ 16.2 Rn 4 § 16.4 Rn 21 § 16.2 Rn 5 § 7 Rn 20 § 7 Rn 108 § 11 Rn 47 § 8 Rn 67 § 10 Rn 17 § 14 Rn 46 § 7 Rn 45 § 7 Rn 93 § 11 Rn 66
Gebhard Gourmet International Grant Hauer Hayes Hoechst Jégo-Quéré Kadi KB/NHS Pensions Agency Kohll Kommission/Frankreich (Fernsehwerbung) Kommission/Frankreich (Landwirte) Kommission/Spanien Lehtonen Lewark Luisi und Carbone Mars Martínez Sala Meeusen Metronome Musik Micheletti Müller-Fauré Niederlande / Parlament und Rat Nitratrichtlinie Oleificio Borelli Olivenöl Omega Orkem Österreichischer Rundfunk Pfeiffer Rau Schindler (Lotterielose) Schmidberger
§ 10 Rn 18 § 8 Rn 27 § 17 Rn 21 § 16.4 Rn 12 § 13 Rn 1 § 14 Rn 57 § 20 Rn 28 § 14 Rn 21 § 16.1 Rn 53 § 7 Rn 100 § 11 Rn 73 § 7 Rn 32 § 10 Rn 41 § 9 Rn 49 § 17 Rn 22 § 11 Rn 35 § 7 Rn 81 § 19 Rn 83 § 9 Rn 18 § 16.3 Rn 32 § 19 Rn 25 § 11 Rn 72 § 15 Rn 3 § 16.4 Rn 42 § 20 Rn 64 § 16.4 Rn 28 § 7 Rn 107 § 20 Rn 16 § 16.1 Rn 38 § 10 Rn 47 § 16.3 Rn 8 § 11 Rn 65 § 8 Rn 16
763
Zusammenstellung der besprochenen Fälle Name der Entscheidung
Fundstelle
§ Rn
SMW Winzersekt Terhoeve Überseering Verkooijen Viking
Slg 1994, I-5555 Slg 1999, I-345 Slg 2002, I-9919 Slg 2000, I-4071 Slg 2007, I-10779
Werhof X/Kommission
Slg 2006, I-2397 Slg 1994, I-4737
§ 16.3 Rn 28 § 9 Rn 36 § 10 Rn 61 § 12 Rn 16 § 7 Rn 50; § 18 Rn 9 § 16.2 Rn 33 § 16.1 Rn 16
Name der Entscheidung
Fundstelle
§ Rn
Bananenmarkt-VO Conseil d’Etat [F] Görgülü Jagdgenossenschaft Landeserziehungsgeld
BVerfG 102, 147 AJDA 1999, 460 BVerfGE 111, 307 DVBl 2007, 248 BVerwGE 91, 327
§ 14 Rn 17 § 20 Rn 49 § 2 Rn 2 § 2 Rn 107 § 5 Rn 62
III. Entscheidungen anderer Gerichte
764
Sachregister Die Angaben beziehen sich auf Paragraphen und Randnummern.
Abstammung, Kenntnis der eigenen § 3, 8 Agrarpolitik § 16.3, 3, 19 Marktordnungen § 16.3, 3, 18 ff Akteneinsicht § 20, 1, 10, 60 Aktive Dienstleistungsfreiheit s Dienstleistungsfreiheit Allgemeine Rechtsgrundsätze § 7, 12, 18, 105; § 14, 5 Anhörung § 20, 9 Ansässigkeitserfordernisse s Dienstleistungsfreiheit Anwendbarkeit, unmittelbare § 7, 7 ff, 48, 55, 57, 115; § 11, 6 Arbeit, Recht auf § 16.3, 4, 6 Arbeitnehmerbegriff § 9, 6 Arbeitnehmerfreizügigkeit Verhältnis zur Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 3 Arbeitsbedingungen § 9, 21 Arbeitsrecht § 16.3, 4 Arbeitssuche § 9, 15 Assoziierungsabkommen § 9, 31 f Asyl § 15, 42 ff; § 16.1, 1, 57 Asyl-Richtlinie § 15, 10 Aufenthaltsbeendende Maßnahmen § 3, 7, 12, 17, 30, 33, 41, 44 Aufenthaltsrecht § 9, 24; § 19, 6, 9, 12, 27, 40 ff, 86 ff Ausfuhrbeschränkungen Kapitalverkehr § 12, 7 mengenmäßige § 8, 52 Auslandseinsätze, militärische § 3, 51, 61 Auslegung autonome § 3, 24 dynamische § 3, 41 Aussagefreiheit s nemo tenetur Außenwirtschaftsrecht Investitionen aus Drittstaaten § 12, 47 Meldepflichten § 12, 26 f Ausweisung, Verfahrensgarantien bei § 6, 69 Babyklappe § 3, 8 Bachmann-Urteil § 12, 18 Bananenmarkturteil § 16.3, 39; § 16.4, 51 Beamtenstatut § 16.1, 61 Begründung von Maßnahmen § 20, 1, 9, 21 Behandlung
erniedrigende § 3, 39, 41 unmenschliche § 3, 39, 41 Beihilfeverbot § 7, 99 Verhältnis zu den Grundfreiheiten § 7, 99 Beitritt zur EMRK s EMRK Bekenntnisfreiheit § 3, 31, 34 Berechtigte s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Bereichsausnahme s Grundfreiheiten Beruf § 16.3, 11 Berufsfreiheit § 3, 5; § 5, 47 Drei-Stufen-Theorie § 16.3, 29 Eingriffe § 16.3, 30 Konkurrenz zu den Grundfreiheiten § 16.3, 21 ff Beschränkung s Grundfreiheiten Beschränkungsverbot s Grundfreiheiten Beschwerde, Recht auf wirksame § 6, 70 ff Bestandskraft § 20, 25, 50, 62, 68 Bestandsschutz § 16.4, 25 Bestimmtheitsgebot § 3, 22 Strafnormen § 6, 61, 63 Beurteilungsspielraum § 3, 8, 25, 27 f, 37, 49, 70; § 4, 16, 38, 47, 53, 55, 81 Beweise Beweiserhebung § 6, 46, 48 f rechtliches Gehör § 6, 46 Waffengleichheit § 6, 43 Beweislast § 3, 42, 46, 53 Binnenmarkt § 7, 1, 22, 29, 43, 49, 102 -ziel § 16.3, 2 -strategie, neue s Dienstleistungsfreiheit Kapitalverkehr § 12, 1, 48 Bürgschaft § 12, 2, 46 Bosphorus-Urteil § 1, 18; § 2, 43 Cassis de Dijon-Entscheidung § 7, 71, 84, 89, 101 f; § 8, 39, 61 ff, 79 ff; § 12, 15 Charta der Grundrechte der Europäischen Union § 1, 36 ff; § 14, 3, 17 ff, 22 ff, 30, 35, 37, 42, 53, 57 Anwendungsbereich § 14, 61 Rechtsverbindlichkeit § 1, 37 f; § 14, 24 Schrankenregelungen § 14, 66 f, 70 Closed shop § 4, 79, 87 Costa/ENEL-Entscheidung § 14, 4
765
Sachregister Dänemark Zweitwohnungen § 12, 36 Daseinsvorsorge § 11, 30 Dassonville-Entscheidung § 7, 28, 31, 82, 84 f, 88, 112 f; § 8, 35 ff, 53; § 12, 7 Datenschutz § 3, 3; § 16.1, 27, 40– 44, 48 Demonstrationsfreiheit § 4, 62 ff, 70 f Dienstleistungsfreiheit § 16.1, 13; § 16.2, 14, 17, 59 Abgrenzung – zum allgemeinen Diskriminierungsverbot § 11, 56 – zur Arbeitnehmerfreizügigkeit § 11, 44 – zur Kapitalverkehrsfreiheit § 11, 45 – zur Niederlassungsfreiheit § 11, 43 – zur Warenverkehrsfreiheit § 11, 46 Adressaten § 11, 50 ff aktive § 11, 37 Ansässigkeitserfordernisse § 11, 55 Arbeitsrecht § 11, 98 Bereichsausnahme § 11, 42 Definition § 11, 28 Dienstleistungsrichtlinie § 11, 99 ff Entgeltlichkeit § 11, 29 Grenzüberschreitender Vorgang § 11, 36 Korrespondenzfreiheit § 11, 39 Liberalisierung durch Sekundärrecht § 11, 11 Modifikation des Beschränkungsverbots § 11, 63 neue Binnenmarktstrategie § 11, 15 offene Diskriminierung § 11, 53 passive § 11, 38 personeller Schutzbereich § 11, 17 räumlicher Schutzbereich § 11, 16 sachlicher Schutzbereich § 11, 27 Schranken – geschriebene § 11, 67 – ungeschriebene § 11, 70 Schranken-Schranken § 11, 74 Struktur der Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsrecht § 11, 4 Sport § 11, 79 ff Sportwettensystem § 11, 94 f Steuerrecht § 11, 97 umfassendes Beschränkungsverbot § 11, 59 unmittelbare Anwendbarkeit § 11, 6 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 11, 74 versteckte Diskriminierung § 11, 54 Dienstleistungsrichtlinie § 11, 15 Diplomatischer Schutz, Recht auf § 19, 74 ff Direktinvestitionen § 12, 42 Diskriminierung § 16, 17 s a Grundfreiheiten
766
Diskriminierungsverbot § 1, 46 ff; § 3, 67 ff; § 19, 38, 84 ff allgemeines § 7, 13, 52 besonderes § 7, 22 ff, 27, 34, 89 wegen der Staatsangehörigkeit § 13; § 14, 6 – Anwendungsbereich des Vertrages § 13, 7 ff – Inländerdiskriminierung § 13, 15 – Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen § 13, 22 f – Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen § 13, 20 f wegen des Geschlechts § 17, 19 ff Entgelt § 17, 6, 18, 23 ff – in Bezug auf Altersversorgungssysteme § 17, 34 ff – Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen § 17, 44 ff – Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen § 17, 42 f Dividendenbesteuerung § 12, 19 Dolmetscherkosten § 3, 74 Doppelbestrafungsverbot s ne bis in idem Doppelgrundrecht § 16.2, 39, 41 Drittstaaten Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 5, 41–46 Drittstaatsangehörige s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten/Berechtigte Drittwirkung s Grundfreiheiten Effektiver Rechtsschutz s Rechtsschutz Effektivitätsgebot § 20, 46 ff EG-Außenbeziehungen, Menschenrechts- und Demokratieklauseln § 1, 40 Ehe § 3, 9 ff, 73 Schutz der Ehe § 16.1, 54 f Ehrschutz § 4, 19, 34 f, 49, 53 Eigentum Beeinträchtigung – Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers § 5, 37 ff, 43 – Gerechter Ausgleich der Interessen § 5, 44 – Gesetzmäßigkeit § 5, 37 – nationale Besonderheiten § 5, 53 – öffentliches Interesse § 5, 38 – Rechtfertigung § 5, 35 ff – Verhältnismäßigkeit § 5, 41 ff Entziehung § 5, 24; § 16.4, 33 ff Erwartungen und Chancen § 5, 10 Geschäftliche Beziehungen/Goodwill § 5, 11
Sachregister Inhaltsbestimmung § 5, 30 öffentlich-rechtliche Ansprüche § 5, 13 ff Recht zum Erwerb § 5, 10 Sozialpflichtigkeit § 16.4, 9, 11, 31 Eigentumsordnung § 16.4, 3 Eigentumsrecht Eingriff § 5, 21 ff; § 16.4, 29 Diskriminierungsverbot § 5, 57 ISO-Modell § 16.4, 5, 11 Nutzungsbeschränkungen § 16.4, 11, 31, 35, 38, 47 f Nutzungsregelnde Maßnahmen § 5, 27 ff Ownership Unbundling § 16.4, 5 f, 11 Schutzbereich § 5, 8 ff sonstige Beeinträchtigungen § 5, 32 ff soziale Funktion des § 16.4, 17, 49 Träger des § 5, 9 Eigentumswohnungen Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 32 Einfuhrbeschränkungen § 8, 24 ff Elemente objektiver Ordnung s Grundfreiheiten Energieversorgung § 12, 23 Enteignungen § 5, 23 ff; § 16.4, 5, 8, 33 f, 36–40, 45 f De-facto Enteignungen § 16.4, 37 ff Entschädigung für Enteignungen § 5, 30, 33, 46 ff; § 16.4, 8, 40, 46 – Höhe § 5, 49 – Spielraum bei der Festsetzung § 5, 50 – von Ausländern § 5, 46 Förmliche Enteignungen § 16.4, 37 ff Entschädigung für Fehlurteile § 6, 68 Entscheidung in angemessener Frist § 20, 1, 7, 38 f Entsenderichtlinie § 11, 12 Erbrecht § 5, 19 Erfordernisse, zwingende s Grundfreiheiten Ermessens- und Prognosespielraum § 16.3, 38 f Europaabkommen § 11, 8 Europäische Grundrechts-Charta s Charta der Grundrechte der Europäischen Union Europäische Menschenrechtskonvention, Grundrechte der EMRK § 2, 1 ff Abgrenzung zu Unionsgrundrechten § 2, 18, 40; § 14, 14 Anwendbarkeit § 2, 56 Art 8 EMRK § 16.1, 14 ff, 22 f, 25, 29 f, 40, 42, 52 Art 10 EMRK § 16.2, 1, 6 f, 14 ff, 20 ff, 29, 31 f, 56, 63 Auslegung § 2, 31, 59 Beeinträchtigungen § 2, 58 Beitritt der EG/EU § 1, 34 ff
Berechtigte § 2, 32 ff – Natürliche Personen § 2, 32 f – Staatsangehörige der Konventionsstaaten § 2, 32 – Drittstaatsangehörige § 2, 38 – juristische Personen des öffentlichen Rechts § 2, 35 – juristische Personen des Privatrechts und sonstige Personenvereinigungen § 2, 34 f Berücksichtigung bei der Auslegung der Unionsgrundrechte § 1, 31; § 14, 8, 14 Bindung s Verpflichtete Bindungswirkung gegenüber internationalen Organisationen § 1, 17 Drittwirkung § 2, 12 Eingriff § 2, 58 f Entstehungsgeschichte § 1, 5 ff Funktionen § 2, 20 ff – Abwehrrechte § 2, 22 – Leistungsrechte § 2, 24 f – Rechtsgleichheit § 2, 23 – staatsbürgerliche Rechte § 2, 26 – Verfahrensrechte § 2, 27 Geltungsbereich § 2, 49 ff – persönlicher s Berechtigte – räumlicher § 2, 49 – sachlicher § 2, 75 – zeitlicher § 2, 54 Gesetzesvorbehalt § 2, 5, 56, 60, 63; § 3, 21 ff, 35, 45, 57 Individualbeschwerdeverfahren § 1, 8, 11 f, § 2, 68, 73 ff Rechtfertigung § 2, 60 ff Rechtsschutz § 2, 67 ff – Individualbeschwerde § 2, 68, 73 ff – Beschwerdebefugnis § 2, 81 f – Beschwerdefrist § 2, 86 – Beschwerdegegenstand § 2, 87 – Parteifähigkeit § 2, 76 f, 92 – Prozessfähigkeit § 2, 76, 92 – Rechtswegerschöpfung § 2, 83 ff – Staatenbeschwerde § 2, 71 Schranken – allgemeine § 2, 61 – konventionsimmanente § 3, 60 – spezielle § 2, 62 ff Schutzpflichten § 2, 25, 99 Sprache § 2, 74, 76, 84, 92 Stellung der EMRK im Gefüge des internationalen und nationalen Rechts § 2, 10 ff Stellung in der deutschen Rechtsordnung § 1, 14
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Sachregister Vertrag von Lissabon § 2, 18, 41 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 2, 23, 25, 33, 61, 65 f Verpflichtete § 2, 36 ff – Europäische Gemeinschaften § 14, 10 – Europäische Union § 2, 41 – Konventionsstaaten des Europarats § 2, 40 f – Privatpersonen § 2, 48 Zusatzprotokolle § 1, 10, § 2, 5, 8 f, 12, 23, 27, 31 f, 40, 56, 65, 68, 101, 108 – Nr 1 § 2, 8, 15, 22, 26, 33, 35 f, 58 f, 63 f, 109 – Nr 4 § 2, 8, 32, 51, 63 – Nr 6 § 2, 8, 22, 51, 56 – Nr 7 § 2, 8, 23 f, 27, 31, 48, 51, 63 – Nr 11 § 2, 11 – Nr 12 § 2, 8, 23 – Nr 13 § 2, 8, 22, 56 – Nr 14 § 2, 18, 41, 69, 72, 90, 93 Europäische Sozialcharta § 1, 20; § 5, 57 ff; § 16.3, 4, 6 Europäische Zentralbank § 12, 26, 27 Europäischer Datenschutzbeauftragter § 16.1, 40 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte § 2, 6, 25, 58 ff, 67 ff Europäischer Haftbefehl § 15, 21, 48; § 16.1, 3, 8, 13 Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe § 1, 21 Europarat § 2, 9 Ministerkomitee § 1, 11 Parlamentarische Versammlung § 1, 24 Europawahlrecht § 19, 62 ff EZB § 12, 28 f Factortame-Entscheidung § 10, 17, 25 Faires Verfahren s Verfahren Familienangehörige § 9, 29 Familienleben § 3, 9 ff Achtung des Familienlebens § 16.1, 1, 14, 18 ff Ferienwohnungen § 12, 31–36 Fernseh-RL § 16.2, 17, 24 Föderale Gefährdungslagen § 13, 3; § 17, 2 Folter § 3, 39 ff Formvorschriften, wesentliche § 20, 13 Frauenförderung § 3, 70 Freiheit und Sicherheit § 16.1, 3 ff Freiheit von Rundfunk, Fernsehen und Film § 4, 2, 20 f, 27, 37, 45, 56 ff
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Freiheitsentziehung § 6, 3 ff Freiheitsrechte § 14, 33 Freizügigkeit im Gemeinschaftsgebiet § 16.1, 10; § 19, 38 ff der Arbeitnehmer § 15, 6; § 16.1, 18 GASP Sanktionen nach Art 60 EGV § 12, 45 GATS § 11, 10 Gebhard-Entscheidung § 10, 18, 40 Gebrauch der eigenen Sprache im Verfahren s Verfahren Geburt, anonyme § 3, 8 Gedankenfreiheit § 3, 31 ff Gegenleistung § 9, 10 Geistiges Eigentum § 5, 18 Geldpolitik § 12, 28 Geltung, unmittelbare § 7, 7; § 12, 8 Gemeinsamer Zolltarif s Zolltarif Gemeinschaftsgrundrechte s Unionsgrundrechte Gemeinschaftsrecht § 7, 1, 7, 11 f, 18, 29, 34, 38, 56 f, 58, 64, 65 f, 92, 95 ff, 104 ff, 117, 119 Anwendungsvorrang des Sekundärrechts § 7, 11, 117 Einheitlichkeit § 7, 105 Geltungsvorrang § 7, 8, 11 unmittelbare Anwendbarkeit § 7, 7, 53 Vollzug § 14, 19, 39, 51 Vorrang § 7, 11, 106, 117 primäres § 7, 12, 18, 49, 99, 104 f sekundäres § 7, 8, 28, 39, 49, 53, 62, 91, 95 f, 101, 106, 110; § 8, 58 ff; § 9, 3 Geschäftsräume § 3, 13 Geschlecht § 3, 8 ff, 70 Gesellschaftsanteile § 12, 2, 9, 22 f, 25 Gesellschaftsrecht § 4, 76; § 12, 25 Gesetzesvorbehalt s EMRK; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Gesetzlicher Richter § 20, 35 Gestaltungsspielraum, mitgliedstaatlicher § 8, 91 ff Gestufte Verfahren § 20, 56 ff Gewerbebetrieb § 16.4, 25 f Gewissensfreiheit § 3, 31 ff Gleichheit von Männern und Frauen s Gleichheitssatz, allgemeiner Gleichheitssatz § 3, 67 f, 71 allgemeiner § 17, 11 ff – als supranationales Unionsgrundrecht § 14, 34; § 17, 3 ff – Bildung von Vergleichsgruppen § 17, 13
Sachregister – Normstruktur § 17, 7 ff – Rechtfolgen eines Verstoßes § 17, 16 – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit § 17, 14 – Unterschiede zu den Freiheitsrechten § 17, 7 ff besonderer § 17, 17 ff – Gleichheit von Männern von Frauen § 17, 21 ff – Integration von Menschen mit Behinderung § 17, 54 – Rechte älterer Menschen § 17, 54 – Rechte des Kindes § 17, 54 – Typologie § 17, 2 ff – Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz § 17, 18 Grenzüberschreitender Sachverhalt s Grundfreiheiten Grundfreiheiten Abgrenzung § 7, 12 ff, 65 – Grundfreiheiten untereinander § 7, 65; § 11, 43 ff; § 12, 3 – zum allgemeinen Diskriminierungsverbot § 7, 13; § 11, 56 – zu besonderen Gleichheitsrechten § 7, 15 f – zu Unionsgrundrechten § 7, 18; § 14, 13 Begriff § 1, 42 Beeinträchtigung § 7, 18, 75 ff, 84, 90 ff Berechtigte § 7, 4, 16, 21, 25, 27, 40 ff, 89 – Gesellschaften § 7, 42 f – Juristische Personen – des öffentlichen Rechts § 7, 42 – des Privatrechts § 7, 42 – natürliche Personen – Drittstaatsangehörige § 7, 46; § 11, 18 ff – Staatsangehörige der Mitgliedstaaten § 7, 40 Bereichsausnahme § 7, 67 ff; § 9, 27; § 11, 42 Beschränkung § 7, 3, 21 f, 26, 28, 30, 38, 46, 52 f, 76 f, 82 ff, 89, 94, 102; § 8, 34 ff – spezifische der Ausfuhrströme § 8, 52 f Beschränkungsverbot § 1, 46 ff; § 7, 28 ff, 38 f, 89, 101; § 9, 41 – Abgrenzung zum Diskriminierungsverbot § 7, 89 – Begriff § 7, 28 f – Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 7–10 Diskriminierung § 7, 13, 16, 22 ff, 30, 34, 52, 76 ff, 85, 102, 110, 113; § 9, 37 ff; § 16.3, 17 – Abgrenzung zur Beschränkung § 7, 89
– Begriff § 7, 26, 77 – offene § 7, 26, 28, 89, 101, 110, 113; § 8, 30; § 9, 37; § 11, 53 – versteckte § 7, 26, 28, 89, 77, 89, 102, 113; § 8, 31 ff; § 9, 38; § 11, 54 – Meldepflichten im Außenwirtschaftsverkehr § 12, 26 f – Steuerrecht § 12, 16–21 – Vergleichsmaßstab § 7, 22 Diskriminierungsverbot § 1, 46 ff; § 3, 64 ff; § 19, 38, 84 ff – allgemeines § 7, 13, 52 – besonderes § 7, 22 ff, 27 ff, 34, 77 Drittwirkung § 1, 50 – mittelbare § 7, 52 – unmittelbare § 7, 52 f, 115 – Gesellschaftsverträge § 12, 25 Erfordernisse, zwingende § 7, 71, 84, 88, 101 f, 104; § 9, 50 – Agrarstruktur § 12, 37 – Ansässigkeit der Bevölkerung § 12, 33 – Kapitalverkehr mit Drittstaaten § 12, 46 – Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 12, 46 – Kohärenz des Steuerrechts § 12, 18 – Kreditsicherungsrecht § 12, 39 – Preisstabilität § 12, 28 f – Sozialstruktur § 12, 33 – Statistik § 12, 26 f – Steuereinnahmen § 12, 15 – Tourismusbeschränkungen § 12, 33 – Vollstreckung im Ausland § 12, 46 Funktionen – Elemente objektiver Ordnung § 7, 39 – Freiheitsrechte § 7, 28 f – Gleichheitsrechte § 7, 22 ff – Leistungsrechte § 7, 33 ff – subjektiv-öffentliche Rechte § 1, 44 f – Verfahrensrechte § 7, 38 Gesetzesvorbehalt § 7, 92 grenzüberschreitender Sachverhalt § 7, 24 ff; § 8, 14; § 9, 19; § 11, 36; § 12, 4, 5, 39 Inländerdiskriminierung § 7, 24; § 19, 32, 36, 90 Konkurrenzen s Abgrenzung Rechtfertigung § 7, 18, 53, 66, 69, 71, 84, 90 ff, 100; § 8, 56 ff Schutzbereich § 7, 58 ff, 113 – persönlicher § 7, 40 ff; § 9, 28 f; § 16.3, 24 ff – räumlicher § 7, 56; § 11, 16 – sachlicher § 7, 61 ff; § 9, 5 ff; § 11, 27 – zeitlicher § 7, 57 Schlechterstellungsverbot § 7, 15, 28, 77
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Sachregister Schranken § 7, 58, 69, 90, 94 ff, 100 ff, 113 – geschriebene § 7, 94 ff – ungeschriebene § 7, 100 ff Schranken-Schranken § 7, 90, 104 ff, 113; § 9, 52 ff; § 11, 74 – Unionsgrundrechte § 7, 98, 105 f, 113 – sonstige Primärrechtsbestimmungen § 7, 105 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 7, 109 f Schutzpflichten § 1, 51 Grundrechtsdogmatik § 1, 50 ff unmittelbare Anwendbarkeit § 7, 7, 11, 57, 115 unmittelbare Geltung § 7, 7 Verpflichtete § 7, 7 ff, 48 ff, 75 f, 104, 113, 115 – Europäische Gemeinschaften § 7, 12, 48 f, 75, 119 – Mitgliedstaaten § 7, 7, 48, 56, 105, 118 – Privatpersonen § 7, 52 f Vorrang der Grundfreiheiten § 7, 11 Grundpfandrechte § 12, 40 Grundrechte europäische Agentur für § 14, 31 Grundrechtsbeschwerde § 14, 76 Grundrechts-Charta s Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grundrechtskatalog § 14, 3, 9, 11, 24 Grundrechtsschutz § 1, 59; § 14, 31, 35, 42, 44, 47, 62, 64, 68, 79 Grundstücke Beschränkungen des Grundstücksverkehrs § 12, 30–38 Kapitalform § 12, 2 Landwirtschaft § 12, 37 militärische Bedeutung § 12, 38 Schutz durch Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 4 Städtebaurecht § 12, 32 Vorkaufsrecht § 12, 37 Zweitwohnungen § 12, 31-36 Gute Sitten § 9, 12 Habeas corpus § 6, 29; § 16.1, 4, 10 Haft -bedingungen § 6, 6, 19 -gründe § 6, 7 ff, 20 -prüfung, Recht auf richterliche § 6, 29 ff -entschädigung, Recht auf § 6, 32 -dauer, Untersuchungshaft § 6, 27 f bei Minderjährigen § 6, 16 Handelsmonopole, staatliche § 8, 4 Harmonisierung Kapitalverkehr § 12, 20, 48
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Herkunftslandprinzip § 11, 15 Höchststimmrecht § 12, 22, 25 Human Rights Act (Vereinigtes Königreich) 13; § 2, 11 Hypothek § 12, 40
§ 1,
Identität geschlechtliche § 3, 8 nationale § 15, 15 Informationsfreiheit § 4, 2, 6, 10 ff, 17, 35; § 16.2, 7 ff, 10 ff, 21, 27, 29 Informationsrecht § 6, 22 f; § 19, 70 Inländerdiskriminierung s Grundfreiheiten Internationales Privatrecht § 12, 39 Internet § 3, 3; § 4, 22; § 5, 18 Investitionen Kapitalverkehr § 12, 2 aus Drittstaaten § 12, 47 Juristische Personen s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten/Berechtigte Kapital, Begriff § 12, 2 Kartellverfahrensordnung (VO 1/2003) § 16.1, 33 Kartellverfahren § 20, 7, 14 ff Keck-Entscheidung § 7, 84 ff, 113; § 8, 32, 38 ff, 47; § 12, 7 Übertragung auf Dienstleistungsfreiheit § 11, 63 Kindererziehung § 3, 31 Kindschaft § 3, 9, 12, 18, 28 Koalitionsfreiheit § 4, 2, 67, 77 ff, 83 ff, 90 ff Kohärenz (des nationalen Steuerrechts) § 12, 18 Kollektive Maßnahmen § 16.2, 43 Kollektivorganisation § 11, 52 Kommission/Spanien-Entscheidung § 10, 41, 46 Kommunalwahlrecht § 19, 54 ff Kommunikation § 3, 6 kommerzielle (commercial speech) § 16.2, 10, 13, 23 politische § 16.2, 23 Konsularischer Schutz, Recht auf § 19, 74 ff Kontrolldichte, grundrechtliche s Unionsgrundrechte Konvent § 1, 37 Kopftuch § 3, 35 Körperliche Unversehrtheit § 3, 3 Korrespondenz § 3, 5 f, 14 f Kreditsicherungsrecht § 12, 39 f Kulturgut, nationales § 8, 82 Kunstfreiheit § 16.2, 56, 58 f
Sachregister Leben § 3, 49 ff ungeborenes § 3, 49 -sgemeinschaft § 3, 9 ff Leistungsrechte § 7, 21, 32 ff; § 14, 35 f abgeleitete § 7, 34 originäre § 7, 37; § 14, 36 Malta Zweitwohnungen § 12, 36 Markt -bürger § 19, 4 -zugang § 8, 44 Maßnahmen gleicher Wirkung wie Ausfuhrbeschränkungen § 8, 52 ff wie Einfuhrbeschränkungen § 8, 24 ff Medien § 4, 4, 9, 11, 17–22, 27, 30, 58 -freiheit § 16.2, 1, 7 ff, 17, 19, 24, 63 Medienvielfalt § 16.2, 6 f, 15 f, 18, 62 Meinungsfreiheit § 4, 2, 4 f, 23, 27 f, 30, 34, 50, 54, 59; § 16.2, 6 ff, 10 ff, 17 f, 23, 26, 28 ff der EG-Beamten § 16.2, 30 negative § 16.2, 13 Meldepflichten im Außenwirtschaftsverkehr § 12, 26 f Menschen -rechtsschutz, international § 1, 1 -rechts- und Demokratieklauseln s EG-Außenbeziehungen -würde § 3, 39, 45; § 15, 3 ff, 14, 61 Methode der wertenden Rechtsvergleichung s Rechtsvergleichung Minderheitenschutz § 1, 22 Mindestreserven § 12, 28 Mittelbare Drittwirkung s Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Moral § 4, 16, 38, 45, 53 ff, 67 ne bis in idem § 6, 65 f; § 20, 15 nemo tenetur § 6, 49; § 20, 16 ff Niederlassungsfreiheit § 10 Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit § 10, 19 f, 26 ff, 31 f, 34 Ausländische juristische Personen § 10, 64 Beschränkungsverbot § 10, 5, 52 ff Bestimmungslandprinzip § 10, 3 ff, 19 Definition § 10, 20 ff Erwerbstätigkeit § 10, 20, 24 Gesellschaftsstatut § 10, 64 Gründungstheorie § 10, 64 ff Herkunftslandprinzip § 10, 3 ff Inländerdiskriminierung § 10, 39 internationales Gesellschaftsrecht § 10, 66 ff juristische Personen § 10, 16, 34 ff, 62 ff
offene Diskriminierung § 10, 50 Personalstatut § 10, 64 primäre Niederlassung § 10, 33 f sekundäre Niederlassung § 10, 33, 35 f Sitztheorie § 10, 64 ff und GATS § 10, 9 ff und völkerrechtliche Niederlassungsfreiheit § 10, 6 versteckte Diskriminierung § 10, 50 f Normgeprägter Schutzbereich s Schutzbereich Notwehr § 3, 52, 63 Nulla poena sine lege § 6, 61 ff; § 20, 1, 4, 42 Nutzungsbeschränkungen des Eigentums s Eigentumsrecht Offene Diskriminierung s Grundfreiheiten Offenmarktgeschäfte § 12, 28 Öffentliche Ordnung § 7, 36, 53, 96 f, 101 Arbeitnehmerfreizügigkeit § 9, 47 f Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 11, 22 f Öffentliche Sicherheit § 7, 36, 53, 96 f, 101 Arbeitnehmerfreizügigkeit § 9, 47 f Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 11, 22 f, 38 Landesverteidigung § 12, 11, 38 Ordnung, öffentliche s öffentliche Ordnung Österreich Beschränkungen des Grunderwerbs § 12, 32, 37 OSZE/KSZE § 1, 2 Parteiverbot § 16.2, 49 Parallelität von Kompetenz und Grundrechtsschutz § 14, 35 Personenfreizügigkeit § 9, 1 Persönlichkeitsrecht, allgemeines § 3, 3, 39 Petitionsrecht § 19, 67 ff Pfeiffer-Entscheidung § 10, 47, 60 Pflichten, positive § 4, 11, 27, 35, 64, 95 Politische Parteien § 4, 44, 76, 79, 81 f; § 16.2, 51 Polizeigewahrsam § 3, 40, 42, 53, 64 Postgeheimnis § 3, 14 Presse- und Rundfunkfreiheit § 4, 2, 17 ff; § 16.2, 5, 13, 15, 17, 24, 32 Presse, Sorgfaltspflichten § 4, 17, 48 ff Privatisierung staatlicher Unternehmen § 12, 22–24 Privatleben § 3, 3 ff Achtung des Privatlebens § 16.1, 1, 14, 17, 29 ff, 42 Produktbeschaffenheit § 8, 42 Produktbezogene Maßnahmen § 7, 86 Produktvermarktung § 8, 43 Prüfungskompetenz des EGMR § 3, 23, 27
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Sachregister Rassendiskriminierung § 3, 39 Rechte, wohlerworbene § 5, 8 Rechtfertigung s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Rechtliches Gehör, Anspruch auf § 6, 46; § 20, 1, 10, 36 f, 41, 58 ff, 65 Rechtsangleichung § 7, 39 Rechtsbehelfsbelehrung § 20, 12 Rechtsgrundsätze, allgemeine s Unionsgrundrechte Rechtsschutz § 2, 68 ff; § 7, 38, 114 ff effektiver § 6, 2, 54 vorläufiger § 20, 39, 50, 53 Rechtsschutzanspruch § 20, 1, 22 ff, 32, 48 ff, 55, 62 ff Rechtsvergleichung, Methode der wertenden § 14, 8; § 17, 8 Religion § 4, 31, 38, 54 f, 60, 82 Religionsfreiheit § 3, 31 ff; § 16.1, 1, 61 ff Richtlinie 88/361 § 12, 8 Sachverhalt, grenzüberschreitender s Grundfreiheiten Sanktionen (Wirtschaftsembargo) Kapitalverkehr § 12, 45 Schächten § 3, 31 f Schlechterstellungsverbot s Grundfreiheiten Schranken s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Schranken-Schranken s Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Schutz der Ehe s Ehe der Gesundheit § 8, 81 des Arztgeheimnisses § 16.1, 14 personenbezogener Daten § 16.1, 1, 14, 38 ff, 47 ff Schutzansprüche § 14, 24 Schutzbereich s a Grundfreiheiten normgeprägter § 16.4, 19 Schutzgewähranspruch § 7, 35 Schutzpflichten § 3, 26 f, 33, 62 ff; § 7, 105; § 14, 13, 35, 54, 76 Schutzrechte, gewerbliche, § 8, 18, 83 Schwangerschaftsabbruch § 3, 49 Schweigerecht s nemo tenetur Sekundäres Gemeinschaftsrecht s Gemeinschaftsrecht Selbstbestimmung informationelle § 3, 3 sexuelle § 3, 8, 26
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Sicherheit, öffentliche s öffentliche Sicherheit Sicherheit, Recht auf Sicherheit § 6, 6 Sicherungsrechte § 12, 39 f Sicherungssysteme, soziale § 9, 25 Solange-Rspr des BVerfG § 14, 4, 18, 20 Solidarität § 18, 1 ff Verhältnis zum Solidarprinzip § 18, 2 Sozialbindung § 5, 30 Sozialcharta, Europäische s Europäische Sozialcharta Soziale Funktion des Eigentumsrechts s Eigentumsrecht Soziale Grundrechte § 16.3, 4; § 18, 1 ff als originäre Leistungsrechte § 18, 15 als Teilhaberechte § 18, 14 Soziale Rechte § 5, 63 ff; § 19, 86 ff Soziale Sicherungssysteme s Sicherungssysteme Soziale Vergünstigungen s Vergünstigungen Sozialpflichtigkeit des Eigentums s Eigentum Spürbarkeit § 8, 49 Staatsangehörigkeit § 19, 18 ff, 25 ff Staatsbürgerschaft § 19, 22 ff Stellensuche § 9, 15 Sterbehilfe § 3, 50 Steuerrecht Darlehen § 12, 15 Devisenumsatz § 12, 15 Diskriminierungen § 12, 16 21 Dividendenbesteuerung § 12, 19 Doppelbesteuerung § 12, 20 gleichmäßig wirkende Besteuerung § 12, 15 Kapitalverkehrsfreiheit § 12, 14 21 Kohärenz des nationalen Steuerrechts § 12, 18 Körperschaftsteuer § 12, 19 Rechtfertigung durch zwingendes Erfordernis § 12, 15, 18 Steuervorbehalt des Art 58 EGV § 12, 17 Tobin-Steuer § 12, 15 Wohnort § 12, 17, 21 Strafe, Art und Schwere der Sanktion § 6, 39 Strafgefangene § 3, 15 Strafverfahren, besondere Rechte des Angeklagten im § 6, 47 ff Subjektiv-öffentliche Rechte Grundfreiheiten § 7, 10, 39 supranationale Legitimationsfunktion § 17, 3 ff transnationale Integrationsfunktion § 17, 2 Subsidiaritätsprinzip § 14, 35
Sachregister Tabakprodukt-RL § 16.2, 13 Tabakwerbe-RL § 16.2, 13 Tatverdacht, hinreichender § 6, 13 Teilhaberecht § 7, 33 ff abgeleitete Teilhaberechte § 7, 34 originäre § 7, 37 Tobin-Steuer s Steuerrecht Todesschuss, finaler § 3, 58, 60 Todesstrafe § 3, 41, 54, 56 f Treuepflicht der Beamten § 16.2, 12, 27 Übergangsregelungen nach EU-Erweiterung § 11, 8 Überlange Verfahrensdauer s Entscheidung in angemessener Frist Überseering-Entscheidung § 10, 61, 72 Umweltschutz § 3, 7, 19, 26 Unabhängigkeit des Gerichts § 6, 40 Unionsbürgerrechte § 7, 21; § 14, 37 Unionsbürgerschaft § 7, 4, 7, 14, 17, 24, 46; § 9, 2; § 19 Adressaten § 19, 34 ff Geschichte § 19, 4 ff Staatsangehörigkeit als Voraussetzung § 19, 25 ff Teilhabefunktion § 19, 86 ff Träger § 19, 15 Umfang § 19, 10 ff Diskriminierungsverbot § 19, 38, 84 ff Minderheitenrechte § 19, 89 ff soziale Rechte § 19, 86 ff Unionsgrundrechte § 2, 44; § 8, 75 ff; § 14, 1 ff Abgrenzung § 14, 12 ff – zu Grundfreiheiten § 7, 18, 29, 35, 92, 98, 93 ff, 105; § 14, 13 – zu Grundrechten der EMRK § 14, 14 – zu Grundrechten des GG § 14, 17 f Begriff § 14, 1 f Berechtigte § 14, 42 f – juristische Personen § 14, 43 – natürliche Personen § 14, 42 – Drittstaatsangehörige § 14, 42 – Staatsangehörige der Mitgliedstaaten § 14, 42 Bindung s Verpflichtete Charta der Grundrechte der Union § 14, 24 ff Drittwirkung der § 14, 54 Eingriff § 14, 64 EMRK s Rechtserkenntnisquelle Funktionen § 14, 33 ff – Elemente objektiver Ordnung § 14, 39 – Freiheitsrechte § 14, 33
– Gleichheitsrechte § 14, 34 – Leistungsrechte § 14, 35 f – Unionsbürgerrechte § 14, 37 – Verfahrensrechte § 14, 38 Geltungsbereich § 14, 56 – persönlicher s Berechtigte – räumlicher § 14, 56 – sachlicher § 14, 60 – zeitlicher § 14, 56 Geltungsgrund § 14, 5 ff Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen s Rechtserkenntnisquelle Gesetzesvorbehalt § 7, 92; § 14, 67 Gleichheitssatz, allgemeiner § 14, 6, 34 Gleichheitssatz, besonderer § 14, 6 Kompetenz § 14, 4 f, 35, 39 Kontrolldichte § 14, 4; § 16.3, 38 f; § 16.4, 51 Notwendigkeit der Gewährleistung von Grundrechten auf Gemeinschaftsebene § 14, 3 f Prüfungsschema § 14, 75 Rechtfertigung § 14, 65 ff Rechtserkenntnisquelle § 14, 8, 10, 16, 25, 30, 42 – EMRK § 14, 7 f, 10, 14 – Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen § 14, 7 f Rechtsgrundsätze, allgemeine § 7, 12, 18, 105; § 14, 5 Rechtsquelle § 14, 5, 7 f Rechtsschutz § 14, 76 ff Schranken § 14, 65 ff Schranken-Schranken § 14, 69 ff Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten § 7, 104 ff; § 14, 13 Schutzbereich § 14, 60 Schutzpflichten § 14, 35 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz § 14, 71 f Verpflichtete § 1, 39; § 14, 47 ff – Europäische Union / Europäische Gemeinschaften § 1, 39; § 14, 47 – Mitgliedstaaten § 1, 39; § 14, 48 ff – Privatpersonen § 14, 54 Wesensgehaltsgarantie § 14, 70; § 16.3, 36; § 16.4, 18, 47, 49 Unmittelbare Anwendbarkeit s Anwendbarkeit Unmittelbare Drittwirkung s Drittwirkung Unmittelbare Geltung s Geltung Unmittelbare Wirkung s Wirkung Unschuldsvermutung § 6, 1, 50; § 20, 4 Untersuchungshaftdauer s Haft Unverletzlichkeit der Wohnung s Wohnung
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Sachregister Unversehrtheit körperliche § 3, 39 der Person § 15, 8, 22, 24, 26 f, 30 Verbindlichkeit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union s Charta der Grundrechte der Europäischen Union Verbleiberecht § 9, 16 Vereinigungsfreiheit § 4, 2, 67, 72, 75 ff; § 16.2, 35 ff Vereinte Nationen § 1, 19 Verfahren faires § 2, 24, 27, 36; § 3, 74 f; § 6, 43 ff; § 20, 1 f, 4 f, 17, 20, 25, 36, 41, 69 Gebrauch der eigenen Sprache im § 20, 11, 45 Verfahrensdauer, angemessene § 2, 27; § 6, 54 ff, 71 Verfahrensdimension § 3, 28 f Verfahrensöffentlichkeit § 6, 51 ff Verfahrensrechte § 2, 18, 21 f, 27 f, 36, 67; § 7, 21, 38 Verfassungsbeschwerde § 14, 77 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten § 14, 7 f; § 16.4, 15 Vergaberecht, Rechtsschutz im § 20, 48 f Vergünstigungen, soziale § 9, 22 Verhältnismäßigkeit § 3, 25, 59 f; § 7, 109; § 8, 72, 82 ff; § 11, 74; § 12, 34 f; § 14, 71 f; § 16.3, 37 ff; § 16.4, 18, 34, 41, 46–50, 51 ff Verkaufsmodalitäten, bestimmte § 8, 39 ff Verkooijen-Entscheidung § 12, 16 f, 19, 21 Vermögen § 16.4, 24 Veröffentlichungsfreiheit § 16.2, 17 Verpflichtete s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten Verpflichtungsadressaten s Europäische Menschenrechtskonvention; Unionsgrundrechte; Grundfreiheiten/Verpflichtete Versammlungsfreiheit § 4, 2, 59 ff; § 16.2, 35 ff Versteckte Diskriminierung s Grundfreiheiten Vertrag von Lissabon § 1, 35, 53, 56 Vertrauensschutz § 16.3, 18 Vertrauenstatbestand § 16.4, 25 Vertraulichkeit des anwaltlichen Schriftverkehrs § 16.1, 14 Vertriebsbezogene Maßnahmen § 7, 86 Verzicht auf Unparteilichkeit § 6, 40
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auf öffentliche Verhandlung § 6, 52 Vollzug des Gemeinschaftsrechts s Gemeinschaftsrecht Vorbehalt des formellen Gesetzes s Unionsgrundrechte Vorführung, richterliche § 6, 14, 24 ff Vorlagepflicht § 20, 23, 53, 65 f Vorläufiger Rechtsschutz s Rechtsschutz Vorrang der Grundfreiheiten s Grundfreiheiten VW-Gesetz § 12, 22 f Waffengleichheit § 6, 45 Währungsrecht § 12, 28 f Ware § 8, 8 ff Wechselkurspolitik § 12, 29 Weisungsgebundenheit § 9, 9 Weltanschauung § 3, 31 Werbeverbote § 11, 73 Wesensgehaltsgarantie s Unionsgrundrechte Wesentliche Formvorschriften s Formvorschriften Wettbewerbsfreiheit § 16.3, 12 Wirkung, unmittelbare § 7, 7, 16, 48, 57 Wirkungsweise § 7, 13, 27 f des Beschränkungsverbots § 7, 28 des Diskriminierungsverbots § 7, 13, 27 Wirtschaftliche Betätigung, Freiheit der § 16.3, 12 f Wirtschaftliche Leistung § 9, 7 Wirtschafts- und Währungsunion Störungen § 12, 43 Zahlungsbilanzen § 12, 27 Wirtschaftssanktionen s Sanktionen Wirtschaftsverfassung § 16.3, 2 Wissenschaftsfreiheit § 4, 23; § 16.2, 60 ff Wohlerworbene Rechte s Rechte Wohnung, Schutz der Unverletzlichkeit der § 3, 13; § 16.1, 1, 14, 21 ff, 32 WTO § 16.3, 2 Zahlungsbilanz § 12, 27, 43 Zahlungsverkehrsfreiheit § 12, 6 Zolltarif, Gemeinsamer § 8, 2 Zollunion § 8, 2 Zugang zu Dokumenten § 19, 71 ff zu Gemeinschaftsdokumenten § 20, 4, 20 f zum Gericht § 2, 61, 88; § 6, 40 ff Zweite Instanz § 6, 67 Zweitwohnungen § 12, 31–36 Zwingende Erfordernisse s Grundfreiheiten